iüi
iii
ZEITSCHRIFT
FÜR
DENDE
KUN
MIT DEN BEIBLÄTTERN
KUNSTCHRONIK UND KUNSTMARKT
NEUE EOLOE
ACHTZEHNTER JAHRGANG
LEIPZIG
VERLAG VON E. A. SEEMANN
1907
Digitized by the Internet Archive
in 2018 with funding from
Getty Research Institute
https://archive.org/details/zeitschriftfurbi42unse
Inhalt des achtzehnten Jahrgangs
Seite
Aufsätze über neuere Kunst
Sir Charles Holroyci als Radierer. Von Sdwin Brinton.
Mit 1 Originalradierung und 4 Abbildungen . . 17
Die Sprache der Schere. Von Heinrich Woljf. Mit
1 Silhouettentafel und 4 Abbildungen . 22
Eine Ausstellung französischer Künstler im Münchener
Kunstverein. Von Wilhelm Michel . 26
Lucien Pissarro als Buchkünstler. Von Dr. Erich Will¬
rich. Mit I farbigen Holzschnitt und 4 Abbildungen 32
Der Pariser Herbstsalon. Von K- E. Schmidt . . 47
Leo Putz. Non Wilhelm Michel. Mit 2 Intagliogravüren
und 6 Abbildungen . 53
Zwei Jahrhunderte russischer Kunst. Von Igor Qrabar.
Mit 1 Dreifarbendruck und 23 Abbildungen ... 58
Das Kaiser-Friedrich-Museum der Stadt Magdeburg.
Von Alfred Hagelstange. Mit 19 Abbildungen . 81
Neue Werke von B. Heroux und P. Buerck. Von G. l\. 108
Max Klinger. Ein Gruß zu seinem 50. Geburtstage.
Von Feli.x Becker. Mit 1 Intagliogravüre und 2 Ab¬
bildungen . 109
Die erste graphische Ausstellung des deutschen Künst¬
lerbundes im deutschen Buchgevverbemuseum zu
Leipzig. Von R. Graul. Mit 15 Abbildungen . . 137
Daniel Staschus. Von W. Michel. Mit 1 Original¬
holzschnitt . 164
Moderne Baukunst in Finnland. Von Alarik Tavast-
stjerna. Mit 20 Abbildungen . 176
Constantin Guys. Von Karl Engen Schmidt. Mit
11 Abbildungen . 189
Wilhelm Giese. Von Paul Dobert. Mit 1 Original¬
radierung . 227
Max Liebermann zum 60. Geburtstage. Von Gustav
Kirstein. Mit 15 Abbildungen . 237
Die Große Kunstausstellung und die Ausstellung der
Berliner Sezession. Von Emil Heilbut. Mit 1 Tafel
und 27 Abbildungen . 243
Felix Bracquemond. Von Kcirl Eugen Schmidt. Mit
1 Originalradierung und 9 Abbildungen .... 269
Französische Kunstausstellung im Kaiser -Wilhelm-
Museum zu Krefeld. Von M. Schmid . 299
William Unger in Wien zu seinem 70. Geburtstage.
Von W. Bode. Mit 1 Originalradierung .... 308
Forschungen zur älteren Kunstgeschichte
Burgos. Eine Stätte gotischer Kunst in Spanien. Von
Alfred Demiani. Mit 22 Abbildungen . 1
Aegina, Das Heiligtum der Aphaia. Von Alax Maas 27
Seife
Das Bildnis der Giulia Gonzaga von Sebastiano del
Piombo. Von Emil Schaffer. Mit i Tafel und
1 Abbildung . . . . 29
Niederländische Gemälde in der Kaiserlichen Akademie
der Künste zu St. Petersburg. Von A. Neoustroieff.
Mit 7 Abbildungen . 36
Arbeitende Bauern auf burgundischen Teppichen. Von
A. Warburg. Mit 3 Abbildungen . 41
»Die Atzel, die von dem Aal schwätzt«. Von Konrad
Lange. Mit 1 Abbildung . 94
Unbeachtete Malereien des 15. Jahrlumdens m Floren¬
tiner Kirchen und Galerien. Von O. Wulff. Mit
8 Abbildungen . 99
Ergänzte Antiken. Von Ad. Michaelis. Mit 12 Ab¬
bildungen . 113
Die spanisch-maiinschen Fayencen der Sammlung Beit
in London. Von W. R. Valentiner. Mit 18 Ab¬
bildungen . 119
Ausstellung plastischer Bildwerke des r5. und 16. Jahr¬
hunderts in München. Von Fritz Burger. Mit
26 Abbildungen . 146
Eine Sammlung von Handzeichnungen des Francisco
Goya. Von A. de Beruete. Mit 10 Abbildungen . 165
Zwei polychrome Tongefäße aus der kaiserlichen
Ermitage in St. Petersburg. Von Eugen Pridik.
Mit 1 Intagliogravüre, 1 Farbendruck und 3 Ab¬
bildungen . 172
Eine neue Kopie des Myronischen Diskobolen in Rom.
Von Walter Amelung. Mit 5 Abbildungen . . . 185
Die Beweinung mit dem Stifter. Von Otto Seeck.
Mit 6 Abbildungen . 197
Amra und seine Malereien. Non Josef Slrzygowski.
Mit 6 Abbildungen . 213
Zur Cranachforschung. Von Julius Vogel. Mit 5 Ab¬
bildungen . 219
Der Diskuswerfer. Von Ludwig Volkmanii. Mit
14 Abbildungen . 229
Skizzen und Zeichnungen des Francesco Guardi. Von
George A. Sinionson. Mit 9 Abbildungen . . . 26t
Der neue Vermeer. Von Kurt Preise. Mit r Ab¬
bildung . 277
Die Klöster von Subiaco. Von Etlore Modigliani . 279
Besalü, die Spuren eines mittelalterlichen Grafen¬
geschlechtes in den östlichen Pyrenäen. Von Alfred
Demiani. Mit 21 Abbildungen . 285
Die neuesten Ausgrabungen in Pompeji. Von R.
Engelmann . . . 302
IV
INHALTSVERZEICHNIS
Kunstbeilagen
Seite
E. Bischof/- Ciilni , Menzel. Originalradierung nach 136
F. Bracqiiemond, Der Wolf im Schnee. Original-
raciieriing . vor 261
Ernst Gabler, Liidvvigsburg. Originalradierung nach 18S
Wilhelm Diese, Markt in Magdeburg. Original¬
radierung . vor 213
Francisco Goya, Zwei Handzeichnungen vor 165
Constantia Gays, Zeichnung . vor 189
Bruno Heroux, KwsVtrom. Originallithographie nach 108
Charles Holroyd, Nymphen am See. Original¬
radierung . nach 16
Max Kliager, Diana. Intagliogravüre . . . vor 109
Alois Kolb, Fröhliche Wanderschaft. Original¬
radierung . vor 1
Fritz Lang, Hasen. Originalholzschnitt . . vor 81
Fritz Lang, Porträt. Originalholzschnitt . . nach 88
Herniine Laukola, Im Refektorium. Original-
radierimg . nach 52
Herniine Laiikota, Kmderköpfchen. Original¬
radierung . nach 308
Seile
Fritz Lederer, Landschaft. Originalradierung . nach 212
Max Liebermann, Holländischer Kanal. Helio¬
gravüre . vor 237
Ph. Maljawin, Bojarin im Festschmuck. Drei¬
farbendruck . nach 80
Miniatur aus dem Seelengärtlein. Dreifarben¬
druck . nach 260
Franz Mutzenbecher, Der weiße Rabe. Original¬
radierung . vor 137
Sebastiano del Piombo, Damenbildnis . . . vor 29
Luden Pissarro, Farbiger Holzschnitt . . . nach 36
Polychrome Tongefäße aus der kaiserlichen
Ermitage zu St. Petersburg. Intagliogravüre
und Farbendruck . vor 173
Leo Putz, Atelierbesuch. Intagliogravüre . , vor 53
Leo Putz, Begegnung. Intagliogravüre . . . nach 56
D<7/nV/Sfaso/;//s, Vor Anker. Originalholzschnitt nach 164
William Unger, Am Karst. Originalradierung vor 285
yWiZzf/m Spaziergang. Original holzschnitt nach 284
Heinrich Wolff, Erasmus. Silhouette . . . nach 28
FRÖHLICHE WANDERSCHAFT. ORIOINALRADIERUNQ VON ALOIS KOLB
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BUROOS
EINE STÄTTE GOTISCHER KUNST IN SPANIEN
Von Alfred Demiani in Barcelona
Architektur ist in stein geschriebene Ge¬
schichte. — Man nimmt einem Volke viel,
wenn man die Denkmäler früherer Tage ver¬
nichtet. Man zerbricht die Brücke, welche aus der
Vergangenheit zur Gegenwart herüberführt.
Die in den Museen unserer großen Kapitalen,
losgelöst vom organischen Zusammenhang, aufge¬
häuften Steine haben das Leben verloren, sie sind tot.
Doch glaubt man vielleicht neues Leben aus Rui¬
nen zu erwecken, wenn man sich nicht auf eine
liebevolle Erhaltung des aus der Vorzeit Überkom¬
menen beschränkt, sondern versucht in »stilgerechter«
Weise zu renovieren, verbessern, ergänzen und voll¬
enden?
Der Stil ist die Eormensprache eines bestimmten
Zeitabschnittes. Die Formen sind nicht zufällig ent¬
standen, sie drücken das aus, was eine Zeit gedacht,
geglaubt, erstrebt hat.
Wie können wir den Ausdruck hierfür wieder¬
finden, wenn uns die Ideale, welche damals die
Geister bewegten, längst fremd geworden sind. Eine
im 19. Jahrhundert entstandene gotische Domfassade
ist unwahr.
Doch es gibt noch geweihte Stätten, wo die
Steine klar und deutlich zu uns reden. Bald bringen
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XVIII. Ff. i
sie uns die erschütternde Kunde von dem ewigen
Werden und Vergehen der Geschlechter; so ist es
in Rom. Bald sehen wir, daß eine stolze zielbewußte
Kaste Jahrhunderte lang den einen Gedanken fest¬
gehalten und verfolgt hat, so entstand Venedig mit
seinem trotz der verschiedenartigsten Stilarten so har¬
monischen Markusplatz. Bald zeigt sich uns, daß
hochentwickelte, doch unvereinbare Kulturelemente
aufeinander getroffen sind, diese Dissonanz empfinden
wir beim Anblick des Renaissancepalastes Karls V.
auf der Alhambra oder der Moschee von Cordoba
mit ihrem berüchtigten christlichen Einbau.
Daneben finden wir Plätze, welche nur kurze
Zeit hindurch eine Rolle im Leben der Völker ge¬
spielt haben. Sie liegen jetzt abseits und halbver¬
gessen; aber ihre Monumente tragen noch den Stempel
der Größe aus jenen Tagen, als sich hier ein Stück
Weltgeschichte abspielte, und alles erinnert uns an
diese eine, kurze Periode des Glanzes.
Zu diesen Städten gehört Burgos.
*
Die Bedeutung von Burgos beginnt, als 1230
Ferdinand 111,, der Heilige, die Kronen von Castilien
und Leon dauernd vereinigte, und endet, als im
2
BURGOS
ABB. 2. GRABMAL DES GRÜNDERS BISCHOF MAURICIO IN DER KATHEDRALE
i6. Jahrhundert die Habsburger die königliche Resi¬
denz nach Madrid verlegten.
ln dieser Spanne Zeit sind die wichtigsten Bau¬
denkmäler der Stadt entstanden.
Wohl ist die Geschichte von Burgos von altersher
mit der von Castilien aufs innigste verknüpft, wohl
erinnert die Ruine der 1812 durch die Franzosen
gesprengten Burg an jene Zeiten, als die Höhen
der Grenzmark des kleinen christlichen Königreichs
Asturien sich mit Kastellen zum Schutz gegen die
Einfälle der Ungläubigen bedeckten und so Name
und Wappen von Castilien entstanden; wohl war
Burgos Zeuge davon, daß die seit Fernan Gonzalez
(930) erblichen Grafen von Castilien die Königswürde
erlangten; wohl war hier die Heimat des Cid (1040),
des Name heute noch in aller Munde lebt; doch die
Bauten aus jenen noch halb der Sage angehörenden
Tagen haben bis auf geringe Reste denen eines
glanzvolleren Zeitabschnittes weichen müssen.
Burgos ist die Hauptstadt der seit der Ent¬
scheidungsschlacht von Las Navas de Tolosa (1212)
stets siegreichen Reconquista.
Es ist eine, wenn auch zufällige, so doch dem
Zeitgeist entsprechende Umrahmung dieser Jahr¬
hunderte, in denen sich Spaniens Größe vorbereitet,
daß in ihrem Beginn der Versuch, an ihrem Ab¬
schluß die Tatsache einer Vereinigung der höchsten
Würde der Christenheit mit der castilischen Krone
stehen ^).
Und wenn auch verschiedene Herrscher, als das
Reich sich immer mehr nach Süden ausdehnte,
sonnigeren Residenzen, wie Toledo, Sevilla, den
Vorzug vor der rauhen Gebirgsstadt -) gaben, so
behauptete doch Burgos seine Stellung als erste
Stadt der Monarchie, »prima voce et fide« ^).
1) Alfons X., Sohn Ferdinands III. und Beatrix von
Schwaben, Schwester Friedrichs II., machte 1257—75 An¬
sprüche auf die römische Kaiserwürde geltend. Karl I. (V.),
1516 König von Spanien, 1519 römischer Kaiser.
2) Burgos liegt 856 m ü. M.
3) Wappenspruch von Burgos.
Es verbindet sich aber auch mit der Blütezeit
von Burgos jener schöne und fleckenlose Abschnitt
der spanischen Geschichte, als sich Glaubenseifer und
Toleranz vereinigten, als man den unterliegenden,
ritterlichen Gegner achtete und von seiner höheren
Bildung lernte, als die castilischen Könige, ohne
Ansehen der Religion, jedem ihrer Untertanen das
gleiche Recht gewährten, und sich so das spanische
Judentum zu einem belebenden Kulturfaktor, wie in
keinem anderen Land während des Mittelalters, ent¬
wickeln konnte.
So haben auch in Burgos maureske und jüdische
Familien, Gelehrte und Künstler damals eine große
Rolle gespielt.
Als nach dem Falle von Granada (1492) mit
Beendigung der Rückeroberung die unselige Ära der
Intoleranz begann und ihre folgenschwere Tätigkeit
mit der Ausweisung der Juden eröffnete, da war auch
der Stern von Burgos im Erbleichen, und wenn es
auch unter Karl V. noch seine Bedeutung wahrte,
und die Vollendung seiner Kathedrale sogar in die
Regierungszeit Philipps II. fällt, so ist es doch im
Spanien der Habsburger und Bourbonen zum Rang
einer Provinzialstadt herabgesunken.
In diesen Jahren ist wenig Beachtenswertes in
Burgos gebaut, aber auch glücklicherweise wenig an
dem Vorhandenen geändert worden.
Wie aus dem bisher Gesagten sich beinahe als
selbstverständlich ergibt, trägt Burgos ausgesprochen
das Gepräge der Gotik. Auch die wenigen der
Renaissance angehörenden Monumente fügen sich
wenig auffallend in den Rahmen des Ganzen ein
und ordnen sich gewissermaßen der das Gesamtbild
beherrschenden Idee unter.
* *
*
Für das Studium des gotischen Baustils in Spanien
ist Burgos eine der wichtigsten Städte, um nicht zu
sagen die wichtigste Stadt, da wir hier nicht nur
einen der schönsten und reichsten der gotischen Dome
vorfinden, sondern in Stadt und nächster Umgebung
ABB, 3. KATHEDRALE: ANSICHT DER HAUPTFASSADE ABB. 4. KATHEDRALE: PUERTA DEL SARMENTAL
Aus »)oly, Meisterwelke der Baukunst und des Kunstgewerbes«. Spanien I
BURGOS
^ o-:-
-;j len 7ei;er
ii. :: :i:isschlieniicb den
gotischen DerKmäi ^n vnn
Burgos gewidmet sein
und hierbei gleichzeitig
mit Hilfe der beigefügden
Abbildungen versuchen,
das für Spanien Charakte¬
ristische zum Ausdruck zu
bringen.
Eine erschöpfende Dar¬
stellung würde die für
diese Arbeit gesteckten
Grenzen bei weitem über¬
schreiten. Ich werde mich
lediglich bemühen, eine
kleine Auslese dessen, was
mir typisch erscheint, zu
geben und hierbei nach
Möglichkeit gleichen Pe¬
rioden Angehöriges neben¬
einander stellen.
Ehe ich mich meiner
Aufgabe zuwende, möchte
ich, auch auf die Gefahr
hin, einem Teil meiner
In
Hi
i.
ABB. 5. SAN ESTEBAN; PORTAL
Leser hiermit nichts Neues
zu sagen, einige Bemer¬
kungen allgemeiner Natur
über gotische Kunst in
Spanien vorausschicken.
Wie die Gotik über¬
haupt der Stil der religiö¬
sen Innigkeit und der gläu¬
bigen Frömmigkeit ist, wie
es ihr gelungen ist, Got¬
teshäuser zu schaffen, in
denen wir etwas von der
mystischen Nähe eines
überirdischen Wesens emp¬
finden, so liegt es auf der
Hand, daß sie für das
künstlerische Leben eines
Volkes, dessen Geschichte
einen fast achthundertjäh¬
rigen Glaubenskampf auf¬
weist, von erhöhter Be¬
deutung werden mußte.
Das christliche Spanien
hat das Wesen dieses Stils
besonders tief empfunden,
hat es verstanden, einen
eigenartigen, durchaus na-
ABB. 6. KATHEDRALE: EINGANGSTÜR ZUM KREUZOANG
ABB. 7. KATHEDRALE: PUERTA DE LA CORONERIA
ABB. S. KATHEDRALE: KREUZGANO, NÖRDLICHE GALERIE ABB. 9. KATHEDRALE: CAPILLA DE LA VISITACION
tioiialen Ausdruck für ihn zu schaffen und hat, als
Folge hiervon, besonders zäh an ihm festgehalten,
ihn weniger bereitwillig als andere Völker dem neuen
Geist der Renaissance geopfert. Die spanische Archi¬
tektur steht bis zur Mitte des i6. Jahrhunderts noch
unter gotischem Einfluß.
Man kann bei der spanischen Gotik in ähnlicher
Weise wie anderwärts, entsprechend den drei Jahr¬
hunderten, denen sie angehört, drei Hauptabschnitte
unterscheiden.
Im 13. Jahrhundert wird sie sich sozusagen erst
der neuen Formensprache bewußt, erinnert, zumal in
Art und Anordnung des Ornaments, noch stark an
romanische Vorbilder und läßt bei Würde und Ein¬
fachheit in der Form, eine gewisse Roheit und
Unbeholfenheit in der Ausführung des Figürlichen
erkennen.
Das letztere gilt für die Provinzen, welche das
damalige Königreich Castilien bildeten, in erhöhtem
Maße; man war dort der höherentwickelten Kultur
Nordeuropas erheblich ferner, als beispielsweise Na¬
varra und Catalonien, die immer mehr oder weniger
unter französischem Einfluß standen.
Die zweite Periode bringt, ohne an der Form
Wesentliches zu ändern, größeren Reichtum und
größere Feinheit des Ornaments. Vor allem finden
wir schon das für die spätere Gotik so charakteristische
Pflanzenornament in zartester Ausführung.
Es ist dies wohl bei der Vereinigung von Rein¬
heit und Klarheit der Linien mit Anmut und Grazie
das klassische Zeitalter des Spitzbogenstils.
Seit dem Ende des 14. Jahrhunderts beginnt das
Ornament, auf Kosten der Form zum Teil, zu über¬
wuchern. Der Gesamteindruck leidet zugunsten des
Details. Man begnügt sich nicht mehr mit dem
Spitzbogen, man wendet daneben den geschweiften
Bogen nebst seinen abwechslungsreichen Abarten an.
Der Wunsch, Macht und Glanz zum Ausdruck
zu bringen, verdrängt die naive Frömmigkeit, ln
demselben Maße wie die Schlichtheit aus den Kirchen
schwindet, nimmt die Pracht der Profanbauten zu.
Es ist die Bauweise des Jahrhunderts, welches
mit der Vereinigung von Castilien und Aragon, mit
der endgültigen Vernichtung der Maurenherrschaft,
mit der Entdeckung der neuen Welt und — mit
der religiösen Unduldsamkeit endete.
Gleichzeitig tritt hier zum ersten Male die Per¬
sönlichkeit des Künstlers in den Vordergrund. Bis
dahin hatte man selbstlos »in majorem Dei gloriam«
geschaffen; jetzt verkünden die Werke den Ruhm
des Meisters.
Wir finden hier bereits deutliche Spuren des
für die spätere spanische Kunst so charakteristischen
Naturalismus und Individualismus. Die Folge hier¬
von ist, daß wir ganz hervorragenden Leistungen
auf dem Gebiet der Porträtstatue begegnen.
Daneben macht sich in den künstlerischen Schöp¬
fungen dieser Jahrhunderte ein weiteres Element in
Spanien geltend. Es ist dies die Bereicherung der
Ideen durch bei Berührung mit der Kultur des Orients
empfangene Eindrücke, befördert durch die bereits er¬
wähnte, uns so sympathisch berührende Toleranz jener
Tage, welche trotz fast jährlich sich wiederholender
bewaffneter Zusammenstöße fruchtbringende friedliche
Beziehungen zwischen Christen und Muhamedanern
ermöglichte.
Es läßt sich diese gegenseitige Einwirkung bei der
gotischen Baukunst im Norden und der maurischen
im Süden der Halbinsel konstatieren, und zwar werden
die Merkmale hierfür um so prägnanter, je mehr sich
die beiden Stilarten verfeinern und ausgestalten’).
Es ist gewiß kein plumper Zufall, daß fast gleich¬
zeitig mit den überreichen und prunkvollen christ¬
lichen Bauten sich die märchenhaften Paläste der
Alhambra und des Alkazar von Sevilla mit ihren
Stalaktitengewölben und von Arabesken bedeckten
Wänden erheben.
Der Umstand, daß die Entstehung der erwähn¬
ten maurischen Bauwerke der der entsprechenden
christlichen Konstruktionen etwa ein halbes Jahr¬
hundert voraufgeht, gibt der Vermutung Raum, daß
auch hier, wie so oft, die kulturelle Beeinflussung
des Siegers durch den Besiegten die stärkere ge¬
wesen ist.
Im Zusammenhang mit dem Gesagten, der Ver¬
tiefung des durch die Gotik ausgesprochenen Ge¬
dankens einerseits und der Zugänglichkeit für mau¬
rische Einflüsse andererseits, steht der höchst eigen¬
artige Kompromißstil, welchen die spanische Kunst
sich schafft, als sie sich einem dritten, neuen Ele¬
ment, der Renaissance gegenüber sieht.
Es entsteht so ein spezifisch spanischer, mehr
origineller, als edler Stil, der die Gotik abschließt,
1) Das Bindeglied zwischen maurischer und christ¬
licher Kunst bildet das sogenannte »Mudejar«; da dieser
Stil für Burgos kaum in Betracht kommt, unterlasse ich es,
näher darauf einzugehen.
BURGOS
7
oder auch, wenn man so will, im Verlauf von mehr
als einem halben Jahrhundert allmählich von der
Spätgotik zur Renaissance hinüberführt.
ln abwechslungsreichster und zwanglosester Weise
werden Motive aus zwei oder auch drei Stilarten ge¬
mischt. Im allgemeinen, wenigstens in Burgos, be¬
hält man Struktur und äußere Form der Gotik bei,
während man das Ornament bereits der Renaissance
entlehnt; die Vorliebe aber, die Wände mit Verzierungen
und Wappen zu bedecken, die Verwendung der In¬
schrift als Wandschmuck, vor allem als Fries, sowie
die Zeichnung mancher Einzelheiten sind auf die
Kenntnis maurischer Arbeiten zurückzuführen.
Da sich diese Zeit hauptsächlich in Reichtum und
Feinheit der Skulptur gefällt, so daß die Kunst des
Bildhauers die des Silberarbeiters nachzuahmen scheint,
hat man diesen Stil nicht unzutreffend als »plateresk« i)
bezeichnet. —
Ein Gang durch Burgos zeigt uns Beispiele für alle
Wandlungen und Schattierungen des gotischen Stils.
* *
Dasjenige Bauwerk natürlich, welches unser Inter¬
esse in erster Linie in Anspruch nimmt, ist die
Kathedrale.
Sie ist unter der Regierung Eerdinands III. am
20. Juli 1221 an Stelle einer bereits von Alfons VI.
(1075) errichteten Kirche, durch Bischof Mauricio
gegründet worden.
Im Chor der Kirche befindet sich das Grabmal
des 1240 verstorbenen Begründers (Abb. 2), eine treff¬
liche Arbeit des 13. Jahrhunderts. Die liegende Figur
ist in dünner Bronze, welche einen Körper von Holz
umkleidet, hergestellt. Leider sind die reichen Ver¬
zierungen in Emaille und kostbaren Steinen fast voll¬
kommen der Zeit zum Opfer gefallen.
Als Jahr der Vollendung des Baues ist, wenn man
von verschiedenen späteren Hinzufügungen, die man
im Interesse des Gesamtorganismus gern missen würde,
absieht, das Jahr 1568 anzusehen.
Die Entstehungszeit der Kathedrale deckt sich
mithin vollkommen mit der Entwickelung des goti¬
schen Stils in Spanien. Hier können wir tatsäch¬
lich den Werdegang dieser Bauweise von ihren
1) Platero-Silberarbeiter. Neben plateresken Arbeiten,
welche noch gotischen Einfluß verraten, finden wir bereits
vollkommen der Renaissance angehörende.
Anfängen bis zu ihrem Übergang zur Renaissance
verfolgen.
Der malerische Reiz der Kathedrale wird wesentlich
durch die Eigenart des Bauplatzes erhöht. Alfons VI.
soll einen hier belegenen königlichen Palast zur Ver¬
fügung gestellt haben. Sie erhebt sich am Abhang
des durch das Kastell von Burgos bekrönten Hügels,
und zwar ist das linke Seitenschiff mit seiner unteren
Hälfte in den Berg eingebaut, so daß sich das Niveau
der an der Nordseite’) vorüberführenden Straße erheb¬
lich über dem des Fußbodens der Kirche befindet.
Merkwürdigerweise habe ich verschiedentlich, auch
von kunstverständiger Seite, beklagen hören, daß man
sich gerade auf diese Stelle kapriziert und nicht das
Gebäude in die Ebene gestellt habe.
Ich kann mir nichts anmutigeres denken, als das
unregelmäßige Plätzchen an der Westfront des Domes,
welches durch eine Terrasse mit der kleinen, gleich¬
falls gotischen Kirche von San Nicolas de Bari über¬
höht wird. Ganz abgesehen davon, daß sich uns so
ein geeigneter Standpunkt bietet, auch höher gelegene
Teile der Fassade zu betrachten.
Denn welche Abwechselung im Aufbau wird nicht
dadurch herbeigeführt, daß von der Eingangstür des
nördlichen Querschiffes zum Innern der Kirche eine
doppelte Ereitreppe hinunterführt, während man zu
dem Portal der Südseite auf 28 breiten Stufen empor¬
steigt, oder daß man von der Kirche aus das obere
Stockwerck des in zwei Etagen angelegten Kreuzganges
betritt und zu seiner Überraschung von hier in den
tiefer gelegenen Hof hinabblickt!
In gleicher Weise wird gerügt, daß man die alten,
baufälligen Häuser in der Umgebung des Domes
duldet, und hierzu das alte, in diesem Ealle tatsächlich
ungerechtfertigte, Lied von der spanischen Indolenz
angestimmt. Man verlangt die Freilegung des Baues,
um den Gesamteindruck genießen zu können.
Es gibt wohl kaum etwas, was den Mangel an
Gefühl für das Wesen der Gotik deutlicher verrät,
als jene sauber abgeputzten und ausgebesserten Dome,
die sich mitten auf einem freien, mit schönen Mustern
gepflasterten Platz oder zwischen modernen Garten-
1) Ältere Kirchen sind fast ohne Ausnahme so orien¬
tiert, daß sich der Altar im Osten, die Türme im Westen
befinden. Die Bezeichnung rechts (Seite der Epistel), links
(Seite des Evangeliums) verstehen sich für den Beschauer,
der die Front nach dem Altar nimmt. Die in Klammer
stehenden Ausdrücke beziehen sich auf den Platz des
Priesters am Altar beim Verlesen des Textes.
BURGOS
-1 n ,n, und um die sich internationale Hotels,
i: . - i .‘.. r und Warenmagazine mit enormen Spiegel-
-U':; in respektvoller Entfernung aufstellen.
Gotische Kathedralen haben keine Fronten, welche
i.i ‘-Lrechnung auf ein Gesamtbild entstanden sind.
Das ist schon deshalb kaum möglich, weil sie wohl
höchst selten nach einem einheitlichen Plane ge¬
schaffen worden sind. Jahrhunderte haben daran ge¬
arbeitet, und jedes von ihnen hat einen unabhängigen
Ausdruck seines Könnens und seines Glaubenseifers
zu finden gesucht. Ein derartiges Bauwerk zerfällt
in ebensoviel Einzelbilder, als die Anzahl der kleinen
Plätze, die es umgeben, oder der krummen und winke¬
ligen Gassen beträgt, denen es als Abschluß dient.
Eine Gesamtwirkung
und vor allem auch Fern¬
wirkung sollen lediglich
die Teile der Kirche er¬
zielen, welche über die
Dächer emporragen. Diese
wollen aber nicht für sich
allein wirken, sondern
bilden einen, wenn auch
den wichtigsten und ton-
angebendenTeil desStädte-
bildes.
Die Kathedrale ist der
Stolz und das Wahrzeichen
der Stadt. Schon von
weitem, längst ehe man
die halb hinter Wall und
Mauern verdeckten Häuser
erkennen kann, sieht man
das riesige Dach und die
gewaltigen Türme.
Die einstigen Bewohner
der kleinen, unschein¬
baren Häuser, die sich
schutzsuchend an das Got¬
teshaus herandrängen, ha¬
ben kein Opfer und keine
Mühe gescheut, um das
staunenerregende Werk zu
vollenden; ihre Wünsche
aber und ihre Bitten wer¬
den durch die aufstrebenden Türme und Spitzen und
Zacken und Zinnen zum Allmächtigen emporgetragen.
Wollen wir uns an diesem anmutigen Bild er¬
freuen, so haben wir hierzu gerade in Burgos, wie
in wenig anderen Städten, die günstigste Gelegenheit,
wenn wir zu dem nahen Kastell hinaufsteigen (Abb. i).
Überblicken wir die Kathedrale von hier aus, so
ist eine Dreiteilung in der Gruppierung der Stein¬
massen wahrzunehmen; die zwei Türme, die über
der Vierung von Lang- und Querschiff errichtete
oktogonale Laterne und die an der Ostseite der
Kirche angefügte, gleichfalls achtkantige »Capilla
del Condestable«, sämtlich Arbeiten des 15. und
] 6. Jahrhunderts. Die beiden Oktogone sind durch
je acht schlanke und reich verzierte Fialen überragt.
Hierneben markieren sich als ältere Bestandteile
des Gebäudes die das Querschiff an beiden Seiten
abschließenden Bekrönungen^) und die kleinen runden
Türme, welche die Ecken des quadratischen Kreuz¬
ganges bezeichnen. Letztere sind in ihrer Form be¬
sonders interessant und charakterisieren im Gegensatz
zu der Filigranarbeit der Spätgotik die kräftigere und
energischere Bauweise des 1 4. Jahrhunderts, ohne die
Harmonie des Ganzen zu beeinträchtigen.
Das Baumaterial der Kathedrale ist der weiße,
dem Marmor sehr ähnliche, Kalkstein von Ontoria.
* s}:
*
Den ältesten Teil der Kathedrale, welcher uns
erhalten geblieben ist, haben wir wohl im nördlichen
Querschiffzu suchen, des¬
sen Portal, die »hohe Tür«
(man erinnere sich an das
bereits über die Uneben¬
heit des Fundaments ge¬
sagte) oder auch »Puerta
de la Coroneria«, aus¬
gesprochen den Charakter
der frühesten Gotik trägt
(Abb. 7). Leider ist die
Pforte selbst erst in viel
späterer Zeit eingesetzt
worden. Außerdem be¬
findet sich auf dieser Seite
im Innern der Kirche die
einfache Kapelle von San
Nicolas Obispo, die ein¬
zige der zahlreichen Sei¬
tenkapellen, welche das
Gepräge des 1 3. Jahrhun¬
derts gewahrt hat.
Die nahegelegene Kir¬
che von San Esteban zeigt
in ihrem Portal (Abb. 5)
eine merkwürdige Ver¬
wandtschaft mit der Puerta
de la Coroneria, dürfte
mithin gleichzeitig mit
der frühesten Bauperiode
des Domes entstanden
sein.
Die der hohen Tür an der Südseite der Kathedrale
entsprechende »Puerta del Sarmental« gehört gleich¬
falls dem 13. Jahrhundert, doch sicher erst seinem
Ende an, wie die deutlich erkennbare Verfeinerung
der Arbeit vermuten läßt (Abb. 4). Von der ur¬
sprünglichen Umrahmung des entsprechend den drei
Schiffen der Kirche, dreiteiligen Haupteinganges, deren
Schönheit Ponz") in seiner Reisebeschreibung nicht
genügend rühmen kann, ist uns leider mit Ausnahme
der zu beiden Seiten der Mitteltür eingelassenen
Doppelstatuen der Könige Alfons VI. und Ferdi¬
nand III. und der Bischöfe Asterio®) und Mauricio,
1) Vergl. Abb. 4. Rechts der Treppe befindet sich
einer der hier erwähnten kleinen Türme.
2) Antonio Ponz, Viaje de Espana 1776—94.
3) Asterio erster durch die Akten des 3. Konzils von
ABB. U). KATHEDRALE: CAI’ILLA DE SANTA ANA
BURGOS
9
sowie der Reliefs in den Lünelten der Seitentüren
nichts erhalten geblieben. Man hat 1794 den archi¬
tektonischen Schmuck beseitigt und in barbarischer
Verständnislosigkeit Türen im Geschmack der da¬
maligen Zeit eingefügt (Abb. 3).
Das 14. Jahrhundert ist in würdigster Weise durch
den an der Südseite der Kathedrale angebauten Kreuz¬
gang vertreten. Den Zugang bildet im südlichen
Querschiff ein Portal, welches etwas frühere Formen
als der Kreuzgang aufweist und wohl was Feinheit
der Empfindung und der Komposition anbelangt, zu
sich wiederholende Verwendung des Wappens von
Castilien und Leon als tapetenartiges Muster.
Im übrigen ist Burgos verhältnismäßig arm an
Bauten aus diesem Jahrhundert, um so reicher aber
ist es an spätgotischen und plateresken Denkmälern.
%
Die Erklärung hierfür gibt die Geschichte. Al¬
fons XI. (1312 — 50) hatte mit Vorliebe in Toledo
residiert, während sein Sohn und Nachfolger Don
Pedro in Sevilla einen an die Lebensführung eines
orientalischen Sultans erinnernden Flofhalt führte.
Natürlich wendeten diese Herrscher auch den von
ABB. 11. CARTUJA: GRABMAL JOHANN II. UND SEINER GEMAHLIN ISABEL
den besten dekorativen Schöpfungen gotischer Kunst
in Burgos zählt (Abb. 6) die schön geschnitzten Tür¬
flügel sind eine Arbeit des 15. Jahrhunderts.
Der Hauptreiz des Kreuzganges besteht in dem
reichen , überaus sorgfältig ausgeführten Blattwerk,
welches die Kapitale und die Konturen der Spitz¬
bogen verziert. Die Wirkung wird noch bedeutend
erhöht durch verblassende Reste früherer Bemalung,
wodurch das Ganze einen unaufdringlichen Ton von
Wärme und Leben erhält (Abb. 8).
Sehr geschmackvoll ist die an den Türumrandungen
Toledo 589 urkundlich nachweisbarer Bischof von Oca,
der Mutterkirche von Burgos.
Zeitschrift für bildende Kunst N. F. XVIIL H. i
ihnen bevorzugten Städten in erster Linie ihre Bau¬
tätigkeit zu.
Als das Jahr 1369 die illegitime Linie des Grafen
Heinrich von Trastamara zur Regierung brachte, wurde
Burgos, welches die Partei des Halbbruders Peter des
Grausamen ergriffen hatte, wieder ständige Residenz,
bis mit Heinrich IV., dem Bruder der Isabella der
Katholischen, der Mannesstamm der castilianischen
Könige erlosch.
Hierzu kamen vorübergehend größere Ruhepausen
im Glaubenskrieg, eine Reihe mehr prunkliebender,
als kampfeslustiger Herrscher, die wachsende Be¬
deutung Burgaleser Magnatenfamilien, welche mit den
Königen an Ansehen und Machlentfaltung wetteiferten.
2
AHB. 12. PORTAL DER CARTUJA DE MIRAFLORES ARB. 13. KATHEDRALE: DETAIE AN DER CAPILLA DEL CONDESTABLE
Aus »Joly, Meisterwerke der Baukunst und des Kunstgewerbes«. Spanien I
ABB. 14. CARTUJA: ALTAR ABB. 15. KATHEDRALE; CAPILLA DEL CONDESTABLE
Aus »Joly, Meisterwerke der Baukunst und des Kunstgewerbes«. Spanien 1
12
BURGOS
In diese Zeit fällt die für die Geschichte der
Kathedrale überaus bedeutungsvolle Amtstätigkeit der
Bischöfe Alonso de Cartagena (1435 56) und Luis
de Acuna (1456—95). Ihnen haben wir die Voll¬
endung der Türme zu verdanken, und zwar ist der
südliche Turm noch zu Lebzeiten Cartagenas beendigt
worden. Die Wappen der Erbauer haben neben dem
von Castilien im Ornament Verwendung gefunden.
Es ist nicht uninteressant zu wissen, daß zur Aus¬
führung der Arbeit der deutsche Baumeister Johann
von Köln nach Burgos berufen wurde. Anregung
hierzu mag der längere Aufenthalt Don Alonsos in
Deutschland während des Konzils von Basel (1431)
gegeben haben. Auch der Sohn Johanns (f 1478)
Simon von Köln ist in Burgos tätig gewesen.
Es würde zu weit führen, hier auf Details der
Architektur einzugehen.
Überraschend wirkt der Abschluß der Türme,
indem sie nicht in die konventionelle Kreuzblume,
sondern eine Art von Knauf auslaufen. Es bedarf
dies keines weiteren Kommentars, wenn man weiß,
daß die Türme ursprünglich durch die Kolossalstatuen
von S. Paulus und S. Petrus überragt gewesen sind,
welche man aber 1749, da die eine von ihnen herab¬
zustürzen drohte, entfernt hat. Die heutigen Be¬
krönungen der Türme sind also lediglich die Sockel
der besagten Statuen.
Ich erwähne dies noch aus einem anderen Grunde.
Wir haben hier ein gutes Beispiel dafür, wie sinnig
diese Zeit in der Wahl ihrer Dekorationsmittel war,
sodaß auch scheinbar Zufälligem oder zum mindesten
wenig Beachtenswertem doch meist eine tiefere sym¬
bolische Bedeutung zugrunde liegt. Der seiner Bau¬
zeit nach ältere Turm war mit dem Standbild des
S. Paulus geschmückt, während seine oberste Galerie
das Monogramm der Jungfrau (S. M.) trägt. Wir
können hierin eine pietätvolle Ovation des Erbauers
für seinen Vater und Vorgänger im Amt, den Bischof
Pablo de Sta. Maria, vermuten.
An die beiden baueifrigen Kirchenfürsten, deren
Verdienst es ist, daß hier nicht, wie so vielfach, eine
prachtvolle Schöpfung gotischen Kirchenstils Frag¬
ment geblieben ist, erinnern ferner zwei Seitenkapellen
der Kathedrale, welche von ihnen ausgeschmückt
worden sind.
Es ist dies im Querschiff der Epistelseite die
"Capilla de la Visitacion« mit einer Reihe beachtens¬
werter Grabmäler (Abb. 9), unter ihnen das des Be¬
gründers, Alonso von Cartagena, ein Werk des Gil
de Siloe (eines Künstlers, auf welchen wir an anderer
Stelle eingehend zu sprechen kommen werden) und
auf der Seite des Evangeliums die »Capilla de Santa
Ana , welche Luis de Acuiia an Stelle zweier kleiner
Kapellen errichtete. Das geschnitzte Altarbild ist eines
jener zahlreichen »Retablos«, deren Herstellung in
Holz und Stein ein besonderes Kunstgewerbe heran¬
bildete, und welche ein charakteristischer Schmuck
spanischer Kirchen sind. Sein Mittelstück stellt einen
Stammbaum Christi dar, welcher aus der Seite des
schlafenden Abraham emporsproßt und das Bild der
heiligen Anna und des heiligen Joachim umschließt
(Abb. 10).
Zu den bemerkenswerten Bauten des 15. Jahr¬
hunderts gehört die bereits genannte Kirche von
S. Nicolas de Bari.
Vor allem aber möchte ich den kleinen stillen
Platz von San Lesmes nicht unerwähnt lassen. Er
liegt abseits der Stadt. Die altertümliche, von vier
verwitterten Löwen flankierte Brücke, welche zu dem
Platz über den Pico führt, und die einander gegen¬
über liegenden Fronten der Kirche von San Lesmes
und des Hospitals von San Juan mit ihren stattlichen
Portalen geben uns heute noch ein fast unverändertes
Bild des zu Ende gehenden Mittelalters.
Wollen wir aber die Spätgotik in ihrer Vollendung,
in der Feinheit ihrer Ornamente, der Mannigfaltigkeit
ihrer Linien, dem Reichtum ihrer Formen und Bilder¬
sprache und der Lebendigkeit ihrer Darstellungsweise
bewundern, so müssen wir die östlich der Stadt auf
einer Anhöhe gelegene Cartuja de Miraflores auf¬
suchen.
An Stelle einer von Heinrich III. (f 1406) ange¬
legten königlichen Sommerresidenz errichtete hier
Johann 11. (Vater Isabellas der Katholischen) ein Kar¬
täuserkloster, welches jedoch bald nach seiner Grün¬
dung in Flammen aufging. Die neuerbaute Kirche
gestaltete Isabella zu einem Mausoleum für ihre Eltern.
Die bedeutendsten Künstler, welche damals in
Burgos lebten, haben sich vereinigt, um aus dem
kleinen Gotteshause ein wahres Kleinod der Kunst
zu machen (Abb. 12).
Die nur aus einem Schiff bestehende Kirche ist
nach Plänen Johanns von Köln durch Simon von
Köln beendet worden. Die Ausführung der Bild¬
hauerarbeiten aber wurde dem aus Burgos gebürtigen
Gil de Siloe übertragen. Wir sind seinem Namen
bereits begegnet; hier können wir uns aber so recht
ein Bild von dem Können dieses hervorragenden
Meisters machen. Seine Arbeiten gehören wohl zu
den schönsten, was die späte Gotik überhaupt ge¬
schaffen hat. Ich habe wenigstens, mit Ausnahme
vielleicht der unvergleichlichen »eglise de Brou« i)
1) Bourg, dept. Ain Frankreich.
ABB. 16. KATHEDRALE: GRABMAL DES PEDRO FERNANDEZ DE VILLEGAS ABB. 17. PROVINCI ALMUSEUM : GRABMAL DES JUAN DE PADILLA
Aus »Joly, Meisterwerke der Baukunst und des Kunstgewerbes.. Spanien 1
14
BURGOS
ähnliches nicht gesehen. Ich möchte daher der
Würdigung dieses Künstlers einen verhältnismäßig
weiten Raum in meiner Ausführung zumessen.
Vor dem Hochaltar befindet sich das Grabmal
Johann II. und seiner Gemahlin Isabel von Portugal
(Abb. ii). Der Grundriß des Monuments ist der
eines achtzackigen Sterns, bei welchem größere mit
kleineren Spitzen abwechseln. Das königliche Paar
ist liegend dargestellt und durch ein niedriges, gitter¬
artiges Ornament geschieden. Zu ihren Füßen sind
Löwe, Hund und Kind als Symbole von Kraft, Treue
und Liebe angebracht.
Die Augen des Königs sind halbgeöffnet und die
feinen Züge, vor allem der geistreiche Mund, kenn¬
zeichnen den Regenten,
der, sehr zum Nachteil
seines Staates, mehr den
Wissenschaften als kriege¬
rischen Unternehmungen
zugeneigt war.
Es soll ganz sicher kein
Beweis von Unhöflichkeit
sein, daß ich die Königin
erst an zweiter Stelle er¬
wähne. Sie liegt mit ge¬
schlossenen Augen da und
scheint noch im Marmor
zu erröten, daß man sie
der Nachwelt auf einem
gemeinsamen Lager mit
ihrem Gemahl überliefert
hat. Aber es mag wohl
schon vor 400 Jahren die
Kehrseite der Galanterie
gewesen sein, wenn man
von Damen so absolut
nichts anderes zu sagen
wußte, als daß sie schön
und lieblich seien.
Die prunkvollen Gewän¬
der sind von bewunde¬
rungswürdiger Ausfüh¬
rung und verraten in ihrem
Faltenwurf vollendete
Meisterschaft in der Be¬
handlung des Marmors.
Leider fehlen Krone und rechte Hand des Königs,
wie überhaupt das Kunstwerk während der Unab¬
hängigkeitskämpfe und der späteren Bürgerkriege be¬
klagenswerter Weise stark gelitten hat.
Die vier ausladenden Spitzen des Sternes werden
durch die sitzenden Figuren der Evangelisten ge¬
schmückt, während sich in den acht einspringenden
Winkeln die Statuetten der übrigen Apostel befanden.
Von letzteren sind nur noch einige, und auch diese
meist in schlechtem Zustand, erhalten.
Im Relief des Sockels sind neben sieben weib¬
lichen Eiguren auf der Seite der Königin, welche
christliche Tugenden darstellen, sieben, die Eigen¬
schaften des Herrschers symbolisierenden, alttestament-
lichen Helden auf der Seite des Königs, sowie einer
Pieta und einem Christus in Getsemane zu Häupten
des Ehepaares, Wappen, Engel, Pflanzen- und Tier¬
ornamente in verschwenderischer Eülle verteilt. Alles
ist von unglaublicher Sorgfalt der Modellierung, jedes
Figürchen ein kleines Meisterstück für sich.
Die Wand auf der Evangelienseite des Altars trägt
ein Werk des nämlichen Künstlers, das Grabmal des
1470 im Alter von 16 Jahren verstorbenen Infanten
Alonso, Bruders der Königin Isabella.
Der Infant ist vor einem Gebetschemel knieend
dargestellt.
Eine diesem Denkmal durchaus verwandte Arbeit
enthält das Provinzialmuseum von Burgos, nämlich
das Grabmonument des 1491 in der Vega von Gra¬
nada gefallenen Pagen der
katholischen Könige, Juan
de Padilla (Abb. 17), wel¬
ches dem Kloster Fres del
Val entstammt. Ist es auch
in ornamentalem Schmuck
einfacher gehalten als das
des Infanten, so zeigt die
Ausführung des Porträts
den Künstler auf der Höhe
seiner Meisterschaft. Die
Statue Juan de Padillas ist
das Beste, was der Meißel
Gil de Siloes geschaffen
hat.
Das ist schon unverkenn¬
bar die an die Karikatur
grenzende Offenheit in der
Wiedergabe des Lebens,
welche die Größe spä¬
terer spanischer Künstler
ausgemacht hat.
Juan de Padilla soll sich
der besonderen Zuneigung
der Königin erfreut haben,
welche ihn wegen seines
Mutes und seiner Verwe¬
genheit »el mi loco«^) zu
bezeichnen liebte. Man
sieht es dem netten, offenen,
etwas arroganten , doch
so herzlich unbedeutenden
Gesicht an, daß es sicher keine geistigen Vorzüge
waren, die ihm die Gunst seiner Herrin verschafft
hatten.
Das letzte, was die Gotik für die Catuja ge¬
schaffen hat, ist der geschnitzte Altar, welcher die
Ostseite der Kirche einnimmt. Er ist gleichfalls von
Gil de Siloe, doch im Verein mit einem anderen
Künstler, Diego de la Cruz, in den Jahren 1495 — 99
hergestellt worden (Abb. 14).
Es hat ein gewisses historisches Interesse, daß zur
Vergoldung der Schnitzerei ein Teil des Goldes,
welches Kolumbus von seiner zweiten Reise mitge¬
bracht hatte, verwendet worden ist.
1) Loco — Narr.
ABB, 18. KATHEDRALE: QUERSCHIFE MIT KUPPEL
BURGOS
15
Man vergleiche mit dieser spätesten Arbeit Gil
de Siloes das in Marmor ausgeführte Retablo von
San Nicolas de Bari.^ ^Es ist etwa gleichzeitig ent¬
standen und zeigt eine gewisse Ähnlichkeit in der
Anordnung der Bestandteile. Der Bildhauer ist, so¬
weit ich habe in Erfahrung bringen können, unbe¬
kannt, hat aber offenkundig unter dem Einfluß seines gro¬
ßen Mitbürgers gestanden.
Während jedoch das Al¬
tarbild der Cartuja trotz der
Mannigfaltigkeit der Glie¬
derung die Einheit der Kom¬
position gewahrt hat und
in dem von einem Kranz
von Engeln umgebenen
Kruzifix einen festen Kern
besitzt, dem der Rest sich
mehr nebensächlich und er¬
gänzend anfügt, so ist das
andere typisch für jene figu¬
renreichen Skulpturen der
Spätgotik, welche zugunsten
des Details auf ein harmoni¬
sches Zusammenwirken der
Teile verzichten und, bei
aller Bewunderung, die wir
der vollendeten Technik in
der Meisterung des Steines
zollen müssen, sich doch
mehr an unser kunsthistori¬
sches Interesse, als an unser
ästhetisches Empfinden wen¬
den.
Der wahre Künstler wird,
als Kind seiner Zeit, sich
Konzessionen an die herr¬
schende Geschmacksrich¬
tungnichtentziehen können,
doch wird er Übertreibungen
gegenüber einen Ausweg
finden.
* *
Um einen Begriff von der
Bauart der Übergangszeit
der Gotik zur Renaissance,
dem plateresken Stil, zu er¬
halten, müssen wir uns wie¬
der derKathedralezuwenden.
Da im Jahre 153g ein
Teil des Gewölbes über dem
Altarplatz einstürzte, mach¬
ten sich umfassende Ausbesserungsarbeiten nötig. So
ist es gekommen, daß vorherrschend das Kirchen¬
innere den Charakter dieser letzten Periode trägt.
Die Kathedrale besteht, abgesehen von zahlreichen
Seitenkapellen, die jedoch für das Gesamtbild kaum
in betracht kommen, da sie alle mehr oder weniger
abgeschlossene kleine Kirchen für sich bilden: aus
erhöhtem Mittel- und Querschiff, zwei niedrigeren
Seitenschiffen und einem halbkreisförmigen Gang
(Trasagrario) hinter dem Hochaltar. Es mag auf die
platereske Ausschmückung zurückzuführen sein, daß
dem Innern der Kirche die Würde und der Ernst
anderer gotischen Dome fehlen.
Während wir beispielsweise in Sevilla zunächst
nur die Größe und Erha¬
benheit des Raumes emp¬
finden und uns lange in
der Kathedrale aufhalten
können, ehe wir bemerken,
daß wir allenthalben von
Kunstwerken ersten Ranges
umgeben sind, wird in Bur-
gos sofort unser Interesse
von Einzelheiten in An¬
spruch genommeu. Hierzu
kommt, daß es schwer oder
wohl fast unmöglich ist,
einen für den Überblick
des Innenraumes günstigen
Standpunkt zu finden.
Wie in den meisten grö¬
ßeren Kirchen Spaniens, ist
in späterer Zeit der Chor
auf der dem Hochaltar ge¬
genüberliegenden (west¬
lichen) Seite des Mittelschiffs
angelegt worden. Hier ist
aber der aus dem 17. Jahr¬
hundert stammende Einbau
besonders schwerfällig und
störend. Hochaltar und
Chor bilden eine, wenn
auch aufs prunkvollste aus¬
gestattete, so doch fast voll¬
kommen abgeschlossene
zweite Kirche im Innern
der Kathedrale, welche
einer Vereinigung der ver¬
schiedenen Teile zu einem
einheitlichen Bild sehr hin¬
derlich ist.
Dies und die Verstümme¬
lung des Hauptportals sind
die beiden schweren Ver¬
sündigungen, welche sich
eine spätere — ? höhere?
Kultur an einem na¬
tionalen Heiligtum hat zu
Schulden kommen lassen.
Ein Schmuckstück plateresker Kunst aus den ersten
Jahren dieser Bauweise ist die bereits erwähnte »Ca-
pilla de Condestable« , welche wir vom Trasagrario
aus betreten (Abb. 13 u. 15). Es ist die Begräbniskapelle
der Grafen von Velasco, Condestables^) von Castilien.
Sie bildet zugleich ein historisches Denkmal für die
politische Stellung castilianischer Granden jener Tage,
ABB. i9. CASA DEL CORDON
i) _Man zählt fünfzehn.
1) Condestable connetable = Comes Stabuli,
BURGOS
l6
welche hier ein Vorrecht für sich in Anspruch nahmen,
welches anderweitig nur Königen gewährt wurde.
Die Kapelle wurde im vorletzten und letzten Jahr¬
zehnt des 15. Jahrhunderts von Simon von Köln im
Auftrag einer aus dem Hause Mendoza stammenden
Gräfin Velasco erbaut.
Die Gräfin muß eine gute Hausfrau gewesen sein;
man erzählt von ihr, sie habe während der Abwesen¬
heit ihres an der Belagerung von Granada beteiligten
Galten derartige Ersparnisse gemacht, daß sie ihn
bei seiner Rückkehr mit einem Palast, einem Jagdpark
und einer Grabkapelle beschenken konnte.')
Der Palast, dessen hier Erwähnung geschieht, ist
das in Burgos als Casa del Cordön« bekannte Ge¬
bäude. Der Name bezieht sich auf das Ordenszeichen
der Franziskaner, den zusammengeknoteten Strick
(cordön), welcher die über dem Eingang angebrachten
Wappen der Velasco und Mendoza umrahmt (Abb. ig).
Der Bau ist ungefähr in denselben Jahren wie die
Capilla del Condestable durch den maurischen Archi¬
tekten Mohammad de Segovia ausgeführt worden.
Der weite innere Hof erinnert an die in Andalusien
heute noch übliche Bauweise.
Leider wird das historische Haus, welches auch
vorübergehend den Königen als Absteigequartier diente
(Isabella und Ferdinand empfingen hier Kolumbus),
jetzt zum Teil niedergerissen.
Es ist bezeichnend für die Verschiedenartigkeit
der Einflüsse, welchen die spanische Kunst damals
unterworfen war, daß im Auftrag derselben Bauherrin
zu gleicher Zeit ein deutscher und ein maurischer
Meister tätig sind.
Während Ende des 1 5. Jahrhunderts bereits Bauten
entstehen, welche beweisen, daß die Formen der
Renaissance in Spanien nicht mehr unbekannt sind,
ist es hochinteressant, andererseits zu beobachten, wie
ungern man sich zum Teil dieser neuen Richtung
anschließt.
Das Grabmal des in der Kathedrale beigesetzfen
Archidiakon Pedro Fernandez de Villegas, des kasti-
lianischen Danteübersetzers, welcher, wie die Inschrift
besagt, erst 1536 gestorben ist, ist noch rein im Stil
der späteren Gotik gehalten (Abb. 16).
Den Abschluß der Restaurationsarbeiten des 16. Jahr¬
hunderts bildet die auf dem Schnittpunkt von Lang-
und Querschiff errichtete achtkantige Laterne'').
Die in goldenen Lettern auf blauem Grund aus¬
geführte Inschrift des Schlußsteines »Acabose Aüo
de 1568« enthält das Datum der Vollendung. Diese
Kuppel nebst den vier gewaltigen Pfeilern, welche
sie tragen, gibt uns einen Begriff von der Prunkliebe
der Zeit.
Die verschwenderische Ausschmückung zeigt deut¬
lich den siegreichen Einfluß der Renaissance, während
die Borte mit der Inschrift: »IN MEDIO TEMPLI
TUI LAUDABO TE ET GLORIAM TRIBUAM NO-
1) Los ahorros de una Condestablesa de Castilla Sem.
Pint. Esp. 1850.
2) Ich wende im folgenden der Einfachheit halber
die Bezeichnung »Kuppel« an, obwohl dieser Ausdruck
nicht ganz zutreffend ist.
MINI TUO QUI FACIS MIRABILIA«, welche den
unteren Rand umsäumt, und der mit Metallrosetten
verzierte Stern an die Dekorationsweise des Mudejars
erinnern.
Jedenfalls müssen wir den feinen Geschmack und
den Takt des Baumeisters Philipp von Burgund be¬
wundern, dem es, wenn auch vollkommen vertraut
mit der neuen Ideenwelt, wie uns die Reliefs von
der Hand desselben Künstlers im Trasagrario des
Domes beweisen, doch gelungen ist, eine harmonische
und würdige Form für die Bekrönung eines Werkes
zu finden, welches vom Geist des Mittelalters durch¬
drungen ist, ohne hierbei zu verhehlen, daß er selbst
dieser Zeit nicht mehr angehört.
*
Wenn wir im Chor der Kathedrale an dem
schlichten, doch in seiner herben Schönheit so aus¬
drucksvollen Grabmal des Begründers stehen und
von hier die Augen zu der Kuppel erheben, welche
in ihrem Zierat und Wappenschmuck die glänzendsten
Kunstformen des Morgen- und Abendlandes vereinigt,
so umfassen wir mit einem Blick den Abschnitt der
Geschichte, in welchem ein kleines, um seine Existenz
ringendes Königreich sich zu der Riesenmonarchie
entwickelte, in deren Staaten die Sonne nicht unter-
ging-
Unter dieser Kuppel haben die beiden Herrscher,
deren Machtentfaltung in der Geschichte kaum ihres¬
gleichen findet, Karl V. und Philipp 11., gestanden und
bewundernd zu ihr emporgeblickt.
Karl V. soll hierbei den mehr originellen als ge¬
schmackvollen Ausspruch getan haben: »die Kuppel
sei so schön, daß sie wie ein kostbares Juwel in ein
Etui gelegt werden müßte, damit man sie nicht täg¬
lich, sondern nur auf Verlangen sehen könnte«.
Worte, die uns nur beweisen, daß die höchste irdische
Macht und ein feineres Verständnis für das Wesen
der Kunst nicht unbedingt vereinigt sein müssen.
Die Bemerkung Philipps 11., »es scheine mehr das
Werk von Engeln, als von Menschen zu sein«, verrät
schon eher ein tieferes Empfinden.
Derselbe Monarch soll bei dem Anblick der Königs¬
gräber der Cartuja beklagt haben, daß es ihm nicht
gelungen sei, im Escorial ähnliches zu schaffen.
Hat er hierbei gefühlt, wie kalt und leblos seiner
Hofarchitekten Riesenbauten, von denen nur der eisige
Hauch unnahbarer Majestät ausgeht, sich neben diesen
Meisterwerken des Mittelalters ausnehmen, und ist die
Ahnung in ihm emporgestiegen, daß er die ersten
Schritte tat auf dem verhängnisvollen Weg, den seine
Nachfolger innehielten, und der zur Vernichtung des
spanischen Genius führte, des Schöpfers der steinernen
Wunder von Burgos?
Saxa Loquuntur!
Die 19 Abbildungen im Text sind zum Teil nach
Photographien des D. Alfonso Vadillo Burgos, die Zier¬
leisten nach Entwürfen meines Vaters.
ZEITSCHRIFT FÜR BILDEXDE KUNST igoh ORIGINALRADIERUNG VON SIR CFIARLES HOLROYD- LONDON
SIR CHARLES HOLROYD ALS RADIERER
Von Selwyn Brinton in London
Die vor kurzem erfolgte Berufung des Sir Charles Holroyd
auf den frei gewordenen Direktorposten der Londoner
National-Galerie wurde von der gesamten Öffentlichkeit
als wohlverdiente Bekrönung einer außerordentlich erfolgreichen
Künstlerlaufbahn anerkannt. Ließen doch die vielseitigen Er¬
fahrungen, die Holroyd während seiner neunjährigen Leitung der
von Mr. Tate letztwillig gestifteten British Art Gallery gesammelt
hatte, seine Berufung auf jenen Ehrenposten vollauf gerechtfertigt
erscheinen. Aber Sir Charles ist nicht nur ein ausgezeichneter
Verwaltungsbeamter und Galeriedirektor, sondern auch selbst ein
ganz vortrefflicher Künstler, der ebenso glänzende Leistungen auf
dem Gebiete der Malerei und Zeichnung, wie auf demjenigen
der künstlerischen Lehrtätigkeit aufzuweisen hat, und der nament¬
lich unter den zeitgenössischen Radierern Englands eine hervor¬
ragende persönliche Rangstellung einnimmt.
Bevor wir jedoch in dieses Hauptthema unserer Betrachtungen
eintreten, wollen wir uns den Lebensgang unseres Künstlers und
die Etappen seiner Entwickelung näher vergegenwärtigen.
Alles, was Sir Charles als Mensch wie als Künstler zu erreichen
vermocht hat, verdankt er im wesentlichen seiner ungewöhnlichen
Arbeitskraft; seine Gewissenhaftigkeit und sein emsiger Fleiß
bilden die gesunde Basis seiner Kunst und seiner Erfolge. Geboren zu Leeds am g. April des Jahres 1861
und auf der Grammar School seiner Vaterstadt mit den Grundelementen der jugendbildung ausgestattet, trat
Charles Holroyd zunächst in das Yorkshire College of Science ein, um daselbst die Bergbaukunde zu
studieren. Aber so vielversprechend auch seine Begabung für dieses Studienfach zunächst erscheinen
mochte, — so wenig ließ sich doch der noch stärkere künstlerische Betätigungsdrang, der in ihm schlum¬
merte, auf die Dauer verleugnen. So entschloß sich denn der Jüngling, in die Slade School of Art über¬
zutreten; namentlich Alphonse Legros’ Lehrtätigkeit an dieser Anstalt war es, die ihn dorthin zog, nach¬
dem ihm einige Arbeiten dieses Meisters — insbesondere wohl seine Kupferätzungen — zu Gesicht
gekommen waren. Vier volle Jahre verbrachte er dann in dieser Londoner Kunstschule, und diese
Studienjahre sollten von dauernder Bedeutung für seine ganze fernere Künstlerlaufbahn bleiben. Er er¬
warb sich in dieser Lehrzeit die Medaille für Malerei nach dem lebenden Modell, sowie Ehrenpreise für
Landschaftsmalerei, Kupferätzung und Komposition, und schließlich noch ein Reisestipendium, das ihm
die Mittel zu einer zweijährigen Studienreise auf dem Kontinent in die Hand gab.
Als Holroyd von dieser Reise nach England zurückkehrte, war Newlyn, eine kleine Stadt in Cornwall,
soeben zum Sitze einer rasch aufblühenden Künstlerkolonie geworden. Auch unser junger Künstler ließ sich
alsbald in Newlyn nieder und malte daselbst eine Fischerszene Painting the Sail«, die im Jahre 1885 in
der Londoner Royal Academy ausgestellt wurde. Es dürfte jedoch sehr zu bezweifeln sein, daß gerade Hol-
royds Temperament in dem radikalen Naturalismus der Cornwall-Schule jemals seine volle künstlerische Be¬
friedigung gefunden haben würde. Rom, Florenz, Assisi, Venedig hatten in jenen soeben abgelaufenen köst¬
lichen Reisejahren ihren Zauber nicht umsonst auf das empfängliche Gemüt des reisenden Kunstjüngers
wirken lassen; vielmehr war ihm mit diesen Reiseeindrücken jene Sympathie mit dem innersten Wesen der
klassischen Kunst eingeimpft worden, die in allen seinen späteren Radierungen nicht weniger sinnfällig zur
Geltung gelangt, als die Kraft und Solidität seines technischen Könnens. Jedenfalls erhielt der junge Holroyd,
nachdem kaum erst sechs Monate seit seiner Niederlassung in Newlyn verflossen waren, durch die Vermitte¬
lung Alphonse Legros’ bereits eine Anstellung als Hilfslehrer an derselben Slade Art School, der er wenige
Jahre zuvor noch als Schüler angehört hatte. Auch dieser neue, abermals vier Jahre währende Aufenthalt an
dieser Kunstschule war augenscheinlich von größtem Nutzen für unseren Künstler. Fand er doch auf diese
Weise schon frühzeitig Gelegenheit, seine persönlichen Kunstanschauungen und Techniken anderen mitzuteilen
und zu erläutern. Außerdem genoß er hier den Vorteil, das künstlerische Schaffen eines so ausgezeichneten
Radierers wie Legros mit kritischem Auge beständig weiter verfolgen zu können und seine eigene jugend¬
liche Künstlertätigkeit noch längere Zeit durch den erfahrenen Altmeister geleitet und überwacht zu sehen.
Vor der Gefahr, in diesem langjährigen Zusammenleben ein bloßer Nachahmer Legros’ oder irgend
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XVIII. H. i o
SIR CHARLES HOLROYD ALS RADIERER
i2
eines anderen Meisters seiner akademischen Umgebung
zu werden, war Holroyd durch seine bereits voll
ausgereifte persönliche Künstlerkraft hinreichend ge¬
sichert. Er geriet niemals in direkte Abhängigkeit
von jenen Vorbildern und begann vielmehr gar bald
in seinem Schaffen eine markante künstlerische Eigen¬
art zu entwickeln. Sein an den Meisterwerken der
klassischen — nicht der klassizistischen — Kunst ge¬
schulter Sinn für Anmut der Linienführung und für
harmonische Bildkomposition führte ihn allmählich
immer weiter ab von der rauhen Strenge und der
häufig geradezu gesuchten Häßlichkeit, die das
Werk seines französischen Lehrmeisters kennzeich¬
net; dagegen bewahrte er sich für immer die von
Legros überkommene Schlichtheit und Natürlich¬
keit des Darsteliungsstiles, da er mit diesen ästheti¬
schen Grundsätzen seines Jugendvorbildes vollauf zu
sympathisieren vermochte und sie in höchstem Maße
wertschätzte. Schon in Holroyds ersten Malwerken
aus dieser Zeit macht sich die soeben charakterisierte
stilistische Eigenart des Künstlers deutlich bemerkbar,
»Pan, die Flöte spielend«. Das Oastmahl zu Emmaus«,
»Der Tod des Torrigiano«, noch mehr aber in seinen
Radierungen, mit denen wir uns hier ganz speziell
zu beschäftigen haben. Sein »Monte Subasio«, ein
Satz von einem halben Dutzend Ätzplatten, zeigt Dar¬
stellungen jenes Klosterberges von Assisi, wo St. Fran¬
ziskus gelebt, gebetet und gepredigt hat. Seine »Monte
Oliveto« - Platten behandeln sodann das Mönchsleben
des heutigen Italien, wie es der Künstler selbst bei
seinem Aufenthalte unter den Mönchen jener mäch¬
tigen mittelalterlichen Klosteranlage hatte beobachten
können, die den kahlen vulkanischen Felsrücken bei
Asciano bekrönt. Vielleicht ist derselbe liebenswürdige
Abt, dessen Güte auch ich kennen zu lernen Ge¬
legenheit hatte, der Gastgeber Holroyds gewesen, als
dieser dem Kloster von Monte Oliveto seinen Besuch
abstattete. Wahrscheinlich hat Sir Charles damals
auch die alten Benediktus- Fresken Sodomas und
Signorellis an den Wänden des Klosterhofes mit
Hochgenuß betrachtet, da er uns in einer Radierung
vom Jahre 1893 zeigt, »Wie Bazzi den Kreuzgang
von Monte Oliveto ausmalte«. Jedenfalls aber muß
er bei diesem Klosteraufenthalte das Alltagsleben der
Mönche mit tiefster Anteilnahme studiert haben, um
ihm eine Radierungenfolge von so ausdrucksvoller
Schönheit und Vollendung widmen zu können. (Na¬
mentlich das durch die Breite der technischen Behand¬
lungsweise und durch die Feinheit der Licht- und
Schattengebung besonders wirkungsvolle Blatt »Der
Kirchenchor von Monte Oliveto«, sowie »Ein Zieh¬
brunnen in Monte Oliveto« ragen hier hervor.)
Im Jahre 1899 hnden wir den Namen Holroyds auf
der Liste der Vorstandsmitglieder der »Royal Society
of Painter Etchersand Engravers«, die diesen erweiterten
Klubtitel mit ausdrücklicher Bewilligung der Königin
von England (laut Urkunde des Staatssekretariates
vom 4. März 1898) soeben erst angenommen und
sich früher nur »Royal Society of Painter-Etchers« ge¬
nannt hatte. Wir werden also von nun an das Oeuvre
des Radierers Holroyd an der Hand der jährlichen
Ausstellungskataloge dieses »königlichen Stecher-Klubs«
mit besonderem Interesse weiter verfolgen können.
Auf der siebzehnten Ausstellung dieses Klubs ( 1 899)
sah man drei Blätter aus der »Monte Subasio «-Folge
(»The Lavabo«, »The Coro« und »The Confessional«),
wahre Meisterschöpfungen der Holroydschen Radier¬
nadel; ferner seine »Wald-Nymphen«, zwei Blätter
aus seinem »Eva«-Zyklus (»She took the fruit thereof«
und Adam and his wife hid themselves«), den
»Canale Grande« aus seiner Venezianischen Radierungs¬
folge, sowie zwei Ex-Libris- Porträts. Die Klubaus-
stellimg von 1900 enthielt das »Refectorium« aus
dem »Monte Subasio«-Zyklus, eine durchaus italienisch
empfundene »Anbetung der Hirten«, eine »Najade«,
sowie jenes köstliche Blatt, das betitelt ist »Tadworth
Common«, und das als »Plain air«- Ätzung unser
besonderes Interesse in Anspruch nimmt; wir werden
später sehen, daß Sir Charles dieser Arbeitsmethode
in freier Luft und im freien Lichte der Natur, wenn
es sich irgend ermöglichen läßt, noch heute huldigt.
Gerade bei Besprechung der zuletzt genannten Ra¬
dierung aber hat einer der Kritiker Holroyds — selbst
ein Radierer — die Bemerkung gemacht: »Bei der
Übertragung einer Bleistiftskizze oder gar mehrerer
solcher Naturstudien auf die Ätzplatte muß notwen¬
digerweise, namentlich wenn es sich um Landschafts¬
darstellungen handelt, etwas von jener Intimität und
Inspiration verloren gehen, die der Künstler aus der
direkten Naturbetrachtung geschöpft hatte; insbeson¬
dere der Himmel ist bei allen auf solche Weise ent¬
standenen Radierungen gewöhnlich schwach, da er
lediglich den Zufällen der Druckherstellung seine
Hinzufügung zu verdanken hat. — Von den hieraus
resultierenden Mängeln abgesehen, ist »Tadworth
Common« ein tadelloses Kunstblatt!«
Die Klubausstellung 1902, auf der Alphonse Legros
einige seiner Zinkätzungen veröffentlichte, war von Hol¬
royd mit den nachfolgenden Kupferätzungen beschickt
worden: »Pinienbäume auf Lord Tennysons Besitzung
Freshwater« (zwei Blatt), »Giardino dei Carceri«, »Eva
findet den Leichnam Abels« und »Pastorale«. Das letztere
kleine Blatt verdient eine besonders liebevolle Be¬
trachtung. Giorgiones berühmtes Gemälde im »Salon
Carre« des Louvre-Museums mag wohl unserem Sir
Charles die Idee zur Darstellung dieser drei nackten
Frauengestalten eingegeben haben, deren eine, die
Stirn mit Lorbeer bekränzt, eine Violine in der Hand
hält, während eine vierte Mädchenfigur, in reiche
venezianische Tracht gekleidet, auf einer Laute oder
Mandola zu spielen scheint. Die Gruppierung dieser
vier Figuren ist ebenso bewunderungswürdig wie die
Schönheit ihrer Bewegungslinien und ihrer Körper¬
bildung. — ln demselben Jahre hatte Holroyd so¬
dann noch vier venezianische Veduten zur Ausstellung
gebracht und zwar »Canale Grande«, »S. Pietro in
Castello«, »Canale della Giudecca« und »Campanile
di S. Pietro in Castello«. Endlich sah das Publikum
damals zum erstenmal Holroyds interessanten Radie¬
rungenzyklus »Flight and Fall of Icarus«. Die An¬
regung zu diesem Zyklus soll der Meister durch den
Anblick einer toten Raubmöve empfangen haben,
SIR CHARLES HOLROYD ALS RADIERER
19
deren Kadaver er auf der venezianischen Lagune hatte
dahintreiben sehen; jedenfalls findet die Schönheit
und Kraft solch eines riesigen Seevogels, den ich so
oft beobachtet habe, wenn er den Bug meines Schiffes
umgaukeite und umschwebte, eine ideale Verherr¬
lichung in den Holroydschen Ikarusradierungen. Auf
dem ersten Blatt sehen wir, wie Daedalus dem Auf¬
fluge seines geliebten Sohnes zum Himmel mit be¬
sorgten Blicken folgt; auf dem zweiten Blatte, wie
die Strahlen der Sonne das Wachs, mit dem das
Gefieder der Ikarusschwin¬
gen so kunstvoll zusam¬
mengefügt war, zum Er¬
weichen bringen; und
endlich auf dem dritten
Blatte, wie Ikarus kopf¬
über zur Erde hinabstürzt,
einem Vogel gleich, der,
im eiligen Fluge vom
Schüsse des Jägers getrof¬
fen, sich in den Lüften
überschlägt.
Im Jahre 1904 wird Sir
Charles Holroyd bereits
unter denEhrenmitgliedern
der Royal Society aufge¬
führt. Der Ausstellung die¬
ses Jahres hatte der Klub
ein erhöhtes Interesse zu
verleihen gewußt durch
eine leihweise überlassene
prachtvolle Sammlung
von Mantegnastichen, in
der auch Hauptblätter wie
»Der Kampf der Meer¬
götter«, der »Tanz der
Nymphen auf dem Par¬
naß« und die »Höllen¬
fahrt Christi« mit ent¬
halten waren. Unter den
modernen Ausstellern war
neben einem Mempes,Goff,
Haig, Chahine, Helleu auch
Sir Charles Holroyd ver¬
treten mit Kunstblättern
wie »Wood-witch«, »The
Bather« (Kaltnadelarbeit)
und »Dian Hunting«, so¬
wie mit einigen seiner
»Roman Scenes«, wie »Tusculum«, »Porta Nomen¬
tana« und »Oval Fountain, Villa Borghese« ; vom letzt¬
erwähnten Blatt ist diesem Aufsatz eine kleine Nach¬
bildung eingefügt worden.
Die Ausstellung 1905 brachte zehn neue Platten
von Holroyds Hand in die Öffentlichkeit, deren Titel
»Nymphs by the Sea«, »The Rose and Crown« und
»The Round Lock« (Szenerien vom Medway River)
sowie »Professor Legros« und »The Rt. Hon. Leo¬
nard Courtney« (radierte Bildnisse) einen Begriff geben
mögen von der Vielseitigkeit ihres Schöpfers. Im
Jahre 1906 endlich hat Sir Charles in einer präch¬
tigen Folge von acht Platten wiederum Bilder aus
Venedig gegeben, und zwar die Blätter »Porto di
Lido« und »Fondamenta delle Zattere«. Namentlich
das letztere Blatt ist äußerst beachtenswert in der
exakten und charakteristischen Wiedergabe jenes be¬
rühmten Blickes über die weite Wasserfläche der
»Giudecca« und auf die langgedehnte jenseitige
Gebäudereihe mit dem überragenden Kuppelbau der
Redentorekirche. Auch die technischen Qualitäten
dieser Radierung verdienen unsere größte Bewunde¬
rung; die kräftigen Schat¬
tenpartien des Vordergrun¬
des benutzte der Ätzkünst¬
ler in äußerst geschickter
Weise dazu, den Luftraum
zu vertiefen und die Fern¬
wirkung zu erhöhen, wo¬
bei er den weit gespann¬
ten, von der Lagune wider¬
gespiegelten Wolkenhim¬
mel noch als ferneres
treffliches Hilfsmittel he¬
ranzog. Eine Landschafts-
szenetie von entgegen¬
gesetztem Stimmungscha¬
rakter zeigt eine Holroyd-
sche Radierung, die im
Jahre 1 904 von der Society
of Painter-Etchers ausge¬
stellt wurde; es ist dies
die in ihrem künstlerischen
Gehalte nicht weniger
fesselnde Darstellung der
»Langdale Pikes«.
Bis hierher habe ich
nur diejenigen Radierun¬
gen aufgeführt, welche
die Royal Society of
Painter-Etchers als Werke
Sir Charles Holroyds —
ihres nunmehrigen Vize¬
präsidenten — zur Aus¬
stellung gebracht hat; wir
gewinnen damit wenig¬
stens für eine größere
Anzahl der interessantesten
Radiernadelschöpfungen
unseres Meisters einen
Anhalt zur Feststellung
ihrer chronologischen Aufeinanderfolge. Außerhalb
dieser Reihe gibt es jedoch noch so manches höchst
wichtige Blatt von seiner Hand, dessen Erwähnung
hier nicht vergessen werden darf. Da ist vor allem
jener schöne Frauenkopf, betitelt »Night«, von dem eine
Reproduktion diesem Aufsatz vorangestellt worden ist,
die wenigstens eine Ahnung von der Schönheit des
Originals vermittelt; ferner unter den venezianischen
Veduten das delikate Blatt mit der »Salute«-Kirche,
sowie dasjenige mit »S. Simeone Piccolo« (ebenfalls
hier reproduziert), jener kleinen Kirche, deren Kuppel
über die Dächer malerischer Palazzi emporragt, wäh-
3*
VENEDIG, SAN SIMONE PICCOLO
ORIGINALRADIERUNG VON SIR CHARLES HOLROYD
o n
SIR CHARLES HOLROYD ALS RADIERER
rend im Vordergründe ein Gewirr großer Boote auf
dem Canale dahingleitet, — ein wahres Prachtblatt in
der Kraft und Solidät seiner zeichnerischen Ausführung.
Unter den figürlichen Darstellungen Holroyds ist
noch zu erwähnen eine 1902 von der Royal Society
unter dem Titel Der junge Triton ausgestellte Ra¬
dierung mit einer Gruppe von Meeresnymphen, die
an einem Wogenkamme emporstreben, und von denen
die oberste ein Tritonenbaby auf ihren Armen em¬
porhält, das lustig in sein Muschelhorn bläst; ein
ähnliches Blatt von gleicher Schönheit ist die
Nymphs by the sea«. Zu der letzteren Radie¬
rung gibt es übrigens eine äußerst zarte Silber¬
stiftstudie Holroyds, auf der die beiden Najaden-
figuren dieser Komposition im Gegensinne dargestellt
sind. Unter denjenigen Blättern Holroyds, auf denen
die Figuren nur als nebensächliche Staffage land¬
schaftlicher Darstellungen gelten wollen, sind hervor¬
zuheben die beiden großartigen Radierungen Der
Sturm« und '>Der verlorene Sohn<. Zum Schlüsse
wollen wir noch die köstliche Eibenbaumstudie »A
Yew Tree on Glaramara« erwähnen; dieses Blatt
zeichnet sich durch besonders kraftvolle Zeichnung
aus, nur daß hier der nächstliegende Vordergrund
vielleicht etwas verworren und unklar wirkt.
Nachdem wir nunmehr unsere Übersicht über
das radierte Werk Holroyds abgeschlossen haben,
wird es den Leser interessieren, noch einiges über
die Ätztechnik und die persönlich künstlerischen In¬
tentionen des Meisters zu erfahren; ich bin in der
glücklichen Lage, seine eigenen Äußerungen für meine
Mitteilungen über diesen Gegenstand verwerten zu
können.
Den Begriff der Radierung kann man in Kürze
definieren als eine mit spitzem Stahlgriffel in eine
besonders präparierte Metallplatte — in der Regel
Kupferplatte — eingravierte Linienzeichnung, von der
sich Abdrücke auf Papier hersteilen lassen, wenn
man die gravierte Plattenfläche mit einer Tusche ein¬
reibt. Für die Gravierung der Platte aber gibt es
zwei verschiedene Arbeitsmethoden: die eigentliche
Radierung, bei der die Zeichnung mit Hilfe der
VILLA BORGHESE. ORIGINALRADIERUNG VON
SIR CHARLES HOLROYD
Radiernadel nur in eine die Metallplatte bedeckende
dünne Wachsschicht eingeritzt wird, um dann erst
vermittelst eines chemischen Säurebades in das Metall
selbst eingeätzt zu werden, und die sogenannte Kalt¬
nadelarbeit, bei der keinerlei chemisches Mittel in
Anwendung gelangt, sondern die Zeichnung vielmehr
mit der Radiernadel direkt in die Metallplatte ein¬
graviert wird. Die meisten Arbeiten Holroyds sind
echte Radierungen der zuerst charakterisierten Art;
nur ausnahmsweise hat der Meister die »kalte Nadel«
einmal allein verwendet (und zwar in dem 1904 aus¬
gestellten Blatte The Batherer«). So bedient sich
also unser Künstler in erster Linie der ätzenden Säure
zur Herstellung seiner Plattengravierung. Jedoch legt
er, wie er mir selbst sagte, auf diesen Umstand
weniger Gewicht, als auf die Tatsache, daß er bei
der ersten Anlage einer jeden Radierung immer auf
die Natur selbst zurückgeht, und daß er namentlich
die Landschaftsgründe seiner Blätter zumeist im Freien
nach der Natur direkt auf die Platte ätzt, wobei er
in der Regel nur die allereinfachsten Radiertechniken
in Anwendung bringt. Nach vollendeter Ätzung
nimmt er wohl auch die kalte Nadel noch zur Hand,
bringt hiermit jedoch gewöhnlich nur noch wenige
ganz leichte Retuschen auf seiner Platte an. Es gäbe
für ihn — so sagte mir Sir Charles — keine ange¬
nehmere Erholung von seiner angestrengten Haus¬
arbeit in der National Gallery oder in der Tate Gallery,
als in freier Natur seine geliebte Ätzkunst wieder
aufzunehmen, im vergangenen Jahre in Venedig,
dieses Jahr, wie er sich vorgenommen hat, an den
englischen Seen. Dann ist es des Meisters liebste
Ferienunterhaltung, seine Natureindrücke in freier
Landschaft mit dem Stahlgriffel direkt auf die vor
ihm liegende Ätzplatte zu bannen. Diese Holroyd-
sche Plainairmethode wird zwar von Radierern, die
der Atelierarbeit nach sorgfältig durchgeführten zeich¬
nerischen Naturstudien den Vorzug geben, nur zu
gern kritisiert; wir aber erkennen um so vorurteils¬
freier die packende Naturwahrheit eines Holroydschen
Kunstblattes an, das uns die unmittelbare Wirkung
einer Landschaftsszenerie — ihre momentane atmo¬
sphärische Stimmung, ihren Charakter, ihre Indivi¬
dualität — in so meisterlicher Wiedergabe genießen
läßt. —
Im weiteren Verlaufe unserer Unterhaltung teilte
mir der Künstler fernerhin mit, wie viel er aus dem
Studium der Kupferdrucke des großen Meisters Andrea
Mantegna gelernt habe, dessen Werke er gar oft mit
dem Grabstichel kopiert habe. Seiner Ansicht nach
habe die Kunst des Radierens in unserer Zeit — wie
auch schon in früheren Epochen — sich allzu sehr
vom malerischen Effekt abhängig gemacht, um nun¬
mehr nur noch dem Reiz der gebrochenen Linie zu
huldigen und jeder einfachen Flächenwirkung ge¬
flissentlich aus dem Wege zu gehen; und zwar sei
es Rembrandts geniale Ätzkunst gewesen, durch deren
faszinierendes Vorbild das Bestreben aller späteren
Radierer fast ausschließlich auf diese »malerischen«
Wirkungsmöglichkeiten hingelenkt worden sei. »Nun
ist dies zwar«, fährt Holroyd fort, »eine an sich
SIR CHARLES HOLROYD ALS RADIERER
21
höchst schätzbare Richtung
der Radierkunst, deren Schöp¬
fungen völlig eigenartige und
hochkünstlerische Reize inne¬
wohnen; aber gerade wenn
wir dies zugeben, muß uns
andererseits das Zugeständnis
eingeräumt werden, daß auch
diametral entgegengesetzte
Bestrebungen, die mehr nur
auf eine gewisse klassisch
griechische Einfachheit und
Schönheit der Linienfüh¬
rung abzielen, mit den tech¬
nischen Voraussetzungen der
Ätzkunst sehr wohl verein¬
bar sind.« Und als schla¬
genden Beleg für diese
letztere Behauptung zeigte
mir Sir Charles ein von
Ingres radiertes Bildnis des
Bischofs von S. Malo. »Die
neuere Radierkunst«, so
schloß der Meister seine Betrachtungen, »hat mehr
nur dem Charakteristischen gehuldigt als dem Schönen.
Bleiben wir charakteristisch, so viel wir nur immer
können! Aber vergessen wir dabei nie, daß die Be¬
tätigungsgrenzen des Kupferätzens weit genug gesteckt
sind, um dem Schönen wie dem Charakteristischen
allezeit gleichen Raum zu gewähren!«
Das radierte Oeuvre des Sir Charles Holroyd
umfaßt im ganzen bis jetzt ungefähr dreihundert
Platten. Seinem letztjährigem Ferienaufenthalte in
Venedig haben wir allein nicht weniger als zwölf
neue Radierungen zu verdanken, und eine ebenso
große, vielleicht auch noch größere Anzahl hofft der
Meister, wie er selbst mir sagte, bei seinem diessom-
merlichen Besuche der englischen Seen zu vollenden.
Als eine ganz besondere Ermutigung zur Fortsetzung
seiner Radierertätigkeit empfindet er das verständnis¬
volle und einmütige Interesse, das seinen bisherigen
Griffelschöpfungen in Deutschland entgegengebracht
worden ist; so sind neuerdings mehrere seiner Kupfer¬
drucke in die Sammlungen des Königlichen Kupfer¬
stichkabinetts zu Dresden eingereiht worden.
Übrigens glaube ich mir den Dank des Meisters
zu verdienen, wenn ich ihn, den trefflichen Interpreten
der klassischen Naturschönheiten Italiens, wie auch
der zarteren und blühenderen Reize der englischen
Landschaftsnatur, an dieser Stelle hinweise auf die
wundervollen Darstellungsstoffe, die gerade seiner
Radierkunst die deutsche Waldlandschaft darbieten
würde, deren zauberhafte Pracht den altdeutschen
Meister Lukas Cranach schon vor Jahrhunderten zu
so köstlichen Kunstschöpfungen angeregt hat. Wie
verlockend müßte es für einen so glänzenden Figuren¬
zeichner wie Holroyd sein, diese von gebrochenen
Sonnenstrahlen und tiefen Schattendämmerungen durch¬
webten Waldwinkel mit Gestalten aus der deutschen
Sagen- und Märchenwelt zu bevölkern und zu beleben!
Zum Schlüsse möchte ich noch einige Worte anfügen
über eine prächtige Ätzplatte von der Hand unseres
Meisters, die er für diese Zeitschrift geschaffen hat, und
deren Originalabzüge dem vorliegenden Aufsatze als
Hauptillustration beigegeben sind. Obwohl hier die
Figuren der beiden Nymphen — die übrigens an
ihre Schwestern auf Holroyds »Pastorale«-Radierung
erinnern — die Bildkomposition beherrschen, liegt
der wahre Hauptreiz dieses außerordentlich schönen
Blattes für mich doch in der Behandlung des land¬
schaftlichen Milieus. Die beiden Mädchengestalten
- die eine völlig entkleidet, die andere nur leicht
verhüllt — ruhen im Schatten eines mächtigen Eich¬
baumes. Ihnen zu Füßen lächelt ein stiller Waldsee,
während in der Ferne eine Burg- oder Klosterruine
über die Wipfel weitgedehnter Urwälder zum Him¬
mel emporragt, und am äußersten Horizonte die klare
Silhouette herrlicher Gebirgszüge sichtbar wird. Der
Eindruck ungemessener Fernen wird hier mit nicht
geringerer Überzeugungskraft im Beschauer wach¬
gerufen, als auf den umbrischen Landschaftsdarstel¬
lungen, die Pietro Perugino bei so vielen seiner
Altargemälde als Hintergrundmotiv verwendet hat.
Hier atmet der Mensch freier, hier hat er Raum zu
ungebundener Bewegung. Vor allem aber findet
hier meine kurz zuvor geäußerte Ansicht ihre Be¬
stätigung, daß die außerordentliche Vornehmheit der
Holroydschen Figurenzeichnung bei diesem Blatte
noch übertroffen wird durch die Meisterschaft, mit
der die Radiernadel des Künstlers hier die schönste
aller Waldlandschaften hervorgezaubert hat.
E
DIE SPRACHE DER SCHERE
Von Heinrich Wolfe in Königsberg
'S verdroß schon manchen, der gewillt war, sich »zur Kunst
erziehen« zu lassen, in der Flut heutiger Kunstliteratur so
wenig festen Boden zu finden. Er hatte sich aus Einzel¬
resultaten geordnet ein Gesamtvermögen an Kunstwissen gedacht,
einen in stetiger Arbeit wachsenden Bau, wie auf vielen anderen
wissenschaftlichen oder technischen Gebieten. Aber was man an
strenger Wissenschaft ihm geben konnte, handelte weniger von
Kunst, als von einzelnen Resultaten der Kunstgeschichte: Daten und
Zusammenhänge wurden ihm unwiderleglich bewiesen. Doch aus
denselben Bausteinen wurden sehr verschiedene Gebäude errichtet,
deren jedes die Entwickelungsgeschichte oder Ästhetik der Kunst
darstellen wollte.
Es wird heute so oft prinzipiell vor Kunstschulen gewarnt und
betont, wie wenig man Kunst lehren oder lernen könne, da jedes
Gesetz, also jedes Wissen, allmählich verdächtig wurde. Aber es
ist dann nicht einzusehen, warum vor den Kunstästhetiker bei der
Unsicherheit seines Lehrstoffes nicht dieselbe Warnungstafel gestellt
wird, wie vor den Akademieprofessor.
Jedenfalls, wenn auch über die Bewertung des verschiedenen
Baumaterials niemals eine Einigung zu erzielen, wenn wirklich nur
die ewige Abwechselung der Meinungen das Dauernde wäre: das
Ordnen zu einer Gesamtanschauung wird immer Bedürfnis sein,
auch wenn sie sich noch so oft änderte. Oder man darf nicht
Politiker sein wollen, wenn man nicht irgend eine politische An¬
sicht aufbringen kann. Und jede Regierung scheint in Zeiten der
Anarchie besser als keine.
In der Politik scheint das Gesetzgeben allerdings fast leichter zu sein, als in der Kunst.
Zwar, wenn man fand, daß nur aus schon vorhandener Kunst Gesetze abgeleitet und gegen eine neue
oft ungerecht angewendet werden können, so werden ja auch Staatsgesetze nicht erst geschaffen und dann das
zu regierende Volk dazu gesucht, sondern fortwährend schaffen neue Bedürfnisse neue Gesetze. Im Leben
wie in der Kunst werden neue Bewegungen immer erst unter alten Gesetzen zu leiden haben, bis sie Bedürfnis
wurden. Und wir können Gesetze nicht entbehren, nur weil sie so selten ewig sind, wie unsere Bedürfnisse.
Im Kunstleben aber meint heute der Außenstehende oft, daß die Sprecher nur für sich reden und gar
nicht auf Antwort warten. Und wenn es wirklich Debatten gibt, so kommt es doch nicht zu Beschlüssen.
Es werden viele kleine Bücher geschrieben, die nur anregen wollen. Und wir sind doch schon so angeregt!
Immerhin gemeinsam waren den letzten Jahren, bei dem Suchen nach dem Stil unserer Zeit, allerhand
Reinigungsbestrebungen. Nach den schlechten Erfahrungen mit den alten Gesetzen, was die Kunst solle,
versucht man jetzt umgekehrt zu lehren, was sie nicht dürfe. Aber jeder reinigt natürlich vor anderer Tür:
Man ist über gute Malerei noch uneinig, aber jedenfalls soll der Maler nicht Literat sein; oder es ist noch
nicht ganz klar, wo echtes Deutschtum in der Kunst liegt, aber man soll nicht den Franzosen spielen. Und
man ist durch das Kunstgewerbe zu großer Strenge in der Reinheit des Materials gekommen: Man soll nicht
Marmor in Stuck imitieren oder radieren »wie gemalt . Man soll jedem Ding seine Sprache lassen.
In dieser Forderung der Sprachreinheit des Materials liegt nun ein Gesetz, das wir gewiß brauchen können,
so lange wir nicht zu streng sind. Aus dem geregelten Schreibunterricht nur wird sich die ausgeschriebene
Handschrift entwickeln; so muß man das Gesetz kennen, aber übertreten dürfen. Denn die äußerste Konsequenz,
die das Gesetz als Zweck, nicht als Mittel nimmt, nicht Gesetze für die Kunst, sondern die Kunst nur für die
Gesetze braucht, führt zum langweiligsten Linienstich, zum prinzipiellen Pointillismus, zur Kalligraphie.
SILHOUETTE VON HEINRICH WOLFE
Es ist vielleicht nicht wertlos, daran zu erinnern, um einer nur kleinen Kunst gerecht zu werden, die
als eine der Folgen moderner Liebe zur Biedermeierzeit jetzt zu neuem Leben erwacht, der Silhouette.
Fast scheint sie lebendiger werden zu wollen, als sie es jemals war. Daß sie früher wenigstens nur ein
bescheidenes Ansehen genoß, darauf deutet, daß man nach einem zu sparsamen französischen Minister alles
ä la Silhouette nannte, was ärmlich oder lächerlich wirkte. Es schien doch eine armselige Art des Por-
trätierens, diese von Vielen, aber nur von wenigen Künstlern geübte Kunst fürs Haus. Mehr aus dem
Bedürfnis geboren, billig Erinnerungen an Angehörige schaffen und verschenken zu können, als aus dem Ver-
DIE SPRACHE DER SCHERE
23
langen nach Kunst Wenn man durch ein Licht ein
Schattenbild auf ein Stück Papier an der Wand werfen
ließ, gehörten keine besonderen Fähigkeiten dazu, die
nachgezeichneten Umrisse mit einem Storchschnabel
zu verkleinern und so auszuschneiden, daß das Ge¬
sellschaftsspiel alt und jung erfreute. Und oft auch
uns heute noch.
Den Kunstwert aber jener alten Familienbilder
werden wir nicht verwechseln dürfen mit unserer Freude
an der guten alten Zeit, die wir ebenso in ganz kunst¬
losen alten Photographien genießen; mit jener halb be¬
lustigten Hochachtung, wie wir sie leicht vor kindlicher
und primitiver Kunst empfinden, weil wir sie anders
nehmen, als sie gemeint sind. Viele jener alten Schatten¬
risse reizen uns auch schon um der Dargestellten
willen, so diejenigen aus dem Goethekreis. Gewiß
wurden auch manche schon von geschickteren Händen
direkt aus dem Papier geschnitten, so daß wohl ein
Reiz von Leben mit gefaßt wurde.
Im ganzen aber handelte es sich um das Streben
nach objektivster Naturwiedergabe, nur aus Mangel
an Können auf die Form der Silhouette vereinfacht,
die ja oft genug durch nachträglich hineingezeichnete
Details wieder unterbrochen wurde. Das Pflegen der
absoluten Umrißzeichnung schließlich — man pauste
sich sogar Rembrandt in dünnen Konturen — ver¬
zichtete auch noch auf den Reiz der Lebendigkeit, den
die Schattenwirkung gewiß vor anderen Profildar¬
stellungen voraus hat. So tat man den letzten Schritt,
um vom Schattenbild auf das Lichtbild vorzubereiten.
Denn diese ganze Kunst mit ihrem wissenschaftlichen
Beigeschmack, der sie für Lavater so wichtig machte,
war damals im Grunde nur eine Vorahnung der
Photographie, die das, was man eigentlich wollte, noch
besser gab. Und der man, als sie auftrat, auch sofort
Platz machte.
sfs ^
Man wird diese Vergangenheit der Silhouette im
Auge behalten müssen, wenn man sich für ihre Zu¬
kunft interessiert. Und auch wenn man sie nur für ein
lustiges Spiel hält, wird man das immer noch sinn¬
reicher treiben können, als wenn man es nur genau so
zu machen strebt, wie es Großvater tat.
Man hat ja die Anfänge der Silhouette schon in
den Vasenzeichnungen der Griechen sehen wollen.
Dann kann man schließlich auch die Profile der Ägypter
und jedes Relief überhaupt als Verwandten ansprechen.
Als Vorbild heuriger Modeneigung kommt wohl aber
nur eben jene Zeit vor reichlich hundert Jahren in
Betracht, als die Silhouette ihren Namen erhielt.
Den Wert von Stilspielerelen nun, die gewiß in
oft erstaunlicher Weise jene alten Schattenrisse in ihrem
Zeitcharakter nachzuempfinden suchen, kann man be¬
liebig beurteilen und wird doch die Jahre fast be¬
rechnen können, wo all dies Spielen mit der Geschichte
— malen wollen wir Historien nicht mehr — vor¬
bei ist.
» Art de la deuxieme main« nach Menzels hübschem
Französisch. Es wird nicht lange dauern. Die Sorge
um diese arme Kunst ä la Silhouette lohnt aber nicht
erst, bei der Unfruchtbarkeit aller Inzucht, wenn sie
nicht von vornherein frisches Blut erhält.
Wenn der Stil der alten Silhouette nicht einfach
beibehalten werden kann, so scheint auch der Haupt¬
stoff von damals, das Porträt, aussichtslos, heute diese
Kunst zu tragen. Allenthalben ist es freilich momentan
wieder Mode, Bildnisse auszuschneiden. Ob dieser Wett¬
bewerb den abends in den Wirtshäusern herumirrenden
Professionisten schadet oder nützt, weiß ich nicht.
Auf die Dauer wird jedenfalls der Durchschnittspreis
von 50 Pfennigen auch bei besseren Leistungen schwer¬
lich zu erhöhen sein. Das Publikum hat seine Photo¬
graphie und wird auch weiterhin heute nur Ulk in
der Silhouette sehen, auch wenn gelangweilte Dilet¬
tanten bei Regenwetter in der Sommerfrische den
Sport mittreiben. Und vor allem glaube ich, daß die
photographierte Silhouette nicht mehr weit ist.
Sie war eigentlich schon da. Denn in der ersten
Zeit der Daguerreotypie wurden öfters Profile einfach
schwarz gefärbt, teils wohl, weil außer dem Umriß
so wie so noch nicht viel zu sehen war, teils aus Hang
an alter Mode.
Wenn man nun an die amüsante Schattenwirkung
denkt, die elektrisches Licht heute hervorbringt, etwa
wenn bei einem Lichtbildervortrag jemand versehent¬
lich in der Pause zwischen Apparat und Projektions¬
fläche tritt, kann man wohl erwarten, daß diese leben¬
digen Silhouetten mit ihrem bei aller Drastik höchst
reizvoll detaillierten Kontur bald genug mit dem Mo¬
mentapparat der wieder neuen Mode dienstbar gemacht
werden und ihr oft genügen.
Da ein Bedürfnis nach dem Porträtsilhouetten¬
schneider heute jedenfalls nicht auf die Dauer zu kon¬
struieren ist, wird er sich nur an die wenigen halten
können, denen am Porträt nicht gerade liegt, sondern
an der Kunst in der Silhouette. Da ergibt sich eine
Erweiterung des Stoffgebietes bald von selbst.
Aber gerade weil sie nicht mehr Bedürfnis ist,
werden die eigenen Bedürfnisse der nun freien Kunst
mehr beachtet, ihre eigene Sprache gerade heute mehr
betont werden müssen, wenn sie sich den anderen
Künsten und der Photographie gegenüber überhaupt
halten soll: statt der Sprache der Biedermeierzeit die
Sprache der Schere.
* *
Wer jemals aus einem Stück Papier Figuren schnitt,
wird den Unterschied dieses Schaffens gespürt haben
gegenüber aller Zeichnung mit Pinsel oder Stift.
Wenigstens, wenn er ohne Vorzeichnung schnitt.
Denn die schafft nur scheinbar Erleichterung, stellt
aber in Wahrheit tausend Warnungstafeln auf, um
den leichten Tanzschritt der beweglichen Schere zu
solcher Ehrbarkeit zu mäßigen, daß sie fast dem
Messer des Holzschneiders gleicht, der ernst seine
abgesteckten Furchen pflügt.
Nein, da hat sie noch eher einen anderen großen
Verwandten, die Steinplastik. Nicht, weil zum Relief
meist Profile benutzt werden, sondern das Herauslösen
des gleichsam schon vorhandenen Kunstwerkes aus
DIE SPRACHE DER SCHERE
SILHOUETTE VON HEINRICH WOLFE
der Umklammerung des überflüssigen Steins’), diese
Seelenbefreiung, zu der eigentlich nichts nötig ist, als
das Werk schon im Block zu sehen, dieses »Weg¬
nehmen' im Gegensatz zum Hinzutun der Malerei
sind verwandte Züge trotz aller Größenunterschiede.
Gemeinsam in gewissem Grade ist den beiden Künsten
auch die Greifbarkeit, der geringe Zwang zur Illusion.
Wie von Gott am sechsten Schöpfungstage erhält jedes
Männlein zwei richtige Arme und Beine. Jeder Baum
ist zu greifen; er ist da.
Mit dem Ausschneiden erst fängt die Silhouette
überhaupt an. Und so kann sie schon ein verstän¬
diges Spiel sein, des Abends bei der Lampe, und
große und kleine Zuschauer dabei. Und so wenig
Illusion bei der Wirkung der »wirklichen« Figürchen
im Schattenspiel ist, so reizt doch im Entstehen ge¬
rade das schwarze Papier die Vorstellungskraft mächtig,
schon nach den ersten wie zufälligen Einschnitten.
Freilich tut Vorsicht not beim Schneiden, da nichts
zu reparieren ist. Aber schließlich, was keinen Men¬
schen mehr abgibt, reicht vielleicht immer noch etwa
für einen kleinen Strauch. Und der Zufall ist natür¬
lich mit beim Spiel.
Man braucht ja auch die ganze Sache so wenig
tragisch zu nehmen, wie der Märchendichter Andersen.
Der trieb seine Scherenspiele so nebenbei, wie andere
das Dichten. Das muß vielleicht so sein. Jedenfalls
verstand er die Mundart seiner Schere: Schnell fraß
der spitze Schnabel die lustigsten Löcher und aus
den armen Papierschnitzeln wurden phantastische Be-
i) Grimm, Michelangelo.
gleiter seiner Märchen. So, nebenbei, entstanden auch
des armen Sandmanns Eckert überraschende Sachen.
Und wer diese Dinge als Kunst zu harmlos findet,
muß sie immer noch so vernünftig finden, wie die
heutigen Pinselübungen der Kinder in der Schule.
Es ist ja nur natürlich, mit einem neuen Material
nicht gleich Natur imitieren zu wollen. Das Kunst¬
werk liegt doch zwischen dem Naturvorbild und dem
Material, aus dem geschaffen werden soll; von beiden
Eltern hat es seine Seele. Da ist es sehr vernünftig,
von Pinsel oder Schere erst zu hören, was sie zu
sagen haben, ehe wir sie nach unserm Willen zwingen.
Wir haben das wohl von den Japanern gelernt,
und noch eines können wir gerade für die Silhouette
von ihnen gebrauchen: das Arbeiten aus dem Hand¬
gelenk. Der Ausdruck galt früher als Symbol des
Oberflächlichen in der bildenden Kunst und bei
unserer auf das Individuelle gerichteten Kunst hat
solches Arbeiten auch seine Gefahren. Und doch
brauchen wir zum Erfassen von Formenzusammen¬
hängen jenes Gefühl des Rhythmischen, das wir bei
jeder guten Bewegung im Tanz oder beim Eislauf
im eigenen Körper empfinden.
Dem Japaner jedenfalls schien für seine Gedanken
auf dem Weg aus dem Kopf in die Hand und ins
Kunstwerk hinüber das Handgelenk nie unwichtig.
So schuf er nicht die letzten Zufälligkeiten des Blüten¬
zweiges vor sich, aber aus dem Gefühl des eigenen
Körpers heraus einen solchen von höchster Lebens¬
möglichkeit. So aus dem Handgelenk, ohne hinzu¬
sehen fast, schufen schon von den alten Silhouetten¬
künstlern einige ihre Figürchen.
So mag der neue Schattenschnitt an alles sich
wagen, was er zwischen Himmel und Erde findet.
Und wenn die greifbaren, schwarz stehengebliebenen
Figuren seiner Phantasie nicht genügen, mag er auch
weiße Figuren aus dem schwarzen Grund schneiden
und so doch noch durch stärkere Illusion wirken.
Schon Andersen gestattete seiner Kunst diese Sprach-
freiheit. Aber freilich, jedes Detail mehr ist eine Ge¬
fahr für die Solidität dieses aus feinen Teilen zu¬
sammenhängenden Gewebes. So ist bei der ge¬
schnittenen Silhouette eine Beschränkung nur Natur,
die bei der gezeichneten als Zwang erscheint. Warum
soll man schließlich gezeichnete Figuren schwarz zu¬
streichen? Warum dann nicht auch noch mehr
zeigen, als immer nur den Kontur? So würde eine
Ausstellung der frühen, geschnittenen Schattenbilder
Konewkas vielleicht Bedauern wecken, daß der Buch¬
handel ihn dazu brachte, später nur noch für den
Holzstock zu zeichnen. Er wäre einer der Begab¬
testen gewesen, die Silhouette auf eigene Beine zu
stellen.
Und auch von der geschnittenen Silhouette »pour
la Silhouette«, die freilich immer noch leicht genug
eine brotlose Kunst sein wird, gibt es ja heute Wege
zu einer angewandten Schattenkunst. Gerade wenn
man von der eigentlichen Sprache der Silhouette aus¬
geht, die gewissermaßen die geschnittenen Löcher als
das Wichtigste nimmt und das durchbrechende Licht
als das Wirkende, ist der Weg zur Diaphanie und
DIE SPRACHE DER SCHERE
25
zum Schablonenschnilt nicht weit. Freilich ist hierzu
nötig, daß eine Vervielfältigung nicht auf die Wieder¬
gabe der Wirkung, sondern auf eine Reproduktion
der Schablonen selbst gerichtet sein müßte. Wie das
zu erreichen wäre, etwa durch Stanzen oder auf
photographischem Wege durch Verdichtung der dunk¬
len Bildschicht, weiß ich nicht. Greifbare Silliouetten
könnten aber, lose eingeklebt, auch eine amüsante
Unterbrechung des Bildschmucks unserer Zeitschriften
bilden. Und jedenfalls liegt, glaube ich, hier die Zu¬
kunft der Silhouette, wenn sie eine hat. Die Redak¬
tion dieser Zeitschrift hat sich beeilt, meiner Idee
gleich die Tat folgen zu lassen.
Man hat in England neue Silhouetten für Wetter¬
fahnen geschaffen, ähnlich, wie man sie primitiv an
den Masten ostpreußischer Fischerboote findet Man
könnte auch an eine Neubelebung der Firmenschilder
denken, die mit allerhand einfachen Figuren quer
in die Straßen ragen.
Und die Möglichkeit billigerer Verwendung für
den Zinkdruck, namentlich in Kinderbüchern, bleibt
ja, auch wenn die Originale aus Papier geschnitten
werden. Es braucht sich darum nicht aufzudrängen,
wie die Sachen gemacht sind.
Wie wir es aber heute an einem Bild nicht zu
tadeln pflegen, wenn man auch die Wirkung der
Pinselstriche bemerkt, so werden wir auch bei der
Silhouette die Sprache der Schere nicht nur unter¬
drückt sehen wollen.
SILHOUETTE VON HEINRICH WOLFE
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XVIII. H. 1
4
EINE AUSSTELLUNG FRANZÖSISCHER KÜNSTLER IM
MÜNCHENER KUNSTVEREIN
Von Wilhelm Michel
DR. RICHARD ADALBERT MEYER gebührt das Ver¬
dienst, diese außerordentlich instruktive Ausstellung,
die später auch in Frankfurt, Dresden, Karlsruhe
und Stuttgart gezeigt werden soll, organisiert zu haben. Es
sind in der Hauptsache die Neoimpressionisten, die hier
vorgeführt werden, und dazu gesellen sich bedeutende
und charakteristische Werke der Schule von Pont-Aven.
ln anderer Weise als das junge Deutschland wird diese
jüngste französische Malergeneration von den großen
Problemen der Wirklichkeit und des Stiles bewegt. Von
der befremdlichen, fast bürgerlichen Ruhe und Zufrieden¬
heit, die sich im neuesten deutschen Kunstschaffen be¬
merkbar macht, spürt man hier nichts. Hier ist alles noch
Kampf und Ringen, Ringen um die elementarsten Grund¬
lagen, auf denen sich eine spätere Synthese mit voller
Sicherheit wird aufbauen können. Pani Cezanne, dem in
der jüngsten Entwickelung der französischen Malerei ein
so hervorragender Platz gebührt, ist leider quantitativ nur
sehr schwach vertreten. Neben zwei weiblichen Porträt¬
studien sieht man von ihm eins seiner zahlreichen Still¬
leben, in dem wunderbare, der Natur naiv abgelauschte
Harmonien erklingen. Von Seiirat ist besonders die große
Studie zur »Grande Jatte« zu erwähnen, in welcher der
neue Grundsatz der Farbenteilung zuerst, wenn auch zag¬
haft, zur Anwendung kam. Weiter fortgebildet wird die
Teilungstechnik durch H. E. Croß, der im übrigen stark
unter dem Einflüsse des japanischen Farbenholzschnittes
steht. Auch Liice und Rysselberglie gelangen durch das
neoimpressionistische Rezept zu schönen, überzeugenden
Ergebnissen, während es in den Schöpfungen Paul Signacs
in allzu pedantischer Weise auf die Spitze getrieben er¬
scheint. Signac stellt den Höhepunkt, aber wohl auch
den Ausklang der neoimpressionistischen Bewegung dar.
Man besinnt sich beim Anblick seiner die Form und die
stoffliche Charakteristik fast ganz preisgebenden Malereien,
daß das Problem der Farbenreinheit schließlich doch nur
ein sekundäres, ein Atelierproblem ist. Mit einer philo¬
sophiegeschichtlichen Terminologie könnte man sagen:
Signac ist zu einem radikalen Kritizismus gelangt, der
letzten Endes sich selbst zerstören muß. — Eine wunder¬
bare Formenwelt kommt in den Strandbildern von Maurice
Denis zur Darstellung. Die Bewegung dieser nackten Kinder-
und Mädchenkörper ist voller Ornament, voll einer großen
stilistischen Gebärde, die an die besten Schöpfungen Puvis
de Chavannes’ denken läßt. Tiefe, tragische Töne er¬
klingen in den Gemälden von Laprade, unter denen eine
»Dame auf der Terrasse« besonders ins Auge fällt. Camoin
vereinigt in seinem »Kind auf dem Sofa« die blendende
Rosenfarbe des Sofabezuges mit dem starken, gelbbraunen
Inkarnat des nackten Körpers zu einem außerordentlich
kühnen, vollklingenden Akkord, ln Diriks Seestücken be¬
wundert man den fabelhaften, dionysischen Farbenprunk,
die lachende Freiheit und barbarische Größe, mit der uns
die Natur hier vor Augen tritt. Voll köstlicher Unmittel¬
barkeit der Bewegung ist Jean Puys »Modell«, breit hin¬
gestrichen mit dunkler Kontur, und an Farbe nur das
Nötigste und Überzeugendste darbietend. Ebenso breit
und flächig, fast dem Plakat sich nähernd, ist die Dar¬
stellungsweise in Emile Bernards Selbstbildnis. Charles
Gnerins »Klassisches Theater« ruft mit seiner flockigen,
lockeren Farbe und der gobelinartigen Auffassung Er¬
innerungen an Diaz und Monticelli wach. Vuillards poin-
tillistisch behandelte Interieurs liegen ganz in den reifen,
feinen, gedrückten Farben, die wir aus den besten japani¬
schen Farbenholzschnitten kennen gelernt haben. Vallotton,
der bekannte Holzschnittkünstler, macht als Maler kein
sonderliches Glück. Seine Farben sind nackt und reizlos,
wenn auch kräftig, seine Landschaften nehmen sich aus
wie geschickte Entwürfe zu Farbenholzschnitten, und tat¬
sächlich könnte man das, was sie an charakteristischen
Farbenwerten enthalten, mit drei oder vier Platten wieder¬
geben. — Eine große, feurige Seele spricht aus den Land¬
schaften van Goghs. Die große, einheitliche malerische
Anschauung, die sich in seinem »Olivenhain« kundgibt,
wird von wenigen seiner Mitstrebenden erreicht. Aus
seinem »Goldenen Ährenfelde« blickt uns die Natur selbst
mit blinden Augen an, wie ein belebtes Wesen, dessen
ungefüge, schwere Zunge das Wort nicht zu artikulieren
vermag, das es von seinem Leid uns sagen möchte. Die
wilden, wirren, verkrampften Formen der Bäume, die man
auf dem Bilde »Irrenhaus von Arles« sieht, reden fast
deutlicher, als für die Gemütsruhe des Beschauers gut ist,
von den tagfremden Qualen, die das weiße Haus im
Hintergründe beherbergt. Mit seiner großen, gewaltigen
Naturauffassung, mit dem ungeheuren, von keiner Schule
abhängigen Impressionismus seines Ausdruckes scheint
van Gogh mehr der Bürger einer größeren Zukunft als
unserer Zeit zu sein. Neben ihm verdient Paul Gauguin
genannt zu werden, der hier allerdings nicht besonders
gut vertreten ist. Trotzdem wird man an der tropischen
Landschaft dieses enragierten Verächters aller europäischen
Zivilisation seine aufrichtige Freude haben können. — Zur
Vervollständigung der Nomenklatur seien noch die bisher
nicht erwähnten Künstler Bonnard, Frau Cousturier, Henri
Matisse, Lebeau, Henri Manguin, Marquet, Roussel,
Schuffenecker und Louis Valtat genannt. Die ausgestellten
Bilder stammen teils aus Privatbesitz (Feneon, Luce, Ver-
baeren, Schuffenecker, J. Bernheim und Vollard), teils aus
den großen Beständen der Galerie Druet, deren ausge¬
zeichnete, nach eigenem Verfahren hergestellte Photo¬
graphien jedem Liebhaber und Erforscher der neoimpres¬
sionistischen Bewegung ein erstklassiges Anschauungs¬
material bieten.
AOINA, DAS HEILIGTUM DER APHAIA
Von Max Maas
VOR kurzem hat der neuerwählte Präsident der
Society for the Promotion of Hellenic Studies,
Professor Percy Gardner, einen Vortrag über die
wichtigsten Ereignisse des verflossenen archäologischen
Jahres gehalten. Der englische Gelehrte hat darin für
das Gebiet der Publikationen Furtwänglers großes Ägina¬
werk als »The book of the season« bezeichnet. In der
Tat ist diese, auf Kosten der kairischen Akademie her¬
gestellte und in ihrem Verlag erschienene systematische
Schilderung der letzten äginetischen Ausgrabungen und
ihrer Resultate, bei der Furtwängler von seinen Ausgrabungs¬
genossen Ernst R. Fiechter und Hermann Thiersch unter¬
stützt wurde, ein Monumentalwerk. (Der Textband hat IX
und 504 Seiten und 413 Tafeln im Text; der Tafelband
besteht aus 130 Tafeln und einer Karte.) — Es ist eine
vorbildliche Publikation, was Text und Tafeln betrifft, vor¬
bildlich auch wegen der verhältnismäßigen Schnelligkeit,
mit der sich die Münchener Gelehrten daran gemacht hatten,
ein abschließendes großes Werk zu schaffen; sie haben
die Schwierigkeiten, die eine Publikation macht, wenn sie
erst lange nach Abschluß der Ausgrabungen zustande
kommt, wohl eingesehen und danach gehandelt.
In der Arbeitsteilung für die Publikation sind Furt¬
wängler die Schilderung der bayrischen Ausgrabung des
Aphaiaheiligtums im Jahre 1901, die Einleitung über den
Namen des Heiligtums, die umfassenden Kapitel über Mar¬
morskulpturen und der letzte Abschnitt über die Geschichte
des Heiligtums zugefallen. Furtwänglers Ausführungen
sind außerordentlich fesselnd und enthalten Exkurse von
weittragendster kunsthistorischer Bedeutung, — wir nennen
hier nur die Betrachtungen über Marmortechnik und die
Malerei der Skulpturen und über Komposition von Giebel¬
gruppen und Tempelbau im allgemeinen. Alles, was ins
Gebiet der Architektur fällt, hat E. R. Fiechter mit reichem
Wissen und peniblester Genauigkeit durchgeführt; der
Tempel, die mit dem Tempel gleichzeitig oder später ent¬
standenen Bauten, die Reste älterer, dem Tempel voran¬
gehender Bauten, Reste von Vasen, Steingeräten und Dach¬
ziegeln, die ornamentalen Teile der Akroterien. Eine
außergewöhnliche Fülle von Vergleichsmaterial namentlich
aus dem unteritalisch -sizilischen Tempelgebiet ist hier
herangezogen; zahlreiche Tafeln bringen kleine und große
Aufnahmen, Pläne und Rekonstruktionen des tüchtigen
Architekten.
Endlich ist Thierschs nur zu gewissenhafte und aus¬
führliche Behandlung der Weihgeschenke (abgesehen von
Gemmen, die wieder Furtwängler zufielen) und der In¬
schriften nicht zu vergessen; aber auch die in den wissen¬
schaftlichen Resultaten zum Ausdruck gekommene Mithilfe
des Assistenten im Gipsmuseum Dr. Johannes Sieveking
soll erwähnt werden, der an den Arbeiten für die Rekon¬
struktion der Giebelgruppen und bei der ganzen Herstellung
des Bandes sich mitbetätigt hat.
Unter den hauptsächlichsten in dieser Publikation nieder¬
gelegten Ergebnissen ist zunächst die Zuweisung der Kult¬
stätte an die Nymphe Aphaia zu nennen, deren Verehrung
wohl mit Einwanderern aus Kreta, wo die Göttin unter
dem Namen Britomartes sich hoher Ehren erfreute, nach
Ägina gekommen ist. Bereits in der zweiten Hälfte des
7. Jahrhunderts stand ein Haus und ein Altar für Aphaia,
wie die wichtige gefundene Inschrift erzählt. Ein schlichtes
Kulthaus war in dieser ersten Bauperiode für Aphaia ent¬
standen; Furtwängler meint, es sei säulenlos gewesen,
aber vielleicht war es doch ein Templum in antis, würdig
des in der Aphaiainschrift genannten Elfenbeinschmuckes.
Ein feiner archaischer Tempel für Aphaia folgte in der
ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts, wie zerschlagene bunt¬
bemalte Bauglieder, die innerhalb der Terrassierung des
späteren Tempels aufgedeckt wurden, zeigen. Auch hat
sich schon damals eine riesige einzelne jonische Säule
nnerhalb des heiligen Gebietes erhoben, die wahrschein-
ich eine Sphinx trug. Zu Anfang des 5. Jahrhunderts
wurde das kleine Heiligtum, vielleicht von den nach Mara¬
thon in den äginetischen Gewässern kreuzenden Persern,
durch Feuer zerstört. Größer und stattlicher errichtete
nunmehr das reiche und mächtige Handelsvolk der Ägineten
den Tempel für seine lokale Gottheit. Ein stattlicher Pe-
ripteros erhob sich, eine geräumige Terrasse wurde ge¬
schaffen umgeben von einer Stützmauer, ein Propylon,
Tempel, Dienerschafts- und Vorralshäusersind nachzuweisen.
Der große Altar von gestreckter langer Form lag vor der
Ostfront des Tempels, ein gepflasterter Opfertanzplatz
(Thymele) schloß sich ihm an. Weibliche Statuen und
Gruppen von Kriegern haben wahrscheinlich den Platz
geschmückt. Es ist kein Zweifel, daß alle diese Bauten in
einem Zuge nach einem einheitlichen Plane errichtet worden
sind; es ist auch nachher nichts Nennenswertes mehr hin¬
zugetreten und der Glanz, der die Göttin Aphaia zu der
Zeit (490 — 475 V. Ch.) umstrahlte, als Pindar ihr einen
Hymnus, vielleicht zur Einweihung des neuen Tempels,
dichtete, ist bald darauf erloschen.
Aber das wichtigste Resultat der bayerischen Aus¬
grabungen ist, daß sie mit zu einem Neuarrangement der
Münchener Giebelgruppen geführt haben, dieser Giebel¬
gruppen, die, seitdem der Engländer C. R. Cockerell und
der Deutsche Hallervon Hallerstein sie 1811 aus den Tempel¬
trümmern hervorgesucht hatten, schon so viele archäo¬
logische Federn in Bewegung gesetzt haben. Sind sie auch
jetzt in ihren Originalen unwiderruflich der Thorwaldsen-
schen Restauration verfallen, da die teilweise zur bequemeren
Ergänzung abgemeißelten, mit nur zu großer Energie oft
falsch ergänzten Figuren — namentlich die des Westgiebels,
noch dazu in ihrer unrichtigen Anordnung — dauernd
fixiert worden sind, so sind sie wenigstens im Modell in
richtiger Ergänzung und richtiger Gruppierung wiederher¬
gestellt. Seit Mitte Mai schmückt die den Fenstern gegen¬
überliegende Wand des .Äginetensaales der Münchener
Glyptothek eine Rekonstruktion der Ostfront und der West¬
front des Aphaiatempels, die einem Fünftel der Original¬
größe entspricht. Daß Furtwängler diese Wiederherstellung
in langjährigen Versuchen jetzt gelungen ist, dazu haben
nicht allein die Funde der Kampagne von 1901 verholten.
Der unermüdliche Hüter der Glyptothekschätze hat auch
den Nachlaß Cockerells (im Besitze der Familie zu London)
und den Hallers v. Hallerstein (im Besitze der Straßburger
Bibliothek) benützen können, die genauen Angaben über
4
28
AGINA, DAS HEILIGTUM DER APHAIA
den Fundort der einzelnen Giebelfiguren und brauchbare
Zeichnungen enthielten; die Verwitterungsspuren und die
Platten mit den Standspuren wurden einer peinlichen Unter¬
suchung unterworfen, die neuen Funde und die nicht ein¬
rangierten Fragmente der Glyptothek zusammengestellt und
so ist in mühevoller, an Versuchen reicher Arbeit das
Wiederherstellungswerk im Modell zum glücklichen Ende
geführt worden.
Eine Figurenzahl von dreizehn Figuren für den West¬
giebel, von elf für den Ostgiebel ist richtig und definitiv
jetzt festgestellt und erst damit war auch die Möglichkeit
der richtigen Placierung gegeben, für die die auf- und ab¬
steigende Giebelform ja auch eine Richtschnur abgibt. In
beiden Giebeln steht die als unsichtbar aufzufassende
Göttin Athena in der Mitte. Gleichzeitig sind wohl die
Giebelgruppen entstanden; aber der Ostgiebel mit etwas
größeren, freier gedachten und freier ausgeführten Figuren
hat nur fünf resp. sechs Kämpfer zu den Seiten der Athena,
der Westgiebel mit noch etwas befangenerem Stil weist
deren dreizehn auf. Auch in der Komposition sind die
beiden Giebel verschieden. Im Westgiebel je zwei Gruppen
von je drei Kriegern zu beiden Seiten der Athena: zwei
Lanzenkämpfer über einem zu Boden Gefallenen und nach
den Giebelecken der Bogenschütze und Lanzenkämpfer,
die nach einem Gefallenen zielen resp. stechen; im Ost¬
giebel eine einheitlich von der hohen Göttin bis in die
Ecken hinein verlaufende Komposition. Hier wird nicht
um einen zu Boden Gefallenen gekämpft, sondern ein auch
auf Vasenbildern dargestelltes Kampfschema mit einem
Fallenden, Zurücksinkenden liegt vor, das in der Regel
jeweils nur zwei Figuren erfordert. Nach den Farbspuren,
die sich noch auf den Fragmenten zeigten, wurde ein
leuchtendes Rot und ein dunkles Blau zur Tönung der
Modelle verwandt, was eine stark dekorative Wirkung her¬
vorbringt.
Gewiß, der Aphaia war der Tempel geweiht, aber den
Heroen des Landes huldigten die Giebeldarstellungen: der
als Herakles charakterisierte Schütze weist auf die erste
Zerstörung Trojas unter der Mitwirkung Telamons, des
Sohnes des Aiakos, im Ostgiebel; der Westgiebel erzählt
von Kämpfen des Ajas, Achilleus und Neoptolemos, den
Enkeln resp. Urenkeln des Aiakos, vor Priamos’ Stadt.
Und auf der höchsten Spitze der Giebel erhoben sich
weithin sichtbar prachtvolle Volutenakroterien, unter resp.
neben deren weit ausladenden Verzierungen Mädchen vom
Typus der Akropoliskoren den frommen Geist der reichen
Handelsinsel weithin erkennen ließen. Auch von diesen
Akroterien ist das eine und zwar in ursprünglicher Größe
rekonstruiert nunmehr in der Glyptothek aufgestellt.
Wer die Künstler dieser trefflichen Werke aus der
Zeit der Mitte zwischen dem älter-archaischen und dem
freien Stil gewesen sind, wissen wir nicht. Die Funde
von Statuen, die sich nicht in die Giebel einrangieren
lassen, sogenannter »Nichtgiebelkrieger«, und anderes lassen
an die Möglichkeit von Konkurrenzarbeiten denken, die
dann im Tempelbezirk zur Aufstellung gekommen sind. —
In einem kleinen Hefte »Die Ägineten der Glyptothek
König Ludwigs 1. nach den Resultaten der neuen bayerischen
Ausgrabungen«, das mit 14 Tafeln und Abbildungen im Texte
geschmückt ist (Kommissionsverlag A. Buchholz), hat außer¬
dem Adolf Furtwängler eine kurze Zusammenfassung des
Inhaltes des großen Äginawerkes gegeben, ein höchst
brauchbares und empfehlenswertes Vademecum.
SILHOUETTE VON HEINRICH WOLFE
Herausgeber und verantwortliche Redaktion: E. A. Seemann, Leipzig, Querstraße 13
Druck von ERNST Hedrich Nachf., g. m. b. h., Leipzig
ERASMUS
SILHOUETTE VON HEINRICH WOLFE
ZEITSCHRIET FÜR BILDENDE KUNST 1906
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SEBASTIANO DEL PIOMBO. DAMENBILDNIS
KÖLN. SAMMLUNG STEINMAYER
ZEITSCHRIFT FÜR BILDENDE KUNST 1906
DAS BILDNIS DER OIULIA GONZAGA. WIEN, IIOFMUSEUM
DAS BILDNIS DER OIULIA GONZAGA
VON SEBASTIANO DEL PIOMBO
Als dem Herzog von Sabbionela und Fürsten
von Bozzolo, Lodovico Oonzaga eine Tochter
geboren wurde, die in der heiligen Taufe den
Namen Giulia empfing, hat der mit Kindern reicher
als mit Vermögen begnadete Herr den Familienzu¬
wachs nicht allzufreudig begrüßt. Aber Giulia söhnte
den Vater bald mit ihrer Existenz aus; denn »beinahe
göttlichen Geistes« ’) schien sie erkoren »für den
Kult Minervens«") und den Ruhm ihrer Schönheit hat
kein Geringerer als Ariost zu einem unsterblichen er¬
hoben:
Giulia Gonzaga, che dovunque il piede
Volge, e dovunque i sereni occhi gira,
Non pur ogn’ altra di belta le cede,
Ma come scesa dal ciel Dea ranimira . . ß)
Der Vierzehnjährigen bereits erstand denn auch
in Vespasiano Colonna, dem Herzog von Trajetto
1) Ireneo Affö: Memorie di tre celebri principesse
Gonzaga. Parma MDCCLXXXVll. p. 4.
2) Gioanni Buonavoglia: Gonzagium Monumentum .
Lib. 111. (Ms. der Bibliotheca Oliveriana in Pesaro.)
»studiumque Minervae nata«, s. Affö: op. cit p. 32.
3) L’Orlando furioso. Canto 46. Strophe 7 und 8.
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XVIII. H. 2
ein Werber. Im heimatlichen Schlosse zu Palliano
wuchs dem um sechs Lustren älteren Witwer eine
Tochter heran, er war kränklich, verkrüppelten Körpers
und ließ beim Gehen das rechte Bein nachschleppen;
aber Vespasiano gebot über viele Ländereien und darum
war er dem Herrn Lodovico Gonzaga als Eidam hoch¬
willkommen. Die Töchter wurden damals nicht gefragt,
ob ihnen der Mann gefiel, mit dem sie ein Leben
leben sollten. Vespasiano wußte das Opfer zu
schätzen, das Giulia dem Vater gebracht. Seine
Hinfälligkeit erwägend, suchte er der jungen Gattin,
die gleich einer Tochter an ihm hing, eine von Sorgen
unbeschwerte Zukunft zu sichern. Bald nach der
Hochzeit, die übrigens nur ein kirchlicher Akt blieb*),
schenkte er Giulia zu ihrer bescheidenen Mitgift von
viertausend Dukaten andere dreizehntausend und als
er anno 1528 starb, wies sein Testament Giulia für
die Dauer ihrer Witwenschaft sämtliche Erträgnisse
seiner Güter in der Campagna, den Abruzzen und
im Königreich Neapel zu^). Seine Tochter Isabella,
1) Betiissi: Addizioni alle Donne illustri del Boccaccio.
In Vinegia MDCXLVII cap. 45.
2) Das Testament ist abgedruckt von Affö: Vita di
Donna Giulia Gonzaga, ln Vinegia MDCCLXXXI. p. 11.
5
DAS BILDNIS DER GIULIA GONZAGA
r > ■ opabiano ferner bestimmt, sollte einem
”-r”d. ■ G^-’iias in die Ehe folgen, im Falle ihre von
J; rr; ■ str;- sehr gewünschte Verbindung mit Ippolito
de' .‘vledici, dem Neffen Clemens’ VII., nicht zustande
käme. Daß seine Witwe, freilich ohne es zu wollen,
diesen Plan zu nichte machen sollte, hat der Colonna
nicht vorausgeahnt. Isabellas Schätze lockten den
Feuerkopf Ippolito nicht, der von einer toskanischen
Herzogskrone träumte, und ihre kargen Reize ver¬
mochten den Jüngling, den Roms schönste Frauen
vergötterten, kaum zu fesseln. Mit dem Ungestüm
seiner zwanzig Jahre warb er dagegen um Giulia,
doch selbst eine Übersetzung des zweiten Gesanges
der Aeneis, die er der geliebten Frau widmete, zwang
ihr das ersehnte Ja<' nicht auf die Lippen. Mehr
als das Versprechen einer immerwährenden Freund¬
schaft erreichte Ippolito nicht. Vielleicht wurde ihm
dadurch jenes Opfer leichter, das er auf Befehl des
Papstes seinem Hause bringen mußte; er vertauschte,
damit im nächsten Konklave wieder ein Kardinal
Medici säße, das Kriegsgewand, das seinen herrlichen
Körper so wohl kleidete, mit dem verhaßten Purpur
eines kirchlichen Würdenträgers. Er selbst mühte
sich nunmehr, sein Verlangen nach Donna Giulia
zur begierdelüsen Freundschaft zu dämpfen, und
jene gewährte ihrerseits wieder dem Kardinal von
San Prassede manche Gunst, die sie dem freienden
Ippolito wohl versagt hätte. So ließ die Herzogin
auf seinen Wunsch sich von dem Ferraresen Alfonso
Lombardi modellieren ') und von dem Porträtisten
des vornehmen Rom, von Sebastiane del Piombo
malen. Drei Jahre später, anno 1535, stand Giulia
am Sterbelager ihres Freundes. Ippolitos Vetter
Alessandro, der Herzog von Florenz hatte sich
durch ein rasch wirkendes Gift, das beliebte Haus¬
mittel der Medici, seines unbequemen Verwandten
entledigt. Giulia sollte nun bald erfahren, was es
heißt, eine wehr- und schutzlose Frau zu sein. Ihre
Stieftochter und Schwägerin Isabella erklärte das
Testament des Vaters für null und nichtig und
scheuchte sie durch langwierige Prozesse aus dem
heiteren Fondi nach Neapel in den freudlosen Kloster¬
frieden des hl. Franziskus. Hier lebte Giulia, stiller
Wohltätigkeit und frommen Übungen hingegeben,
bis sie am ig. April des Jahres 1566 im Gerüche
der Heiligkeit starb. Aber es fehlte auch nicht an
Böswilligen, die raunten, in der Toten habe man
eine lutherische Ketzerin begraben^); war doch ein
Buch von Valdez ihr gewidmet . . .
Vier Reiter^) geleiteten Sebastiano del Piombo,
als er sich in den ersten Junilagen des Jahres 1532
nach Fondi begab*), »um dort eine Dame zu malen«,
1) s. darüber Gruyer: L’Art Ferrarais etc. Vol. 1. p.
543 u. Armand; Les medailleiirs etc. T. III. p. 52 u. 53.
2) Siehe darüber die Studie von Briito Amante; Giulia
Gonzaga ed il movimento religioso femminile nel secolo
XVI. Bologna i8g6.
3) Vasari, ed. Milanesi V. p. 578 f.
4) Les Correspondants de Micliel-Ange ed. Milanesi.
Paris 1890 I. p. 96 Credo dimane partirmi et andare
insino a Fondi a retrarre una signiora . . .«
und fünf Wochen später berichtet er dem »compare«
Michelangelo von seiner Rückkehr nach Rom i).
Innerhalb dieser Frist entstand jenes Bildnis, das
Molza und Gandolfo Porrino in je fünfzig Stanzen")
priesen, und das, laut Vasari, alles übertraf, was
Sebastiano bis dahin geleistet. Ob es später wirklich,
wie er und Borghini erzählen, an König Franz nach
Fontainebleau geschickt wurde'^)? Kein französisches
Inventar gedenkt des Porträts, von dem sich übrigens
Ippolito zu Lebzeiten kaum getrennt haben dürfte.
Dagegen zierte noch in der zweiten Hälfte des
16. Jahrhunderts »ein Bildnis der Giulia Gonzaga
von der Hand Sebastianos del Piombo« den Palast
des Fulvio Orsini zu Rom*), und da sein Besitzer
den Wert des Gemäldes mit fünfzig Scudi angibt,
so erfreute er sich wohl am Anblick des Originales
und nicht an einer jener Kopien, deren es, nach einer
Bemerkung des Kardinal Scipione Gonzaga'*) zu
schließen, etliche gegeben hat. Eine solche Kopie
befand sich bei den Gonzaga in Mantua und nach
dieser wurden jene zwei anderen für den Erzherzog
Ferdinand von Tirol angefertigt, von denen die
größere**) verloren ging, während die kleinere
ein Brustbild, das an der Nasen- und Mundpartie
Übermalungen aufweist, heute im Wiener kunsthisto¬
rischen Hofmuseum aufbewahrt aber nicht ausgestellt
ist'^). Mit diesem authentischen Porträt*) Donna
1) p. 98 ebdt. Tornato da Fondi«. Seine Rückkehr
nach Rom wurde von den Freunden Ippolitos, die auf das
Porträt gespannt waren, mit Sehnsucht erwartet, s. Molza:
»Delle poesie volgari e latine«. Bergamo MDCCL. Vol.
II. p. 147.
2) Molza, op. dt. Vol. I. p. 135. Das Poem Porrinos
ebdt. p. 148, weil es der Herausgeber der Werke Molzas,
Abbate Serassi irrtümlicherweise diesem zuschrieb.
3) Borghini: II Riposo«. Milano 1807. Libro III.
p. 260.
4) Pierre de Nolhac: Les collections de Fulvio
Orsini in d. Gaz. des beaux-arts. 1884. I. p. 431.
5) Scipio Gonzaga: Commentarii rerum suarum. Ms.
zitiert bei Affö: Vite di tre principesse Gonzaga p. 32.
Anm. 2: »Julia illa Gonzaga, cujus egregia corporis forma
laudatore non eget, cum ejus effigies ab omnibus fere
conquiratur diligentissime et conquisita maxime pretiosa
habeatur« — Campori. Raccolta di cataloghi ed inventarij
inediti. Modena 1870 p. 148 Nr. 5 erwähnt in der Samm¬
lung des Bischofs Coccopani zu Reggio (f 1650) ein Bildnis
der Giulia Gonzaga von Tizian. Kenner in seiner er¬
schöpfenden Studie Die Porträtsammlung des Erzherzogs
von Tirol im Jahrbuch der kunsth. Sammlungen des Aller¬
höchsten Kaiserhauses Bd. XVII. 1, p. 216 möchte auch
in diesem Bilde eine Kopie nach Sebastians Porträt erblicken.
Aber Tizian malte — vielleicht nach Lombardis Medaille?
— ein Porträt Giulia Gonzagas im Jahre 1542 und schenkte
es Ippolito Capiiiipi, der davon dem erlauchten Modell
Mitteilung machte. Giulias Antwort vom 25. April 1542
ist abgedruckt bei G. B. Intra, Di Ippolito Capilupi etc.
Milano 1893 p. 49.
6) Jahrb. d. kunsth. Samml. d. Allh. Kaiserh. Bd. X.
[1889] Reg. 5561. Fol. 641. Inventar vom Jahre 1596
Auf ainer tafl Columnia Julia«.
7) s. Kenner op. cit. p. 216, Katalog Nr. 652.
8) Das Bildnis Giulia Gonzagas von Sebastiano del
Piombo glaubte man wiedererkannt zu haben: in dem
DAS BILDNIS DER QIULIA GONZAGA
31
Giulias vergleiche man nun ein lebens-, beinahe über¬
lebensgroßes Damenbildnis, das aus dem Palazzo
Bandini zu Rom stammend i), heute der Kunsthand¬
lung Steinmayer in Köln gehört, die es vor zwei
Jahren bei der Vente Bourgeois ’) erstand. Auf dem
Wiener Bildchen ist Giulias Haupt nach rechts ge¬
wandt, während sich das Modell des großen Gemäldes
nach links kehrt. Abgesehen von dieser Ungleich¬
heit, deren Rechtfertigung man in etwas Äußerlichem
vielleicht einem Wunsche des Erzherzogs suchen mag,
wird man nur Ähnlichkeiten zwischen den beiden
Damen entdecken. Beiden gemeinsam sind die freund¬
lichen braunen Augen, das braune Haar mit seinem
natürlichen dunklen Goldglanz und die freie gewölbte
Stirn, beiden gemeinsam die hoch gezogenen, weit
gespannten Brauen und das scharf akzentuierte Kinn'^).
Diese Gemeinsamkeiten erstrecken sich auch auf die
Kleidung, das schwarze eng geschlossene Witwen¬
gewand mit dem tiefen viereckigen Ausschnitt, den
das braune Busentuch verhüllt, den hellbraunen
Schleier und endlich den schwarzbraunen, über den
rechten Arm geworfenen »Zebelin«, jenes Stückchen
Zobelpelz, das die Damen der Renaissance so gern
in der Hand hielten^).
Bildnis der hl. Agathe von Sebastiane in der National-
Gallery zu London (Nr. 24), in einem la Fornarina« ge¬
nannten Damenporträt beim Lord Radnor auf Longford-
Castle (s. Amante, op. eit. p. 141 f.) und endlich in dem
schönen Frauenbildnis des Städelschen Institutes zu
Frankfurt (Nr. 42). Uber die Haltlosigkeit all dieser Be¬
nennungen s. die ausführliche Notiz Weizsäckers im Ka¬
talog des Städelschen Institutes 1900. 1. p. 256 f.
1) s. L’Arte V. (1Q02) p. 132.
2) s. Collection Bourgeois Freres. Katalog der Ge¬
mälde. Köln 1904 p. 34. Daselbst auch die Maße des
Bildes 1,08 H. X 0,83 Br.
3) Die Nasen- und Mundpartie habe ich, da diese
auf dem Wiener Bilde stark beschädigt und verputzt sind
absichtlich zum Vergleiche nicht herangezogen.
4) Über den Zebelin s. Ludwig in den »Italienischen
Molza und Porrino geben In ihren pompösen
Stanzen »Über das Bild der Qiiilia Gonzaga« keine
Beschreibung des Werkes, dessen Mcrrlichkeit sie
preisen, aber die dürftigen Andeutungen, mit denen
wir uns bescheiden müssen, passen genau zu dem
Bilde in Köln: Molza bedauert, daß die goldig schim¬
mernden Haare vor der Zeit der dunkle Schleier
umhüllt'), Porrino hingegen, den die sanfte Süßig¬
keit des Blickes entzückt, freut sich, daß der jugend¬
liche Reiz der Brust trotz dem Schleier noch zur
Geltung kommt“), und betont endlich, was schon
an der kleinen Kopie und noch mehr an dem großen
Gemälde auffällt, daß kein Geschmeide Giulias Nacken
ziert, Hand und Busen gänzlich schmucklos sind®).
. . . la sua puritate
Ornamento mortal non chiede o brama . . .
Aus alledem erhellt: das Kölner Gemälde ist das
vielgefeierte Porträt der Giulia Gonzaga. Und doch
wieder auch nicht. Denn angefangen vom grauen,
ganz wenig bräunlichen Hintergründe hat ein unge¬
schickter Restaurator das ganze Bild so gründlich
übermalt, daß wir heute nur sagen können: wir
wissen, wie jene Fürstin aussah, die zu rauben
Chaireddin Barbarossa eine Flotte nach Italien schickte'),
Sebastianos »pittura divina« jedoch ist verloren, ihr
Zauber dahin für alle Zeit und Ewigkeit.
Forschungen , herausgegeben vom kunsthistorischen Institut
in Florenz. Berlin 1906 I. p. 266. »Durch die Nase war
ein goldener Ring gezogen, an dem der Zebelin aufge¬
hängt werden konnte . Bei unserem Bilde ist an dem
Ringe noch ein dünnes Goldkettchen angebracht.
1) Molza, op. dt. vol. 1. p. 146, Str. 40.
2) Molza, op. dt. vol. I. p. 154, Str. 24 und p. 155,
Str. 29.
3) ebdt. p. 156, Str. 30.
4) Am ausführlichsten über diesen Raubzug Amante,
op. cit. p. 121.
EMIL SCHAEFFER.
5*
LUCIEN PISSARRO
ALS BUCHKÜNSTLER
LUCIEN PISSARRO ist im Jahre 1863 in Paris geboren.
Sein Vater war der bekannte Impressionist Camille Pis¬
sarro. Pissarro-Sohn finden wir dann mit den Signac,
Luce, Croß in jener Gruppe jüngerer Maler, die das Bemühen
der älteren Impressionisten - Generation, die Auflösung der
Form, bis an die äußerste Grenze führten und für ihre Art
das Schlagwort Neoimpressionismus prägten. Das ist Lucien
Pissarro, der Franzose. Er geht uns hier nicht viel an,
wenigstens nicht unmittelbar. Uns beschäftigt Lucien Pissarro,
der Engländer, der englische Buchkünstler, oder besser doch
— da wohl niemand aus seiner Haut kann — der französische
Maler, der in das strenge Liniengefüge englischer Buchkunst,
in ihr ernst gemessenes Schwarz-Weiß französische Leichtigkeit,
auflockernde Farbe brachte. Es ist schwerlich anzunehmen,
daß William Morris, der Hohepriester der englischen Buch¬
kunst, solches Tun gern gesehen hat, und zweifellos wird
handfeste Buchkunsttheorie daran allerhand auszusetzen finden; doch sei dem wie ihm wolle: uns dünkt
das Ergebnis in jedem Falle so anmutig, und, falls Sünde dabei ist, die Sünde so graziös, daß wir
diese kleinen Bücher wirklich nicht missen möchten.
Zum Buch ist Lucien Pissarro vom Holzschnitt her gekommen. Und auf den Holzschnitt hat ihn
Lepere gewiesen. So berichtet T. Sturge Moore in einer kleinen Abhandlung, auf die wir noch zurück¬
kommen werden. In Paris allerdings blieb der erwartete Erfolg aus. Und so entschloß sich der
Künstler, nach England zu gehen, wo man sich, wie er wußte, um die Neubelebung der Holzschnittkunst
bemühte. Es ist wohl nicht weiter nötig, von William Morris und seiner Keimscott Press zu sprechen.
Nur darauf sei hingewiesen, daß bei aller Anerkennung und Bewunderung des Morrisschen Werkes auch in
England, in London sich Bestrebungen geltend machten, der etwas priesterlich schweren Art des utopistischen
Reaktionärs eine leichtere, modernere Wendung zu geben. Charles Ricketts, der in seinen Zeichnungen und
Holzschnitten einen fein kultivierten Eklektizismus bekundet, und Charles Shannon, dessen weiche Litho¬
graphien man kennt, sind hier mit ihrer 1889 gegründeten Vale Press an erster Stelle zu nennen. An sie
schloß sich der junge Pissarro an, indem er in Gemeinschaft mit seiner Frau Esther, einer gewandten
Holzschneiderin, eine kleine Buchdruckerei gründete, die er Eragny Press nannte, nach einem in der Nor¬
mandie gelegenen Dorfe, in dem er mit seinem Vater gearbeitet hatte.
Wir geben in folgendem den Bücherfreunden zu Nutzen auf Grund der Werke selber ein kurzes
Verzeichnis der Eragnydrucke, wobei wir uns auf die bereits genannte kleine Abhandlung von Moore und
auf ein im Dezember 1905 erschienenes Verlagsverzeichnis stützen. Die Mooresche Abhandlung ist »A
brief account of the origin of the Eragny Press...« betitelt. Sie gibt unter anderem ein Verzeichnis der Bücher,
die auf der Eragny Press mit der Vale Type gedruckt sind, einer schönen, wie ja auch Morrisens Goldene
Type, auf Jensondrucke zurückgehenden Antiqua, die Ricketts für seine Presse gezeichnet hatte. Eine er¬
freuliche Beigabe, die den Hauptreiz des Werkchens ausmacht, bilden 14 den Eragny-Büchern entnommene
Holzschnitte. Das Mooresche Buch ist das erste, das in der eigenen Type der Eragny Press gedruckt
wurde, der Brook Type, die die Type der 1903 aufgehobenen Vale Press ablöste.
1. Eine Ausnahmestellung nimmt das erste, 1894 erschienene Buch der Eragny Press ein, ein kleiner
17 Seiten umfassender Oktavband, »The queen of the fishes, an adaption in english of a fairy tale of
valois, by Margaret Rust.« Der Text dieses Buches ist nicht in Typendruck hergestellt, sondern ge¬
schrieben und von Platten gedruckt. Schriftplatten und Holzstöcke sind auf japanisches Handpapier ab¬
gezogen, die Blätter sind einseitig bedruckt und je zwei nach vornhin zusammenhängend, in der Art der
chinesischen und japanischen Bücher. Der Titel ist in gold gegeben, der Text in grau mit roten Bei¬
schriften. Zwölf Holzschnittbilder schmücken das kleine Werk, eines in fünf, vier in vier Farben, sieben
in grau wie der Text. Die erste Seite zeigt eine Umrahmung in gold, die sich in grau noch dreimal
wiederholt. Dazu kommen noch drei Zierstücke in rot. Am Schlüsse befindet sich das Signet in grau,
ein sitzendes Mädchen, das ein Buch mit der Aufschrift Eragny Press hält, eine Vorstufe des später
verwandten anmutigen Rundbildes. Das Ganze also von einer erstaunlichen Formen- und Farbenlust, je¬
doch in keiner Weise unruhig und bunt. Der Preis für ein in Pergament gebundenes Exemplar betrug
20 Shilling.
Alle folgenden Bücher sind in üblicher Art mit Typen gedruckt, bis Nr. 16 in der Vale Type, von
LUCIEN PISSARRO ALS BUCHKÜNSTLER
33
da ab in der Brook Type, auf Handpapier. Die
Einbanddeckel sind mit Papier überzogen, das mit
Blumenmustern bedruckt ist, die Rücken mit stumpf-
farbenem Papier. Auf der Vorderseite des Rücken¬
überzuges, hier und da auch noch auf dem Rücken
selber, ist der Titel in gold angebracht. Nur die
3. Jules Laforgue. Moralit& legendaires. Tome 1.
1897. 113 Seiten in 8'^. Mit etwas Rot. Ein Holz¬
schnitt »Salome« gegenüber der Anfangsseite, eine
Randleiste um diese beiden Seiten, neun Initialen.
16 Shilling.
4. Dasselbe. Tome II. 3898. 129 Seiten in 8^
HOLZSCHNITT VON LUCIEN PISSARRO
drei Elaubert- Bändchen (Nr. 6, 8, 9) haben blauen
Papierüberzug und grauen Leinenrücken. Der Titel
steht hier auf einem weißen Zettel, der auf den Vorder¬
deckel in die linke obere Ecke geklebt ist.
2. The book of Ruth and the book of Esther. 1 896.
86 Seiten in 12'’. Schwarz und rot. Fünf Holz¬
schnitte, vierzehn Initialen. 16 Shilling.
Mit etwas Rot. Ein Holzschnitt »Ophelia« gegenüber
der Anfangsseite, je eine Randleiste um diese beiden
Seiten, fünf Initialen, Signet (das sitzende Mädchen
im Rund mit dem Buch: Eragny Press) mit der
Schrift »Fructus inter folia«.
5. C. Perrault. Deux contes de ma mere l’oye.
La belle au bois dormant et Le petit chaperon rouge.
LUCIEN PISSARRO ALS BUCHKUNSTLER
iSgcj. 40 Seiten in 8*^. Titelholzschnitt, ein zwei¬
seitiger von einer Randleiste umgebener Holzschnitt in
schwarz, mattem grün und gold vor dem ersten
Märchen, ein Holzschnitt vor dem zweiten Märchen,
zwei große und mehrere kleine Initialen, Signet.
20 Shilling.
6. Gustave Flaubert. La legende de Saint Julien
l’hospitalier. igoo. 96 Seiten in 16**. Titelholzschnitt,
eine Randleiste, drei Initialen, Signet mit der neuen
Schrift »E. et L. Pissarro
London«. 15 Shilling.
Vergl. Nr. 8 und 9.
7. Les ballades de
maistre Frangois Vil-
lon. 1900. 92 Seiten
in 8". Schwarz und
rot. Ein Holzschnitt,
eine Randleiste, 38 Ini¬
tialen, Signet auf der
Rückseite des Titels.
25 Shilling.
8. Gustave Flau¬
bert. Un cceur simple.
1901. 116 Seiten in 16®.
Titelholzschnitt, zwei
Randleisten, fünf Ini¬
tialen, Signet. Vergl.
Nr. 6.
9. Gustave Flau¬
bert. Herodias. 1901.
116 Seiten, in 16®
Titelholzschnitt, zwei
Randleisten, drei Ini¬
tialen, Signet. Vergl.
Nr. 6.
10. Autres poesies
de maistre Frangois
Villon et de son ecole.
1901. 60 Seiten in 8".
Schwarz und rot. Titel¬
holzschnitt mit grü¬
nem Rand, eine Rand¬
leiste in grün, 29 Ini¬
tialen, Signet. 20 Shil¬
ling.
11. Emile Verhae-
ren. Les petits vieux.
1901. 19 Seiten in
Quer- 1 2 Schwarz
und rot. Auf Japanpapier wie Nr. 1. Titelholzschnitt
in Farben, ein Initial in drei Farben, dreizehn in rot,
Signet. 20 Shilling.
12. Francis Bacon. Of Gardens. 1902. 27 Seiten
in 12®. Schwarz, rot und grün. Titelholzschnitt, zwei
Randleisten, zehn Initialen, Signet, Schlußstück.
16 Shilling.
13. Choix de sonnets de P. de Ronsard. 1902.
91 Seiten in 8”. Titelholzschnitt mit Randleiste und
roter Schrift, Anfangsseite mit derselben Randleiste,
roter Überschrift und rotem Initial, außerdem 75 Ini¬
tialen, Signet. 30 Shilling.
14. Charles Perrault. Histoire de peau d’ane. 1902.
40 Seiten in 8*^'. Mit etwas Rot. Titelholzschnitt, drei
Holzschnitte von T. Sturge Moore, zwei Randleisten,
21 Initialen, Signet. 21 Shilling.
15. Pierre de Ronsard. Abrege de Part poetique
franqois. 1903. 44 Seiten in 8^’. Signet auf dem
Titelblatt, zwei Randleisten, mehrere Initialen und
Zierstücke. 15 Shilling.
16. C’est d’Aucassin et de Nicolete. 1903.
58 Seiten in 8**. Mit
etwas Rot. Titelholz¬
schnitt in fünf Farben,
ein Initial, Signet. 30
Shilling.
Dies ist das letzte
mit der Vale Type auf
der Eragny Press ge¬
druckte Buch. Die fol¬
genden zeigen die Brook
Type.
1 7. T. Sturge Moo¬
re. A brief account
of the origin of the
Eragny Press. 1903.
54 Seiten in 8”. Vier¬
zehn Holzschnitte aus
den bisher erschiene¬
nen Büchern, Signet.
25 Shilling.
18. John Milton.
Areopagita. 1903 und
1904. 40 Seiten in 4®.
Mit etwas Rot. Eine
Randleiste, ein großer
und mehrere kleine
Initialen, Signet. 31
Shilling 6 d.
19. Diana White.
The descent of Ishtar.
1903. 32 Seiten in
12®. Schwarz, rot und
grün. Titelholzschnitt,
gezeichnet von Diana
White, zwei Randlei¬
sten, vier Initialen, Sig¬
net. 12 Shilling 6 d.
20. Some poems
by Robert Browning.
1904. 69 Seiten in 8®.
Schwarz und rot. Titelholzschnitt in fünf Farben,
zehn Initialen, Signet. 30 Shilling.
21. Samuel Taylor Coleridge. Christabel, Kubla
Khan, fancy in Nubibus, and song from Zapolya.
1904. 44 Seiten in 8®. Schwarz und rot. Titel¬
holzschnitt in drei Farben, Anfangsseite mit Randleiste
in grün und Initial in rot und grün, drei Initialen,
Signet. 21 Shilling.
22. Some old freneh and english ballads, edited
by Robert Steele. 1905. 62 Seiten in 8® Schwarz
und rot. Titelholzschnitt in fünf Farben, 20 Initialen,
Signet. 35 Shilling.
LUCIEN PISSARRO ALS BUCHKÜNSTLER
35
23. Laurence Binyon. Dream come true. 1905.
12'\ Titelholzschnitt von Binyon. 12 Shilling 6 d.
(Das Buch hat uns nicht Vorgelegen.)
24. T. Sturge Moore. The little school. igo6.
48 Seiten in 12^. Vier Holzschnitte von Moore,
25 Initialen, Signet. 18 Shilling.
25. John Keats. La belle dame sans merci. 1905.
32'*. 5 Shilling. (Das Buch hat uns nicht Vor¬
gelegen.)
Die Auflagen der Drucke v/aren nur klein, sie
betrugen meist gegen 200 Exemplare. Die von uns
angeführten Preise sind die ursprünglichen, jetzt sind
sie höher. Von den mit der Brook Type gedruckten
Büchern wurden auch einige Pergamentexemplare in
den Handel gebracht, die natürlich erheblich mehr,
etwa vier- bis fünfmal soviel als die Papierdrucke
kosteten. Dr. ERICH WILLRICH, Leipzig.
HOLZSCHNITT VON LUCIEN PISSARRO
PIETER BREUGHEL 11. ANBETUNG DER KÖNIGE. PETERSBURG, KAISERL. AKADEMIE DER KÜNSTE
NIEDERLÄNDISCHE GEMÄLDE IN DER KAISERLICHEN AKADEMIE
DER KÜNSTE ZU ST. PETERSBURG
Von A. Neouströieee
Die im Auslande wenig bekannte Bildergalerie
der Kaiserlichen Akademie der Künste zu
St. Petersburg entstand durch Schenkungen
und Vermächtnisse, die zu verschiedenen Zeiten so¬
wohl von Mitgliedern des Kaiserhauses als auch von
Privaten gestiftet wurden. Den Kern der Sammlung
bildeten die 1758, zwei Jahre nach der Gründung
der Akademie, von ihrem Präsidenten j. j. Schuwälow
geschenkten hundert Bilder ausländischer Meister, ln
den nächsten zehn Jahren wurden der Galerie auf
kaiserlichen Befehl wieder gegen hundert Bilder über¬
wiesen. Zur Zeit Nikolaus 1. kamen Bilder aus den
Sammlungen des Eustachius Sapieha und des Grafen
Mussin -Puschkin -Bruce in den Besitz der Galerie.
Im Jahre 1854 erhielt sie neunzehn Bilder aus der
kaiserlichen Ermitage. Die größte Bereicherung brachte
aber 1862 die Einverleibung der besonders an bel¬
gischen und französischen Meistern des ig. Jahr¬
hunderts reichen Sammlung des Grafen Küschelew-
Besborödko, die nach seinem Tode laut Vermächtnis
in den Besitz der Akademie gelangte.
Den größten Teil der über tausend Nummern
zählenden Sammlung bilden niederländische Gemälde
und diese wollen wir im folgenden einer Betrachtung
unterwerfen.
Das älteste Bild der Sammlung ist die Darstellung
des auf einem vlämischen Stadtplatze abgehaltenen
Marktes — fälschlich dem Cornelius van Harlem zu¬
geschrieben — von P. Aertsen. Wie stets bei
diesem Meister, wimmelt das Bild von Volksfiguren
jeglicher Größe in einem bunten Durcheinander von
Earben. Mit Vorliebe ist grelles Rot angewandt, die
übrigen Earben sind sehr temperiert.
Einer etwas späteren Epoche gehört »Die An¬
betung der Könige« in Winterlandschaft von Peter
Brueghel II. an. Es ist eine von den zahlreichen
Wiederholungen dieses Sujets, unter welchen wohl
die bekannteste das Bild ist, das 1881 vom Amster¬
damer Museum erworben wurde. Eine Darstellung
mit dünnen, eckigen, schwärzlichen Eiguren, die sich
auf der weißen Schneefläche ganz besonders grotesk
und phantastisch ausnehmen. Das Bild erinnert an
gleichartige Bilder P. Brueghels I. in Wien und den
»Kindermord« in Brüssel. Ein seltsamer Gedanke
ist es auch, die Geburt Christi in der streng nordischen
Winternatur zu inszenieren und die adorierenden
Könige in einem von Schnee verschütteten kleinen
Schuppen vor dem Neugeborenen knien zu lassen.
Die in der Szenerie des Stückes unentbehrlichen
Kamele hat der Künstler wahrscheinlich aus Rücksicht
f
Luden Pissarro sc.
NIEDERLÄNDISCHE GEMÄLDE IN DER KAISERLICHEN AKADEMIE DER KÜNSTE
37
W. DUYSTER. DIE WACI ITSTUBE. PETERSBURG, KAISERL.' AKADEMIE
auf die Kälte durch nordische Esel er¬
setzt. Die Komposition wird mit er¬
götzlichen Episoden des Alltagslebens
belebt. Der etwas bunte, unruhige Ein¬
druck des kleinen Bildes ist durch
die Fülle des Lebens, die derbe Reali¬
stik und die Frische seiner Farben aus¬
geglichen. Ambrosius Frankens »Kreuz¬
tragung« ist ein gut gezeichnetes und
fleißig ausgeführtes Werk, wenn auch
die dramatischen Bewegungen der zahl¬
reichen Figuren übertrieben sind. Eine
etwas verschwommene Wirkung erzielen
die langgezogenen Figuren des Neffen
des Ambrosius, Frans Franken II. , von
dem die Galerie einen »Maskenball« be¬
sitzt. Die dem Abraham Bloemaert zu¬
geschriebenen Landschaften stammen von
seinem Sohne, Adriaen Bloemaert.
Eines von den Hauptstücken der
Galerie, sehr unvorteilhaft hoch ge¬
hängt, ist das »Ecce homo« von Ru¬
bens. Die riesig gebauten Figuren sind
typisch für die frühe Periode seiner künst¬
lerischen Tätigkeit, man findet sie auch
auf anderen Werken dieser Epoche. Die
frischen kräftigen Farbentöne geben
noch nicht den malerischen Schmelz,
der den Hauptreiz seiner reiferen Mal¬
weise bildet. Die rote Drapierung sticht effektvoll
ab gegen das Inkarnat und den dunkelbraunen Grund.
Es ist wahrscheinlich dasselbe Bild, das im Index
der Familie Gonzaga zu Mantua, 1627, als von der
Hand eines Pier Paolo Fiammingo erwähnt wird und
welches Mariette in der Sammlung de Julienne sah;
es ist von C. Galle gestochen.
Zu den Hauptzierden der Galerie gehört auch
das große Bohnenfest (»Le roi boit«) von Jakob
Jordaens. Von den Darstellungen dieser Art ist das
mäßig große Bild eines von den schönsten und
könnte mit Recht Werken von Rubens an die Seite
gesetzt werden. Die Verteilung der Figuren ist nicht
so eng und verworren, wie es so oft bei jordaens
vorkommt und eine wunderbare Glut und Leucht¬
kraft der Farben herrscht in dem Bilde, das voll
Bewegung und Humor die gewohnten, fleischigen,
robusten Tischgenossen an dem Feste versammelt
zeigt.
Von Snyders besitzt die Sammlung zwei Tier¬
darstellungen, einen Fruchtmarkt und acht prächtige
Kartons mit jagddarstellungen, die seinerzeit durch die
Kaiserin Katharina in England von der Herzogin von
Kensington gekauft wurden.
Rembrandt selbst ist in der Galerie nicht ver¬
treten, hingegen treffen wir einige bemerkenswerte
Werke seiner Schule an. Das weibliche Bildnis von
Nie. Maes (signiert und 1678 dadiert) gehört, obwohl
es aus seiner Spätzeit stammt, zu seinen guten Porträts
und ist besonders anziehend durch die feine male¬
rische Auffassung und die farbenkräftige und zugleich
harmonische Ausführung. Den Einfluß Rembrandts,
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XVIIl. H. 2
den man in dem besprochenen Werke vermißt, findet
man in dem breiten, in feinem Helldunkel ausge¬
führten »Kopfe eines alten Mannes von Samuel
von Hoogstraaten (mit dem Monogramm S. H.). Der
dritte von den späten Rembrandtschiilern , Aert de
Gelder, ist durch das Brustbild eines jungen Mannes
mit einer Traube in der Hand vertreten. Es galt
früher als Rembrandt und ist 1758 von j. j. Schuwälow
der Galerie geschenkt worden. In leichter, dünner
Farbe hingeworfen, zieht uns dieser beinahe skizzen¬
haft behandelte Kopf durch sein warmes braunröt¬
liches Kolorit und durch die geistvolle Spontaneität
der Ausführung an.
Von den zwei Bildern des Jan Victors, die beide
seiner Spätzeit angehören, ist die »Salbung Davids«,
ein Bild von sehr mäßiger Qualität, mit mittelgroßen
Figuren; der »Wundarzt« ist gut gezeichnet und
komponiert, jedoch im Kolorit ziemlich trocken.
Die Zahl der Bildnisse in der Galerie ist nicht
groß, doch befinden sich darunter sehr interessante
Stücke. Von dem »vortrefflichen Contrafäter« Nikolaus
Nenchatel sind zwei Bildnisse vorhanden; ein männ¬
liches, vom Jahre 1551, welches leider durch die
Restaurierung stark gelitten, und ein weibliches, vom
Jahre 1561; das letztere ist sehr gut erhalten und,
um mit Sandrart zu reden: »ganz lebhaft gezeichnet,
natürlich fleißig koloriert, stark erhaben und auf das
köstlichste gemalt . . . sintemalen er (Neuchatel) alle
diejenigen edlen Gaben besessen, die ein vollkommener
Contrafäter billig an sich haben sollte«. Wie hat
der Künstler es verstanden, uns so getreu die dar¬
gestellte Person zu geben, ohne ihre Unschönheiten
[ ÄKT ISCHE GEMÄLDE IN DER KAISERLICHEN AKADEMIE DER KÜNSTE
RUBENS. ECCE HOMO. I'ETERSBURG, KAISER!.. AKADEMIE
und Mängel zu verschweigen, wie z. B. den über¬
großen Mund und die zu dicken Lippen und dabei
doch das Treuherzige, Jugendlich-Naive ihres Ge¬
sichtsausdruckes hervorzuheben, daß dieser veredelte
Zug den Beobachter beherrscht und ihn die un¬
schönen Züge, die steife ungraziöse Haltung zu ver¬
gessen zwingt. Die wenigen zur Geltung kommenden
Farben des Bildes (das Weiß der Kopfbedeckung,
das Schwarz des Kragens und das Karminrot der
Ärmel) verleihen ihm einen ruhigen, harmonischen
Eindruck.
Von großem kunsthistorischem Interesse ist das
bis jetzt einzige signierte und datierte Bild des
seltenen Michael Sweeris. Sweerts, auch Kavalier
Schwartz genannt, war in der zweiten Hälfte des
17. Jahrhunderts in Holland und Rom tätig. Das
Bild stellt einen jungen Mann in schwarzer Kleidung
dar, der an einem mit grünem Tuch bedeckten Tische
angelehnt sitzt. Auf dem Tische liegen neben einem
bleiernen Tintenfasse mit zwei Federn eine blaue
Börse, einige Notizbücher und in Reihen aufgestellte
Goldmünzen. An das Tischtuch ist mit einer Steck¬
nadel ein Blatt Papier befestigt, auf dem folgende
Inschrift steht: A. D. 1656 || Ratio Quique Reddenda ,
unten die Signatur Michael Sweerts . Das Bild
trägt den Namen: -Der Bankerott", jedoch nicht ganz
mit Recht, denn aus dem Gesichtsausdrucke des jungen
Bankiers kann man wohl eine Besorgnis für die ratio
cuique reddenda herauslesen, die jedoch auch bei
normalen Verhältnissen eines Bankgeschäftes stattfindet
und keineswegs auf irgend welche Geldverlegenheit
deutet. Das vortrefflich gut erhaltene Bild ist sehr
malerisch komponiert und in kräftigen Farben sehr
gut modelliert. Das Gesicht und insbesondere alles
Weiße, wie die Ärmel des Hemdes, das Papier, treten
aus den etwas verdunkelten anderen Farbentönen
hervor. Bilder, die auf Grund der Überlieferung
und laut Vergleichung dem Meister zuerkannt werden,
befinden sich in München, Wien (Harrach), Mailand,
Haarlem und Augsburg.
Die holländischen Landschafter sind in der Galerie
reich vertreten. Von dem Altmeister van Goyen be¬
sitzt die Sammlung eine große, hügelige Landschaft
mit Aussicht auf das Meer, welche in die dreißiger
Jahre gehört und die in kühleren Tönen als seine
früheren farbenreichen Werke (zwei davon besitzt die
Sammlung P. Delärow in St. Petersburg) ausgeführt
ist und, wenn sie auch die harmonische Abge¬
schlossenheit seiner Werke nach 1640 noch nicht
aufweist, doch schon das Streben nach Abstufung der
Töne deutlich erkennen läßt. Eine Ansicht von
Nymwegen von F. de Halst, früher auch dem J. van
Goyen zugeschrieben, ist trockener als die Werke
des letzteren, doch fleißig in grauen und braunen
Tönen ausgeführt.
Sehr wichtig für die Bilderbestimmung sind zwei
Landschaften von W. Knyf, von denen die eine (nicht
beide, wie Wörmann angibt) mit dem vollen Namens-
N. NEUCHATEL. WEIBLIICMES BILDNIS
PETERSBURG, KAISERL. AKADEMIE
NIEDERLÄNDISCHE GEMÄLDE IN DER KAISERLICHEN AKADEMIE DER KÜNSTE
39
NIC. MAES. WEIBLICHES BILDNIS
PETERSBURG, KAISERL. AKADEMIE
zuge des Künstlers bezeichnet ist und die Jahreszahl
1642 trägt. In ihrem gelblichen grünen Gesamttone
erinnert sie an van Goyen und die frühe Zeit Salo-
mon Ruisdaels; das nicht signierte Bild ist ein wenig
größer, auf Leinwand übertragen und noch viel weniger
frisch als das erste.
Auch von dem seltenen Jan Coelenbier (mit
Monogramm j. C. signiert) ist ein recht schönes, fein
abgestimmtes Bild vorhanden; der grünliche Ton des
Wassers geht allmählich in das Gelbe und das Braun¬
gelbe der am Ufer gelegenen Gebäude über; das
Ganze hebt sich effektvoll von dem grauen Himmel ab.
Von den fünf dem Jakob van Ruisdael zuge¬
schriebenen Bildern scheint eines eine Kopie, ein
anderes G. Dubois anzugehören, drei jedoch sind
sicher von seiner Hand. Es sind dies: eine schöne
bergige Landschaft und zwei mittelgroße Bleichen¬
bilder aus seiner jüngeren Zeit mit dem Fernblick
auf Haarlem von den Dünen bei Overveen; sie stammen
aus der Sammlung des Fürsten Sapieha. Ein pracht¬
volles Exemplar dieser Art befand sich bis vor kurzem
in der Sammlung des Herzogs Georg von Leuchten¬
berg in St. Petersburg; ein anderes gehört dem Grafen
Paul Ströganow ebenda. Die Unterschrift Ruisdaels
auf der »Dünenlandschaft« ist falsch; das sehr schöne
Bild stammt von G. Dubois, was an dem diesem
Künstler eigentümlichen Blaugrün und der feineren
Laubbehandiung zu erkennen ist.
A. van Everdingen ist mit einer sehr schönen,
trefflich erhaltenen Landschaft mit einem Wasserfalle
vertreten.
Von Salonion van Ruisdael is.t e- ■ ..Fähre von
1651 vorhanden. Die Uirechter SLh?/;:-' wird durch
eine Anbetung der Hirten von C, Poelcnbnrg und
zwei Bilder von Ciiylenborch repräseinnert. Auch ein
feines, silbertöniges Bild von Ph. Wouvennan besitzt
die Galerie.
Ein stimmungsvolles Bild, voll Sonne und feier¬
licher Farbenpracht, gibt uns Jan van de Capelle in
seiner Marine, die, wie es so oft auf seinen Bildern
vorkommt, die gefälschte Unterschrift Rembrandis
trägt und deshalb diesem Meister zugeschrieben wurde.
Wahrhaft »modern« sehen seine Bilder aus, mit ihren
ausgesprochenen, nicht temperierten Farbentönen!
Wie ausgeblichen und charakterlos nimmt sich daneben
der Antwerpener Biionaventura Pceters (»Marine )
oder erst der seltene J. Bellevois (ein signiertes
Bild) aus.
Von A. van Ostade, der in Privatsammlungen
St. Petersburgs mit mehreren Bildern vertreten ist
(ein besonders schönes Interieur von ihm im Kaiser¬
lichen Palais zu Zärskoye Sselö und fünf Bilder im
Palais zu Gätschina), hat die Galerie der Akademie
zwei Bilder. Eine »Bauerngesellschaft« von 1649,
sehr gut erhalten, hat alle Vorzüge seiner Werke aus
dieser Zeit. »Der leere Krug« gehört seiner späteren
Zeit. Das Kolorit ist nicht mehr so warm, doch be¬
wundert man im Bilde den feinen Humor, den Aus¬
druck des für diesen Bauernkopf zu schweren Nach¬
denkens über irgend eine Kalkulation, die den ver¬
schmitzten, unschönen Zügen fast einen schmerzhaften
MICHAEL SWEERTS. MÄNNLICHES PORTRÄT
PETERSBURG, KAISERL. AKADEMIE
RLÄNDISCHE GEMÄLDE IN DER KAISERLICHEN AKADEMIE DER KÜNSTE
. .ur.iL iu.k verk-ilit. Die Herberge am Wege<^ von
isoak van Osiade besitzt alle Eigenschaften seiner
besten Werke.
La main chaiide aus/. M. - Molenaers späteren
Jahren geliört nicht zu den besten Werken dieses
in den Privatsammlungen so oft vorkommenden
Künstlers.
ln genialer Breite hingeworfen sind die zwei
kleinen kräftig-rohen, skizzenhaften Rundbilder von
Benjamin Cnyp, eine Bauernrauferei und ein länd¬
liches Konzert darstellend. Demselben heißen gelb¬
roten Farbenakkord begegnen wir in einem dritten
Bilde, einer Bekehrung Sauli . Sehr dramatisch ist
die Verwirrung der Begleiter des Saulus gegeben
und rembrandtisch ist der effektvolle Lichtstrahl, doch
gelingen dem Künstler derartige Darstellungen größeren
Formats weniger, als die vorherbesprochenen. Das
Bild erinnert an die Verkündigung an die Hirten
der Geburt Christi' im Provinzialmuseum in Hannover.
Das große Reiterbild von A. Ciiyp ist eine alte Kopie
des Bildes im Louvre.
Das hiesige Exemplar der Darstellung des Sprich¬
wortes: Wie die Alten sungen, so pfeifen die jungen
von J. Steen gehört nicht zu den feinen Bildern des
Meisters. Die »Weintrinkerin« von Terborch stammt
vielleicht aus der Galerie Choiseuil, da das Bild als
dieser Sammlung gehörend von Chevillier gestochen
ist; in Florenz gibt es eine Wiederholung davon.
Die Dame schlürftallein ihr Glas Wein; ihr Kavalier,
der wahrscheinlich zu viel des Guten genossen, hat
sein müdes Haupt im Schlafe an die Tischkante ge¬
legt. Fein in der Wiedergabe des Materials ist das
zweite, etwas restaurierte Bild, das eine stehende
Dame darstellt, aber der übermäßig große dunkle
Hintergrund macht es uninteressant. Ein feines kleines
männliches Bild von Constantin Netscher ist er¬
wähnenswert.
Die » Wachtstube«, dem P. Codde zugeschrieben,
scheint mir von W. Duyster zu sein, an dessen Bilder
in der National Gallery und im Museum zu Douai
es stark erinnert. Es ist ein seltsames Bildchen, so¬
wohl durch die zackige Zeichnung der Figuren, als
auch durch die rosa-gelb-braunen mit schwarzen ver¬
mischten Töne. Die Gruppe am Kamin ist von dem
weißlichen, blassen Feuer beleuchtet; die Schatten sind
scharf und undurchsichtig und vermehren noch an
dem Bilde den Eindruck der unruhigen Schroffheit
der Figuren.
Die Gruppe der italienisierenden Holländer und
die Stillebenmaler sind durch gute Beispiele vertreten;
wir treffen darunter Namen wie Jan Brueghel, van
Huysum, CI. de Gelder, Verbruggen, W. van Aelst,
E. van Aelst, j. Weenix an.
Sehr schade ist es, daß die Räume der Galerie
es nicht erlauben, eine bessere Gruppierung der Ge¬
mälde vorzunehmen. Manches gute Bild findet in
der Sammlung keinen Platz, die ohnehin in ver¬
schiedenen, voneinander recht weit entfernten Räum¬
lichkeiten des Akademiegebäudes auf bessere Zeiten
warten muß.
W. KNYF. HOLLÄNDISCHE LANDSLHAFT. PETERSBURG, KAISERL. AKADEMIE
ARBEITENDE BAUERN AUE BURGUNDISCHEN TEPPICHEN
Von A. Waf^burq
AUS dem neuen Musee des arts decoiatifs in Paris
publizierte Maurice Detnaison’) einige Bild¬
teppiche, die fast alle als besonders hervor¬
ragende Typen jenes monumentalen und gleichzeitig
so praktischen Wandschmuckes anzusehen sind, der
schon seit dem 14. Jahrhundert den stolzesten Besitz
der Kunstsammler des späten Mittelalters bildete.
Indessen besaß der gewebte Teppich, den man
heute nur noch als aristokratisches Fossil in Schau¬
sammlungen bewundert, seinem ursprünglichen Cha¬
rakter nach demokratischere Züge; denn das Wesen
des gewebten Teppichs, des Arazzo, beruhte nicht auf
einmaliger origineller Schöpfung, da der Weber als
anonymer Bildervermittler denselben Gegenstand tech¬
nisch so oft wiederholen konnte, wie der Besteller es
verlangte; ferner war der Teppich nicht wie das Fresko
dauernd an die Wand gefesselt, sondern ein bewegliches
Bildervehikel; dadurch wurde er in der Entwickelung
der reproduzierenden Bildverbreiter gleichsam der
Ahne der Druckkunst, deren wohlfeileres Erzeugnis, die
bedruckte Papiertapete, die Stellung des Wandteppichs
folgerichtig im bürgerlichen Hause völlig usurpiert
hat. ln diesen beweglichen, wenn auch noch recht
kostbaren, textilen Fahrzeugen überschritten lebens¬
große nordische Figuren die Grenzen Frankreichs und
Flanderns, um die Märchen antiker oder ritterlicher
Vergangenheit im Gewände der neuesten Mode »alla
franzese« prunkvoll zu verbreiten; daher muß selbst
an italienischen Fürstenhöfen bis in die späte Früh¬
renaissance hinein der neue Stil »all’ antica« mit den
privilegierten Höflingen »alla franzese« um das Recht
kämpfen, die wiedererweckten Gestalten der Antike
zu verkörpern-). Konnte man auch in jenen barocken
Höflingsgestalten in Zeittracht nur mit Hilfe der bei¬
gefügten Inschriften die Helden heidnischer Vorzeit
— Herkules, Alexander, Trajan — erkennen, so
appellierte dafür der stoffliche Reiz schimmernder
Nebendinge noch lange mit Erfolg an den Material¬
sinn des schatzsammelnden Kunstfreundes.
Im Gegensatz zu diesen Erzeugnissen höfischen
Schmucktriebes zeigen nun unsere drei burgundischen
Teppiche im Gegenstand und in der Auffassung die
derb zupackende Beobachtungskraft flandrischen Wirk¬
lichkeilssinnes; sie variieren das gleiche Thema volks¬
tümlicher Genrekunst: Holzhacker bei ihrer Arbeit;
zwei dieser Bildteppiche, ein größerer und ein kleinerer
(Abb. 1 u. Abb. 2), gehören, der erstere sicher, der
zweite wahrscheinlich noch dem 15. Jahrhundert an,
der dritte (Abb. 3) dürfte, wie mir aus Einzelheiten
der Tracht und aus der Komposition hervorzugehen
1) »Les Arts«, 1905, Nr. 48.
2) Vgl. »Delle imprese amorose nelle piii antiche-
incisioni fiorent’ne« in der Rivista d’Arte 1905, Nr. 7 — 8.
scheint, erst um die Wende des 1 6. Jahrhunderts ent¬
standen sein.
Auf dem ältesten Teppich sind acht mühselig
arbeitende Holzhacker im Eichwald von einem
vortrefflich beobachtenden Künstlerauge lebensgroß
erfaßt und festgehalten. In der Mitte des Bildes
bringt ein Arbeiter den Baum, den er über der
Wurzel angeschlagen hat, zu Fall; neben ihm hackt
ein zweiter die größeren Zweige eines Stammes
ab; zwei andere im Vordergrund zerkleinern die
gefallenen Stämme mit der Axt oder einem sichel¬
förmigen Hackmesser, während zwei handfeste Holz¬
knechte das Zersägen besorgen. Die zerschlagenen
Scheite werden sodann von einem Mann mit turban¬
artiger Kopfbedeckung auf einen Haufen geschichtet,
während sein Nachbar, der einzig Untätige, sich für
sein anstrengendes Handwerk durch einen kräftigen
Schluck aus einer geräumigen Flasche stärkt.
Die Einzelfigur überrascht in Stellung und Ausdruck,
trotzdem die belebenden Mitteltöne im Gesicht ver¬
blichen sind, durch ihre Naturtreue; dagegen fehlt noch
der höhere Sinn für perspektivische Zusammenfassung:
die Figuren, die hintereinander erscheinen sollten, sind
übereinander aufgebaut, und der horror vacui, der
Fülltrieb des Webers, zerstört den Luftraum durch
Blattwerk und Tiergewimmel aller Art; Affen, Hirsche,
Rehe, Fasanen, Kaninchen, sogar wilde Tiere: ein
Löwe, ein Wolf, ein Leopard, haben sich im Walde
zu dekorativen Zwecken zusammengefunden, und
selbst die große Jagddogge im Vordergrund scheint
nicht willens, das Tierparadies ernstlich zu stören.
Dieser Hund trägt auf seinem Halsband ein einge¬
webtes Wappen: drei nach links gewandte Schlüsse^);
dasselbe eingewebte Wappen wird oben in der Mitte
über der Hand des baumumlegenden Holzhackers
sichtbar; da diese drei Schlüssel auch auf dem Wappen
der bekannten burgundischen Familie der Rolin'-)
Vorkommen, suchte ich in dieser Richtung nach wei¬
teren Beziehungen, wobei ich mich erinnerte, in dem
Buche von SoiF^) über die Teppiche von Tournai von
»bucherons« gelesen zu haben; die trockene heral¬
dische Identifikation gewann nunmehr Leben; denn
1) Weiße Schlüssel auf blauem Grunde, wie mir zuerst
Herr K. E. Schmidt in Paris freundlichst mitteilte; er machte
mich auch erst auf das Wappen des Hundehalsbandes auf¬
merksam, das auf der Abbildung in >Les Arts« nicht deut¬
lich zu erkennen war; auf unserer mit gütiger Erlaubnis
von Herrn Metman gemachten Neuaufnahme ist letzteres
sichtbar.
2) Vergl. die Abbildungen in der »Gazette des beaux
Arts« 35 (1906) S. 23 u. S. 25. Die Schlüssel sind bei
Rolin nach (heraldisch) links gewandt, bei seiner Frau
nach (heraldisch) rechts.
3) E. Soll, Les Tapisseries de Tournai (1S92).
ABB. ]. HOLZHACKER IM EICHWALD. TEPPICH, UM 1460 (3,20 m X 5,10 m). PARIS, MUSEE DES ARTS DECORATIFS
ABB. 2. HOLZHACKER. TEPPICHBRUCHSTÜCK, ENDE DES 15. JAHRH. (1 ,72 m X 2,45 in). PARIS, MUSEES DES ARTS DECORATIFS
AliB. 3. HOI ZIIACKf R. TEI’I'K H, ANKANO DES IG. JAHRH. (3,30 m X 5,20 m). PARIS, .WUSEE DES ARES DECORATIFS
ARBEITENDE BAUERN AUE BURGUNDISCHEN TEPPICHEN
45
die Urkunden beweisen, daß eben diese »bocherons«
zu dem typischen Bilderkreis des damals sehr be¬
rühmten Ateliers von Pasquier Orenier gehörten.
Dreimal — in den Jahren 1461, 1466 und 1505 —
werden Holzhacker als ausschließlicher Gegenstand
ganzer Teppichzyklen erwähnt; der früheste Auftrag¬
geber aber war der Herr des Landes selbst, Herzog
Philipp der Gute.
Der erste Auftrag von 1461 lautete: »Eine Teppich¬
kammer von Leinen und Seide gearbeitet, enthaltend
g Stücke, 6 Kissen und eine Bankdecke, nämlich:
eine Bettdecke für das große Bett, ein Himmel, (dazu)
ein Rücklaken, eine Bettdecke für das Kleinbett
und (dazu) ein Rücklaken, und 4 Wandstücke ganz
mit Busch- und Blattwerk bedeckt, und besagte Stücke
sollen mehrere große Personen zur Schau tragen, wie
Bauern und Holzhacker, die so tun, als ob sie in
besagtem Gehölz auf verschiedene Weise schafften
und arbeiteten« i). Man kann nicht eindeutiger, noch
dazu in einem so kurzen Programm, den Gegenstand
unserer Teppichfolge bezeichnen. Chronologisch
wäre es also sehr wohl möglich, daß diese eine der¬
artige »Chambre« für Nicolas Rolin angefertigt wurde;
nur ist es nicht allzu wahrscheinlich, daß sie gerade
mit der damals von Philipp dem Guten bestellten
identisch war, da sich Rolin 1461 in Ungnade befand^),
jedenfalls hat Philipp der Gute an diesen »bocherons«
sein besonderes Gefallen gefunden; er wiederholt
nicht nur 1466 diese Bestellung für ein Geschenk an
seine Nichte, die Herzogin von Geldern, sondern läßt
auch gleichzeitig für die Herzogin von Bourbon,
seine Schwester, eine »Kammer« fabrizieren, die
wohl dasselbe Thema der Baumarbeit variiert: es
sollen »orangiers« dargestellt werden. An Szenen
aus der kunstmäßigen Orangenzucht wird hier¬
bei schwerlich zu denken sein, da es damals im
Norden noch keine derartigen Kulturen gab; wohl
aber war die Orange durch Erinnerungsbilder an den
Süden, wie eine Orangenbaumgruppe auf dem Trip¬
tychon des van Eyck^) beweist, den Flandrern be¬
kannt, und so mag es die herzogliche Herrenlaune
gelockt haben, seine Bauern das geheimnisvolle Ge¬
wächs der Hesperiden resolut bearbeiten zu sehen;
stammt etwa das kleinere Teppichfragment aus dieser
Folge?"*) Jedenfalls gehört dieses kleinere Teppichbild
1) » . . . plusieurs grans personnaiges come gens pay-
sans et bocherons lesquels font maniere de ouvrer et
labourer au dit bois par diverses fa^ons.« Soil 1. c. 378.
2) Daß die Dogge so auffällig das Wappen trägt,
könnte mit dem ihm als hervorragende Auszeichnung ver¬
liehenen Privilegium Zusammenhängen, auf alle Tiere jagen
zu dürfen; vergl. Perier, N. Rolin (1Q04) S. 317. Indessen
war auch der Sohn des Kanzlers, Antoine Rolin, Orand-
Veneur, und sein Wappen (vergl. de Raadt, Sceaux Armories
[igoo] 111, S. 264) zeigt die drei Schlüssel, ganz wie auf
dem Teppich, nach rechts (heraldisch) gewandt, allerdings
darin abweichend, daß das Wappen von einem Dornen-
schnittrand eingefaßt (engreliert) ist.
3) Vergl. Rosen, Die Natur in der Kunst (1903) Abs. 30.
4) Diese Vermutung, die ich ursprünglich für gewagt
hielt, weil von Orangen selbst nichts zu sehen ist, erhielt
ihre Bestätigung dadurch, daß ich vor kurzem in Paris
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XVIU. H. 2
zum Zyklus von arbeitenden Hokbauern, und falls
die sinnlos wirkende Verkleinerung des Teppichs
nicht tatsächlich erst in jüngster Zeit vorgenornmen
wäre, könnte man sogar in ihm das Röddaken eines
Bettumhanges sehen, wie denn auch die Leitung des
Musee des Arts decoratifs in richtigem Gefühl den
Teppich als innere Wandbekleidung einer gotischen
Bettstelle wirken läßt*).
1505 wird eine »Chambre des personnages de
bucherons« wiederum in den Urkunden von Tournai
erwähnt, und zwar gehört sie zu den drei berühmten
Teppichfolgen, die Philipp der Schöne von Jean
Grenier, dem Sohne des Pasquier, kaufte und zu¬
sammen mit einer »Chambre ä personnages de vigne-
rons« nach Spanien mitnahm “). Auch die Weinbauern
hatten sich also die ihnen gebührende Rolle ®) im
Bilderdrama vom Leben des arbeitenden Bauern
verschafft.
ln dem zweiten größeren Holzhacker -Teppich
(Abb. 3) sehe ich jene erwähnte Teppichkammer des
Jean Grenier, der bei der Verarbeitung der ererbten
Kartons seines Vaters unverkennbar dieselben drastisch
beobachteten Einzelmotive beim Sägen, Sammeln und
Aufpacken des Holzes anbringt; hier ist schon der Ver¬
such einer einheitlicheren perspektivischen Raumauf¬
fassung gewagt, und die Personen geben sich nicht
mehr »naiv«, gewissermaßen ohne Besorgnis um
ihr Aussehen, der derben Tätigkeit hin. Aus dem
Kopfe des Aufsehers, der dem redenden Besitzer zu¬
hört, spricht bereits das Spiegelbewußtsein einer zier¬
lichen Persönlichkeit, die fast schon zu gebildet er¬
scheint, um an dem groben Wesen der Holzhauern
eine spätere Wiederholung der Chambre des Orangiers
fand , auf der dieselben Arbeiter und wirkliche Orangen¬
bäume dargestellt sind; allerdings ist das Arbeitsmotiv
nicht der ausschließliche Gegenstand der teilweise roman¬
tischen Darstellung.
1) Ich führe die Maße der »Chambre des orangiers«
(Soil, S. 379) im einzelnen an, um anderen die Teppich¬
studien zu erleichtern; dabei rechne ich die Elle von
Tournai, einer gütigen Angabe von Herrn Hocquet folgend,
zu 0,74125=0,75 m;
Teile der Teppichkammer
Höhe
Breite
Couverture du lit .
(6V3) 4,75 m
(7V3) 5,50 m
chiel .
(5) 3,75 m
(6) 4,50 m
gouttieres .
(Fallen, die den oberen Bett¬
himmelrand umziehen)
(3/j) 0,56 m
(4V4) 3,19 m
Couverture de couchette . .
(3) 2,25 m
(4) 3,00 m
Tappis de Muraille ....
(sVi) 3,93 m
(9) 6,75 m
(doppelt)
ff 5) >> ....
(5V4) 3,93 m
(syj 6,18 m
n j) ....
(5*'4) 3,93 m
(7) 5,25 m
bancqnier .
(iV,) 1,12 m
(8) 6,00 m
2) Soil I. c. 249.
3) Teppiche mit Boscherons und Vignerons werden
erwähnt als alte englische (?) Tapisserien im Mobilier de
la couronne sous Louis XIV ed. Guiffrey (1885) I, S. 347.
Zwei Teppiche des 15. Jahrhunderts, der eine im Musee
des Arts decoratifs, der andere in der Collection Gaillard
(Nr. 761) gehören höchstwahrscheinlich zu jener »Chambre
des Vignerons«.
7
ARBEITENDE BAUERN AUF BURQUNDISCHEN TEPPICHEN
den rechten Spaß zu haben. Die wiederholten Be-
stellunjjen des guten Herzogs Philipp dagegen lassen
vermuten, daß er und seine Hofgesellschaft, deren
unbändiges Temperament lastender Prunk und höfi¬
sches Zeremoniell nur äußerlich zivilisierte, an dem
grotesken Treiben ihrer Holzbauern ihr bon plaisir«
fanden, auch wenn der Bilderbogen vom braven
paysan et bocheron sich über ganze 135 Quadrat¬
meter der Kammer« hindehnte.
Das Reich der Natur, nach dem sich zu allen
Zeiten eine hyperzivilisierte Gesellschaftsschicht zu¬
rücksehnt, war im Norden eben nicht von antikischen
Satyrn, sondern von den unfreiwilligen Komikern
schwerfälliger körperlicher Arbeit bevölkert.
Läßt man sich durch das einflußreiche Orenz-
wächtertum in unserer heutigen Kunstgeschichtsschrei-
bimg nicht davon ablenken, in dieser »niedrigeren«
Region der angewandten nordischen Kunst monu¬
mentale Bildkraft am Werke zu spüren, so hat die
Einreihung unserer burgundischen Oenrekunst in
die allgemeine stilgeschichtliche Entwickelung keine
historischen Schwierigkeiten mehr. Szenen aus dem
Leben des gemeinen Mannes lassen sich schon seit
dem Anfang des 1 5. Jahrhundert aus den wenigen
uns erhaltenen Teppichinventaren häufig genug nach-
weisen, um sie als typischen Bestandteil im Bilderzyklus
höfischer Teppichkunst zu erkennen; dafür nur einige
Stichproben: Valentine d’Orleans besitzt 1407 eine
»chambre semee de bucherons et de bergers< ^). Papst
Felix V. führt in seiner Teppichausrüstimg, die er
1440 nach Basel mitnahm, einen »magnum tapissium
grossarum gentium , mit sich, und ebenso besitzt
Paul IL") 1457 einen alten flandrischen Teppich »cum
hominibus ed mulieribus rusticalibus' . Das neue Ele¬
ment liegt demnach weniger im genrehaften Gegen¬
stand, als in der überraschenden Fähigkeit des Pasquier
Grenier oder seines Zeichners, lebensgroße Gestalten in
dem packenden Ausdruck momentaner Tätigkeit zu er¬
fassen. Aber auch hierin war ein größerer aus dem¬
selben Tournai schon vorangegangen; unter der trüben¬
den Schicht handwerksmäßiger Webekunst sind uns
wahrscheinlich auf den BernerTeppichen jene verlorenen
Gerechtigkeitsbilder Rogier van der Weydens erhalten,
der glorreiche Besitz des Stadthauses in Brüssel.
Carel van Mander“*) rühmt diese Schöpfungen mit
folgenden Worten: »Denn er hat unsere Kunst sehr
verbessert, indem er durch seine Erfindung und Be¬
handlung seinen Arbeiten ein vollkommeneres Aus¬
sehen verlieh, sowohl was den Bewegungsinhalt der
Figuren betrifft, als auch in der Komposition und in
der Charakterisierung der seelischen Erregungen, wie
Betrübnis, Zorn oder Freude, je nachdem der Vorwurf
es verlangte. Zu seinem ewigen Gedächtnis sind
auf dem Rathaus zu Brüssel sehr berühmte Bilder
von ihm zu sehen, nämlich vier auf die Justiz bezüg¬
liche Szenen. An erster Stelle steht da das ausge-
1) Recueii d’anciens Inventaires (1896) S. 226.
2) Vergl. Müntz, Hist. Gen. d. 1. Tap. S. 12.
3) Vergl. „ Les Arts ä la cour des Papes 11, S. 282.
4) Das Leben der niederländischen Maler, übers, von
Hanns Floerke 1 (1906) S. 75.
zeichnete und bemerkenswerte Bild, da der alte Vater
krank im Bett liegt und seinem verbrecherischen
Sohne den Hals abschneidet.«
In diesem Lobe liegt zugleich die richtige Be¬
schränkung; gewiß spricht jene gepriesene Mienen¬
spiegelkunst mit einer bis zur Grimasse gehenden
Deutlichkeit aus den Köpfen des Herkinbaldteppichs*);
die Körper aber, von dem schweren überladenen zeit¬
genössischem Kostüm mumifiziert, lähmen trotz der
zappelnden Extremitäten das einheitliche Zusammen¬
wirken von Mienenspiel und Gebärdensprache. Die
Holzhauern dagegen, von keiner Modetracht bedrückt,
können sich im natürlichsten drastischen Zusammen¬
spiel von Mimik und Physiognomik im echten Stile
ihrer Prosa ungehemmt vortragen.
Der Name Rohn ist der Kunstgeschichte bisher nur
aus der höheren Region der kirchlichen Kunst bekannt:
der Kanzler Rohn kniet als Donator vor der Ma¬
donna auf dem Bilde des Jan van Eyck im Louvre,
und gleichfalls mit seiner Frau als Stifter auf den
Außenflügeln des mächtigen Altarwerkes vom Jüngsten
Gericht in seinem Hospital in Beaune. Die persön¬
lichste Beziehung Rolins zu diesen beiden Meister¬
stücken niederländischer Andachtskunst war wohl
vereinbar mit verständnisvoller Freude an dem drasti¬
schen Holzbauernteppich, denn gerade diese primitive
»compatibility«, die Verträglichkeit zwischen kirch¬
lichem und weltlichem Kunstinteresse kennzeichnete
in jener Übergangszeit den Geschmack des Privat¬
sammlers, der sich erst nach und nach aus dem
Schatzbewahrer der spätmittelalferlich höfischen Zivi¬
lisation zum museumbildenden Kunstfreund der
Renaissancekultur entwickelte. Dem Verständnis für
das rein Künstlerische stand eben jener raffinierte
Materialsinn entgegen, der durch die äußerlich schwie¬
rigen und doch lebhaften Handelsbeziehungen in
Westeuropa herausgebildet, wohl aufs feinste abzu¬
schätzen, aber auch wahllos zu häufen wußte.
Wider Erwarten erhält man aus dem gleichzeitigen
Italien — wo unser modernes unkritisches Renaissance¬
empfinden nur Offenbarungen bodenständiger Selbst¬
herrlichkeit anzutreffen liebt — für dieselbe Kompa¬
tibilität die unzweideutigsten Zeugnisse; die Könige
von Neapel, die Herzöge von Ferrara und die Medici
in Florenz schätzten ihre von flandrischen Meistern
nach ihren eigenen Wünschen gewebten weltlichen
Bildteppiche als ihren kostbarsten Besitz neben jenen
andachtsvollen Seelenstücken auf Holz oder Leinwand,
wie sie Rogier van der Weyden selbst in Italien einge¬
bürgert hatte ^); aber nicht nur dem gewebten Feier¬
kleid für die häusliche Wand, sondern auch seinem
billigeren Surrogat, dem auf Leinwand gemalten Genre¬
bild, räumten die Medici sogar die Ehrenplätze der
sopraporti in ihren Festsälen auf der Villa Careggi'^)
1) Vergl. die Abb. bei Jubinal und danach bei Müntz,
La Tapisserie (Kl. Ausg.) S. 151.
2) Vergl. »Flandrische Kunst und Florentinische Früh¬
renaissance« im Jahrb. d. Preuß. Kunsts. 1902, S. 207 und
»Der Austausch künstlerischer Kultur zwischen Norden
und Süden« in den Ber. der Kunstg. Ges. 1905.
3) Vergl. »Flandrische und Florentinische Kunst im
DER PARISER HERBSTSALON
47
und im Stadtpalaste ein, zur selben Zeit (etwa 1460)
wo doch schon im Palast der via larga Antonio und
Piero Pollajuolo auf ihren Leinwandbildern mit den
Herkulestaten den neuen idealistischen Stil des beweg¬
ten Lebens verkündeten, bereits das Banner der neuen
welterobernden Pathosformel »all’ antica«^) entfaltet
hatten.
Die monumentale Genrekunst dieser burgundischen
Bildteppiche war gleichsam das Quellgebiet jenes
nordischen Verismus, der seinen lebenspiegelnden
Humor als eine unverächtliche Gegenkraft dem dio-
Kreise des Lorenzo dei Medici« in den Ber. d. Kunstg.
Ges. igoi.
1) Vergl. »Dürer u. die italienische Antike« in den Ver¬
handlungen der 48. Versammlung deutscher Philologen und
Schulmänner.
nysischen Pathos im Kampfe um den Stil des be¬
wegten Lebens entgegensetzen konnte, bis die klassi-
zierende Hochrenaissance Italiens im antiken Satyr ihr
eigenes und ihrer humanistischen Gesellschaft ange¬
messeneres Temperamentsventil wiederentdeckte. Vor
dem elementaren echten Orgiasmus des heidnischen
Satyrn, dem noch dazu der nackte Körper das unge¬
hemmte Doppelspiel von Miene und Körper verlieh,
zog sich der grimassierende nordische Spaßvogel
zurück, bis auch der Satyr im abschleifenden Tausch¬
verkehr der Formen Wert und Prägungsfrische ein¬
gebüßt und nun Breughel seinen Bauern im Reiche
der Sammlerkunst neu gewann, was sie eigentlich von
altersher besessen: das Hofnarrenprivilegium spätmittel¬
alterlicher höfischer Kultur.
DER PARISER HERBSTSALON
Von K. E. Schmidt
Der Herbstsalon steht unter dem Zeichen Paul
Gaiiguins. Schon vor drei Jahren waren im
Herbstsalon einige zwölf oder fünfzehn Arbeiten
des damals gerade verstorbenen Künstlers ausgestellt,
aber von einer irgendwie erschöpfenden Übersicht
konnte nicht die Rede sein. Heuer werden uns nicht
weniger als 227 Arbeiten Gauguins vereint gezeigt,
und wenigstens die letzten zwanzig Jahre des Künstlers
werden damit erschöpfend illustriert. Aus seiner ersten
Zeit aber ist nichts da, und das ist schade, denn vor
dreißig Jahren hat Gauguin ganz wunderschöne Sachen
gemalt, Ansichten von der Seine in der Umgegend von
Paris, die von Lepine oder von dem Claude Monet
der sechziger Jahre gemalt sein könnten. Aus dieser
Zeit ist hier nichts vertreten, aber diese Zeit ist es
ja auch nicht, die Gauguin berühmt gemacht hat.
Gauguin war ein Grübler und ein Sonderling.
Nachdem er gezeigt hatte, daß er zeichnen und malen
konnte, ergab er sich der Theorie, der im politischen
Leben die Anarchisten huldigen, und die bis zu einem
gewissen Grade von Tolstoj gepredigt wird. Aus
den Fehlern und Mängeln der bestehenden Gesell¬
schaft schließt der wissenschaftliche Anarchismus, daß
die gesamte Kultur an sich schlecht sei, daß das
ganze Gebäude niedergerissen werden müsse, um
auf neuem Fundament ein neues Gebäude aufzuführen.
Um zu einer schöneren und besseren Zivilisation zu
gelangen, müssen wir zur Stufe der Barbarei zurück¬
kehren. Das war auch die Theorie Gauguins. Unsere
Kunst leidet, das wird wohl jeder zugeben, am Tra-
ditionalismus, wie er in den Akademien gepflegt wird.
Wir sehen weniger auf die Natur als auf die Werke
unserer großen Vorgänger. Schon die Nazarener
und nach ihnen die englischen Präraffaeliten ver¬
spürten etwas ähnliches, als sie die höchste Blüte der
Renaissance verfluchten und zu den Vorläufern
Raffaels und Michel Angelos zurückgingen. Gauguin
genügte das aber noch lange nicht. Er wollte bis
zum Ursprung aller Kunst zurück, um an diese An¬
fänge anzuknüpfen.
Wo findet man die Uranfänge der Kunst? Nun,
man findet sie da, wo man die Uranfänge der Kultur
findet: beim Kinde und bei den auf der Kindheits¬
stufe stehengebliebenen Völkern. Gauguin schaute
sich zunächst in Frankreich selbst um und fand seine
Vorbilder einerseits bei den bunten Bilderbogen von
Epinal, die bei den Jahrmärkten und Kirchweihen
von den Bauern gekauft werden, sodann bei den un¬
beholfenen Holzschnitzereien, Steinskulpturen und
Gemälden, wie sie besonders in der Bretagne, dem
am weitesten zurückgebliebenen Teile Frankreichs,
recht zahlreich sind und bis auf den heutigen Tag
angefertigt werden. Später genügte ihm die Bretagne
nicht, und er suchte seine Vorbilder jenseits der
Meere. So kam er nach den Südseeinseln, wo er
gestorben ist. Der Zufall eines leider abgeschlossenen
Wanderlebens hat auch mich einst nach der Südsee
geführt, und ich kenne die hölzernen Götzen der
Samoaner aus eigener Anschauung, — was übrigens
nichts besonderes ist, denn in dem ethnologischen
Museum von Berlin kann man davon mehr sehen,
als wenn man sich sechs Wochen in Apia aufhält.
Jedenfalls aber ist dieser einstige Besuch auf Samoa
mit daran schuld, daß ich den in der Südsee ent¬
standenen Holz- und Steinskulpturen Gauguins lange
nicht die Bewunderung zolle, wie sie von der Schar
der Leute gespendet wird, die aus Prinzip alles be¬
wundern , was dem gewöhnlichen Menschen unver¬
ständlich, wenn nicht lächerlich scheint.
Es ist ganz schön, sich von den Regeln der
7
DER PARISER HERBSTSALON
Akaden^ie und von der sklavischen Nachahmung der
Alten freiziunachen. Dann aber gehe man direkt
zur Natur. Es ist wahr, daß die bretonischen Bauern
und die Südseeinsulaner der Natur näher stehen als
die Pariser und die Berliner, aber ihre ungeschickten
und kindischen Versuche nachzuahmen, scheint mir
doch noch bedeutend törichter, als bei Raffael und
Michel Angelo Rat zu holen. Die naiven, unbe¬
holfenen, ungeschickten, kindischen Formen Gauguins
sind ganz genaue Kopien der primitiven Kunstwerke
der Bretagne und der Südsee. Ob solche Kopien
nun nach Vorbildern der Südseeinsulaner oder der
italienischen Renaissancekünstler angefertigt sind,
scheint mir gleich verdienstlos. Sehr viel Originali¬
tät ist darin nicht zu sehen, und der Pfarrer von
Rotheneuf gefällt mir besser als Gauguin. In Rothe-
neuf bei St. Malo lebt nämlich ein wackrer alter
Geistlicher, der seit dreißig oder vierzig Jahren die
Felsen an seinem heimischen Meeresgestade mit Meißel
und Hammer bearbeitet und da eine ganze Armee
menschlicher und tierischer Figuren in Flach- und
Hochrelief aus der Felswand herausgehauen hat. Das
ist genau ebenso ungeschickt und kindisch wie die
Skulpturen Gauguins, aber bei dem braven Pfarrer
ist die kindische Ungeschicklichkeit nicht gesucht
wie bei Gauguin. Der Pfarrer macht seine Arbeiten
so gut und schön, wie er nur kann und weiß. Ebenso
machen es die Südseeinsulaner und die Bretonen.
Gauguin aber und seine Nachfolger stellen sich un¬
beholfen und kindisch, sie verstecken ihr wahres Ge¬
sicht hinter einer Maske, sie sind innerlich unwahr,
und in letzter Linie wirken sie im Gewand des primi¬
tiven Barbaren nicht anders als der Sudanneger in
Zylinder und Frack, nämlich komisch und lächerlich.
Nun hätte aber Gauguin trotz dem Snobismus
unserer Zeit, der alles Unverständliche schön findet,
um sein eigenes überaus subtiles Verständnis zu be¬
kunden, nicht den Ruf erwerben können, den er
gegenwärtig besitzt, wenn er weiter nichts als ein
lächerlicher Nachahmer primitiver Ungeschicklichkeit
gewesen wäre. Das war er auch in der Tat nicht:
er war ein außerordentlich stark und schön veran¬
lagter Künstler. Wie schon oben gesagt, hat er in
seinen Anfängen Sachen gemalt, die man den Bildern
aus Claude Monels bester Zeit gleichstellen darf. Und
als ihn die Marotte der Barbarei gefangen hielt, nahm
er in die gesuchte und gefundene Naivität eine Farben¬
freude mit, wie sie kaum ein anderer Künstler unserer
Zeit besessen hat. Seine Malereien aus der Südsee
sind koloristische Schwelgereien; der Maler stürzt
sich mit wahrer Wollust in diese lodernde, lohende
flammende Farbenpracht, die in der Anwendung
schmetternder Töne wieder an die Bilderbogen von
Epinal erinnert, aber zugleich eine souveräne, unglaub¬
lich sichere und unumschränkte Herrschaft im Reiche
der Farbe bekundet. Bei aller jubelnden, jauchzenden,
ja brüllenden, knatternden und schmetternden Pracht
wird Gauguin doch nie roh, nie gemein, nie ge¬
schmacklos und disharmonisch. Er bringt die tollsten
Farben unvermittelt zusammen, und sie singen einen
herrlichen Choral voll Harmonie und Macht. Diese
Malereien wirken in ihrer alles bezwingenden Farben¬
glut wie die Fenster unserer mittelalterlichen Kirchen,
aber was dort durch die durchscheinende Tageshelle
bewirkt wird, hat Gauguin ohne diese mächtige Hilfe
zustande gebracht, und man steht vor diesen Wunder¬
werken koloristischer Leuchtkraft wie vor den unbe¬
greiflichen Schöpfungen geheimnisvoller Naturkräfte.
Verläßt man die Gauguin eingeräumten Säle und
macht man den im Vorsaale untergebrachten Nach¬
folgern und Nachahmern des toten Künstlers seinen
Besuch, so nehmen bald andere Gefühle Besitz von
uns. Die Unbeholfenheit Gauguins findet sich hier
übertrieben wieder, und an die Stelle seiner herr¬
lichen Farbenmusik ist die plumpeste, geschmack¬
loseste, bunteste, schreiendste und mißtönigste Klexerei
getreten. Keine Farbenvereinigung ist zu grell oder
zu abscheulich für diese Gauguinschüler, die ihrem
Meister wahrlich wenig Ehre machen. Gauguin
konnte etwas, als er auf das Können verzichtete und
der primitiven Ungeschicklichkeit nachging. Seine
Nachfolger aber sind wirklich davon überzeugt, daß
Nichtskönnen eine neue Richtung sei, und daß ein
Kunstwerk desto schöner sei, je weniger sein Urheber
gelernt habe. Die starren Verteidiger und Verfechter
des akademischen Zopfes hätten keine bessere Bundes¬
genossin finden können, als diese »neue Richtung«.
Wenn diese Neuerer noch zehn Jahre so fortmachen,
wird ohne jeden Zweifel wieder einmal eine Periode
schulmeisterlichsten Akademismus anbrechen, denn
solche Auswüchse zeitigen immer und überall die
Reaktion nach der anderen Seite.
Außer Gauguin haben Carriere und Courbet ihre
retrospektive Ausstellung, und da ist es sehr merk¬
würdig zu sehen, wie Courbet, der einstige Stürmer
und Dränger, zum folgsamen Akademiker wird, ver¬
glichen mit den Arbeiten der Gauguinschüler. Man
glaubt, in ein Sanktuarium der Museumskunst zu
treten, wenn man seine Bildnisse, Landschaften und
Marinen anschaut, und man sieht, daß Courbet, ob¬
schon er die Natur für seine einzige Lehrmeisterin
erklärte, bei Tizian, Frans Hals und anderen Meistern
der Vergangenheit seine ganze Technik erlernt hat.
Besonders hervorragende Werke Courbets sind hier
nicht ausgestellt, aber alles ist gesunde und starke
Malerei, auf den besten Vorbildern fußend, der Wahr¬
heit folgend und von einer kraftvollen Persönlichkeit
getragen. Über Carriere, der schon im diesjährigen
Champ de Mars seine Sonderausstellung hatte, ist
nichts Neues zu sagen. Auch hier wieder hat man
das Gefühl, daß uns ein einziges seiner Meisterwerke
tiefer faßt und bewegt als so viele nebeneinander
hängende Arbeiten, die zusammen etwas eintönig
und ermüdend wirken.
Unter den lebenden Ausstellern hebe ich besonders
hervor; die Russin Dannenberg, deren koloristisch
äußerst famose Arbeiten eine seltene Kraft, Ursprüng¬
lichkeit und Frische bekunden, so daß ich ihre Kinder¬
szenen aus dem Luxembourggarten an die allererste
Stelle der in diesem Salon gezeigten Gemälde setzen
möchte; die Schweizerin Stettier, die koloristisch viel¬
leicht nicht so bedeutend ist, aber in Frische und
DAS NEUE HANDBUCH DER DEUTSCHEN KUNSTDENKMÄLER
49
Kraft der Darstellung ebenso hoch steht; Franz Kupka,
der gegenwärtig wohl der eigenartigste und glän¬
zendste französische Illustrator ist und sich in den
drei Frauengestalten, beleuchtet von dem roten Glanze
der herbstlichen Abendsonne, als ebenso starker
Kolorist betätigt; Maxime Dethoinas, der in seinen
leicht getönten Pastellzeichnungen in der Stärke der
Charakterisierung an Daumier heranreicht; Albert
Bclleroche mit zwei weiblichen Bildnissen in ebenso
starker wie anmutiger Farbengebung und mehreren
seiner vorzüglichen Lithographien; Rembrandt Bugatti,
dessen kleine Tierbronzen zu den vortrefflichsten
neueren Schöpfungen auf diesem Gebiete gehören;
Medardo Rosso, der der interessanten Reihe seiner
impressionistischen Skulpturen ein sehr merkwürdiges
und anziehendes Kinderporträt zugefügt hat; Stephan
Haweis mit koloristisch äußerst anmutigen und reiz¬
vollen Strandbildern; Josza und Kandinsky mit sehr
hübschen farbigen, Wilhelm Lefebvre mit schwarzen
Radierungen.
Von den älteren und bekannteren Künstlern, die
hier ausstellen, erwähne ich noch Anglada-Camarasa,
der jetzt die einmal gefundene Note auszubeuten ge¬
sonnen scheint, denn seine diesjährigen beiden Bilder
zeigen genau das nämliche Farbenkonzert wie seine
Arbeiten der letzten zwei Jahre: rosig- weiß in blau¬
grün, eine gewiß äußerst ansprechende und schöne
Harmonie, der man aber eine von einem so begabten
Koloristen wie Anglada wohl zu erwartende Ab¬
wechslung vorziehen würde; Willette mit einer sehr
anmutigen getönten Zeichnung und einem in der
Farbe recht unangenehm wirkenden Ölgemälde; John
Lavery, der von Anglada den Nutzen des deckenden
und harmonisierenden Glases lernen sollte, denn so
sanft und harmonisch seine mit Glas bedeckten Bilder
aussehen, so gewaltsam und hie und da fast grell
und roh scheinen seine dieses Bindemittels ent¬
behrenden Gemälde; Paul Cezanne und Maurice
Denis, die trotz der Ungebärdigkeit ihrer Nachfolger
immer noch an der Spitze der jüngsten marschieren,
wahrscheinlich weil ihre Absonderlichkeiten auf dem
festen Grunde wirklichen Könnens ruhen, was man
leider nur von den wenigsten modernen Künstlern
sagen kann, die durch erstaunliche Gesichtsverzer¬
rungen die Aufmerksamkeit zu erregen und ihre
Originalität zu beweisen sucken.
DAS NEUE HANDBUCH DER DEUTSCHEN KUNSTDENKMÄLER’)
Ein bescheidener Band von mäßigem Umfang, der
aber eine gewaltige Arbeitsleistung darstellt. Das Hand¬
buch der deutschen Kunstdenkmäler ist ein Unternehmen
des Tages für Denkmalpflege — seine Geschichte zieht
sich seit sieben Jahren durch die einzelnen Tagungen durch
und ist in den Jahresberichten niedergelegt. Im Jahre iSgg
hatte Dehio in Straßburg auf der Generalversammlung der
Geschichts- und Altertumsvereine, von der sich damals der
Tag für Denkmalpflege abtrennte, der längst dringenden
und schreienden Forderung nach einem solchen Handbuch
Ausdruck gegeben. Der Dresdener Tag für Denkmalpflege
hatte dann im Jahre igoo die Herausgabe eines eigenen
Handbuches beschlossen und zur Durchführung des Planes
eine Kommission eingesetzt, bestehend aus dem Vorsitzenden
des Tages, Hugo Loersch, aus Cornelius Gurlitt und Adolf
von Oechelhäuser. Das ganze Programm war aber erst
lebensfähig, als Dehio sich bereit erklärte, die Riesenarbeit
zu übernehmen und durchzuführen. Die lange Vorgeschichte
des Werkes war auch eine Leidensgeschichte und nicht
immer amüsant. Zur Durchführung der nötigen Material-
samnihmg war ein ganzer Stab von Mitarbeitern, zur Nach¬
prüfung der Angaben, zur Neuaufnahme der noch gar nicht
inventarisierten Gegenden waren umfängliche und wieder¬
holte monatelange Reisen notwendig. Ein Verleger hätte
die erforderlichen, sehr erheblichen Mittel nicht aufbringen
können, vor allem nicht, wenn das Werk seinen billigen
Preis behalten sollte. Erst durch eine sehr bedeutende
Bewilligung aus dem Dispositionsfonds Sr. Majestät des
Kaisers ward das Werk ermöglicht.
i) Georg Dehio, Handbuch der deutschen Kunstdenk-
mäler. Im Aufträge des Tages für Denkmalpflege be¬
arbeitet. Band I. Mitteldeutschland. Berlin, Verlag von
Ernst Wasmuth igo5. 360 S.
Die Gesichtspunkte, die Dehio bei seiner Arbeit leiteten,
hatte er schon vor sechs Jahren in einer ausführlichen Denk¬
schrift niedergelegt; in der Einleitung zu dem ersten Bande
hat er sie noch einmal zusammengefaßt. Wie sehr und
wie oft ein jeder, der sich mit deutscher Kunst zu be¬
schäftigen hatte, der Kunstgelehrte, der Architekt, der
Konservator, der Kunstfreund ein solches Handbuch ent¬
behrt hat, das empfindet man eigentlich erst jetzt, seit
man den ersten Band in der Hand hält. Unsere Reise¬
handbücher haben sich ja bemüht, diesem Bedürfnis in
etwa zu entsprechen; zumal die neuesten Auflagen des
Baedeker leisten darin Erstaunliches — man hat sich daran
gewöhnt, sie als die bequemsten wissenschaftlichen Hand¬
bücher zu konsultieren. Es ist ja bezeichnend für die
Hypertrophie des historischen Sinnes in Deutschland, daß
diese Reisehandbücher von geschichtlichen Angaben über¬
füllt sind, aber von den größten Wundern der Technik
kaum Notiz nehmen. Aber trotzdem konnten die Reise¬
führer doch nur auf die allerersten Fragen dem Fachmann
Antwort geben. Die zum Teil ganz ausgezeichneten be¬
rühmten Kunststätten des Seemannschen Verlages bieten
zunächst eine geschichtliche Darstellung, keinen catalogue
raisonne. Es blieb dann der alte ehrliche Lotz. Noch
heute stehen wir voll Staunen und Rührung vor dieser
Leistung eines einzigen Menschen: seine 1862 erschienene
Kunsttopographie Deutschlands suchte systematisch die
Denkmäler und Kunstschätze in Deutschland und Deutsch-
Österreich aufzuzählen — Lotz hat hier ein Vorbild ge¬
schaffen, das als Formel wenigstens, von allen deutschen
Denkmälerinveutaren aufgenommen worden ist. Aber das
Werk ist nie wiederaufgelegt, längst vergriffen, dazu un¬
handlich. Vollständigkeit konnte hier kaum angestrebt
werden; der Autor konnte nur einen bescheidenen Teil
selbst bereisen — er half sich mit fleißigen Auszügen,
DAS NEUE HANDBUCH DER DEUTSCHEN KUNSTDENKMALER
abu- waren Zufallsergebnisse. Und vor allem: als
Dcnkmiikr wurden damals eigentlich nur die Bauten des
Mittcialters und der Renaissance angesehen, kaum noch
die der Spätrenaissance. Über Barock und Rokoko herrscht
ein eisiges Schweigen, ein Zeugnis von der Verachtung
der Zeit diesen Jahrhunderten gegenüber.
Es blieben nur die großen Denkmälerinventare, die
seit ilreißig Jahren in allen Bundesstaaten und Provinzen
Deutschlands in Arbeit sind. Ja diese Inventare. Sie
tragen gar wenig den Stempel des neuen Reichs: selbst
das überall nniformierende Preidten hat es unterlassen
oder versäumt, hier einen gleichmäßigen Schnitt vorzn-
schreiben — sie sehen vielmehr aus wie ein buntscheckiger
Bundeskontingent aus den Zeiten des entschlafenen rö¬
mischen Reiches deutscher Nation. Alle Formate zwischen
Oktav und Folio, gar nicht illustrierte und fast reine Tafel¬
werke, die einen in schwerer und oft drückender historischer
Rüstung, die anderen behende über diese Schwierigkeit
wegspringend, die einen im Telegrammstil, die anderen
in binmenreicher Schilderung. Heute stellen diese deutschen
Inventare eine Reihe von fast 140 Bänden dar, nebenein¬
andergestellt eine Länge von fast 6 Metern — sie kosten
zusammen etwa anderthalbtausend Mark. Das ist eine
Ehbliothek für sich geworden. An einen Abschlnß ist
vielfach noch gar nicht zn denken: wenn das bayrische
Inventar in dem bisherigen Turnus weitergeführt worden
wäre, so hätte die Vollendung fast noch ein Jahrhnndert
erfordert. Dazu kommt noch ein anderes: die deutschen
Inventare sind entstanden als Handbücher für die praktische
Verwaltung, für die Denkmalpflege, in zweiter Linie erst
als Repertorien für die Kunstgeschichte. Daraus ergibt
sich ihr besonderer Charakter: sie streben Vollständigkeit
an und wollen sämtliche historische Denkmäler aufzählen,
soweit sie für die Denkmalpflege in Betracht kommen.
Das sind wohl Dokumente einer lokalen und provinzialen
Kunstgeschichte, keinesfalls aber unbedingt Kunstdenkmäler,
die für den Aufbau einer deutschen Kunstgeschichte oder
auch nur der künstlerischen Entwickelung eines größeren
Gebietes in Betracht kommen.
Ein Handbuch, das dies ganze ins Uferlose ange¬
schwollene Material zusannnenfassen wollte, mußte vor
allem eine Kunst üben: die Kunst, wegzulassen. Und
daneben mußte der Satz gelten: Ein mit solchem Aufwand
von ausgezeichneter Arbeitskraft, mit solchen Mitteln durch¬
geführtes Werk wird schwerlich ein zweites Mal vom
Fundament aus neu gebaut werden: also mußte dies
Buch auf möglichst viele Fragen Auskunft geben und
möglichst verschiedene Fragen zu befriedigen geeignet sein.
Wie steht nun zu diesen Fragen das neue Handbuch?
Es ist ein Akt der Selbstentäußerung und Aufopferung,
wenn ein vielbeschäftigter Universitätslehrer einen ganzen
Abschnitt seines Lebens für die konseoiuente Durchführung
einer so ausgedehnten und zunächst wenig dankbaren
Aufgabe bestimmt — und für die begeisterte Hingabe und
die eiserne Energie, mit der das große Werk unternommen
worden ist, kann die Kunstwissenschaft dem Autor nicht
dankbar genug sein. Man hört bei allen wichtigen Punkten
und Fragen den Gelehrten, der auf der Höhe seiner
Wissenschaft steht und in knappster Form auch zu den
augenblicklichen Problenren Stellung nimmt. Ein sicherer
und ausgesprochen persönlicher Geschmack leitet die Dar¬
stellung und gibt den Ton der künstlerischen Kritik an.
Keinem literarischen Unternehmen gegenüber ist es
leichter, den Vorwurf der Unvollständigkeit zu erheben, als
gegenüber einem solchen Handbuch. Ich schätze: je
kleiner das Gebiet ist, das ein Kritiker übersieht, um so
eher wird er geneigt sein, dem Autor den Vorwurf zn
machen, daß er Monumente ausgelassen hat, die ihm
wichtig erschienen. Neben den r^enkmälern, die der Be¬
arbeiter absichtlich ausgelassen hat, werden natürlich solche
stehen, die er nicht gekannt hat, zumal in den Gebieten,
die noch nicht inventarisiert sind (für den vorliegenden
Band war etwa die Hälfte des in Betracht kommenden
Gebietes noch uninventarisiert, also völlig neu zu bereisen).
Ein Ausgleich wird erst in den späteren Anflagen eintreten
können, die hoffentlich nicht zu lange auf sich warten
lassen. Der Verfasser hat in dem Vorwort die Bitte aus¬
gesprochen, ihn durch Einsendung von Berichtigungen
lind Ergänzungen jetzt schon zu unterstützen. Man möchte
wünschen, daß die Fachgenossen dieser Bitte möglichst
oft und reichlich entsprächen und daß ein jeder Benutzer
des Buches durch solche Angaben seinen Dank für das
Werk abstattete. Vielleicht aber läßt sich jetzt schon und
zunächst bei den folgenden Bänden ein höherer Grad von
Vollkommenheit erreichen, wenn die Korrekturen der
einzelnen Beschreibungen oder wenigstens aller wichtigen
vor dem Druck den nächsten Sachverständigen, den Kon¬
servatoren und Provinzialkonservatoren, den Musennis-
direktoren, den Vorsitzenden der Geschichts- und Alter¬
tumsvereine, den zuständigen Lokalhistorikern und mög¬
lichst auch bei noch nicht inventarisierten Orten den
Geistlichen usw. zugestellt würden (was bisher nur in
sehr bescheidenem Umfang geschehen ist). Das gibt
natürlich eine nicht geringe Arbeit mit der Schere und
einen ziemlich ausgedehnten Briefwechsel — es ist aber
dasselbe, was der Verfasser eines jeden Gelehrten¬
lexikons, eines jeden Kunsthandbuchs, überhaupt einer
jeden statistischen Arbeit leisten muß. Zuletzt ist das
zum größten Teil Sekretärarbeit. Ich bin überzeugt, daß
alle Fachgenossen mit Vergnügen sich an einer solchen
Durchsicht beteiligen würden. Für die Beamten der Denk¬
malpflege, die ihre Denkmäler einigermaßen auswendig
kennen müssen, ist diese Arbeit gar nicht so groß und
ungeheuerlich.
ln der Absteckung der Grenzen, in der Zuweisung
des Raumes möchte man wohl einzelnes noch geändert
wissen. Der Titel verheißt ein Handbuch der deutschen
Kunstdenkmäler, und der Autor erklärt in der Vorrede,
daß aus diesem Grunde die große Masse der Wehrbauten
für das Handbuch nur sekundäre Bedeutung habe — inso¬
fern sie Kunstformen aufweisen, seien sie genauer be¬
schrieben, sonst nur kurz genannt. Ich halte das im Prinzip
für unrichtig. Dieser Grundsatz läßt eine wirkliche Wür¬
digung der Wehrbauten gar nicht zu. Die Entwickelung
des Typus läßt sich nur geben, wenn zunächst von den
Schnmekformen abgesehen wird. Das architektonisch
Wertvolle und Wichtige liegt bei den Wehrbauten zunächst
in der Gesamtdisposition, in Grundriß und Aufbau — und
hierin liegt auch für die ganze Gattung das Künstlerische.
Nun ist freilich die knappe Beschreibung einer Burgruine
eine der schwierigsten Aufgaben für den Inventarisator.
Es gibt kein Schema wie bei den Kirchenbauten. Dazu
ist die Sonderling der Bauzeiten ohne eingehende Unter¬
suchung oft ganz unmöglich. Aber Angaben wie Haber¬
burg. Burgruine sehr zerstört — Hallenberg. Burgruine. Bis
1518 vom Graf von Henneberg bewohnt. — Hanstein.
Burgruine, im ganzen gut erhalten und zum Teil ausgebaut.
— Reichelsburg. Burgruine — Stolberg. Schloßruine, wenig
erhalten — bieten doch zu wenig und vor allem nichts
Positives. Hier dürfte etwas größere Breite nichts schaden.
Dafür ist der Autor in den größeren Städten in der
Aufzählung der kirchlichen Denkmäler etwas weit gegangen.
In Bamberg und Würzburg z. B. sind auch alle kleinen
Klosteranlagen genannt, auch die umgebauteu und profa¬
nierten. Auch abgebrochene Gebäude aufzuzählen ist
sicher nicht der Zweck des Handbuchs, es sei denn, daß
DAS NEUE HANDBUCH DER DEUTSCHEN KUNSTDENKMÄLER
51
sie erst in jüngster Zeit beseitigt wären und daß man
annehmen könnte, es würde jemand, der sie etwa im
Reiseführer oder in jüngerer kunstgeschiclitlicher Literatur
aufgezählt fände, nach ihnen suchen. Dafür möchte man
in größeren Städten gern wissen, in welchen Straßen
solche kleine Anlagen zu finden sind, zumal wenn sie jetzt
ganz anderem Zweck dienen und den Ortseingesessenen
unter den alten Namen gar nicht bekannt sind (so Bamberg,
Clarissenkloster, gegen 1341, profaniert).
Gegenüber dem verhältnismäßig breiten Raume, der
den Werken der Architektur und der Großplastik gewidmet
ist, ist den Werken der Kleinkunst kaum ein Wort gegönnt.
Der Schatzkammer in Bamberg sind genau vier Zeilen
gewidmet; die einzelnen Stücke sind nur genannt, ohne
weitere Charakterisierung, die wichtigsten, die ganz un¬
schätzbaren und fast ohne Parallele dastehenden Paramente
sind überhaupt nicht erwähnt. Kunstgeschichtlich ist diese
Sammlung in der Bamberger Schatzkammer wichtiger als
ein paar Dutzend von den Durchschnittskirchen aus Mittel¬
deutschland. Hier bietet Lotz eigentlich viel mehr. Aus
dem Kirchenschatz zu Fritzlar werden nur ein Tragaltärchen
(soll heißen; Reliquientafel) und die Altarleuchter genannt.
Dann heißt es »auch sonst noch im Kirchenschatz manche
bemerkenswerte Stücke (darunter ist z. B. das kostbare
ottonische Altarkreuz). Der Würzburger Domschatz ist
überhaupt nicht genannt.
Nach dem im Vorwort aufgestellten Programm soll
von den Werken der Bildnerei und Malerei unberück¬
sichtigt bleiben, was in Museen und Privatsammhmgen
aufbewahrt wird; aufgenonnnen ist nur, was zum Schmuck
und zum Mobiliar der beschriebenen Baudenkmäler gehört.
Daß die Galerien in Dresden und Kassel nicht aufgeführt
werden, ist in der Ordnung; die sucht man zunächst nicht
in diesem Handbuch — sie haben vor allem ihre allgemein
zugänglichen Kataloge. Etwas anderes ist es mit den
kleinen Kunstsammlungen in Aschaffenburg, Würzburg,
Bamberg, Gotha, Pommersfelden, Coburg, Jena, Altenburg.
Hier ist man, auch wenn der Reiseführer das Nötige ent¬
hält (was er nur in wenigen Fällen tut), doch in dem
Kunsthandbuch für einen Hinweis dankbar, der nicht viel
mehr als eine kurze Charakteristik der Sammlung mit An¬
gabe ihrer Abteilungen zu enthalten braucht. Bei der
Veste Coburg sind die Sammlungen in dieser Weise ge¬
nannt — warum nicht auch sonst? Bei Pommersfelden
ist erwähnt; »Unter den übrigen Räumen ist das Vor¬
handensein einer Galerie für Gemälde bemerkenswert«.
Warum nicht auch die heutige bedeutende Gemälde¬
sammlung genannt, warum nur der Raum?
Wie dankbar waren wir früher Lotz für seinen Hinweis
auf Bilderhandschriften. Die sind in dem neuen Handbuch
gänzlich unter den Tisch gefallen. Dazu handelt es sich
in Würzburg, Bamberg, Aschaffenburg, Gotha doch um
Kunstdenkmäler ersten Ranges, ohne die die deutsche
Kunstgeschichte gar nicht denkbar ist. Die Angabe kann
hier die knappeste sein — eine halbe Seite würde für
Bamberg vollauf genügen. Es ist natürlich hier wieder
schwer, die Grenze zu ziehen; Wie soll man es dann mit
den Bibliotheken von München und Berlin halten? Ich
meine nur, man könnte auch hier die Gattungen charak¬
terisieren. Das Heftchen ist jetzt durchaus nicht zu stark.
Man möchte eher größere Breite als weitere Einschränkung
wünschen. Ein Bogen mehr — und man könnte alle diese
Wünsche erfüllen, einer großen Reihe von Benutzern
schätzenswerte Dienste leisten, den inneren Wert des
Büchleins erhöhen, ohne es irgendwie zu belasten.
Es gab für das Handbuch zwei Pole und zwei Vor¬
bilder; die trockene von künstlerischer Einschätzung völlig
absehende sachliche Nüchternheit von Lotz und die sub¬
jektive temperamentvolle Kritik von Burckhardt. Dehio
hat sich mehr dem höchst persönlichen Ton des Cicerone
genähert. Dies stark subjektive Element mag man nicht
missen — es gibt den Schilderungen einen besonderen
Reiz, gelegentlich hat die Charakteristn.: eine fast epi¬
grammatische Kürze. In dieser unmittelbaren Verknüpfung
der Beschreibung mit der Kritik liegt ein ganz bestimmter
Vorzug; hier ist für ähnliche Charakteristiken zugleich ein
sprachliches Vorbild aufgestellt. In der Schilderung der
Flauptbauten liegt auch die wertvollste wissenschaftliche
Arbeit; man lese, was der Autor über Arnstadt, Bamberg,
Marburg, Meißen, Würzburg sagt. Ganz vortrefflich ist
auch die eindringliche Charakteristik der Skulpturen von
Bamberg, Naumburg, Ereiberg, Wechselburg. Den zufällig
gerade jetzt die kunsthistorische Republik bewegenden
Streitfragen ist vielleicht hier etwas zu viel Beachtung ge¬
schenkt — in zehn Jahren werden nach diesen bescheidenen
Kohlensäureausscheidungen andere Stürme sich in dem
Wasserglase — ach leider nur Wasserglase — aus dem
wir schlürfen, vollziehen.
Ob ein solches Flandbuch, dessen Grundstock etwas
Dauerndes bleiben soll, Verdikte bringen darf, die allzusehr
den Stempel der Kunstanschauung vom Jahr 1Q05 tragen,
wage ich zu bezweifeln. So wenn die Außenarchitektur
von Banz abstoßend genannt wird, wenn dem Meister
Neuniann in Vierzehnheiligen schwere Eehler vorgerechnet
werden, durch die er sein eigenes Werk gestört hat, die
ganz entsetzliche Gestalt der Nebenräume, die unentrinnbar
störenden Eenstereinschnitte. Solche richtende Kritik übte
Burckhardt ja auch. Aber gerade das erscheint uns als
das Unfreie, zeitlich Gebundene bei ihm. Und endlich
darf diese geistreiche und pointierte Charakteristik nicht
auf Kosten der eindeutigen sachlichen Beschreibung er¬
folgen. In jedem Fall verlangt man zuerst zu wissen,
welche Gestalt, welchen Grundriß, auch welche Größe
der Bau hat. Die Beschreibung der Eremitage in Bayreuth
beginnt mit den Worten; »Eür bestimmte Seiten der Kultur
des 18. Jahrhunderts eine Illustration von kostbarer Un¬
mittelbarkeit; weniges dergleichen hat sich so gut erhalten.
Begonnen von Georg Wilhelm ca. 1720. Eine mit
pedantischem Ernst durchgeführte Maskerade . . .« Von
dem Fasanerieschloß in Moritzburg, von dem Schloß
Wilhehnshöhe erhalten wir wohl eine künstlerische Cha¬
rakteristik, aber gar keine Beschreibung. Den Gartenan¬
lagen möchte man gern mehr Beachtung geschenkt wissen,
sie werden ja ganz im allgemeinen viel zu stiefmütterlich
der Architektur gegenüber behandelt — und den großen
Planschöpfern des 17. und 18. Jahrhunderts waren s/^ doch
die Hauptsache, die Schlösser nur ein Moment in dieser
großartigen Komposition; der Park von Wilhelmshöhe ist
hier ein Kunstwerk ersten Ranges. Wie wenig gibt eine
Beschreibung des Parks von Sanspareil in Bayreuth Park
mit allerlei Grottenarchitektur, Naturtheater usw., Reflex
von Fenelons Telemach in vollem Verfall«. Dabei gehören
im übrigen die Schilderungen der Anlagen des Barock und
des Rokoko, von Vierzehnheiligen und von Würzburg, von
Dresden und von Bayreuth gerade zu den feinsten und
anmutigsten Partien des Buches. Den persönlichen Ton
an sich möchte ich gewiß nicht ausschalten und ich gestehe
gern, daß ich lieber im Bayle und in Diderot und d’Alemberts
Encyclopedie nachlese als im Brockhaus und im Meyer.
Diese kleinen Bedenken sollen nicht kleinlich er¬
scheinen. Sie wollen den Wert des Buches und der darin
geleisteten erstaunlichen Arbeit nicht herabsetzen. Sie
möchten aber helfen, daß die künftigen Bände noch inten¬
siver den Bedürfnissen all der verschiedenen Benutzer ge¬
recht würden — und sie möchten die fruchtbare Mitarbeit
aller Fachgenossen hierzu anrufen.
DAS Nf.ÜE HANDBUCH DER DEUTSCHEN KUNSTDENKMÄLER — LITERATUR
as die \ erlagsbiiclihandluiig zu dem Buche geleistet
l;.u. i-n. «i;ch erstaunlich, aber nach der Seite der Geschinack-
Die einfachsten Grundsätze einer anständigen
'riiLi.inordnimg scheinen der Druckerei noch verborgen
gcvecsen zu sein. Verscliiedene Typengattungen, schlecht
verteilt, Unsicherheit in der Schreibart (Innentitel : Deutsch,
Auhentitel: deutsch), Interpunktion am falschen Platze.
Die geschmacklos an Stelle des Schmutztitels dem Titel¬
blatt vorgestellte Karte ist jämmerlich. Der Einband ist
miserabel, das Leinen des Rückens reißt bei der geringsten
Strapazierung des Büchleins, das man doch dauernd in der
Tasche führen soll, sofort durch. Als Vorsatzpapier ist
das billigste graue Klosettpapier verwandt. Die äußere
Einbanddecke huldigt allzu geflissentlich einer wahren
Zisterzienseraskese. Bescheidenheit ist ja eine gute Sache,
aber man darf sie nicht mißbrauchen. Paul ciemcn.
Das Schloß zu Aschaffenburg. Von Dr. phil. Otto Schulze-
Kolbitz. (Studien zur deutschen Kunstgeschichte. Heft 65.)
J. H. Heitz. (Heitz & Mündel.) Straßburg 1905.
Die eingehende Studie stellt die Baugeschichte des
Aschaffenburger Schlosses an Hand urkundlichen Materiales,
alter Abbildungen und Eorschungen am Bau selbst fest
und berichtigt auch namentlich die seitherige Vorstellung
über den Standort des sogenannten »alten Schlosses« (den
Interimsbau). Entsprechend den drei wesentlichsten Bau¬
perioden schildert Verfasser das alte Schloß (bis 1552),
den Notbau (sogenanntes »altes Schloß«) von 1556 bis
1606, endlich den Neubau, das berühmte Werk Meister
Ridingers, wie es jetzt noch vor uns steht. Dieser letzte
Teil des Buches ist übersichtlich gegliedert, nach Bauherr
und Bauveranlassung, Wiedergabe vorhandener Urkunden
und Abbildungen, endlich Beschreibung des vorhandenen
Baues selbst. Im Anhang sind Auszüge aus Urkunden,
Reisehandbüchern, topographischen und geographischen
Werken, sowie ein Verzeichnis der Münzen mit Abbildungen
des Schlosses zusammengestellt.
Wie der Verfasser nunmehr festgestellt hat, stand das
älteste Schloß an gleicher Stelle wie das jetzige; sein ein¬
ziger Überrest, der schon 1337 errichtete Streitturm, wurde
in den Neubau Ridingers einbezogen. Eine Zeichnung
Veit Hirsvogels des Jüngeren, deren Entstehung in die
Jahre 1530 bis 1540 zu setzen ist, gibt uns das Aussehen
des malerisch gruppierten ältesten Baues wieder. 1552
wird er auf Geheiß des Markgrafen Albrecht von Branden¬
burg-Kulmbach geplündert und aus Übermut in Brand ge¬
steckt. 1566 sah der Graf von Zimmern die traurigen
Reste und verwünscht den Urheber dieser Greuel.
In der folgenden Zeit wird der verloren gegangene Bau
ersetzt durch Adaptierung kleinerer in der Nähe liegender
Nebengebäude und Wohnhäuser, die bei Merian wie in
dem Prospekte Ridingers als »altes Schloß« bezeichnet sind.
Nach der Wahl des Erzbischofs Schweickhardt von
Kronenborg 1604 zum Kurfürsten ändert sich dieser Zu¬
stand. 1605 wird mit dem Neubau begonnen, der am
17. Eebruar 1614 bezogen wird, nachdem, wie Ridinger
schreibt, der »jämmerliche Anblick des Trümmerhaufens«
endlich vernichtet und die Erzbischöfe nunmehr wieder
eine würdige Residenz haben, nachdem sie sich »mit ihrer
Hofhaltung außerhalb in einem geringen Werk hatten auf¬
halten müssen«. Die Interimsbauten selbst, 1673 teilweise
verbrannt, werden 1783 von Fürstbischof Friedrich Karl
von Erthal gänzlich abgerissen. Von dem neuen Schlo߬
bau sind eine größere Anzahl alter Abbildungeu erhalten
am wertvollsten aber ist die vom Architekten des Baues
selbst verfaßte Monographie, die als ein hochinteressantes
literarisches Denkmal zur Baugeschichte des 17. Jahrhunderts
bezeichnet werden darf. Ridingers Vorwort enthält eine
Reihe auch für unsere Verhältnisse höchst beherzigens¬
werter Winke. Er betont mit Recht, daß zur Ausführung
nicht nur gute Pläne, sondern auch tüchtig geschulte Hand¬
werker vonnöten sind. Als begeisterter und selbstloser
Künstler will er durch sein Werk auch jungen Handwerks¬
leuten Nutzen bringen, es soll dartun, daß »ein sinnreicher
Gesell nicht allein bei dem Klüpfel und Eisen soll bleiben
lassen, sondern er muß sich auch befleißigen, die rechten
architektonischen Fundamente zu erlernen, wozu auch in¬
sonderheit die Kunst der Perspektive und Optik gehören«.
Auch darin war Ridinger ein großer Meister, er sieht seinen
Lebenszweck auch in der Hebung des Handwerkstandes.
Es ist dankbar zu begrüßen, daß Verfasser die Grund¬
risse nach Ridingers Werk wiedergegeben hat, wir lernen
hierdurch nicht nur den Bau in seiner ursprünglich ge¬
planten Fassung kennen, sondern auch die vom Meister
teilweise durchgeführte Art der perspektivischen Darstellung
der Grundrisse. Ridinger schneidet z. B. das Erdgeschoß
dicht unterhalb der Decke und stellt es sodann aus der
Vogelschau gesehen dar, so daß man von oben in die
Räume hineinsieht und sich über alle Einzelheiten leicht
orientieren kann, eine namentlich auch für Laien höchst
instruktive Darstellungsweise.
Die Hauptrechnung der Jahre 1605 bis 1618 hat sich
glücklicherweise erhalten. Sie berichtet uns, daß das ge¬
waltige Werk die Summe von 901 771 fl. verschlungen hat,
die damals üblichen Frondienste nicht gerechnet. Als
Bruchort des Sandsteinmateriales nennt ein Wochenlohn¬
zettel Obernburg und Miltenberg.
Von jüngeren Quellen interessiert namentlich das Reise¬
tagebuch des Monsieur de Monconys, Conseilhr du Roy
en ses conseils d’Estat von 1675, das den plastischen
Schmuck des Kaisersaales sehr rühmt (le plat-fond est
d’assez beau bas relief de plastre). Leider wurde dieser
schöne Saal durch den Umbau des 18. Jahrhunderts ver¬
nichtet. Die bei Ridinger dargestellte Dachkonstruktion
vermissen wir leider unter den beigegebenen Abbildungen,
sie wäre im Interesse der historischen Architektur erwünscht
gewesen.
Ridingers eigenartige Wiedergabe plastischen Schmuckes
durch perspektivische Darstellung in sogenannten geraden
Ansichten geht aus der Giebelzeichnung Tafel 14 hervor.
Die Baubeschreibung selbst läßt sich hier im Auszuge
ohne gleichzeitige Beigabe von Zeichnungen kaum schildern,
erwähnt seien die großen Futtermauerkonstruktionen, die
teilweise zur Anlage großer Terrassen am Mainufer ent¬
lang dienten. Der gewaltige Bau wurde rasch gefördert,
so z. B. das Kellergeschoß in einem Jahre vollendet.
Für die Künstlergeschichte des 17. Jahrhunderts ist von
Wert die Feststellung des Urhebers der Skulpturen der
Schloßkapelle, als welchen die Baurechnung des Jahres
1618 den Bildhauer Hans Juncker nennt. Dem Verfasser
ist es gelungen, den teilweise recht spröden Stoff geschickt
und anregend zu behandeln, für die Benutzung des Buches
in Architektenkreisen wäre die Wiedergabe einer Anzahl
Maßaufnahmen als Textabbildungen eine wertvolle Be¬
reicherung gewesen. Adolf Zeller.
Herausgeber und verantwortliche Redaktion: E. A. Seemann, Leipzig, Querstraße 13
Druck von Ernst Hedrich Nachf., g. m. b. h., Leipzig
ZEITSCHRIFT FÜR BILDENDE KUNST 1Q06
ORIOINALRADIERUNO VON HEKMINE LAUKOTA
9
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1
Zeitscfirift für brfdende Xunsf 1906
^tefierhesucß
Qemäfde von J2)eo
LEO PUTZ
BIEDEFiMEIER
LEO PUTZ
Von Wilhelm Michel
Der Name Putz weckt die Erinnerung an sonnige
Blumenbeete, tiefgrüne Baumschatten, an
flirrende Seidenstoffe und anblühendeMädchen-
körper, deren zarte Haut im köstlichen Email schimmert.
Er weckt die Erinnerung an strahlende Farbenfeste,
die der Gottheit des Lichtes zu Ehren gefeiert wurden.
Freilich spielt das Licht in jedem Kunstwerk eine
bestimmte Rolle, da es ja erst Farben und Formen
aus der Nacht hervorruft. Putz aber gehört zu jenen
Künstlern, bei denen die rein sinnliche Erscheinung
und Wirkung des Lichtes und der Farbe die In¬
spiration auslöst. Das Licht ist der alleinige Held
all der Idyllen, Epen und Tragödien, die ihr Pinsel
vor uns entstehen läßt, und sie machen sich zu
Herolden seiner tausendgestaltigen Taten. Ihre Werke
haben als hauptsächlichen Vorzug immer den, daß
sie das Licht bei einer besonders eindrucksvollen
Leistung zeigen.
Bei Leo Putz, dem in München schaffenden Tiroler,
läßt sich eine Entwickelung von der gegenständlichen
zur Lichtmalerei genau verfolgen. Er begann mit
Werken, deren Wesen noch von allerhand Gedank¬
lichem durchdrungem war. Er malte das Triptychon
vom Gestiefelten Kater, er konzipierte einen großen,
pathetischen Gedanken in dem nicht zur Ausführung
gediehenen Figurenbilde »Vom Tode zum Leben«,
er brachte uns gar eine gewaltige Tafel mit dem
Zeitschrift für bildende Kunst. N F. XVIII H, 3
moralisierenden Titel »Vanitas«, die er heute mit
Recht zu seinen Jugendsünden zählt.
An sich betrachtet, tut es freilich einem Bilde keinen
Eintrag, wenn es außer den Sinnen auch den Intellekt
aufruft als Empfangsstelle der symbolischen Gedanken¬
inhalte, die sich in seine Linien und Farben hinein¬
geschlichen haben. Aber die Erfahrung lehrt, daß
diese Bedeutungsvorstellungen im Schaffen jugend¬
licher Künstler fast stets einen Irrtum und eine
Hemmung bedeuten.
Der Jüngling ist seinem Wesen nach Idealist und
Dualist. Seine Sinne sind unreif und undiszipliniert,
und deshalb erscheint ihm die Wirklichkeit als das
Reich des Unzulänglichen und Unfertigen, in welchem
die geistigen Werte, an denen sein Herz hängt, nur
eine sehr mangelhafte Ausprägung finden. Er zieht
also zwischen Geist und Erscheinung, zwischen Seele
und Körper eine scharfe Trennungslinie. Da er aber
begriffen hat, daß die Kunst darauf ausgeht. Seelisches
auszudrücken, wird seine Kunst eine symbolistische in
des Wortes weiterer Bedeutung. Aber mit dem heran¬
nahenden Mannesalter wächst die Stärke und der
Reichtum seiner sinnlichen Erlebnisse. Der ganze
Mensch nimmt daran Teil, alles, was an Lebenskraft
in ihm ist, wird bei der Aufnahme und Vertiefung
äußerer Eindrücke wirksam. Erst der Mann kommt
in die Lage, mit Goethe die »glücklichen Augen«
8
LEO PUTZ
iMU alles zu preisen, was je sie gesehen. Und er er¬
kennt, daß diejenige Kunst die »seelenhafteste<' ist,
die von den stärksten Sinneserlebnissen zehrt. Den
gedanklichen Gehalt, die absichtlich eingeführten Be¬
deutungsvorstellungen lernt er als entbehrliches, unter
Llmständen sogar schädliches Beiwerk einschätzen.
So ist auch Leo Putz zu immer einfacheren Gegen¬
ständen gekommen, je mehr sich die Kraft seiner
malerischen Anschauung, seine Fähigkeit zu optischen
Erlebnissen entwickelte. In seinen kräftigen, guten
Sinnen hat er das Kapital erkannt, von dem seine
Kunst zu zehren hat. So konnte es kommen, daß
Fanfaren der vollen Sonnenglut sind schön und be¬
rauschend, aber auch die sanften Flötentöne des zer¬
streuten Tageslichtes sind Musik, nicht so reich
orchestriert, dafür jedoch intimer und innerhalb eines
geringeren Umfanges delikater harmonisiert.
ln zahlreichen Interieurs und Stilleben hat Leo
Putz dieses Binnenlicht verherrlicht. Die zitternden
Farbtöne scheinen hier wie leichte bunte Schmetter¬
linge über den Dingen zu schweben. In klösterlicher
Abgeschiedenheit stehen die Dinge da, und man
spürt aus ihnen einen Anhauch von Keuschheit und
leidenschaftsloser Ruhe. Sind es auch nur zierliche
LEO PUTZ
die großen modernen Virtuosen des Sehens, vor allem
Manet, auf ihn Einfluß gewannen und daß die Taten
des Lichtes zum alleinigen Gegenstände seines künst¬
lerischen Bemühens wurden.
Er liebt über alles die Sonne, die heiß auf bunten
Tulpen- und Cynienbeeten liegt, die ihre zitternden
Kringeln auf duftige Kleiderstoffe malt und bei der
Berührung mit der durchsichtigen Haut eines Frauen¬
körpers einen sachten, blassen Blutschein annimmt.
Aber ebenso sehr wie die Sonne liebt er das fromme,
tote Binnenlicht, das kühl und rein über den Gegen¬
ständen einer stillen Stube liegt und für dessen ver¬
schwiegene Reize gerade moderne Nerven eine so
hohe Empfänglichkeit besitzen. Die jauchzenden
BABETTE
weiße Teetassen oder wie z. B. in dem »Grauen Kleid«
achtlos verstreute Kleidungsstücke, an denen der
Künstler die Wirkungen des Binnenlichtes demonstriert,
man wird vor ihnen doch in eine seltsame Rührung
versetzt, in eine Stimmung voll sanfter Schwermut
und schmerzloser Entsagung. Wenn man in einen
stillen, klaren Teich hinabsieht und drunten die selt¬
sam entrückte, verzauberte Welt von Pflanzen, Steinen
und verfärbten Holzstücken betrachtet, erlebt man
ähnliches an dumpfen Rührungen und vagen Sehn¬
süchten. Manche Interieurs von Putz sind so gemalt,
als erfülle den Raum eine blanke, klare Wasserflut,
in der das Licht ertrinkt und alle Farben ruhig und
stille werden. Die tiefe lyrische Wirkung dieser Be-
LEO PUTZ
55
leuchtung kann als vortrefflicher Beleg dafür gelten,
wieviel an »Seele« das Resultat einer reinen sinn¬
lichen Beobachtung enthalten kann.
Dieselbe wundervolle Ruhe des Lichtes wie die
Interieurs weisen übrigens auch einige Freilichtarbeiten
des Künstlers auf. Sie haben jenes stumpfe, zerstreute
Licht, das zur Herbstzeit nicht selten unsere Augen
labt und das zumal den Münchenern von der Künstler¬
laune des heimischen Himmels oft genug beschert
wird. Ich möchte hierher auch das Gemälde »Spät¬
sommer« rechnen. Eine wehmütige, verspätete Sonne
liegt über dem weißen Oartentisch und der Frauen¬
gestalt, die mit einem Ausdruck leiser Müdigkeit und
eines grundlosen Herbst Verdrusses zur Seite blickt.
all das hat er wieder und wieder erlebt und mit
überzeugenden Mitteln verdolmefscLt, Mit einem
Temperament, das an Rubens denken läßt, hat er
besonders die derben Reize draller .Münchener Mägd¬
lein geschildert, deren blondes Fleisch Mdi in üppigen
lebenslustigen Formen entfaltet. Einen feineren Typus
stellt sein »Atelierbesuch« dar, und auch ihm ist er
in vollem Maße gerecht geworden. Hat er doch
schon durch seine Rokokobilder, besonders die be¬
rühmte »Begegnung« dargetan, daß ihm ein ausge¬
prägter Sinn für die Eleganz der Bewegung und die
Zierlichkeit der Formen innewohnt. Das feinste
Meißener Porzellanfigürchen steht nicht pikanter und
libellenhafter da als die artige, hochfrisierte Rokoko-
LEO PUTZ
Das zaghafte, halb verschleierte Licht hebt sogar die
toten Gegenstände, Kaffeegeschirr und Obstkörb¬
chen, mit einer unnachahmlichen, preziösen Be¬
tonung hervor.
Die bedeutendste, nuancierteste Leistung des Lichtes,
die wir kennen, ist die formale und koloristische
Herausarbeitung des nackten menschlichen Körpers.
Kein Wunder, daß Leo Putz von diesem Problem
am nachhaltigsten gereizt wurde, ln der Schilderung
des nackten weiblichen Körpers hat er es heute schon
zu einer Meisterschaft gebracht, die wohl von keinem
zeitgenössischen Maler Deutschlands übertroffen wird.
Den sensationellen Farbenreiz der nackten Haut, ihre
einzig dastehende stoffliche Eigenart, das animalische
Leben, das ihre empfindlichen Flächen stets verändert,
den leuchtenden Flimmer, der ihre Kontur umgibt.
IMMENSEE
Sylphide, der hier ein skurriler Verehrer des schwachen
und ach! so schönen Geschlechtes inbrünstig das
Händchen küßt.
Der Geist einer Kunst bestimmt ihre Technik.
Ja, man kann wohl sagen, daß er mit ihr identisch
ist. Wenn wir trotzdem für beides verschiedene Namen
haben, so entspringt dies nur aus einem Wechsel des
Standpunktes. Die Sache aber bleibt dieselbe und
bewahrt ihre Einheitlichkeit.
Putzens Lichtanschauung ist ohne den breiten,
weichen Strich seines Pinsels nicht denkbar. Wer
das Licht so sieht wie Putz, der wird zu seinen
Mitteln greifen müssen, um es darzustellen, wie
vor ihm Manet und Trübner zu ähnlichen Mitteln
gelangt sind.
Auf diesem Pinselstrich beruht einerseits Putzens
8
LEO PUTZ
LEO PUTZ
großzügige, lockere Formbehandlung, andererseits die
beispiellose Reinheit seiner Pigmente. Bis in die
tiefsten Schatten partien hinein erklingen bei ihm stets
sonore, wohllautende Töne, die nicht die mindeste
Trübung befleckt. Rein und voll rauschen seine
Harmonien daher, vergleichbar der überwältigenden,
glockenklaren Melodie Mozarts. Ihr schwelgendes
Dahinfluten wird von keiner Dissonanz gehemmt;
die verwendet Putz nicht einmal als Kunstmittel.
Seinem harmonischen, unproblematischen Gemüt ent¬
steigen nur ebenmäßige, voll erblühte Farbengestalten.
Er überschüttet uns mit einer verschwenderischen
Fülle von optischem Wohllaut, in dessen Genuß wir
zu harmlosen, glücklichen Kindern werden.
Putz steht heute im siebenunddreißigsten Lebens¬
jahre. Das sonnige, schöne Meran ist seine Heimat,
und ihr verdankt seine Natur die reichen Schätze an
Temperament und sinnlicher Tüchtigkeit. München
und Paris haben den Künstler in ihm gebildet, und
SPÄTSOMMER
heute zählt er mit Frier und Eichler zu den ersten
der »Scholle«. Seine große Kollektivausstellung, die
dieses Jahr in den Räumen des Braklschen Kunst¬
salons in München stattfand, war ein Ereignis, das
den Besuchern nicht sobald aus dem Gedächtnis ver¬
schwinden wird.
Zur abschließenden Kennzeichnung seines Wesens
kann ich nur ein Wort wiederholen, welches bei
dieser Gelegenheit niedergeschrieben wurde: Aus dem
Glück der Sinne geboren, bringt seine Kunst dieses
Glück wieder im Genießenden hervor: ein kindliches,
sonniges, animalisches, aber deshalb nicht weniger
tiefes und echtes Glück. Putz ist Gegenwarts- und
Diesseitsmensch mit allen seinen Instinkten. Seine
Kunst steht mit beiden Füßen auf der Erde. Bei aller
Kultur ist sie vollwangig, fast robust, von keinem
Gedanken angekränkelt, voll halkyonischer Heiterkeit,
und stammt aus einem Lande, wo ewig die Sonne
scheint.
LEO PUTZ
FREILICHTSTUDIE
LEO PUTZ
MERANER SALTNER
ZEICHNUNG VON Al EXANDF^E BENOIS
ZWEI JAHRHUNDERTE RUSSISCHER KUNST
Von Igor Grabar in Moskau
BIS vor kurzem kannte Europa nur vereinzelte
russische Künstler: Werestschagin und Anto-
kolski von den Älteren, Somov und Maliawin
von den Jüngeren — waren die wenigen Namen,
welche bisher den westeuropäischen Künstlerkreisen
geläufig waren. Die große russische Ausstellung,
die im Pariser Salon d’Automne Gastfreundschaft ge¬
noß, und heuer zum großen Teil in die Säle von
Schuhes Kunstsalon nach Berlin übersiedelt, bietet
zum erstenmal Gelegenheit, einen Blick in die Ent¬
wicklungsgeschichte russischer Kunst zu werfen. Das
meiste von dem hier Ausgestellten war für Paris ein
vollkommenes Neuland. Es kam so unerwartet, daß
der Ausdruck »revelation — Offenbarung — zum
geflügelten Wort wurde und wohl ebenso oft in den
Kritiken zu lesen war, wie es die Gefühle des Pu¬
blikums in den Ausstellungssälen zum Ausdruck
brachte.
Schon der Umstand, daß trotz dem Krachen der
Bomben und dem Geknatter der Gewehrsalven
beim blutigen Scheine der Riesenbrände ein Häuf¬
chen in die Schönheit verliebter Phantasten Kunst¬
schätze sammelte, ja sogar die Willenskraft hatte,
selbst zu arbeiten - allein dies schon mußte bei
den westeuropäischen Künstlern Sympathien für ihre
östlichen Kollegen erwecken.
Der Anreger und Hauptveranstalter der Ausstellung,
Sergei Diagilev, ist eine der bedeutendsten Erscheinungen
in der modernen russischen Kunst. Dieser mit feinem
Geschmack und eiserner Energie begabte Mensch hat
es verstanden, alles Neue und Lebensvolle in der
russischen Kunst um sich zu scharen. Er gründete
vor acht Jahren die Zeitschrift »Mir Iskusstwa«, welche
nicht bloß das Organ der jungen bildenden Kunst
wurde, sondern auch den bahnbrechenden philoso¬
phischen Theorien Mereschkovskis und Rosanovs Platz
gab, wie auch die Dichtungen Briussovs, Baimonts,
W. Iwanovs und Andrei Bielys brachte. Dieser
Kraftmensch stellte sich eine Riesenaufgabe. Er durch¬
querte Rußland und verschaffte sich Eingang in alle
Gutshäuser und Gehöfte, wo er nur die Anwesenheit
von Kunstwerken vermuten konnte. Ehe es zu spät
war und alles vom Feuer vernichtet, oder die gerade¬
zu verbrecherische Nachlässigkeit sich in Mode ver¬
wandelt hatte, sammelte er, was er konnte, registrierte
und photographierte es für die kommenden Geschlechter.
Und nicht bloß Rußland hat er einen Dienst erwiesen:
auch Frankreich, Italien, Schweden und Deutschland
sind ihm zu Dank verpflichtet. Mehr als einen von
den besten Künstlern dieser Länder rettete er in des
Wortes ureigenster Bedeutung. Ein Porträt Roslins,
vielleicht das beste dieses Zauberers des i8. Jahr¬
hunderts, fand Diagilev in der verfallenen Badestube
eines alten Magnatensitzes. Vieles fand er auf Speichern,
in Kellern, buchstäblich unter Haufen von Moder und
Fäulnis und entriß es der völligen Vernichtung.
Dank diesen, zu unserer Schande müssen wir es ge¬
stehen, »Ausgrabungen« könnte vieles in der Kunst
des i8. Jahrhunderts von einem neuen Standpunkte
aus betrachtet werden. Eben dieser Roslin, bisher
ein zweitklassiger Maler nach den wenigen Porträts
in Versailles und im Louvre, erscheint jetzt als einer
der größten Porträtisten.
Überhaupt leben wir in einer sehr eigenartigen
ZWEI JAHRHUNDERTE RUSSISCHER KUNST
59
Zeit. Nach einer Reihe von künstlerischen Epochen
von sehr engen Sympathien verstanden wir es, unser
künstlerisches Empfinden fort bis ins Unendliche zu
erweitern. Zweifellos sind wir in unserer Vielseitig¬
keit so weit, daß sich in unserem Herzen die un¬
glaublichsten Gegensätze nebeneinander vertragen:
Albrecht Dürer und Claude Monet, Zurbaran und
Beardsley, Claude Lorrain und Van Gogh, Palestrina
und Richard Strauß. Oder solche Trios in einem
Atem ausgesprochen: Dante-Tolstoi-Wilde; Donatello-
Canova-Maillol. ja sogar Canova, denn auch ihn
haben wir längst aufgehört zu verachten; mehr noch,
wir lieben ihn. Wir lieben sogar die Bologneser, nicht
wahr, ein nettes Geständnis; noch vor kurzem wurden
sie als der Ausbund der Banalität und Hohlheit be¬
trachtet. Wir lieben auch die polierten Landschaften,
welche noch unsere Väter außer sich brachten —
nicht unsere Großeltern, die vergossen Tränen der
Rührung bei ihrem Anblick. Uns entzücken Porträts,
welche noch unlängst mit dem vernichtenden Worte
Kitsch gebrandmarkt wurden. Vor Ingres erschauern
wir, Waldmüller charmiert uns, Kaspar Eriedrich rührt
die heimlichsten Saiten unseres Herzens, ja sogar
Winterhalter läßt uns nicht gleichgültig und erweist
sich als braver Meister. Nachdem wir gänzlich un¬
fähig geworden waren, den verleierten Syrop italie¬
nischer Melodien zu ertragen und nur noch Wagner
zu goutieren vermochten, und auch da nur von der
allerletzten Periode, — beginnen wir plötzlich für
Gluck zu schwärmen und man könnte jede Wette
eingehen, daß es nicht lange mehr dauert und wir
erleben auch eine Restauration der vielgeschmähten
italienischen Musik. Und wer weiß, ob nicht der
alte Verdi uns noch einige Überraschungen aus dem
Jenseits bereitet. Vom Halbgott Delibes schon gar-
nicht zu reden, sein Platz ist unter den ganz Großen.
Solche Umwertungen vollziehen sich bald plötzlich
und unerwartet, bald sind sie das Ergebnis lang¬
jährigen Grübelns und Suchens. So auf der Hundert¬
jahrausstellung in Paris, wo wir David, Ingres, Court,
Bazille und Legros neu entdeckten. Besonders aber
Chasserieau, Daumier und den »italienischen« Corot,
der den sogenannten »Trouillebertschen« Corot fast
zum Fumisten machte. Zu einer solchen Zeit ist
besonders lehrreich eine Kunstausstellung zu sehen,
welche alles Starke vereinigt, was ein ganzes Volk
von den Anfängen seiner Kunst bis auf unsere Tage
geschaffen. Denn die zwei Jahrhunderte, welche auf
der russischen Ausstellung dargestellt sind, kann man
seine ganze Kunstgeschichte nennen.
Jf!
Kunst und Kultur erhielt Rußland aus Byzanz.
Architektur, Mosaiken, Wandmalereien, Email und
Miniatur — alles brachten die Griechen nach Ru߬
land und überschwemmten im Laufe von drei Jahr¬
hunderten (lo. — 13.) alle größeren russischen Städte.
Die versteinerten Traditionen der griechischen Kirche
fesselten auf lange Zeit die Freiheit, ohne die keine
Kunst denkbar ist; weniger in der Architektur als in
der Malerei. Denn der in diesem waldreichen Lande
fremde Stein, das Hauptbaumaterlai der Griechen, mußte
bald dem Holze weichen. Das führte unwillkürlich
zu neuen architektonischen Formen. Die nordischen
Kirchen, Holzkirchen, das ist das höchste, was die
altrussische Kunst geschaffen. Es sind wahre Märchen,
erstarrt inmitten sonderbarer, schwarzer, gieichsam
verzauberter Wälder^). Die Malerei war in einer
weniger glücklichen Lage. Von Skulptur schon gar
nicht zu reden. Die Traditionen duldeten sie nicht
in der Kirche. Es existierten mehrere Malschuien,
welche sich eigentlich nur wenig voneinander unter¬
schieden und ohne Ende die byzantinischen Motive
wiederholten. Erst im Anfang des 15. Jahrhunderts
versucht Andrei Rabliov neue Elemente in den hoff¬
nungslosen Byzantinismus zu legen. Seine vor kurzem
unter einer Stuckschicht in der Kathedrale des Sergi-
Troizki-Klosters entdeckten Fresken zeugen von einer
reichen Erfindungsgabe, feinem dekorativen Gefühl
und seltenem Farbentalent. Mit Iwan III., der Ru߬
land ein für allemal von der Zwangsherrschaft der
Tartaren befreite, beginnt sich auch in der Kunst ein
frischerer Geist fühlbar zu machen. Das hatte haupt¬
sächlich seinen Grund in der Anwesenheit zahlreicher
ausländischer Künstler, welche vom Zaren aus Italien
und anderen Ländern berufen wurden. In Moskau
sehen wir am Ende des 17. Jahrhunderts einen Meister,
der sich schon vollkommen vom byzantinischen Joche
befreit. Das war Simon Uschakov. Seine religiösen
Kompositionen sind nicht mehr durch Fasten und
Beten inspiriert, man fühlt in ihnen einen Menschen,
der mit allen Fibern am Leben hängt. Ein neuer
Mensch, der Bahnbrecher eines neuen Geschlechts.
In dieselbe Zeit gehören die kolossalen Wandmale¬
reien in den Jaroslawschen Kirchen. Der künstlerische
Flug dieser Werke ist so hoch, sie sind so phantasie¬
voll erfunden, daß sie wohl manchen Fresken
des italienischen Trecento, verschiedenen »Trionfi
della morte« an die Seite gestellt werden dürfen. Das
immer öfter bemerkbare Streben nach Neuerungen
rief in den reaktionären Kreisen eine starke Gegen¬
bewegung hervor. Diese Streitfragen gaben Anlaß zur
Berufung ganzer Konzile 2). Doch der Bannfluch der
Konzile konnte dem Lauf der Ereignisse kein Halt
gebieten. Uschakov war nicht mehr allein. Eine
andere Zeit schien anzubrechen.
Peter der Große (1668 — 1725) fand den Boden
1) Der Schreiber dieser Zeilen machte vor einigen
Jahren eine Reise längs der Suchona, Dwina, Mesenj und
den Ufern des nördlichen Eismeeres. Ungefähr 3000 Werst
per Boot und ebensoviel per Achse. Es gelang ihm, viele
Zeichnungen und Photographien nach diesen Kirchen auf¬
zunehmen. Und es war höchste Zeit, da alles dies durch
Eeuerschäden, Erdrutsche und Alterschwäche von Tag zu
Tag seinem Ende entgegengeht.
2) So die berühmten Philippiken des Diak Wiskowaly
auf dem Konzil von 1554. Auch lag in diesem zähen
Kampf gegen die neuen Heiligenbilder eine der Haupt¬
triebfedern des Schismas (»Raskol«), welches sich unter
dem Patriarchen Nikon im letzten Viertel des 17. Jahr¬
hunderts vollzog.
ZWEI JAHRHUNDERTE RUSSISCHER KUNST
.. .c Relormeii schon vorbereitet. Eine der
.::.c;:sien Taten dieses kraftvollsten der Souveräne
aer Entscnluß, eine Anzahl junger Leute nach
■•v.'-ai'-n.'pa zu schicken und dort Künste, Wissen¬
schaften und Handwerke zu erlernen. Von den
Maiern waren Nikitin und Matwejev die stärksten.
Als sie ins Ausiand gingen, waren sie in der Kunst
keine Neulinge mehr. In bezug auf Iwan Nikitin
(i688- 1741) schrieb Peter der Zarin Katharina, welche
damals in Berlin weilte, sie solle Nikitins Reise unter¬
brechen und der König möge ihm befehlen, seine
Person abzumalen und wen er sonst noch für nötig
erachte, damit man wisse, daß es auch im russischen
Volke tüchtige Meister gäbe.« Nikitin arbeitete unter
Anleitung Tomaso Redis^) in Florenz und später bei
Largilliere in Paris. In den zwanziger Jahren kehrte
er nach Rußland zurück, wo er viel Arbeit erhielt.
Unter anderem malte er das Porträt Peters auf dem
Sterbebett (1 725). Sehr interessant ist auch ein ande¬
res Werk von ihm, einen kleinrussischen Hetman
darstellend. Dieses, langezeit fälschlich als Porträt
Masepas bezeichnete Bild ist vorzüglicii in seiner
Charakteristik des düsteren kalten, wohl grausamen
und habgierigen Mannes, welches sonderbar mit dem
dritten bekannten Werke Nikitins, dem eleganten
Porträt des jungen schönen Baron Sergei Stroganov
kontrastiert. Im Jahre i736gingNikitin wegen Teilnahme
an einer Verschwörung, nach einer Knutenstrafe, in
die Verbannung nach Sibirien, wo er auch bald dar¬
auf starb. Sein Gefährte Andrej Matwejev (1701 -
1739) reiste zusammen mit ihm im Jahre 1716 ins
Ausland ab, begab sich aber nicht nach Italien, sondern
nach Holland, wo er ein Schüler Carel de Moors")
und De Wits'^) wurde. Sein Selbstporträt mit seiner
Frau gehört zu den wenigen Werken dieses Meisters,
welche sich bis auf unsere Zeit erhalten haben. Neben
den ins Ausland gesandten Malern dürfen wir nicht
einige vorzügliche Graveure und den talentvollen
Architekten Semzov vergessen, welche Wissen und
Können aus Westeuropa in ihr Vaterland brachten.
Doch an diesen Sendungen ins Ausland ließ Peter
es sich nicht genügen. Während seiner Europareise
im Jahre 1716 schlug er dem Gascogner Louis Cara-
vaque^) vor, in seine Dienste zu treten. Bald sehen
wir ihn in Petersburg als eine der ersten Autoritäten
in den Sachen der Kunst. Er malte viele Porträts,
unter ihnen ein vorzügliches Doppelbildnis der beiden
Töchter Peters in jugendlichem Alter. Außerdem prüfte
er die aus dem Auslande zurückkehrenden jungen
Künstler. Auf derselben obenerwähnten Europareise
lernte Peter den älteren Rastrelli '^), einen vorzüglichen
Bildhauer, kennen und bewog ihn, nach Rußland zu
ziehen. Im Jahre 1757 gründete die Kaiserin Elisa¬
beth in Petersburg eine Akademie der Künste und
berief eine Anzahl hervorragender Künstler nach Ruß-
1) 1665 — 1726, Schüler Carlo Marattas und Balestras.
2) 1656—1738. Schüler von Gerard Dow und Mieris.
3) 1695—1754. Schüler von Spiers.
4) Gest. 1754, Schlachten- und Bildnisnialer.
5) Carlo BartholomeoRastrelli, starb in Petersburg 1744.
land: Toeque'), Lagrenees), Le Lorrain^), Leprince^)
aus Frankreich, Rotari*^) und Torelli**) aus Italien
und Ericksen'^) aus Dänemark. Außerdem wäre noch
von den minderbedeutenden der Bildhauer Gillet”),
der Porträtist Lüders*’) und der Zeichner und Gra¬
veur Moreau zu nennen.
Unter Katharina 11. scheint sich der künstlerische
Geist des russischen Hofes noch zu steigern. Ein
ganzes Heer glänzender Namen verherrlicht die Re¬
gierung dieser deutschen Prinzessin, welche es verstand,
die allerrussischste Kaiserin zu werden. Hier nur
die bedeutendsten: Falconet^’), der eins der besten
Reiterstandbilder nach Donatellos Gattamelata und
Verocchios Colleoni — das Denkmal Peters des Großen
schuf. Den Kopf desselben modellierte Marie-Anne
Collot^ ’), eine hochbegabte Natur, die uns noch eine
ganze Anzahl reizvoller Skulpturen hinterließ, unter
ihnen die Büste Pauls 1. und seiner Gemahlin. Ferner
Roslin^*), der geniale Schwede, in dessen Porträt der
Kaiserin Maria Feodorowna so vieles an die Raphael
Mengssche Perle'im Louvre, jenes distinguierte Bildnis
der Prinzessin Maria von Sachsen, später Königin
von Spanien mahnt. Nur scheint das Roslinsche Werk
noch größer und dekorativer empfunden. Hier wäre
noch der virtuose Lampi sen., ein glänzendes,
doch oberflächliches Talent zu nennen. Gleichzeitig
arbeiteten in Petersburg solche bedeutenden Bau¬
meister, wie der jüngere Rastrelli^®), Guarenghi^*^),
1) Louis Toeque, berühmter französischer Porträtist
(1695— r 772), lebte in Petersburg 1757—1759.
2) Louis Jean Francois Lagrenee (1724—1803). 1760
bis 1762 Direktor der Petersburger Akademie. Malte viele
Bilder und Porträts in Petersburg.
3) Der erste Professor der Malschule an der Peters¬
burger Akademie.
4) Jean Baptiste Leprince (1734—1781). In Rußland
1758—1762.
5) Conte Pietro Rotari (1707 — 1762). In Peters-
biirg 1757. starb daselbst.
6) Stephano Torelli (1712 — 1780). In Petersburg 1758.
Starb daselbst. Professor der Akademie seit 1763.
7) Vigilius Ericksen, dänischer Maler, in Petersburg
seit 1757. Starb daselbst 1772.
8) Nicolas Gillet (1708—1791). Der erste Professor
der Skulptur an der Akademie. In Petersburg 1759—1778.
9) Sachse.
10) Jean Michel Moreau (1741 — 1814). Seit 1758 Ge¬
hilfe Le Lorrains in der Akademie.
11) Maurice Etienne Falconet, Bildh., geb. 1716 zu
Vevey, f UQi zu Paris, 1766—1778 in Petersburg.
12) 1748—1821. Schülerin und später Schwiegertochter
Falconets.
13) Alexander Roslin, 1710—1793. Arbeitete viel in Paris,
hauptsächlich aber in Stockholm und seit 1777 in Petersburg.
14) Giovanni Batista Lampi, 1751 — 1830.
15) Rastrelli. Conto Carlo, J 1771, russischer Oberhof¬
baumeister. Als seine Hauptwerke nennt man das neue
Schloß zu Sarskoe-Selo, den Neubau von Peterhof, das
Winterpalais.
16) Guarenghi, Giacorno, Maler und Architekt, geb. 1744
zu Bergamo, gest. 1817 zu Petersburg. Als Maler Schüler
von R. Mengs, als Architekt von Pozzi. Petersburger
Bauten von ihm das Theater der Eremitage, die Gemälde¬
galerie, Bank und Börse.
D. LEWIZKI. NATALIE BORSTSCHOV, STIFTFRÄULEIN DES 1. NIKITIN. KLEINRUSSISCHER HETMAN
SMOLNYKLOSTERS. Im Besitz S. M. des Kaisers von Rußland Museum in der Akademie der Künste, St. Petersburg
SILV. STSCHEDRIN. NEAPEL
Museum der Akademie der Künste, St. Petersburg
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XVIII. 11. 3
ZWEI JAHRHUNDERTE RUSSISCHER KUNST
Cameron-), Brenna'’) und zum Schluß der
^ rr zauberischer Dekorationen Conzago^).
Selbstverständlich mußte dieses künstlerische Eu¬
ropa, welches an den Hof der nordischen Herrsche¬
rinnen übersiedelte und ihn mit Wellen künstle¬
rischer Produktion überflutete, die tiefsten Spuren
in der russischen Kunst hinterlassen, ln den Tradi¬
tionen dieser besten Westeuropäer wird ein ganzes
junges Geschlecht erzogen und schon die zweite
Hälfte des i8. Jahrhunderts ist durch eine Reihe
Namen charakterisiert, auf die Rußland wohl das Recht
hat, stolz zu sein. Besonders, da die besten dieser
Künstler gar keine blinden Nachahmer und Kopisten
der Ausländer waren. Vor allem Feodor Rokotov
(1780 — 1812). Erwar einer der ersten einheimischen
Professoren der Petersburger Akademie. Von seinem
Lehrer, dem Grafen Rotari, hatte er die Eleganz und
Zartheit des Pinsels, welche er übrigens manchmal
mißbrauchte. Er liebte die lockende Verschwommen¬
heit der Konturen und den Earbenschmelz jugend¬
licher Erauenköpfe; daher verfiel er bisweilen in eine
allzugroße Weichheit der Form und gewisse Ver¬
wischtheit der Töne. Dennoch machen ihn sein saf¬
tiges Malen und seine exquisite Farbengourmandise
zu einem der liebenswürdigsten rein malerischen Ta¬
lente seiner Epoche. Bekanntlich saß ihm die Kaiserin
für mehrere Porträts, die sie selbst als die allerähn¬
lichsten bezeichnete. Vorzüglich sind noch die Por¬
träts des Fürsten Orlov und zwei Jugendbildnisse
Pauls I. Besonders das etwas später entstandene,
mit der schönen Kopfbewegung, den satten, tiefen
Farben und der flüssigen, dabei aber schlicht präzi¬
sierten Malweise. Michael Schibanov ist der zweite
bedeutende Porträtist. Er war Leibeigener Potiom-
kins und ist es bis zu seinem Tode geblieben. Weder
sein Geburts- noch Todesjahr sind festgestellt. Man
kennt nur wenige seiner Malereien, die von großer
und eigenartiger Begabung zeugen. Sein Bildnis
Katharina II. im Reiseanzug ist in Kiew 1787 gemalt,
während der Reise der Kaiserin in ihre neueroberten
Gebiete im Süden Rußlands.
Die imposanteste Erscheinung jedoch des 18. Jahr¬
hunderts ist Dmitri Lewizki (1735 — 1822). Anfangs
lernte er bei seinem Vater, einem Kiewer Priester, und
kam verhältnismäßig spät nach Petersburg, wo er
unter kn\&[{ux\g Antropovs'') arbeitete. Zweifellos sah
er hier Bilder verschiedener ausländischer Maler, von
denen Tocque vielleicht den tiefsten Eindruck auf
ihn machte. Trotzdem ist doch seine künstlerische
Physiognomie eine so eigenartige, daß wir vergeblich
in der europäischen Kunst einen ihm nahestehenden
Künstler suchen werden. Sein Porträtzyklus, welcher
die Pensionärinnen des adligen Smolny-Stifts darstellt,
gehört zu den Gipfeln der Porträtkunst überhaupt.
1) Antonio Rinaldi aus Rom, gest. um 1780.
2) Charles Cameron, geh. 1772. Berühmt sind seine
jonische Kolonnade mit dem hängenden Garten zu Zars¬
koje Selo.
3) Brenna, Kais. Hofarchitekt, baute 1801 die K. Biblio¬
thek in das kleine Theater um, voll. 1802 die Isaakskirche.
4) ln Rußland 1794—1804. Starb 1831.
5) Alexej Antropov, 1716-1795, Maler am Synod.
Sogar in Paris, wo das Louvre von Meisterbildnissen
dieser königlichen Epoche strotzt, neben Rigaud, Lar-
giliere und Tocque behauptet Lewizki siegreich seinen
Platz. Er hat nicht die eiserne Hand Rigauds, auch
nicht die tolle Gewandtheit eines Reynolds, Raeburn
oder Romney, nicht die matte gezierte Eleganz eines
Gainsborough. Er scheint einfach und naiv wie ein
Kind, offen und ohne Falsch wie ein Jüngling, der
plötzlich aus der Kleinstadt in den Trubel der Resi¬
denz versetzt ist. Doch dieser Jüngling hegte eine
heiße Liebe zur Natur und Schönheit, er liebte auch
sein Handwerk und hat niemals mit seinem Können
gespielt, wie es die späteren Engländer oft getan.
Darum sind auch die Porträts dieser Stiftsfräulein von
einem solchen rührenden Reiz durchwoben. Keine
einzige Schönheit, die meisten sind eher häßlich, und
dennoch welch unwiderstehlicher Charme. Im Jahre
1788 kam der Italiener Lampi nach Petersburg; hier
hatte er berauschenden Erfolg: Katharina 11. bewilligte
ihm acht Sitzungen zu einem Porträt. Im Laufe seines
sechsjährigen Petersburger Aufenthaltes wurde er mit
Aufträgen überschüttet und drängte zeitweise alle seine
Kollegen in den Hintergrund. Die glänzende, doch
hohle Kunst dieses verwöhnten Lieblings der Wiener
und Petersburger Gesellschaft brachte den unglück¬
lichen Lewizki vollkommen aus dem Gleise. Er wollte
Lampi mit dessen eigenen Waffen besiegen und be¬
gann ihn nachzuahmen. Dies hatte aber die traurig¬
sten Folgen: es war für ihn der Anfang einer steten
Dekadenz, die er nie mehr aufzuhalten vermochte.
Der bedeutendste von Lewizkis Schülern war
Wladimir Borowikovski (1758-1820). Er war ebenso
wie sein Lehrer — Kleinrusse. Nach Rokotov, Schibanov
und Lewizki — der vierte große Bildnismaler. Von
Lewizki ging er ins Atelier des älteren Lampi i) über.
Trotzdem blieb er vollkommen selbständig und hat
weder in der Technik noch in der Farbe oder Kom¬
position die geringste Ähnlichkeit mit irgendeinem
seiner Lehrer. Vorzüglich gelangen ihm große Re-
präsentationsporträts in Sammet und Seide gekleideter,
mit Orden geschmückter Würdenträger. So das be¬
kannte Bildnis des Fürsten Kurakin. Vielleicht noch
besser gelangen ihm zarte Porträts schwärmerischer
Frauen , bei denen er leider zuweilen in eine etwas
süßliche Sentimentalität verfiel.
Von seinen Zeitgenossen sind noch Nikolaj Ar-
gunov^), Stepan Stschukin'^), der Maler des unerbitt¬
lich realistischen Porträts Pauls I. mit dem Krückstock,
und endlich Peter DroshitP) mit seinem Porträt der
Familie Antropov zu erwähnen.
Die schlichten aber dekorativ gehaltenen Land¬
schaften Semioii Sischedrins^), des Malers Peterhofer
Fontänen, Fiodor Alexejevs^), des Sängers weiter
1) Giovanni Batista Lampi (1775 — 1837) Sohn kam
mit seinem Vater nach Petersburg, wo er nach Abreise
des Vaters noch sieben Jahre blieb, und dessen Erfolg erbte.
2) Geb. 1771, starb nach 1829.
3) 1758 — 1825, Schüler Lewizkis.
4) 1745-1805.
5) 1745—1804, Schüler der Petersburger Akademie
und Casanovas in Paris.
h) 1753 — 1824. Schüler der Petersburger Akademie
und von Moretti und Gaspari in Venedig.
W. BOROWIKOVSKI. SENATOR KUSCHNIKOV
Im Besitz des Grafen M. Cassini, St. Petersburg
E. ROKOTOV. PAUL I.
Winterpalais, Galerie Romanov, St. Petersburg
K. BRÜLLOV. GRÄFIN SAMOILOV MIT TOCHTER
Ini Besitz von Baron Günzburg, Kiew
O. KIPRENSKl. SELBSTPORTRÄT
Ini Besitz iles Herrn E. Schwarz, St. Petersburg
9
ZWEI JAHRHUNDERTE RUSSISCHER KUNST
.'lewapsrspektiven, Alexej Belskis^) und Aiichael Sii'fl-
«01^5-) sind das wenige, was auf diesem Gebiet ge¬
leistet wurde.
Aus der Zahl der Bildhauer sind Fedor Schiibin ''),
Michael Koslovski-^) und Feodosi Stschcdrin^) her¬
vorzuheben. Das Meisterstück des letzteren ist seine
grandiose Büste Pauls 1., wohl das ähnlichste Porträt
des unglückseligen Herrschers. Kurz vor seinem Tode
entstanden, offenbartes einen für das 1 8. Jahrhundert
ungewöhnlich grausamen Realismus und ein schonungs¬
loses psychologisches Eindringen. Man spürt den
ganzen eisigen Schauer, mit dem diese rätselhafte Ge¬
stalt an der Schwelle des ig. Jahrhunderts umhüllt
war. Hier ist alles: die Unmenschlichkeit einesMenschen,
sein Größenwahn, sein drohendes Verhängnis, etwas
Klägliches und Schreckliches zugleich. Welch furcht¬
bare Umwandlung aus dem reizvollen Rokotovschen
Jüngling in die verzerrt-komische Maske des Stschu-
kinschen Porträts und endlich in diese todtraurige
tragische Larve bei Stschedrin.
Vielleicht noch erschöpfender als in Malerei und
Skulptur fand der Geist der Zeit seinen Ausdruck in
den Werken der Architektur. Kokorinov'^) schuf das
grandiose Gebäude der Petersburger Kunstakademie,
Woronichin') die Kazansche Kathedrale; Bashenov
endlich das düstere Schloß Pauls 1. und das könig¬
lich angelegte Rumianzevmuseum in Moskau*).
Bei dem Ausbruch der französischen Revolution
tragen die Kunsthistoriker gewöhnlich das i8. Jahr¬
hundert zu Grabe und registrieren eine neue Epoche,
den Neoklassizismus; dann folgt die Romantik, dann
der Realismus usw. Sind diese Rubriken wirklich
so unverrückbar; schrieb nicht während der Blüte¬
zeit des sprudelnden Rokoko Winckelmann seine
Apologien des Klassizismus, und noch früher sein
Vorgänger Graf Caylus? Baute der geniale Souflot
nicht schon während der Regierung Ludwigs XV.
an dem Pariser Pantheon, welches kaum von den
klassischen Gebäuden des ersten Kaiserreiches zu
unterscheiden ist? Durch die Kunst des i6. bis
i8. Jahrhunderts zieht sich, wie ein roter Faden, das
Erbteil des ewigen Roms und verbindet trotz aller
Bernini, Meissoniers und den Zeitgenossen Watteaus
alle diese Epochen viel fester als man es sonst an¬
nimmt. Dieselben Leute, welche für Katharina IL in
Petersburg und Moskau bauten, schufen ihre Archi¬
tekturen später für Paul I. und dann für Alexander 1.
0 1730—1796, Schüler von Peresinotti.
2) 1748—1823, Landschafts- und Schlachtenmaler,
Schüler der Petersburger Akademie, Leprinces in Paris und
Jakob Hackerts zu Rom.
3) 1740—1805.
4) 1753-1802.
5) 1751 — 1825, Schüler Petersburger Akademie und
d’Allegrains in Paris.
6) Akademiedirektor.
7) 1759—1814-
8) Seine Rolle beim Bau des Paul-Palais ist nicht mit
Sicherheit festgestellt. Jedenfalls waren die ersten Ent¬
würfe von ihm und nicht von dem Italiener Brenna, der
den Bau zu Ende führte.
Kraft einer natürlichen Reaktion mußte nach einer
Epoche der ornamentalen Überladung eine größere
Einfachheit des Schmuckes eintreten. Die ge¬
schwungenen, ausladenden Formen verschwinden,
die ornamentale Ausschmückung wird sparsamer an¬
gewandt, jedoch mit großem künstlerischem Takt.
Keinesfalls kann aber von einem Verfall der Archi¬
tektur die Rede sein, eher war es eine Wandlung.
Es entstand eine Reihe von Bauten großen Stils:
die Admiralität von Sacharov, die Börse von Tonion,
der Doppelbogen des Generalstabes, das heutige
Museum Alexanders 111. und das Alexandratheater
von Rossi, ferner die Moskauer Universität, das
Eremitagemuseum und eine Anzahl von Privathäusern.
Zugleich entwickelte sich auch die architektonische
Skulptur, als deren Vertreter wir Terebenev, Pimenov
und andere sehen.
Auch die Bildnismalerei verkümmerte nicht,
sondern nahm nur andere Formen an. Eine Zeit,
welche Kiprenski und Brüllov ihre Söhne nennt,
bedeutet gewiß keinen Verfall. Der temperament¬
volle Orest Kiprenski ') gibt in seinen Porträts der
Malerei des rasenden Gericault nichts nach. Besonders
kraftvoll ist das Bildnis seines Vaters, das mit einer
Rubensschen Wucht heruntergemalt ist, auch das voll¬
kommen anders konzipierte Bildnis des bekannten
Partisans aus dem Jahre 1812 Denis Dawydov in
Husarenuniform 2). Kiprenski war ein unruhiger Geist
und strebte sein lebelang nach neuen künstlerischen
Problemen, darum sind seine Werke einander so gänz¬
lich unähnlich. Wenn das Porträt seines Vaters an
Rubens mahnt, sein Dawydov an Gericault, so läßt
sein stark von einer Seite beleuchtetes Selbstporträt
unwillkürlich ans Rembrandtsche Helldunkel denken.
Was Lewizki fürs 18. Jahrhundert bedeutet, ist
im ig. Karl Brüllov% Seine letzten Porträts, jenes
tollkühne Bildnis eines Mädchens auf sich bäumendem
Rappen, oder die verschiedenen immer sehr bild¬
mäßigen Porträts der Gräfin Samojlov, gehören zum
höchsten, was die neuere russische Kunst überhaupt
geschaffen. Er bedurfte eines titanischen Könnens,
um sich solche Probleme zu setzen und sie so
spielend zu lösen. Was für Kenntnisse, was für einen
Reichtum an Erfahrung dieser Mensch in sich barg,
ist auch an seinen Aquarellen zu sehen. Wohl das
hervorragendste ist das Doppelbild des Ehepaares
Olenin irgendwo in Rom zwischen alten Ruinen.
Ein Ingres hätte es zeichnen können. Nur war
Brüllov freier und auch malerischer. Sein höch¬
stes Können zeigte er jedoch in einem Kolossal¬
gemälde, seinem berühmten »Untergang Pompejis«,
welches er als Pensionär der Kunstakademie malte.
Viele möchten in dieser gigantischen Kraftanstrengung
nur eine banale Illustration zu verschiedenen damals
kursierenden Gedichten dieses Inhalts sehen. Ob mit
1) Sohn eines Leibeigenen (1783—1836), Schüler der
Petersburger Akademie, arbeitete zuletzt in Rom, wo er
das Scharfe seiner Individualität fast gänzlich verlor.
2) Beide im Museum Alexanders III.
3) 1799 — 1852. Schüler seines Vaters und der Peters¬
burger Akademie.
A. BENOIS. ITALIENISCHE KOMÖDIE. LE BILLET DOUX
Im Besitz des Herrn J. Morosov, Moskau
A. BENOIS. ITALIENISCHE KOMÖDIE. POLICHINELLE INDISCRET
Im Besitz des Herrn W. Hirschmann, Moskau
ZWEI JAHRHUNDERTE RUSSISCHER KUNST
: v' enn wir heuer die Bologneser goutieren, so
■? voilkommen unverständlich, wie man dieses
. -.i; ciiTor solchen geradezu diabolischen Kühnheit
und einer so spielenden Leichtigkeit entstandene Werk
nicht schätzen kann. Ich ziehe die Brüllovschen
Porträts seinen Bildern vor; doch während den
Bildnismaler Ingres ein Abgrund vom langweiligen
und kalten Historienmaler trennt, so ist zwischen
Brüllovscher Bildnis- und Historienmalerei ganz und
gar kein Abgrund'). Sein Zeitgenosse Fiodor Bniiir),
ohne Zweifel weniger begabt als Brüllov in rein
malerischer Beziehung, malte außer einer riesigen
technisch vorwurfsfreien, doch temperamentlosen Lein¬
wand Die eherne Schlange^ einige ganz vorzügliche
religiöse Kompositionen für die Isaakskathedrale; in
ihrem tiefen Ernst und mystischer Durchdrungenheit
läßt sich eine gewisse Seelenverwandtschaft mit den
Nazarenern fühlen, nur ist er ihnen als Maler weit
überlegen. Sein Porträt der Eürstin Wolkonski, in
seinen sonderbaren, an die venezianischen Stimmungen
der Spätrenaissance anklingenden Earben, zeigt ihn
als feinsinnigen Bildnismaler.
Ein Abgrund verschiedener Weltanschauungen
und Begabungen gähnt zwischen Brüllov und seinem
gewaltigen Zeitgenossen Alexander Iwanov'^). Es
scheint unbegreiflich, daß diese beiden zu gleicher
Zeit in Rom arbeiteten. Beide an riesigen Bildern.
So verschieden sie selbst sind, so verschieden ist ihr
Werk. Im selben Maße wie Brüllov der Liebling
des Schicksals, war Ivanow sein Stiefkind. Das Leben
Brüllovs war ein ununterbrochener Siegeszug^) -
das Leben Iwanovs eine endlose Elut von Ent¬
täuschungen. Brüllov gelang alles mit spielender
Leichtigkeit, — Iwanov im Gegenteil kostete jedes
Problem blutigen Schweiß. Eür Brüllov existierten
keine wühlenden und nagenden Zweifel, welche so
viele der größten Söhne Rußlands quälten: Gogol,
Dostojevski, Tolstoi. Die Natur hatte ihm ein Talent
gegeben ähnlich dem blendenden Brillantfeuerwerk
Rubensschen Genies und es wäre ungerecht, wollten
wir ihm eben diese, seine stärkste Seite zum Vor¬
wurf machen. Ivanow gehörte einem anderen Schlage
Menschen an. Er konnte wie Dostojevski und Tolstoi
nicht an der Oberfläche dieses Meeres ungelöster
Tragen bleiben. Unwiderstehlich zog es ihn tiefer
und tiefer. Oft schien er dem Untergange nahe.
Ein fanatisch religiöser Mensch, machte er die Be¬
kanntschaft von David Strauß und nun begann seine
Jeremiade. Er konnte sein mächtig geplantes Werk
1) Dieser öffnete sich erst später, als Brüllov sein
letztes Werk, die öde »Eroberung Pskovs« malte. Inter¬
essant, daß gerade dieser schwächste seiner Werke zum
Ideal all der Epigonen des Historienkomponierens wurde:
der Flawizkis, Wenigs, K. Makowski u. a.
2) 1800-1875.
3) 1806 — 1858. Schüler seines Vaters.
4) Wie groß der Erfolg dieses genialen Jünglings in
Rom war, sieht man aus den Ovationen, die ihm zuteil
wurden: eine Volksmenge erwartete ihn früh morgens an
der Tür seines Ateliers und bei seinem Erscheinen im
Theater hob sich alt und jung von den Plätzen.
»Christi Erscheinung« nicht zu Ende führen. Nur
an der Neige seines Lebens fing in dem Chaos, der
ihn umgab, sich eine künstlerische Lösung seiner
religiösen Probleme zu formen an, erst damals, als er
die Zweifel, welche Strauß in ihm geweckt, durch¬
lebt und er sich zu einer neuen verklärten Welt¬
anschauung durchgerungen. Die besten Dokumente
dafür sind seine Skizzen zu den Eresken eines riesigen
Tempels, welcher die letzte Zeit das Ziel seiner heißen
Wünsche war und nie zur Ausführung gelangte.
Diese Skizzen sind so sonderbar modern empfunden,
daß sie das Ansehen haben, als seien sie erst heute
oder gestern entstanden. Gänzlich unerwartet sind
die chaldäisch-assyrischen Stimmungen, welche diese
Werke durchwehen. In Europa kam man erst in
den achtziger Jahren zu ähnlichen Motiven. Was
für feenhafte, wundervolle Träume dieser einsame
Riese haben mußte, um solch ein Werk zu schaffen.
Vielleicht noch überraschender sind seine - mag es
noch so sonderbar klingen »Pleinairstudien«
nach nackten Modellen. Beim Anblick dieser grell-
blauen Schalten, dieser Rosa- und Lilatöne auf den
Körpern drängt sich unwillkürlich die Trage auf, wie
ein Mensch in den zwanziger und dreißiger Jahren
solche Earben sehen konnte. Auf der allermodernsten
Ausstellung, neben den Bildern der wildesten Impressio¬
nisten, würden sie nicht ihre Schärfe und Erische
verlieren ').
Unterdessen fuhren einige überlebende Künstler
des 18. Jahrhunderts und ihre Schüler fort, Bildnisse
zu malen so, wie man es von altersher gewohnt
war. Sammet und Seide verschwanden allmählich,
Jabot, Fichu und gepuderte Perücken wichen anderen
einfachen Moden. Selbstverständlich wurden auch
die Porträts mit der Zeit weniger prächtig und reich.
Dafür aber erschien in ihnen ein neues Element: sie
wurden lieblich und zart, von einer leicht-languissanten
Grazie durchdrungen. Das was bisher nur Lewizki
in seinen Stiftsfräulein auszudrücken verstanden, dies
pikante Gemisch von Sentimentalität und versteckter
Koketterie, von Naivität und leichter, kaum merk¬
barer Verderbtheit — alles dies wird jetzt gang und
gebe bei den Künstlern dieses russischen Bieder-
meiertums der Zeit Alexanders 1. Auch bei Kiprenski
fühlen wir zuweilen diese Stimmung, so in dem
reizenden Kniestück einer Dame in gelbem bunt¬
gesticktem Schal und Häubchen. Mehr noch bei
Alexander Warneck'^), einem anspruchslosen und an¬
genehmen Maler. Es gab noch viele Porträtisten,
die wenig konnten, dennoch sympathische Erschei¬
nungen waren in ihren offenen, zarteinfachen und
naiven Gefühlen. Oft auch vollkommene Dilettanten,
welche es liebten, mit Pinsel und Stift zu spielen
und nur auf diese Weise ihren Gefühlen Ausdruck
zu geben vermochten. So entstand im Verborgenen
1) Die letzten dieser Studien sind in der Galerie
M. Botkin in Petersburg, minderwertigere in der Tretia-
kovschen Galerie und dem Rumianzevschen Museum; im
letzteren auch sein großes Bild und sämtliche religiöse
Skizzen.
2) 1782—1843. Schüler Lewizkis und Stschukins.
ZWEI JAHRHUNDERTE RUSSISCHER KUNST
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manch intimes feinsinniges Werkchen. Darum wohl
stehen sie uns oft so nahe. Sie haben für uns den
eigenen Reiz alter großmütterlicher Stammbücher mit
den rührenden Widmungen und Gedichten, mit
naiven, aber liebevollen Zeichnungen, wo wohl
auch dann und wann eine Modeberühmtheit ihren
Autographen hinterließ. Dieselben Gefühle hegen
wir auch für eine Anzahl Künstler, welche auf kleinen
Leinewanden das malten, was unsere Großmütter in
ihre Stammbücher zeichneten. Meistens Interieurs
und was sich in ihnen abspielte. Kleine nette Szenen
des Alltagslebens, oft auch ländliche Sujets. In dieser
Zeit lebte und arbeitete ein bescheidener Künstler,
welcher es verstanden hatte, aus diesem Zauberkreis
des Dilettantismus einen Schritt in die wirkliche Kunst
zu machen. Alexe] Wenezianov], ein Schüler Boro-
wikowskis, mit keinem hervorragenden Talent begabt,
war weder ein glänzender Kolorist, noch ein guter
Zeichner. Dafür liebte er die Natur über alles und
malte sie so gut er konnte. In seinen letzten Werken,
die er peinlich nach der Natur malte, fühlt man seine
schlichte und kristallklare Seele. Meistens sind es
Szenen aus dem Dorfleben, zwar nicht ohne ein leicht
rustikales Gepräge, das uns heute etwas geziert und
wenig überzeugend scheint; doch liegt dies wohl
eher an der Epoche, als am Künstler selbst. Vene-
zianov wird zuweilen der Gründer der realistischen
Schule genannt. Wohl mit Unrecht. »Getreu nach
der Natur« wurde lange vor ihm-) und auch zu seiner
Zeit gemalt, doch gehört das Schlagwort »Realismus«
einem viel späteren Geschlechte an, welches jeder
Geziertheit Eeind, eher in das Gegenteil, eine offene
Brutalität, verfiel.
Gleichzeitig mit Wenezianov arbeitetete noch eine
ganze Anzahl ebenso bescheidener und fleißiger Künst¬
ler, oder auch Amateure. Sie malten Enfiladen bunt
tapezierter Zimmer, Musselinfigürchen junger Mädchen
am Spinet, auf dem altmodischen Rotholzdivan plau¬
dernde Herren in farbigen Schlafröcken, mit langen
Pfeifen irn Munde, jedes kleine Detail genau ab¬
gemalt, oft nicht ohne malerischen Reiz. So gelangen
manchen der Wenezianov-Schüler köstliche kleine Bilder,
besonders Tyranov und Selenzov% Ein anderer
Schüler Wenezianovs Sergej Sarianko^) verstand es,
die etwas dilettantische Malweise der Wenezianov-
Schule mit soliderem malerischen Können zu ver¬
einigen. Ein sehr sympathischer Künstler war noch
Graf Feodor Tolstoi, ein Zeitgenosse Wenezianovs,
Bildhauer, Medailleur und Maler vorzüglicher In¬
terieurs.
So ein Amateur war anfangs auch Paul Fedotov'J,
dieser russische Hogarth. Noch als Offizier zeichnete
er Szenen aus dem Kasernenleben, dem Kleinbürger-
1) 1780 — 1847.
2) So das köstliche Bildchen von Lossenko (1737 — 1773)
in der Tretiakovschen Galerie.
3) 1790-1845.
4) 1818 — 1870.
5) 1816—1852, Gardeoffizier, verließ den Dienst,
verfiel durch physische Entbehrungen in Wahnsinn und
starb in einer Anstalt für Geisteskranke.
tum, der niederen Bureaukratie. Ohne jegliche mora¬
lische Hintergedanken malte und zeichnete er einfach,
was er sah. Er sah aber dieses graue Alltagsleben
mit wahren Künstleraugen, seine Kunst liebte er über
alles, ihretwegen hungerte er und lebt^- in den un¬
möglichsten Spelunken. Ein vollkommener Autodi¬
dakt, arbeitete er Tag und Nacht und ’ ■ -chte sein
technisches Können so weit, daß einige üciails seiner
Bilder wohl eines Mieris wert sind. Später, gleich¬
zeitig mit Gogol, begann eine Neigung zur Moral¬
predigt sich in seinen Arbeiten zu zeigen. Doch liebte
er seine Kunst an und für sich zu sehr, um sie voll¬
ständig der Propaganda moralischer Ideen zu opfern.
Eine neue Generation griff diese Moralpredigt auf,
verstand aber nicht in den Grenzen der Kunst zu
bleiben. Bald war vom Schönheitskultus nichts mehr
übrig: alles war schlecht gezeichnete und gemalte
Publizistik.
Der Anfang dieser Epoche fällt mit den Reformen
der sechziger Jahre zusammen. Sie waren schon jahr¬
zehntelang vorbereitet durch eine Reihe Schriftsteller,
welche den Orkan der europäischen Revolutionen
miterlebt. Die Ideen Proudhons fanden Widerhall
in Rußland, wurden aber einseitig und geradezu bar¬
barisch angewandt. Der Kunst wurde jede selbständige
Rolle geraubt und man kam so weit zu behaupten,
daß sie nur eine jüngere Schwester der Literatur sei.
In Wirklichkeit war sie nur ein armer Bastard. Der
talentvolle Kritiker Pissarev, der Spitzführer dieser
kunstfeindlichen Bewegung, schuf ein geflügeltes Wort,
das wohl am stärksten ihr Verhältnis zur Kunst aus¬
drückte: »Ein Grütztopf ist tnehr wert als die Sixti¬
nische Madonna«. Gedenke man auch des Mannes,
der 1848 in Dresden vorschlug, die Sixtinische Ma¬
donna auf den Eestungswall zu stellen, um sich gegen
die preußischen Kanonen zu schützen. Er dachte, die
Preußen würden aus Pietät nicht auf ein solches
Kunstwerk schießen. Auch er war ein Russe, ein
Genie und ein Barbare zugleich, - Bakunin. Dem
wütenden Andrange der publizistisch-revolutionären
Ideen konnten die Künstler nicht widerstehen. Sie
gaben nach und gingen ins Joch der Reformatoren.
Doch nicht nur sie wandten sich von Apoll ab, —
auch er verließ sie. Wenn einer von diesen Verirrten
seine Blicke von neuem zu ihm kehrte, fand er keine
Erhörung. Dabei waren unter ihnen Leute von großer
Begabung. Zeitlich der erste von ihnen war Wassili
Ferov *), ein starker herrischer Charakter. Jetzt ist es
schon über ein halbes Jahrhundert her, daß er seine
ersten Bilder malte; wir haben uns an diesen Ver¬
ächter der Schönheit gewöhnt und müssen gestehen,
daß in vielem , das unter seinen Händen entstand,
mehr Kunst ist, als er selbst wohl vermutete. Einige
seiner Sittenbilder und Porträts werden ohne Zweifel
einen gewissen absoluten Wert behalten und viel¬
leicht noch hoch geschätzt werden. Ein noch größe¬
res Talent war Wassili Werestschagin-), doch auch
er war vom Dämon der Propaganda besessen. Was
1) 1834 — 1882.
2) 1842 1904.
ZWEI lAHRHUNDERTE RUSSISCHER KUNST
jungen Jahren durch Naturstudiuni erwor-
, vvar durch langjährige Bildermacherei einge-
. . t. Erst in der Napoleonserie erklangen
: arben und rein künstlerische Gedanken , die wieder
der Natur abgelauscht schienen ^). Diese Serie, welche
ge vöhnlich als sein Verfall bezeichnet wird, ist eher
eine Renaissance zu nennen, die sich bei seinen
letzten Studien aus Japan noch steigert. Es änderte
sich zugleich auch sein Verhältnis zur Moderne. Er
hat es mehrfach geäußert, das Streben der jungen
allein nach der Schönheit, der Form und Farbe sei
der einzig richtige Weg zur Kunst.
Vielleicht das größte Talent, welches durch die
Unkultur einer ganzen Generation in seiner Entwicke¬
lung so stark gehindert wurde, ist Ilja Repin'~). Die
Natur hatte ihn mit solch einer Begabung versehen,
die im i g. Jahrhundert in Rußland nur einem Brüllov
und Iwanov zuteil ward. Er war Vater aller, die in
den siebziger und achtziger Jahren begannen, sich
nach der Natur zu sehnen. Er spielte eine ähnliche
Rolle, wie Courbet in Frankreich. Auch er war ein
poesieloser Prosaiker. Er liebte nur das Leben und
diese Liebe wohl war es, die ihn davor rettete, das
Schicksal seiner Kameraden der »Wanderaussteller«®)
zu teilen. Jetzt scheint uns seine Malerei schwer,
roh und langweilig; er gehört für uns schon der
Geschichte an. Doch auch für ihn kommen noch
bessere Tage. Und vielleicht ist die Zeit nicht mehr
weit, da eine Auferstehung des Dramatischen in der
Kunst Repin neue Anhänger wirbt. Auch seine Por¬
träts werden wohl noch einmal neu entdeckt; inwie¬
fern können wir an dem psychologisch -fesselnden
Bildnis Mussorgskis ahnen.
Noch einige Namen der »Wanderer«, die schwer¬
lich in Vergessenheit geraten werden: Nikolai Gay^),
ein unruhiger suchender Grübler, der einige in ihrem
nackten, schneidenden Realismus, fast verletzend wir¬
kende Episoden aus der heiligen Geschichte und eine
Reihe vorzüglicher Bildnisse hinterläßt. Ferner
Viktor Wasnezov'^), dessen Bilder, besonders aber
Illustrationen aus dem altrussischen Epos eine zahl¬
lose Menge Nachahmer erzeugten und dessen religiöse
Kompositionen die byzantinische Heiligenmalerei neu
auflebcn ließen. Vor allem aber Wassili Surikov'^),
eine der eigenartigsten, selbständigsten und dabei
allerrussischsten Erscheinungen in der Kunst. Alle
seine Bilder sind riesigen Formates und stellen Epi¬
soden aus der Geschichte Rußlands dar'). Trotzdem
1) ln der Nähe Moskaus machte er unzählige Natur¬
studien für diese Serie.
2) Geb. 1844.
3) Dieser Künstlerbund organisierte Anfang der sieb¬
ziger Jahre die ersten Wanderausstellungen, welche Rußland
durchreisten und bis heute existieren. Einer der Haupt¬
gründer war Iwan Kramshoi (1837—1887), ein schwacher
Porträtist, dessen Werke eher retuschierten Photographien
ähnlich sehen. Dank seiner Bildung spielte er eine große
Rolle im Kreise seiner Freunde.
4) 1830-1894.
5) Geb. 1848.
6) Geb. 1848.
7) »Die Hinrichtung der Strelizen . »Menschikov in
haben sie nichts mit der landläufigen Historienmalerei
zu tun, nichts mit jenen großen theatralischen Insze¬
nierungen, welche nach den Rezepten Coutures, Dela-
roches und Pilotys kombiniert und kompiliert wurden.
Es war kein historisches Genre, was er malte, keine
Illustration historischer Anekdoten. Er verstand es,
uns in entfernte Epochen zu versetzen, undefinierbare
Stimmungen und Nuancen der Vergangenheit zu
wecken. Das gelang nur wenigen. So dem rätsel¬
vollen Berliner Zwerg, der kraft seiner magischen
Kunst die Schatten des alten Fritz und seiner Tafel¬
runde in Sanssouci aus dem Jenseits zu uns gerufen.
Vergleicht man Surikov mit Menzel, diesem Fein¬
schmecker des Rokoko, so scheint er daneben grob
und barbarisch, doch unter der rauhen Kruste ist ein
unbegreifliches historisches Hellsehen verborgen’).
Neben Surikov auf demselben Gebiete arbeitete Alexej
Riabuschkin (1861 — 1904). Trotz der gefährlichen
Nachbarschaft eines solchen Herrn des 1 7. Jahr¬
hunderts wie Surikov, hatte er es verstanden, sich
einen kleinen Winkel zu erobern, den ihm keiner
streitig machen kann. Es ist das intime nicht öffent¬
liche Leben des alten Moskau. Seine scharfe Be¬
obachtungfand auch in der Jetztzeit Motive und brachte
ein durch sein spezifisches Parfüm sich auszeichnen¬
des Bild — »die Teetrinker« hervor.
Das, was die »Wanderer« mit der Kunst Fedotovs
gemacht hatten, dessen Werke noch durch viele Fäden
mit der großen Vergangenheit verbunden waren, das
taten sie auch mit der Landschaft, — sie vulgarisierten
sie. Kitschier gab es nicht unter ihnen, auch nicht
Calamesch wärmer; zu sehr liebten sie die Wahrheit.
Die Prinzipien, welche das 19. Jahrhundert von Alexe-
jev und dem älteren Stschedrin erbte und die in den
Bildern des jüngeren Stschedrin “) eine plötzliche über¬
aus glänzende Renaissance erlebten, glimmten noch
in den Jugendwerken Iwan Aiwasovskis% der sie mit
einigen eigenartigen Turnerschen Elementen zu ver¬
einigen verstand, fort, flackerten noch einmal in den
Landschaften Maxim Worobiovs^) auf und erloschen.
In der Tat, Stschedrin sen. war Schüler Casanovas,
der letztere Schüler Guardis - so ist Stschedrin jun.
der gerade Urenkel des venezianischen Farbenzauberers.
Ungeachtet dieser Traditionen ist in seinen römischen
und neapolitanischen Werken so viel Originalität, daß
man einige von ihnen für Corots der italienischen
Periode halten kann. Dieselben grün-silbernen Har¬
monien, dieselben leichten luftigen Töne. Und wer
weiß, ob nicht Corot als Jüngling diese Bilder in
der Verbannung«. »Die Boyarin Morosov« in der Tretia-
kovschen Galerie. »Die Eroberung Sibiriens« im Museum
Alexander 111.
1) Zu nennen wären noch von den »Wanderern«:
lUarion Prianischnikov, ein tüchtiger Genremaler, Wladimir
Makovski, sein Nachahmer und späterer glücklicher Rivale,
Korsiichin, Sawizki. Yaroschlenko, Maximov — alle Gen¬
risten. Endlich Nesterov, der in seinem kraftlosen Epi¬
gonentum seinen Begeisterer Vasnezov nie erreicht.
2) Silvester Stschedrin, 1791—1830.
3) >817
4) 1787-1855.
J. RF.PIN. LEO TOLSTOI IN SEINEM ARBEITSZIMMER
Im Besitz des Herrn N. Perzov, St. Petersburg
K. KOROWTN. SÄNGER SCMALIAPIN
Ini Besitz des Herrn J. Morosnv, Moskau
Zeitschrift füt bildende Kunst. N, f. XVIII. 11. 3
K. JUON. MARKT
10
ZWEI JAHRHUNDERTE RUSSISCHER KUNST
7C
Rom gesehen. Es ist möglich, daß Rußland ohne die
Wandererbarbaren sein eigenes Barbizon erlebt hätte.
Und dennoch, hat nun dieses grobe Vulgarisieren der
Landschaft nur Schaden gebracht? Kaum: eine Propa¬
ganda der Wahrheit, der einfachen nackten Wahrheit
war stets vonnöten und hat ihre Mission erfüllt.
Die Landschafter, welche im Atelier ihre Wälder,
Berge und Meere komponierten, ohne je etwas ähn¬
liches in der Natur gesehen zu haben, waren in ihrem
rücksichtslosen Zynismus zu weit gegangeiU). Als
Gegengewicht war ein grober, schonungsloser Natura¬
lismus nötig, eine animalische Naturiiebe, nur lag hier
der Nachdruck eben auf der Wahrheit, dem »Selbst¬
gesehen . Das was damals Wahrheit schien, ist es schon
für uns nicht mehr. Auch die Wahrheit ist ja wie alles
relativ. Und gewiß ist dies für uns ein großes Glück.
Der erste von diesen Wahrheitssuchern war Iwan
Schischkirr). Er malte nach der Natur, nur nach
der Natur, verbrachte ganze Tage im Walde von
Jugend auf bis ins tiefe Alter. Seine Landschaften
sind trocken, langweilig und korrekt; er haßte so
heiß jede Komposition, die er für etwas Unehrliches,
Lügnerisches hielt, daß er in ein anderes Extrem ver¬
fiel, in das Protokoll. Seine Bedeutung in der Ent¬
wickelung der russischen Landschaft im letzten Viertel
des 19. Jahrhunderts ist ebenso wie die Repins sehr
groß. Ebenso wie dieser war er durch und durch
Prosaiker, ebenso mit eiserner Gesundheit und eiser¬
nem Fleiß begabt: ein griesgrämiger Waldschrat mit
seiner buschigen Löwenmähne und seinem unge¬
schlachten Benehmen. Er war nur noch gröber als
Repin, welcher Rembrandt und Velasquez vergötterte.
Schischkin verachtete sie alle offen, denn sie waren
alle »verlogen«. Eine andere bedeutende Gestalt war
Archip K^iiinshi'^), welcher die Künstlerkreise im An¬
fang der siebziger und achtziger Jahre durch seine
Beleuchtungseffekte in Aufregung brachte. Damals
schienen diese blendende Sonne, diese heißen Sonnen¬
untergänge und stillen Mondscheinbilder der künstle¬
rischen Jugend Offenbarungen. Heute müssen wir
sagen, daß seine Sonnenbeleuchtung mit den schwarzen
Schatten etwas sehr Unwahres, Laternenhaftes hat, ebenso
wie man bei seinen Mondscheinlandschaften unver¬
meidlich an bengalisches Feuer denkt. Dennoch war
auch seine Mission sehr wichtig. Endlich muß noch
Sawrassov^) genannt werden, dessen Bedeutung eine
ganz hervorragende war. Sein berühmtes Frühlings¬
bild in der Tretiakovschen Galerie bewirkte einen
völligen Umschwung in der russischen Landschaft.
Hier glaubten alle nicht bloß die protokollarische,
sondern die echte künstlerische Wahrheit zu fühlen.
Es war ein Frühling der russischen Landschaftsmalerei.
Wassili Polenov'^) war das Bindeglied zwischen Sav-
1) Unter ihnen waren auch begabte Leute, wie Bogo-
liubov, Lagorio, Orlovski (nicht mit dem gewandten, doch
oberflächlichen Zeichner zu verwechseln), Klever (jetzt zum
Kitschmaler geworden). Alle unerträgliche Bildermacher.
2) 1831 — 1808.
3) Geb. 1842.
4) 1830—1897.
5) Qeb. 1844.
rassov und der heranwachsenden Generation. Ein
fein gebildeter, viel gereister Mann, war er es, der
die jungen Moskauer auf die westeuropäische Kunst
hinwies. Er zeigte ihnen Corot und Werke der ande¬
ren Barbizoner; er vermittelte ihnen den Eintritt in
zwei Privatgalerien in Moskau, in denen Corot, Dau-
bigny, Dupre, sogar Millet und andere ausgezeichnet
und zahlreich vertreten waren. Besonders der junge
Konstantin Kprowin i) war es, auf den dies einen
tiefen Eindruck machte. Mit diesem Namen beginnt
die Geschichte der neuesten russischen Malerei. Von
nun an verschwindet die Manier, die Künstler in Land¬
schafter, Genremaler, Porträtisten usw. zu teilen, völligs).
:!• sf:
Charakteristisch ist, daß, ebenso wie in Frankreich
die Malerei ihren Fortschritt der Landschaft verdankt.
Unter dem Einfluß Sawrassovs und Polenovs begannen
die jungen Künstler begeistert die neuentdeckte Natur
zu malen; es war nicht diejenige, welche der alte
Schischkin mit seinen kalten, gleichgültigen Augen
sah. Man lernte in Barbizon, man strebte nach dem
schönen Ton, nach einem pikant gewählten Motiv.
Neben Korowin arbeiteten Isaak Lewithan'^) und Va¬
lentin Serov^). Diese drei Künstler gaben der rus¬
sischen Grundnote, die Sawrassov und Polenov ange¬
schlagen, erst die rechte künstlerische Form. Korowin
verstand wie kein anderer den geheimen Reiz der
Fleckenwirkung, Lewithan entdeckte die Poesie der
armseligen russischen Dörfer und fand Mittel, sie aus¬
zudrücken. Serov, gleichfalls ein Dichter ärmlicher
nordischer Felder, struppiger Bauernpferdchen ■'^) und
trauriger grauer Herbsttage, liebte mehr als seine Kame¬
raden die Farbe. Von Jugend auf ein Schüler Repins,
war er schon mit 20 Jahren ein vollkommen fertiger
Künstler und schuf alsjüngling einige Porträts, welche
alles bis dahin Gemalte hinter sich ließen, ebenso wie
vieles später Ausgestellte. Besonders fein in der Malerei
waren zwei Porträts, beide aus der zweiten Hälfte
der achtziger Jahre. Indem lichtdurchfluteten Kinder¬
porträt hat das Repinsche Problem der Unerwarteten
Heimkehr«'’) einen bedeutend feineren Interpreten ge-
1) Geb. 1861.
2) Schon Polenov malte alles, jedoch in seinen
großen religiösen Kompositionen war er nur ein Epigone
Brüllovs und zwar der letzten Periode Sein Hauptwerk
liegt in der Landschaft und in seinem persönlichen Einfluß
auf die künstlerische Jugend Moskaus. Von den übrigen
Epigonen der Historie wären noch Flawizki, Perov der
letzten Jahre und Sieniiradzki zu nennen. Letzterer war
übrigens selbständiger und ihm ist ein gewisser Schön¬
heitssinn nicht abzusprechen. Eerner die beiden 5iiV^-
doniski und Kalarbinski.
3) 1861 — iQOO, Schüler Sawrassovs.
4) Geb. 1865. Schüler Repins und Tsebistiakovs, eines
der feinsten Zeichner, Brunischer Schule.
5) Seine Vorgänger auf diesem Gebiete waren Peter
Sokolov, ein poetisch gesinnter Maler kleiner Jagdbilder,
und Pferdemaler Twertschkov.
6) Eins von seinen berühmtesten Bildern, das noch
heute seine malerischen Reize nicht verloren hat.
10
FÜRST A. SCHERWASCHIDZE. PORTRÄT N, TARCHOV. ZIEGEN
Im Besitz des Herrn R. Woslr^nkov, Moskau
72
ZWEI JAHRHUNDERTE RUSSISCHER KUNST
fiinden. Das Serovsche Werk ist noch realer, weist
aber dabei einen malerischen Charme auf, der Repin
ganz fremd war. In den schillernden musikalischen
Earben des anderen Porträts könnte man den Einfluß
Renoirs sehen, wäre nicht dieses junge hellgekleidete
Mädchen im sonnigen Garten lange vor Serovs Be¬
kanntschaft mit den Impressionisten gemalt. In Mos¬
kau geriet er unter den Einfluß Korowins, und mit
ihm und Lewithan gab er sich ganz einer leiden¬
schaftlichen Suche nach russischen Motiven hin. Ganz
unmerklich kamen sie alle drei zu eleganten silber¬
grauen, auf die Dauer aber einförmig langweiligen
Harmonien. Dieser graue melancholische Ton schien
ihnen die wahre nationale Earbenskala, es schien als
ob die grauen Hütten, die grauen Herbsttage und
die ganze armselige Natur nur mit diesen diskreten
Earben richtig charakterisiert werden könnten. Serov
machte mehrfach den Versuch, zur Earbe zuriiekzu-
kchren; doch niemals gelang es ihm, die Koloristik
seiner ersten Porträts zu erreichen. In der Charakte¬
ristik dagegen ging er stetig vorwärls und gab unter
anderem solche Werke wie das Porträt M. .Morosovs.
Auch begann er eine Serie Gouaches aus dem höfischen
Leben des i8. Jahrhunderts, welehe in vielen Bezieh¬
ungen Menzeischen Schöpfungen nahe kommen. Lewi¬
than gab eine Reihe reizvoller russischer Landschaften
voll sammetener Melancholie und träumerischer Poesie.
Zum Schluß seines kurzen Lebens fühlte er jedoch,
daß er nur zu lange in einer Kunst verharrte, die
eigentlich schon fast die Literatur streift: war in der
Kunst der Wanderer ein gut Teil Literatur, so war
auch in diesem unermüdlichen Suchen nach spezifisch
russischen Motiven eine gewisse Dosis literarischer
Hypnose. Das Entscheidende in der Malerei ist durch¬
aus nicht die Poesie des Motives, sondern die Poesie
ihrer eigenen Formen; ebenso wie in der Musik nicht
das Sujet wichtig ist, nicht die Poesie der Fabel, sondern
die Musik selbst, das mystische, rätselhafte Innere der
musikalischen Konzeptionen, welche »musikalische, nur
rein musikalische« genannt werden können. Ebenso
gibt es Malerei, allein Malerei. Ganz zu Ende seines
Lebens wird sich Lewithan dieser Wahrheit bewußt,
ihn ergreift ein rasender Farbendurst. Es gelingt ihm,
sieh aus seiner Grauheit herauszuarbeiten, doch der
Tod unterbricht plötzlich sein Schaffen. Korovin
malte noch in den achtziger Jahren einige reizvolle
Bilder kleineren Formates und in den neunziger Jahren
das lebensgroße Porträt einer Dame in Weiß, ganz
eminent in seinem silbernen Ton. Auf der Weltaus¬
stellung in Paris igoo fiel er dureh seine dekorativen
Panneaus auf, in denen er es verstanden hatte, die
japanischen Farbenholzschnitte für seine nordischen
dekorativen Phantasien zu benutzen.
Unterdessen arbeitete, wohl auch unter europäischen
Einflüssen eine Anzahl Künstler in Moskau, unter
denen besonders Ilja Ostroiichov Wassilij Pereplet-
schikov^), Abram Archipov und Sergej Winogradov zu
nennen wären. Etwas abseits steht ApolUnarij Was-
1) Geb. 1858.
2) Geb. 1863.
snezov'^), ein Bruder Viktors, der Autor groß ange¬
legter sibirischer Urallandschaften und einer Serie
interessanter Zeichnungen und Aquarelle aus dem
Leben Alt-Moskaus. Diese ganze Bewegung spielte
sich in Moskau im Laufe von zwei Jahrzehnten ab,
von 1880 1900. In Petersburg, wo sich die Akade¬
mie befand, schien die Kunst vollkommen zu ver¬
steinern; sogar Repin, der einzig lebendige, zog auch
in den achtziger Jahren nach Moskau.
Doch plötzlich im Anfänge der neunziger Jahre
tauehen im einförmigen Gewühl der Aquarellausstel¬
lungen sonderbare, noch nie gesehene Zeichnungen
und Aquarelle auf. In diesen, gänzlich mit der Peters¬
burger Ausstellungskunst dissonierenden Illustrationen
aus dem 1 8. Jahrhundert von Alexander Benois'j fühlte
man etwas, was weder bei den Wanderern, nodi beim
damaligen Jung-Moskan zu finden war. Wer in der
westeuropäischen Kunst zn Hause war, konnte natür¬
lich die künstlerische Provenienz dieser Arbeiten fest¬
stellen. Erstens waren es die genialen Zeichnungen
Menzels aus dem Leben Friedrichs des Großen. Schon
allein die Liebe für diesen Menzel der vierziger Jahre,
für das Rokoko, welches von verschiedenen italie¬
nischen und Münchener Malern zu einem so ver¬
achteten Genre heruntergedrückt war, zeigt in ihm
einen Künstler von ganz besonderer Selbständigkeit.
Bald nachdem Benois an die Öffentlichkeit getreten,
folgt Wm Konstantin Soniov'^) mit pikanten Aquarellen
aus der Biedermeierzeit, vor welchen man anfangs
nicht wußte, war es eine große Sehnsucht nach ent¬
schwundenen Zeiten, oder eine leise, tiefverborgene
Ironie. Die Bilder Benois wurden belacht; vorSomovs
Aquarellen hielt man sich buchstäblich die Seiten.
Wie lachte das Publikum beim Anblick dieser komischen
Krinolinfigürchen und Krüppelchen, welche der jungen
Kunst nun ein für allemal den beleidigenden Ausdruck
»Dekadent« verschafften, der schon früher der jungen
Moskauer Schule angehängt war. Am lächerlichsten
erschien gerade das, was der Kern und die Kraft
dieser neuen Kunst war. Fast gleichzeitig begann
diese Bewegung in London mit dem genialen Beards-
ley und in Deutschland mit den Zeichnungen Th.
Th. Heines, Julius Diez und den Zeichnern des
Simplizissimus. Diese leidenschaftliche Sehnsucht
nach der Schönheit vergangener Epochen verkörperte
sich nicht in Bilderchen aus Rokoko, Zopf und Bieder¬
meierzeit, sondern führte zu einer wahren Renaissance
der Graphik. Beardsleys ätherische Kunst, ein köst¬
liches Amalgam altfranzösischer Graphik und raffi¬
nierten japanischen Farbenholzschnittes, war etwas
ganz Neues, nie Dagewesenes, ein orgiastisch packender,
berauschender Nektar. Aueh Heine und Diez schufen
neue Werte, nachdem sie der bizarren phantastischen
Graphik des 18. Jahrhunderts Herr geworden waren.
Benois klammert sich an Menzel, an seine Lehrer, die
Franzosen, und an Chodowiecki, den Urquell Menzel¬
scher Inspirationen. Somov vergrub sich in die lieben
1) Geb. 1856.
2) Geb. 1870.
3) Geb. 1869.
V. SEKOV. PETER I. AUF DER JAGD
Im Besitz des Herrn Kulepov, Gatschina
I. LEWITHAN. HERBST
Ini Besitz des Herrn N. Perzov, St. Petersburg
74
ZWEI JAHRHUNDERTE RUSSISCHER KUNST
alten Stammbücher, lockenden Modebildchcn, in all
die köstlichen Nippes und amüsanten Dingelchen,
welche ihn von Jugend auf in seinem Elternhause
umgaben und nach denen er die Petersburger und
Pariser Antiquarbuden durchstöberte.
Diese graphische Bewegung zog eine ganze Reihe
junger Petersburger Künstler in ihren Bann: tilgen
Lanceray^) , Leo Bakst'-), Anna Osiroiimov, Alstislav
Dobiizcinski und Victor Samirailo. Im Laufe einiger
Jahre arbeiteten diese Künstler für die Zeitschrift Mir
Iskusstwa« und schufen wahre Perlen zeichnerischer
Kunst, blinkend in der hohen Vollkommenheit ihrer
kapriziösen, endlosen Erfindungskraft und geschmack¬
vollen Raffinerie. Sie fanden ihre eigene Kunst, deren
Anfang zwar auch in Beardsley zu suchen ist, sich
aber in ganz neue meisterhafte Eormen ergoß. Bakst
ist außerdem wohl das größte dekorative Talent Ru߬
lands. Seine leichten, graziösen, ewig neuen archi¬
tektonisch überzeugenden, dabei neckisch prickelnden
Phantasien sind manchen der schönsten Leistungen
des i8. Jahrhunderts an die Seite zu stellen. Wie
keiner versteht er es, dem wollüstigen Laufe der Kon¬
turen zarter Erauenkörper zu folgen, wie keiner spinnt
er mit seinem zauberhaften Stift blinkende Gewebe
geistreicher flüsternder Intrigen. Die ganze Gruppe
inspirierte Benois, diese hochbegabte Natur, die zum
Lehrer wie geschaffen schien. Er erweckte die ganz
vergessene Buchkunst zu neuem Leben. Er bewachte
wie ein Argus die ihm so teuere alte Kunst, und
verteidigte sie so gut er konnte gegen die modernen
Vandalen, welche ihre Hände an die alten Kunst¬
denkmäler legten. Unter seiner Feder entstanden
glänzende Apologien der Schönheit. Sie gehören zu
den besten Seiten sowohl des »Mir Iskusstwa«, wie
auch anderer Zeitschriften. Seine eigene Kunst ist
sehr originell und fand große Anerkennung auch im
launischen Paris. Er besitzt ein nicht endenwollendes
Erfindungstalent und ist ein geistreicher Zeichner
und Improvisator: die kompliziertesten Kompositionen,
die feinsten ornamentalen Linien fließen mit einer
Leichtigkeit aus der Spitze seines Pinsels. In den
letzten Jahren scheint sich in ihm eine Wandlung zu
vollziehen; er beginnt sich zur Farbe zu wenden,
seine Malerei wird heller, er befreit sich allmählich
von den schweren grauen Tönen, dem Erbteil der
Graphik. Noch ein Künstler ist hier zu nennen:
Stepan Jaremitsch , mit seinen Versaillesstudien, die
in einer eigenartig, an Graphik mahnenden Technik
gemalt sind, zwar noch schwer und düster in den
Farben, doch verraten sie auch einen ausbrechenden
Farbendurst. Auch Somov steht an einem Scheide¬
wege. Er möchte gern von einer nicht zu leugnenden
Manieriertheit seiner letzten Werke loskommen, dank
zu langer Trennung von der Natur, dem Urquell jedes
Schaffens. Die letzte Zeit beschäftigt er sich fast nur
mit Porzellanskulptur; diese fein empfundenen Figür-
chen scheinen eine wahre Auferstehung eines Aulicek
oder Kändler. Frau Ostroumov treibt ausschließlich
1) Geb. 1875.
2) Geb. 1867.
Farbenholzschnitt und Lithographie, worin sie großen
Geschmack und ein distinguiertes Können besitzt. Agnes
Lindeniann ist noch hier zu erwähnen, eine brave
Zeichnerin kleiner Interieurs in Larssonschem Stil.
Ferner Alexander Haiisch und Diinitri Kardovski, ein
derber, erfahrener Zeichner, der durch Münchenerische
Kunst erzogen ist. Gleichzeitig arbeitete in Peters¬
burg der tüchtige Porträtist Josef Dras und in Mos¬
kau ein vorzüglicher Illustrator und Zeichner Leonid
Pasternak, der sich durch seine Tolstoiserie schönen
Ruf auch im Auslande erworben.
Es gibt Augenblicke in der Kunstgeschichte, wo
sich trotz starker Talente eine leise Ermattung, ein
kaum merkliches Nachgeben der schöpferischen Energie
fühlbar macht: gewisse Ergebnisse sind errungen,
gestürzt sind alle, die man bekämpfte, das Ringen ist
zu Ende, die revolutionäre Stimmung weicht einem
friedlichen Ausnützen der Eroberungen. Zu solcher
Zeit gibt es kein Vorschreiten. Mehr noch: dringt
nicht ein frisches Element ein, so kann auch die
köstlichste Kunst in einem wenn auch noch so schön
verzauberten Kreise erstarren. Etwas ähnliches voll¬
zog sich an der Jahrhundertwende in Rußland. Der
Kreis der »Mir lskusstwa«-Zeichner ist in einer Lage,
in der sich auch die Simplizissimusgraphiker befinden:
zu viel Vollkommenheit. Die schärfsten Bosheiten
eines Heine flössen schon bis zum letzten Tropfen
seines künstlerischen Giftes aus, die sichersten Kon¬
turen und die schönsten Tonalitäten der bestialischen
Instinkte erklangen längst bei einem Bruno Paul,
seine duftigsten Linien schon fand ein Bakst und
seine virtuosesten Grotesken erlebte ein Lanceray.
Wohin weiter? Im besten Falle ein stetes Sich-
wiederholen. Oder eine neue Verliebtheit in die
Natur, eine neue Rückkehr vom stilisierten Leben
zum Chaos zitternder Farben und wogenden Lichts.
Nach einer Generation von Stilisten müßte wieder
eine Malergeneration kommen. Maler gab es unter
den Petersburger Graphikern nicht; nur noch in
Moskau malte man. Doch konnte man sich dort
aus der Formel der Graumalerei nicht herausarbeiten.
Im Jahre igoo stirbt Lewithan, welcher eben gerade
noch seine offizielle Anerkennung erlebte. Es be¬
ginnt eine Periode, wo alle Ausstellungen durch
lewithanisierende »Rußlandsucher« überschwemmt
sind; zugleich greift unter Zorns Einfluß eine uner¬
trägliche Breitpinselei um sich. Auch Jan Zion-
glinskif verfällt dieser Pinselei, nachdem er einer
der ersten gewesen, der in seinen Studien die Morgen¬
röte der kommenden Farbenprobleme ahnte. Auf
den talentvollen Schüler der Petersburger Akademie
Filipp Maliavinf halte die berühmte rote Dame
Zorns’ eine sehr nachhaltige Wirkung. Er malt seine
grellroten Bauernweiber, welche einen solchen Erfolg
auf der Pariser Weltausstellung hatten; neben diesen
meterlangen Farbenbändern, diesen wilden Pinsel¬
hieben schienen selbst die flottesten Porträts Zorns'
schüchtern und zahm. Maliawin ist kein eigentlicher
1) Geb. 1863.
2) Geb. i86().
ZWEI JAHRHUNDERTE RUSSISCHER KUNST
Naturalist; mit jedem Jahr
entfernt er sich mehr von
der Natur und lebt allein
für seine wahnsinnigen,
blutigen Fanfaren; alljähr¬
lich verstärkt er ihre Leucht¬
kraft und Grellheit. Un¬
willkürlich fragt man sich;
wann ist er zu Ende, wie
lange noch reicht die ge¬
waltige Stimme, die ihm
die Natur gegeben.
Nicht fern von den
Farbenproblemen stand
eine Gruppe junger Künst¬
ler, die sich um Kninshi
geschart. Nach seinen
Triumphen in den sieb¬
ziger und achtziger Jahren
verließ dieser originelle
Mensch für immer die
Öffentlichkeit, dabei aber
im stillen weiter arbeitend.
Als die Akademie 1894
reformiert wurde, erhielt
er ein Meisteratelier und
schuf eine ganze Schule
Landschafter, unter denen
mehrere interessante und
starke Talente waren. Die
eigenartigsten unter ihnen
v. MUSSATOV. IM SCHLUMMER
sind Nikolai Röhrich
und . Xi'küvU Rylov\ In
den ers! / ' ''ß'Urn Röh-
v'Nt; ' ' C' pich der
Sh! i.'i. den;
Vieh:.': wozu
später ■ ■ ’ ,n dec
Finnen OeH T' ’d;
rieh ist ie ; ’ -d; ^
ruhiger Kü . d / . ' ps
ist schwer ze ;pen, ..
rin sich sein Talent noeü
verkörpern wird. Jeden¬
falls malte er mehrere,
interessant konzipierte und
ausgeführte Werke, wel¬
che in schönen harmoni¬
schen, doch leider oft
schweren und allzu düste¬
ren Farben gehalten sind.
Rylov ist ein begabter Poet
der nordischen Natur, in
der er aufgewachsen ist.
Sein Grünes Rauschen
ist ein ernstes, ausgetrage¬
nes Werk. Von den übrigen
Schülern Kuinshis wäre
noch der talentvolle Boga-
1) Oeb. 1S74.
2) Oeb. 1872.
M. WRUBEL. AUEERSTEIIUNO
Stäcllisclies Museum, Kiev
76
ZWEI JAHRHUNDERTE RUSSISCHER KUNST
jevski za nennen mit seinen sonderbaren steinernen
Landschaften, und Latri, der Maler Krimer Motive.
Die schweren schwarzen Farben Kuinshis erbte seine
ganze Schule. Sein Streben nach Vereinfachung der
Formen und Farben nahm in den Werken der Jungen,
dank einiger Münchener Einflüsse, eine Wendung zu
einem aufdringlichen Stilisieren. Sogar Rylov, ein
geborener ^ Naturalist, verfällt oft in ein unnötiges
Lapidarisieren.
Eine frische rein naturalistische Strömung ergoß
sich in die Kunst erst mit dem Erscheinen von einer
Reihe Studien und Bildern verschiedener Maler, die
lange im Auslande gelebt und gearbeitet und in der
Kunst Monets und später auch Cezannes, Gauguins
und van Ooghs das fanden, was einem versumpften
Moskau und Petersburg nötig war. Von da an sah
man wieder fröhliche, furchtlose Farben, die den
Charakter der Ausstellungen vollkommen veränderten.
Map verstand, daß außer dem grauen hoffnungslosen
Rußland es noch ein anderes freudigeres gibt; wie
armselig Rußland auch sei, die Sonne doch für jeder¬
mann scheine. Man verstand, daß dieses reiche
schenkende Gestirn auf dem Schnee solche Farben¬
orgien entflammte, im blauen Himmel solche Türkise
und Saphire entzündete und den Brillanten der mit
Reif bedeckten Bäume solche Regenbogen entlockte,
daß unsere Palette dagegen arm und kraftlos schien
und die ganze frühere Farbenprüderie und Grau¬
keuschheit nur ein trauriges Mißverständnis gewesen
war. Einige Namen: Nikolai Tarchov, Impressionist,
auch in Paris sehr geschätzt; schönes Farbengefühl;
Nikalai Milioti, ganz merkwürdiger Farbenphantast;
Alexej Jawleiiski, ein in van Gogh und Gauguin ver¬
liebter, doch selbständiger Palettenexperimentator: Boris
Anisfeld, auch ein unermüdlicher Sucher und Grübler;
Walther Lockenberg, Maler der Rennen und seiden¬
schillernder Jockeys; auch Igor Grabar^). In Moskau
verließ eine ganze Anzahl Künstler die Reihen der
Graumaler: Wassili Perepletschikov , der einst auch
eine Rolle in dem Rußlandsuchen gespielt; Konstatin
Yuon, der talentvolle Schöpfer einer Serie von Bildern
aus dem Leben der Kleinstadt; seine letzten Werke
zeigen in ihren frischen Farben, daß er schon vieles
erreicht und noch viel mehr erreichen wird; Nikolai
Mestscherin, ein stilles, poesievolles Talent, das seine
reduzierten Farbenharmonien gegen starke Farben
vertauschte, die in ihm immerzu schlummern schienen.
Ferner von den jüngsten noch, Michael Larionov,
ein starkes naturalistisches Talent.
Zur Zeit als das Triumvirat Serov- Korowin-
Lewithan ihr so nötiges und wichtiges Werk taten,
lebte und arbeitete in Moskau ein Künstler, der nichts
mit den Idealen seiner Feunde gemein hatte. Das
war Michael Wriibel'-). Noch in den siebziger Jahren
entwarf Wrubel für die im Bau befindliche Wladimir¬
kirche in Kiew eine Anzahl Skizzen, welche für jene
1) Der Leser wird wohl das etwas kitzliche Zusammen¬
fällen der soeben zitierten Persönlichkeit mit der des Ver¬
fassers dieses Aufsatzes nicht übel nehmen.
2) Geb. 1850.
Zeit so hirnverbrannt schienen, daß man sie nur be¬
lachte, die Wände der Kathedrale aber einem anderen
zum Dekorieren gab. Und gerade in diesen fünf
Skizzen fühlt man den Stempel eines unverstandenen
Genies. Wären diese Skizzen ausgeführt, so würde
Rußland eine Kirche besitzen, wie sie seit der
Renaissance nicht mehr entstanden. Das, wovon
Iwanov nur zu träumen wagte, hatte er nach einem
halben Jahrhundert wieder aufgegriffen. Aber sein
eigenes koloristisches Genie gab diesen Träumen
einen hinreißenden Reichtum an Nuancen und Farben.
Ein Mensch, der mit einem Regenbogen in den Augen
geboren ist. Was für eine Kraft des dekorativen Gefühls,
was für ein Verständnis der Wand, was für eine Monu¬
mentalität und freskenartige Einfachheit der Linien
und Flächen. Wenn dieser wunderbare Mensch einen
grenzenlosen Schmerz ausdrücken wollte, so verstand
er es, ein abgrundtiefes Fallen, — so fand er die
überzeugendste, oft furchtbar verzerrte fratzenhafte
Form. Auch Titanen, wie Donatello und Michel¬
angelo taten es, ebenso Rubens. Von den Modernen
Gauguin und van Gogh. Bei Wrubel wird dieses
Verzerren manchmal zur fürchterlichen, krampfhaften,
jedoch niemals gewollten, wenn auch oft hilflosen
Grimasse. So die horrende, gigantische Kraftan¬
strengung, die er »Dämon« nannte. Dieser gefallene
Engel, eins der letzten Werke Wrubels, symbolisiert
seinen eigenen Fall, den Fall eines Riesen unter der
Kraft übermenschlichen Wollens. Früher unver¬
standen und einsam, ist jetzt sein Name auf aller
Lippen und sein Einfluß auf die Jugend wächst tag¬
täglich. Seine Kunst setzte eine Gruppe junger künst¬
lerischer Kräfte ins Leben, welche Bruchstücke seiner
gewaltigen Gesänge aufsammelten. Der erste von
ihnen ist Paul Kusnezov. Ein Schüler Serovs, be¬
gann er mit naturalistischen Studien, bis ihm Wrubel
und die Malerei Victor Mussatovs^) neue Horizonte
öffneten. Dieses zu früh verstorbene Talent, das auch
mit einer kindlichen Liebe an den Epochen festhielt,
welchen Benois und Somov so nahe standen, war
ihnen jedoch ganz unähnlich. Benois liebte die
zeichnerische Schönheit des Vergangenen; Somov
auch die malerische, wenn auch in einer alther¬
gebrachten, altmodischen Form. Die Sprache dieser
beiden ist älter als Monet; Mussatovs Ausdrucksweise
ist nur nach den Impressionisten möglich. Die letzten
Jahre suchte er eine Synthese der koloristischen Ent¬
deckungen des Impressionismus uud seiner eigenen
schlaftrunkenen Schwärmereien und duftigen Visionen.
Der Tod überraschte ihn inmitten dieses qualvoll
grübelnden Suchens. Kusnezov verband das orna¬
mentale Erbe Wrubels mit den Traumbildern Mussatovs
und es gelang ihm etwas vollkommen Eigenes, oft
sehr Reizvolles zu schaffen. Leider nur zu oft ist es
die grausame finstere Grimasse Wrubels und die
Krüppeligkeit Mussatovs, welche bei Kusnezov zu
einer so hilflosen Zerbrochenheit und einem so
greisenhaften Ramolisement bei dem noch ganz
jungen Geschöpf wird, daß dies zurückstößt und
1) iSÖQ— 1905,
ZWEI JAHRHUNDERTE RUSSISCHER KUNST
77
den Genuß stört. Wenn es ihm gelingen sollte,
seines Talentes Herr zu werden, so wird Rußland in
ihm eine der schönsten dekorativ -koloristischen Be¬
gabungen erhalten, die je existierten. Von seinen
Gesinnungsgenossen ist der stärkste wohl Sergei
Sudejkin, ferner Tatiana Lugovskoi, mit ihren schön-
tonigen Gouachen und der Graphiker Nikolai Feofi-
laktov.
Außer den genannten Künstlern arbeiteten noch
mehrere seit Jahren im Auslande: in Wien ein großes
männliches Talent Helene Liiksch-Makowski, in Paris
der etwas indolente, doch zäh suchende Alexander
ein kleiner Trubezkoi sein darf. Sie gingen zu Rodin
nach Paris. So arbeitete bei ihm die begabte Anna
Oolubkin.
In der dekorativen Kunst hat Moskai? eine be¬
deutende Rolle gespielt. Gleichzeitig mit der Ru߬
landsucherei der Landschafter war es e’n Kreis be¬
gabter Leute, die unter dem Einflüsse russischer
Märchen und der dekorativen Arbeiten VKtor Vas-
nezovs begannen, seine Ideen zu entwickeln. Hier
war vor allem Helene Polenov\ ein starkes, durch¬
aus unweibliches Talent mit ihren entzückenden
Märchenillustrationen und ornamentalen Komposi-
I.. BAKST. ILLUSTRATION ZU DER NOVELLE GOGOLS DIE NASE .
Im Besitze des Herrn W. Hirschmann, Moskau
Scherwaschidze, und andererseits die fleißige und
auch begabte, doch zu flüchtige Zeichnerin Elisabeth
Kraglikov, in München der hoffnungslos schwarze,
wenn auch farbengierige Wassilij Kandinski.
Mit der Skulptur stand es in Rußland sehr schlecht.
Zwar flackerte dann und wann ein lebendiges Flämm-
chen auf; so in den Pferden des Baron Klodts und
in einigen Skulpturen des oft überschätzten Antokolski.
Doch blieben sie einsam und verlöschten bald. Erst
als Paul Trubezkoi nach Rußland kam, schien auch
unter den jungen Kräften sich etwas zu regen; bald
aber verstanden die gesundesten von ihnen, daß der
sogenannte Impressionismus in der Skulptur ein zu
individualistisches Ding sei und man nicht ungestraft
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XVIII. H. 3
tionen zu nennen. Ihr Schüler Alexander GolowiiE),
der sich allmählich zu einem hervorragenden Deko¬
rateur entwickelte, konkurrierte hierin erfolgreich mit
Korowin. Helene Polenov inspirierte auch den geist¬
reichen Sergej Maliutin, welcher einige reizvolle
Aquarelle in russischem Stil gab, und endlich die
eigenartige Stickerin Natalja Dawydov. Ohne Zweifel
ist auch Maria Jakuntschikov^) zeitweise unter ihrem
Einfluß gewesen. Ein übrigens sehr selbständiges
Talent, welches in einigen originellen Werken einzig
1) 1850— i8g8.
2) Geb. 1860.
3) 1870—1902.
ys
ZWEI JAHRHUNDERTE RUSSISCHER KUNST
dasteht. Ihre mit harmonischen Farben illuminierten
Holzbrandpanneaux machen trotz ihrem offenen Kon-
ventionalismus einen überraschend ' frischen Natur¬
eindruck.
*
Teilt man die Ausstellung in drei Gruppen, die
alte Kunst, die Übergangsperiode der sechziger bis
achtziger Jahre und die Moderne, so kommt man zur
Einsicht, daß die erste und die letzte, wenn auch
mit einigen Lücken, doch erschöpfend dargestellt,
dagegen von der zweiten von den »Wanderern« so
viel wie nichts zu sehen ist. Da die meisten der
alten Heiligenbilder und Wandmalereien teils in
Kirchen, teils im Besitz von Museen sind, war es
ausgeschlossen, ein richtiges Bild dieser Periode
russischer Kunst zu geben. Dafür ist das i8. Jahr¬
hundert glänzend vertreten, fast jeder von den großen
Malern und Bildhauern mit seinen schönsten Werken.
So Nikitin mit seinem »Hetman«, Matwejev mit dem
Selbstporträt, Rokotov mit »Katharina 11.« und den
beiden Porträts des jungen Paul; auch der andere
Paul von Stschukin ist hier, sowie auch die eminente
Marmorbüste von Stschedrin. Ferner die ganze Serie
von Lewizkis »Stiftsfräulein«, der Kuschnikov von
Borowikovski, sowie auch die Alexejevschen Neva-
landschaften und die Fontäne vom älteren Stschedrin.
Leider ist der junge Stschedrin schlecht dargestellt;
ihn kann man nur in Moskau kennen lernen. Die
größte Lücke ist das vollkommene Fehlen Alexander
Iwanovs, dessen Werke unmöglich zu bekommen
waren. Brüllov ist genügend vertreten: eins von den
großen Bildnissen der Gräfin Samoilov ziert die
Ausstellung; auch das Ehepaar Olenin, das ent¬
zückende Aquarell. Von Kiprenski sind nicht die
besten Werke ausgestellt, sein feines Selbstporträt
ausgenommen. So gut wie alles, was die »Wanderer«
brachten, befindet sich in der Tretiakovschen Galerie
und man konnte diese ehrlichen Barbaren nicht dem
Auslande zeigen. Auch von Repin sind nur einige
unbedeutende Porträts und eine minderwertige Skizze
zu seinen »Kosaken« zu sehen.
Die moderne Abteilung setzt mit Lewithan ein.
Er selbst und sein Gefährte Serov sind in zahlreichen
Arbeiten vorhanden, dagegen stellte Korowin außer
einem größeren Panneau nur einige nicht gerade ge¬
lungene Studien aus. Ein klares Bild gewinnt man
von dem Schaffen der verstorbenen Maria Jakun-
tschikov. Wrubel ist ein ganzer Saal gewidmet, wo
man die köstlichen religiösen Skizzen, das wunder¬
bare Bild »33 Seeritter« und ein riesiges Panneau
sehen kann. Das letztere gehört nicht zu seinen
besten Werken, ebenso wie auch verschiedene im Ton
schwere Wandmalereien. Der »Dämon« ist nur durch
eine kleine Variante vertreten.
Die Petersburger Graphiker haben auch ihren
Saal; außer Somov, dem ein eigener zur Verfügung
gestellt ist. Ein anderer Saal vereinigt die Werke
von Mussatov und der jüngsten Moskauer. Stark
sind auch die Farbensucher vertreten.
FÜRST PAUL TRUBEZKOI. MÄDCHEN MIT HUND
BUCHERSCHAU
Frühholiänder IIL — Frühholländer in Italien. Heraus¬
gegeben von Dr. Franz Diitberg. Druck und Verlag von
H. Kleinmann & Co., Haarlem.
Mit den vorliegenden Heften setzt Dülberg ein Unter¬
nehmen fort, das hier schon einmal freudig begrüßt
worden ist. Dank seiner Bemühung besitzen wir gute
Lichtdrucke von den Altären Engelbrechtsens und Lucas
van Leydens im städtischen Museum zu Leiden, ferner
eine kunstgeschichtlich wertvolle Ergänzung dazu in den
Abbildungen der altholländischen Gemälde im erzbischöf¬
lichen Museum zu Utrecht. Und jetzt: zwei Umschläge
mit 45 Tafeln, die »Frühholländer« in italienischen Samm¬
lungen. Eine große Zahl, eine überraschende Bereicherung!
Ist doch in den Handbüchern zu lesen, daß die Monumente
der altholländischen Malerei in den Bilderstürmen fast ganz
zugrunde gegangen seien.
Allerdings stammen die meisten Bilder, die D. publi¬
ziert, nicht aus dem 15. Jahrhundert, sondern aus den ersten
Jahrzehnten des 16., aus einer Periode also, die uns, was
die holländische Malerei angeht, schon weniger interessiert.
Die holländische Kunst der älteren Zeit läßt sich nach dem
heutigen Stande der Kenntnis nicht fest umschreiben, nicht
genau trennen von der südniederländischen. Holländisch
erscheint uns, was an einen der nachweislich in Holland
tätigen Meister, wie Oeertgen, Jacob van Amsterdam, Engel-
brechtsen, erinnert. D. hat, wie ich glaube und vor den
einzelnen Tafeln bemerken werde, den Kreis zu weit ge¬
zogen und allerlei Werke aufgenommen, deren holländische
Herkunft zweifelhaft und selbst einige, deren nichthollän¬
dische Herkunft sicher ist.
Die drei ersten Blätter bringen den öfters besprochenen
Triumph des Todes aus dem Palazzo Sclavani zu Palermo.
Die im Text als Hypothese vorgetragene Bestimmung, daß
die — am stärksten an Pisanello erinnernden -- Malereien von
einem Holländer in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts
geschaffen seien, halte ich für unzutreffend, zum mindesten
ist die Stilähnlichkeit mit den — von Vogelsang publizierten
— holländischen Apokalypse-Miniaturen keineswegs über¬
zeugend.
Auf der vierten Tafel ist die miniaturartig kleine
Madonna aus der Ambrosiana abgebildet, auf die ich im
Repertorium f. Kunstw. (XXII, S. 331) hingewiesen habe.
D. beschriftet die Abbildung »dem Geertgen van St. Jans
nahestehend«. Ich habe das Täfelchen stets für ein
charakteristisches Original des Holländers gehalten und
halte es noch dafür. Die Wurzel Jesse, im Besitze des in
Rom lebenden Grafen Stroganoff (früher Sammlung Meazza)
ist auf Tafel 5 abgebildet und mit Recht als »Schule
Geertgens« bestimmt. Das interessante, um 1500 ent¬
standene Bild ist, wie ich vermute, eine Jugendarbeit Jan
Mostaerts, dessen Abstammung von Geertgen auch sonst
bemerkbar ist. Die Faltenlinien, der Ausdruck, die Hand¬
form, die etwas geckenhafte Kostümierung führen zu dieser
Vermutung. Die sechste Tafel bringt die Kreuzigung in
den Uffizien, von der neuerdings mehrmals die Rede war.
Von dem um 1510 wahrscheinlich in Holland tätigen
Schöpfer dieser Kreuzigung, dem Meister der Amster¬
damer Virgo inter virgines, sind etwa zwölf andere Ar¬
beiten nachweisbar, die man am vollständigsten in der
Zeitschrift Onze Kunst (August igo6, S. 39) aufgezählt
findet. Das größte Werk des Malers wird im Bowes-
Museum in Nordengland bewahrt, das feinste im Salz¬
burger Museum. D. nennt aus der Reihe nur zwei, nämlich
die Beweinung Christi in der Sammlung Le Roy in F'aris
und die Kreuzigung ln der Sammlung Glitza zu Hamburg.
Auf Tafel 7 findet man Gerard Davids Frühwerk, die
Kreuznagelung, die der Lady Layard gehört. D. setzt hinter
die von v. Bodenhausen und sonst, soweit ich sehe, aner¬
kannte Bestimmung ein Fragezeichen und betont richtig
den holländischen Charakter der Tafel.
Die beiden Flügel mit Paradiesdarstellungen aus der
venezianischen Akademie, die auf den Blättern 8 und 9
mit der Bezeichnung »Schule des Hieronymus Bosch
erscheinen, möchte ich für Originale von der Hand des
großen Träumers halten. Allerdings mit Vorbehalt. Ich
entsinne mich der Bilder nicht genau und urteile haupt¬
sächlich nach den Abbildungen. Diese Flügel scheinen
doch den ähnlichen Stücken im Escurial an Qualität gleich
zu stehen. Von Jan Mandyn bringt die zehnte Tafel eine
signierte, übrigens recht schwache Bosch-Nachahmung, die
Dollmayr 1898 im österreichischen Jahrbuch schon ver¬
öffentlicht hat. Dollmayr hat diesem Gemälde aus Palazzo
Corsini zu Florenz schon mehrere stilverwandte Stücke
angereiht.
Die Legendenszenen aus der Geschichte der hl. Agnes
und der hl. Katharina, im Palazzo reale in Genua (Taf. 11,12),
gehören mit zwei Tafeln in der Straßburger Galerie, die
Dülberg irrtümlich als Kopien nach den Genueser Stücken
bezeichnet, zu einem großen Altar. Den Meister setzt D.
etwas zu früh an (um 1480). Um 1500 wäre richtiger. Ob
dieser Maler ein Holländer war, lasse ich dahingestellt.
Wahrscheinlich hat er in Oberitalien gearbeitet, weil alles,
was ich von ihm kenne, aus Italien kommt oder noch ln
Italien sich befindet. Seine Hauptwerke sind eine stattliche
Kreuztragung, die aus Florenz vor einem Jahr in den Lon¬
doner Kunsthandel gelangte, und die Anbetung der Könige,
die als »Girolamo v. Aeken in der Turiner Galerie aus¬
gestellt ist (Alinari P 2, 14804a). Da die Legendenszenen
in Straßburg und Genua, von denen je zwei übereinander
einen Flügel bilden, eine Höhe von 158 cm etwa erreichen,
eine Breite aber von 101 cm, die Tafel in Turin, nach dem
Katalog, 212 cm breit und 155 cm hoch ist, so wäre die
Möglichkeit zu erwägen, ob nicht diese Anbetung der
Könige das Mittelbild zu den Legendenszenen ist.
Die mittelmäßigen Leinwandbilder im Museo civico
von Cremona (Taf. 13, 14) mit Szenen aus der Hiobs¬
geschichte sind vielleicht holländisch. Sicher ist das nicht.
Die anscheinend bedeutende Beweinung Christi aus dem
Museo nazionale zu Palermo (Taf. 15) kann nach der wenig
gelungenen Abbildung nicht recht beurteilt werden.
Die nun folgenden Bilder sind in die holländische
Schule eingereiht, weil ihr Stil den Herausgeber mehr
oder minder stark an die Kunst des Cornelis Engel-
brechtsen erinnerte, ln allen Fällen begnügt sich Dülberg
mit der vorsichtigen Unterschrift »dem C. Engelbrechtsen
verwandt« oder ähnlich. Die elegant und schwungvoll
komponierte Beweinung Christi in der Galerie von Turin
(Taf. 16) steht freilich anderen niederländischen Werken
aus der Zeit um 1510 weit näher als den beglaubigten
Schöpfungen des Leidener Meisters. Denselben Stil zeigen,
um nur einige Hauptwerke zu nennen, zwei Kreuzigungs¬
darstellungen in der Münchener Pinakothek und im erz-
bischöflichen Museum zu Köln, sowie ein prächtiger Altar
mit der Anbetung der Könige in der Brera zu Mailand.
Die Arbeiten dieses wohl südniederländischen Malers sind
aus dem großen Werk des Herr! met de Bles herauszu-
11
8o
BÜCHERSCHAU
lösen. »Verwandt dem Hieronimus Bosch würde ich die
Vermutung des hl. Antonius in der Galerie Borromeo
nennen (Taf. 17). Uber den in der Abbildung ziemlich
undeutlichen hl. Christoph aus der Sammlung Chiaramonte
Bordonaro (Taf. 18) wage ich nicht bestimmt zu urteilen.
Dem Engelbrechtsen nahe, wie Diilberg, finde ich die
kleinen Tondi — David und Abigail, Gideon — in der
Carrand-Sammlung zu Florenz (Taf. ig, 20'. Keinerlei Zu¬
sammenhang mit dem Leidener Meister zeigen mir der
Ölberg, der dem Grafen Stroganoff gehört, stimmungsvoll
in der Landschaft, aber schwach in der Zeichnung der
Figuren (Taf. 21), ferner die nnbedei.iende, wohl noch dem
15. Jahrhundert angehörige Kreuzigung in der Corsiniana
zu Rom (Taf. 22), endlich die beiden Flügel mit weiblichen
Heiligen in Pisa (Taf. 24, 25).
Das Werk eines Brügger Meisters, nämlich des Jan
Provost, ist die in einer Kirche auf dem Altar stehende
Madonna, ein Bild, das durch sein ungewöhnliches Motiv
und die Anmut der Marienfigur fesselt (Cremona, Taf. 23),
Das Triptychon mit der Kreuzigung im Mittelfelde, der
Ausstellung und Dornenkrönung Christi auf den Flügeln,
in Turin (Taf. 26, 27) ist öfters in der Literatur erwähnt
worden, stets im Zusammenhänge mit einer Kreuzigung
im Staedelschen Institute zu Frankfurt. Mit schwach be¬
gründeter Hypothese nennt Dülberg diesen Maler, der
wirklich ein Holländer zu sein scheint, Hughe Jacopszoon
und reiht irrtümlich andere Bilder hier an, dabei, was ganz
unverständlich ist, das berühmte Hauptwerk des kölnischen
Meisters der hl. Sippe, die figurenreiche Kreuzigung in
Brüssel.
Herr Baron Tücher (jetzt in Wien, vorher in Rom)
besitzt drei interessante Passionstafeln, die Geißelung
Christi, Beweinung und Kreuzigung, die von der Münchener
Renaissanceausstellung her weiteren Kreisen bekannt sind.
Dülberg veröffentlicht diese Bilder mit der fragwürdigen
Bestimmung Leidener (?) Arbeit gegen 1505« (Taf. 28,29,30).
Von den vier Zeichnungen, die wir unter dem be¬
rühmten Namen des Lucas van Leyden finden, hat der
aufwärts blickende Männerkopf aus den Uffizien nicht das
geringste mit dem holländischen Meister zu tun, ist viel¬
mehr italienisch (Taf. 31), dagegen scheint mir das eben
dort bewahrte Brustbild eines Mannes, Nr. 1325 (Taf. 32),
ein charakteristisches, vielleicht nicht tadellos erhaltenes
Original von Lucas zu sein, wie die ganz einwandfreie
und sehr schöne Studie zu dem Kupferstiche B. 10, eben¬
falls in den Uffizien (Taf. 33). Das weichliche Porträt
eines Jünglings in Seitenansicht (Museo Correr zu Venedig,
Taf. 34) halte ich für eine Nachahmung aus der Zeit um
1600. Fine dankenswerte Beigabe ist ein unbeschriebener
Ornamentstich des Lucas aus derselben Sammlung (Taf. 35).
Die Kreuzigung aus dem Museo civico von' Verona,
mit effektvollen Kontrasten groß angelegt, aber nichts
weniger als sorgfältig durchgebildet, steht in der Tat der
Kunst des Lucas van Leyden sehr nahe (Taf. 36). Meine
Bestimmung eines harten Triptychons im Palazzo Durazzo-
Pallavicini zu Genua anerkennend, publiziert D. die Ma¬
donna mit dem hl. Franz und Stiftern auf den Flügeln
unter dem Namen des Meisters der Magdalenen-Legende
(Taf. 41) und versetzt diesen Maler irrtümlich unter die
Holländer. Die Komposition des Mittelfeldes ist entlehnt,
sie kommt öfters vor und geht, wie ich glaube, auf Bernaert
van Orley zurück. Zu vergleichen für die Komposition
wären das Triptychon vom Meister der Magdalenen-
Legende in der Sammlung des Chev. Mayer zu Antwerpen,
die Madonna in der versteigerten Sammlung Rinecker
(Auktion Köln 1888, Nr. 8), eine Bildweberei in der Pariser
Sammlung Le Roy (abg. Les Arts November IQ02), ein
Flügelaltärchen in der Sammlung Beurnonville (Auktion,
Paris 1883), die Tafel mit den Freuden Mariä in der
Galerie Colonna zu Rom und eine Madonna aus der
Sammlung Breuken zu Wewer, die sich zurzeit im Münchener
Kunsthandel befindet. Wenn D. die Komposition in der
hier angedeuteten Art verfolgt hätte, wäre er wahrscheinlich
nicht auf den Gedanken gekommen, den Maler des Genueser
Triptychons für einen Holländer zu erklären.
Auf Tafel 42 ist eine Anbetung der Könige aus dem
Museum zu Verona publiziert, deren Replik im Kaiser-
Friedrich-Museum zu Berlin bekannter ist. Den Stil¬
zusammenhang mit dem Meister von Flemalle hat schon
V. Tschudi in seinem Aufsatz im Jahrb. d. preuß. Ksts.
erkannt. Fin schwacher Anklang an Jacob van Amsterdam
gibt dem Herausgeber ein gewisses Recht, das Bild an
dieser Stelle vorzuführen. Mit vielen stark bewegten
Figuren gefüllt, etwa in der Art des Braunschweiger
Monogrammisten komponiert, ist die Darstellung des
Turmbaues von Babel aus der Akademie zu Venedig, die
— schwerlich richtig — Jan Swart van Groningen zu¬
geschrieben ist (Taf. 43).
Festeren Boden unter den Füßen haben wir bei Be¬
urteilung der beiden Bildnisse von Jan van Scorel in der
Doria-Galerie zu Rom — Agathe van Schoenhoven — und
in der Lochis-Galerie zu Bergamo — des schönen Knaben¬
bildnisses. Fben so wohlgesichert und allgemein an¬
erkannt ist das Hauptwerk des Jacob Cornelisz auf italieni¬
schem Boden, das Neapolitaner Triptychon von 1512, das
hier vortrefflich, mit drei Teilstücken auf besonderen
Blättern, abgebildet ist (Taf. 37—40).
Der Text Dülbergs entschädigt reichlich für kleine
Lücken in der Monumentenkenntnis durch anschauliche Dar¬
stellung und feinfühlige Würdigung der Kunstwerke.
Friedländer.
Herausgeber und verantwortliche Redaktion: F. A. Seemann, Leipzig, Querstraße 13
Druck von Frnst Hedrich Nachf., a. m. b. h., Leipzig
f'M. MALJAW):»
BOJARIN IM- rESTSCttMüCK
^EJfTSCH'RirT FÜR BILOE'NÜE KUKST W{S%
»II
DAS KAISER-FRIEDRICH-MUSEUM DER STADT MAGDEBURG
Von Alfred Haoelstanoe
ES ist kein schlechtes Zeichen der Zeit, wenn
eine Provinzialstadt wie Magdeburg ein muster¬
gültiges Museum sozusagen aus dem Boden
stampft. Nicht viel mehr als zwölf Jahre liegen die
bescheidenen Anfänge der Magdeburger Kunstsamm¬
lung zurück, und heute macht sie bereits in Fachkreisen
ernstlich von sich reden, so daß manchem Leiter alt¬
ehrwürdiger und weit größerer Schwesterinstitute beim
Anblicke des Neugeborenen ein ebenso erstauntes
wie anerkennendes »Donnerwetter« über die Lippen
gleitet. Und wie schafft man so etwas? werden aus¬
wärtige Gemeindeverwaltungen nun fragen. Ganz
einfach auf dem Wege, daß man sich zunächst einmal
einen fähigen Museumsdirektor verschafft. Der wird
dann auch schon ein gutes Museum schaffen, voraus¬
gesetzt, daß er bei denen, die in der Wahl ihrer
Eltern vorsichtig waren, offene Türen und vor allem
offene Beutel findet. Aber zu einem tüchtigen Mu¬
seumsdirektor gehört auch weit mehr, als sich der
Durchschnitts-Gebildete vielleicht darunter vorstellen
kann. Da heißt es zunächst ein kenntnisreicher
Kunstgelehrter sein; ferner bedarf es allgemein kultur¬
historischer undspezieller Antiquitätenkennerschaft; man
muß ein praktischer Verwaltungsbeamter, geschickter
Kaufmann und geschmackvoller Dekorateur sein; man
muß als feinfühliger Ästhet ebenso seinen Mann
stehen wie als praktischer Beurteiler der verschieden¬
sten gewerblichen Techniken. Daß derartig vielseitige
Naturen nicht rudelweise anzutreffen sind, kann man
sich leicht denken. Um so glücklicher darf sich
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XVIII. U. 4
Magdeburg schätzen, daß es in der Person Theodor
Volbehrs einen Museumsleiter besitzt, der sein ganzes
vielseitiges Wissen und Können daran gesetzt hat,
um der Stadt ein Museum zu sichern, das, wenn es
auch mit alten staatlichen und fürstlichen Sammlungen
nicht konkurrieren kann, so doch wenigstens unter
den städtischen Schwesteranstalten augenblicklich in
Deutschland obenan steht. Wenn das Magdeburger
Kaiser-Friedrich-Museum nicht nur inhaltlich, sondern
auch rein museologisch so viel des Interessanten bietet,
so ist das zweifellos in erster Linie seinem tüchtigen
Direktor zu verdanken, der Hand in Hand mit einer
einsichtsvollen Bauleitung bemüht gewesen ist, aus
dem Bestehenden das Beste zu machen.
Was aber bestand, das war ein Bauprojekt des
Wiener Architekten Ohmann, das im Laufe der Aus¬
führung mancherlei Abänderungen erfuhr, die sich aus
dem Anpassen an verschiedene neue museologische
Bedürfnisse und Anforderungen ergaben. Diesen An¬
forderungen gerecht geworden zn sein, ist das Ver¬
dienst des Stadtbaurates Peters sowie des Stadtbau¬
meisters Weiß. Wie man dazu gekommen ist, einem
Wiener Künstler den Bau in Auftrag zu geben, ist
eine merkwürdige und zugleich lustige Sache. Als
man nämlich die Konkurrenz ausgeschrieben hatte,
gefiel unter den eingelieferten Projekten besonders
eines recht gut, bei dessen näherer Würdigung aber
eine Stimme laut wurde >Das kommt mir so bekannt
vor«. Und wirklich, wer die Anlage und Disponie-
rung des Reichenberger Museums kannte, für den
12
DAS KAISER-FRIEDRICH-MUSEUM DER STADT MAGDEBURG
■' 'erlag es keinem Zweifel, aus welchen Quellen der
; ■ a'cffende Architekt getrunken hatte. Also wurde
".. n der Nachempfinder ausgeschaltet, und man
••^andte sich nunmehr direkt an den Schöpfer des
ikeichenberger Museums selbst, air Friedrich Ohmann.
So nahe die Verwandtschaft mit dem Reichenberger
Museum in bezug auf die Grundrißlösung ist, so
wesentlich verschieden sind die beiden von ein und
demselben Künstler geschaffenen Sammlungsgebäude
in bezug auf ihr äußeres Kleid. Beim Magdeburger
Kaiser-Friedrich-Museum merkt man so recht, dal3
der Künstler jetzt in einer Übergangszeit angelangt
ist, wo er zögernd nach Neuem tastet, während er
sich dabei, um den Halt nicht zu verlieren, fester
denn je an den Stützen, die ihm unserer Väter
Werke« liehen, anklammert. Und so sagt er ja auch
von sich selbst, daß er am Ausgangspunkte einer
neuen Epoche stehend, rekapitulierend noch die schönen
Seiten älterer Epochen möglichst stark zu erfassen
bestrebt war«. Der Hauptton liegt bei der ganzen
malerischen Architektur zweifellos auf dem die Ge¬
samtanlage sehr stark zusammenhaltenden Eckturme,
der in einer entzückenden Silhouette in die Höhe
gluckst, wie die aufschießenden feuchten Massen einer
Wasserkunst. Nach zwei Seiten hin lehnen sich dann
die beiden Haupttrakte der Anlage an den Turm an;
nach der Oranienstraße zu ein symmetrisch angeord¬
neter Flügel mit vielen und großen Lichtquellen, die
sich sogar bis in das schräg abfallende Dach hinein
verlieren. Daß die Bedachung hierdurch in nicht
sehr günstiger Weise aufgelockert wird, kann nicht
bestritten werden. Allein diese Fenster waren beim
ursprünglichen Entwürfe auch nicht vorgesehen ge¬
wesen; und ihre Notwendigkeit stellte sich erst heraus,
als der Architekt zu seinem nicht geringen Staunen
bemerkt hatte, daß das Magdeburger Museum doch
Bilder besitzt, die es nicht nötig haben, in dämmern¬
dem Halbdunkel ihre Existenz zu fristen. Bei dem
anderen, nach der Kaiserstraße zu gelegenen Flügel
hat der Künstler keine einheitliche Fassadengliederung
gewählt; und das mit Recht. Denn während die
Nordfront des Gebäudes für die Werke der Malerei
und Plastik reserviert ist, sind hier im Westflügel die
kunstgewerblichen Sammlungen untergebracht. Und
da wäre es doch wahrhaftig töricht gewesen, wenn
der Architekt die Fassade nicht sozusagen von innen
heraus entwickelt haben würde. Er mußte also, wenn
er nicht widersinnig schaffen wollte, das jeweilige
äußere Gewand immer mit dem Stil der Epoche in
Einklang bringen, die im Inneren der betreffenden
Räumlichkeiten vorgeführt wird. Der scheinbare Stil¬
wechsel beruht somit in diesem Falle einmal aus¬
nahmsweise auf wirklichem Stilgefühl, was man ja
allerdings bei den meisten eklektischen Arbeiten dieser
Art sonst nicht sagen kann.
Doch wozu sich so lange beim äußeren Bau auf¬
halten. Suchen wir doch lieber erst eine Vorstellung
des Innenraumes zu gewinnen; dann werden wir die
Form des Außenkleides erst völlig begreiflich finden.
Wir steigen also die wenigen Stufen, die von der
Straße her zu der vor dem Haupttore vorgelagerten
Plattform führen, hinan, grüßen im Vorübergehen
das von Hans v. Glümer geschaffene Kaiser-Friedrich-
Denkmal und treten durch ein Renaissance-Portal in
das Vestibül ein, das im ersten Augenblicke einen
etwas beengenden Eindruck auf einen macht, und
zwar in um so höherem Grade, je mehr man sich
in diesem Augenblicke an die prunkvollen, raum¬
vergeudenden Treppenanlagen älterer und sogar auch
noch neuerer Museen vgl. das Kaiser-Friedrich-
Museum in Berlin — erinnert. Den ersten Gruß in
diesem Vorraume entbietet uns »Die Kunst« von Hugo
Kaufmann, dessen Originalmodell zu der bekannten
Münchener Brückenfigur hier eine sinngemäße Auf¬
stellung gefunden hat. Dann nimmt uns sofort der
Genius loci gefangen in einem dem Vestibül ange¬
gliederten Raume, der den Manen Otto von Guerickes
geweiht ist. Magdeburgs gelehrten Bürgermeister,
der in den schweren Prüfungstagen des Jahres 1631
die schwankenden Geschicke der todgeweihten Stadt
leitete, kann man mit Fug und Recht den ersten
deutschen Ingenieur nennen. Grund genug, um einem
solchen Manne in einem städtischen Museum einen
Ehrenplatz der Erinnerung zu weihen ; und das ist
hier geschehen, soweit es sich irgend machen ließ.
Was an originalen Dokumenten im städtischen Archiv
vorhanden war, hat hier Aufnahme gefunden. Eine
Nachbildung der Guerickeschen Luftpumpe interessiert
uns ganz besonders; ferner eine Wanduhr, die wahr¬
scheinlich auch von dem erfindungsreichen Bürger¬
meister konstruiert worden ist, Möbel aus seiner Um¬
gebung oder des weiteren dann aus seiner Zeit.
Stärker noch als in diesem Raume klingen die
alten heimischen Weisen wieder in dem Zentralpunkt
des nach der Kaiserstraße zu gelegenen westlichen
Flügels, in der Magdeburger Halle, in die wir nun¬
mehr durch einen mit altem Zunftgerät ausgeschmück¬
ten Vorraum eintreten. Die große Halle zieht sich
durch zwei Stockwerke hindurch, öffnet sich nach
der Westseite zu in einer Doppelreihe übereinander¬
liegender Arkaden und schließt nach oben in einem
tonnenartig gewölbten Dache ab, das mit Emaille-,
Kathedral- und Wellglas ausgelegt ist. Nach der
Südseite hin klingt der prachtvolle Raum in zwei
übereinander angeordneten kapellenartigen Apsiden
aus, die für die kirchliche Kunst reserviert worden
sind. Die ganze Ostwand ist in ihrer gesamten Länge
mit einem höchst eindrucksvollen und weit über den
Durchschnitt aller derartigen Geschichtsmalereien hin¬
ausragenden Triptychon Arthur Kampfs bedeckt, der
hier in Freskotechnik Szenen aus dem Leben Ottos
des Großen vorgeführt hat. In rhythmischem Zu¬
sammenklang der linearen Elemente sowie in feinen
farbigen Stimmungen bieten diese Wandbilder Kampfs
ebensoviel Bewundernswürdiges wie in der kraftvollen
Einzelzeichnung, aus der sich die Gesamtkomposition
zusammensetzt. Diese Fresken geben den farbigen
Grundakkord ab für den ganzen großen Raum, dessen
sonst sehr sparsam gehaltene Bemalung in Decke und
Apsiden sich der Farbenskala dieser Wandbilder völlig
anpaßt resp. gänzlich unterordnet. Mitten in der
Halle steht, in den Größenverhältnissen prächtig mit
GOTISCHES ZIMMER AUS SÜDTIROL. KAISER-FRIEDRICH-MUSEUM DER STADT MAGDEBURG
ZIMMER DER DEUTSCHEN RENAISSANCE. KAISER-FRIEDRICH-MUSEUM DER STADT MAGDEBURG
12
DAS KAISER-FRIEDRICH-MUSEUM DER STADT AlAGDEBURG
. i"i Griindriß des Raumes harmonierend, ein in Ori-
^lahönung gefaßter Abguß des Erzbischof-Ernst-Denk-
i-^ais von Peter Vischer, das hier eine weit glücklicliere
o’.fstellung gefunden hat, als sie dem Originale im
Magdeburger Dome zuteil geworden ist. Besonders
günstig wirkt dabei noch, daß man vom Obergeschoß
auch die liegende Figur des Kirchenfürsten so bequem
iu gleicher Weise, so daß hier in Siegelabdrücken,
Münzen, Urkunden, Bildnissen und Prospekten ein
übersichtliches Bild der wechselvollen Geschichte
Magdeburgs gegeben werden konnte.
Um diesen der engsten Heimat gewidmeten Raum
gruppieren sich nun die kunstgewerblichen Samm¬
lungen, deren Anordnung dem Museum wohl den Ruf
ZIMMER IM BAROCKSTIL. KAISER-FRIEDRICH-MUSEUM DER STADT MAGDERURG
und leicht zu übersehen imstande ist. Mit diesem
Abguß sowie mit dem am Kopfende der Magdeburger
Halle aufgestellten Nachgusse der »Trauernden Mag¬
deburg des Wormser Lutherdenkmales hat sich Kom¬
merzienrat Polte ein bleibendes Denkmal von Heimat¬
freude und Kunstsinn gesetzt. Für die Füllung der
Pultschränke, die sich an den Wänden entlang ziehen,
sorgten Stadtarchiv, Stadtbibliothek und Münzkabinett
eines neuen Sammlungstypus eintragen dürfte. Es ist
nämlich hier nicht die in den meisten Kunstgewerbe¬
museen übliche Aufstellung nach Material und Technik,
noch auch die in sogenannten Altertumsmuseen sich
mehr und mehr einbürgende Anordnung nach Zweck
und Bestimmung des Gerätes gewählt worden, sondern
Direktor Volbehr hat hier in chronologischer Reihen¬
folge eine stilistische Entwicklung des deutschen Heims
ZUNFTHALLE KUPFERSTICHSAMMLUNG UND BÜCHEREI DETA'L AUS DEM EMPIRERAUM
DAS KAISER-FRIEDRICH-MUSEUM DER STADT MAGDEBURG
,'Tcii seinen mannigfachen Ausstattiingsgegenständen
_ ;eben, wie sie sich logischer, konsequenter iiml
Ci nni trefflicher kaum vorführen Iaht. Die so höchst
■ • ressante Kultur des Hauses tut sich hier in ge¬
schlossenen Einzelbildern vor uns auf, aus denen wil¬
den Charakter der jeweiligen Zeit, die vielseitigen
sich in ihr kreuzenden Interessen und Bestrebungen
wie im Spiegel schauen und studieren können. Die
Kunst aus der sie gebärenden Zeitei^che heraus ver¬
stehen, und aus der Kunst wieder auf den geistigen
Gehalt der Zeit
schließen, das ist bei
einem derartigen Ar¬
rangement ebenso
leicht wie amüsant.
Man wird nicht mü¬
de und gelangweilt
durch ein sich stets
gleich bleibendes
Sujet, durch eine bis
in die letzten Spiel¬
arten hinein verfolg¬
te und durchge¬
peitschte Technik,
durch das ewige
Einerlei einer ganz
bestimmten Zweck¬
gestaltung, sondern
man entdeckt hier
eine neue Beziehung
zwischen dieser und
jener Kunsttechnik,
da eine interessante
gegenseitige Beein¬
flussung der Natio¬
nalitäten, dort einen
noch wenig beach¬
teten Zusammen-
hang gewisser poli¬
tisch historischer
Vorgänge mit ganz
bestimmten neu in
die Erscheinung tre¬
tenden Gebrauchs¬
gegenständen.
Schon das erste
Zimmer, eine goti¬
sche Stube aus Süd¬
tirol, atmet so völlig
den Charakter seiner ,
Entstehnngszeit, daß man sich mit Leichtigkeit ein
Bild von der Kultur jener Tage zu machen imstande
ist. Da haben wir im profanen Mobiliar die Ab¬
hängigkeit von der so stark dominierenden kirchlichen
Kunst festzustellen; wir sehen im Wandteppich mit
seinen eingewebten wunderlichen Tierfiguren sich das
merkwürdige Interesse widerspiegeln, das die Zeit an
der ihr noch unbekannten Tierwelt ferner Zonen nahm,
von der kühne Seefahrer den verwundert zuhorchen¬
den Landratten erzählten. Dürers ^Nashorn-q das an
der Wand hängt, ist uns ein weiteres Bindeglied in
dieser Gedankenkette; ebenso wie sein Holzschnitt
ans der Apokalypse, der die gegenüberliegende Wand
schmückt, uns von der schweren Seelenangst erzählt,
die sich um die Wende des 15. und 1 6. Jahrhunderts
wie ein Alpdruck auf die Gemüter gelegt hatte. Doch
wozu diese Gedankenkette hier Glied für Glied vor¬
überlaufen lassen. Das hieße ja dem bereits erschie¬
nenen Führer Konkurrenz machen wollen. Doch
sei diese inhaltlich wie typographisch mustergültige
Publikation gleich an dieser Stelle rühmend genannt.
Dr. Volbehr hat auch
hier etwas geradezu
Vorbildliches ge¬
schaffen, an dem sich
weit ältere und be¬
rühmtere Sammlun¬
gen ein Beispiel
nehmen können.
Doch nehmen
wir unseren Rund¬
gang wieder auf. Wir
betreten, nachdem
wir das gotische
Zimmer verlassen
haben, eine Anzahl
von Kojen, in denen
die Gegenstände
Aufstellung gefun¬
den haben, die ihre
EntstehungderÜber-
gangszeit zwischen
Gotik und Renais¬
sance verdanken.
Möbel, Eisenarbei teil
und Beleuchtungs¬
körper , Glasmale¬
reien, Gewebe und
Spitzen, Leinenqua¬
sten, Bucheinbände,
Plaketten und Siegel¬
abdrücke, Tonkrüge,
Lederarbeiten und
Schmuckgegenstän¬
de, Miniaturen,
Schlüssel, Tischgerät,
Gläser und Orna¬
mentstiche: das alles
spricht unsan in einer
höchst geschickten,
aber doch nicht im
geringsten aufdringlich dekorativen Aufstellung. Von
Raum zu Raum wächst das Interesse mit der Vielgestaltig¬
keit der Erscheinungen; man ermüdet nicht, weil man
stets zu neuen Vergleichen zwischen den sich neben
einander darbietenden verschiedensten Techniken an¬
geregt wird; man ist erfreut und ergötzt durch die
Geschlossenheit der Kulturbilder, die sich vor dem
Auge des Beschauers von Fall zu Fall auftun. Will
man sich eingehender über die betreffende Epoche,
deren Leistungen man grade besichtigt, orientieren, so
greift man zum Führer, der in praktischer Anord-
ZIMMER IM STIL DER MARIE ANTOINETTE
KAISER-FRIEDRICH-MUSEUM DER STADT MAGDEBURG
DAS KAISER-FRIEDRICH-MUSEUM DER STADT MAGDEBURG
87
BIEDERMEIERZIMMER. KAISER-FRIEDRICH-MUSEUM DER STADT MAGDEBURG
nung immer mit einer bestimmten Ziffer auf den
Standort hinweist. Diese Ziffer des Standortkataloges
kehrt natürlich auf den Etiketten wieder, so daß das
Auffinden der im Führer genannten Gegenstände
kaum irgendwelche Schwierigkeiten bietet. Die Eti¬
ketten selbst sind, damit sie nicht beleidigend ins
Auge fallen, in einem beigefarbigen Ton gehalten,
während der Aufdruck je nach der größeren oder
geringeren Belichtung des jeweiligen Sammlungsob¬
jektes in brauner oder schwarzer Farbe gewählt ist.
Im Charakter der Typen
hat man sich dem jedes¬
maligen Zeitstile anbe-
quemt, so daß für die
Räume, die die Periode
der Gotik repräsentieren,
eine Schwabacher Schrift
gewählt ist, für die Etiket¬
ten der Renaissanceepoche
die Antiqua usw.
Aus der Zeit der Hoch¬
renaissance ist im weiteren
Verlauf der Entwickelungs¬
reihe wieder ein vollstän¬
diges Zimmer zu sehen mit
reicher Wandvertäfelung
und prächtig geschnitzter
Decke, die laut Inschrift
auf das Jahr 1590 zu da¬
tieren ist. Die Holzverkleidung stammt ebenso wie die des
gotischen Zimmers aus Südtirol und wurde gleich dieser
von Frau GeheimratPoetsch-Porse gestiftet. Teller, Zinn-
und Messinggefäße bekrönen die Gesimse. Für das 17.
Jahrhundert konnte kein Beispiel eines geschlossenen
Wohnraumes geboten werden, doch gibt hier eines
der seltenen Puppenhäuser jener Zeit gewissermaßen
in Form eines bis in alle Einzelheiten durchgearbei¬
teten Modells einen sehr bequemen Überblick über
die Stilwandlungen, die das Mobiliar wie die Gerät¬
schaften während und
nach der Zeit des dreißig¬
jährigen Krieges durch¬
machten. Daß wir uns
in einer unruhvollen Epo¬
che befinden, in der Säbel
und Flinte das Machtwort
sprachen, künden uns die
in der Entwicklungsreihe
hier zum erstenmale auf¬
tretenden Feuer- und Hieb¬
waffen, von denen etliche
kunstgewerblich bedeut¬
same Exemplare hier
Aufstellung gefunden ha¬
ben. Was sonst an Mo¬
biliar in diesem Raume
des 1 7. Jahrhunderts unter
gebracht ist, mutet uns wie
GEMÄLDESAAL MIT BOCKLINS TRITONENFAMILIE
IM KAISER-FRIEDRICH-MUSEUM DER STADT MAGDEBURG
DAS KAISER-FRIEDRICH-MUSEUM DER STADT MAGDEBURG
; I Hjgelbild der gleiclizeitigeii Architektur an:
behäbig und bedächtig, mit überwuchernder
.•eKoradou und einer Vorliebe für massig wirkenden
imk.
Aber dann kommt die glänzend heitere Zeit des
Sonnenkönigs Ludwig XIV. Ein Spiegelsaal mit
reicher, geschnitzter und vergoldeter Wanddekoration
nimmt uns auf. Dekorative Malereien über Türen
lind Fenstern, ein in allen Farben des Sonnenspektrnms
schillernder Kristallkronlenchter, prächtig geschnitzte,
über und über vergoldete Konsoltische, rotseidene
Fenstervorhänge: das alles
gibt uns einen Begriff von
der strahlenden Herrlich¬
keit, mit der die Fürsten
jener Tage sich zu um¬
geben wußten. Und wenn
wir uns nun an den Kost¬
barkeiten dieses Raumes
übrigens ebenfalls wie¬
der eine Stiftung der Frau
Geheimrat Poetsch - Porse
— satt gesehen haben,
dann umfängt uns im
Weiterschreiten der pi¬
kante, graziöse und schel¬
mische Geist des leichten,
tänzelnden Rokoko. Ga¬
lanteriedegen stehen in
einer Ecke, mul man sieht
es ihnen an, dalt sie ihre
menschenmordenden Ge¬
lüste abgelegt haben und
nur noch den Anspruch
machen, als dekorative
Ausrüstnngsgegenstände
des salonfähigen Kavaliers
zu gelten. Gebrechliches
Porzellan blinkt durch
die Scheiben der Glas¬
schränke; silberne Taba-
tieren und vergoldete
Kammerherrnschlüssel
zaubern uns die Porträts
ihrer ehemaligen Träger
vor das Auge des Geistes
und geschwätzige Fächer flüstern von liebelüsterner
Koketterie pikanter Damen.
Und als man sich ansgeschnörkelt und ausgetor¬
kelt hatte, da erscholl wie so oft vordem und noch
so oft nachdem mal wieder der Ruf »Zurück zur
Natur< , und man nahm nun im Louis seize-Stil wieder
ausgesprochen naturalistische Motive auf, die in ihrer
klassisch-symmetrischen Anordnung uns wie Spätlinge
der Dekorationsknnst des alten Rom anmuten. Eine
ausgezeichnete Probe ans dieser Stilperiode bietet uns
das nun folgende Zimmer, das einem süditalienischen
Palazzo entstammt. Kostbare Schnitzarbeit in mehr¬
facher Vergoldung auf weißem Grund zieht sich um
die hohen Spiegel herum, bedeckt die Füllungen der
Türen und rahmt die gemalten Supraporten ein. Gold¬
gelbe Wandbespannung mit eingewebtem Ornament
gibt den Grund dazu ab und klingt mit der Farbe
der Holzvertäfelung zu einem festlich heiteren Akkord
zusammen. Das Museum kann sich wirklich glück¬
lich schätzen, eine so vornehme und selten schöne
Zimmerausrüstung aus der Zeit der gekrönten Dul¬
derin Marie Antoinette zu besitzen. Der Dank dafür
gebührt dem bereits verstorbenen Kommerzienrat
Hubbe, der die nicht unbeträchtliche Kaufsumme für
dieses kostbare Gemach erledigte.
Auch im nächsten Raume, der dieTage der Empirezeit
wieder vor uns erstehen
läitt, haben wir einer hoch¬
herzigen Stifterin zu ge¬
denken, nämlich der Frau
Geheimen Kommerzienrat
Krupp, die dem Museum
15000 M. zur Verfügung
stellte zum Ankauf von
Miniaturporträts. Von die¬
sen entzückenden Klein¬
malereien sehen wir hier
eine ganze Anzahl präch¬
tigster Exemplare ausge¬
legt. ln den Nachbar¬
vitrinen stoßen wir dann
auf verschiedene Proben
von Eisenschmuck, und
wir erinnern uns dabei
der Tage der Not und Ent¬
behrung, die infolge der
Schreckensherrschaft des
ländergierigen Korsen über
unser Vaterland dahin¬
brausten. Wie sehr dieser
Ich-Mensch übrigens auch
nach Seiten des Schmuck¬
stiles hin seiner ganzen
Mitwelt den Stempel seines
eigenen Geschmackes auf¬
zudrücken gewußt hat, das
sagen uns die Möbel dieses
Raumes deutlich genug.
Schade, daß der Raum
als solcher sich dem
Empirecharakter so ganz
und gar nicht anpaßt; allein der Architekt war trotz
eindringlichster Vorstellungen der Museumsverwaltung
nicht dazu zu bewegen, diesen eingewölbten, durch
Säulen gestützten Raum anders zu gestalten.
Das nun folgende Biedermeierzimmer ist dafür in
der Raumwirkung um so glücklicher; und die Zeit,
»da der Großvater die Großmutter nahm«, lebt mit
all ihrer Stille, Biederkeit und Bedürfnislosigkeit wieder
vor uns auf, wenn wir in diesem förmlich nach
Lawendel und Tymian duftenden Zimmer Umschau
halten, in dem der philiströse Bürger der vierziger
Jahre seine Pfeife rauchte und seinen Tee trank. Hast
und Unruh, das waren damals wohl unbekannte Worte;
wenigstens ist man versucht, das zu glauben, wenn
man die ellenlangen Briefe liest, die in jener Zeit
MADONNA. TERRAKOTTARELIEF DES 17. JAHRHUNDERTS
Kaiser-Friedrich-Museum der Stadt Magdeburg
DAS KAISER-FRIEDRICH-MUSEUM DER STADT MAGDEBURG
89
geschrieben wurden. Auch die sogenannte »Mikro-
graphie«, die an einer Wand des Zimmers hängt, be¬
stärkt uns in dieser Ansicht. Denn es gehörte doch eine
gute Portion Stumpfsinn und Langeweile dazu, ganze
Druckseiten in diesem minutiösen, von einem unbe¬
brillten Auge kaum zu entziffernden Maßstabe mit
Feder und Tusche nachzuzeichnen. Und wie brav
war man und wie zahm! »Binde dieses Bändchen
alle Morgen früh mit dem zarten Händchen um das
runde Knie«, heißt es auf einem in der Vitrine hier
ausliegenden Strumpfbandpaare. Das klingt anders
als der Fragesatz,
den ich einmal auf
einem dieser im 18.
Jahrhundert vielbe¬
sungenen Gardero¬
bestücke vorfand.
Der lautete; »Que
veux-tu lä-bas, petit
fripon?' Aber, das
war auch Rokoko!
Ehe man das Bie¬
dermeierzimmerver¬
läßt, schreitet man
aneinemOfenschirm
vorüber, der in Stra¬
minstickerei die Fi¬
guren Egmonts und
Klärchens vorführt.
Wir sehen, es ist
die Zeit, die sich an
romantischen Ritter¬
geschichten ergötzte
und mit diesem an¬
fänglich wohl etwas
dilettantisch betrie¬
benen Studium der
deutschen Vorzeit
den Grundstock für
das nun heraufzie¬
hende Zeitalter des
historischen Sinnes
legte. Und mit dem
Interesse an der Ver¬
gangenheit wuchs
auch das Verlangen
nach allen noch
existierenden künst¬
lerischen und kunstgewerblichen Zeugen der ver¬
flossenen Jahrhunderte. Daher das rapide Anwachsen
einer fieberhaften Sammlertätigkeit. Und auch von
dieser charakteristischen Neigung der Zeit können
wir uns ein Bild machen an der Hand der hier ein¬
geschalteten Duvigneau- Stiftung, die uns den Ent¬
wicklungsgang der keramischen Technik von den
ältesten griechischen Vasen an bis auf die neuesten
Erzeugnisse der Kopenhagener Manufaktur klarlegt.
Aber man begnügte sich nicht damit, die Werke der
Vergangenheit zu sammeln, nein man ging in der
Bewunderung sogar so weit, sie bis ins kleinste nach¬
zubilden und umgab sich nun mit einem Hausgerät,
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XVIH H. 4
das alle Motive der Renaissancezeit in getreuer Schüler¬
manier widerspiegelte. Der silberne Kaiserpokal, der
in einer Koje des folgenden Raumes Aufstellung ge¬
funden hat, ist ein kaum zu überbietendes Beispiel
dieser mit alten Motiven so geschickt operierenden
Epoche. Und ähnlich wie dieser Pokal sich aus Re¬
naissance-Elementen seine Formensprache bildet, so
lehnt sich der schmiedeeiserne Kronleuchtei’, der dar¬
über hängt, an die Formenwelt des Rokoko an. Er
steht also, so verschiedenartig er uns in der Ge¬
staltungsweise anmutet, zu jenem Pokale doch in sehr
enger stilistischer
Verwandtschaft, in¬
sofern er gleich je¬
nem einen historisch
reproduzierenden
Stil aufweist.
Aber es schlug,
von vielen mit Sehn¬
sucht erwartet und
mit Jubel begrüßt,
endlich doch die
Stunde der Befreiung
aus den selbstge¬
schmiedeten Ketten
der Nachahmung. An
verschiedenen Orten
regten sich zur glei¬
chen Zeit künstle¬
rische Kräfte, die
neue gangbare Pfade
suchten und auch
fanden. Daß es noch
nicht ganz einwand¬
freie Leistungen wa¬
ren , die uns die
Windelzeit unseres
neuzeitlichen Stiles
bescherte, sehen wir
ja jetzt, wo wir schon
etwas Abstand ge¬
wonnen haben, selbst
ein. Man braucht
nur einen Blick auf
den Scherrebecker
Wandteppich Otto
Eckmannszu werfen,
um die Überzeugung
zu gewinnen, daß die »Führer« am Aufkommen des jetzt
in Grund und Boden verurteilten »Jugendstiles denn
doch nicht so ganz unschuldig sind, als man das in
der Regel meint. Aber »Jugendstil« und Sezessions-
stiL , ja das sind ja auch schon längst verstorbene
Tote; und in einem Zeiträume von sechs Jahren
machen wir heutzutage Stilwandhmgen durch, wie
früher nicht in sechzig oder gar dreimal sechzig.
Welch ein klafterweiter Unterschied zwischen den
kunstgewerblichen Schöpfungen eines Albin Müller und
denen eines Otto Eckmann ! Man betrete das vom
ersteren geschaffene Wohnzimmer, das in der Ent¬
wicklungsreihe der Kultur des Hauses hier das Schhiß-
TONRELIEF DER VERKÜNDIGUNG. 15. JAHRHUNDERT
Kaiser-Friedrich-Museum der Stadt Magdeburg
■3
DAS KAISER-FRIEDRICH-MUSEUM DER STADT MAGDEBURG
d bildet, und man wird erstaunt sein, wie der
'•.luiHclie Ingenieur dem dekorativen Maler auf der
..‘iizen Linie den Rang abgelaufen hat. Es ist über-
liüssig, ein Wort zum Lobe dieses auf der Dresdener
Kunstgewerbeausstellung so viel bewunderten Zimmers
hier anzufügen. Freuen wir uns, daß Frau Geheim¬
rat Poetsch-Porse dem Museum diesen prächtigen
von Magdeburger Kunsthandwerkern ausgeführten
Raum gestiftet hat, der ebenso laut und deutlich vom
Charakter unserer Zeit re¬
det, als es die Zimmer der
früheren Stilperioden vom
Wesen der ihren tun.
Es ist ein sehr instruk¬
tiver Gang, den wir hier¬
mit beenden; ein Gang,
der uns durch vier Jahr¬
hunderte hindurchgeführt
und uns gelehrt hat, mit
wieviel tausend Fäden un¬
sere gegenwärtige Kultur
verknüpft ist mit dem gei¬
stigen Gehalt vorausgegan¬
gener Jahrhunderte. Und
wenn wir nun die Kunst
unserer Tage richtig ver¬
stehen und würdigen wol¬
len, so bleibt uns auch
hier nichts weiter übrig,
als rückschauend die Be¬
dingungen zu erforschen,
die für ihr Entstehen wich¬
tig und wesentlich waren.
Und deshalb schließt sich
hier als zweiter konzen¬
trischer Kreis zunächst ein
Entwicklungsgang der Pla¬
stik an, der naturgemäß
nur in Nachbildungen ge¬
geben werden konnte.
Daß es möglich war, die
hauptsächlichsten Meister¬
werke der Bildhauerkunst
von Myron bis auf Schlü¬
ter hier in getreuen, durch
glückliche Tönung den
(Originalen recht nahe kom¬
menden Abgüssen vorzu¬
führen, das verdankt das
Museum dem schätzens¬
werten Kunstsinn der Herren Kommerzienräte Zuck¬
schwert und Hennige, sowie des Geheimrats Dr. Wolf
und Otto Gruson, die sich in die Kosten dieser reich¬
haltigen Sammlung geteilt haben. Die Aufstellung
muß eine außerordentlich glückliche genannt werden,
und auch die Räume als solche sind von günstigster
Abmessung, insofern als sie infolge einer verhältnis-
tnäßig geringen Höhenentwickelung die Figuren größer
und imposanter erscheinen lassen. Nur in einem
Saale wünscht man die Decke etwas weiter in die
Höhe geschoben zu sehen, nämlich im Michelangelo-
Raume, der die Hauptwerke des Titanen in sehr ge¬
schickter Zusammenstellung bietet. Daß hier die beiden
Helden der Mcdicäer-Gräber etwas eingekerkert er¬
scheinen, ließ sich bei den einmal gegebenen Höhen¬
maßen leider nicht ändern. Sehr gut in der Auf¬
stellung sind die der Abgußsammlung angegliederten
älteren Originalarbeiten, die sich in der Hauptsache
in zwei Abteilungen gliedern, nämlich einmal in die von
Kommerzienrat Arnold gestiftete Terrakottensammlung
und daun in die Gruppe
älterer Bronzearbeiten, die
Kommerzienrat Polte dem
Museum überwiesen hat.
Diese feinen Proben der
alten Kleinplastik stehen
auf schlichten, schwarzen
Sockeln vor einer in vio¬
lettem Rot getönten Wand,
deren warme Farbenfläche
mit den dunklen Bronze¬
tönen prächtig zusammeu-
geht. Auch die Medaillen-
und Plakettensammlung,
die in der Hauptsache
ebenfalls von Kommerzien¬
rat Arnold gestiftet wor¬
den ist, hat hier eine sinn¬
gemäße Aufstellung und
eine den Verhältnissen ent¬
sprechende Aufmachung
gefunden.
Haben wir diese Räume
abgeschritteu und somit
alle Sammlungen des Erd¬
geschosses besichtigd, so
steigen wir die breite Mar¬
mortreppe hinan, werfen
im Vorübergehen einen
Blick auf die herrlichen
im Treppenhause auf-
gehängten alten Gobelins,
die Frau Selma Rudolph
dem Museum geschenkt
hat, und gelangen zum
oberen Stockwerk , aus
dem uns von dem ab¬
schließenden Pfeiler der
Treppenbalustrade herab
der herausfordernd und
spreizbeinig dastehende
Lastträger Constantin Meuniers den ersten Gruß ent¬
bietet. Dieser von Rentier Hermann Goedeeke ge¬
stifteten Probe der sprachgewaltigen Kunst des ver¬
storbenen Belgiers schließen sich in diesem Vorraume
des Oberstocks noch drei weitere an, so daß der erste
Eindruck, den man hier oben empfängt, von nach¬
haltigster Wirkung ist. Auch die im Hintergründe auf¬
leuchtenden dekorativen Wandbilder von Rudolf Kohtz,
eine Stiftung des Vereins »Athene«, tragen das ihre
zur künstlerischen Ausschmückung des oberen Vesti¬
büls bei, von dem aus wir uns nun gleich nach links
MADONNA. TERRAKOTTA. BOLOGNESER SCHULE DES 17. JAHRH.
Kaiser-Friedricli-Museiim der Stadt Magdeburg
DAS KAISER-FRIEDRICH MUSEUM DER STADT MAGDEBURG
wenden, uni hier durch eine Tür einzutreten, die auf
ihrer Supraporte die Aufschrift vKupferstichsauuuIung
und Bücherei« trägt. Ein kleinerer und ein größerer
Raum, beide durch einen offenen Durchgang mit¬
einander verbunden, dienen hier den Zwecken der
Belehrung und künstlerischen Unterhaltung. Das erste
der beiden Zimmer, ein polygonaler Raum mit doppeltem
Seitenlicht, ist im Turme gelegen, dessen obere Stock¬
werke den eigentlichen Bücherspeicher bilden, in dem
die kunstwissen¬
schaftliche Fachbi¬
bliothek des Muse¬
ums untergebraclit
ist. Die Aufstellung
erfolgte hier wie in
den meisten neuzeit¬
lichen Büchereien
vermittels der be¬
quem zu handhaben¬
den und leicht regu¬
lierbaren Lippman-
schen Eisenregale.
Die Ausnutzung des
Turmes dürfte kaum
praktischer denkbar
sein, denn die Büche¬
rei kann sich dankder
großen Höhenent¬
wickelung des Rau¬
mes in überreichem
Maße ausdehnen, ohne
irgendwelche Verschie¬
bungen nötig zu machen.
Auch die Ausstattung der
beiden Benutzerräume, die
ein sehr lobenswertes Werk
des Stadtbaumeisters Weiß
ist, zeugt von einer glück¬
lichen Betonung prak¬
tischer Gesichtspunkte. Bei¬
de Räume sind mit Holz¬
paneelen verkleidet, in die
herausnehmbare Wechsel¬
rahmen für auszustellende
graphische Kunstblätter
eingelassen sind. Selbst
die Türen der in dem
größeren Raume unterge¬
brachten Schränke sind
in ähnlicher Weise aus¬
gerüstet, so daß der Besucher sich auf allen Seiten
von Werken der graphischen Kunst umgeben sieht.
Schlicht geformte Etikettenhalter aus verniertem Messing
sind unterhalb eines jeden Rahmens auf der Holz¬
verkleidung angebracht und vereinen in sich nicht
nur den Vorteil praktischer Verwendbarkeit, sondern
auch den Vorzug diskret wirkenden Schmuckes. Farbig
wirken die Räume außerordentlich günstig, denn das
geräucherte helle Eichenholz verbindet sich mit dem
dunkelgrünen Linoleumbelag der Tische und den in
gleicher Farbe gehaltenen Passepartouts der in die
Rahmen eingelassenen Kunstblätter zu einem sehr
vornehmen Zusauimenklang. Ihrer Verwendung nach
unterscheiden sich die beiden Zimmer insofern etwas
von einander, als im größeren die gev/ünschten Werke
vorgelegt werden, während das kleinere als Zeitschriften¬
zimmer gedacht ist. Auf einem achteckigen Tische,
der dem polygonalen Grundrisse des Raumes ent¬
spricht, liegen hier die letzten Nummern ;ler vciu
Museum gehaltenen Kunstzeitschriften aus, wäln end die
übrigen Hefte des
laufenden Jahrgangs
einerjedenZeitschrift
in einem dem Pu¬
blikum ebenfalls zu¬
gänglichen Regale
verteilt sind, dessen
gläserne Schiebe¬
türen den Vorzug
haben, gegen Staub
zu schützen, ohne
den Inhalt des Behäl¬
ters unsichtbar zu
machen. Schlichte,
aber geschmackvolle
Pnltschränke, in de¬
nen eine kurze Über¬
sicht über die Ent¬
wickelung derBuch-
ausstattung sowie
der Schrift gegeben
ist, vervollständigen die
Ausstattung des einladen¬
den Raumes.
Treten wir nun durch
die Tür des größeren Zim¬
mers hinaus, so befinden
wir uns auf der Empore
der großen Magdeburger
Halle, woselbst wir in
freistehenden Schaukästen
einersehr instruktiven Vor¬
führung der verschiedenen
graphischen Techniken be¬
gegnen. Für Holzschnitt,
Kupferstich, Radierung,
Lithographie und photo¬
mechanische Reproduktion
sind je zwei aneinander ge¬
schobene Pultvitrinen be¬
stimmt, die jedesmal das
für die einzelne Technik nötige Werkzeug, sowie
Druckplatten und möglichst charakteristische Druck¬
abzüge aufweisen. Auf diesem Wege wird dem Laien
nicht nur das Verständnis des technischen Vorganges
beim Entstehen eines graphischen Kunstblattes wesent¬
lich erleichtert, sondern auch das Gefühl für den
Qualitätsunterschied der einzelnen Abdrucksgattungen
anerzogen, so daß auch hier wieder nach seiten der
Knnstpädagogik hin alles geschehen ist, was man von
einem modernen Museum, das als kulturfördernder Faktor
angesehen werden will, wünschen und verlangen kann.
AUS DEN FRESKEN VON ARTUR KAMPF (MITTELBIl.D) IM KAISER¬
FRIEDRICH-MUSEUM DER STADT MAGDEBURG
DAS TREPPENHAUS IM KAISER-FRIEDRICH-MUSEUM DER STADT
MAGDEBURG
3
DAS KAISER-FRIEDRICH-MUSEUM DER STADT MAGDEBURG
2
Das Ideal wäre es nun für die Musennisverwal-
ding gewesen, wenn sie auch einen geschlossenen
Entwicklungsgang der Malerei - etwa in Bruckmann-
schen Pigmentdrucken - hätte vorführen können,
doch mußte sie dieses ihr sehr am Herzen liegende
Projekt vorläufig noch zurückstellen, bis der zu
seiner Durchführung nötige Raum verfügbar wird.
An der Hand der vorhandenen Originale sich das
von dieser Entwicklung wünschenswerte Bild zu
machen, ist bei dem geringen Be¬
stand an älteren Werken naturgemäß
unmöglich. Ein paar Cranach und
etwa hundert Niederländer, die Ge¬
heimer Kommerzienrat Gruson und
Maler Ohnesorge dem Museum ge¬
stiftet haben, das ist der ganze ältere
Bestand der Galerie, deren Schwer¬
gewicht naturgemäß auf der Seite
der modernen Malerei liegt. Hier
aber weist sie dank dem feinen
Empfinden und großen Verständnis
Dr. Volbehrs soviel erstklassige Werke
auf, daß manche große Staatsgalerie
in dieser Beziehnng hinter ihr zurück¬
steht. Es würde natürlich viel zu
weit führen, wenn man hier auch
noch auf die einzelnen Bilder ein-
gehen wollte, doch sei wenigstens
eine Reihe von Künstlernamen ge¬
nannt, die mit besonders guten Wer¬
ken vertreten sind, nämlich: Lenbach,
Bracht, Corinth, Kallmorgen, Böcklin,
L. V. Hof mann, Thoma, Volkmann,
Zügel, Uhde, Jernberg, Leistikow,
Dettmann, Albers, Dill, Gebhardt,
Schramm-Zittau, Höcker, Rieh. Kaiser,
Unger, Sascha Schneider, Leibi.
Über die Aufmachung der Bilder¬
säle kann man nur Lobenswertes
sagen. Jedes Bild kommt gut zur Gel¬
tung, denn es ist durchweg locker ge¬
hängt worden, so daß kein Raum über¬
mäßig gefüllt erscheint. Als Wand¬
bespannung hat man das dauerhafte
sog. Kochelleinen genommen, zu dem
dann jedesmal ein in der Farbe har¬
monierender Fußbelag gewählt ist, der
hierwieüberall imOberstockausLino-
leum besteht, das auf Korkunterlage
liegt. Die eigentliche Behangfläche
ist nicht zu hoch genommen worden,
so daß man nie in Versuchung kommen kann, auch
nur drei mittelgroße Bilder übereinander zu hängen.
In den abgeschrägten Ecken eines jeden Saales liegen
Heizung und Ventilation. Die Aufhängung der Bilder
geschah mittels dünner Drahtseile, die mit einem ab¬
schließenden Haken an der Eisenschiene eingehängt
werden, die über der oberen Holzverschalung hinläuft.
Diese Drahtseile werden durch die Aufhängeösen
des Bildes hindurchgezogen und tragen unten federnde
Laschen, auf denen die Unterkante des Bildes aufsitzt.
Im Tone der jeweiligen Wandbespannung gestrichen
treten diese an und für sich schon diskreten Träger
ganz zurück, so daß sie fast unsichtbar sind. Die
Etikettierung geschah in den Oberlichtsälen mittels
mäßig großer olivgrauer Lederschildchen, die in gol¬
dener Aufschrift Künstlernamen, Lebensdaten und
Gegenstandbezeichnung aufweisen. Sie sind diskret
unterhalb der Bilder direkt auf der Wand befestigt,
weil sie in dieser Aufmachung nicht den unangenehm
blitzenden und bei der Bildbetrach¬
tung so störend wirkenden Ober¬
lichtreflex aufweisen, wie ihn gold¬
gedruckte Etiketten immer haben,
wenn sie auf den meist schräg ab-
lanfenden Rahmenprofilen angebracht
sind.
In den Seitenlichtkabinetten, in
denen kleine Gemälde, Aquarelle und
Handzeichnungen hängen, hat man
Etiketten aus dunkelgrünem Karton
mit weißgrauem Aufdruck gewählt,
die dem Beschauer nicht gleich auf
Meterweite ins Gesicht springen,
sondern ebenso gesucht sein wollen,
wie es die intimen hier zur Ausstel¬
lung gelangten Kunstwerke auch von
sich verlangen. Die gleiche Etiket¬
tierung ist auch durchgeführt bei
einer der bemerkenswertesten Stif¬
tungen, die noch genannt werden
muß: bei der Heini Strauß-Stiftung,
einer äußerst interessanten Kollektion
von etwa 180 Handzeichnungen der
bekanntesten Künstler des ig. Jahr-
hnnderts. Stadtrat Strauß nebst Frau
Gemahlin haben dem Museum diese
sehr schätzenswerte, hocherfreuliche
Gabe als bleibendes Erinnerungs¬
zeichen ihres früh verstorbenen Soh¬
nes vermacht. Sie füllt allein sechs
Seitenlichtkojen, die ihren Abschluß
finden in einem kleinen von Fried¬
rich Stapff und Heinrich Geiling ent¬
worfenen behaglichen Lesezimmer-
chen, in dem eine ganze Anzahl
der besten modernen Illustrations¬
werke, darunter Sattlers Nibelungen
und und ähnliche Kostbarkeiten,
zur Durchsicht aufliegen. Wenn
wir diese reiche Sammlung mo¬
derner Graphik, in der Künstler
wie Thoma, Böcklin, Menzel, Klinger, Leibi, Feuer¬
bach usw., überraschend gut vertreten sind, ein¬
gehend besichtigt haben, dann erübrigt es sich nur
noch, einen Blick in das vom verstorbenen Stadtrat
Fischer begründete Münzkabinett zu werfen, um dann
schließlich noch der sehr instruktiven von Frau Kom¬
merzienrat Arnold gestifteten und von ihr selbst mit
aufopferungsfreudiger Mühe und Geduld zusammen¬
gestellten Trachtensammlung einen kurzen Besuch ab¬
zustatten, deren Modellfiguren von der freundlichen
VOLTAIRE. VERGOLDETE BRONZE
DES 18. JAHRHUNDERTS
Kaiser-Friedricli-Museum der Stadt Magdeburg
DAS KAISER-FRIEDRICH-MUSEUM DER STADT MAGDEBURG
93
Stifterin durchweg selbst gearbeitet worden sind. —
Man sieht, es hat nicht an kunstfrohen Gönnern ge¬
fehlt, die Zeit und Geld in Fülle daran gesetzt haben,
um ihrer Vaterstadt zu einem unter den städtischen
Sammlungen mustergültig dastehenden Museum zu
verhelfen. Rechnet man zu den vielen schon erwähn¬
ten reichen Stiftungen noch die erst in jüngster Zeit
überwiesenen und noch nicht in Sammlungsobjekte
umgesetzten lOOOoM. von Rittmeister Wernecke, die
25000 Mark-Spende des Geheimrats Dr. Wolff und
das 20000 Mark-Vermächtnis des Kaufmanns Matthaei
hinzu; und erwägt man ferner, daß es nur mittels
der freundlichen finanziellen Beihilfe Dr. Fabers ge¬
lungen ist, die Etikettierungsfrage in so vornehmer
Weise zu lösen, daß es nur dank dem selbstlosen
Entgegenkommen der A. Wohlfeldschen Druckerei
möglich war, einen typographisch musterhaften, mit
ausgezeichneten Abbildungen geschmückten Führer
zum Preise von 50 Pfg. abgeben zu können, so muß
man wirklich sagen; das Museum ist ein ragendes
Denkmal freudiger Kunstbegeiste» ung und idealer
Opferwilligkeit der Magdeburger Bürgerschaft. Aber
es ist auch ein für alle Zeiten sichtbares Ehrengedächt¬
nis einer Stadtgemeinde, die mit offenen Augen die
neuen Aufgaben einer neuen Zeit erblickt hat und
eifrig bemüht gewesen ist, diesen im vollsten Umfange
gerecht zu werden; und nicht in letzter Linie ist es
ein monumentaler Ruhmestempel für die energievolle
Tatkraft, das eindringende Verständnis und den fein¬
fühligen Geschmack eines Museumsleiters, der sich
den vielfältigen Aufgaben, die ihm gestellt sind, nach
jeder Richtung hin gewachsen gezeigt hat.
AUS DEN FRESKEN VON ARTUR KAMPF. OTTOS DES GROSSEN BEZIEHUNGEN ZU MAGDEBURG
(RECHTES SEITENBILD)
Kaiser-Friedrich-Museum der Stadt Magdeburg
DIE ATZEL, DIE VON DEM AAL SCHWATZT«
Von Konrad Lange
Dürers Kupferstich Bartsch 84 »Der Koch
und sein Weib« oder »Die Wirtin und der
Koch , wie er gewöhnlich genannt wird,
präsentiert sich hier unter einem neuen Titel, der
im folgenden begründet werden soll. Die Abbildung
ist nach dem Exemplar des Berliner Kupferstich¬
kabinetts gemacht, dessen Aufnahme ich Max Lehrs
verdanke. Das Blatt gehört zu denen, die in der
kunsthistorischen Literatur nur selten erwähnt werden.
Es scheint die Dürer -Eorscher bisher wenig gereizt
zu haben. Eleller, der die ältere Literatur zitiert,
wußte über seine Deutung nur zu sagen: »Dieses Blatt
benennen einige ,Mahomed und seine Frau’, welches
wahrscheinlich daher kommen mag, daß die Taube
auf dem Rücken des Kochs sitzt, denn man gibt
von Mahomed vor, daß häufig eine göttliche Taube
auf seine Schultern sich setzte und ihm das Religions¬
system eingab«*). Das braucht natürlich nicht wider¬
legt zu werden. Auch von Eye (Dürer, S. 17g) hält
den Vogel für eine zahme Taube und meint, das
Behagen an der einfachen Szene werde durch sie
1) J. Heller, Das Leben und die Werke Albrecht
Dürers 11 (1827) S. 494.
vermehrt. Thausing*) und Springer 2) erwähnen
den Kupferstich nur ganz kurz, jener beschreibt
die Darstellung als einen »dicken Mann mit einem
Kochgerät und einem Vogel auf der Schulter neben
einer pathetisch auftretenden Bürgersfrau«. Kaufmann,
Singer, Cust, Wölfflin, Weisbach und Suida erwähnen
ihn überhaupt nicht. Da Suidas Buch über »die
Genredarstelhmgen Albrecht Dürers« handelt und vieles
darin steht, was mit dem Thema keinen erkennbaren
Zusammenhang hat, ist seine Übergehung des Blattes
doppelt auffällig. Eine gewisse Rolle hat der Kupfer¬
stich eigentlich nur bei den Diskussionen über die
Meister W- Frage gespielt, da er zu den Blättern ge¬
hört, von denen Kopien des Wenzel von Olmütz
existieren’*).
Über die Zeit seiner Entstehung gehen die Mei¬
nungen auseinander. In Scherers Publikation von
1) Thausing, Dürer. 2. Aufl. 1. S. 230.
2) Springer, Zeitschr. f. b. K. XII. 1877, S. 5. In der
Dürerbiographie und den Aufsätzen über den altdeutschen
Holzschnitt und Kupferstich und Dürers Entwickelungsgang,
Bilder aus der neueren Kunstgeschichte, 2. Aufl., II, S. 20
und 62, wird das Blatt übergangen.
3) Vgl. Lehrs, Wenzel von Olmütz, S. 27.
DIE ATZEL, DIE VON DEM AAL SCHWÄTZT^
95
Dürers Gemälden, Kupferstichen und Holzschnitten
wird er, jedenfalls unrichtig, vor 1495 gesetzt, während
Hausmann (A. Dürers Kupferstiche usw. S. 32) ihn,
ebenfalls ohne Grund, erst nach 1506 entstanden sein
läßt. Seine Entstehung fällt, der Technik nach zu
schließen, wahrscheinlich zwischen die vier Hexen
von 1 497 und die Madonna auf der Rasenbank von 1 503.
Man wird ihn am besten um 1500 1502 datieren.
Mich hat das Blatt seit Jahren interessiert, da ich
darin etwas eigentümlich Pointiertes zu erkennen
glaubte, was mich an die Illustration eines Schwankes
oder Eastnachtsspiels denken ließ. Ich erinnere mich
auch, daß ich vor etwa zwölf Jahren auf Grund einer
Anfrage von Lehrs die Schwankliteratur des 1 6. Jahr¬
hunderts daraufliin durchsah, unter anderem Paulis
Schimpf und Ernst und manches von Hans Sachs las,
ohne daß es mir aber gelungen wäre, etwas Entspre¬
chendes zu finden. Ich muß damals mit Blindheit
geschlagen gewesen sein. Denn das Gesuchte lag
groß und breit da, und die Darstellung bot wahr¬
haftig genug Anhaltspunkte zu einer novellistischen
Deutung.
Ein dickwanstiger ärmlich gekleideter Mann, dessen
geflickter Rock und reparierte Beinkleider jedenfalls
nicht auf Reichtum oder vornehme Herkunft schließen
lassen, schreitet nach vorn und wendet dabei sein
Gesicht mit äußerst lebhaftem und wie es scheint
erzürntem Ausdruck einer einfach bürgerlich gekleide¬
ten Frau zu, welche, den Kopf mit einer großen Haube
bedeckt und den linken Arm in den Mantel einge¬
wickelt, ruhig, die Hände über dem Leib gekreuzt,
neben ihm einhergeht oder dasteht. Sein dickes, nach
unten breiter werdendes Gesicht mit der niedrigen
Stirn und dem schwammigen Unterkinn läßt nicht
gerade auf besondere Intelligenz, wohl aber auf eine
gewisse Freude am Wohlleben schließen, die in einem
auffallenden Gegensatz zu der ärmlichen Kleidung
steht. Dieser Eindruck wird durch die Bratpfanne
und den Kochlöffel verstärkt, die er in der Hand
hält. Offenbar sind es diese Geräte, welche, zusammen
mit den beiden Messern, die ihm im Gürtel stecken’),
zu seiner Benennung als Koch Veranlassung gegeben
haben. In der Tat hat Dürer ihn wahrscheinlich als
solchen charakterisieren wollen. Denn daß ein Mann,
noch dazu in Gegenwart seiner Frau, mit Küchen¬
gerätschaften hantiert, ist jedenfalls ein seltener Fall,
und die Verbindung einer gewissen materiellen Be¬
häbigkeit mit der unverkennbaren Ärmlichkeit der
äußeren Erscheinung würde sich so am einfachsten
erklären.
Auch bei der Frau weisen die vollen Gesichts¬
züge und das Behäbige des ganzen Wesens, z. B. der
etwas dicke Leib, darauf hin, daß es den beiden
Leuten nicht gerade schlecht geht. Sie trägt an der
Seite die Tasche und die Schlüssel, die bekannten
Attribute der Hausfrau. Der Stiel, der unter der
Tasche sichtbar wird, scheint auch von einem Koch¬
löffel herzurühren. Eine Tasche hat übrigens auch
der Mann an seiner Seite hängen.
1) Oder ist es ein Messer und ein Schleifstein?
Die besondere Situation ergibt sich daraus, daß
die Frau den Mann nicht iinsieht, sondern den Be¬
schauer in eigentümlich gespannter Weise fixiert, wo¬
bei sie — was besonders zu beachten ist — den
Daumen der linken Hand einkneift. Dies im Zu¬
sammenhang mit dem anscheinem] sehr erregten Aus¬
druck des Mannes scheint darauf hsnzuweisen, daß
hier ein ehelicher Zwist vorliegi. Offenbar tritt der
Mann an seine Frau heran und r- einet in lebhafter
Weise eine Frage an sie, oder macht ihr wegen irgend
etwas Vorwürfe. Sie tut darauf ganz unschuidig,
wobei sie aber doch verlegen erscheint. Denn sie
wendet sich ihm nicht zu, hält vielleicht sogar mit
Gewalt an sich, um nicht heftig zu antworten.
Worauf sich der Zwist bezieht, deuten die Küchen¬
gerätschaften an. Ein Mann, der mit einer Pfanne und
einem Kochlöffel in der Hand auftritt, kann, mag er
nun Koch sein oder nicht, nur aus der Küche kommen.
Er hat offenbar irgend etwas in der Pfanne braten
wollen, ist aber durch ein unerwartetes Ereignis daran
gehindert worden. An diesem Ereignis muß die Frau
schuld sein, sonst würde er nicht so erregt an sie
herantreten.
ln diesem Zusammenhang ist der Vogel von
Wichtigkeit. Er sitzt auf der Schulter seines Herrn,
flattert mit den Flügeln und öffnet gegen ihn den
Schnabel. Durch die Wendung des Mannes kommen
Mund und Schnabel einander ziemlich nahe. Es
könnte fast scheinen, als ob der Vogel dem Manne
in den Mund picken, ihm etwa einen Bissen aus dem
Munde heraus holen wollte. Allein der Mann öffnet
nur den Mund, ohne daß ein Bissen darin sichtbar
würde. Was aber macht der Vogel sonst? Das wird da¬
von abhängen, was es für ein Vogel ist. Die Deutung
auf eine Taube, die früher gebräuchlich war, ist
durchaus nicht überzeugend. Schon die Form des
Halses und die eigentümliche Art zu flattern, ver¬
tragen sich damit nicht.
Der Vogel ist vielmehr eine Elster. Davon kann
man sich durch einen Blick in das erste beste illu¬
strierte Vogelbuch überzeugen. Wenn eine »schwatz¬
hafte Elster« auf der Schulter eines Mannes sitzt und
den Schnabel gegen ihn öffnet, wobei sich außerdem
ihr Kehlkopf lebhaft zu bewegen scheint, so schwatzt
sie natürlich. Worauf sich ihr Schwatzen bezieht,
ist klar: es kann nur die Frau sein, zu welcher sich
der Mann wendet. Daß es nichts Angenehmes ist,
was sie ihm mitzuteilen hat, ergibt sich aus seinem
bösen Gesicht. Natürlich kann sich die Nachricht
nur auf die Küche beziehen , sonst hätten die
Küchengerätschaften keinen Sinn. Der Frau ist
offenbar irgend etwas passiert oder sie hat irgend
etwas verbrochen, was den Mann verhindert, seine
Absicht in der Küche auszuführen, das heißt das in
der Pfanne zu braten, was er braten wollte. Die Elster,
die es gesehen hat, verrät es dem Manne. Dieser
braust, wie er es hört, auf und fährt mit scheltenden
Worten über seine Frau her. Sie aber kann nichts
Rechtes erwidern. Sie fühlt sich zwar schuldig, will
es aber doch nicht gestehen. Deshalb tut sie gar
nicht so und schweigt sich aus.
»DIE ATZEL, DIE VON DEM AAL SCHWATZT
'ch weiß nicht, ob der Leser, der die richtige
.■J^.I^g noch nicht kennt, alles dies aus dem Blatte
.icrauslcscn wird. Jedenfalls läßt sich nicht leugnen,
daß wian es ohne Schwierigkeit in dasselbe hinein¬
lesen kann.
Geschichten von geschwätzigen Elstern erzählte
man sich im 1 6. Jahrhundert mehrere. Sie haben
alle eine ähnliche Pointe. Einmal betrügt eine Ehe¬
frau ihren Mann mit einem Buhler. Die Elster sieht
es und klatscht es dem Ehemann. Um sich an ihr
zu rächen, schlägt die Frau mit ihrer Magd ein Loch
in die Decke über dem Elsterkäfig und schüttet
nachts Sand und Wasser auf den Vogel herab. Dieser
beklagt sich bei dem Herrn, es habe die ganze Nacht
auf ihn gehagelt und geregnet. Da nun leicht fest¬
zustellen ist, daß es die Nacht über gutes Wetter
war, benutzt die Frau die falsche Aussage der Elster,
um deren Unzuverlässigkeit zu beweisein und sich
selbst von der Schuld reinzuwaschen. Der Mann
läßt sich auch eine Zeitlang überzeugen, reißt der
Elster aus Wut den Kopf ab - und bemerkt erst
zu spät das Loch in der Decke, das den Irrtum auf¬
klärt und seine Schande enthüllt.
Diese Geschichte kann offenbar in dem Stiche
nicht gemeint sein, denn damit wären die Koch¬
gerätschaften nicht erklärt.
Ein andermal wird von einer Elster erzählt, die in
einem Wirtshaus gehalten wurde und gewöhnt war, den
Preis des Weines auszurufen. Einmal habe sie auch
dann noch den niedrigeren Preis genannt, nachdem der
Wirt schon aufgeschlagen hatte. Dadurch seien viele
Gäste angelockt worden, die sich dann aber bitter be¬
schwert hätten, daß sie mehr bezahlen müßten, als man
ihnen vorausgesagt habe. Der Wirt ist wütend über
die Elster und wirft sie auf die Straße in den Dreck.
Mühsam klaubt sie sich wieder heraus. Als sie dann
bald darauf ein Schwein sieht, das sich im Kot ge¬
wälzt hat, sagt sie zu ihm: Du hast gewiß auch den
Wein zu billig ausgerufen. Auch diese Geschichte
kann nicht gemeint sein. Denn es fehlt in dem
Kupferstiche jeder Hinweis auf den Wein, ohne den
doch kein Beschauer auf die richtige Deutung ver¬
fallen konnte. In allen diesen Geschichten kommt es
offenbar auf die Schlußpointe an. Die Elster ist ein
Beispiel für unbedachte Schlußfolgerungen auf Grund
ungenügender Induktion. Sie ist zwar sehr klug,
kann sprechen wie ein Mensch und auch ganz gut
beobachten. Aber sie kombiniert falsch, zieht aus
dem Beobachteten falsche Schlüsse.
Derartige Geschichten finden sich in vielen Fabel¬
büchern, moralischen Volksbüchern und Schwank¬
sammlungen des 15. und 16. Jahrhunderts, z. B. im
Ritter vom Turn, Bebels Facetien, in »Scherz mit
der Wahrheit«, Paulis Schimpf und Ernst, Kirchhofs
Wendunmut, ja sogar noch in Abraham a Santa Claras
Judas dem Erzschelm^). Sie scheinen, teilweise auch
1) Vgl. die Zitate von Oesterley in den Ausgaben von
Pauli und Kirchhof (Stuttgarter Literarischer Verein, Bd. 85
und 95 — g8) und die Zusammenstellung von J. Bolte, Zeit¬
schrift des Vereins für Volkskunde XIII, 1903, S. 94 An¬
merkung.
in Übertragung auf andere Tiere, noch jetzt hie und
da im Volksmunde zu leben.
Darunter ist nun auch eine Geschichte, die be¬
sonders beliebt gewesen zu sein scheint und in ihrer
ältesten bekannten Form genau zu dem Kupfer¬
stiche paßt. Ich gebe sie zunächst in der Fassung
eines Schwankes von Hans Sachs:
Der edelman mit dem al.
In dem hofton Danhawser.
1.
In Meichsen sas ein edelman,
Gastfrey zw aller zeitte.
Er fisch vnd guet wiltpret pehielt
Auf zwkuenftige geste.
Ains mals het er ein grosen al
In einem fischdrog weite.
Den er pehielt auf einen hoff,
Faist auf das allerpeste.
Eins tages muest er reiten aus
Zum fuersten, als er jaget.
Die edel fraw perueft zw haus
Ir hawsfögtin vnd saget.
Wie sie hett einen grosen luest.
Den grossen al zw essen.
Gar pald peraiten sie den al vermessen,
Süden yn und prieten in halb.
Und darnach zamen sasen,
Hetten darmit einen gueten schlamp,
Frölich truncken und assen.
2.
Frue der junckher geriten kom
Und vom gaul wart gesessen.
Da het er hencken in eini kar
Ein alster, die kunt schwaczen.
Die sprach: »Junckher, den grossen al
Hat vnser fraw gefressen
Wechten mit irer hawsfocktin«.
Er glaubet nit der haczen,
Gieng nab und schawt zw dem fischdrog:
Der al war nimer drinen.
Die frawen er mit red anzog;
Die war listig von sinnen
Vnd sprach: »Der otter hat in weck
Oder vileicht ein bieber.«
Der edelman sprach zw der frawen: »Lieber,
Dw vnd auch des hawsfocktes weib
Seit der pieber vnd otter;
Den al ir mir gefressen habt«.
Sie sprach: »Dw lewgst, dw lotter!«
3-
Da schlueg er ir die fawst an köpf
Vnd sie peim har umb zuege,
Schlueg sie darzw ein guete nuet,
Weil sie rett so vermessen.
Als der junckher rait wider aus.
Da clagt sie den getruege.
Der heczen irer hausfogtin.
Die ir den al halff fressen.
Die haczen namen sie alpaid.
Die fedren ir außzuepften
Vmb iren kopff, ir zw herzlaid
Sis gancz glaczet peruepften.
DIE ATZEL, DIE VON DEM AAL SCHWÄTZT
97
Nach dem, wen die hacz sach ein man
Am köpf glaczet vnd kale,
Sprach sie: »Der hat geschweczet von dem ale«. —
Zwo ler aus diesem possen merck:
Neschlein zalt man mit schiegen;
Zum andren ein geschweczig maul,
Wirt oft gerupft dargegen.
Anno salutis 1541, am 8. tag Julii.
Dürer kann die Geschichte natürlich schon aus
chronologischen Gründen nicht aus Hans Sachs haben.
Außerdem paßt ein Punkt gar nicht, nämlich daß der
Mann ein Edelmann ist. Hätte dies in der literarischen
Quelle gestanden, die Dürern vorlag, so hätte er
den Mann wohl nicht in dürftiger Kleidung darge¬
stellt, überhaupt das Ganze vermutlich anders formu¬
liert. Auch die Schläge, die die Frau bekommt, sind
in dem Kupferstich nicht angedeutet. Sonst aber
paßt alles so gut, daß es sich schon lohnt, der
Sache nachzugehen und zu fragen, ob nicht die Er¬
zählung des Hans Sachs auf eine Quelle zurückgeht,
die in dieser Beziehung dem Kupferstich besser ent¬
spricht. Zunächst scheint das nicht der Fall zu sein.
Die Quelle ist uns nämlich bekannt. Es ist der
Schwank in Paulis Schimpf und Ernst, dessen Lek¬
türe mich zuerst auf den Gedanken brachte, daß
Dürer eine ähnliche Geschichte gemeint haben könnte.
Der Barfüßermönch Johannes Pauli erzählt in seiner
1518 zu Thann im Elsaß geschriebenen Sammlung
von 593 Schwänken folgendes:
»Von schimpff das sechst.
(Ein atzel schwetzt von dem al.)
Es war ein edelman ein eren man, der het allen
mal gest, darumb so behielt er alwegen etwas be-
sunders, es weren junge hüner, oder wer wiltbret in
dem saltz, oder weren fisch in dem trog, wa er
uberfallen würd von ersamen gesten, das er auch
etwas het inen für zusetzen, wan das ist einem eren
man gnug, der da gest hot, wan er einer trachten
me hat, dan so er allein ist und kein gest hat. Uff
ein mal het er ein guten al in dem fischtrog lauffen,
und es begab sich das er müsz hinweg reiten, und
da er hinweg kam, da gieng sein hauszfraw zu irer
nachbaurin zü irer gespil, und sprach zu ir. Ach
liebe nachbaurin ich hab den grösten lüsten ein al
zü essen, mein Juncker hat ein al in dem fischtrog
lauffen, wöllen ir mir helffen, so wöllen wir in
schlemmen, und wöllen darnach sprechen, der otter
hab in fressen. Die nachbürin sprach ia. Sie be¬
reiteten den al nach irem willen, und sutten ein theil
und brieten ein theil. Indem der iuncker widerumb
kam reiten, und sich widerumb ab zog. Nun het
der iuncker ein atzel in einer keffin, die kunt
schwetzen. Und die atzel sprach zu dem iunckern:
Juncker die fraw hat den al gesotten und gebraten,
und hat in fressen. Da sich nun der juncker ab
gezohe, da gieng er über den trog, wan er wolt der
atzlen nit glauben, da was er hinweg da ward er
1) Vgl. Sämtliche Fabeln und Schwänke von Hans
Sachs, herausgegeben von Ooetze und Drescher, 3.Bd., Neu¬
drucke deutscher Literaturwerke 164—169, S. 269.
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XVIII. H. 4
zornig und sprach zü der fratiwen: Fraw wie sein
ir so schleckerhafftig, warumb haben ir mir den
al fressen, den ich uff gest behalten hab. Sie sprach,
ich hab es nit gethon, ist er nicht noch da, so müssen
in die otter haben fressen, wan sy haben euch vor
me fressen. Der iuncker sprach: ia es ist war, ir haben
es gethon, ir sein der otter und der marder der in
fressen hat, der fogel hat mir es gesagt. Da die fraw
hört das es im der fogel hat gesagt, ward sie zornig
über den fogel. Da nun der iuncker uff ein mal
widerumb hinweg geriten was, da nam sie ire nach-
burin zü ir, die den al het helffen fressen, und be-
rupfften der artzlen den kopff und machten im ein
blatten, sie hetten in lieber gar zü dot geschlagen.
Wan dan der fogel einen man sähe, der ein kaien
kopff oder blatten het, so sprach er zü dem selbigen
man: du hast freilich auch von dem al gesch wetzt').«
Die Geschichte ist zwar noch zu Lebzeiten Dürers
geschrieben und das Volksbuch Paulis hat schon
1522 bei Grieninger in Straßburg seine erste Auflage
erlebt. Dennoch kann Dürer dieses Buch nicht als
Quelle benutzt haben, da sein Kupferstich wie gesagt
schon um 1500 1502 entstanden ist. Dies und die
Tatsache, daß der Stand des Mannes in dem Stich und
in der Geschichte nicht übereinstimmt, veranlaßte
mich, Herrn Prof. Joh. Bolte in Berlin zu fragen, ob
ihm eine ältere Quelle bekannt wäre. Er verwies
mich außer den oben S. 94 Anm. 1 zitierten Stellen
auf den Ritter vom Turn. Ich hatte diesen seit Jahren
nicht in der Hand gehabt und auch die Neuausgabe
von Kautzsch (1 903) noch nicht zu Gesicht bekommen.
Deshalb war mir diese Quelle entgangen. Hier
fand ich nun genau, was ich suchte.
Der Ritter vom Turn, dessen Beziehungen zum
jungen Dürer jedem Kunsthistoriker bekannt sind, ist
in deutscher Übersetzung zuerst 1493 bei Furter in
Basel erschienen, und zwar mit den interessanten
Illustrationen, die Daniel Burckhardt auf Dürer zu¬
rückgeführt hat. Das Buch geht auf eine französische
Quelle vom Jahre 1371/72, den Chevalier de la Tour
Landry zurück, den Montaiglon 1854 neu heraus¬
gegeben hat. Der Verfasser trägt unter dem Vor¬
wände, seinen Töchtern weise Lehren über Liebe und
Ehe zu geben, eine Anzahl weltlicher Anekdoten und
biblischer Geschichten zusammen, die sowohl von
braven, züchtigen und frommen, als auch von eitlen,
geschwätzigen, schleckrigen und unzüchtigen Weibern
handeln, wobei natürlich die Tugend immer belohnt
und das Laster immer bestraft wird. Die dick auf¬
getragene Moral ist oft recht an den Haaren herbei¬
gezogen und die Pointen häufig sehr schwach. Die
Übersetzung stammt von Marquart vom Steyn, Ritter
und Landvogt zu Montpellicart, und führt den Titel:
Der Ritter vom Turn von den Exempeln der gots-
forcht ufi erbarkeit. Die Geschichte von der ge¬
schwätzigen Atzel steht auf Fol. Biij und lautet;
»Ich will üch ouch eyn exepel sagn vö den frowc
die hynder jre manne heymlich schleck essen. Es
1) J. Pauli, Schimpf und Ernst, Bibliothek des Literari¬
schen Vereins in Stuttgart 1866, LXXXV, 18.
14
gS
DIE ATZEL, DIE VON DEM AAL SCHWÄTZT
WZ eyn frow die hatt eyn atzeln jn eyner kefygen,
die redt unnd sagt alles dz das sy sach das man
liietl. Als begab sich, das jr hußwürt eyn guten
grossen ol jn eynem trog an eyn heymlich end be¬
halten hatt, uff das ob jm yendert eyn herr oder guter
fründ zu huß keme, jn zu besehen, das er jin dar
mit ere thun unnd eyn gut essen haben möchte.
Also gieng die frow zu jrer gefatter, jr von dem
ole sagend, un wie gut er zu essen were, ye das sy
ein anschlag thetten den zu essen, ufi dem hußwürt
zu verston zu geben, das jn eyn otter genomen unnd
gessen hette. Da nun der herr zu huße kam, hub
die atzel an und sagt: herr myn frow het den ol gessen,
da gieng der herr über synen vischtrog, und wolt
besehe ob es war wer oder nit. Als er nun den
nit fand, fragt er sin husfrow wohin der körnen
were. Vermeynt sy sich gar wol zu entschuldigen.
Sprach aber der herr: gewyslich hast du jn gessen,
dafi die atzel mir das geseit hat, unnd schalt un strafft
sy darumb mit gar zornmütigen worte. Darumb so
bald der herr ußhin reit kam die frow mit jrer ge¬
fatter zu der atzeln und nomen unnd berofften sy
das yr dhein feder bleib uff jrem houpt, unnd spra-
chent: das ist darumb das du deß oles halb unß hast
verraten. Dannanthyn wo die atzel eyn mensche
sach der da kal oder glatzköpfig was, Schrey sy über¬
lut: du hast ouch von dem ol gesagt. Darumb sich
vor söllichem schlecken wol zu hütten ist.«
Eür unseren Kupferstich ist das Wichtige an dieser
Fassung, daß der Mann nicht als Edelmann bezeichnet,
überhaupt von seinem Berufe nichts gesagt wird. Ein
Künstler, der sie illustrieren wollte, hatte also in bezug
auf seine Kennzeichnung freie Hand. Daß Dürer
ihn als Koch charakterisierte, ergab sich einfach
daraus, daß er den Inhalt anders überhaupt nicht
hätte klar machen können. Man muß auch zugeben,
daß er alles getan hat, um seiner Quelle gerecht zu
werden. Was der Erzähler nach den Regeln seiner
Kunst auseinanderreißen mußte, drängte der Maler
nach den Gesetzen der seinigen räumlich zusammen.
Der Mann schilt schon die Frau, während ihm die
Elster noch das Geheimnis verrät. Das Suchen im
Fischtrog und die Bestrafung der Elster konnte nicht
in derselben Komposition dargestellt werden. Statt des
ersteren sehen wir eine Anspielung auf den vergeb¬
lichen Versuch des Mannes in der Küche, den Aal zu
braten. Denn nur dies konnte durch das Koch¬
gerät einigermaßen verständlich angedeutet werden.
Trotzdem könnte man sagen, daß die Illustration
gerade dieser Geschichte in einem selbständigen Kupfer¬
stich ein Mißgriff war. Denn ohne Kenntnis der
Geschichte konnte kein Mensch auf die richtige
Deutung verfallen. Das gilt freilich nur von uns,
nicht von den Zeitgenossen Dürers. Vielleicht war
der Schwank im i6. Jahrhundert so bekannt, daß
jeder Beschauer beim Anblick der Elster und des
Kochgeräts sofort wußte, was gemeint war.
Am verständlichsten wäre aber die Szene ge¬
wesen, wenn der junge Künstler sie von Anfang an
nicht als selbständigen Kupferstich gedacht, sondern
als Holzschnittillustration zum Ritter vom Turn ge¬
plant hätte. Dieser Gedanke liegt aber besonders des¬
halb sehr nahe, weil der Ritter vom Turn bekannt¬
lich der erste von den Baseler Drucken der Jahre
1493 — 1498 ist, deren Illustrationen anerkannter¬
maßen eine enge Verwandtschaft mit den Jugend¬
werken Dürers haben. Sind sie doch von Daniel
Burckhardt geradezu Dürer selbst zugeschrieben wor¬
den. Allerdings haben Werner Weisbach in seiner
Schrift über den Meister der Bergmannschen Offi¬
zin und Albrecht Dürers Beziehungen zur Baseler
Bücherillustration (Straßburg 1896), und R. Kautzsch
in seiner Neuausgabe des Ritters vom Turn (1903)
den Illustrator der Baseler Drucke und den jungen
Dürer wieder auseinandergerissen, so daß Wölfflin sich
bei der Besprechung dieser Frage auf die Annahme
beschränken zu müssen glaubte, der junge Dürer habe
jenem Illustrator bei seiner Arbeit nur ȟber die
Schulter gesehen.« Dem gegenüber halten Peartree,
Alfr. Schmidt, Friedländer, Justi und, wie es scheint,
auch noch andere an Burckhardts Hypothese fest.
Ich widerstehe der Versuchung, die Frage hier
auf Grund meiner kleinen Entdeckung von neuem
zu erörtern. Denn da allgemein anerkannt ist, daß
der Illustrator der Bergmannschen Offizin einer der
bedeutendsten, vielleicht sogar der bedeutendste Holz¬
schnittzeichner des 1 5. Jahrhunderts war, und daß Dürer
die Illustrationen seines Meisterwerkes, des Ritters vom
Turn, wenn nicht selbst gezeichnet, doch zum mindesten
gekannt, das heißt also auch bewundert hat, so möchte
ich mich nicht durch Leugnung ihres Dürerschen
Ursprungs der Gefahr aussetzen, später einmal durch
den Nachweis in Verlegenheit gebracht zu werden,
daß Dürer sich selbst sehr bewundert oder gar
sich selbst bei der Arbeit über die Schulter geguckt
hätte.
Tatsache ist jedenfalls, daß der Koch und sein
Weib unter den Holzschnitten des Ritters vom Turn
nicht vorkommt und auch durch seine Komposition
einigermaßen von ihnen abweicht. Das gilt schon
von der Beschränkung auf zwei Figuren, sowie der
Unterdrückung jeder Andeutung des Raumes, in dem
die Szene vor sich geht. Doch würde sich dies —
den Dürerschen Ursprung der Illustrationen voraus¬
gesetzt — auch daraus erklären, daß er einer um
mehrere Jahre entwickelteren Stufe seiner Kunst ent¬
spricht.
Mag nun die »Atzel, die von dem Aal schwätzt«,
einen bei der Illustration des Ritters vom Turn unbe¬
nutzt gebliebenen und später wieder aufgegriffenen
und in entwickelteren Formen durchgeführten Kom¬
positionsgedanken repräsentieren, oder mag Dürer
hier mit seinem großen uns immer noch unbekannten
Vorgänger in erfolgreicher Weise wetteifern, jedenfalls
war der Text des Ritters vom Turn seine Quelle. Denn
das Buch erschien in derselben Zeit, in der sich
Dürer auf seiner Wanderschaft im Elsaß, wahrschein¬
lich sogar in Basel aufgehalten hat. Wenn er es auch
nicht selbst illustriert haben sollte, so hat er es jeden¬
falls mit Interesse gelesen.
So wird durch die neue Deutung wieder einmal
UNBEACHTETE MALEREIEN DES 15. JAHRHUNDERTS
99
der Satz bestätigt, daß Dürer den Inhalt seiner Kupfer¬
stiche, auch da, wo er auf den ersten Blick fremd¬
artig oder besonders geistreich erscheint, nicht selbst
erfunden hat. Ebenso wie beim Meerwunder^), der
Nemesis, der Melancholie, dem Ritter, Tod und Teufel,
hat er sich auch hier damit begnügt, einen Gedanken,
der in der Luft lag, eine Geschichte, die schon
literarisch fixiert war, künstlerisch zu verkörpern.
UNBEACHTETE MALEREIEN DES 15. JAHRHUNDERTS
IN FLORENTINER KIRCHEN UND GALERIEN
Von O. Wulff in Berlin
II.
Durch das rein künstlerische, schon naturalistisch
gefärbte Interesse für eine bewegte Einzel¬
gestalt in ihrer plastischen Entfaltung, die
noch dazu als Rückenfigur das Auge durch keinen
anderen Reiz zu fesseln vermag, kündigt sich in den
besprochenen Fresken von S. Maria Maggiore (siehe
Artikel 1) noch entschiedener als in anderen Werken
Spinello Aretinos die neue quattrocentistische Kunst¬
anschauung an, mögen sie nun diesseits oder noch
jenseits der Jahrhundertwende entstanden sein. Im
trecentistischen Gesamteindruck der Bilder freilich
bleibt ein solcher Zug leicht unbemerkt und die bis¬
herige Nichtbeachtung der sichtlich aufgefrischten Dar¬
stellungen daher erklärlich. Anders verhält es sich
mit ein paar Stücken, auf die ich im folgenden auf¬
merksam machen möchte. Sie sind unantastbare
Arbeiten des 1 5. Jahrhunderts, denen abgesehen von
ihrem Eigenwerte vielleicht auch eine gewisse Be¬
deutung für die Klärung einer noch nicht geschlichteten
Kontroverse zukommt.
Ein wichtigerer Überrest früher quattrocentistischer
Malerei hat an allgemein zugänglicher, ja an viel¬
besuchter Stelle seit mehr denn anderthalb Jahrzehnten
noch so gut wie gar keine Berücksichtigung erfahren.
Die mißlichen äußeren Umstände tragen wohl daran
die Hauptschuld. Die Freske, um die es sich hier
handelt, ist durch die gegen Ende der achtziger Jahre
in Angriff genommenen Restaurationsarbeiten in S.
Trinitä, denen unsere Kenntnis der Kunst der ersten
Hälfte des 1 5. Jahrhunderts so manche Bereicherung
verdankt, schon bei deren Beginn zutage gekommen.
Zur Zeit ihrer Auffindung war die Forschung leider
für den Fund noch nicht reif. Inzwischen wurde
nicht nur die freigelegte Freskenfolge des Lorenzo
Monaco in der Kapelle Bartolini-Salimbeni ihrer hohen
Bedeutung entsprechend gewürdigt^), sondern auch
die umfänglichen Bruchstücke zweier Martyrienszenen
in der dem hl. Bartholomäus geweihten Cappella Scali,
der zweiten links vom Chor, und die Darstellung
1) Vgl. K. Lange, Zeitschrift für bild. Kunst XI 1900,
S. 195—204. Was Werner Weisbach, der junge Dürer
1906, S. 51, gegen meine Deutung eingewendet hat, über¬
zeugt mich nicht.
2) A. Schmarsow, Masaccio V, S. 125; O. Siren, Lorenzo
Monaco. Straßburg 1905, S. 113.
dieses Apostels am Frontispiz derselben erhielten neuer¬
dings ihren festen Platz in der Kunstentwickelung des
zweiten Viertels des Quattrocento als Arbeiten eines
mit dem Autor der Krönung Marias in den Uffizien,
die dort irrtümlich dem Jacopo da Casenlino zuge¬
schrieben war, identischen Übergangsmeisters'). Haben
wir es da mit einem aus der archaischen Richtung
eines Bicci di Lorenzo und seiner Compagni hervor¬
gegangenen Künstler zu tun, der sich mit mehr Ent¬
schiedenheit als sie die Errungenschaften des neuen
Stils der jüngeren Generation anzueignen strebt, so
ist der Meister jener wieder vergessenen Freske —
sie befindet sich in der gegenüberliegenden, nach
dem Haupt- und Querschiff geöffneten ersten Kapelle
der Südseite — sicher in nächster Nähe der eigent¬
lichen Bahnbrecher der Renaissance, wenn nicht in
ihrer Mitte zu suchen (s. Abb. 1). Die ungünstige
Stelle, die das Bild an der hinteren Wand des däm¬
merigen Raumes einnimmt, wo es selbst in der besten
Morgenstunde nur von schwachem Reflexlicht getroffen
wird, und der heutige Erhaltungszustand erklären es,
daß so viele achtlos daran vorüber gegangen sind.
Während eines früheren Aufenthaltes in Florenz ist
mir dasselbe widerfahren. Der Besucher, der sein
Augenmerk hauptsächlich auf die bekannten Denk¬
mäler der Kirche richtet, wird durch den Anblick der
Magdalenenstatue Desiderios (bezw. des Benedetto
da Majano) abgezogen, die seit der Restauration an
der Südwand der Kapelle vor ihrem hierher versetzten
Barockaltar steht, und sieht über die Gestalt des Bischofs
in der flachen Nische zu seiner Linken um so eher
hinweg, als sie in die ödeste moderne Dekoration
pseudogotischen Stils eingeschlossen ist. Aber hat
man einmal einen aufmerksam prüfenden Blick darauf
geworfen, so wird man sie trotz der augenfälligen
Verderbnis nicht leicht vergessen. Es ist eine jener
charaktervollen Figuren, wie sie eine jugendfrische
Kunst aus einheitlichem Wurfe schafft, die sich dem
Gedächtnis so stark einprägen. Die Nachhaltigkeit
dieses Gesamteindrucks wird nicht einmal durch den
Umstand allzusehr beeinträchtigt, daß nur die obere
Hälfte der Figur erhalten und auch diese durch Über¬
malung stark mitgenommen, die untere Hälfte aber
1) P. Toesca, Arte 1904. Vll, p. 56.
4*
UNBEACHTETE MALEREIEN DES 1 5. JAHRHUNDERTS
c '-euem Bewurf in
, !os; r blaßbräunlicher
1 ’iierei frei ergänzt ist.
)er Gegensatz zwischen
Altem und Neuem ist
auch in der Abbildung
am verschiedenen Ton
wie im künstlerischen
Charakter auf den ersten
Blick erkennbar. Das
Ungeschick, das der Re¬
staurator in seiner selb¬
ständigen Arbeit bewiesen
hat, bürgt für die im we¬
sentlichen unverfälschte
Erhaltung des wichtige¬
ren Teils. .Allerdings ist
auch da jede Form durch
die Auffrischung mit
Temperafarbe, die heute
wieder trübe geworden
ist, verflaut, aber an der
zeichnerischen Grund¬
lage ist sicher nichts ver¬
ändert. Denn wer die
Stellung der Füße so
wenig zu erfassen ver¬
mochte und nicht im¬
stande war, den Griff
der rechten Hand leben¬
diger zu gestalten, der
hätte nie und nimmer
die eigenartige Haltung
der Arme erfinden oder
in das Gewand so viel
bewegte Form hineinlegen können. Er hat man¬
ches abgeschwächt und vor allem den Gesichts¬
zügen und dem Bart verschwommene moderne Details
aufgesetzt, aber er hat schwerlich auch nur eine
neue Linie hinzugefügt. Durch die ganze Ober¬
hälfte der Gestalt blickt trotz seiner Bemühungen, die
vermeintlichen Härten zu vertuschen, noch deutlich
das echt quattrocentistische Disegno hindurch, und da
in ihr die Hauptmotive beschlossen sind, dürfen wir
wohl mit einiger Vorsicht die charakteristischen Merk¬
male der Darstellung zu stilkritischer Betrachtung ver¬
werten. Wenn dabei auch nichts weiter gewonnen
werden kann, als eine überzeugende Zuschreibung des
verunstalteten Werkes an eine der bekannten Künstler¬
individualitäten, so scheint das Ergebnis doch nicht
ohne Bedeutung für die Beantwortung der Frage nach
der Persönlichkeit eben dieses Meisters zu sein.
Die Standweise der Figur läßt sich zunächst nicht
näher bestimmen, aber die ganze Haltung des Ober¬
körpers und der Ablauf der Steilfalten unterhalb des
Gürtels lassen doch keinen Zweifel, daß die Stellung
eine klar und sicher abgewogene war. Hoch auf¬
gerichtet mit etwas erhobenem Haupt steht der Kirchen¬
fürst vor uns, den Blick fest auf den Beschauer ge¬
richtet. Durch die leise Kopfwendung und durch die
Armhaltung kommt freie Entfaltung und momentanes
Leben in die Gestalt. Der
dicht unterdem schmalen
Kragen zusammengehef¬
tete braunrote Mantel ist
über beide Arme zurück¬
geschlagen, so daß sein
gelbes Futter sichtbar
wird. Besonders über
der halbbedeckten Lin¬
ken, die ein kleines in
sehr wirksamer Verkür¬
zung gezeichnetes Buch
gegen den Leib stützt,
liegt es fast bis zur Schul¬
terhöhe auf. ln der ruhig
herabgelassenen Rechten
lehnte der Krummstab.
Die einzige Erwäh¬
nung dieser Freske findet
sich, soweit ich sehe, in
einer nach Beendigung
der Restaurationsarbeiten
in S.Trinitä erschienenen
kleinen Schrift eines ano¬
nymen Verfassers über
die Geschichte und die
Denkmäler der Kirche^).
Die darin enthaltenen
Angaben stützen sich
augenscheinlich nicht auf
spezielle archivalische
Studien, sondern schei¬
nen insgesamt aus nahe
liegenden Quellen ge¬
schöpft. Sie decken sich
zum Teil mit der im Jahre i888 am Sockelstreifen
der gemalten Umrahmung des Bildes angebrachten
modernen Inschrift, die uns milteilt, daß die vor¬
mals dem Geschlecht der Spini gehörige Kapelle da¬
mals im Aufträge der Gräfin Carlotta und des Grafen
Pier Pompeo Dainelli da Bagnano (giä Masetti) neu
ausgeschmückt worden sei. Die Spini übten, wie wir
durch Richa wissen-^), das Patronat bis zu ihrem Aus¬
sterben im Jahre 1710 aus, — seit wann, wissen wir
nicht. Für die Behauptung des anonymen Autors,
daß die Kapelle erst im Anfang des 1 5. Jahrhunderts
von ihnen gegründet worden sei, fehlt ein Beleg. Sie
beruht anscheinend auf einem bloßen Rückschluß aus
1) Cenni storici e artistici della chiesa di S. Trinitä
e suo ristauro. Firenze 1897, p. 53, nach dessen Angabe
die neuere Dekoration von Professor A. Burchi herrührt.
Der Künstler bestätigte auf persönliche Anfrage, für die
ich Herrn Dr. W. Bombe zu Dank verpflichtet bin, die Er¬
gänzungen und die Auffrischung der Figur auf Grundlage
des Erhaltenen. Uber die Einwirkungen derselben auf den
heutigen technischen Zustand habe ich durch ihn ein Gut¬
achten des langjährigen früheren Restaurators der Galerien
Herrn O. Verniehrens mit gleichem Danke erhalten.
2) Richa, Notizie delle chiese fiorentine. Firenze 1755.
111, p. 160. Vgl. G. Castellazzi, La basilica di S. Trinitä i
suoi tempi ed il progetto del suo ristauro. Firenze 1887, p. 57.
ABB. 1. BISCHOFSPORTRÄT. FLORENZ, S. TRINITÄ (CAP. SPINI)
UNBEACHTETE MALEREIEN DES 15. JAHRHUNDERTS
101
ABB. 2. FLÜGELBILDER DES TRIPTYCHONS DER COLLEZIONE CARRAND. FLORENZ, MUSEO NAZIONALE
der Tatsache, daß dieselbe im Jahre 1453 durch Neri
di Bicci ausgemalt wurde, nach dessen eigener Notiz
in seinen Ricordi*). Damit könnte freilich die Frage
nach dem Künstler unserer Freske auch für uns schon
erledigt scheinen. Doch da wir glücklicherweise bei
Vasari (a. a. O. II, p. 60) die weitere Mitteilung be¬
sitzen, daß Neri di Bicci in S. Trinitä für Giovanni
und Silvestro Spini in dessen Familienkapelle das
Leben des Giovanni Gualberto dargestellt habe, so
werden wir, ohne mit überlieferten Daten in Wider¬
spruch zu geraten, von vornherein mit einer Beziehung
jener Angabe Neri di Biccis auf die erhaltene Figur
zurückzuhalten haben. Von der Historie des Vallom-
brosaner Heiligen ist nichts erhalten und demnach
offenbar auch nichts von Neris Malereien. Denn die
im Bogenfeld des Seitenschiffs über dem Eingänge
in die Kapelle dargestellte Verkündigung läßt sich
ebensowenig als sein Werk ansprechen, während sie
allerdings der Art seines Vaters Bicci di Lorenzo nicht
fern steht, der (nach Richa, a. a. O. p. 161) im Jahre
1428 zusammen mit einem Gefährten namens Stefano
d’Antonio die anstoßende Kapelle der Compagni mit
Fresken ausgeschmückt hat, von denen wiederum nichts
als das Lünettenbild erhalten ist. Spinello Aretino gehört
dieVerkündigung ebenfalls nicht an, und für eine solche
1) Vgl. Milanesi zu Vasari, Le Vite, 11, p. 60, Ed. Sansoni.
Zuschreibung bietet der anonyme Autor (a. a. O. p. 55)
auch keinen Nachweis. Aber wichtig bleibt es, daß
wir in ihr einen sicheren Rest älterer Malerei, als sich
mit Neris Stil vereinigen läßt, besitzen, die auch schon
unter dem Patronat der Spini entstanden sein muß,
ist doch darunter an der Umrahmung ihr Wappen
angebracht. So hindert uns nichts in der Annahme,
daß auch das Bischofsporträt im Innern der Kapelle
bereits vollendet war, bevor Neri di Bicci hier malte.
Es ist, wie schon die umrahmende Nische beweist,
ein Stück für sich, das innerhalb des übrigen Wand¬
schmucks ausgespart blieb, und befand sich vielleicht
über dem Grabe eines aus dem alten Florentiner
Adelsgeschlecht entsprossenen Kirchenfürsten. Richa,
zu dessen Zeit die Freske jedenfalls verdeckt war,
erwähnt (a. a. O. p. 160) in der Kapelle ein Grabmal,
doch ist seine Angabe über den Platz desselben ganz
allgemein gehalten (dalla parte del Vangelo). Auf
alle Fälle haben wir aber ein Porträt vor uns, das
beweist der fehlende Nimbus. Der mehrfach zitierte
moderne Anonymus erkennt in der Gestalt den Vallom-
brosaner Mönch Gregor, versäumt jedoch, einen Ge¬
währsmann anzuführen, oder ihre Beziehung auf
diese Persönlichkeit näher zu begründen'). Da
1) a. a. O. p. 53 »Nulla pero rimane del lavoro di tpiesto
operoso artista (Neri di Bicci), se non si viiol ritenere
lO'-i
UNBEACHTETE MALEREIEN DES 15. JAHRHUNDERTS
regt sich der Verdacht, daß ein bloßes Mißverständnis
an dieser ganzen Taufe schuld sei, die er mehr im
Tone des »on dit« zum besten gibt. Nach Richa
(a. a. O. p. 155) waren nämlich an den Pfeilern der
Kirche die Bildnisse von heilig gesprochenen Mönchen
und kirchlichen Berühmtheiten, welche aus dem Con¬
vent von Vallombroso hervorgegangen waren, dar¬
gestellt, unter ihnen aber auch Gregor Vll. Hier liegt
also wohl nur eine leichtfertige Identifizierung vor,
da Richa sein Bildnis offenbar an ganz anderer Stelle
sah, während die Capelia Spini zu seiner Zeit zweifel¬
los vollkommen im Barockstil umgestaltet und unsere
Bischofsgestalt dort schwerlich zu sehen war. Im
übrigen können wir somit die Frage nach der Per¬
sönlichkeit des Dargestellten aus dem Spiele lassen,
um der sehr viel wichtigeren nach dem Meister der
Freske endlich näher zu treten.
In der Bestimmung des Künstlers hat die Stil¬
kritik nun völlig freie Hand. Niemand wird wohl eine
Ähnlichkeit zwischen dieser wohlgebauten, schlanken
Gestalt mit den großköpfigen hölzernen oder karikiert
bewegten Heiligenfiguren eines Neri di Bicci heraus¬
finden. Eine solche Energie des Ausdrucks geht erst
recht diesem Maler simpler Männerköpfe oder an¬
mutig blöder Madonnen und Engelkinder über die
Kräfte. Was in unserer Freske unvollkommen er¬
scheint, entspringt altertümlicher Gebundenheit, nicht
individuellem Ungeschick. Keinen Augenblick kann
man bezweifeln, daß der Meister auf einem Boden
mit Uccello und Castagno steht. Er erreicht freilich
keinen von diesen Beiden in der Klarheit und Wucht
der Erscheinung'). Die ganze Figur hat etwas viel
Schmächtigeres als ihre Typen. Die Genannten selbst
sind überdies schon durch gewisse zeichnerische
Mängel, welche für die Entscheidung besonders ins
Gewicht fallen (s. u.), ausgeschlossen. Die gotische
Nische, der eine perspektivische Konstruktion fehlt
und deren flache Wölbung einen einfachen bläulich¬
grauen Hintergrund abgibt, verbietet andererseits, an
einen jüngeren Nachfolger dieser Größten zu denken.
Ihre Umrahmung mit buntem Marmor, Blattwelle und
Astragal, die zwar kräftig und offenbar sehr schematisch
erneuert, aber vom Restaurator schwerlich ganz und gar
aus der Luft gegriffen ist, beweist freilich, daß der Künst¬
ler sich auch gegen die neuen ornamentalen Motive
keineswegs ablehnend verhielt. Immerhin ist sie selbst
für Domenico Veneziano oder Baldovinetti, deren Art
die Figur näher verwandt erscheint, schon zu primitiv.
So kann man sich bei der Erwägung der Möglich¬
keiten auch kaum einen Augenblick mit dem Gedanken
an einen von den Genannten befreunden. Die Be¬
stimmung einer Künstlerpersönlichkeit entspringt wohl
zunächst immer der Intuition, durch die im Bewußtsein
eine den neuen Eindruck völlig deckende Gesamt¬
opera sua la figura ritrovata nel vano della parete laterale
e che credesi, rappresenti il venerabile Gregorio Vallombro-
sano, vescovo di Bergamo«. An sich klingt das plausibel.
1) Castagnos Art stehen drei Heiligengestalten an der
nördlichen Langwand von S. Croce dicht neben dem Ein¬
gänge ungleich näher, aber sie haben nicht die Qualität
seiner eigenen Hand.
Vorstellung hervorgerufen wird. Soll dieses Aufblitzen
aber zur sicheren Überzeugung werden, aus der allein
ein äußerer Beweis zu führen ist, so muß die Nach¬
prüfung greifbare Einzelheiten ergeben, die vor der
Stilkritik bestehen können. Und es finden sich, von
Imponderabilien abgesehen, in unserem Falle Anhalts¬
punkte genug, um die Erkenntnis zu befestigen, daß
wir in der Capelia Spini den sogenannten Carrand¬
meister') vor uns haben. Zum Vergleich sind von
seinen Werken vor allem die Nikolauspredella der
Casa Buonarotti und die Heiligengestalten des Tri¬
ptychons der Sammlung Carrand im Bargello heran¬
zuziehen (s. Abb. 2). Fast an ihnen allen läßt sich,
um mit dem Allgemeinen zu beginnen, eine ähnlich
geringe seitliche Verschiebung des Kopfes gegen die
Medianebene beobachten, und meist eine ungleich stär¬
kere gegensätzliche Verrückung des Augapfels, dessen
fixierender Blick fast etwas Stechendes hat. Der Stand
der Figuren ist freilich durchweg mehr oder weniger
differenziert, und durch eine unruhige Faltengebung
wird die verschiedene Funktion der Beine bald hervor¬
gehoben, bald — , nämlich bei dem Bischofsheiligen, —
auch verschleiert. Beim Franziskus aber und in
noch höherem Grade beim taufenden Nikolaus der
Buonarottipredella (s. Abb. 3) — herrschen trotz der
Biegung des Knies gleiche Steilfalten vor. Ebenso gilt das
von der Einzelgestalt des hl. Antonius in der Berliner
Galerie (Abb. a. a. O. S. 39). Wenn man ferner be¬
achtet, daß unter der linken Hand unserer Porträtfigur
ein paar Faltenansätze eine Biegung zeigen, die der
Restaurator unberücksichtigt ließ, so bleibt kein Zweifel,
daß auch ihr die Unterscheidung in der Stellung beider
Füße nicht ganz fehlte. Die Hauptlast trug das rechte
Bein, das linke war ein wenig verschoben, entweder
seitlich wie bei der Figur in Berlin, wahrscheinlich
aber mehr nach vorn mit verkürztem Fuß wie beim
Täufer des Triptychons, da die Haltung des Ober¬
körpers und des Kopfes auf ein festes Ruhen und
nicht auf bewegliches Lehnen hinweist. Daß der
hagere Körperbau unserer Figur mit dem der Heiligen¬
gestalten des Triptychons durchaus zusammenstimmt,
wird man nicht leugnen können, nur besitzt sie eine
noch größere Schlankheit, wie sie wieder manchen
Figuren der Buonarottipredella eignet und in älteren
Arbeiten des Künstlers, wie dem Kruzifix in Brozzi
(S. Donino), noch stärker durchschlägt (s. Abb. 7).
Gleichartig ist auch das Verhältnis der Gestalt zum
kleinen Kopfe, dessen Form und Gesichtstypus mit
den tiefliegenden Augen besonders mit dem Petrus
des Triptychons Ähnlichkeit hat. Wenn die charak¬
teristische gerade Linie des Unterlids zu fehlen scheint,
so ist das an einem Porträt nicht allzu befremdlich, und
überdies hat der Pinsel des Restaurators die Augen¬
lider sichtlich überarbeitet. Das Entscheidende liegt
jedoch in der Behandlung der Arme und Hände.
Bezeichnend ist für den Künstler zunächst die Unbe-
holfenheit in der Wiedergabe des zurückliegenden
Armes, wo dieser unter dem Mantel hervorkommt.
1) Vgl. W. Weisbach, Jahrbuch d. Kgl. Preuß. Kunst-
samml. iQOi, S. 35 ff.
UNBEACHTETE MALEREIEN DES 15. JAHRHUNDERTS
103
ABB. 3. AUS DER LEGENDE DES HL. NICOLAUS. PREDELLENSTÜCK. FLORENZ, CASA BUONAROTTI
Wie der Bischofsheilige des Triptychons den viel zu
tief liegenden rechten Ellenbogen in gezwungener
Weise an den Körper anzieht, um den Unterarm dann
ebenso gewaltsam aufwärts zu biegen, das findet sein
Widerspiel in der mißglückten Drehung und eckigen
Biegung des rechten Armes unserer Eigur. Hier wie
dort haben wir den Eindruck, als werde die Rechte
in ihrer Bewegung durch den knappen Ärmel beengt.
Und daß dieser nicht ganz so glatt anlag, sondern
wie dort Querfalten hatte, verraten ein paar Spuren
von solchen am Ellenbogen. Der Artikulation der
Fingerbewegungen wendet der Carrandmeister seine
besondere Aufmerksamkeit zu. Sie bekommt dadurch
immer etwas Individuelles, oft aber, so z. B. im An¬
tonius des Berliner Museums, zugleich etwas krampf¬
haft Geziertes. Besonders gelungen und sehr fein
und natürlich ist die Fingerhaltung der erhaltenen Linken
in der Freske, während die sich vor allem zum Ver¬
gleich darbietenden behandschuhten Hände des Bi¬
schofs auf dem Altarblatt in der steifen Streckung
der Finger an der rechten und der gespreizten
Stellung an der linken von jenen Mängeln nicht frei
sind. Trotzdem fällt besonders an der letzteren die
völlig übereinstimmende Bildung der Hand mit dem
breiten gewölbten Rücken, dem geschwungenen äußeren
Kontur und den kurzen etwas krummen Fingern auf).
Diese Ähnlichkeit dürfte auch den strengsten Stil¬
kritiker befriedigen. Ein vergleichender Blick auf
Domenico Venezianos Madonnenbild in den Uffizien
zeigt ganz abweichende Handformen, von den anderen
Naturalisten des Quattrocento ganz zu schweigen.
Ein letztes wichtiges Kennzeichen des Carrandmeisters
bildet endlich die Faltengebung des Untergewandes.
Ganz ebenso ist die schlichte Stoffmasse desselben
beim hl. Nikolaus der Predella in der Casa Buonarotti
1) Vgl. Weisbach a. a. O. S. 38 über die charakte¬
ristische Bildung der Hände beim Carrandmeister.
ABB. 4. AUS DER LEGENDE DES 111 . NICOLAUS. PREDELLENSTÜCK. I LORENZ, CASA BUONAROTTI
04
UNBEACHTETE MALEREIEN DES 15. JAHRHUNDERTS
ABB. 5. SCHULE DES FRA ANGELICO
CHRISTUS IM GRABE. ALTARTAFEL
FLORENZ, ACADEMIA DELLE BELLE ARTl
klären, wenn es auch zweifellos
seinen reifsten Arbeiten zu¬
zuzählen ist und wohl die mo¬
numentalste von ihm erhaltene
Schöpfung darstellt, die uns
zugleich vor seinem Können
als Bildnismaler Achtung ein¬
flößt. Der hier verfügbare
Raum und das Eehlen neuen
Quellenmaterials erlauben mir
nicht, die Erage nach dem Na¬
men des Künstlers aufzurollen.
Vielleicht hätte gerade diese
seinen Werken zugefügte neue
Nummer eine Handhabe dazu
bieten können. Doch die Sache
archivalisch weiter zu verfolgen,
muß denen überlassen bleiben,
die Muße haben, das Staatsarchiv
von Elorenz zu durchstöbern.
Bedeutsam genug erscheint
schon die bloße Tatsache, daß
wir dem Carrandmeister nun
auch als Ereskomaler an einer
Stelle begegnen, wo gewiß nur
ein Mann von Namen und Ruf
herangezogen wurde, und daß
nunmehr seine Tätigkeit da¬
durch endgültig mit der ersten
Hälfte des Quattrocento begrenzt
wird. Denn schwerlich wäre
die Nische für spätere Zwecke
aufgespart geblieben, wenn Neri
di Bicci vor ihm mit der Aus¬
schmückung
der Kapelle
beauftragt
worden wäre.
Ebensowenig
aber hätte man
dessen Fres¬
ken so bald
darnach, als
der Stil der
Figur es noch
zuließe, rück¬
sichtslos ver¬
stümmelt. Die
Bedenken ge¬
gen die von
Weisbach
vorgeschlage¬
ne Identifizie¬
rung des Mei¬
sters mit Pe-
sello dürften
dadurch we¬
nigstens er¬
heblich her¬
abgemindert
werden. So
Jurch hohe Gürtung in zwei
■ tiiirastierende Abschnitte zer-
eg; (s. Abb. 311.4), von denen der
Längere untere ganz vorwiegend
jene Langfalten bildet, der
kurze obere hingegen weit ge¬
bauscht und in eine Faltenmasse
voll unruhiger Windungen und
Knicke gegliedert ist, — wirrer
in den Predellenszenen, ma߬
voller und natürlicher wieder
in der Freske. Diese Überein¬
stimmung erstreckt sich aber
sogar auf die Farbenzusammen¬
stellung. Zwischen das Rot des
Mantels, das aus technischen
Gründen in der Freske einen
dunkleren, mehr braunroten Ton
hat und überdies durch die
Übermalung getrübt ist, und das
Weiß des Unterkleides schiebt
sich vermittelnd das gelbe Man¬
telfutter ein. In der Gewand¬
behandlung tritt auch die gleich¬
artige Formauffassung am augen¬
fälligsten hervor, jene zeichne¬
risch plastische Klarheit, die
treffend als ein Grundzug der
künstlerischen Individualität des
("arrandmeisters erkannt worden
ist*), mit der sich eine Vorliebe
für die scharfe Lichtung der
hohen Faltenkämme“) verbindet.
Wenn im Wandgemälde alles
viel unbe¬
stimmter und
weicher aus¬
sieht, so trägt
daran einzig
und allein die
Restauration
Schuld.
Wir dürfen
das Bischofs¬
porträt in S.
Trinitä nicht
vorschnell für
das späteste
Werk des
Künstlers er-
1) Schmar-
sow, Kunst-
hist. Ges. für
photogr. Publ.,
Jahrgang VI
(Text); Weis¬
bach, a. a. O.
S. 36.
2) Weisbach,
Pesellino, S. 6.
ABB. f). SCHULE DES FRA ANGELICO. I’RFDFLLA DER ALTARTAI TL OBEN
UNBEACHTETE MALEREIEN DES 1 5. JAHRHUNDERTS
1 05
ABB. 7. KRUZIFIX. AUS S. DONINO IN BROZZI
weit stimme ich ihm unbedingt zu, daß der Künstler
unter den Naturalisten der älteren Generation zu
suchen ist.
Noch einen feinen und verschlungenen Verbin¬
dungsfaden zu verfolgen, der vom Carrandmeister auf
weitem Umweg zu Pesello hinzuleiten scheint, ist
ein Hauptgrund, der mich bestimmt, eine letzte Frage
im Hinblick auf ein rätselhaftes Bild der Akademie
von Florenz aufzuwerfen. Die Antwort darauf läßt
sich nicht mit der gleichen Zuversicht geben, aber
nach längerer Erwägung hat meine Vermutung für
mich doch einen hohen Grad von Wahrscheinlichkeit
gewonnen. Es handelt sich um Nr. 24g des Kata¬
logs, bezeichnet als Fra Angelico da Fiesoie und
darstellend die Anbetung der Könige unter der
stehenden Halbfigur des toten Christus, den die üb¬
lichen abgekürzten Andeutungen der Passionsszenen
umgeben: die durch den Kuß vereinigten Köpfe
Christi und des Judas, der erstere mit den Händen
der spottenden Kriegsknechte, die Hände des Pilatus
über der Wasserschale und anderes mehr (s. Abb. 5).
Daß dieses Bild nicht von Fra Angelico gemalt ist,
wird sich vor dem Original jeder sogleich sagen, der
mit seiner Art etwas vertraut ist. Schon der kolori¬
stische Charakter schließt das von vornherein aus, so
stark die untere Darstellung auch an die gleichartigen
Kompositionen des Frate anklingt. Die Betrachtung
des Schmerzensmannes aber dürfte auch in der Photo-
Zeitsdirift für bildende Kunst. N. F. XVIII. H. 4
graphie jeden schnell davon überzeugen. So herb ist
sein Christus nie, nicht einmal in den frühesten Fresken
der Klosterzellen von S. Marco. Eine nähere Betrachtung
der Anbetung der Könige läßt weitere starke Unter¬
schiede hervortreten (s. Abb. 6). Wodurch die Szene
auf den ersten Blick ganz in Fiesoles Art zu fallen
scheint, das ist vor allem der Bau der hoch getürmten
aber sanft geschwellten Berglandschaft, dazu die Stroh¬
hütte. Auch die Figurenverteilung hat nichts Fremd¬
artiges, und bis zu einem gewissen Grade sind sogar
die figürlichen Typen samt ihren Trachten die seinen.
Und doch sind sie es wieder nicht. Kein einziger
Kopf zeigt seine fromme Lieblichkeit, selbst die An¬
mut des schlanken Jünglings mit dem Pudelhaar in
der hinteren Reihe ist eine irdischere. Die übrigen
zeigen vollends derbere, zum Teil häßliche Gesichter,
und allen, Joseph und Maria nicht einmal ausgenommen,
ist eine realistischere Individualisierung der Züge ge¬
mein. Das sind nun gerade Eigenschaften, die den
jungen Pesellino in seinen in der Werkstatt Fra An-
gelicos entstandenen Frühwerken von seinem Lehrer
unterscheiden, so noch in der Geschichte des Cos-
mas und Damian, die in der Akademie gleich da¬
neben an der Vorderseite desselben Wandpfeilers
hängt'), — dessen wohl selten einer größeren Aufmerk-
i) W. Weisbacli, Francesco Pesellino und die Romantik
der Renaissance. Berlin 1901. Taf. IV, 1 und V, 2, S. 34
u. 42 ff.
15
UNBEACHTETE MALEREIEN DES 15. JAHRHUNDERTS
: o6
samkeit gewürdigte Nebenseite unser Bild trägt, —
so auch die Bestattung des hl. Nikolaus in Perugia
(a. a. O. Taf. V, i). ln beiden Werken freilich
findet sich kein einziger genauer entsprechender Kopf
wieder, allein gerade die individualisierende Tendenz
Pesellinos erzeugt in diesen Arbeiten noch eine
stärkere Mannigfaltigkeit der Typen, als in den von
Fra Filippo beeinflußten späteren Werken. Von den
letzteren haben aber die noch immer an Fiesoie er¬
innernden Jünglingsfiguren der Sylvestergeschichte im
Pal. Doria (a. a. O. Taf. VI) in den Stellungen und
dem feinen Gliederbau auch eine deutliche Verwandt¬
schaft mit denen der Anbetung in der Akademie.
Und jener modische junge Gefolgsmann des Akade-
miebildes im Hintergründe erscheint sogar wie eine
romantische Vorahnung der graziösen Jünglings¬
gestalten der Cassonebilder (a. a. O. Taf. Xlll — XVI).
Auffallenderweise zeigt auch Marias Profil Verhältnisse
von Stirn, Nase und Kinn, wie die späteren Madonnen
Pesellinos in Dorchesterhouse und namentlich die der
Uffizienzeichnung (a. a. O. Taf. XI und Xll). Wäre
es denn aber im Grunde so sonderbar, daß nach der
Anlehnung an Fra Filippo, die noch im ersteren
Mutter und Kind verraten, die eigene Anschauungs¬
weise des jungen Künstlers mit zunehmender Selb¬
ständigkeit wieder ähnlich durchschlägt, wie sie sich
in ihren ersten Regungen offenbart? Denn nur eine
Jugendarbeit, und zwar die früheste uns erhaltene,
der geradezu eine Komposition Fra Angelicos zu¬
grunde liegt, können wir auf alle Fälle vor uns
haben. Das Bild stammt nach der Angabe des Ka¬
talogs aus S. Domenico in Fiesoie, also gerade aus
der Zeit, in der Pesellino bei dem älteren Meister
gearbeitet haben muß. Die Stadt auf der Bergeshöhe
links mag Fiesoie und die Kirche, der ein Mönch,
gefolgt von einem roten Engel, zustrebt, S. Domenico
mit den danebenliegenden Klostergebäuden darstellen.
Noch einige andere Züge fallen durchaus in die
Richtung Pesellinos. Wie Ochs und Esel schnobern
und wie die beiden Pferde die Mäuler aneinander¬
reiben, das verrät ganz sein Interesse am Eigenleben
der Tiere. Die langgestreckte Form der Pferdeköpfe
mit stark gebogener Schnauze ist zugleich den Pferde¬
typen der Truhenmalereien verwandt. Ebenso be¬
merkenswert ist die außerordentliche Lebendigkeit des
Blickes, die der Meister auch sonst seinen Köpfen
durch das schimmernde Weiß des Auges zu verleihen
versteht, wie überhaupt ihr starkes physiognomisches
Leben. Daraus entsteht eine individuelle Gesamtstim¬
mung, wie sie wieder das Bild in Perugia in gleichem
Maße durchströmt. Ein Verschieben der Augensterne,
wie es der Christus beim Judaskuß zeigt, wird man auf
so früher Stufe kaum bei einem anderen Quattrocentisten
erwarten können (s. Abb. 5). Und schließlich ent¬
sprechen vor allem die Farben und die Lichtgebung
Pesellinos innerster Neigung. Jene haben nicht die reine
Sättigung wie bei Fra Angelico, sondern sind alle mehr
oder weniger gebrochen, das lichte Rosa der oben
erwähnten Jünglingsgestalt und das helle Spangrün des
danebenstehenden mit dem kurzen Mäntelchen kaum
ausgenommen. Der ihn anblickende Greis bringt
durch ein tiefes Olivbraun einen eigenartigen Kontrast
dazu. Das Blau der Mäntel und Gewänder ist
schmutziger, das Rot am knieenden König stumpfer.
Die stark belichteten Faltenkämme stechen von den
Lokalfarben viel stärker ab, namentlich am gelben
Mantel Josephs, aber auch am blauen Marias und am
Oberkleid des mit gefalteten Händen dastehenden
Königs sowie am dunklen Wams jenes Greises unter
dem Gefolge. Über die Bergkuppen flutet dasselbe
intensive Licht. Wie sehr Pesellino solche Wirkun¬
gen zu berücksichtigen strebt, lehrt bekanntlich seine
ganze Entwickelung').
An dem Kontrast der belichteten Formen zu
den im Schatten liegenden haben die Figuren
größeren Maßstabes der Pieta entsprechend noch
stärkeren Anteil. Das Inkarnat fällt namentlich hier
durch seinen schmutzigbräunlichen Ton auf, und die
Halbschatten — , denn um solche handelt es sich ja
eigentlich nur, — haben nichts von der rötlichen
Durchsichtigkeit wie bei Fra Angelico, vielmehr über¬
wiegt ein dunkler klebriger Bronzeton, der vielleicht
auf starke Beimischung eines zähen Bindemittels
schließen läßt. Folgt der Künstler darin dem eigenen
Instinkt, so ist andererseits die Modellierung voll¬
kommen in der weichen Manier seines Meisters gehalten.
Das begründet einen unleugbaren Gegensatz zu einem
älteren Kunstwerk, mit dem sich der Christustypus
in eigenartiger Weise berührt. Ich wüßte keinen ihm
näher verwandten Kopf des Gekreuzigten zu nennen,
als den des altertümlichen Kruzifixes in Brozzi, das
eine unzweifelhafte ziemlich frühe Arbeit des Carrand¬
meisters ist (neuerdings von Alinari als Nr. 20326
aufgenommen). Nicht nur die Neigung und Wen¬
dung der Köpfe und die mäßige Fülle des dunkel¬
blonden Haares, sondern auch die Formen der Nase
mit breitem Rücken und kräftig modelliertem Flügel
und der schmerzlich zusammengepreßle Mund haben
trotz der völlig verschiedenen Modellierung wenig
von der Formenbildung verloren, die der ältere Meister
noch in ungemilderter Linienschärfe wiedergibt. Wenn
aber wirklich ein solcher Zusammenhang besteht, so
würde er sich leicht unter der Voraussetzung erklären,
daß Pesellino in frühester Jugend außer von Fra An¬
gelico auch von der Kunst seines mit dem Carrand¬
meister identischen Großvaters Pesello Anregungen
empfangen hat"). So scheinen sich seine Beziehun¬
gen zum Carrandmeister an diesem neuen Beispiel
zu bestätigen. Mögen Spezialkenner der quattrocen-
tistischen Malerei vor dem Original entscheiden, ob
die Zuschreibung des Akademiebildes an Pesellino
der Nachprüfung Stand hält oder ob wir es mit einem
geringeren Werkstattgenossen Fiesoles zu tun haben.
1) Weisbacli, a. a. O. S. 35 u. 102.
2) Weisbach, a. a. O. S. 99.
BUCHERSCHAU
Max Sditnid, Kunstgeschichte des ig. Jahrhunderts. Zweiter
Band. Mit 376 Abbildungen im Text und 17 Farben¬
drucktafeln. Leipzig, E. A. Seemann, igo6. Geb. 11 M.
Mit zwei der Kunstgeschichte des ig. Jahrhunderts
geltenden, reich und gut illustrierten Publikationen ist der
rührige Seemannsche Verlag auf den letztjährigen Weih¬
nachtsmarkt getreten, ln Max Osborns »Kunst des ig.
Jahrhunderts« hat das Springersche »Handbuch der Kunst¬
geschichte« einen recht ansprechenden, auch nach dem
Umfange sich den vorangehenden Bänden geschickt an¬
passenden Abschluß gefunden. Dieser sehr anerkennens¬
werten Arbeit, die überall eindringliche Beschäftigung mit
der schier unübersehbaren Menge moderner Kunstschöp¬
fungen fesistellen läßt, gesellt sich der zweite Band von
Max Schmids groß angelegter »Kunstgeschichte des ig. Jahr¬
hunderts« bei, dessen Vorgänger vor zwei Jahren sich einer
im allgemeinen sehr sympathischen Aufnahme zu erfreuen
hatte. Sie wird zweifellos auch der vorliegenden Fort¬
führung dieses kunstpublizistischen Unternehmens treu
bleiben, dessen Arbeitsgang und Durchführung wirklich
bedeutende Gesichtspunkte beherrschen.
Die Behandlung der französischen Kunst unter dem
zweiten Kaiserreiche und der Republik ist an die Spitze
der Arbeit gestellt. Trotz der hohen Bewertung tritt nir¬
gends Überschätzung dieser so einflußreichen Richtung
zutage. Von der Fülle großer Bauaufgaben unter Napo¬
leon 111. ausgehend, weiß Schmid knapp darzulegen, wie
der zunächst von der Romantik beherrschten Bauweise
sich mit gleichzeitiger Heranziehung einer auf gründlichen
wissenschaftlichen Studien fußenden Architektengeneration
der Kreis historischer Bauformen erschließt, die niemand
als einen Zwang, als eine Hemmung empfand. Im allge¬
meinen muß man beipflichten, daß die vereinzelten Ver¬
suche der Einführung neuzeitlicher Formen in Frankreich,
dessen Architektur als »getreues Spiegelbild eines vor¬
nehmen geistigen Stillebens« bezeichnet wird, mit unbe¬
streitbarem Mißtrauen zu kämpfen haben. Bei der Würdi¬
gung der Malerei rückt nach einer sehr sachgemäßen Her¬
vorhebung der Bedeutung der Zeichner und Illustratoren
für die Heranziehung des gesamten modernen Lebens in
das künstlerische Darstellungsgebiet die »Schule von Bar¬
bizon« mit Recht in den Vordergrund, welche die Vertiefung
des Naturempfindens so außerordentlich belebte. Von dem
dieselbe nach einer anderen Seite malerischer Darstellung
ergänzenden Realismus eines Millet und Courbet führt
Schmid über mehrere interessante Zwischenstationen, auf
denen ihn namentlich die Porträt- und Militärmaler be¬
schäftigen, und die Empfindung für die Farbe als Trägerin
aller räumlichen Darstellung immer stärker wird, allmäh¬
lich zu der von pseudorealistischen Ausschreitungen nicht
freibleibenden Plastik hinüber. Manches von dem Wesen
der belgischen Kunst, deren Entwickelung seit 1848 jener
Frankreichs angereiht ist, wurzelt in französischen Anschau¬
ungen, besonders die von starken Einflüssen Viollet-le-
Ducs berührte belgische Architektur, die erst unter Horta
und van de Velde von der über ein Jahrhundert währenden
Vorherrschaft Frankreichs befreit wird. Von letzterer sind
ja auch Malerei und Plastik Belgiens, so viel Züge selb¬
ständiger Auffassung und Behandlung der Anschluß an
das Bodenständige vermitteln mag, keineswegs frei geblieben.
Die Stoffgliederung hat daher mit richtiger Empfindung
die belgische Kunst gerade an diese Stelle gesetzt.
Wie Schmid allgemeiner Zustimmung sicher .^ein kann,
daß er der französischen Kunst mit ihrem belgischen Seiten¬
zweige gewissermaßen die Führung der Bcvregung über¬
ließ, ebensowenig dürfte diese Anerkennung eine Ein¬
schränkung erfahren angesichts der Tatsache, daß nahezu die
Hälfte dieses für deutsche Leser bestimmten Werkes der
Behandlung der deutschen Kunst seit 1850 gewidmet ist.
Das Interesse des kunstliebenden deutschen Publikums an
der Entwickelung der heimatlichen Kunstbestrebungen ist
unstreitig im Wachsen und verlangt von einer Darstellung
des Kunstlebens im ig. Jahrhundert mit einem nicht ab¬
zuleugnenden Rechte eine breitere Entfaltung des deutschen
Anteiles im Rahmen des Ganzen; französische und eng¬
lische Autoren dürften unter gleichen Voraussetzungen
für ihre Nationen kaum einen anderen Standpunkt ein¬
nehmen, dessen Hervorkehrung dem deutschen Leserkreise
nur sympathisch sein wird. Die Baubewegung knüpft an
Berlin, München, Dresden, Wien, Stuttgart, Hannover an,
findet in Semper, Hansen, Ferstel, Schmidt, Fr. Thiersch, Ga¬
briel Seidl, Hase und anderen führende Meister und Meisterer
abwechslungsvollster Ausdrucksformen und in Kirchenbauten
sowie Profanwerken der verschiedenartigsten Bestimmung
Gelegenheit zur Lösung monumentaler Aufgaben, an weichen
Geschmack, Können und Anordnungsgeschick ausreifen.
Mit besonderem Danke sei es hier verzeichnet, daß Schmid
der meist ungebührlich vernachlässigten modernen Archi¬
tektur sich überaus umsichtig annimmt und wie für Deutsch¬
land so später auch für England mit sicheren Strichen das
abwechslungsreiche Bild des Bauschaffens seit 1850 zu
zeichnen versteht. Diese Versuche einer übersichtlichen
Zusammenfassung eines ob seiner Sprödigkeit nicht leicht
zu bewältigenden Stoffes dürfen als recht glücklich und
gelungen bezeichnet werden. Mit gleicher Umsicht ist
aber auch der Entwickelung der deutschen Malerei nach¬
gegangen, für welche Berlin, Düsseldorf, München und
Wien eine besondere Bedeutung erlangten und Meister
wie Feuerbach, Menzel, Lenbach, v. Gebhardt, Defregger,
Makart und andere bis auf die rassentypischen Sonderindivi¬
dualitäten derTschechen, Ungarn und Polen sachverständige
Einschätzung erfahren. Letztere weiß in München, Berlin,
Düsseldorf, Dresden und Wien die zumeist in der Auf¬
fassung des barocken Realismus sich bewegenden Schöp¬
fungen deutscher Plastik mit entsprechender Betonung der
für die einzelnen Orte und Künstler beachtenswerten Eigen¬
art zutreffend zu charakterisieren.
Die Zwecksicherheit der Darstellungsweise Schmids
erhellt auch aus der den Abschnitt über die englische Kunst
seit 1850 einleitenden Würdigung Ruskins, dessen einzig¬
artiger Persönlichkeit hauptsächlich die Führung des ganzen
Aufschwunges zufällt, obzwar letzteren ja noch andere
Umstände und Künstler beeinflußten. Seit Muthesius’ vor¬
trefflicher Abhandlung über die neuere kirchliche Baukunst
in England ist auf dem Kontinente Verständnis und Inter¬
esse an den Bauschöpfungen Großbritanniens gewachsen,
die Schmid über den Eisenbau und die Neurenaissance
bis zu den oft so anziehenden Abwandlungen des bürger¬
lichen Wohnhauses verfolgt. Haben auch die Publikationen
von Muthesius über »englische Baukunst der Gegenwart«
und »das englische Haus« einer allgemeiner gewordenen
Empfänglichkeit für diese Fragen vorgearbeitet, so wird
sich doch neben ihnen die von Schmid gebotene Zusammen¬
fassung mit Glück behaupten. Dieselbe bietet so viel.
15
io8 BUCHERSCHAU NEUE WERKE VON B. HEROUX UND P. BUERCK
was noch mit aktuellen Bedürfnisfragen und mit Forde-
1-ungen des praktischen Lebens zusammenhängt. Gleiche
Abrundung wie bei der englischen Architektur ist bei dem
hochwichtigen Abschnitte der englischen Malerei erzielt,
der mit einer guten Darstellung des Präraffaelismus ein¬
setzt und überzeugend darzutun weiß, wie eine glückliche
Anpassung der Maler an die heimische Eigenart den Eng¬
länder ein gewisses Minus an künstlerischer Potenz im
Vergleiche zu kontinentalen Schulen, besonders zu Frank¬
reich nicht gerade stark fühlen läßt. Gegen die großartige
Leistungsfähigkeit der nach allen Richtungen sich glänzend
entwickelnden englischen Malerei blieb die im ganzen von
kontinentalen Anregungen lebende englische Plastik des
Zeitraumes, mit welcher der zweite Band abschließt, gar
beträchtlich zurück.
Schniids Kunstgeschichte ist mit dem zweiten Bande
um ein gut Stück der Vollendung näher gerückt, gut in
mehr als einer Beziehung. Nirgends drängt sich eine
Effekthascherei oder Kampfesstimmung auf, die in Muthers
Geschichte der Malerei an gar mancher Stelle etwas pein¬
lich berührt. Wie Schmid ein ganz außerordentlich reiches
Material fein abwägend beherrscht, so beherrscht er in
maßvoll abgeklärtem Urteile auch sich selbst, ohne zum
Geiste zu werden, der stets verneint oder in kritikloser
Verhimmelung sich verliert. Wohl allen die moderne Kunst
bestimmenden Strömungen folgend, aber nicht von ihnen
hingerissen, geschweige denn des Rechtes unparteiischer
Auseinandertialtung der Erscheinungsformen sich begebend,
wird Schmid zu einem höchst kenntnisreichen und ver¬
ständnisvollen Berater über den Entwickelungsgang jener
Kunst, deren lebenskräftige Pulsschläge wir noch alltäglich
fühlen können. Die vorliegende Fortführung seines Werkes
wird viele Freunde finden, die nun mit doppelter Spannung
dem Abschlüsse des Ganzen entgegensehen dürften. Der
höchst geschmackvollen Auswahl des auch in der Wieder¬
gabe der Farbenwerte Großartiges erzielenden Abbildungs¬
materiales hält die Ausführung der Illustrationen, auf deren
möglichste Einwandfreiheit der Verleger offenbar viel Auf¬
merksamkeit verwendet hat, in jeder Hinsicht das Gleich¬
gewicht. Das Verständnis der Gegenwartskunst wird auf
dieser Grundlage in weiten Kreisen erstarken.
Joseph Neuwirf/t.
NEUE WERKE VON B. HEROUX UND P. BUERCK
Wenn ein Künstler eine Reise tut, so läßt er seinen
Zeichenstift was erzählen. Das ist von alters so der
Brauch. Viele malerische Reisetagebücher sind auch
der Öffentlichkeit übergeben worden; gewöhnlich
derart, daß der Künstler seine ursprünglichen flüch¬
tigen Improvisationen zu Hause kombiniert, durch¬
arbeitet und für das Publikum abrundet. Der Leipziger
Bruno Heroux hat sich diesen Umweg erspart, indem er
seine Eindrücke während einer kürzlich unternommenen
Reise nach Oberitalien direkt auf besonders präpa¬
riertes lithographisches Papier gezeichnet hat und da¬
durch in den Stand gesetzt war, nach seiner Rück¬
kehr durch Umdruck auf den Stein dieses Skizzen¬
buch ohne die mindeste Veränderung oder den ge¬
ringsten Verlust an Ursprünglichkeit zu vervielfältigen.
So ist eine geschmackvolle Mappe von 36 Blättern
entstanden, auf denen wir den Künstler von seiner
Heimatstadt Leipzig über Wien, Preßburg, Miramare,
den Karst nach Triest und von dort nach Venedig,
Padua, Verona und an den Gardasee begleiten. Eine
wesentlichere Anschauung von den guten und feinen
Eigenschaften dieses Skizzenbuches als eine Beschrei¬
bung mit Worten gibt das Blatt, welches wir hier
im Originaldruck unseren Lesern bieten. Da wir
Heroux von seinen ersten Anfängen in öfteren Proben
in unserem Kreise auftreten sahen, so vermögen wir
auch an der Zeichnung dieses Amphitheaters einen
erfreulichen Aufstieg des Künstlers zu leichter und
freier Erfassung einer großen Szene zu konstatieren.
Die Mappe ist im Selbstverläge des Künstlers erschienen.
Der Zufall will es, daß uns gleichzeitig mit dem
Werke von Heroux noch ein zweites, sehr ähnliches
zu Händen kommt, nämlich »Eine Reise nach Rom.
50 Federzeichnungen von Paul Buerck«. (Verlag von
G. Grote, Berlin.) In der künstlerischen Auffassung
ist Buercks Arbeit von der eben besprochenen weit
verschieden. Unter der Sonne Roms reifen seine
Zeichnungen zu einer gewissen Feierlichkeit. Sie
haben in der Ausführung etwas Trockenes, Kupferstich¬
artiges. Was ihnen dadurch an Lebendigkeit abgeht,
haben sie aber an Charakter und Stil gewonnen.
Jedenfalls sind gerade die Blätter des Albums, in
denen diese Eigentümlichkeiten am stärksten aus¬
geprägt sind, die besten, während andere, wo Buerck
weichere, mehr malerische Wirkungen erstrebt, weniger
gelungen scheinen. G. K.
Herausgeber und verantwortliche Redaktion: E. A. Seemann, Leipzig, Querstraße 13
Druck von Ernst Hedrich Nachf., o. m. b. h., Leipzig
ZEITSCHRIFT FÜR BILDENDE KUNST 1907 ORIGINALLITHOGRAPHIE VON BRUNO HEROUX
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DIANA
Marmorbildwerk von Max Klinger
Verlag von E. A. Seemann in Leipzig. 1907
AUS KLINOERS NEUEM WERK EPITHALAMIA
Mit Genehmigung der Verlagskunslliandlung Amsler & Rulhardt. Berlin W. 64
MAX KLINGER
EIN GRUSS ZU SEINEM FÜNFZIGSTEN GEBURTSTAGE
Von Felix Becker
WENN ich an Klinger zurückdenke, kommt
etwas Feiertägliches über meine Seele, und
ich bin stolz darauf, diesem Großen in
trauter Rede nahe gewesen zu sein«. So sagt Franz
Servaes in seiner kleinen und so feinen Klingerbio-
graphie und hat damit wohl allen aus der Seele ge¬
sprochen, die das Glück hatten, von des Künstlers
genialen Schöpfungen wie vom Zauber seiner Per¬
sönlichkeit im Innersten erwärmt zu werden.
Fleute zu seinem fünfzigsten Geburtstage mag
der Meister gestatten, daß wir einmal das Mensch¬
liche und Persönliche an ihm berühren, indem wir
rückschauend charakteristische Züge, auch kleine, bis¬
her noch nicht bekannte, aus seinem äußeren und
inneren Entwickelungsgange uns vergegenwärtigen.
Das alte geschäftige und gelehrte Leipzig hat
den Vorzug, vierzig Jahre nach Richard Wagners
Geburt auch Max Klingers Geburtsstadt zu werden.
Am i8. Februar 1857 erblickte er hier das Licht
der Welt als Sproß einer angesehenen Bürger¬
familie. Sein Vater, ein Seifenfabrikant, liebte die
Musik und war ein geschickter Dilettant im Zeich¬
nen; wenigstens ist von ihm eine Bleifederzeich¬
nung aus dem Ende der dreißiger Jahre des vorigen
Jahrhunderts erhalten, in der er mit gutem Effekt
das Stadtbild von Leipzig von der Höhe des Conne-
witzer Kreuzes aus darstellte. Und nun Klingers
Mütterchen! Ein Musterbeispiel zum Thema: Künstler¬
mütter! Noch bei der achtzigjährigen Greisin ließen
die seltsam klaren, hellblauen Augen mit ihrem festen,
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XVIII. 11. 5
freundlich-ernsten Blick in dem von schneeweißem
Haar umrahmten, vielrunzeligen Antlitz einen Charakter
von besonderer Klugheit und Herzensstärke ahnen.
Sie hatte das Genialische in des Kindes Wesen am
ehesten und feinsten erkannt und hatte interessante
lind jetzt erst recht verständliche Einzelzüge aus
der frühen Knabenzeit des Künstlers in treuem,
auch von der Schwäche des Alters nicht verlöschtem
Erinnern bewahrt. So folgendes: »Mutter, ich gehe
jetzt in den Garten zu meinen Freunden«. — »Aber
Kind, es ist ja gar kein Freund von dir dort.« —
»Doch Mutter, die Schmetterlinge und Käfer sind
meine Freunde.« — Klingt das wie das frühe Be¬
kenntnis des intimen Naturgefühls und des tiefen
Interesses an jeglicher Kreatur, das Klingers Wesen
und Schaffen später offenbart, so zeigte sich auch
sehr früh das Regen und Bilden seiner starken
Illusionskraft. Er sah z. B. und beschrieb aufs ge¬
naueste eine Eule im Baume, wo keine war,
und erblickte mit Entzücken in blauer Luft einen
Hafen mit Schiffen und hundertfältigem Leben und
war verwundert, daß seine Mutter von alledem, was
er ihr mit dem Finger doch deutlich zeigte, auch
nicht die Spur erblicken konnte. Sie hat auch die
ersten Skizzenbücher des eifrig zeichnenden Knaben
aufbewahrt. Es sind zwei einfache Kinderalbums mit
vielen Bleifeder-, Feder- und einigen farbigen Zeich¬
nungen, etwa ans seinem zehnten bis vierzehnten
Jahre. Auch in diesen Blättern verrät sich ohne
weiteres das junge Genie durch den überraschenden
16
1 1 ü
MAX KLINOER
Fortschritt in der Sicherheit der Ausdriicksfähigkeit und
ebenso in der Originalität der Erfindung. Er kopiert
nicht, wie Knaben seines Alters gern tun, sondern
zeichnete Beobachtetes oder in der Phantasie Erbautes
aus dem Gedächtnis, z. B. den Angler in dem span¬
nenden Momente, wo »es nippelt«, oder die Götter
des Olymp einzeln in Charakterfiguren aus dem Leip¬
ziger Volksleben übersetzt oder höchst lebhafte und
überzeugend wirkende Kampfszenen aus dem Kriege
1870 '71. Zuletzt als Vierzehnjähriger gibt er Männer¬
köpfe in feiner Eederzeichnung von frühreifer Meister¬
schaft. In all den Blättern, von den ersten an, scheint
es keine Rasur und keinen Eehlstrich zu geben; äußerst
klar muß jeder Vorgang vor der kindlichen Vor¬
stellung gestanden haben und willig die bildende
Hand dem Impulse gefolgt sein.
Inzwischen war er Schüler des Leipziger Real¬
gymnasiums geworden und es ist wohl nur zu be¬
greiflich, daß er sich zu ein paar Lehrern hingezogen
fühlte, die von dem Gros der Schüler geärgert und
vielleicht erst nach der Schulzeit oder nie verstanden
worden sind. Auch in der späteren Schulzeit war
seine größte Freude in die freie Natur zu gehen und
zu zeichnen, was das Auge sah oder die Phantasie
ihm vorzauberte. Einiges aus dieser Zeit ist ebenfalls
durch der Mutter Sorgfalt erhalten, so z. B. eine
ziemlich große, vielfigurige Theaterszene, die, wenn
ich mich recht entsinne, den Titel; Tulifäntchens Hoch¬
zeit führt, ln all den Schulstunden mag er wohl
nie so andächtig gelauscht haben, als wenn aus
Mythe und Sage der Antike erzählt wurde. Da muß
seine junge geniale Phantasie den Olympos offen
gesehen und sich die antike Götterwelt so greif¬
bar und herrlich auferbaut haben, daß er bei den
schönsten Werken der Folgezeit nur liebtraute Ge¬
stalten aus diesem Reiche zu geben scheint.
Sein Künstlerberuf stand also frühzeitig fest, bei
ihm wie bei seinen Eltern, und mit »dem Einjährigen«
in der Tasche verließ er die Schule, um sich danach
sechzehnjährig an der Karlsruher Akademie und als
Karl Gussows Schüler anzumelden. Es ist bekannt,
daß er dann nach zwei Jahren, 1875, dem verehrten
Lehrer und damals hochgefeierten Porträtmaler nach
Berlin folgte. Wohl zeigen seine frühen Malereien,
z. B. der Überfall, zwei lebensgroße Studienköpfe
alter Männer (1877) und eine Skizze, Mann im
Boot (im Leipziger Museum) jenes frische, kecke Frei¬
licht, das Gussow damals als etwas Neues meisterte,
aber die Nuance ist bei Klinger anders, und hin¬
sichtlich der Stoffwelt verfügte der junge Künstler
über eine unbegreiflich reiche und produktive Phan¬
tasie. In dieser Hinsicht konnte auch ein so hervor¬
ragender Lehrer wie Gussow dem Schüler keine
wesentlichen Anregungen mehr bieten und nur ein
ganz großer Phantasiekünstler wie Arnold Böcklin
vermochte durch seine Werke die Begeisterung des
jungen Klinger für die antikische Fabelwelt zu ent¬
flammen, die ihm, wie wir gesehen, von Jugend an
nahe lag. Aber auch Böcklin gegenüber bewahrte
Klinger seine Selbständigkeit bei diesem Ritt ins ro¬
mantische Land und hat sie später immer wieder zu
wahren gewußt, wenn geniale und ihm in einzelnen
Zügen verwandte Künstlernaturen wie Goya, Rops,
Menzel und Rodin ihm Anregung boten.
Im Sturm und Drang der Berliner Jahre, 1875 — 83,
wandte sich Klinger bekanntlich mit leidenschaftlichem
Eifer der Originalradierung zu und wußte diesem bei
uns der Reizlosigkeit verfallenen Kunstzweige neues
Leben und hinreißende Wirkungen zu verleihen. Die
ersten Zyklen entstanden damals; Radierte Skizzen,
Rettungen ovidischer Ojrfer, Eva und die Zukunft,
die Intermezzi, Amor und Psyche, Paraphrase über
den Fund eines Handschuhs, Vier Landschaften, ein
Leben, Dramen und der Anfang von Eine Liebe.
Und zu der Fülle an geistvoll pointiertem Inhalt, an
tiefen Herzenserfahrungen, an Kraft und Schönheit
der Erfindungen in diesen auch technisch immer kunst¬
voller werdenden Blättern kommt eine kaum zu über¬
sehende Zahl von reizvollen Einzeldrucken. Wenn
Adolf Menzel es verstand, Illustrationen und festlichen
Widmungsblättern einen höheren künstlerischen Wert
zu geben, so kam ihm darin niemand gleich als der
junge Klinger. Seine Illustrationen in der Festschrift
des Berliner Kunstgewerbemuseums (1881) und die
Zierleisten in dem witzigen Büchlein: Blüten aus dem
Treibhause der Lyrik, seine Notentitel (für Simrock),
seine Allegorien und Embleme (für Gerlach & Schenk),
seine Exlibris und Diplome sind wahre Perlen ihrer
Art. Und welche Fülle von Zeichnungen in feinster
Ausführung und immer fesselnd im Inhalt hat man
schon aus dieser Zeit von ihm. Man kann sagen, daß
er als Zeichner gerade in seinem zwanzigsten Jahre
seinen so charakteristischen, persönlichen Stil aus¬
bildete; man denke an die acht Zeichnungen: Rat¬
schläge zu einer Konkurrenz über das Thema Christus,
die 1877 entstanden und die jubelnde Bewunderung
seines Freundeskreises hervorriefen. Vor mir liegt
aus demselben Jahre eine nicht weiter bekannte Feder-
und Sepiazeichnung, die in seltsamer Verschmelzung
von Phantastik und Realismus die Verurteilung einer
Kindesmörderin darstellt. In der Mitte sitzen feierlich
zwei stabbrechende Richter, links von ihnen steht
eine kummervoll blickende Dienerin mit dem toten
Kinde auf dem Arme, rechts hinter der Schranke
dicht gedrängt die unglückliche Mutter mit den
Ihrigen, den alten tiefbekümmerten Eltern, der Schwester
und dem träumerisch die Szene verfolgenden Brüder¬
chen. Ein erbarmungsloser Scherge drängt die An¬
geklagte vorwärts und von links blickt der Ankläger
mit einem Raubvogelgesicht auf sein Opfer. Wenn
auch die ganze Komposition noch etwas Naives hat,
so ist doch die Charakteristik der einzelnen Personen
und die Feinheit der Zeichnung ich möchte sagen von
einer Van Eyckschen Gründlichkeit und durch die Weg¬
lassung alles Beiwerks eine intensive Wirkung gewonnen.
So arbeitet der zwanzigjährige Jüngling und wagte es
im nächsten Jahre (1878) zum erstenmal in Berlin öffent¬
lich auszustellen, allerdings mit dem Erfolge, für seine
Arbeiten allgemeiner Entrüstung beim Publikum zu
begegnen. Aber die spätere Zeit hat ihni Recht ge¬
geben; das eine Ausstellungsstück, Der Überfall, ist
in den letzten Jahren, auch noch auf der Jahrhundert-
MAX KLINGER
1 1 1
ausstellung viel bewundert worden und hat durch
mehrere Besitzerhände gehend seinen ursprünglichen
Preis schon verfünfundzwanzigfacht, während die da¬
mals verhöhnten Zeichnungen zum Thema Christus
ein bekannter Schatz der Nationalgalerie geworden
sind. — Ein Studienaufenthalt in Brüssel 1879 endete
leider für ihn mit einem schweren Krankenlager, von
dem er sich erst im nächsten Jahre in Karlsbad er¬
holte. Dort entstanden während seiner Rekonvales¬
zenz die berückend lieblichen Illustrationen zu Amor
und Psyche. — Nach Berlin zurückgekehrt, muß er
in den nächsten Jahren mit einem wahren Feuereifer
geschaffen haben, denn außer den erwähnten Ra¬
dierungen und Zeichnungen entstanden auch Gemälde
wie der Abend (1882), die Gesandtschaft (1882) und
die Malereien für die Villa Albers. ln dieser reichen
und sonnigen Schöpfung Klingerscher Phantasie können
wir auch die erste große Huldigung an Böcklin er¬
kennen. Leider hat ein Unstern über diesem Bei¬
spiel Klingerscher Raumkunst gewaltet und man muß
sich den Gesamteindruck aus den erhaltenen Haupt¬
stücken der Dekoration rekonstruieren (vergl. diese
Zeitschrift vom Oktober 1904).
An die Berliner Zeit reihen sich die Wander¬
jahre und der Radierer Klinger wird zum Maler.
Sein Aufenthalt in Paris von 1884 — 86 vergeht ihm
in aufreibender Tätigkeit an seinem ersten großen
Gemälde, dem wundervollen Parisurteil, das jetzt die
moderne Galerie in Wien ziert. An dem Gemälde
ist im Charakter nichts von französischem Einfluß zu
spüren; Klingers Selbständigkeit bewährt sich auch
gegenüber den großen Franzosen, wenn man nicht
die hohe Vervollkommnung der malerischen Aus¬
drucksmittel auf die Errungenschaften der Franzosen
zurückführen will. 1886 kehrte Klinger nach Berlin
zurück und zog dann im März 1889 auf fast vier Jahre
nach Rom. ln unablässigem Schaffensdrange entstanden
dann in den Jahren 1888 93 andere Meisterwerke:
die Kreuzigung, die Pieta, die blaue Stunde, Pleinair-
Porträts, die Strandwelle und die Sirene; auch die ge¬
waltige Folge der Radierungen: Vom Tode 1 wurde
damals (1889) vollendet und die II. Folge begonnen.
Eine große Überraschung brachte das Jahr 1893, als
Klinger damals mit der Salome als Bildhauer auftrat,
ebenso unvermittelt, wie es schien, als verblüffend
durch die fundamentale Neuheit seiner bemalten
Skulptur. Wohl in besonders heftiger Form hatte
der Meister das Unterfangen einer genialen, dem
Verständnis der übrigen Welt um Jahre voraus¬
liegenden Künstlertat mit Hohn und Spott zu büßen.
Schon im nächsten Jahre folgte die künstlerisch freiere
Kassandra, die auch des Künstlers Streben nach
farbiger Wirkung durch naturfarbenes Material besser
zum Ausdruck brachte. Übrigens gehen Klingers
Versuche auf dem Gebiete der Plastik weiter zurück,
als man glaubt. Schon in der Jugend hat er ein
interessantes Schillerporträt modelliert, von dem der
Gipsabguß erhalten ist, und ferner zeigt ihn der um
1886 entstandene plastisch geschmückte Rahmen des
Parisurteils mit den originellen Masken schon als ge¬
schickten Modelleur. Von Rom zurückkehrend, nahm
er seinen dauernden Aufenthalt in Leipzig; er brauchte
nicht die Anregungen einer Kunststadt, sondern die
Ruhe der Arbeit für seine Ideen. Die Jahre 1894—97
fanden ihn auf allen seinen Gebieten eifrig tätig. Zu¬
erst erschien damals die herrliche Brahmsphantasie, das
schönste Radierwerk, das die moderne Kunst über¬
haupt hervorgebracht hat. Zugleich arbeitete der
Meister an seinem Hauptwerke Christus im Olymp
bis 1897 und vollendete im selben Jahre das originelle
plastische Zierstück der drei tanzenden Frauen auf
Onyxsockel. Nun folgten rasch aufeinander die
weiten Kreisen durch Abbildungen bekannt gewor¬
denen Marmorwerke: Badendes Mädchen (Leipzig 1898),
Amphitrite (Berlin 1898), das Ledarelief (in zwei Va¬
rianten, eine in Privatbesitz in Leipzig, 1899), die
polylithe Büste von Elsa Asenijeff (Leipziger Privat¬
besitz 1900), die Kauernde (Wien, Privatbesitz 1900),
die Bronzestatuette des Athleten (1901, in mehreren
Exemplaren), die Marmorbüsten von Franz Liszt und
von Richard Wagner, Mädchenkopf mit Hand (Wien,
Privatbesitz, 1901) und 1902, nach fünfzehnjähriger
Arbeit, des großen Künstlers unvergängliches Haupt¬
werk: Der thronende Beethoven. Im selben Jahre
noch folgte die Marmorbüste Nietzsches (Weimar),
zu der er bald darauf ein interessantes Gegenstück
in Bronze schuf (Berlin, Privatbesitz). 1904 vollendete
er die vielbesprochene Marmorgruppe: Das Drama
(Dresden, Albertinum) und arbeitete zugleich an einer
gigantischen Gruppe: Der Triumph des Weibes (vor¬
läufig Entwurf), und begann das Hamburger Brahms¬
denkmal, an das er jetzt gerade die letzte Hand legt.
Zu gleicher Zeit begann er die Vorbereitungen zu
einem Kolossaldenkmal Richard Wagners für Leipzig,
und schon lassen herrliche Kartons in Originalgröße
und ein Gipsmodell in halber Größe die monumen¬
tale Wucht dieses Werkes ahnen. Wie zur Erholung
von den Anstrengungen dieser großen plastischen
Aufgaben greift er immer wieder einmal zum Pinsel
oder zur Radiernadel, und so entstanden in den
letzten Jahren einige nicht weiter bekannt gewordene
Porträts und auch bedeutende Radierungen wie die
letzten Blätter für Vom Tode II und die Vollendung
der wundervollen Textumrahmungen, die 1889 wohl
für eine zweite Ausgabe von Amor und Psyche ge¬
plant waren, aber nun vervollständigt mit neuem Text
unter dem Titel Epithalamia in Heliogravüren bei Amsler
& Ruthardt erscheinen werden. In das Jahr 1 905 fällt der
prächtige silberne Tafelaufsatz für das neue Leipziger
Rathaus, der noch durch zwei Fruchtschalen tragende
Putten vervollständigt werden soll. Die selbe Technik
des Silbergusses wiederholte er bei einer schlichten
Gruppe: Galathee, die in Weimar im vorigen Jahre
ausgestellt war. Vor wenigen Wochen erst beendigte
er wieder eine fast lebensgroße weibliche Marmor¬
figur von berückendem Reize. Es ist nicht leicht zu
sagen, worin das ungewöhnlich Suggestive dieser Figur
liegt. Ist es die wundervoll weiche und zartgefühlte
Wiedergabe des Körpers oder wirkt so mächtig die
seltsame Drehung und Verschränkung der Glieder,
besonders die ganz aparte Geste der vorgestreckten,
verschränkten Arme. Der Künstler hat die Figur Diana
ifV
I 12
MAX KLINGER
genannt, indes glaube ich nicht, daß uns dieser Name
zum Schlüssel des Verständnisses dienen kann. Auf
den ersten Blick wirkt sie wie eine Niobidin, aber
diese Deutung befriedigt nicht voll. Diese Geste der
Arme kann ja gar nicht Überraschung oder Schutz
andeuten, sondern scheint mir vielmehr der Ausdruck
der Sehnsucht zu sein, wozu auch das spannende
erwartungsvolle Antlitz passen würde. Der Künstler
selbst pflegt eigentlich nie irgend welche Aufklärungen
und Deutungen seiner Arbeiten zu geben, und einer
solchen plastischen Figur, deren Reiz vor allem in
der schönen Silhouette, in der Vollkommenheit der
Formen, im Schimmer des transparenten Materials
liegt, sollte man auf Deutungen novellistischer Art
gern verzichten, weil sie wohl den Verstand, aber
nicht das künstlerische Empfinden befriedigen könnten.
Wie schon beim Drama hat der Künstler auch bei
dieser Figur zwischen den Armen eine papierstarke
Scheibe des Marmors stehen lassen, vermutlich aus
Gründen der Stabilität, noch mehr aber vielleicht
wegen des schönen Effektes des in so dünner Schicht
wunderbar feurig durchleuchteten Marmors. — ln aller
Kürze wird das Brahmsdenkmal, ein Kolossal porträt-
kopf auf figurenumraukter Stele, die Werkstätte ver¬
lassen und neue große malerische Aufgaben sind schon
wieder in Angriff genommen. Es handelt sich um
eine monumentale Wandmalerei in der Aula der Leip¬
ziger Universität im Aufträge des sächsischen Staates.
Näher darüber zu sprechen, ist noch nicht an der
Zeit, aber man darf nach den Entwürfen und Kartons
die höchsten Erwartungen hegen. Was Klinger in
seiner vortrefflichen Schrift: Malerei und Zeichnung
über Raumkunst ausgesprochen hat, scheint er jetzt
auf der Höhe seiner Schaffenskraft mit einem bedeu¬
tenden Beispiele belegen zu wollen.
So zeigt uns schon dieser summarische Überblick
ein Künstlerschaffen so reich und weit umfassend als
tief und genial. Von einem Kunstzweige zum anderen
übergehend, hat Klinger in jedem die Grenzen er¬
weitert, die Ausdrucksmittel vervollkommnet, kurz,
endlich einmal unter Hunderttausenden etwas für die
Kunst selbst getan. Das Äußerste für das Höchste
scheint auch seine Richtschnur zu sein, denn mit
heißer Anstrengung aller seelischen und körperlichen
Kräfte hat der blonde Riese unermüdlich gewirkt und
die Welt überreich beschenkt und nie den geringsten
Dank auch nur erwartet. Zwingen seine Kunstwerke
zur Bewunderung, so lockt der Zauber seiner Per¬
sönlichkeit, seine Humanität im höchsten Sinne des
Wortes, zu vollkommener Verehrung.
Auf ein unvergleichlich reiches, der höchsten Kunst
gewidmetes halbes Jahrhundert kann Max Klinger heute
zurückblicken, und wir dürfen ihm aus dankbarstem
Herzen ein Macte virtute zurufen.
SOCKELRtLlEF VON KLINGERS PARISURTEIL
ERGÄNZTE ANTIKEN
Von Ad. Michaelis
ABB. 1. DIE NIKE VON SAMOTHRAKE NACH DER ER¬
GÄNZUNG IM STRASSBURGER UNIVERSITÄTSGEBÄUDE
VOR ein paar Jahren wies W. Amelung in dieser
Zeitschrift (XIII, i5off., 171 ff.) durch passend
gewählte Beispiele auf die Aufgabe der Abgu߬
museen hin, mangelhaft erhaltene oder schlecht er¬
gänzte Antiken in angemessener Weise wiederherzu¬
stellen. Wenn auch unsere Universitätsmuseen meistens
wegen beschränkter Mittel und aus Mangel geeigneter
künstlerischer Hilfskräfte nicht in der Lage sind, der¬
gleichen Arbeiten in größerem Maßstabe zu unter¬
nehmen, so erweist sich doch eine richtigere Ergänzung
in manchen Fällen als für den Hauptzweck dieser
Museen, den archäologischen Unterricht, so notwendig,
daß man, so gut es eben gehen will, Hand ans
Werk legen muß. Ich habe schon vor Jahren im
Straßburger Museum die Gruppe der Tyrannenmörder,
den myronischen Diskoboi, die knidische Aphrodite,
den Alexander Rondanini der Münchener Glyptothek
in solcher Weise wiederhergestellt ^); über ein paar
jüngst angestellte Versuche möchte ich hier berichten.
Wer das Museum des Louvre kennt, dem hat sich
das Bild der Nike von Samothrake eingeprägt, wie
1) Ad. Michaelis, Straßburger Antiken, Festgabe für
die 46. Versammlung deutscher Philologen und Schul¬
männer. Straßburg igoi.
sie auf der Höhe der großen Eingangstreppe von
ihrem Schiffe aus den Ankommenden begrüßt. So
überaus wirkungsvoll auch der dekorative Eindruck
ist, so bleiben bei näherer Betrachtung doch einige
Mängel unleugbar, ln der Vorderansicht, von der
Treppe aus, durchschneidet der schmale und hoch-
aufragende Bug der Galeere die Figur in der Mitte
und stört den Überblick des Bewegungsmotivs; die
Statue war eben auf eine solche Ansicht von vorn
und aus der Tiefe nicht berechnet. Und ferner: wenn
irgendwo, so bedarf hier die mächtig bewegte Gestalt
eines vollen Ausklingens in Kopf und Armen; man
hat sich aber im Louvre mit der Ergänzung der linken
Brust und Schulter begnügt, um nur dem Oberkörper
den notwendigsten Zusammenhang zu geben. So
kommt die Prachtgestalt nicht zu voller Wirkung.
Eine Andeutung, die ich in einer Vorlesung machte,
daß wir in unserem Straßburger Universitätsgebäude
oberhalb der Treppe, die zum
Museum führt, eine Stelle hätten,
an welcher die Kolossalstatue, er¬
gänzt, ihres mächtigen Eindrucks
sicher sein würde, bot den Anlaß
mir zu solchem Zweck eine ansehn-
licheSumme zurVerfügung zu stel¬
len. Diese ließ sich anderweitig
so weit ergänzen, daß ans Werk ge¬
gangen werden kon nte ; d i e A usfüh -
rung ward dem hiesigen Bildhauer
Joh. Riegger übertragen (Abb. 1).
Benndorf hat in seiner grundlegenden Unter¬
suchung über die Nike^) die Münzen des Demetrios
Poliorketes herangezogen, die dessen entscheidenden
Seesieg von 306 beim kyprischen Salamis verherr¬
lichen (Abb. 2). Der Vorderteil des Kriegsschiffes
und die darauf vorwärts schreitende Nike stimmen
mit den erhaltenen Resten der samothrakischen Statue
so völlig überein, daß Benndorfs Beziehung der Statue
auf jenen Sieg, der die Annahme des Königstitels bei
den Nachfolgern Alexanders zur Folge hatte, fast all¬
gemeine Billigung gefunden hat. Demgemäß ist unter
Zumbuschs Leitung ein kleines ergänztes Modell des
ganzen Denkmals-) angefertigt worden, das sich in
manchen Museen findet; der Trompetenstoß und das
kreuzförmige Tropäon (für den Griechen ein ebenso
verständliches wie für uns befremdliches Siegeszeichen)'’)
1) Neue arcliäolog. Untersuchungen auf Samothrake,
1880. S. 47 ff., besonders S. 79 ff.
2) Springer-Michaelis, Qesch. der Kunst des Altertums,
7. Aufl., Fig. 501. Vgl. Neue Unters. S. 58 ff. Studniczka,
Die Siegesgöttin Taf. 11.
3) Stiidniczkas Zweifel an dieser Deutung (a. O. S. 25)
scheinen mir unberechtigt; das Tropäon in dieser Kreuz¬
form ist die Grundlage des konstantinischen Labarum. Für
ABB. 2. MÜNZE DES
DEMETRIOS POLIOR¬
KETES
114
ERGÄNZTE ANTIKEN
wurden von der Münze entnommen. Indessen sind
docli nicht alle Zweifel verstummt. Sie gründen sich,
soviel ich weiß, auf zwei Erwägungen.
Das eine Bedenken ist dem Standorte der Nike
entnommen^). Während die Ptolemäerbauten aus
der ersten Hälfte des 3. Jahrhunderts (Arsinoes Rund¬
bau, Ptolemäos’ 11. Torgebäude und der neue Tempel)
sich dicht um den älteren Tempel gruppieren, der
aus der Milte des 4. Jahrhunderts stammt, liegt das
Nikedenkmal weiter gegen Süden, hinter der Rück¬
seite des neuen Tempels. Eine solche e.xzentrische
Lage, so meint man, sei schwer erklärlich bei einem
Monumente, das den Hauptbauten um mehrere Jahr¬
zehnte vorausgegangen sei; sie setze diese als schon
vorhanden voraus, daher die Nike
nicht die des Jahres 306 sein könne.
Allein denken wir uns einmal die
Ptolemäerbauten ganz fort und allein
den alten Tempel« an seinem
Platze, so ist die Nike genau auf
den Vorplatz dieses Tempels ge¬
richtet, in einer Entfernung von etwa
100 Metern. Ja, man darf sagen,
daß sie mit Rücksicht auf den alten
Tempel diesen Platz und diese Rich¬
tung erhalten hat, während der pto-
lemäische neue Tempel mit seiner
schmucklosen Rückseite ihr bis auf
36 Meter nahe rückt und von hier
aus die Statue ihre minder günstige
rechte Seite darbietet. Am besten
präsentiert sie sich von der langen
Wandelhalle, die sich östlich, jen¬
seitsdestief eingerissenen Bachbettes,
von Norden nach Süden etwa 95
Meter lang erstreckt; je näher man
hier der Statue kam, desto reicher
entfaltete sie ihre Reize. Vielleicht
ist diese Halle gleichzeitig mit der
Nike entstanden-). Wenn nicht, so
war doch der flache Hügel schon
vor der Halle da, und bot jenen
Vorzug. Jedenfalls läßt sich anneh¬
men, daß bei der Wahl eben dieses
Platzes für die Halle der Blick auf
die Nike ein Wort mitgesprochen
habe. Also nichts steht der Annahme entgegen, daß
die Nike nächst dem alten Tempel das älteste Stück
der ganzen Baugruppe gewesen sei.
Das zweite Bedenken gegen die Beweiskraft der
Demetriosmünze beruht auf einem Stücke Haarschopf,
das sich im Nacken der hier nur sehr bruchstück-
die Griechen konnte es kein schärferes Zeichen des er¬
rungenen Sieges geben als das Tropäon, das, auf der
Siegesstätte errichtet, den Sieg verewigte und auch vom
Feinde nicht angetastet werden durfte.
1) Vgl. die Karte in den Neuen Unters. Taf. 1. Nie¬
manns Ansicht ebenda Taf. 76 läßt die Entfernungen wohl
etwas zu groß erscheinen.
2) O. Rubensohn, Die Mysterienheiligtiimer in Eleusis
und Samothrake, 1892, S. 148 ff.
weise auf uns gekommenen Statue erhalten haU). Die
Restauratoren des Berliner Museums, die Italiener
Freres und Possenti, glaubten danach annehmen zu
müssen, daß der Kopf nicht so stark gegen die rechte
Schulter gewendet werden dürfe, wie es der Trom¬
petenstoß der Münze verlangt. Allein entscheidend
ist die erhaltene Halsgrube, die deutlich die Wen¬
dung des Halses nach rechts erkennen läßt. Es be¬
darf nur der Annahme, daß der Haarschopf, von dem
bloß ein abgebrochenes Randstück erhalten ist, etwas
breiter gewesen sei, um auch ihn mit jener Bewegung
in Einklang zu bringen: eine Tatsache, von deren
Richtigkeit sich auch Possenti nachträglich überzeugt
hat-). Man betrachte nur einmal die von Reinach ')
veröffentlichte Ergänzung von Cor-
donnier und Falize (Abb. 3): wie
lahm ist die Bewegung, wie seltsam
dies Vorwärtslaufen ins Blaue hinein,
mit einwärts gesetztem rechten Fuß!
Das wird besonders klar, wenn man
die Gestalt, von hinten beginnend,
auf ihrer linken, also der allein ganz
durchgeführten Seite, umschreitet
(Abb. 4). Alles an der Gestalt ist
in Bewegung und flattert in dem
frischen Seewinde, sie dreht sich wie
eine Schraube von links nach rechts.
Wie die Stellung der Füße zeigt,
war sie eben noch mehr nach ihrer
Rechten gewandt; jetzt ist der Sieg
entschieden, da dreht sie sich leb¬
haft gegen den Bug des Schiffes,
aber während der rechte Fuß in
seiner Stellung verharrt, setzt sich
die Drehung im Oberkörper fort
bis in die zurücktretende Schulter
(Abb. 5) es ist unmöglich, diesen
mächtigen momentanen Zug, der
den ganzen Körper gleichmäßig be¬
herrscht und in dem Rauschen der
Flügel Halt und Ergänzung findet,
zu hemmen oder gar durch eine
Wendung des Kopfes nach links zu
zerbrechen; der Kopf und der rechte
Arm müssen dem Gesamtzuge fol¬
gen und sich gegen ihre Rechte
wenden, wo dann die ganze Bewegung im Trom¬
petenstoß ausklingt.
Ich habe daher der Ergänzung mit voller Über¬
zeugung Zumbuschs Modell zugrunde gelegt und bin
nur in Einzelheiten, wie der Anordnung des Ge¬
wandes unter dem linken Arm, davon abgewichen.
Der Kopf hat, unter Benutzung des berühmten Kopfes
von Pergamon, etwas größere Züge erhalten. Einige
der köstlichen flatternden Gewandstücke^), die den
Effekt noch bedeutend gesteigert haben müssen, habe
1) Neue Unters. S. 61 f. Fig. 26 f.
2) Rubensohn S. 149. Studniczka, Die Siegesgöttin
S. 25, Anni. 3.
3) Oaz. des Beaux Arls, 3. per., V (1891), zu S. 99.
4) Neue Unters. S. 63 f. Fig. 33- 35.
ABB. 3. DIE NIKE VON SAMOTHRAKE
ERGÄNZT VON CORDONNIER UND FALIZE
ERGÄNZTE ANTIKEN
115
ABB. 4.
DIE NIKE VON SAMOTHRAKE, ERGÄNZT
ABB. 5.
ich SO wenig- wie Zumbusch anzubringen
gewagt. Leider habe ich eine Bemerkung
Studniczkas’) übersehen, daß auf der
Münze, wie überhaupt nach antikem Brauch,
der die Trompete haltende Arm immer
ganz gerade ausgestreckt sei, mit der
Handfläche, auf der die Trompete ruht,
nach oben. Ohne Frage wird bei sol¬
cher Streckung des Armes das Ziel der
Bewegung noch bedeutend energischer
erscheinen. Die Wirkung der ergänzten
Statue an ihrer jetzigen Stelle ist aber
auch so, obschon der Anblick von vorn
etwas zu steil ist und der Pfeiler rechts
ein zusammenhängendes Verfolgen dieser
Hauptseite hindert, höchst bedeutend und
überzeugend-). —
Die zweite Ergänzung betrifft die lem-
nische Athena des Phidias. Amelung hat
in dem oben angeführten Aufsatze (S. 1 74 ff.)
berichtet, wie in einzelnen Stadien der Er¬
kenntnis und des Experiments dieses
Werk wiedergewonnen worden ist; eine
genaue Prüfung der Bruch- und Ansatz¬
flächen hat die Zugehörigkeit des Bolo¬
gneser Kopfes (Abb. 1 5 bei Amelung) zu dem Dres-
1) Studniczka, Die Siegesgöttin S. 25.
2) Abgüsse des Kopfes und der Arme können durch
das Kunstarchäologische Institut der Universität Straßburg
für 100 M. bezogen werden.
dener Torso (ebenda Abb. 14) so sicher
erwiesen ’), daß für jeden Unbefangenen
ein Zweifel unmöglich ist (Abb. 6). Immer
aber blieb noch die Aufgabe übrig, die
so wiedergefundene Gestalt angemessen
zu ergänzen. Daß der linke Arm gehoben,
der rechte gesenkt war, ergab der Torso
selbst. An dem Speer in der Linken ließ
sich also nicht zweifeln, für die Rechte ließ
sich der abgenommene Helm vermuten.
So ist die Ergänzung von Gerber im
Kölner Museum entstanden-), die aller¬
dings wenig geeignet war, der neuen
Komposition Freunde zu werben, weder
durch die lange schräggesfellte Lanze,
noch durch den wie auf dem Präsentier¬
teller dargebotenen Helm.
Bessere Anhaltspunkte zur Ergänzung
des rechten Armes verdanken wir Furt-
wängler. Zuerst wies er geschnittene
Steine nach, die das Brustbild der Lem-
nierin mit einem Helme neben ihrer
rechten Schulter darstelleir’). Ließ sich
schon hiernach vermuten, daß der Unterarm
emporgerichtet war und so den Helm
1) Studniczka im Archäolog. Anzeiger 1899 S. 134.
2) Luckenbach, Die Akropolis von Athen, 2. Aufl.,
S. 39, Fig. 60.
3) Revue archeol. 1896, I Taf. 1. Jahn-Michaelis, Arx
Athenarum Taf. 35, 15. Furtwängler, Die ant. Gemmen
Taf. 50, 29.
ABB. 6. DIE LEMNISCHE
ATHENA DES PHIDIAS
ERGÄNZTE ANTIKEN
5 1 .)
ilielt, so ward diese Vermutung zur Gewißheit durch
ein im epidaurischeu Asklepiosheiligtum gefundenes
Weihrelief (Abb. 7). Dieses stellt nicht, wie man
gewöhnlich erklärt, Hephästos, sondern den epidau-
rischen Heilgott, bequem auf seinen Stab gestützt, im
Vereine mit der athenischen Göttin dar, die hier in
der Gestalt der Lemnierin auftritt. Alles stimmt mit
der Statue soweit überein, wie es bei einem solchen
Wcihrelief zu erwarten ist. Als Zutaten des Relief¬
bildners dürfen der angelehnte Schild und das ärmel¬
artige Gewandstück am rechten Oberarm gelten; auch
ilie Haltung ist ungünstig verweichlicht. Um so
wertvoller ist die Wiedergabe des rechten Armes und
die Form des von der Hand gehaltenen Helmes.
Nach diesen Anhaltspunkten habe ich die Lemnierin
schon vor fünf Jahren in Zeichnung'-), jetzt im Ab¬
guß ergänzen lassen (Abb. 8). Den nächsten Anstoß
hierzu gab eine in großem Maßstabe durchgeführte
Bronzierung von Abgüssen des Straßburger Museums.
Als die Helmform wird durch das Relief nicht die
attische« der Kölner Nachbildung, sondern die des
sogenannten korinthischen Visierhehnes erwiesen.
Demgemäß ward von einem guterhaltcnen Exemplare
der Lipperheideschen Sammlung-") (jetzt im Berliner
Museum) ein Abdruck in Papiermache hergestellt und
mit einem Busche versehen; die Art, wie der Helm
1) Sitziingsber. d. Münchner Akademie 1897, 1 S. 290.
()sterreich. Jahresliefte 1898 S. 79. Svoronos, Das Athener
Nationalmnsenm Taf. 68 no. 1423.
2) Arx Athenarnni Taf. 37, 11.
3) Archäol. Anzeiger 1905 S. 17 Nr. 23.
ABB. 7. ASKLEPIOS UND ATHENA
WEIHREl lEE AUS DEM EPIDAURISCHEN ASKLEPIEION
ABB. 8. DIE LEMNIERIN NACH DEM ERGÄNZTEN UND
BRONZIERTEN ABGUSS IM STRASSBURGER MUSEUM
gehalten wird, ist ebenfalls dem f^elief entnommen.
Die Lanze hat eine so steile Stellung erhalten, wie
eine natürliche Haltung des Armes, von dem nur der
Ansatz antik ist (vergl. Abb. 6), zu gestatten schien.
Ich wage zu hoffen, daß diese Ergänzung der Leni-
nierin neue Freunde erwerben wird. Der scharf seitwärts
gerichtete Blick ist nicht mehr als bloßes Belebungs¬
mittel der gerade stehenden Gestalt aufzufassen, son¬
dern er hat mit dem Helme seinen natürlichen Ziel¬
punkt erhalten. Der aufgebogene rechte Arm mit
dem Helm und der linke Arm mit dem Speer um¬
geben symmetrisch gleich zwei Flügeln den auf¬
rechten Körper der Göttin. Und die so fest ge¬
schlossene Komposition gipfelt in dem bewegten herr¬
lichen Kopfe, dessen hervorragende Schönheit schon
Lucian preist und der wesentlich bewirkt haben wird,
daß die Lemnierin für Phidias schönstes Werk galt.
ERGÄNZTE ANTIKEN
117
Ein Hauptbedenken, das der Zusammenfügiing
des Kopfes mit dem Körper entgegengelialten wird,
ist die Kleinheit des Kopfes. Während man etwa
ein Achtel der Körperlänge als Kopflänge erwarten
sollte, mißt der Kopf, in der gewöhnlichen Weise
gemessen, nur ein Neuntel der Gesamtgestalt. Aber
die Sache stellt sich anders, sobald man die Neigung
des Kopfes in Betracht zieht. Der Beschauer sieht den
Kopf eben nicht in seiner normalen Stellung, sondern
durch die Neigung wirkt der obere Teil des Schädels
mit und verleiht dem Kopfe den Eindruck einer viel
bedeutenderen Höhe, ln der Seitenansicht (Abb. 6)
beträgt der Kopf genau ein Siebentel der Gesamtlänge,
in der Vorderansicht (Abb. 8) etwas mehr (7^3)-
Optikers und Geometers« i). Man sieht aus unserer
Statue, was dieser Anekdote zugrunde liegt. Übrigens
erschien auch bei der Nike von Samothrake, so lange
sie im Atelier auf dem Boden stand, der Kopf, ob¬
schon genau in normaler Größe gebildet, zu groß;
bei der Aufstellung in der Höhe schwand dieser
Eindruck.
Die erwähnte Bronzierung gab auch Anlaß zur
Neugestaltung zweier Amazonensiaixxtn, über die
wenige Worte genügen. Man hat längst erkannt,
daß die kapitolinische verwundete Amazone, statt die
fünf Finger der rechten Hand gen Himmel zu strecken,
sich auf einen Speer gestützt habe; eine von Klüg-
mann^) herangezogene Pariser Gemme (Abb. 9) er-
ABB. 10. KAPITOLINISCHE AMAZONE
ERGÄNZT IM STRASSBURGER MUSEUM
ABB. 11. MATTEISCHE AMAZONE
OHNE DIE ERGÄNZUNGEN
Das ist also mehr als zu erwarten wäre. Es scheint
mir daraus hervorzugehen, daß Phidias seiner Gestalt
nicht, wie Polyklet es sicher getan haben würde, ein
Normalmaß zugrunde gelegt, sondern daß er die
Maße mit Rücksicht auf die Kopfhaltung und auf die
Wirkung auf den Beschauer bestimmt hat. Wem fiele
dabei nicht eine späte Anekdote ein von zwei Athena-
statuen, mit denen Phidias und Alkamenes in Kon¬
kurrenz getreten sein sollten? Niedrig aufgestellt er¬
hielt Alkamenes Statue den Vorzug, als aber beide
Statuen ihrer Bestimmung gemäß auf Säulen gestellt
wurden, erschien Phidias Statue, weil sie eben von
vornherein hierfür berechnet worden war, richtiger
und schöner. So erhielt Phidias das Lob des besseren
Zeitsdirift für bildende Kunst. N. F. XVIII. H. 5
brachte den urkundlichen Beweis. Demgemäß ist der
Abguß ergänzt worden (Abb. lo). Das linke Standbein
erhält erst jetzt seinen Mithelfer in der Lanze zur
Rechten, und zwischen beiden Stützen wird die ver¬
wundete Seite entlastet. Die geschlossene, ganz aus
der Wunde heraus entwickelte Komposition tritt so
noch klarer hervor. Die matteische Amazone habe
ich dagegen aller fremden Zusätze entkleiden lassen,
vor allem des geneigten, schmerzbedrückten Kopfes,
der, vom kapitolinischen Typus entlehnt, den Eindruck
1) Tzetzes in den Chiliaden 8, 353 ff. (Overbeck, Sclirift-
qnellen 772.)
2) Kliigmann im Rliein. Miis. XXI, S. 322 f. und Die
Amazonen S. 1. Fmtwängler, Meisterwerke S. 2gi f.
'7
n8
ERGÄNZTE ANTIKEN
fälschte^) (Abb. ii). Erst jetzt erscheint die schlanke
kräftige Jungdrau in der blühenden Frische und der
straffen, emporstrebenden Haltung, die gerade diesen
T3’pus von den anderen unterscheidet und jeden Ge¬
danken an eine Verwundung’) abweist. Bekanntlich
zeigi auch hier eine in England verschollene Gemme
(Abb. 12) das ursprüngliche Motiv mit der Spring¬
stange-’); da aber der zu diesem Typus gehörige Kopf
1) Michaelis im Archäol. Jahrbuch 1886 S. 19 ff. 34 ff.
2) Wolters bei Friederichs-Wolters, Die Abgüsse antiker
Bildwerke S. 237.
3) Göpels Bedenken gegen die Springstange (Archäol.
Jahrb. 1905 S. 110 ff.) nehmen von der Gemme, einer völlig
gesicherten authentischen Wiedergabe der Gesamtstatue
(s. Furtwängler, Meisterwerke S. 297 Anm. 1), gar keine
Notiz.
noch nicht mit Sicherheit aufgefnnden worden isF),
so habe ich darauf verzichtet eine Ergänzung vor¬
nehmen zu lassen und mich mit dem großen Ge¬
winne begniigi, den die Entfernung jener störenden
älteren Zusätze bringt’).
1) Furtwänglers und Löschckes Einspruch (Archäol.
Anzeiger 1890 S. 164) gegen meine Behauptung, daß der
Kopf der Amazone in Petworth zu diesem Typus gehöre,
muß ich natürlich so lange gelten lassen, bis mir etwa eine
erneute Untersuchung der Statue vergönnt sein wird.
2) Die Abbildungen 2, 4, 5, 8 — 12 sind für die achte
Auflage von Springer- Michaelis’ Handbuch der Kunst¬
geschichte des Altertums gemacht worden; die Aufnahmen
für Abb. 8, 10, 11 rühren von Herrn cand. phil. Fritz Töbel-
mann in Straßburg her.
ABB. 1. TELLER MIT TIEFEM MITTELSTÜCK, MUSTER GRÜN MIT MANGANFARBIGEN RÄNDERN
Dm. 19,5 cm. Sammlung Beit
DIE SPANISCH -MAURISCHEN EAYENCEN
DER SAMMLUNG BEIT IN LONDON
Von Wilhelm R. Valentiner
Die Sammlung spanisch-maurischer Fayencen des
kürzlich verstorbenen Londoner Kunstfreundes
Alfred Beit, die durch Vermittelung W. Bodes
von Messrs. Durlacher erworben wurde und sich jetzt
im Besitz des Herrn Otto Beit befindet, ist eine der
umfangreichsten und bedeutendsten. Unter den Privat¬
sammlungen kommen ihr nur die Godmans und
Saltings in London, die de Osmas in Madrid gleich,
unter den öffentlichen kaum eine, am ehesten die des
Victoria- und Albertmuseums.
Die Auswahl ist der Art, daß sich ein Überblick
über die ganze Entwickelung der Valencianer Industrie
gewinnen läßt. Die Mehrzahl — 27 Fayencen —
stammen aus der Blütezeit, aus dem 1 5. Jahrhundert.
Nur wenige Teller sind Beispiele der Kunst des folgen¬
den Jahrhunderts, in dem derVerfall derTechnik beginnt.
Ein Gefäß und ein Albarello sind noch später, im 17.
oder 18. Jahrhundert entstanden und geben eine leere
und flüchtige Imitation früherer Ornamente. Zwei
kleine Schüsseln, die ein grünes, mangan-umrissenes
Muster auf weißem Grund haben, lassen die spanische
Fayencekunst vordem 1 5. Jahrhundert kennen lernen.
Schließlich fehlt es nicht an zwei Exemplaren einer
Grenzkunst der Valencianer Fayenceindustrie, an jenen
gold auf blau ausgeführten Albarelli, die in öffent¬
lichen Sammlungen öfters mit Unrecht als sizilianisch
bezeichnet werden, tatsächlich in Spanien — wo, läßt
sich einstweilen nicht angeben — im 1 7. Jahrhundert,
wahrscheinlich unter Einfluß einer Gruppe ähnlich
bemalter persischer Weichporzellane gefertigt sind.
Die Anfänge (14. Jahrhundert)
Die zwei grünbemalten Schüsseln des 14. Jahr¬
hunderts gehören zu einer Gruppe von Fayencen, die
erst seit kurzem von W. Bode, A. Pit und anderen
als spanisch erkannt wurden und noch von einigen
Forschern für italienisch angesehen werden. Die
kleine Gruppe besteht aus zwei kleinen Fayencen
gleicher Form in Amsterdam und auf der Versteige¬
rung Boy in Paris und einem größeren Teller auf
derselben Auktion'); dazu kommt ein großes Gefäß,
jetzt bei Durlacher, auf das mich W. Bode auf¬
merksam machte, und einzelne Scherben im Briti¬
schen Museum und angeblich bei de Osma. Der
Wichtigkeit wegen bilde ich die vier kleinen Schüs¬
seln samt dem großen Gefäß nebeneinander ab 2)
(Abb. 1 — 3). In der Farben- und Formengebung
stehen sie den italienischen grünen Majoliken der¬
selben Zeit sehr nahe. Fast jedes einzelne Ornament
läßt sich auf italienischen Stücken nachweisen, das
Zickzackmuster, das fortlaufende S, die Spirale, das
1) Vergl. A. Pit, Bulletin uitg. door den Nederl. Oud-
heidh. Bond, Juli 1905.
2) Die Photographien der Schüsselchen verdanke ich
Dr. A. Pit, die des großen Gefäßes Dr. W. Bode, der
auch die Aufnahmen der Beitschen Fayencen vermittelt hat.
17
I 20
DIE SPANISCH-MAURISCHEN FAYENCEN DER SAMMLUNG BEIT IN LONDON
Emblem der Hand, vor allem auch das Schuppen¬
muster, das auf dem einen Beitschen Exemplar vor¬
kommt. Ebenso ist das Prinzip der Farbenverteilung:
Weiß, Grün und Mangan im ganzen das nämliche.
Ein Einfluß der Künstler des einen Landes auf das
andere muß daher angenommen werden. Wahr¬
scheinlicher ist der Einfluß von seiten Spaniens; denn
die Farben der spanischen Fayencen sind reiner und
technisch besser ausgeführt, das Grün ist stärker, das
Weiß heller. Zudem steht die italienische Majoliken¬
kunst der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts unter
spanischem Einfluß — fast alle der im folgenden ge¬
nannten Muster finden sich in ungeschickterer Form
in Italien wieder — so daß anzunehmen ist, das
Übergewicht der spanischen Kunst reiche noch weiter
hinauf.
Trotz dieser Verwandtschaft in der Farbe ist
der spanisch -maurische Charakter in der strengen
geometrischen Ornamentik deutlich genug. Nament¬
lich bei dem Stück der Versteigerung Boy erweist
sich der zeitliche und stilistische Zusammenhang
mit den Alhambravasen und der Schale aus Ma¬
laga im Besitz Fr. Sarres. Auch kehren die mei¬
sten Muster noch auf den Valencianer Fayencen
vom Anfang des 15. Jahrhunderts wieder. Gleich¬
wohl dürfen sie nicht als die Vorläufer dieser
lüstrierten Stücke angesehen werden, die, wie Sarre
nachgewiesen haU), durch vermittelnde Stücke des
14. Jahrhunderts hindurch von der Alhambrakunst
herkommen. Die grünen Fayencen dienten, wie es
scheint, weniger dem Luxus der Innenräume, wie jene
kostbaren Lüsterfayencen, als vielmehr der Dekorie¬
rung der Außenarchitektur, besonders der Kirchen.
Jene vier Schüsselchen befanden sich, wie viele der
frühesten italienischen Majoliken, an Kirchenfassaden
und waren, wie ihre Form
lehrt, von vornherein zur
Einmauerung bestimmt. Da¬
her ist das Dekor stärker
in Umriß und Farbe, die
Ausführung primitiver und
handwerklicher. Die Kunst
scheint neben der Industrie
der Lüsterfayencen herzu¬
gehen bis ins 15. Jahrhun¬
dert hinein. Denn jenes
große Gefäß im Besitz
Durlachers ist mit einem
Muster dekoriert, das auf
den Lüsterfayencen um die
Mitte des Quattrocento vor¬
kommt, und selbst wenn es
diesen zeitlich voranginge,
was bei der Flüchtigkeit der
Ausführung nicht eben wahr¬
scheinlich ist, dürfte es
nicht vor Beginn dieses Jahr¬
hunderts entstanden sein.
i) Jahrbuch der kgl. preuß.
Kunstsamml. 1903. S. 103 ff.
Die erste Phase des 75. Jahrhunderts (erste Hälfte).
Eine nähere Datierung der Valencianer Lüster¬
fayencen des 15. Jahrhunderts ist erst in jüngster Zeit
ermöglicht worden durch die Arbeit van de Puts:
Hispano-moresque wäre of the XV. Century (1904),
in der durch Bestimmung der Wappen auf einer An¬
zahl von Tellern eine zeitliche Umgrenzung einzelner
Gruppen gegeben ist. Bisher zog man die Zeiträume
der Entstehung zu weit auseinander. Man gab häufig
für das 1 4. Jahrhundert, was im Anfang des Quattro¬
cento, für das 16. oder gar 1 7. Jahrhundert aus, was
an dessen Ende entstanden ist. In diesem Jahr¬
hundert drängt sich ein für spanische Kunst außer¬
gewöhnlicher Reichtum von Dekorationsformen zu¬
sammen, deren stilistische Entwickelung im einzelnen
nun erst auf Grund fester Daten verfolgt werden kann.
Das Material läßt sich etwa in drei Gruppen
gliedern. Der ersten Hälfte, namentlich dem ersten
Drittel des Jahrhunderts gehören die Fayencen mit
einer strengen, geometrischen Ornamentik in schweren
Formen und breiten Linien an. Sie zeigen meist in
einzelnen Feldern Imitation arabischer Schrift, deren
Bedeutung de Osma kürzlich erklärt hat-), in den
Zwischenräumen zugespitzte Ovale mit linearen Ver¬
schlingungen und als Füllmuster kleine Spiralen und
Schnörkel. Die Einteilung in Felder fällt sofort ins
Auge, da die zwei angewandten Farben Blau und
Gold, in starken Gegensätzen angewandt, in breiten
Flächen nebeneinander gestellt sind. Der Schwere
und Strenge der Ornamentik entspricht Schlichtheit
der Form des Tellers oder der Gefäße. Die Teller
sind einfach schräg mit einer leichten Wölbung nach
außen vertieft bis zu einem kleinen flachen Boden,
an dessen Stelle aber auch häufig die durchlaufende
Rundung tritt: ein Rand
ist kaum markiert. Die Al-
barelli machen einen brei¬
ten, etwas plumpen Ein¬
druck, da der Leib nicht
eingezogen, eher etwas aus¬
gebogen ist, Hals und Fuß
geradlinig verlaufen und
die Schrägung zwischen
diesem und jenem deutlich
ausgeprägt ist. Der Ge¬
samteindruck dieser Fayen¬
cen ist bei einiger Entfer¬
nung kräftig dekorativ. Die
besten Exemplare gehören
zu dem schönsten, was
überhaupt von der Valen¬
cianer Kunstindustrie her¬
vorgebracht worden ist.
Die Sammlung Beit besitzt
1) Es ist meist das Wort
»alafia« = , Wohlergehen“, wie¬
derholt. O. J. de Osma: Los
letreros ornamentales en la
cerämica morisca del siglo XV
in »Cultura Espagnola« 1906.
ABB. 2A. KLEINER TELLER. 14. JAHRHUNDERT
MUSTER GRÜN MIT MANOANFARBIGEN RÄNDERN
Amsterdam, Ryksmuseum
ABB. 2B. KLEINER TELLER. 14. JAHRHUNDERT
MUSTER GRÜN MIT MANGANFARBIGEN RÄNDERN
Versteigerung Boy in Paris
ABB. 3. GROSSES GEEASS. MUSTER GRÜN MIT MANGAN
Im Besitz von Durlacher Bros., London
J 22
DIE SPANISCH-MAURISCHEN FAYENCEN DER SAMMLUNG BEIT IN LONDON
einen besonders guten mittelgroßen Teller, weiter vier
Albareili und ein vierhenkeiiges Gefäß (Abb. 4 — 6).
Die Albareili sind nicht ganz so sorgfältig aus¬
geführt wie der Teller. Die Gefäßform bot dem Be¬
malen wie dem Brennen
größere Schwierigkeiten. In
dieser Zeit namentlich, wo
man in der Technik noch
nicht die Virtuosität wie in
der folgenden Periode er¬
reicht hatte, finden sich bei
den Töpfen oft Ungleich¬
mäßigkeiten der Glasur und
Ungeschicklichkeiten der
Zeichnung. Zwei der Al-
barelli sind zu blaß im Ton
und Lüster ausgefallen; der
dritte von gleicher Größe
und das niedrige Gefäß
(Abb. 4) haben durch zu
starkes Brennen einen dun¬
kelbraunen Ton erhalten, der
an viel spätere Fayencen er¬
innert. Der vierte kleine
Albarello (Abb. 5) ist da¬
gegen in Form wie in Far¬
bengebung vollkommen
harmonisch.
Übergangsgmppe
Gleichzeitig mit dieser
ersten Gruppe überwiegend
geometrischer Ornamentik
bilden sich die Anfänge
einer zweiten Gattung mit
mehr naturalistischer Deko¬
ration aus, die ihren Höhe¬
punkt in den technisch aufs
feinste entwickelten Fayen¬
cen mit Dreiblatt- und Blü¬
tenmuster um die Mitte des
Jahrhunderts und in dessen
zweiter Hälfte erreicht.
Die Fayencen dieser
Übergangsphase (Abb. 7)
gruppieren sich um den
Teller des Wallacemuseums
mit dem burgundischen
Wappen(i404 — 1 430 1) und
zeigen meist an Stelle des
Wappens ein das ganze
Mittelstück überdeckendes
Tier: einen Vogel, einen
Löwen, gelegentlich auch
eine Hindin oder einen
Stier in gleichmäßig füllendem Blau. Der Charakter
der Ornamentik ist leichter und gefälliger als früher.
Man nähert sich wirklichen Naturformen: bei den
Tieren, unter denen die Vögel (Kranich, Dohle und
1) Abgebildet bei v. d. Put a. a. O., Tafel 10.
andere) mit guter Beobachtung des Umrisses wieder¬
gegeben sind, und in den Mustern, die den Grund
füllen: zarte Ranken mit Blüten oder Beerengruppen
in der Mitte. Diese Blüten und die Blattform mit
langem mittleren Ausläufer
werden für die Folgezeit
bedeutungsvoll, da sie die
wesentlichen Elemente für
die Dekorierung der Fayen¬
cen mit Dreiblatt- und Blü¬
tenmuster ausmachen.
Zwar ist das Gerippe
des Musters noch streng
ornamental und fast geome¬
trischen Charakters — die
Einteilung bilden neben¬
einandergelegte Kreise, die
ganze Fläche ist mit Punk¬
ten bedeckt — aber dieser
Grundton ist so zart an¬
geschlagen, daß er nahezu
verschwindet vor den dar¬
übergelegten blauen Ranken,
den gotischen Schriftzeichen
oder Tieren, die im Gegen¬
satz zu der zurückhalten¬
den, klar gesonderten De¬
koration der vorigen Periode
die Grundlinien fast will¬
kürlich und unsymmetrisch
durchschneiden. Bei dem
Verhältnis von Blau und
Gold ist in der Art, wie
breite Flächen überwiegend
mit Blau gefüllt werden,
andere dessen ganz ent¬
behren, noch ein Anklang
an das Prinzip der vorigen
Gruppe deutlich; doch sind
in einzelnen Exemplaren,
wo Tiere und Schrift nur
untergeordnet angebracht
sind, die beiden Farbtöne
schon in feinem, gleichen
Wechsel angewandt.
Von den Werken dieser
Übergangsgruppe besitzt
Herr Beit ein gutes Exem¬
plar, das ganz mit dem
genannten Teller der Wal-
lace Collection zusammen¬
gehört, aber kein Wappen
in der Mitte zeigt. Ein
etwa gleich großes Stück
mit Turm im Wappen zeigt
ein ähnliches Verhältnis der beiden Farbtöne, weicht
aber in der Dekoration etwas ab — große geometrisch
stilisierte Blüten sind von blauen Kreisen umzogen.
Die Einordnung in diese Gruppe ist daher nicht über
allen Zweifel erhaben, obgleich ein übereinstimmen¬
des Schüsselchen im Victoria- und Albert -Museum,
ABB. 5. ALBARELLO, BLAU UND GOLDLÜSTRIERT,
MIT ARABISCHEN SCHRIFTZEICHEN
Höhe 27,5 cm. Sammlung Beit
DIE SPANISCH-MAURISCHEN FAYENCEN DER SAMMLUNG BEIT IN LONDON
123
das deutlich mit den Stücken der ersten Periode
zusammenhängt, die frühe zeitliche Ansetzung recht-
fertigen kann. — Dagegen fügen sich die beiden
Vogelteller (der eine mit der Inschrift: senora ; der
andere mit: ave maria gracia plena) gut an dieser
Stelle ein (Abb. 7). Die Form, eine gleichmäßig flache
Einsenkung mit horizontalem Rand, ist für die Teller
mit Tieren in der Mitte typisch.
Die zweite Phase (um die Mitte des 15. Jahrhunderts).
Die sich unmittelbar an diese Übergangsphase
anschließende Periode bedeutet den zweiten Höhe¬
punkt der Valencianer Fayenceindustrie. ln tech¬
nischer Hinsicht sind die Produkte dieses Zeitraums
(Abb. 8 — 10) sogar unübertroffen. Die Ornamentik
besteht fast ausschließlich im Dreiblatt- und Blüten¬
muster (Abb. 8 u. 9), da¬
neben kommt, vielleicht
zeitlich wenig später, eine
Dekoration mit großen
(Abb. 10) und kleinen
Weinblättern vor. Die
Elemente sind also natu¬
ralistischer, und zwar vege¬
tabiler Art, freilich natura¬
listisch nur insoweit dies
innerhalb eines strengen,
rein ornamentalen Stiles
möglich ist. Das Muster
ist klein und fein und in
gefälligerweise ohne stark
markierte Einteilung in
Felder über die Fläche
verteilt. An Stelle der Kraft
und Schlichtheit der Fayen¬
cen der ersten Zeit ist
Anmut und Grazie ge¬
treten. Die Kunst hat eine
ähnliche Entwickelung
von großen, wuchtigen
und streng stilisierten For¬
men zu natürlichen und
eleganten durchgemacht
wie die Malerei und Pla¬
stik in der zweiten Hälfte des Quattrocento in Italien
und den nordischen Ländern.
Dieses neue Empfinden durchdringt die Form in
gleicher Weise wie die Farbe und die Linie. Die
Albarelli werden graziöser und feiner im Umriß. Der
Leib ist eingezogen, Hals und Fuß sind geschwungen.
Die Teller werden mannigfaltiger gebildet. Bisher
kannte man fast nur eine Form, die einfachste, bei
der die Schrägung ohne Rand gleichmäßig bis zur
Mitte verläuft. Diese Bildung findet sich auch jetzt
noch , aber das Format ist meist größer, die Masse
ist dünner. Man fertigte zwar zuvor schon gelegent¬
lich Teller bedeutenden Umfanges, aber es waren
Ausnahmen. Die meisten jener ersten Gruppen sind
mittelgroß (ca. 35 cm) und von beträchtlicher Schwere.
Jetzt dagegen mißt die Mehrzahl nahezu 50 cm im
Durchmesser; diese Größe behielt man im allgemeinen
bei. Der Formenreichtum ist nicht erschöpft. Meist
sind die Teller mit Rand und mit kleinem flachen
Boden, der ein Wappen oder Monogramm Christi
enthält, versehen. Oder auch der Boden ist sehr
groß und flach, die Wandung setzt vertikal, der Rand
wieder horizontal an. Auch für diese Formen gibt
es Vorstufen in der vorhergehenden Zeii, aber das
Verhältnis vom Rand zum Mittelstück ist dort primi¬
tiver und plumper, die Linie des Querschnittes ist
einfacher. Man vergleiche beispielsweise den Teiler
von Beit (Abb. q) mit dem für Maria von Aragon ien
gefertigten im Victoria- und Albert-Museum ^), beides
Stücke mit steiler Wandung. Jener ist übertrieben
tief, der Kragen sehr schmal; bei dem anderen ist
das Verhältnis umgekehrt, so daß der Eindruck von
größerer Gefälligkeit entsteht. Auch wagte man bis¬
her nicht, den Rand leicht
geschweift, das Mittelstück
nur am oberen Teil nach
außen gebogen zu bilden
oder auch bei den Tellern
ohne Rand die Schrägung
in einem freien Schwung
konvex verlaufen zu lassen.
Wie im Ornament ist
in der Farbe ein feiner
Ausgleich der beiden Töne,
blau und grünlich-golden
erreicht. Keiner der bei¬
den Töne beherrscht dau¬
ernd den anderen, weder
an einzelnen Stellen noch
im ganzen. Sie schlingen
sich in reichem Wechsel
durcheinander und die
Farbfleckchen decken je¬
weils nicht mehr ais wenige
Quadratmillimeter. Der
Auftrag ist sorgfältig, der
Farbton von außerordent¬
licher Schönheit. Das Blau
tief und leuchtend, und
durch Verwertung von
Kupferoxyd bisweilen an
den Rändern der Blüten zum Ausfließen gebracht, daß
ein schillernder grünblauer Nimbus entsteht. Das Gold
nimmt fast niemals einen kupferigen branstigen Ton
an. Die starken Unregelmäßigkeiten der ersten Zeit,
die durch ungleichen Brand entstanden, weiß man zu
vermeiden. Kaum ein Stück dieser Gruppe ist zu
blaß oder dunkel im Ton ausgefallen oder gar im
Brand mißglückt ; jedes kann als ein Meisterwerk
gelten.
Fayencen dieser Gattung machen einen guten Teil
der Sammlung Beit aus: sie enthält fünf große Teller
und einen Albarello; unter diesen einen besonders
interessanten mit dem Wappen der Tondi in Siena-),
und ein auch aus dieser Gruppe, noch durch Schön-
1) Abgebildet bei v. d. Put a. a. O., Tafel 8.
2) Abgebildet bei v. d. Put a. a. O., Tafel 22.
ABB. 6. TELLER MIT ARABISCHEN SCHRIFTZEICHEN, BLAU
UND GOLDLÜSTRIERT
Dm. 37 cm. Sammlung Beit
124
DIE SPANISCH-MAURISCHEN FAYENCEN DER SAMMLUNG BEIT IN LONDON
heit liervortretendes Stück ohne Wappen, bei dem
das Muster bis zur Mitte durchgeführt ist (Abb. 8).
Etwa gleichzeitig mit dem Dreiblatt- und Blüten¬
muster wandte man das Weinblattornament in seiner
doppelten Fassung an; klein und nur in Goldaus¬
führung und größer mit abwechselnd blauen und
goldenen Blättern. Teller der ersten Gattung stehen
meist noch auf der Höhe der eben besprochenen
Gruppe; unter denen der zweiten finden sich häufig
schon gröbere Exemplare’). Eins der schönsten
Stücke mit kleinem Weinblattmuster, das van de Put“)
noch im Besitz von Durlacher beschrieb und bestimmte,
hat Herr Beit erworben: den Crevecoeurteller, der
eine historische Bedeutung hat. Er war einst im
nicht leicht zugängliche Luxuskunst geweckt zu haben.
— Der weniger bedeutende Teller mit dem großen
Weinblattmuster (Abb. lo) gehört mit der gravierten
Äderung der Blätter und der flüchtigeren Ausführung
schon einer weiter vorgerückten Stilstufe an. Ein
Albarello , bei dem die goldenen Weinblätter mit
manganfarbigen und blauen wechseln, hat nur inso¬
fern Interesse, als er zeigt, wie ungeschickt spätere
Imitationen eines an sich feinen Musters ausfallen
können.
Die letzte Phase (Ausgang des 15. Jahrhunderts).
Die Blüte der Valencianer Fayenceindustrie dauerte
nicht lange. Schon im letzten Viertel des 15. Jahr-
ABB. 7A. TIEFER TELLER, BLAU UND QOLDLÜSTRIERT MIT DER INSCHRIFT SENORA
Dm. 36 cm. Sammlung Beit
Besitze des großen französischen Heerführers Philippe
de Crevecoeur zur Zeit, als dieser noch unter bur-
gundischer Herrschaft diente. Die kunstsinnigen bur-
gundischen Herzöge, für die zahlreiche Valencianer
Fayencen gefertigt wurden , scheinen auch in den
Edlen am Hof das Interesse für diese dem Laien
1) Einen schönen Albarello mit dem großen Weinblatt¬
muster hat van der Goes auf dem Portinarialtar wieder¬
gegeben. Der terminus ante quem, der dadurch für dieses
Muster gewonnen wird (1476), stimmt mit den Angaben
van de Puts überein.
2) Von ihm abgebildet Tafel 23 u. 24.
hunderts setzt ein Rückgang ein, der sich in einer
Vergröberung der Muster, in fast ausschließlicher
Anwendung des Goldes, und zwar meist eines rot¬
bräunlichen Goldtones bemerkbar macht. Freilich ist
auch in dieser Zeit die Erfindungskraft noch stark
genug, um neue Formen zu schaffen, so daß der
Gruppe aus der Spätzeit des Jahrhunderts noch eine
selbständige Bedeutung zukommt; und bei einem
Vergleiche mit den Werken des späteren 16. Jahr¬
hunderts, — denen immer noch künstlerischer Wert
zu eigen ist, vergleicht man diese wieder mit Stücken
des 17. oder gar des ig. Jahrhunderts — scheinen die
DIE SPANISCH-MAURISCHEN FAYENCEN DER SAMMLUNG BEIT IN LONDON
1^5
besten noch nahe der absoluten künstlerischen Höhe
der Fayencen der vorigen Periode zu stehen.
Die Ornamentik dieser um 1 500 entstandenen
Werke kann weder mit dem Wort geometrisch«
noch mit dem »naturalistisch« bezeichnet werden. Bei
den beiden vorkommenden Formen, die unter sich
wieder sehr verschieden sind, finden wir einmal eine
Imitation von Flechtwerk, und zwar wie es scheint
von Stricknetzen mit eng verknoteten, länglichen
Maschen. Fayencen mit diesem Ornament, die häufig
genug Vorkommen, besitzt die Sammlung Beit nicht.
Das andere Mal bestimmt ein geometrisch umgeformtes
Blattwerk den Eindruck, bei dem die Enden in breiten
Bändern gegeneinander gerichtet sind (Abb. 13 u. 14).
und einem Teller mit Adler im Wappen Abb. 11)
auch noch einen hellen gelblichen Goldton. Daß
sie früher als die besonders zahlreich vertretenen
Fayencen mit Rollblattmuster entstanden sind (erste
Hälfte des Jahrhunderts), ist deshalb wohl möglich,
bei dem Teller, der mit einigen frühen Fayencen bei
Godman verwandt ist, selbst wahrscheinlich.
Während in der ersten Periode rein geometrische
Formen oder Bandverschlingungen, in der zv/eiten
naturähnliche Blatt- und Blütengebilde die Grundlage
der Ornamentik bildeten, besteht jetzt die Dekorierung
fast nur in Blätterwerk, und zwar in einem unwirk¬
lichen, phantastisch umgebildeten. Diese Blätter zeigen
große schwere Formen, ähnlich den Mustern der
ABB. 7 B. .TIEFER TELLER, BLAU UND GOLDLÜSTRIERT, MIT DER INSCHRIFT: AVE MARIA OCA (= ORACIA) PLENA
Dm. 33,5 cm. Sammlung Beit
In der etwas weichlichen üppigen Blattbildung er¬
innert dieses Muster merkwürdig an persische Fayencen
des 13. und 14. Jahrhunderts. — Neben diesen Roll¬
blättern kommt eine andere Blatlform vor, die kraut¬
ähnlich gebildet ist und eine dritte, die dem Löwen¬
zahn gleicht. Die Stücke mit den zwei zuletzt ge¬
nannten Ornamentformen, bei denen die Blattform
noch deutlicher den Zusammenhang mit einer Vor¬
lage der Natur verrät und doch das Muster strenger
stilisiert ist als bei der Rollblattdekoration, sind noch
sehr sorgfältig ausgeführt und haben in den beiden
Exemplaren der Sammlung (einem Albarello Abb. 12
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XVIII. FI. 5
ersten Zeit. Dünner in der Form, aber gleichfalls
stark stilisiert erscheint die Ornamentik dann, wenn
sie als Strickmotiv die Fläche wie ein Netz überzieht.
Hier läßt sich eine Blattform kaum mehr erkennen,
obgleich doch aller Wahrscheinlichkeit nach eine
Umbildung des kleinen Weinblattornamentes vorliegt:
Die Ranken sind zu Fäden, die Blättchen zu Knoten
geworden.
Das Überwiegen des Blattwerkes gegenüber den
Blüten und eine größere Einförmigkeit ließ sich schon
am Ende der zweiten Phase beobachten, bei der
großen wie bei der kleinen Weinblattdekoration. Indem
iS
DIE SPANISCH-MAURISCHEN FAYENCEN DER SAMMLUNG BEIT IN LONDON
1 26
ABB. 8. TELLER MIT DREIBLATT- UND BLÜTENMUSTER, BLAU UND GOLDLUSTRIERT
Din. 47 cm. Sammlung Beit
nun das Blatt stärker in den Vordergrund trat, suchte
man diesem eine reichere Ausbildung zu geben. Man
zeichnete die Äderung mit einem spitzen Instrument
in den weichen Farbenauftrag ein, so daß der weiße
Grund zum Vorschein kam. Diese Gravierung findet
sich zuerst bei den Tellern mit kleinem Weinblatt-
muster — in der ersten und der zweiten Periode
kommt sie nicht vor — und ist dann für diese ganze
Gruppe mit großem Blattwerk charakteristisch. Am
Anfang des 16. Jahrhunderts scheint sie wieder zu
verschwinden.
In gleichem Verhältnis, wie das Blattwerk mehr
und mehr in den Vordergrund tritt, verschwindet die
blaue Farbe und macht der Herrschaft eines rötlichen
Goldtones Platz. Das Blau wird nun nur noch im
Wappen, als trennende Linie an den Biegungen der
Schüssel, und für einen viergeteilten Stern verwandt,
der vermutlich als Blüte gedacht das Blattwerk an
wenigen Stellen unterbricht (Abb. 12 u. 14). Der Ton
selbst hat auch seine Tiefe und Wärme verloren und
einen kühlen grünlichen Schimmer angenommen.
Wie das Feingefühl für die Farbe, verliert sich,
wenn auch noch kaum empfindbar, das für die Form
und für die Verhältnismäßigkeit der Ornamentik. Im
ganzen sind die Formen der Teller und Albarelli die
gleichen wie in der vorigen Periode, aber der Quer¬
schnitt hat an Leichtigkeit und Biegsamkeit der Linie
verloren. In einer Nebensächlichkeit wie der Ein-
DIE SPANISCH-MAURISCHEN FAYENCEN DER SAMMLUNG BEIT IN LONDON
127
ABB. 9. TELLER MIT DREIBLATT- UND BLÜTENMUSTER, BLAU UND OOLDLÜSTRIERT
Dm. 42 cm. Sammlung Beit
fügung des Wappens läßt sich beobachten, wie das
Gefühl für gute Raumeinteilung schwindet: bald über¬
schneidet das Wappen in unschöner Weise den Rand
des flachen Bodens und dehnt sich nach den schrägen
Wandungen zu aus; bald ist es unverhältnismäßig klein.
So deutlich die drei besprochenen Stilphasen im
15. Jahrhundert ausgeprägt sind, so gegensätzlich
die Dekorationsformen der einzelnen Gruppen ge¬
wählt scheinen, so wenig scharf darf die zeitliche
Grenze zwischen ihnen gezogen werden , so leicht
sind die Übergangsstufen, die zwischen ihnen ver¬
mitteln, zu erkennen. Das kleine Weinblattmuster ist
vergröbert in der großen Weinblattdekoration, und
dieses leitet wieder zu dem Rollblattmuster über, wie
das Gefäß mit vier Öffnungen (Abb. 14) beweist, auf
dem zwischen das Hauptornament blaue Blätter ein¬
gefügt sind, die ganz die Form des Weinblattes, nur
in vereinfachtem Umriß, haben. Den Zusammenhang
der einen Periode mit der anderen vermitteln vor
allem auch die Dekorierungen der Rückseiten, in denen
man sich langsamer von der Überlieferung befreit.
So kommt die Verzierung mit großen gefiederten
Blättern schon in der ersten Hälfte des 15. Jahrhun¬
derts vor, am besten entspricht sie dann dem Drei¬
blatt- und Blütenmuster, aber noch während der
ganzen Folgezeit wird sie immer flüchtiger angewandt.
Auch die geometrische Einteilung der Rückseiten mit
konzentrischen Kreisen zieht sich durch alle Phasen
18
DIE SPANISCH-MAURISCHEN EAYENCEN DER SAMMLUNG BEIT IN LONDON
1 28
ABB. 10. TELLER MIT DEM GROSSEN WEINBLATTMUSTER, BLAU UND GOLDLÜSTRIERT
Dm. 44,5 cm. Sammlung Beit
hindurch, nur daß man gegen Ende des Jahrhunderts
den Wechsel zwischen feineren und breiten Linien
aufgibt und eine große Spirale, welche die ganze
Fläche bedeckt, wählt.
Rückgang.
In Zeiten des Niedergangs macht die Kunst An¬
leihen bei anderen Kunstgebieten oder bei den Pro¬
dukten anderer Völker. Von der Berührung mit dem
Kunstgewerbe der anderen europäischen Länder scheint
sich die spanisch - maurische Fayenceindustrie zwar
stolz ferngehalten zu haben. Als es ihr an der Ge¬
staltung neuer Ornamente gebrach, wiederholte sie
endlos ihre alten Muster mit einem der spanischen
Dekorationskunst eigenem Hang, vor dem Herkömm¬
lichen, vor dem festgewordenen Schema neue per¬
sönliche Gedanken zurücktreten zu lassen. Für das
Formen der Fayencen aber macht man jetzt bei der
orientalischen Gold- und Metallschmiedekunst, welche
schon lange vor Beginn der Valencianer Industrie
Teller aus Kupferblech von gleicher Größe und Form
geistreich mit feinem Zierornament zu überdecken
verstand, Anleihen.
Die Beziehungen zu dieser Kunst waren nahe¬
liegend. Denn der Lüster will mit den schillernden
Reflexen der Metallgefäße wetteifern^). Auch dürften
1) Er sollte ursprünglich die Wirkung der Gold- und
Silbergefäße ersetzen. Vgl. Fr. Sarre, a. a. O. S. 103.
DIE SPANISCH-MAURISCHEN FAYENCEN DER SAMMLUNG BEIT IN LONDON
12g
ABB. n. TELLER MIT KRAUTÄHNLICHEM BLATTWERK, OOLDLÜSTRIERT, DAS WAPPEN BLAU
Dm. 45 cm. Sammlung Beit
einzelne Tellerformen, wie die mit großem flachen
Boden, vertikaler Wandung und horizontalem Kragen,
welche wir in Valencia schon im Anfang des 15. Jahr¬
hunderts in Gebrauch fanden, ihren Ursprung eher
in der Metalltechnik als in der des Formens in Ton
haben. Jetzt aber geht man weiter und bildet das
getriebene Ornament der Metallteller plastisch in einer
dem Material wenig entsprechenden Weise nach
(Abb. 15). Schon in der letzten Stilphase des 15. Jahr¬
hunderts fing man an, reliefierte Teile an den Tellern
anzubringen. Bei einzelnen, welche mit dem Strick¬
motiv ornamentiert sind, ist die Schrägung durch
erhabene Stäbe und durch Knoten gegliedert. Nun
in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts belebt man
die Wandungen eines erhöhten Mittelteiles und den
Kragen des Tellers fast durchweg mit Buckeln in
Fischblasenform. Noch später, als man als Haupt¬
ornament ein Tier wählt, welches die ganze Fläche,
nicht nur das Mittelstück, wie bei den früheren Tier¬
tellern, überdeckt, drückt man die Umrisse in breiten
Linien in die noch weiche Masse.
So bemüht man sich, mit einer reicheren, aber
wenig organischen Modellierung der Fayencen die
Langweiligkeit des Musters zu verbergen. Das Orna¬
ment macht zwar beim ersten Anblick einen recht
mannigfaltigen Eindruck. Es wechselt ein Schuppen¬
motiv mit Streublumen, mit Schnörkeln, Sternchen
und gleichmäßig mit der Farbe überdeckten Flächen
130
DIE SPANISCH-MAURISCHEN FAYENCEN DER SAMMLUNG BEIT IN LONDON
(Abb. 1 5). Sieht man näher
zu, so erscheint alles flüch¬
tig und unklar ausgeführt,
und man ist nicht ver¬
wundert beim Vergleich
der zahlreichen Stücke die¬
ser Gruppe zu finden, daß
die Muster schablonen-
mäßig übertragen wurden.
— Der verweichlichten
Formensprache entspricht
die charakterlose Profilie¬
rung. Sie entbehrt, ver¬
glichen mit der Biegung
der Fayencen mit dem Drei¬
blatt- und Blütenmuster,
jeder Schärfe. Der äußerste
Rand der Teller ist leicht
nach außen gedrückt und
verläuft ohne Kanten in
einer weichen Kurve; zwi¬
schen Rand und Mittelstück
ist gewöhnlich an Stelle
desGrates ein runderWulst
angebracht. Bei den Alba-
relli ist die Schrägung am
Hals und Fuß in den Über¬
gängen abgeschliffen, ln
der Farbengebung endlich
ist das Blau verschwunden.
Von dem Charakter
dieser Kunst geben zwei
Teller, ein großer (Abb. 1 5)
und ein kleinerer mit ge¬
buckelten Rändern, sowie
einer mit einem großen
Hirsch mit eingepreßten
Konturen eine genügende
Vorstellung. Da sie gute
Exemplare ihrer Gattung
sind, so bilden sie immer
noch künstlerisch wert¬
volle Abschlußstücke einer
Sammlung, deren Haupt¬
bestandteil erfreulicher¬
weise und im Gegensatz
zu einigen öffentlichen
Sammlungen in Fayencen
des 15. Jahrhunderts, nicht
in solchen der Renaissance
oder Barockzeit, besteht.
Die spanisch-maurische Fayencekunst ist von den
Kunstfreunden noch wenig beachtet, noch weniger
gewürdigt. Vielleicht läßt sich eine Erklärung finden.
Sie kennt nicht die bunte heitere Farbenpracht ita¬
lienischer Majoliken, noch die Reinheit und das Feuer
der Töne türkischer Halbfayencen, noch endlich die
gesättigten warmen Farben des bunten und blauen
Delft. Rechnet man die selten vorkommenden grünen
Majoliken ab, so ist ihr nur eine Farbe, ein tiefes
Blau, und auch das nur in einem beschränkten Zeit¬
raum, zu eigen. Nur eine
Farbe. Denn der Gold-
lüster, dessen Grundton ein
helles Zitrongelb, die Kom¬
plementärfarbe zu Blau, ist,
wie im Feuer mißglückte
Exemplare (ein solches im
Victoria- und Albertmuse-
um) beweisen, ist mehr
Glanz und Licht als Farbe.
Auch die Ornamentik
hat nichts, das in die
Augen fällt. Sie hebt sich
nicht mit solcher Intensität
vom Grund ab, wie das
charakteristische Blattwerk
der sogenannten rhodi-
schen Waren von dem
schimmernden Milchweiß.
Der Goldton steht auf
gelblichem oder rötlichem
Grund. Ihr ist jegliches
figürliches Element fremd,
ohne welches die italieni¬
sche wie die holländische
Keramik undenkbar ist.
Endlich sind auch die Mu¬
ster unendlich einfach und
fast einförmig gegenüber
denen, welche die italieni¬
sche Kunst in erstaunlicher
FüllezugleicherZeit erfand,
Ebenso einfach sind die
Formen der Majoliken. Es
gibt fast nur große Teller
und Albarelli; hie und da
kommen noch Vasen mit
zwei Henkeln, Kannen,
kleine Schüsselchen,Tazzas
und Gefäße mit vier Hen¬
keln oder vier Öffnungen
vor. Die zahlreichen Krug¬
formen, die dickbauchigen
Gefäße, die vielerlei Ab¬
stufungen der Teller und
Albarelli nach Größe wie
nach Bildung, die Schalen,
figürlichen Reliefs usw.,
welche die italienische
Kunst hervorbrachte, ka¬
men nicht in Aufnahme.
So hat die Kunst etwas Zurückhaltendes, schwer
Zugängliches; sie ist kühl aristokratisch, temperament¬
los und arm an Phantasie. Auf einem kleinen Ge¬
biet nur leistet sie Vollkommenes, ohne auf Effekte
oder auch nur auf gewinnende Reize auszugehen.
Man denkt an die Malerei Spaniens, die auch im
Gegenständlichen so arm wie keine andere der euro¬
päischen Länder ist, an Velazquez mit seinen Porträten
Philipps, an Murillo mit seinen Madonnen, und denkt
an die Entwickelung der spanischen Geschichte, die
ABB. 12. ALBARELLO MIT GEZACKTEM BLATTWERK,
GOLDLÜSTRIERT, DIE STERNE BLAU
Höhe 29 cm. Sammlung Beit
ABB. 13. TELLER MIT DOPPELTEM RAND MIT ROLLBLATTMUSTER, GOLDLÜSTRIERT, DAS WAPPEN TEILWEISE BLAU
Dm. 41,5 cm. Sammlung Beit
einförmig und abgeschlossen, kaum in Berührung
mit dem übrigen Europa, ihren eigenen Gang geht.
Der Reiz liegt in dieser strengen inneren Konse¬
quenz, mit der die Kunst entwickelt wird, ln der
besten Zeit sind Werke geschaffen, man denke vor
allem an die Fayencen mit Dreiblatt- und Blüten¬
muster, an denen geradezu die Gesetze für das, was
dekorativ in reinem künstlerischen Sinn ist, abgeleitet
werden könnten: Das Ornament überzieht die Fläche
mit einem Netz reicher, gefälliger Formen, zwischen
dem stets die Bildung des Gefäßes sichtbar bleibt.
Es entfernt sich insoweit von den natürlichen Vor¬
lagen, vegetabilischen oder tierischen Elementen, als
es deren plastische Formen in flächenhafte umsetzt
und auch dann noch auf allzu große Illusion etwa
des Umrisses verzichtet. Und doch wird es nicht so
abstrakt, daß die Erinnerung an wirkliche Natur¬
gebilde nicht geweckt würde, ln die Irrtümer, zu
denen man bisweilen in der italienischen und hollän¬
dischen Fayencekunst kam, dadurch, daß man eine
übertriebene Raumillusion weckte, verfiel man nicht,
da man auf szenische Darstellungen von vornherein
verzichtete. — Die Dekoration ist jedoch nicht nur
ein leichtes gefälliges Spiel. Sie hat auch den Zweck,
der Form zur Deutlichkeit zu verhelfen. Dies ge¬
schieht auf die Weise, daß Linien oder Streifen ge¬
zogen sind, welche die Rundung der Fayence nach
einer Seite, und zwar nach der der stärksten Rundung
hin, betonen; so treten bei Tellern am meisten die
radialen Linien, nicht konzentrische Kreise, bei Alba-
ABB. 14. GEFÄSS MIT VIER ÖFFNUNGEN (BLUMENSTÄNDER?) MIT ROLLBLATEMUSTER, GOLDLÜSTRIERT, DIE STERNE BLAU
Höhe 26 cm. Sammlung Beit
DIE SPANISCH-MAURISCHEN FAYENCEN DER SAMMLUNG BEIT IN LONDON
133
relli die Quer-, nicht die Längsstreifen hervor. Denn
die Formen eines Gefäßes werden augenfälliger, wenn
man ihre stärksten Biegungen durch Linien angibt,
als wenn man jene Richtungen des Gefäßes linear
betont, die sich stark einer Geraden nähern. — Die
Farbenreize aber enthüllen sich erst, wenn man den
Gegenstand genau und von verschiedenen Seiten be¬
trachtet, so daß das Licht die reichen Nuancen des
Lüsters zum Leuchten bringt. Die Koloristik läuft
damit nicht Gefahr, durch Intensität oder dauernd
gleichmäßige Wirkung zu ermüden.
Ein Stil, der so harmonisch, rein und geläutert
von allen persönlichen und gedanklichen Zutaten er¬
scheint, konnte freilich nicht lange gewahrt werden.
Denn nur die Kunst, die weniger abstrakt ist, die
in das bunte Leben des Tages greift und von allen
Seiten Anregungen aufnimmt, kann sich verjüngen.
Die abgeschlossene Lage Spaniens und der unzugäng¬
liche Charakter des Volkes brachten don Vorteil, daß
man sich frei von fremden Einflüssen erhieL und das
Eigne zu einer unerreichten Voliendung - ntwickelte,
doch hemmten sie eine lebendige Entwickeliuig, so
daß die Produkte der Kunst bald nach einem, starren
Schema gebildet wurden. Die Geschichte der iangrn
Jahrhunderte aber, in welchen die Fayencei'-dnstde
noch ein eintöniges Leben fristete, bezeugt, wie star|-
die formenschaffende Kraft in der kurzen Spanne Zeit
ihres Glanzes war.
ABB. 15. TELLER MIT GEBUCKELTEM RAND UND ERHÖHTEM MITTELSTÜCK, GOLDLÜSTRIERT
Dm. 47 cm. Sammlung Beit
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XVI II. H. 5
19
BÜCHERSCHAU
Selected drawings front old ntasftrs in the University
Galeries and in the Library at Christ Church Oxford.
Part. IV. Chosen and described bySidney Colvin. Oxford
and London. 1905.
Das vierte Portfolio der von Sidney Colvin herausge¬
gebenen Zeichnungen in Oxford wird eröffnet durch drei
Kartons, die schon wegen der relativen Seltenheit solcher
in großem Maßstab vorbereitenden Studien, dann, weil sie
demselben Kunstkreis angehören, besonderes Interesse be¬
anspruchen müssen.
PI. I reproduziert den Kopf des schreienden Kriegers,
der, im erhobenen Arm das Schwert, mit der anderen
Hand die Standarte gepackt hielt — im Zentrum des be¬
rühmten Schlachtkartons von Leonardo, aus der Gruppe
des »Kampfes um die Standarte«. Dieses Stück eines
Kartons ist bisher so gut wie unbekannt geblieben. Es
ergreift einen etwas wie ein Schauer bei dem Gedanken,
es möchte ein Fragment des Originalkartons sein. Doch
der Herausgeber selbst, vorsichtig, wie stets in seinem
Urteil, äußert jene Bedenken, die sich bei sorgfältigem
Studium aufdrängen: es fehle der spontane Eindruck
des Meisterwerkes. Er schließt daher, daß wir hier eine
gleichzeitige Kopie vor uns haben, deren Wert darin be¬
steht, daß sie ein Stück des Kartons in Originalgröße wieder¬
gibt. Diesem Urteil wird man durchaus beipflichten. Aber
selbst hier kann man etwas von der gewaltigen Größe des
verlorenen Werkes ahnend empfinden; es ist das, was man
»terribile« nennt.
PI. 11. Karton für Madonna und Kind, richtig als
Giampetrino bestimmt. Leonardeskes »Sfumato«, bei großer
Schwäche der Form. Gesicherte Zeichnungen aus dem
Kreise der Mailänder Nachahmer Leonardos sind äußerst
selten.
PI. 111. Sodoma. Madonna mit zwei Heiligen. Neben
Reminiszenzen an seine lombardische Vergangenheit schon
die von Rom her stammende Maria. Raffaelisches Motiv
des Kindes.
PI. IV und V. Zwei schöne Studienblätter Filippinos,
Akt- und Gewandstudien nach dem Modell. Silberstift auf
bläulichem Papier mit Weißhöhung. Beide aus Vasaris
Sammlung von Zeichnungen. Noch aus der frühen, guten
Zeit Filippinos.
PI. VI und VIl. Michelangelo. Das erste Blatt charakte¬
ristische Federzeichnung aus den ersten Jahren des 16.
Jahrhunderts, um 1504: darauf führt auch die flüchtige
Skizze des Kampfes eines Reiters mit Fußsoldaten, offen¬
bar im Zusammenhang mit den Arbeiten für den Schlacht¬
karton. Zwei große Pferdestudien. Das zweite Blatt mit
verschiedenen Entwürfen für »Samson schlägt den Phi¬
lister« etwa vierzig Jahre später enstanden — zwischen
den Cavalierizeichnungen und den Studien für das Jüngste
Gericht stehend. Die eine, flüchtige Figur Samsons (allein)
erinnert bereits an den »Christus« der Sixtina-Komposition.
PI. VlII. Raffael oder Timoteo Viti. Knabenkopf. Den
berühmten Kopf in der besten Reproduktion studieren zu
dürfen, ist gewiß für jeden von Wert, den die noch lange
nicht endgültig gelöste Autorfrage interessiert.
PI. IX. Raffael. Sieben sitzende Figuren, Entwurf
für die linke Hälfte eines Abendmahls. Silberstift, weiß
gehöht, auf gelblich-violettem Papier. Aus der Antaldi-
Sammlung. Dieses so gut wie unbekannte Blatt setzt
Herausgeber ums Jahr 1505 — die einzig dafür mögliche
Epoche in seiner Laufbahn. Ich kann trotz der hohen An¬
mut und Feinheit leise Bedenken nicht verhehlen: schon
spielen Züge des späteren Raffael hinein und die Formen
(die Hände!) scheinen mir, obschon raffaelisch, doch un¬
freier, wie von einem Schüler in seinem Sinne konzipiert.
PI. X. Raffael. Kämpfende Männer, Entwurf für die
Grisaille in der »Schule von Athen«. Rötel. Vielleicht die
schönste erhaltene Zeichnung des Meisters. Unbegreiflich,
daß Morelli es hat anzweifeln können.
PI. XI. Correggio. Entwurf für Madonna mit Hei¬
ligen. Ursprünglich Rötelzeichnung, dann in den Konturen
grob mit Bister übergangen. Ein ganz seltenes Blatt, bei
dem man meinen möchte, der Meister habe den Stift fast
ohne Willensakt über das Papier gleiten lassen, also sollte
sich aus einem Gewirr von Linien seine Phantasie be¬
fruchten lassen. In einzelnen Zügen erkennt man, daß
wir unzweifelhaft einen frühen Entwurf der Madonna mit
dem hl. Georg in Dresden vor uns haben (man vergl.
besonders die bei Ricci, Correggio S. 315 abgebildete Feder¬
zeichnung der Uffizien mit dem Putto des Oxforder Blattes).
Zugleich aber gewahrt man ganz rechts eine dem großen
Hieronymus des Bildes in Parma eng verwandte Gestalt
(im Gegensinn). So gibt uns diese Zeichnung eine Vor¬
stellung davon, wie jene zwei Hauptbilder einmal als Ein¬
heit in der Phantasie Correggios schlummerten und sich
erst später in getrennte Schöpfungen wandelten.
PI. Xll. Tizian, Zwei Federzeichnungen. Die Ma¬
donnenkomposition in Landschaft scheint mir in dem flüch¬
tigen Duktus einen späteren Meister, Nachahmer des Vene¬
zianers, Agostino Carracci, zu verraten.
PI. Xlll. Zwei Studienblätter mit 36 Groteskfiguren
von Hieronymus Bosch. Feine, geistvolle Federstudien.
PI. XIV — XVl. Zeichnungen Rembrandts: Knieender
Johannes, Christus und die Samariterin, allegorische (? oder
biblische) Szene und Landschaft.
PI. XVll. Spagnoletto. Eigenhändig signierte, sorg¬
fältig durchgeführte Studie einer alten Frau.
PI. XVIII. Poussin. Römische Vedute: Blick auf
Sta. Maria in Cosmedin und das Kapitol, vom Vestatempel
aufgenommen. Wunderbar malerisches Blatt, Sepia, laviert,
auf grünlichem Papier.
P. XIX und XX. Watteau. Das erstere Blatt, mehr
kurios als schön, stellt eine allegorische Komposition vor:
einige Kavaliere retten sich im Nachen, aus stürmisch be¬
wegter See, vor Neptun ans Land, eine Anspielung auf
Watteaus Rückkehr aus England im Jahre 1720 und seinen
Empfang durch Julienne. Dagegen entbehrt das zweite
Blatt — Figurenstudien — für mich der genialen Grazie des
Meisters; ich möchte hier eher an Pater denken.
Mit diesem vierten Heft ist die Publikation der Oxford-
Zeichnungen nach dem ursprünglichen Plan abgeschlossen.
Hoffentlich entschließen sich die Herausgeber zu weiteren
Mappen^): bergen doch die Sammlungen in Oxford noch
so viele, nicht genügend reproduzierte Schätze — allein
von Raffael und Michelangelo. Des Dankes aller Kunst¬
freunde dürfen sie für ihre Gaben gewiß sein. g. Qr.
i) Inzwischen ist ein neuer Band bereits erschienen.
[^ÜCHERSCHAU
135
Die holländische Landschaftsmalerei. Ihre Entstehung
und Entwickelung. Von Dr. Johanna de longh, Berlin,
Bruno Cassirer, 1905.
Eine frauenhafte Sicherheit und Schlankheit des Vor¬
trages ist der Hauptvorzug dieses Buches der Utrechter
Privatdozentin. Die dem Gegenstände, über den sich recht
lange reden ließe, gegebene Vereinfachung wird zunächst
nicht unangenehm empfunden. Die Atmosphäre ist das
Bedingende in der holländischen Landschaft — »Flandern
ist auf Blau, Holland auf Rot gestimmt«. Die »Heures
de Turin«, deren Untergang wir beklagen, werden für
Holland in Anspruch genommen, in der weit aufrollenden,
schimmernden Seefläche der Miniatur der »Landung« wird
eine Vordeutung auf die Kunst des Jan Porcellis und
Adriaen van de Velde erblickt, in dem Querstreifen der
»Gasse« schon der Lichtschlag des Jan Vermeer gespürt.
Der erhöhte Horizont der Altarbilder des 15, Jahrhunderts
wird aus der Architektonik der Kirche abgeleitet, ebenso
die Dreiteilung des Landschaftsgrundes in braun, grün und
blau. Eine zureichende Erklärung für die merkwürdige
Gebirgs- und Ruinenromantik in der altniederländischen
Malerei weiß auch die Verfasserin nicht zu geben — viel¬
leicht muß man einen Einfluß vom italienischen Trecento
her annehmen — die paar barocken Felsen des Maas¬
tales können unmöglich für alles herhalten! Überschätzt
wird die Bedeutung, die Jan van Eycks Aufenthalt im
Haag für seine Entwickelung hatte. Holländische Land¬
schafts- und Interieurelemente werden im Genter Altar
und im Arnolfinibild entdeckt; leider wird, um festzustellen,
was daran holländisch ist, die holländische Malerei des
17. Jahrhunderts herangezogen, die doch wahrscheinlicher
ihre Qualitäten und Fertigkeiten eben den großen Er¬
oberungen der van Eyck verdankt, so daß wir uns hier
in einem Zirkel bewegen. — Zur Veranschaulichung des
landschaftlichen Stiles der Ouwaterschule einen Mischling
wie die »Auferweckung des Lazarus« der Sammlung R. v.
Kaufmann heranzuziehen, ein Bild, das von der Kritik ab¬
wechselnd als französisch, als holländisch und gar als
franco-holländisch (!) angesprochen wird, dürfte voreilig
sein. Feinsinnig spricht die Verfasserin über Dirk Bouts,
seinen »Elias in der Wüste« deutet sie als Morgen-, die
»Mannalese« als Abendstimmung. — Eine bedenkliche
Neigung zu nicht genügend gestützten kulturhistorischen
Verbindungen tritt bisweilen auf: die Erfindung des Härings¬
salzens (S. 16) und die unruhige Politik Karls des Kühnen
(S. 43) werden nicht gerade glücklich zur Erklärung kunst-
geschichtlicher Vorgänge herbeigeholt. Der Dresdener
Altar Nr. 841 mit der Gefangennahme Christi und das
Bild des gleichen Gegenstandes von Bouts in der Münchener
Pinakothek sind für die Verfasserin Werke gleicher Hand,
und zwar wahrscheinlich des Gerard Horenbout, von dem
wir nicht allzuviel wissen: tatsächlich gehört das Dresdener
Bild sehr nahe mit der Sigmaringer Verkündigung des
Gerard David und seiner Rouener Heiligenversammlung,
besonders auch mit dem frühen Mabuse zusammen, während
die Münchener Gefangennahme noch fast alle Eigenschaften
Ouwaters aufweist, dem Voll neuerdings das Bild direkt
zuschreibt. Unhaltbar ist die Behauptung, die holländische
Malerei hätte zu Anfang des 16. Jahrhunderts unterdeutschem
Einfluß ihr feines Farbengefühl verloren; schließlich sind
die Landschaftszeichnungen Dürers, Holbein, Burckmair,
Grünewald, der junge Cranach und Altdorfer auch kolo¬
ristisch nicht zu verachten ! Hätte die Verfasserin sich
etwas mit dem Glückschen Mostaert beschäftigt, der gerade
durch den duftigen »vaporösen« Ton seiner Landschaften
für ihre These so wichtig gewesen wäre und den sie mit
keiner Silbe erwähnt (!), hätte sie bei Engelbrechtszoon die
seit 1899 publizierte Verstoßung der Hagar in der Samm¬
lung Lippmann berücksichtigt, so wäre ihr Urteil wohl
anders ausgefallen. Daß man das Petersburger Bild des
Lucas van Leyden als »Jericho die Bürden heilend« be¬
zeichnet, sollte in einem ernsthaften Buche nicht Vorkommen.
Auch scheint der Verfasserin (S. 63) die schon von Bartsch
festgestellte Tatsache unbekannt gebliebc:: zu sein, daß
Marc Anton in seinem Stich der »Kietterer (B. 487) den
Hintergrund des Mahometstiches von Lucas van Leyden
(B. 126) kopiert hat. Mit Recht aber wird die sonnige
Farbe der nackten Figuren im Leydener jüngsten Gericht
dieses Meisters hervorgehoben. Gut wird der moderne
Zug bei Pieter Aertsen betont, vom alten Brueghel, der
sich zum erstenmal zur Flachlandschaft bekennt, sollte
eingehender die Rede sein. — Über die Meister des be¬
ginnenden 17. Jahrhunderts, wie aus der lebhaften jahres-
zeitendarstellung sich die Winter- und Sommerlandschaft,
aus der Schilderung der Fischerei das Seestück entwickelte,
endlich über die großartige Verherrlichung des holländischen
Himmels bei Hercules Seghers wird manches kluge und
feine Wort gesagt; doch kann hierdurch der Eindruck der
gefährlichen Risse und Lücken des vorhergehenden Unter¬
baues nicht aufgehoben werden, und man wird der Ver¬
fasserin, der geschickte Übersicht und gewinnende Dar¬
stellung gewiß nicht abzusprechen sind, für ihr nächstes
Werk mehr Gründlichkeit anempfehlen müssen.
Der Übersetzung merkt man es stark an, daß sie von
einem Holländer besorgt wurde. Einige Leser werden
vielleicht erst aus dieser Besprechung erfahren, daß mit
dem »Letzten Urteil im Museum zu Ryssel« (S. 40) ein
Jüngstes Gericht im Museum zu Lille gemeint ist. Druck
und Papier sind, wie immer bei diesem Verlage, geschmack¬
voll und gediegen; die beigegebenen 44 Abbildungen sind
mit wenigen Ausnahmen, zu denen leider gerade die
Proben aus den »Heures de Turin« gehören, klar heraus¬
gekommen und erhöhen den Wert des Buches.
Franz Diilbcrg.
CI. Brentano, Chronika eines fahrenden Schülers. Mit
Mon Franz Hein. 8 **. Heidelberg, Winter, 1906.
M. 6.—.
Die berühmte romantische Erzählung besitzen wir in
illustrierten Ausgaben bereits von Ed. Steinle, 1883 er¬
schienen, und Wilhelm Steinhausen, schon Ende der 70er
Jahre geschaffen, aber erst 1898 als »Randzeichnungen«
herausgegeben. Steinles edler Strich hält sich im allge¬
meinen an den vornehmen, idealen Stil, den Schnorr durch
seine Bibel als Muster in die Welt setzte. Steinhausens
Bilder, namentlich entzückendindenlandschaftlichenSkizzen,
leiden darunter, daß sie nicht eigentlich als Illustrationen
entstanden, sondern lediglich als Tonzeichnungen, die auf
photomechanischem Wege wiedergegeben sind. Beide
Bücher zudem haben ein wenig das Fröstelnde des »Pracht¬
werkes« an sich. Ein intimeres Verhältnis zwischen Leser
und Buch wird sich leicht bei der vorliegenden neuen
Ausgabe einstellen können. Das gleiche, eine intimere
Beziehung, zwischen Bild und Text hat ja hier schon statt¬
gefunden. Dies ist der eine große Hauptvorzug Heinscher
Illustrationskunst, daß er das Bild so genau an den Satz,
an die Type anzupassen weiß, daß beide auf das engste
miteinander verwachsen erscheinen, und unser Auge von
einem zum anderen gleitet, ohne das Bild als eine Unter¬
brechung zu empfinden. Aber auch sonst war Hein
unter unseren heutigen Illustratoren der berufenste, wenn
nicht gar der einzige, diese Aufgabe gut zu lösen. Oft
genug hat er bewunderungswürdige Proben abgegeben,
wie seine Kunst den Geist der Romantik wirklich atmet
und nicht bloß allerlei äußerlichen Schnick-Schnack und
sentimental verbrämte Reminiszensen auftischt. Die präch¬
tigen Zeichnungen auf Seite 228 und 175 nebst dem
19*
136
BÜCHERSCHAU
Frontispiz, auch die auf Seite 210 und 194 kommen den
schönsten Illustrationen, die er geschaffen hat, gleich. Sie
allein machen aus dem Band schon einen wertvollen Besitz.
Piof. Dr. Hans U". Singer.
L. V. Sybel, Christliche Antike. Einführung in die alt¬
christliche Kunst. 1. Band, Einleitendes. Katakomben.
308 S. gr. 8° mit 4 Farbtafeln und 55 Textbildern. Mar¬
burg, Eiwert, 1906.
V. Sybel kann das Verdienst beanspruchen, die alt¬
christliche Kunst in den Kreis der klassischen Altertums¬
kunde eingeführt zu haben. Sehr zum Vorteil einer besseren,
freieren Erkenntnis. Denn wenn auch die Theologen, die
bisher die Hauptarbeit geleistet haben, über die formale
Ausprägung der frühchristlichen Kunst durch die Antike
ziemlich einig waren, so konnte doch von ihrer Seite den
zahllosen, feinen Verbindungsfäden nicht weiter nachge¬
gangen werden. Ja man wich offen gestanden diesen Er¬
örterungen vorsichtig aus, seitdem die Versuche Raoul-
Rochettes und Hasenclevers, die christliche Antike auch
sachlich als »Mythologie« zu erweisen, überall abgelehnt
waren. Hiervon ist v. Sybel weit entfernt. Er hat das
vollste Verständnis für die Eigenart und Ursprünglichkeit
christlicher Gedanken. Aber sie erscheinen doch sofort
in einem anderen Lichte, wenn sie in ihre weltgeschicht¬
liche Umgebung, in den lebendigen Fluß der hellenistischen
Kultur versetzt, ja als das letzte Ziel und Ergebnis der
gesamten Antike gewürdigt werden.
Da das Buch in erster Linie für Archäologen berechnet
ist, so versteht man die zuerst befremdliche Einleitung
über Glauben und Forschen und über die biblische Litera¬
tur. Obwohl diese Seiten vom Standpunkt des fortge¬
schrittensten Protestantismus geschrieben sind, werden sie
auf die absolute Unkenntnis oder die dumme Skepsis der
Betroffenen als prächtige Apologie wirken. Umgekehrt
bieten die höchst anschaulich entwickelten »jenseitsge-
danken des Altertums« (S. 38—80) den Theologen viel
Stoff zum Nachdenken und Besinnen. Die folgenden Ka¬
pitel über den Bestand der Denkmäler, den Bau und die
Ausstattung der Katakomben leiten dann zum Kern des
Buches, der Erklärung des Bilderkreises über, der in drei
Rubriken, das Mahl der Seligen, die Erlösung, die Seligen
im Himmel, aufgearbeitet wird. Hier werden nun für
viele der christlichen Typen die reichsten Vorbildungen
und Parallelen der antiken Kunst herbeigezogen, nicht um
jene herabzusetzen, sondern um die ganze Stimmung und
Weltanschauung zu kennzeichnen, auf welcher sie wurzelten.
Es ist begreiflich, daß hierbei die konfessionell orientierte
Auslegung Wilperts in entscheidenden Punkten widerlegt
wird. Aber auch evangelische Forscher können aus der
Diskussion lernen, daß die von ihnen gern gesuchte ur-
christliche Reinheit der religiösen Vorstellungen keineswegs
in der volkstümlich entwickelten Kunst der ersten Jahr¬
hunderte zu behaupten ist. Die Darstellung des Verfassers
ist etwas breit und umständlich. Beim Paradies werden
wir gleich über die Park- und Gartenbaukunst der Alten,
beim Mahl der Seligen über die Geschichte und Technik
desSpeisens unterrichtet. Um in einem Gleichnis zu reden,
das den Sybelschen ebenbürtig ist: Ehe er die Pfeife stopft,
erzählt er behaglich vom Bau und der Zubereitung des
Tabaks. Die Bilder sind ungleichartig und jedenfalls zu
sparsam, die Farbentafeln ausgezeichnet. Bergner.
Studien aus Kunst und Geschichte. Friedrich Schneider
zum siebzigsten Geburtstage gewidmet von seinen
Freunden und Verehrern. Freiburg im Breisgau 1906,
Herdersche Verlagshandlung.
In unserer von scheinbar so unversöhnlichen Gegen¬
sätzen zerrissenen Zeit bedeutet diese glänzende Festschrift
ein besonders erfreuliches Ereignis. Um einen Domherrn
von Mainz haben sich zur Feier seines siebzigsten Geburts¬
tages mehr als ein halbes Hundert wissenschaftlich
arbeitender Männer geschart und der Verehrung für den
Jubilar in einer literarischen Gabe Ausdruck verliehen.
In dem vornehm ausgestatteten Bande von fast sechs¬
hundert Seiten werden fast alle Gebiete der historischen
Wissenschaften gestreift, aber die Beiträge aus der Kunst¬
wissenschaft sind bei weitem die zahlreichsten. Schneider
selbst ist ja als Forscher auf den verschiedensten Gebieten
zu Hause, aber von jeher hat er doch der Kunstgeschichte
sein vornehmstes Interesse geschenkt. Er hat auch praktisch
immer wieder mit Erfolg in schwebende Kunstfragen ein¬
gegriffen und manches Denkmal seiner Vaterstadt Mainz
vor sinnloser Restauration bewahrt. So hätte man die
wissenschaftliche Bedeutung und die stark ausgeprägte
Persönlichkeit dieses Forschers mit dem freien Blick und
den allseitigen Interessen nicht besser ehren können, als
durch eine Gabe, die es gleichsam dokumentiert, daß man
stets bei ihm für alle Fragen aus Leben, Kunst und Wissen¬
schaft Verständnis und Förderung gefunden hat.
Auch die für deutsche Verhältnisse mehr als glänzende
Ausstattung dieses Buches bezeugt, daß Redaktion und
Verlag wohl erkannt haben, welche bewußten oder un¬
bewußten Ansprüche ein so leidenschaftlicher Bibliophile,
ein so fein organisierter Geist, wie Schneider, an eine ihm
gewidmete literarische Gabe machen mußte. Indem man
die Abbildungen auf Tafeln zusammenstellte, gewann man
die Möglichkeit, für den Text ein besonders starkes Papier
wählen zu können. Druck, Typen und Buchschmuck sind
so vornehm und stilgerecht, daß das Auge sich stets von
neuem daran freut. Der Einband ist nicht zu schwer und
augenscheinlich nach englischen Mustern hergestellt.
Von allen denen, die sich so erfolgreich bemüht
haben, diese Festgabe würdig auszustatten, möchte ich
nur den Namen Joseph Sauers nennen. Er durfte mit be¬
rechtigtem Stolz diese Gabe in die Hände des allverehrten
Mannes legen, denn seiner Beharrlichkeit und Treue vor
allem gelang die schöne Tat. Ernst steinmann.
Herausgeber und verantwortliche Redaktion: E. A. Seemann, Leipzig, Querstraße 13
Druck von Ernst Hedrich Nachf., a. m. b. h., Leipzig
ZEITSCHRIFT FÜR BILDENDE KUNST IQOy
MENZEL. ORIOINALRADIERUNO VON E. BISCHOFF-CULM
• \
•i
ORIOINALRADIERUNO VON FRANZ MUTZENBECHER
NACH EINEM HOLZSCHNITT VON EMIL NOLDE IN SOEST
DIE ERSTE GRAPHISCHE AUSSTELLUNG
DES DEUTSCHEN KÜNSTLERBUNDES IM DEUTSCHEN
BUCHGEWERBEMUSEUM ZU LEIPZIG
Die Ausstellungen des deutschen Künstlerbundes
stehen in dem Rufe strenger Jurierung und
daher einer weitgehenden Freiheit in der
Geltendmachung künstlerischer Eigenart. Der An¬
drang zu der Ausstellung war enorm, die Künstler¬
jury hatte harte Arbeit. Was dann in den neu her¬
gerichteten Räumen des Deutschen Buchgewerbe¬
museums in Leipzig dank dem Eifer des Direktors
Dr. Erich Willrich in geschmackvoller Anordnung
zur Schau geboten ist, gibt ein besseres Bild von
den künstlerischen Zielen der modernen graphischen
Kunst in den Landen deutscher Zunge, als uns auf
den mannigfachen ähnlichen Darbietungen der letzten
Jahre gezeigt worden ist. Handzeichnungen und die
verschiedenen Verfahren vervielfältigender Kunst er¬
scheinen in engem Bunde; und vom vorlauten Plakat
bis zum heimlichen Exlibris, von dem sich gern
impressionistisch gebenden blockbuchmäßigen Ge¬
stammel des modernen Holzschnitts bis zur gedul¬
digsten Kupferstechermühe, von den Freizügigkeiten
der Radierung bis zu den subtilen Harmonien
farbiger Stein- und Holzdrucke kann die ganze
weite Welt der graphischen Künste überblickt werden.
Auch die Karikatur hat auf der Ausstellung ihr Kon¬
tingent, Zille in Charlottenburg pflegt sie mit Vorliebe
und satirischem Bewußtsein, andere wieder tragen un¬
bewußt ihr Scherflein zur Belustigung des Publi¬
kums bei.
Nicht nur das Neueste, Allerneueste ist da zu sehen,
auch recht ehrwürdig alte Versuche graphischer Kunst
wie die Radierungen Stucks, ältere Zeichnungen des
Grafen von Kalckreuth, Leistikows, feine Schabkunst¬
blätter Pankoks grüßen wie gute alte Bekannte in¬
mitten einer tumultuarischen Menge junger undjüngster.
Es ist nicht ganz leicht, sich in den Richtungen, lo¬
kalen Gruppen und Sezessiönchen all der Neuen aus-
Zeitsclirift für biklende Kunst. N. F. XVUI. H. fi
zukennen, es sind ihrer so viele, und sie »ziehen so
viel um , daß der Versuch, sie auseinander zu halten,
zuschanden wird.
Bei den meisten, die Originalgraphik treiben, ist
die Farbigkeit das zeitgemäß Neue und das Streben
nach flächiger Wirkung nach Art der Japaner oder
unserer deutschen Holzschnittinkunabeln Trumpf.
Die von Eckmann und Behrens schon vor einem
Jahrzehnt begonnene japanisierende Richtung hat es
künstlerisch wohl am weitesten gebracht, sie bewegt
sich in den Grenzen einer gewissen bildmäßigen Inti¬
mität. Orlik gehört zu den überzeugtesten deutschen
Japanisierern; er weiß auch die fremde Weise mit
gescheitem Witz und feinem Farbengeschmack vorzu¬
tragen. Noch lieber als in diesen Geschmacksspitz¬
findigkeiten erscheint er uns in einigen breit vor¬
getragenen Bildnissen, wie im Porträt Hodlers oder
wie in seinen Landschaften und Studien slawischen
Volkslebens. Zuweilen greift Orlik zur Handkolorierung
allen Stils, ein Verfahren, das auch der Wiener Franz
von Zülow in seinen Schablonenblättern anwendet.
Sehr vornehmes Kolorit zeichnet die Holzschnitte von
C. A. Reichel in Großgmain aus, seine blaue Dame
auf grauem Boden ist ein meisterhaftes Blatt. Karl
O. Petersen in Dachau verrät in seinen Holzschnitten,
deren Stoff der Tierwelt entnommen ist, das Studium
der geistreichen Skizzen Hokusais, nur scheint er sie
zu sehr mit Zufallswirkungen des Druckes aufzu-
putzen. Siegfried Berndt in Dresden gibt in der
Finesse der Tönung den besten Japanisierern nichts
nach, sein Blick auf Loschwitz und die Elbe z. B. ist
ein entzückendes Winterbild. Auch derMünchener Daniel
Staschus ist ein Kolorist von wohltuender Noblesse,
sein »einsames Haus<' gehört zu den besten Farben¬
holzschnitten der Ausstellung. Daneben wirken Karl
Thiemanns effektvolle Farbenblätter fast grell. Dieses
20
13S
GRAPHISCHE AUSSTELLUNG DES DEUTSCHEN KÜNSTLERBUNDES
ganze Heer neuartiger Sachen eröffnet dem künstlerischen
Wandschmuck weite Bahnen, pflanzt ein neues Reis auf
den altgewordenen Stamm. Ünd hier, wo der Holz¬
schnitt mit der Lithographie um die Probe kämpft,
erscheint er als der stärkere.
Farben- und Flächenwir¬
kung predigt auch das Plakat.
Aber hat es nicht auf seinem
eigensten Felde die schöne
Lehre vergessen und lehrniei-
stert dort, wo keine Fernwir¬
kung, sondern die Wirkung
aus der Nahsicht das natürliche
ist? Ich fürchte, das schöne
Dogma von der großen Linie,
dem breiten Farbenfleck, hat
uns um eine Menge feine Kunst¬
blätter und viel edlen Buch¬
schmuckgebracht. Alles scheint
nur für die Wand oder die
Anschlagsäule gedacht, nichts
mehr will mit jener Liebe in
der Nähe betrachtet sein, die
ein hoher Gennß der alten
Liebhaber gewesen ist. Dabei
schreien die Bibliophilen und
Verleger nach dem Buchlieb¬
haber, nach dem Schätzer des
gut gedruckten Kunstblattes
und Buches! Fast will es
scheinen, als beschränkte sich
die Allerweltbibliophilie auf
kluge Exlibris und die präziöse
Ausgabe von Übersetzungen
aus fremden Literaturen. Ist
das Überhandnehmen dieser
kostbar ausstaffierten Über¬
setzungsliteratur wirklich ein
Zeichen zunehmender Ge¬
schmackskultur in Sachen der
Bücherliebhaberei? Ist die
Freude an den derben Illustra¬
tionen ä la Valotton, an den
Schnörkelphantasien älaBeards-
ley wirklich echt und mehr
als der alte Hang zur Nach¬
ahmung welscher oder eng¬
lischer Art?
Seit mehr als zehn Jahren
sind bei uns die Sezession isten
als die Erzfortschrittlichen am
Werke und immer noch kommt
uns eine Mehrheit der jüng¬
sten gerade mit Manieren und
Moden fremder Art. Da macht
sich der eine den Witz, ä la Raffaelli zu kommen,
der andere tüpfelt wie Pissarro, der dritte imitiert
Toulouse-Lautrec — gewiß ist das alles recht ge¬
schickt gemacht und amüsant zu konstatieren, aber es
ist doch recht viel eitle Manieristenkunst dabei. Damit
möchte ich mich aber nicht dem lauernden Vorwurf
aussetzen, als wäre ich einer absonderlichen Deutsch¬
tümelei verfallen. Ich weiß wohl, daß »deutsche Art«
nicht in dieser oder jener technischen Form oder Manier
steckt, aber ich weiß auch, daß solche aus fremder An¬
regung quellende Weise ganz
anders durchgefühlt werden
muß, um nicht bloß fremd¬
artig zu wirken, wie das an
den meistenBIättern dieser hoch¬
modernen Art zu sehen ist.
Wie ganz anders haben andere,
die zu unseren Besten gehören,
wie Max Klinger, wie Uhde,
Max Liebermann, sich mit den
fremden Anregungen abge¬
funden, als die neueren, deren
Variationen fremder Manieren
nicht selten wie die Ergebnisse
mehr oder weniger glücklicher
Wetten anmuten. Aber lassen
wir uns durch solche kritische
Bemerkungen nicht in dem
Genuß des vielen Guten, das
die Bundesausstellung bietet,
stören.
Im ganzen genommen ma¬
chen die Wiener, die Öster¬
reicher überhaupt einen vor¬
züglichen Eindruck. Da ist
Klimt mit seinen fein umris-
senen Akten, die voller Frei¬
heit und Raffinement stecken
und doch an die strengen Sub-
tilitäten Ingres’ erinnern, da
sind Franz von Zülow und
Reichel, der erste mit Hand¬
zeichnungen, der andere mit
Farbenholzschnitlen, die, wo
sie nicht glasfenstermäßige
Effekte anstreben — wie bei
dem bereits erwähnten Mäd¬
chen mit zwei Doggen — viel
farbige Finesse verraten. Otto
Czeschka in Wien zeigt die
kunsttechnischen Ateliers der
Hof- und Sfaatsdruckerei in
Holzschnitten, die mit derben
schwarz und weißen Effekten
eine gewisse Intimität nicht
ausschließen. . . Vor mir liegt
ein alter Holzstich nach Menzel,
ein alter Gelehrter blickt aus
seiner schmalen Bibliothek
sehnsüchtig zum Fenster hin¬
aus; es ist eine Lust, die Fein¬
arbeit dieser Illustration zu studieren, und ich kann
nicht finden, daß diese alte zeichnerische Manier der
Bücherillustration, die wir durch die Hilfsmittel mo¬
derner Reproduktionskunst nahezu vollkommen ver¬
drängt haben, wirklich gar nichts mehr taugte. In
der Richtung auf einläßlichere Zeichnung scheint sich
NACH EINEM KARTON FÜR GLASFENSTER VON
KOLO MOSER IN WIEN
GRAPHISCHE AUSSTELLUNG DES DEUTSCHEN KÜNSTLERBUNDES
NACH EINEM HOLZSCHNITT VON KARL WEIDEMEYER IN WORPSWEDE
NACH EINER FARBIGEN LITHOGRAPHIE VON ROBERT LEONARD IN BERLIN
140
GRAPHISCHE AUSSTELLUNG DES DEUTSCHEN KÜNSTLERBUNDES
nur Steiner-Prag in Barmen mit seinen Illustrationen
zu Hoffmanns Elixieren des Teufels zu bewegen.
Dringend wäre es zu wünschen, daß die Buch¬
illustration mehr mit der Detaillierung, die die
Nähe des prüfenden Auges verlangt, behandelt würde.
Ein starkes Talent freilich wie Albert Haueisen hat
ein paar höchst wirkungsvolle Holzschnitte in der
derben Schwarzweißmanier gebracht, seine Studie
Aus Bernau ist ein kapitales Blatt. Den Soester
Emil Nolde reitet der urwüchsige Humor und die
drollige Satire seiner die Phantasie derb aufrütteln¬
den Holzschnitte. Max Pechstein in Dresden sucht
ähnliche Effekte in nicht niirulcr klotziger Manier.
aucli noch, was E. R. Weiß in Friedenau ausge¬
stellt hat.
Die Radierung hat es in dem Streben nach
buntfarbiger Wirkung nicht leicht im Wettbewerb
mit Holzschnitt und Lithographie. Olaf Lange in
Dachau hat ohne Zweifel den Preis harmonischer
Farbigkeit verdient, seine orientalischen Phantasien
sind koloristisch von außergewöhnlichem Geschmack,
es steckt in diesen farbigen Symphonien etwas wie
eine schwüle, die Sinne betörende Verführung. Herr¬
lich ist die aus grau, rot, gelb und schwarz zusammen¬
fließende Vision von weiblichen Gestalten, die auf
Schmetterlingen ruhen, prachtvoll der Pfauenaugen-
NACII EINEM HOLZSCHNITTE VON ALBERT HAUEISEN IN JOCKGRIM
Eleganter geben sich die Worpsweder Weidemeyer
(Tänzerinnen) und Tappert, und Kirchner in Dresden
verfügt bald über impressionistische Derbheit (Lehm¬
grube), bald über die Suggestionskraft der keuschen
Linie.
Im Rufe besonders ausgeprägter Farbigkeit stehen
die Karlsruher und Stuttgarter. Volkmann ist mit
einer ganzen Folge seiner wirkungsvollen lithogra¬
phischen Wandbilder aufgefahren, Carlos Grethe
bringt in Handzeichnungen, Lithographien stimmungs¬
volle Impressionen aus dem Hamburger Hafen, ein
Schüler Haugs, Georg Lebrecht in Stuttgart, ein
höchst geschmackvolles, farbiges Blatt »Die Post¬
kutsche«. Aus seiner Karlsruher Zeit stammt
teppich, vor dem die Schlange Salambo umwindet.
Die Königin von Saba, die bei sternenfunkelnder
Nacht dahingetragen wird, und das Blatt mit dem
Meerweib sind voll köstlicher Farbenreize. Die far¬
bige Radierung leistet hier Dinge, farbige Orchestra-
tionen, die ihr früher unerreichbar waren.
Wo die Radierung allein mit ihren natürlichen Mitteln
wirkt, erscheint sie, allgemein gesprochen, nicht son¬
derlich im Fortschritt; doch macht sich bei ihren An¬
hängern — deren Kreis erfreulicherweise wieder
zuzunehmen scheint — ein befruchtendes Studium
namentlich Goyas, Rembrandts, Whistlers und Leperes
bemerkbar. Eduard Munch in Kösen hat in seinen
alten Improvisationen doch mehr versprochen als ge-
NACH EINEM
FARBIGEN SCHA¬
BLONENBLATTE
VON FRANZ
V. ZÜLOW
IN WIEN
NACH EINER STUDIE IN SCHABLONENSPRITZVERFAHREN
VON L. H. JUNGNICKEL IN WIEN
NACH EINEM FARBIGEN HOLZSCHNITTE VON MARTHA WENZEL
IN MÜNCHEN
GRAPHISCHE AUSSTELLUNG DES DEUTSCHEN KUNSTLERBUNDES
; ■ ir von älteren und neueren Blättern
— sC-.c;- (auch Lithographien), sind oft geniale
"L — aber leider nichts als Ansätze.
; ';nr angeregt durch die zyklischen Radierungs-
fri :: Kiingers, haben eine ganze Anzahl neuer Ra-
■ ^ r r sich bewogen gefühlt, in mehrteiligen Blatt¬
folgen als Satiriker, Humanitätsapostel oder Rüttler
an der Tradition aufzutreten. Louis Corinth hat Tragi¬
komödien radiert, interessante, aber wenig befriedigende
Versuche in einem obsolet scheinenden historisieren¬
den Genre (allerdings eine alte Arbeit des Künstlers
aus der Mitte der neunziger Jahre). Dem Wiener
Rudolf Jettmar fließt die Phantasie leichter, und da
er schon den Betrachter zum Nachdenken anregen
will, denkt er tiefer als der Berliner Naturalist und
steckt in seine Komposition einen Fleiß und eine
Sorgsamkeit, die in den Zeiten flüchtiger Impressionen
doppelt anerkannt werden muß.
Käthe Kollwitz in Berlin hat mit energischer
Hand und lebhaftem Temperament Szenen aus dem
Bauernkrieg und dem Weberelend radiert, und in einer
Art Triptychon schildert sie mit eindringlicher Herb¬
heit das Los der Zertretenen«. In dieser Künstlerin
steckt eine ungewöhnliche phantastische Vorstellungs¬
kraft und sie trägt ihren Trotz gegen die Gewalt und
ihr Mitleid mit dem Los der Armen mit schier männ¬
licher Festigkeit vor. Wie frei und lebendig ist ihr
Strich, der immer nach Ausdruck strebt und den
Künsteleien alter Kupferstecherhexenmeister, in denen
sich der Dresdener Georg Jahn gefällt, aus dem Wege
geht. Lieber derb, grob im Ausdruck als gelehrt
oder geziert. Käthe Kollwitz hat für ihre robusten
Werke die höchste Auszeichnung erlangt, die der
deutsche Künstlerbund seinen Ausstellern als Preis
zu verleihen vermag; den Villa-Romana-Preis. Auch
Franz Mutzenbecher in Stuttgart verrät die Tendenz auf
den Zyklus; mit milde flimmernden Lichteffekten erzählt
er von dem weißen Raben — einem Mädchen, das die
Tanten lästern, und andere in phantastischem Licht ge¬
sehene Szenen, über die es mitunter wie eine flüch¬
tige Erinnerung an Goya irrt. Selbst bei einem Eigen¬
sinn wie Max Slevogt denkt man, wenn man das Duell
sieht, an Goya und gewisse frühe Blätter von Klinger,
und seine Phantasie schwelgt in der Vorstellung
schrecklicher Geschehnisse. Unter den Einzelblättern
fallen auf ein paar breit, flächig behandelte Radierungen
von Richard Winckel in Magdeburg, ferner Arbeiten
des Karlsruhers Hans Brasch jun., dessen radierte Bild¬
nisse an strenge Altmeisterweise, an einen Lukas van
Leiden etwa erinnern. Solchen vereinzelten Arbeiten
gegenüber — die das Ideal Stauffer-Berns waren —
empfindet man doppelt den Verlust einer in ihrer
strengen Sachlichkeit und diskreten Wirkung großen
Kunst. Sehr erfreuliche Leistungen sind dann die
locker und geistreich gezeichneten Blätter von Walter
Zeising in Dresden, von Harald Tillberg in München,
von Wilhelm Giese in Magdeburg und eine Anzahl
Blätter von Adolf Schinnerer, in dem eine dem
Schweizer Welti verwandte Phantastik zu leben scheint,
ln seiner Reise des Tobias (ein Zyklus von i6 Blät¬
tern) weiß seine einläßlich konturierende und zart
tönende Manier ansprechende Wirkungen zu erreichen.
Was wir hier in flüchtiger Schau hervorgehoben
haben, ist eine Auswahl, neben der indessen noch
viel des Vorzüglichen zu sehen ist. Die graphische
Ausstellung des Deutschen Künstlerbundes beweist,
daß die vervielfältigenden Künste, solange sie original
bleiben, um ihre Zukunft nicht zu bangen brauchen,
und sie wird zu den alten Freunden graphischer
Kunst neue werben. fi. g.
NACH EINEM HOLZSCHNITTE VON E. NOLDE IN SOEST
GRAPHISCHE AUSSTELLUNG DES DEUTSCHEN KUNSTLERBUNDES
NACH EINER RADIERUNG VON W. ZEISING IN DRESDEN NACH EINER RADIERUNG VON .VI. SLEVOGT IN BERLIN
GRAPHISCHE AUSSTELLUNG DES DEUTSCHEN KUNSTLERBUNDES
NACH EINER FARBIGEN HANDZEICHNUNG VON H. SCHLITTGEN IN MÜNCHEN
NACH EINER FEDERZEICHNUNG VON FRANZ MUTZENBECIIER IN STUTTGART
GRAPHISCHE AUSSTELLUNG DES DEUTSCHEN KÜNSTLERBUNDES
NACH EINER HAND-
ZEICilNUNO VON
L. V. KALCKREUTH
IN STUTTGART
NACH EINER BLEISTIFTSTUDIE VON F’AUI, BACH IN BERLIN
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XVIII H. 6
AHH. 1. ÜRCIN/FI inUR FINFS SITZFNDFN MANNFS, FFORFNTINIS('l I UM M8(l
Samiiiluiig Clemens
AUSSTELLUNG PLASTISCHER BILDWERKE DES 15. UND 16. JAHRLL
IN MÜNCHEN
Von Fritz Buroer
WENN iiiclit alle Zeichen trügen, so beginnt
das Münchener Kindl ans dem betäubenden
Weihrauchsgeruch, der ihm namentlich zu
Hause so überreich bereitet wird, zu erwachen und,
was das wichtigste ist, ohne die staatliche Fuchtel aus
eigener Erkenntnis einzusehen, daß in gewisser Hinsicht
der Lorbeer auf dem Köpfchen doch eigentlich bedenk¬
lich wenig junge Triebe aufzuweisen hat und daß er im
Verhältnis zu dem Kranze, den der Brandenburger Baer
mit erstaunlichem Geschick in so kurzer Zeit sich um
die tatenlustige Brust gewunden hat, für seinen alten
Ruhm doch zu dürftig erscheinen möchte. Dies nm so
mehr, als das unerschöpfliche Sammelbecken heimischer
Landeskunst und der reichen Privatsammlungen auch
für den mächtigen Rivalen im Norden eine ergiebige
Quelle zu werden beginnt. Wie sich die Zeiten
ändern! Preußische Offiziere gehen nach Japan in
die Lehre und die alte bayrische Kunststadt muß nach
Berliner Muster ihre Hilfstruppen organisieren. Eine
dieser Organisationen ist die Gründung des bayerischen
Museumsvereins, der mit einer Ausstellung plastischer
Kunstwerke des 15. und t 6. Jahrhunderts in zwei
Räumen des Kunstansstellungsgebäudes am Königs¬
platz zum erstenmal in dieser Weise in die Öffent¬
lichkeit getreten ist, um das zu erstreben, was man
in Berlin längst erreicht hat. Wenn man an dem
ersten glänzenden Erfolge des Vereins nun etwas aus-
znsetzen hat, so ist es höchstens das, daß das schöne
Spiel des Debntanten so kurz nur gedauert hat und
daß Klingel und Trommel erst gerührt wurden, als
man im Begriff war, die Pforten des Tempels am
Königsplatze schon wieder zu schließen. Ausstellungen
mit solch feinsinnigem Geschmack und doch in so
anspruchsloser Weise arrangiert wie diese, lassen er¬
kennen, daß neben dem erwachenden opferwilligen
Mut und frischer Initiative noch die alte künstlerische
Tradition in München wirksam ist, die zu schönen
Hoffnungen auch für die Zukunft berechtigt. Und
dabei handelt es sich durchaus nicht um eine General¬
revue der Münchener Kunstschätze im Privatbesitz,
keine groß angelegte Ausstellung, wie sie etwa vor
fünf Jahren am selben Ort von der Sezession« ver¬
anstaltet wurde, bei der die Räume des Gebäudes
kaum ausreichten, nm die Schätze alle zu fassen, son¬
dern nur um einige wenige Münchener Sammlungen,
die hier beschränkt auf die Plastik des 15. und 16.
Jahrhunderts, ihre Kunstwerke für kurze Zeit vor
weiteren Kreisen ausbreiteten, darunter aber kaum
ein Stück von denen, die vor fünf Jahren zu sehen
waren. Das, was hier geboten war, konnte auch
das verwöhnte Auge eines regelmäßigen Besuchers
ähnlicher Ansstellungen in London oder Paris ent¬
zücken. Im folgenden kann natürlich nur eine Aus¬
lese der bedeutendsten Stücke gegeben werden, die
aber namentlich mit Rücksicht auf die reichen Schätze
der deutschen Holz- und Elfenbeinplastik sowie der
kunstgewerblichen Arbeiten bei weitem nicht alles
LIervorragende umfaßt.
AUSSTELLUNG PLASTISCHER BILDWERKE IN MÜNCHEN
147
/. Italienische Renaissancewerke.
Die Kunst der Arnostadt ist mit einigen besonders
wertvollen und interessanten Bronzen vertreten, voran
die Figur eines sitzenden, nackten Mannes der Samm¬
lung Clemens (Abb. 1) aus schwärzlicher, glänzend
ziselierter Bronze. Der Sockel ist ergänzt, so daß
die gegenständliche Bedeutung der Figur, sofern sie
überhaupt eine solche besitzt, unklar bleibt. Die Art
des Sitzens ruft sofort das bekannte Tonmodell eines
schlafenden Jünglings, des sogenannten Adams des
Verrocchio im Raiser-Friedrich- Museum in Berlin, in
Erinnerung, von dem sich die Bronze durch die auf¬
rechte Haltung des Oberkörpers und des träumerisch
das Weite suchenden Kopfes, sowie den stützend aus¬
gestreckten linken und den gebogenen, sich auflehnenden
rechten Arm unterscheidet. Die Haltung der Beine ist
dagegen in beiden Figuren annähernd dieselbe, und das
gilt auch für die künstlerische Auffassung und Durch¬
arbeitung des Körpers. Zunächst fällt die echt quattro-
centistische, etwas krampfhafte Aktion dieser ruhend
gedachten Glieder auf. Auch im Körper drückt sich der
Gegensatz des tätigen Stützens und ruhenden Fastens
nur unvollkommen aus, ist das ganze Augenmerk des
Künstlers mehr auf die elegante Durchbildung der
Form als auf die realistische Differenzierung der Kör¬
perteile gerichtet. Die Gruppierung der Extremitäten
vollzieht sich noch ganz auf quattrocentistische
Weise ohne das Kontrapostum des 16. Jahrhunderts.
Wie die Anordnung des Ganzen, so führen
auch eine Reihe von stilistischen Einzelheiten
von selbst zu einem Vergleich der Figur mit
den beglaubigten Originalwerken Verrocchios.
Die scharfe Markierung des Schienbeins ist
ebenso wie die klare Gliederung des anato¬
mischen Organismus besonders an den
Kniegelenken und den muskulösen Waden
eine Eigenart Verrocchios, wie sie etwa an
der Figur des Henkers in der Enthauptung
Johannis am Silberschrein des Museo na-
zionale in Florenz^) oder dem Tonmodell
der Berliner Grablegung Christi zu finden
ist. Mit letzterem Werke geht auch die
anatomisch getreue Durcharbeitung des
straffen, jugendlich schönen Körpers aus¬
gezeichnet zusammen, der so energisch in
den schmalen Hüften durch die Muskeln
zusammengezogen erscheint, und oben,
über den tiefsitzenden Brüsten aus den
mageren Fleischpartien das Knochengerüst
der Rippen und des Schlüsselbeines deut¬
lich hervortreten läßt. Dieser klare ana¬
tomische Aufbau, der der Figur einen
ausgezeichneten lebendigen Wechsel von
Licht und Schatten verleiht und die auf¬
fällige Betonung des Knochengerüstes
wäre des wissenschaftlich experimentieren-
1) Siehe Bode, Florentiner Bildhauer der
Renaissance, Taf. 446, u. Marcel Reymond, La
sculpture florentine, S. m. d. XV. S. 216.
ABR. 2. FRANCESCO DA
SANT’ AOATA. BRONZE¬
STATUETTE
Sammlung Pringsheim
den Meisters durchaus würdig. Der bäuerische Kopf
erinnert etwas an Antonio Pollajuolo, ebenso auch
die gezierte Haltung der Hand; übrigens finden sich
auf neuerdings von Bode mit Recht Verrocchio ge¬
gebenen Reliefs mit der Darstellung der Wirkung der
Eifersucht im South -Kensington- Museum \r London
ganz ähnliche sitzende Gestalten wie diese. Zur Vor¬
sicht gemahnen nur die auffällig plumpen Gelenke der
Füße, von denen der rechte überhaupt merkwürd.g
von der übrigen gewissenhaften Durchbildung des
Körpers absticht, der zu starke, unschöne Hals und
die klobigen Oberschenkel, deren rechter zu kurz ge¬
raten zu sein scheint. Über den Zweck der Figur
ist schwer etwas zu vermuten. Vielleicht gehörte sie
ehemals einem kunstgewerblichen Gegenstände an,
wogegen freilich die Ziselierung der Bronze spricht^).
Ein nicht minder wertvolles Stück (Abb. 2) ist
eine köstliche florentinische Kleinbronze (Sammlung
Pringsheim), eine Jünglingsfigur darstellend, die in
graziöser, traumhafter Bewegung die Arme über den
Kopf gelegt hat, um die wundervolle Silhouette des
jugendlich - schmächtigen Körpers mit einer praxi-
telischen Anmut und Weichheit ungeschmälert dem
Beschauer darzubieten. Die zierliche Pose, besonders
die Haltung der Arme ist wohl zweifellos einer an¬
tiken Hypnosfigur nachgebildet, aber der Künstler
hat doch mit feinsinnigem Takt einem gelinden Natu¬
ralismus in der Behandlung der präziösen Körper¬
formen gehuldigt, wie er für Francesco da Sant'
Agata charakteristisch ist, dem Schöpfer
jener reizvollen bezeichneten Buchsstatuette
eines Herkules in der Wallace-Collektion in
London, auf Grund deren Bode dem Meister
das allerdings erheblich geringere Duplikat
der Statuette im Berliner Museum zuge¬
schrieben hat"). Unsere Figur gibt einem
der schönsten Werke des Meisters, der wun¬
dervollen bronzenen Ringergruppe im Pariser
Privatbesitz, nichts nach.
Ein ganz entzückendes, leider vergoldetes
Bronzefigiirclien derselben Sammlung (Abb.
3) ist namentlich in der Haltung und den
Proportionen der Beine dem genannten
Meister verwandt. In seiner anmutigen Positur
gehört es wohl zum schönsten, was uns an
florentinischen Kleinbronzen aus dem 1 6.
Jahrhundert bekannt ist. Die Haltung, die
kleinen, spitzen Brüste, die überfeinen
Arm- und Fußgelenke, sowie der zierliche
Hals erinnern ganz an Francesco da Sant’
Agata. Aber trotz des fast raffinierten,
blendenden Linienreizes des vollen jugend¬
lichen Körpers, steht das Figürchen doch
1) An den Pfeilern des Sebaldusgrabes von
Vischer in Nürnberg sind verwandte Figuren
nackter sitzender Jünglingsgestalten angebracht.
2) Ein anderes Exemplar befindet sich in
der Sammlung Newal; siehe Bode, Italienische
Bronzen (Bd. 111 aus »Beschr. der Bildw. der
Christi. Epoche«), S. 22, Nr. 388. Taf. VIII.
21 '
AUSSTELLUNG PLASTISCHER BILDWERKE IN MÜNCHEN
ii8
ii' der lebendigen Durchbildung des nackten Körpers
den oben genannten Statuetten nacli L)
Auffallend schwach ist der bei Sant’ Agata trefflich
durchgebildete Ansatz des erhobenen Armes, ebenso
ist die Ziselierung der Gesichtszüge verhältnismäßig
derb, und etwas befremdend wirkt
das genrehafte Motiv, das der Bewe¬
gung zugrunde liegt. Das Eigürchen
ist jedenfalls eine freie Nachbildung
einer antiken Aphroditestatuette, deren
im Vorbilde wohl abgebrochene Ober¬
arme nun in dieser Weise hier er¬
gänzt wurden'-).
Neben diesen kleinen Bronzen
sind zwei schöne Terrakottamadonnen¬
reliefs zu nennen. Das eine, ein sehr
gut erhaltenes Werk, aus dem Besitze
des Prinzen Rnpprecht von Bayern,
ist wohl zweifellos von der Hand
Antonio Rossellinos und kommt in
mehreren Exemplaren vor.
Das andere aus dem Besitze Dr.
Berolzheimers (Abb. 5, S. 150) bereitet
einer engeren stilistischen Umschrei¬
bung Schwierigkeiten. Die Relieftech¬
nik erinnert zwar ganz an Desiderio da
Settignanos Art, aber die Körperformen
wie die Gewanddetails haben nichts
mit den uns bekannten Schöpfungen
des Meisters gemein, viel eher ähnelt
die Ealtengebung des über die stark
abfallenden Schultern niedergleitenden
Gewandes Bernardo Rossellinos Ju¬
gendwerken, wie etwa der Verkün¬
digung im Dom von Arrezzo und
auch der Typus des Christuskindes
würde nicht übel mit den Engels¬
köpfen am Grabmal des Lorenzo da
Ripafratta Zusammengehen. Doch er¬
scheint für ein Frühwerk Rossellinos
der Kopf der Madonna zn reif, abge¬
sehen von der Relieftechnik, und an¬
dererseits ist die unglückliche Über¬
schneidung des rechten erhobenen
Armes des Christkindes weder Desi-
derios noch Rossellinos würdig. Mög¬
licherweise haben wir hier die Arbeit
einer Lokalschule vor uns, in der sich
die ältere und jüngere Richtung kreuzt.
Ein weiteres Relief aus Marmor
(Abb. 6, S. 150), ein Frauenporträt dar¬
stellend, gehört der Sammlung Prings-
heim an. Der Reliefstil entspricht dem
florentinischen Quattrocento. Manches, wie die harte.
ABI!. 3. BRONZESTATUETTE
FLORENTINISCH UM 1550
Sammlung l’riiigsheim
eckige Silhouette des Kopfes, so, wie die archaisierende
Haarbehandhmg über dem Nacken könnte an Mino er¬
innern. Doch hat das Relief schon mit Rücksicht auf
die Weichheit und Glätte der Gesichtszüge nichts mit
seiner Kunst zu tun. Vieles spricht dagegen für
Matteo Civitali, dessen Art mir das
Relief am nächsten zu stehen scheint.
Die derbe Form des oberen Augen¬
lides unter anderem findet sich an
dem Reliefporträt der SammlungBecke-
rath, während die weiche, malerische
Gewandbehandlung sowie der cha¬
rakteristische Ausdruck des Gesichtes
mit dem seltsamen, arroganten Zug
an Matteos Werke erinnert, wie etwa
die Relieffigur des Glaubens im Mu¬
seo nazionalc in Florenz, die auch
in der Silhouette vielfache Analogien
zu unserem Porträt aufzuweisen scheint.
Das gilt übrigens auch für die charak¬
teristische, gerade in die Nase verlau¬
fende, schräg zurückspringende Stirne^).
Etwas seltsam ist die Frisur, die auf
venezianische Herkunft des Werkes zu
weisen scheint.
Nicht florentinischen, sondern wohl
padiianischen Ursprungs ist ein kleines
wunderhübsches Bronzerelief,Madonna
mit Kind (Abb. 7, S. 1 50) aus der Samm¬
lung Pourtales, das in vielem an Bartolo-
meo Bellanos Werke erinnert. Das Aka¬
demisch-Weiche, das in Widerspruch
mit der energisch gedachten Bewegung
wie der Härte der Gewandung tritt,
entspricht ganz dieses Künstlers Art*),
jedenfalls gibt sich der Schöpfer des
Reliefs als ein Schüler Donatellos
unzweideutig zu erkennen. In der
Silhouettierung der Gestalt wie all¬
gemein der Stilisierung der Gewan¬
dung wird man natürlich zuerst an
Donatellos dramatisch aufgefaßtes
Bronzerelief mit der Beweinung Christi
imSouth-Kensington-Museum erinnert.
Der Mangel jener stofflichen, faserig
weichlichen Behandlung des Gewandes
schließt jedenfalls aus, daß es sich
hier um ein Originalwerk des großen
Altmeisters florentinischer Plastik han¬
delt. Außerordentlich interessant ist
die Bewegung der Figur, in der die
1) Am meisten wird man an die Statuette einer »Schutz¬
flehenden« erinnert (Bode, Italienische Bronzen, S. 18,
Nr. 386, Taf. VlI), die Bode als dem Francesco da Sant’
Agata verwandt bezeichnet, doch gilt hier ähnliches wie
für das männliche Eigürchen bezgl. der naturalistischen
Modellierung des Körpers.
2) Siehe G. Hirth, »Der schöne Mensch«, Taf. 183.
der Madonna Michelangelos in der
Mediceerkapelle vorgebildet erscheint.
Eine der größten Sehenswürdigkeiten der Aus¬
stellung sind die beiden berühmten Bronzestatuetten
in Zweidrittellebensgröße aus derselben Sammlung,
von denen die eine »Meleager« in eleganter Pose
auf den Speer gestützt darstellt, und schon früher von
Bode glänzend publiziert wurde*^). ln der anderen
1) Verw. Werke im Louvre. Bode, a. a. O. Taf. 97 u. 178.
2) Jahrbuch der preuß. Kunsts. , Bd. IV. S. 142 ff.
AUSSTELLUNG PLASTISCHER BILDWERKE IN MÜNCHEN
i4y
wurden die hier behandelten plastischen Werke der Samm¬
lung Pourtales bereits besprochen.
i) Vergl. Schönfeld, Andrea Sansovino und seine Schule.
Stuttgart j88i, Fig. 26, und Bode, Jahrb. d. pr. Kunst. Bd. 4.
S. 140.
stalten Sansovinos fehlt der weiche, trcäunierische Aus¬
druck, sie lieben mehr eine momentane Aktion, gebärden
sich geräuschvoller. Dazu erscheinen die Proportionen
untersetzter, die Fleischpartien weicher, weniger mus¬
kulös. Auch fällt bei Sansovino das -ängstliche Be¬
streben, eine geschlossene
Silhouette zu erzielen, auf,
wogegen der Schöpfer dieser
Gestalten sie aufzulösen
trachtet. An dem hohen
künstlerischen Wert dieser
herrlichen Figuren würde
aber dadurch nicht das min¬
deste geändert werden. Man¬
ches erinnert an Alfonso
Lombardos Gestalten, wie
etwa den auferstehenden
Christus in Bologna’).
Ein hervorragend schönes
Stück besitzt dieselbe Samm¬
lung in einem lebensgroßen
Bronzekopf mit schwärz¬
licher Patina (Abb. g), der
im Hinblick auf die charak¬
teristische Verwertung an¬
tiker Formen, wiestilistischer
Einzelheiten ein Werk des
Tommaso Lombardi sein
dürfte“’). Der schöne Kraus¬
kopf, in den Detailpartien
ein wenig akademisch kühl
behandelt, ist nach Art rö¬
mischer Büsten leicht vor¬
geneigt und läßt auch in
den edel drapierten Gewand¬
teilen, die sich um den
Schulteransatz legen, den
Stil dieses Künstlers erken¬
nen. Durch die Schönheit
und Einfachheit der Auffas¬
sung, den schmerzlich träu¬
merischen Ernst ist die Büste
eine der vortrefflichsten
Schöpfungen Tommasos.
1) Schönfelda. a.O. Fig. 30.
2) Am nächsten liegt ein
Vergleich mit Tommasos
Madonnengruppe in San Se-
bastiano in Venedig, in der
neben dem charakteristischen
Sentiment sich auch genau
dieselbe hier auffallende Flaar-
behandlung an dem Johan¬
neskinde findet. Die edlen Proportionen des Kopfes mit
der breit ausladenden Stirne und den spitz zulaufenden
Kinnpartien gestalten nicht an Tullio Lombardi zu denken.
Mein Bericht in der Frankfurter Zeitung ist dahin zu korri¬
gieren. — Um eine Kopie nach der Antike handelt es sich
hier jedenfalls nicht, doch wird ein Kopf des Lucius Verus
(Bernoulli Taf. LVII) aus d. Ende des 2. Jahrb. n. Chr. als
Vorbild verwertet worden sind. Siehe auch Bode, a. a. O.,
S. 140.
erscheint Neptun (Abb. 4) als eine außerordentlich
schöne, kräftige, nicht zu schlanke Gestalt, über deren
straff um die Muskeln gezogene Haut gar prächtig
das Licht in der Bronze spielt. In freiem pathetischem
Schwünge entfalten sich die schlanken, leicht kontra¬
postierten Glieder und unter
Vermeidung jeglichen Kraft¬
aufwandes ist diesem schö¬
nen Akte eine träumerisch
sentimentale, echt veneziani¬
sche Note gegeben, die auch
in dem Ausdruck des welt¬
schmerzlich geneigten Ko¬
pfes reflektiert. In dem
Sentiment, wie auch der
feinen, der Bronze vorzüg¬
lich angepaßten Modellie¬
rung des Körpers wird
man an Lysippische Figuren
erinnert. Der Gott des
Meeres scheint in seiner
etwas theatralischen, und
doch so eleganten Attitüde
den Wellen entstiegen und
mit göttlicher Sicherheit
traumverloren über die un¬
endliche Weite seines Rei¬
ches rauschend einherzu¬
ziehen. In der Art, wie das
reiche, kurze Löwenfell ko¬
kett um die Schultern gebun¬
den ist, macht sich aller¬
dings schon ein etwas klein¬
lich tüftelnder Atelierge¬
schmack geltend, und der
zierliche, überlangeDreizack,
sofern er überhaupt zuge¬
hörig ist, verliert nicht nur
durch die Form, sondern
auch durch diewenig zweck¬
entsprechende Haltung seine
kriegerische Bedeutung, die
ohnedies schwer zu der Ge¬
samtwirkung der Figur pas¬
sen würde.
Die Gestalten wurden
früher von Bode dem Jacopo
Sansovino zugeschrieben
und sicherlich hat besonders
ihre Geste außerordentlich
viel Verwandtes mit den
freilich stärker kontrapo¬
stierten Figuren Jacopos an
der Loggetta. Namentlich der »Merkur- weist manche
Analogien zum »Meleager«, besonders in der Haltung
des herabhängenden Armes auf’). Aber diesen Ge-
AUB. 4. VENEZIANISCHE BRONZESTATUE
JACOPO SANSOVINO NAHESTEHEND
Sammlung Pourtales
Abb. f). Marmorrelicfporträt. Florenliniscli uni 14QO. Saniniliuig; I’ringslieiin
Abb. 7. Madonnenrelief von Bellano (?). Sainnilung Pourtales
ABR. 8. BRONZnBÜSTF. OFS ArFSSANDRO VITTORIA
Saimnliing Poiirlale";
ABB. i).
TOMMASO lOMBARDI (?)
Saniniliing
BRON/'F.KOPI'
Roiirtali's
ABB. 10. ANDRFA RICCIO. ANBETÜNO DER KÖNIOE. Saniniliing PonitaKs
AUSSTELLUNG PLASTISCHER BILDWERKE IN MÜNCHEN
153
ABB. 1!. BÜSTE DER CATARINA CORNARO
Sammlung Pourtales
Eine monumental gewaltige, lebensgroße Büste
(Abb. 8) gehört ebenfalls der Sammlung Pourtales an,
und läßt neben dem Stile auch das charakteristische
Sentiment Alessandro Vittorias erkennen, wie es etwa
die Marmorbüste Pietro Zenos im erzbischöflichen
Seminar in Venedig und ähnliche Werke des Meisters
auszeichnet'). In all diesen venezianischen Skulpturen
des ausgehenden 15. bezw. 16. Jahrhunderts fällt
derselbe feine Sinn für edle Formen auf, der mit
verhängnisvollem historischem Verständnis für das
antike Schönheitsideal in den Werken jenen welt¬
schmerzlich träumerischen Zug zum Ausdruck bringt,
analog den Gemälden, wie etwa denen Lorenzo Lottos,
und hier, wie ehemals in der spätrömischen Kaiserzeit
als Mene Tekel das Dahinscheiden frischer, sich stets
verjüngender künstlerischer Kraft verkündet.
Ein verwandter Geist spricht auch aus einem sehr
hübschen, die Anbetung der Könige darstellenden
Bronzerelief (Abb. 10) aus der Sammlung Pourtales
mit allen Stileigentümlichkeiten Riccios, der den geistig
vertieften sprudelnden Naturalismus Donatellos in ein
ruhigeres aber auch seichteres akademisches Fahrwasser
leitet, ln der Gewandform fällt eine antikisierende
Manier auf; alles wird weich, butterig, besonders die
Köpfe, in denen die »schönen Jünglinge den Vorzug
haben. Die herben Linien verschwinden. Der Natura-
1) Die Büste ist wohl in Anlehnung an Porträts des
Kaisers Decius geschaffen, nur das Haar scheint moderni¬
siert (Bernoulli, Taf. XLVI).
Zeifsclirift für bildende Kunst. N. F XVIII. H. 6
lismus Donatellos konnte auf diesem Boden keine
Regeneration von innen heraus, wie in Florenz, er¬
fahren und dies trotz Mantegna, dessen Kunst die
Bellinis im gewissen Sinne etwas ähnliches antun,
wie Riccio der Donatellos. Die mantegneske Terrain¬
bildung im Hintergrund des Reliefs steht nur in
lockerem Zusammenhang mit dem figürlichen Teil,
dieser aber zeigt doch mit bemerkenswerter Klarheit
die Hauptpersonen durch die Gruppenbildung heraus¬
gearbeitet. Der repräsentative Charakter des Reliefs,
wie die kokette Zierlichkeit der Figuren macht es
begreiflich, daß derartige Stücke dem Empire zur Zeit
des Napoleonischen Regimes so begehrenswert er¬
schienen.
Besonderes Interesse für München hat auch die
hier zum erstenmal ausgestellte, dem Berliner Museum
wohlbekannte Büste der Catarina Cornaro (Sammlung
Pourtales) (Abb. ii), die aus Asolo stammt und am
Sockel die Jahreszahl MDV trägt. Die unglückliche
Königin von Cypern zeigt hier nahezu genau die¬
selben Gesichtszüge, die uns in dem Berliner Barbari¬
bildnisse überliefert sind, wo die Königin, von Jo¬
hannes empfohlen, zu Füßen der Madonna kniet: Das
dicke, schwammige, energielose Gesicht von spär¬
lichem, glattgescheiteltem Haare umrahmt, und den
üppigen, durch ein viereckig ausgeschnittenes Mieder
gehaltenen Busen. Die etwas klobigen, leblosen Kör¬
performen, die leeren, den Marmor wenig berück¬
sichtigenden Flächen des Gesichtes mit den zierlich
gedrehten Löckchen, die kleinen Augen mit dem
154
AUSSTELLUNG PLASTISCHER BILDWERKE IN MÜNCHEN
ABB. 12. AGOSTINO BUSH (?). MADONNENRELIEF
Sammlung Pringsheim
grob eingeschlagenen oberen Augenlide, sowie die
Art der Ärmelfalten erinnert an Christoforo Solaris
Grabmal des Ludovico Moro, vor allem aber an die
wohl eng damit zusammenhängenden Reliefporträts
am Portal der alten Sakristei in der Certosa von
Pavia. Nur ist der Ausdruck hier etwas weicher . . .
venezianischer!
Schwerer fällt die Entscheidung bei einem zierlichen,
sehr reizvollen Madonnentabernakel (Sammlung Prings¬
heim), (Abb. 12), das ich mit Rücksicht auf die kleinen
Verkündigungsfiguren in den Bogenzwickeln wie
einige Stileigentümlichkeiten der Madonna, dem Anto-
nello da Gagini zuzuschreiben geneigt war. Die Me¬
daillons der Nischenlaibung weisen aber doch auf
einen oberitalienischen Künstler hin und wird man
daher, namentlich im Hinblick auf die weiche Be¬
handlung der Fleischteile des Kindes wie des um die
Brust der Mutter sich legenden Gewandteiles sowie
besonders die Verwandtschaft der Ärmelfalten mit ana¬
logen Partien der Altarreliefs mit der Darstellung von
Marias Tempelgang im Dom zu Mailand, an Agos-
tino Basti zu denken haben, mit dessen Kunst auch
der reife, hübsche Aufbau der Gruppe und ihre
lineare Geschlossenheit gut zusammengeht.
Aus der reichen Zahl der übrigen schönen Bronzen
wären hier noch zn erwähnen eine prächtige, sich in
den Spiegel sehende Mohrin von Giovanni da Bo¬
logna (Sammlung Drey) und eine interessante kleine
paduanische Bronze (Sammlung Clemens) aus dem
Ende des i 5. Jahrhunderts, im Bewegungsschema dem
Apoll von Belvedere verwandt, einige gute Repliken
der Medaillen Matteo de Pastis, sowie ein Bronzeguß
der 1494 datierten Medaille der Anna von Bretagne,
im Stile Laurana verwandt; ferner zwei wundervolle
Türklopfer (Sammlung Pourtales), einer paduanischen
Ursprungs aus dem 1 5., der andere venezianische
Arbeit des 1 6. Jahrhunderts, zwei in der Ornamentik
etwas überladene, aber in den figürlichen Teilen vor¬
züglich modellierte, große venezianische Kaminkande¬
laber und last not least, die wundervolle Bronzekopie
des kapitolinischen Dornausziehers aus der Renaissance¬
zeit in Originalgröße (Sammlung Pourtales) (Abb. 13).
Die Bronze zeigt eine braunschwärzliche Patina und
ist möglicherweise in der ersten Hälfte des 16. Jahr¬
hunderts entstanden. Die herben, jugendlichen For¬
men sind mit einer seltenen historischen Treue wieder¬
gegeben. Die genaue Übereinstimmung der beiden
Werke läßt einen Nachguß nach dem antiken Original
nicht unmöglich erscheinen i).
1) Das Bildnis eines Mannes in der Gallerie Corsini
in Rom zeigt, auf einem Tisch stehend, ebenfalls eine
Kopie des Dornausziehers.
ABB. 13. BRONZESTATUETTE DES DORNAUSZIEHERS
ERSTE HÄLFTE DES 16. JAHRHUNDERTS
Saninilung; Pourlales
AUSSTELLUNG PLASTISCHER BILDWERKE IN MÜNCHEN
ABB. 14. PIETA. NÜRNBERGER MEISTER UM 1430
Sammlung Böhler
II.
Die deutsche Renaissanceplastik.
Es ist ein glücklicher Zufall gewesen, daß in diese
Ausstellung von Werken der Renaissanceplastik die
Schöpfung eines Meisters gelangte, der, an der klassi¬
schen Stätte deutscher Renaissance tätig, das an¬
brechende neue künstlerische Zeitalter einleitete. Es
ist eine etwa 30 cm hohe Kalksteinpietä aus dem Be¬
sitze des Kunsthändlers Böhler (Abb. 14), die in
technischer wie künstlerischer Hinsicht das allergrößte
Interesse verdient und in fachwissenschaftlichen Kreisen
wohl kein geringes Aufsehen erregen wird. Die Kom¬
position hängt augenscheinlich aufs engste zusammen
mit einer Unmenge gleichartiger Gruppen in Bayern,
Franken und Böhmen, von denen sich Exemplare so¬
wohl im Münchener Nationalmuseum als auch in der
Berliner Galerie befinden. Nun bestand schon mit
Rücksicht auf diese Tatsache die Wahrscheinlichkeit,
daß es sich bei jenen unter sich mehr oder minder
zusammen hängenden Gruppen um ein altberühmtes
Gnadenbild handelte, auf das sie alle zurückgehen,
sonst würde sich wohl die enge Verwandtschaft der
zeitlich wie örtlich auseinanderliegenden Gruppen nicht
erklären lassen. Mein erster Eindruck, den ich von
der Pieta empfing, war nun der, daß es sich hier um
ein Bildwerk von der Hand des Meisters der berühmten
Tonapostel im Germanischen Museum in Nürnberg
handelt. Doch gewinnt man bei näherem Vergleich
der Gruppe mit den Werken dieses bedeutsamen Nürn¬
berger Plastikers den Eindruck, als ob die Münchener
Pieta doch etwas jünger und reifer sei. Dabei ist
nicht zu übersehen, daß in der damaligen Zeit die
Stilformen noch stark kosmopolitischen Tendenzen
huldigten und lokale Differenzierungen nur langsam
sich einschlichen. Deshalb stößt eine sichere Pla¬
cierung unserer Gruppe auf Schwierigkeiten. Für den
Meister der Tonapostel ist, abgesehen von der ja
auch sonst nachweisbaren interessanten Übertragung
der Holztechnik in die Steinplastik, das gewaltsame
Streben charakteristisch, in das kleinliche Gefältel der
noch mittelalterlichen Gewandung ordnend einzu¬
greifen und es in den Dienst der Bewegung des Kör¬
pers und seiner Formen zu stellen, wobei er nicht
selten in pathetischer Weise, wie etwa bei dem heiligen
Bartolomäus, den Mantel in mächtigem Schwünge um
die Glieder wirft und als Kleinplastiker Michelangeleske
Anwandlungen erhält. Die Gewandbehandlung des
hl. Bartolomäus'-) ist der unserer Madonna in den
]) Siehe Riehl, »Die Münchener Plastik in der Wende
vom Mittelalter zur Renaissance« in d. Abh. d. K. hayr.
Akad. d. Wiss. III. Kl.. XXXIII. Bd. 11. Abt. 1Q04.
Taf. V. Diese Bilder scheinen das Vorbild im Sinne der
Zeit zu korrigieren; ferner Katalog des Bayr. Nat.-Mus.
Bd. VI. i8q6. Taf. IX. Nr. 337, 553 und Taf. VIII, Nr. 340
und 338.
2) Pückler - Limburg »Die Nürnberger Bildniskunst«.
Straßburg 1904, Taf. IV.
22
156
AUSSTELLUNG PLASTISCHER BILDWERKE IN MÜNCHEN
Partien des linken Armes und den am Boden auf¬
fallenden Teilen sehr verwandt. Eerner ist an beiden
Werken die feine Nachzeichnung der Haare, die an
die Handhabung des Ziselierstiftes erinnert, zu ge¬
wahren, so daß man die Pieta doch wohl in die Nähe
des Nürnberger Meisters wird rücken müssen. Nun
findet sich, daß keines der uns bekannten Gnadenbilder
nur annähernd in der künstlerischen Auffassung und
Durchbildung der Details sich mit unserem Bilde
messen könnte, ja man gewinnt bei einem eingehen¬
deren Vergleich durchaus den Eindruck, daß unsere
Pieta dem berühmten Gnadenbild, auf das all die
übrigen Darstellungen zurückgehen, zum mindesten
am nächsten kommt. Eine indirekte Bestätigung dieser
meiner Vermutung fand ich nun in dem Buche des
jüngsten Biographen der Nürnberger Plastiker. Pückler-
Limburg ') schreibt, er vermute, daß die obengenannten
Pietägruppen in Bayern, Franken und Böhmen auf
ein verloren gegangenes Originalwerk des Meisters
der Tonapostel zurückgehen. Mit Rücksicht auf eine
Reihe bei allen Werken auffallender Eigentümlichkeiten
der Gewanddrapierung ist hier wohl kaum die Frage
zu stellen, ob nicht derartige Kompositionen von
selbst, als durch die traditionelle Darstellungsform
bedingt, sich ergeben. Augenscheinlich handelt es sich
in unserer Pieta um einen jüngeren Künstler als den
Meister der Tonapostel oder den Schöpfer des Deocarus-
altars, der ihm an Können nicht das Wasser reichP).
Das neben dieser Gruppe wichtigste und inter¬
essanteste Stück der Ausstellung, noch dem 15. Jahr¬
hundert angehörend, ist das berühmte Ulrichskreiiz
(Abb. 1 5), das Augsburg bei vorliegendem Anlaß dem
Verein als Leihgabe zur Verfügung gestellt hat, da
es sonst nicht leicht zu sehen ist. Das Werk ist so
wundervoll erhalten, daß man glauben könnte, es
hätte soeben die Werkstätte des Nicolaus Seid ver¬
lassen, der, wie wir wissen, im Jahre 1494 im Auf¬
träge des kunstliebenden Abtes Johann von Giltingen
aus Hirschau damit betraut wurde, diesen kostbaren
Sarg für die berühmte Kreuzesreliquie anzufertigen,
die der Sage nach im Jahre 955 dem die Stadt Augs¬
burg gegen die Hunnen verteidigenden Bischof Ulrich
durch einen siegverheißenden Sendboten des Himmels
am Tage der Entscheidungsschlacht überreicht wurde ^).
Die Vorderseite ziert auf einer goldenen vielgestaltigen
gotischen Blattornamentik von entzückender Feinheit
und mit staunenswertem Fleiße gedreht, ein Strahlen¬
kranz von Tafeldiamanten, der, umgeben von orien¬
talischen Perlen, durch Saphire mit der analogen
Dekoration der Kreuzesvierpässe verbunden erscheint.
Auf der platten Rückseite ist unter feinsinniger Ver¬
wendung der Kreuzesform auf dem durch geschwärzte
Querstriche getönten Grunde die das Wunder er-
1) A. a. O. S. 72.
2) Thode hat in seiner grundlegenden Arbeit über
die Nürnberger Malerschule den Meister Berthold als den
Schöpfer der Tonapostel bezeichnet. Siehe dagegen Bode,
Deutsche Plastik, S. 93. Pückler-Limburg a. a. O. S. 74.
3) Siehe M. Friesenegger, »Die Ulrichskreuze«, 1895,
und Mitteilungen der bayrischen Numismatischen Gesell¬
schaft. XV. 7 1896. S. 115.
zählende figürliche Szene dargestellt, wobei die Zeich¬
nung sich auf die Wiedergabe der Silhouette der
Gestalten beschränkt: in der Mitte ist der Bischof zu
Pferd sichtbar, über ihm der Engel mit dem Kreuze,
dessen göttlicher Gebieter in dem Dreipaß darüber
von Wolken getragen, in sonnigem Glanze erscheint,
während vor und hinter dem Bischof in den seit¬
lichen Dreipaßflächen das leidenschaftliche Gewoge
des Kampfes tobt und unten das von Engeln ge¬
haltene bischöfliche Wappen erscheint. Die miniatur¬
artige Feinheit der Gravierung, die einfach geschickte
und außerordentlich lebendige Komposition ist ein
würdiges Gegenstück zu der kostbaren Vorderseite.
Das Kreuz ist in kunstgewerblicher Hinsicht ein
Unikum, das für die spätere Form der Ulrichskreuze,
die man als Reliquie oder Amulette von der Wall¬
fahrtsstätte mit sich nahm, vorbildlich gewesen ist.
Eine Perle deutscher Renaissanceschnitzkunst ist
das Holzrelief einer Madonna mit Kiad von Veit Stoß
(Sammlung Böhler, Abb. 16). ln koketter Anmut präsen¬
tiert sich die Madonna in reich gebauschter Gewandung
unter einem von leidenschaftlich bewegten Engeln ge¬
tragenen Stoffbaldachin. Von dem in humorvollem
Realismus leicht geneigten bäuerlichen Kopfe fallen
über die Schultern in reichen Wellen die langen Haare
herab, an denen nun der Meister mit unermüdlichem
Fleiße die hervorragende Geschicklichkeit seiner Hand
zu zeigen versteht, das Ganze ein würdiges Gegenstück
im Kleinen zu dem großen bezeichneten Altar Veits
in der Obernpfarrkirche zu Bamberg, von dem es
stilistisch gar nicht zu trennen ist. Der Schelm, das
fröhliche, lustige Leben, der weltfreudige, burschikose
Sinn guckt hinter jeder Falte hervor und die tausenderlei
Lichtreflexe der glänzend braunen Patina des Holzes
lassen nirgends eine ruhige Linie, eine glatte Fläche
aufkommen. Der Mephistopheles in der Pose reli¬
giöser Andacht ist ein köstliches Schauspiel, man lacht
aus vollem Herzen mit und muß doch respektvollst
den Hut vor diesem Können ziehen, zugleich mit der
Anerkennung, daß in dieser rücksichtslosen Über¬
tragung persönlichen Lebens eine ganze Künstlerseele
steckt!
Vom Scherz zum Ernst führt uns die knieende
Holzfigur eines Christus aus der Sammlung Clemens,
eine Gestalt von ergreifendem, schlichtem Ernste und
Tiefe der Empfindung, wie sie nur einem bedeutenden
Künstler zu eigen sein kann (Abb. 17). Die etwa
20 cm hohe Figur stammt aus der Ulmer Gegend
und liegt deshalb der Gedanke nahe, an den Meister
des Ulmer Chorgestühls zu denken, an den sowohl
die tief ausgearbeiteten Gewandfalten, sowie auch
manche Teile des Gesichtes, die vorstehenden Backen¬
knochen, und die fein gedrechselten Haare erinnern,
doch finden sich die Eigentümlichkeiten Syrlins nicht
mit der Schärfe ausgesprochen, die eine sichere Zu¬
schreibung ermöglichten. Manches erinnert an die
Nürnbergische oder besser die Dürersche Kunstweise.
Die Silhouette der Figur und ihre Haltung gemahnt
an die Stifterfigur des Jacob Heller und verwandte
Gestalten der Holzschnitte. Leider fehlen die Hände
und Füße, die uns genauere Anhaltspunkte für eine
158
AUSSTELLUNG PLASTISCHER BILDWERKE IN MÜNCHEN
eingehende Stilanalyse dieser eindrucksvollen Figur
zu geben vermöchten.
Ein majestätischer Ernst und architektonischer
■-e'.' ’nauf bau zeichnet eine wundervolle Holzgruppe
{Se^'.uülung Heß, Abb. 18) aus, die von der Chiem-
s -egegend stammt und vielleicht noch dem 15. Jahr¬
hundert angehört. Wuchtig, fast pathetisch ist die
Gewandung um die energisch-kontrapostierten Beine
der Maria gelegt, die den schmächtigen, im Stile noch
gotisierenden Körper Christi tragen, dessen schmerzens¬
reiches Antlitz, so liebevoll
durchgearbeitet, nicht wie
bei Michelangelos Pieta in
St. Peter an der Schulter der
Mutter hintüberhängt, um
sich dem Beschauer zu ver¬
bergen, sondern fast ganz en
face sich darbietet. Es ist für
die Gruppe kein geringes
Lob, daß man unwillkürlich
mit ihrem berühmteren
Schwesterbilde Vergleiche
zieht. Bei Michelangelo ruht
der Leichnam wie ein Kind,
weich gebettet in der Mutter
Schoß; hier liegt über ihm
die Starre des Todes. Aber
nun hat die Mutter den linken,
bei Michelangelo wenig glück¬
lich placierten Arm , in
schmerzlicher Gebärde erfaßt,
um ihn liebend zum Munde
zu führen, ein menschlich
sicher ergreifenderes Motiv
als die ergebungsvolle Geste
der linken von Michelangelos
Maria. Die Linien des an
sich viel monumentaler grup¬
pierten unteren Gewandes der
deutschen Madonna folgen
hier der Richtung des herab¬
hängenden Armes, bei Michel¬
angelo dagegen denen des
ruhenden Körpers. Das un¬
vermittelte Auflaufen der stark
schattierten Gewandlinien auf
die Horizontale des Körpers
ging Michelangelo wider den
Strich und er hat das deshalb
auch ängstlich in seiner Pieta vermieden. Die Gruppe
des nordischen Holzschnitzers bleibt aber doch ein
stolzes Werk voll von Schönheit und Kraft und läßt
ein seltenes Gleichmaß von feinausgeprägtem Stil¬
gefühl und tiefgehendem Ernst der Empfindung er¬
kennen.
Überhaupt nötigen uns die wenigen, aber vorzüg¬
lichen Werke bayerischer Plastik aus dem 15. und
16. Jahrhundert einen unbedingten Respekt vor ihrem
Können auf. Da ist gleich eine aus Inzing bei Ebers¬
berg stammende, nahezu lebensgroße Holzfigar des
heiligen Georg {khh. 19) (Sammlung des Prinzen Rupp-
recht), aus der der kecke, frische, jugendliche Quattro¬
centogeist spricht. Was die Figur künstlerisch be¬
deutet, lehrt ein Vergleich mit dem Grabstein des
Johann Stauf zu Ehrenfels (f 1478) in der Pfarrkirche
zu Beratzhausen. Dazu ist die Gestalt aufs innigste
verwandt mit der einen Ritterfigur auf der Grabplatte
Kaiser Ludwigs des Bayern in der Frauenkirche, und
zwar nicht nur in der Haltung und den Proportionen,
sondern auch in stilistischen Einzelheiten wie den
Gewandfalten der Ärmelpartien. Da dieser Grabstein
dem Erasmus Grasser, dem
berühmten Bildschnitzer der
Maruscatänzer im Rathaus, zu¬
geschrieben war, komme ich
hier zu einem ähnlichen Re¬
sultat wie Habich, der die
Figur allgemeinhin alsGrasser
sehr nahestehend jüngst be-
zeichnete. Jedenfalls handelt
es sich hier um ein ganz
bedeutendes Werk bayrischer
Quattrocentoplastik !
Ein rechtes Kind der Re¬
naissance ist die stolze Figur
eines heiligen Georg (Samm¬
lung Heß) (Abb. 20), der nun
mit der ganzen Schwere
seines wuchigen Körpers auf
dem sich windenden Drachen
stellt^). Die Darstellung des
Stützens und Fastens, die
Schwere der Glieder sind
Prinzipien, die mit der Ar¬
chitektur nun als tonangebend
auch in die Plastik eingezo¬
gen sind. Prächtig rundet
sich der volle Körper und
die mächtigen Beine tragen
eine fast zu zierliche Brust,
auf der ein kleiner, anmutig
geneigter Kopf sitzt, der ein
wenig weltschmerzlich -sin¬
nend in die Ferne blickt.
Der Wind scheint brau¬
send in die Gewandung zu
fahren, die sich am rechten
Schenkel so leidenschaftlich
kräuselt und die weiten
Ärmel lebendig bauscht.
Das Barock wurde von der sterbenden Gotik der
jugendlichen Renaissance in Deutschland mit in die
Wiege gelegt. Davon weiß auch der stilistisch eng
mit unserer Figur zusammenhängende heilige Georg
in der Preysingkapelle der Frauenkirche in München
beredsam zu erzählen (Abb. 22). Die Silhouette der
Figur entfaltet sich in freiem, pathetischem Schwünge
1) Die von derselben Sammlung ausgestellte Figur
des hl. Petrus bildet das Pendant zum Georg und rührt
von derselben Hand her. Beide mit schwarzem Bronzelack
überzogene Gestalten stammen aus Schäftlarn.
ABR. 17. JÖRG SYRLIN D. Ä. (?). KNIENDER CHRISTUS
Holzfigur aus der Sammlung Böhler
ABB. 18. PIETA. BAYRISCH (?) UM 1500
Sammlung HeB
i6o
AUSSTELLUNG PLASTISCHER BILDWERKE IN MÜNCHEN
AB[?. 10. ERASMUS GRASSER (?). HL. GEORG.
Sammlung des Prinzen Rupprecht
Schwünge und der leidenschaftliche, gewaltsame
Sinn, der sich in den erregten Falten der Gewan¬
dung bemerkbar macht, weiß sich nun auch im
Körper selbst durch ein flüssig durchgeführtes Kontra¬
postum und eine dramatisch-theatralische Pose aus¬
zudrücken. Es kommt Berninischer Geist in diese
Figuren, die wie eine Ahnung seiner Kunst anmuten.
Man beachte, wie bei beiden Figuren das vom Winde
bewegte Haar nach vorne dem Gesichte zu treibt.
Wer der Künstler gewesen ist, wissen wir nicht.
Jedenfalls aber ein in Bayern vielbeschäftigter Meister,
der als Bildhauer den bekannten Künstlern deutscher
Renaissancekunst wie Cranach und anderen minde¬
stens ebenbürtig ist und dessen Namen zu eruieren
eine dringend notwendige Aufgabe der Kunstwissen¬
schaft ist, die über die Lokalgeschichte hinaus großes
Interesse verdient^). Auffallend ist die Verwandtschaft
mit dem von Habich Hans Leinberger zugeschriebenen
Christophorus in Trausnitz”).
Ein bescheidener, liebenswürdiger Meister stellt
sich uns in dem ganz entzückenden kleinen Holzrelief
der heiligen Dorothea (Abb. 20) aus der Sammlung
Clemens vor, von dessen Hand das Nationalmuseum
1) Von demselben Meister stammen — worauf mich
Dr. Halm aufmerksam machte — noch zwei weitere Heiligen¬
gestalten in derselben Kapelle und eine Madonna in Unter¬
eberfing (Bez. Weichen).
2) Münchener Jahrbuch der bildenden Kunst, Bd. I.
S. 124, Abb. 7.
noch zwei weitere Figuren besitzt^). Höchst niedlich
ist die Legende in einer feinempfundenen Genreszene
dargestellt: Das Christkind bringt die von den Henkern
geforderten Rosen, die die kleine Jungfrau mit dank¬
bar verschämter Gebärde in Empfang nimmt. Das
in feinen Strähnen sich um das vollwangige Gesicht
legende Haar, die tief ausgearbeiteten Wulste der Ge¬
wandung, die die Körperformen leicht modellieren,
wie allgemein das sehr flache Relief, sind die stili¬
stischen Merkmale, die das kleine Werk mit den beiden
Figuren des Nationalmuseums verbinden.
Eine kleine stehende Holzmadonna (Abb. 23,
Sammlung Böhler), gleichfalls aus dem 15. Jahr¬
hundert, erinnert in ihrer koketten Zierlichkeit an
kölnische Künstler, wie etwa den Meister des Bar¬
tholomäus-Altars, besonders im Hinblick auf die etwas
prätentiöse Art, wie die niedliche Jungfrau mit dem
verschmitzten Gesichtchen dem wenig feierlich sich
gebärdenden Christkind die Weintraube hinhält.
Die Haute-volee deutscher Künstler des 16. Jahr¬
hunderts ist noch in einigen weiteren Figuren ver¬
treten, so Peter Vischer in einem kleinen bronzenen
Brunnenfigürchen (Abb. 24) (Sammlung Clemens), das
nicht nur im Stile, sondern auch der rauhen Ober¬
fläche des silbergrauen Erzes ganz zu den Schöpfungen
des Meisters des Sebaldusgrabes paßt, wo derartige
1) Nr. 2836 u. 37, Saal 24. Dr. Halm verdanke ich den
Hinweis darauf, der Meister mag wohl aus der Gegend
von Ingolstadt oder Eichstädt stammen.
ABB. 20. HL. DOROTHEA. BAYRISCHE ARBEIT
DES 15. JAHRHUNDERTS
Samiiiliing Clemens
AUSSTELLUNG PLASTISCHER BILDWERKE IN MÜNCHEN
Typen ja in reicher Zahl zu finden sind. Meister
Vischer gehört wohl noch ein bronzener Dudelsack¬
pfeifer aus derselben Sammlung an.
Sodann sind zwei, Riemenschneider sehr nahe¬
stehende Werke zu nennen, deren eines, eine Ma¬
donna aus der Sammlung Greb, schon früher von
dem Bayrischen Altertumsverein veröffentlicht wurde.
Das andere stellt einen Bischof dar (Sammlung Böhler),
mit asketischem Ernst und sittsamer klösterlicher
i6i
lieh den Körperpartien prächtig durchgearbeitetes Werk,
in dessen allgemeinem Sentiment aber jener äußerlich
pathetisch -dramatische Zug sich geltend macht, wie
er an manchen Werken nürnbergischer Hochren-aissance
zu finden ist. Über eine Reihe tüchhger bayrischer
und schwäbischer Arbeiten^), so ein kleines, leinberger
nahestehendes Holzrelief mit der Darstellung i be¬
kannten Szene aus dem Leben des heiligen AnC;?ans
aus dem 1 5. Jahrhundert und eine schwäbische ■
ABB. 21.
HL. GEORG. BAYRISCHE ARBEIT.
Sammlung Professor Heß
ABB. 22.
1. HÄLFTE DES 16. JAHRHUNDERTS
Frauenkirche zu München
Befangenheit in der Bewegung, wie er für diesen
Meister charakteristisch ist.
Besondere Erwägung verdient noch ein echtes
Werk des Stanislaus Stoß mit der Darstellung des
Martyriums Johannes, dessen Relieftechnik wie Stil¬
charakter dem Johannesaltar in der Florianskirche zu
Krakau oder dem Triptychon in der Czartoryski-Kapelle
auf dem Wawel am nächsten steht.
Weiterhin ist eine aus Nürnberg stammende be¬
kannte holzgeschnitzte Kreuzigung zu nennen, von
der einige Figuren in der Sammlung Oppenheim
nach Berlin gelangt sind, ein im einzelnen, nament-
Zeitschrift füi' bildende Kunst. N. F. XVIII. H, 6
madonna, die, von Engeln getragen, durch den lebens¬
vollen Ernst imponiert, ist bereits von anderer Seite
berichtet worden.
Von den niederländischen Plastikern am Ende
des 1 6. Jahrhunderts wies die Ausstellung zwei ganz
hervorragende Stücke auf: Einen Wettläufer des Adriaen
de Vries (Sammlung Clemens), ein Werk des Meisters
i) Siehe den die hierher gehörigen Bildwerke etwas
eingehender behandelnden Aufsatz Habichs in der Beilage
zur Allgemeinen Zeitung Nr. 41 S. 395 »Bayrische Plastik
auf der Renaissanceausstellung .
23
1 62
AUSSTELLUNG PLASTISCHER BILDWERKE IN MÜNCHEN
des Merkur- und Herkulesbrunnens in
Augsburg, das unter Anlehnung an den
■ Icrkur des Giovanni da Bologna in der
B cgung wie der Durchbildung des
Ak mit zum besten gehört, was wir von
em Meister kennen (Abb. 25). Bei allem
' erständnis für die südliche Grazie und
Würde und trotz der akademischen Kor¬
rektheit des wohlproportionierten Körpers
trägt die Gestalt in ihrer gesunden, fleisch¬
lichen Lebensfülle eine spezifisch nieder¬
ländische Pointe an sich, die sie sogleicli
von den vorbildlichen italienischen Wer¬
ken unterscheidet. Die prächtige Aktion
der Figur ist doch mehr als eine schöne
Pose und die atemlose Eile und Er¬
schöpfung des Mannes ist nicht nur im
Gesicht, sondern auch im Körper an¬
gedeutet. Von jeder Seite weiß die Ge¬
stalt einen angenehmen Linienreiz von
sehr erfreulicher Lebendigkeit hervorzu-
rnfen.
Mit der statuarischen Ruhe einer stehen¬
den Figur sucht sich in einer als Mele-
ager charakterisierten Jünglingsgestalt
Elia de Witte gen. Candida (Sammlung
Clemens) abzufinden, indem er nach
Muster des Giovanni da Bologna, dessen Einwirkung
sich auch in einzelnen Details wie namentlich dem
charakteristischen Verlauf des Darmbeinfortsatzes be¬
merkbar macht, die überzarten, wenig eindrucks¬
vollen Körperformen durch harte Linien der Sil¬
houette zu paralysieren sucht. Die Statuette ist aufs
innigste einem Cupido des Berliner Museums ver¬
wandt’). Ein Meleager derselben Sammlung zeigt
eine ganz verwandte Sil¬
houette 2).
Zum Schlüsse ist hier
nur noch auf einige her¬
vorragende Stücke kunst¬
gewerblicher Art hinzuwei¬
sen, an denen trotz ihrer
sekundären Bedeutung die
Ausstellung besonders reich
war.
Aufsehen machte ein
kleiner, aus vergoldetem
Kupfer getriebener Becher,
der, der Haartracht nach
zu schließen, wohl im 14.
Jahrhundert entstanden ist.
Die Außenseite stellt auf
leicht schraffiertem Grunde
augenscheinlich eine Jagd¬
szene dar: Eine im Her¬
rensitz und Reithose ein-
ABH. 23. NIEDER¬
RHEINISCHE HOLZ¬
MADONNA. 15. JAHRH.
Sammlung Böhler
1) Italienische Bronzen,
S. 8 u. 9, Taf.X, Nr. 275 u. 276.
2) A. a. O. Taf. X, Nr.
277-
hergaloppierende Jungfrau, umgeben von
einer den Eber jagenden Meute, ein Mo¬
tiv, das in einer noch etwas grob heral¬
dischen Stilisierung sich um den Leib
des Bechers wiederholt. Das Stück, augen¬
scheinlich profanen Zwecken dienlich, ist
einzig in seiner Art und wird wohl bald
nach der gegenständlichen Bedeutung des
Dargestellten eine wissenschaftliche Unter¬
suchung erfahren.
Ein prächtiges Kreuz aus Bergkristall
der Sammlung Griitzner fiel unter den
kunstgewerblichen Arbeiten noch auf, be¬
sonders auch mit Rücksicht auf die feinen
Malereien in der Mitte, die ebenso wie
das Ganze wohl eine italienische Arbeit
des 14. Jahrhunderts sind. Der Sockel
wie Teile des Lendentuches Christi und
die Malereien der Rückseite scheinen er¬
gänzt zu sein und auch die Zusammen¬
gehörigkeit von Kreuz und Figur ist nicht
ganz gesichert.
Mit das köstlichste Werk der Klein¬
kunst’) war ein Reliquar aus dem Be¬
sitze des Grafen Arco-Zinneberg, dessen
zierliches architektonisches Gerüst aus ver¬
goldetem Silber Szenen aus dem alten
und neuen Testament in wundervollem translucidem
Email, in blauen, grünen und weinroten Tönen schil¬
lernd, einschloß. Eine Speyrer Benediktinerin hat das
Reliquar etwa um 1430 in Auftrag gegeben.
Das Regensburger Domkapitel hatte eine Reihe
höchst interessanter Teppiche des 14. Jahrhunderts
als Leihgabe ausgestellt, deren rätselhafte Szenen
Bassermann-Jordan zu deuten versucht hat^). Darnach
ist in der mittleren, auf Un¬
geheuern sitzenden Figur
das große Babylon darge¬
stellt, zu dem Liebespaare
auch der Farbe nach in
symbolische Beziehung ge¬
setzt sind. Die übrigen
Reste illustrieren Szenen
ausaltdeutschenDichtungen,
darunter eine reizende Dar¬
stellung aus dem Ekkehard.
Zuletzt sei hier auf einen
sehr interessanten kleinen
Teppich hingewiesen, der,
wohl oberrheinische Arbeit,
etwa um 1470 entstanden
sein mag. Der Teppich¬
weber arbeitet aber noch
ganz in dem altertümlichen
Stil, wie er sich in der
Malerei um etwa 1 400 findet.
ABB. 24. PETER VISCHER (?) BRUNNENEIGÜRCHEN
Sammlung Clemens
1) S. Bassermann-Jordan,
Formenschatz, 1907, Taf. 38,
39 u- 40.
2) A. a. O. Taf. 41.
AUSSTELLUNG PLASTISCHER BILDWERKE IN MÜNCHEN
163
und auch mit dem Latein scheint er mit Rücksicht
auf das noli me tangere« noch etwas auf ge¬
spanntem Fuße zu stehen. In reizvollster heraldischer
Stilisierung ist der Grund mit gotisierendem Ranken¬
werk gefüllt, das oben eine köstlich stilisierte Wolken¬
partie mit Sternen abschließt. Die Webtechnik ist
noch maßgebend für die zeichnerische Behandlung
der Körperformen und die streifenartige Earbenver-
teilung. Aus demselben Grund bleibt auch das tek¬
tonische Element in Form und Anordnung der Orna¬
mentik wirksam. Man hatte in der Ausstellung Ge¬
legenheit, an einem späteren, ebenfalls wohl ober¬
rheinischen Teppich einer unter einem Baldachin thro¬
nenden Madonna, von Blumen umgeben, den Wandel
zu studieren, den der eindringende Naturalismus auch
auf diesen Gebieten nach sich zog: die Technik ver¬
liert ihre stilbildende Kraft und der Teppich konkurriert
mit der Malerei. Zur Entwickelung geschichtlicher
Vergleiche und prinzipieller Kunstfragen forderte die
geschickte Gruppierung der Ausstellung überhaupt auf.
Solch zwanglose Anordnung hat besonders für den
einen Reiz, der gewohnt ist, Kunstwerke nach der alt¬
hergebrachten Schablone der Zeitenfolge in nationaler
Abgeschiedenheit zu betrachten. Das stille Neben¬
einander der nach wissenschaftlichen Begriffen hete¬
rogenen Dinge löst von selber ein kritisches Abwägen
nach ganz allgemeinen Gesichtspunkten aus und über
dem engen Dunstkreis stilkritischer Analysen lichten
sich leicht die weiteren Sphären, in denen die Kunst
als fürsprechender Engel der Völker erscheint. Man
hat hier dafür gesorgt, daß dem immer glänzend ge¬
fiederten Sendboten Italiens gar beredte Verkünder
deutscher, speziell süddeutscher Art gegenüberstehen.
ABB. 25. ADKIAEN DE VRIES. STATUETTE EINES WETTLÄUFERS
Sammlung Clemens
23
DANIEL STASCHUS
Der Farbenliolzsclinitt erfreut sicli in München,
unter der immer noch fortdauernden Ein¬
wirkung der von Ernst Neumann gegebenen
Anregungen, einer besonderen Pflege. Unter den
jüngeren Kräften, die sich ihm zugewandt haben,
nimmt der Ostpreuße Daniel Staschus auf dem Ge¬
biete der Landschaft einen der ersten Plätze ein. Er
hat es vortrefflich verstanden, die Errungenscliaften
der modernen Malerei dem Farbenholzschnitt dienstbar
zu machen, ohne dabei im mindesten die der Graphik
gezogenen Grenzen zu überschreiten. Seine Arbeiten
sind geradezu vorbildliche Lösungen für das Problem
der modernen Graphik, möglichst reiche Wirkungen
mit dem geringsten Aufwand an Mitteln zu erzielen.
Diesem Ziel geht er auf völlig eigenen Wegen nach;
indem er das, was schon vorher die Eigenart seiner
Landschaftsmalerei ausmachte, in angemessener Weise
auf die Graphik übertrug, gelangte er zu den
wundervollsten, von reinstem Wohllaut gesättigten
Farbenwirkimgen, die seine Holzschnitte auszeichnen.
Sein fein entwickeltes Tongefühl schreckt vor allen
ungebrochenen Farben, vor jeder zeichnerischen oder
koloristischen Härte zurück. Aus der Stimmung
des gewählten Landschaftsausschnittes entwickeln sich
seine Akkorde so gesetzmäßig, daß kein Ton eine
Veränderung erleiden könnte, ohne daß zugleich der
ganze angeschlagene Akkord zusammenfiele.
Es versteht sich von selbst, daß bei solchen künst¬
lerischen Voraussetzungen nur gebrochene Farben
verwendet werden können. Sie haben an sich keinen
hohen koloristischen Wert, aber sie werden durch die
geschwisterliche Unterstützung der anderen Farben
wunderbar geklärt und gehoben.
Diese starke Vorliebe für tonige Gebundenheit, die
wohl aus des Künstlers littauischer Abstammung er¬
klärt werden muß, gibt seinen Arbeiten das Gepräge
liedhafter Weichheit und Innigkeit. Und da alle
Harmonie eine gewisse Verwandtschaft mit Schwer¬
mut hat, sind auch die Arbeiten von Staschus fast
durchgehends von Akzenten einer liebenswürdigen
Melancholie betont.
Bei dem reichen, vollen Effekt dieser Holzschnitte
darf nicht vergessen werden, daß er stets mit höchst
ökonomischen Mitteln herbeigeführt wird. Staschus
verwendet in der Regel nur drei Platten, niemals aber
mehr als vier. Daraus geht hervor, daß die Wirkung
seiner Drucke nur die Folge einer sehr sicher arbeiten¬
den, peniblen Disposition ist. Die Technik, deren sich
Staschus bedient, ist fein und differenziert und unter¬
scheidet sich grundsätzlich von den oft plumpen und
ungewählten Verfahren, die viele moderne Holzschnitt¬
künstler zur Anwendung bringen.
Der Holzschnitt »Vor Anker«, von dem ein mit
der Buchdruckpresse hergestellter Originalabzug von
den Holzstöcken diesem Hefte beiliegt, ist mit drei
Tönen (ein warmes und ein kälteres Gelb, dazu ein
dunkles Braun) gedruckt. Es ist klar, daß der Ma¬
schinendruck nicht alle Reize des Handdruckes liefern
kann. Immerhin kommt er diesem nahe.
W. MICHEL.
* 4:
*
An diese Besprechung des einen der dem heutigen
Hefte beigegebenen Kunstblätter sei hier auch des
Künstlers gedacht, dem wir die merkwürdige und
schöne Radierung »Der weiße Rabe« verdanken. Franz
Mutzenbecher steht noch am Anfänge seiner Laufbahn.
Er ist erst 26 Jahre alt. Ein geborener Hamburger,
studierte er in Karlsruhe und Stuttgart, wo er auch
sich vor der Hand niedergelassen hat. Unser Blatt
stellt das Glied einer Serie dar, an deren Vollendung
der Künstler jetzt arbeitet. Diese Talentprobe wird
genügen, um der weiteren Entwickelung Franz Mutzen¬
bechers alles Interesse entgegenzubringen. Auch die
anderen Radierungen, die er jetzt auf der Graphischen
Ausstellung des Deutschen Künstlerbundes zeigt, er¬
wecken schöne Hoffnungen.
Herausgeber und verantwortliche Redaktion: E. A. Seemann, Leipzig, Querstrabe 13
Druck von Ernst Hedrich Nachf., q. m. b. h., Leipzig
VOR ANKER
ORIOINALHOLZSCHNITT VON DANIEL STASCHUS
ZEITSCHRIFT FÜR BILDENDE KUNST IQOy
EINE SAMMLUNG VON HANDZEICHNUNGEN
DES FRANCISCO GOYA
Von Aureliano de Beruete in Madrid
Das Lebenswerk des Francisco Goya, das in
seinem überragenden künstlerischen Werte und
in seiner außerordentlichen kunstgeschichtlichen
Bedeutung seit einigen Jahren den Gegenstand einer
ungemein regen Spezialforschung bildet, verdient in
der Tat das höchste Interesse der heutigen Kunstwelt.
Außerhalb Spaniens sind es mehr noch als die Ge¬
mälde dieses Meisters, hauptsächlich seine großen
Radierungszyklen — die Caprichos«, die »Tauro-
maquia«, die »Desastres de la Guerra«, die »Pro-
vertjios« — , die neben einigen selteneren Einzel¬
radierungen in Kennerkreisen heutzutage endlich die
ihnen gebührende Bewunderung und Wertschätzung
erlangt haben. Die Steinzeichnungen des Meisters
mit Darstellungen von Stierkampfszenen und anderem
mehr waren dagegen infolge ihrer großen Seltenheit
bis vor kurzem so gut wie unbekannt geblieben, und
fast noch weniger wußte man von den reichen
Schätzen Goyascher Originalzeichnungen, die sich im
Pradomuseum und in der Biblioteca Nacional zu
Madrid befinden. Einige Reproduktionen solcher
Zeichnungen, wie sie dem im Jahre 1903 in Berlin
erschienenen trefflichen Goyawerke V. von Logas
beigegeben waren — das außerdem ebenso wie
P. Lafonds Goya-Monographie i) ein umfangreiches
Gesamtverzeichnis der Goyaschen Handzeichnungen
enthielt — haben nun neuerdings auch diesem wich¬
tigen Schaffensgebiete des Meisters einen weiten Inter¬
essentenkreis gewonnen. Von älteren Goya-Publi¬
kationen hat namentlich diejenige des Don Ceferino
Araujo Sanchez (in Madrid erschienen) die Goya¬
zeichnungen des Pradomuseums, sowie diejenigen
aus dem Besitze des Don Valentin Carderera aus¬
führlich behandelt. Endlich hat auch der Conde de
la Vinaza in seinem 1887 in Madrid herausgegebenen
Buche »Goya, su tiempo, su vida, sus obras« bei
Erörterung der wunderbaren Fruchtbarkeit und Viel¬
seitigkeit unseres Meisters wenigstens dessen Entwurf¬
zeichnungen zu den »Caprichos« erwähnt, von denen
vier Blatt zu der hier zu besprechenden Sammlung
gehören, während eine Anzahl weiterer Blätter einen
Teil der soeben genannten Colecciön Carderera
bildeten.
In den Handzeichnungen Goyas findet sich das
ganze menschliche Leben wiedergespiegelt in seinen
1) Erschienen in Paris in der bekannten Monographien-
sammlung »Les artistes de tous les temps«.
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XVIIl. H. 7
mannigfaltigen Erscheinungen und Betätigungen,
denen die gewaltige Phantasie des Künstlers einen
so reichen, ins Zauberhafte erhöhten Glanz zu ver¬
leihen verstand. Da wechseln zärtlich-süße oder ver¬
wegen-galante Liebesszenen, Darstellungen ländlicher
Belustigungen von Alt und Jung, Groß und Klein,
oder allerlei sonstiger heiteren Vorkommnisse aus
dem Alltagsleben in bunter Folge mit rapid skizzier¬
ten Raufszenen und Duellen, Bildern des Elends oder
des Verbrechens, Kerkerinterieurs und Feuersbrünsten,
Schreckensvisionen und Monstrositäten jeglicher Art,
— wahnwitzigen Anomalien des Erdendaseins, wie
sie abscheulicher kaum gedacht werden können. Aber
nicht zufrieden mit den zahllosen Wirklichkeits¬
eindrücken, die sein nimmersattes Künstlerauge und
sein rastlos tätiges Vorstellungsvermögen jederzeit und
allerorten immer von neuem reizten und seine un¬
ermüdliche Künstlerhand immer von neuem zu macht¬
voll akzentuierter, in Farbe, Form und Ausdruck ge¬
steigerter Bildwiedergabe drängten, — nicht zufrieden
damit, gefiel sich Goya gleichzeitig in der bestän¬
digen Neuerfindung der unwahrscheinlichsten Schreck¬
gespenster, mißgestalteter Phantasiewesen, Traum¬
gestalten und Albvisionen. ln wahrhaft unheimlichen
Phantasiedelirien schuf er eine Unzahl von Gespenster¬
sabbaten, die er mit den sonderbarsten Spukgestalten,
Dämonen, Hexen und Teufeln in den denkbar
originellsten Stellungen und Gruppierungen bevölkerte.
Mit gleicher Vorliebe zeichnete er sodann religiöse
Vorwürfe, wie Prozessionen und Kirchenfeste, und
insbesondere Mönche und Nonnen, wobei er fast
immer auf gewisse komische und sarkastisch-satirische
Wirkungen ausging; hierher gehören auch seine zahl¬
reichen Darstellungen von Wundertaten, von fana¬
tischer Heiligenverehrung und Idolatrie, von Inqui-
sitions- und Folterszenen. - In der Regel gab Goya
diesen so mannigfaltigen Erzeugnissen seiner un¬
erschöpflichen Zeichnerphantasie eine eigenhändige,
die betreffende Darstellung in knappen Worten er¬
läuternde Unterschrift mit auf den Weg. Bei der
Mehrzahl seiner Radierungen wie auch seiner Hand¬
zeichnungen sind derartige Kommentare übrigens so
gut wie entbehrlich, da der Darstellungsinhalt dieser
Blätter dem Beschauer ganz von selbst klar wird.
Andere hinwiederum sind nicht einmal mit Hilfe der
beigegebenen Textunterschriften zu verstehen; sie sind
daher bereits mehrfach zum Gegenstände spitzfindiger
Interpretierungsversuche gemacht worden, und man
24
i66
EINE SAMMLUNG VON HANDZEICHNUNGEN DES FRANCISCO GOYA
ist dabei zu der Überzeugung gelangt, daß Goya in
vielen seiner Kompositionen über das wirkliche End¬
ziel seiner graphischen Arbeiten, die Kritik der Sitten,
der Laster und des religiösen Fanatismus seiner Zeit,
häufig gar weit hinausgeschossen ist.
In dem Radierungenzyklus »Los Desastres de la
Guerra« sieht man neben heroischen Darstellungen
eines bis ins Fanatische gesteigerten Patriotismus die
Tragödie des Elends, der Hungersnot und der Plün¬
derungsgräuel in allen ihren Schreckensphasen mit
rücksichtslosestem Realismus verbildlicht. Einige dieser
Blätter reflektieren bereits das volle Maß jenes skep¬
tischen Pessimismus, von dem der Meister in seinen
letzten Lebensjahren mehr und mehr beherrscht wurde,
und wie er namentlich in der reichen Handzeich¬
nungensammlung des Madrider Pradomuseums so
augenfällig in Erscheinung tritt.
Die hier zu besprechende Sammlung Goyascher
Originalzeichnungen entstammt mit vielen anderen
Blättern dem Besitze eines Enkels unseres Meisters
und gelangte seinerzeit durch einen Zwischenbesitzer
in die Hände des bekannten Malers und Prado-
galeriedirektors Don Federico de Madrazo. Dieser
schenkte einen Teil der Sammlung seinem Schwieger¬
söhne, dem berühmten Meister der Malkunst Mariano
Fortuny (dessen gleichnamiger Sohn die Blätter noch
heute in Verwahrung hält), einen anderen Teil da¬
gegen — nämlich die hier zu besprechende Samm¬
lung — dem Direktor der Escuela de Bellas Artes
zu Zaragoza, Don Bernardino Montanez, aus dessen
Nachlaß dieser Teil der Sammlung einer testamen¬
tarischen Bestimmung gemäß schließlich in meinen
eigenen Besitz überging. Der großen Madrazoschen
Goya-Sammlung gehörten ehedem auch jene beiden
Zeichnungen mit Darstellungen aus dem Mönchs¬
leben an (die eine mit chinesischer Tusche, die andere
mit schwarzer Kreide ausgeführt), die kürzlich für
die königlichen Kunstsammlungen in Berlin angekauft
worden sind.
Meine eigene Sammlung besteht aus 38 Zeich¬
nungen. Hiervon ist eine einzige in Sepia mit dem
Pinsel ausgeführt, sechs weitere sind in chinesischer
Tusche teils mit dem Pinsel, teils mit Pinsel und Feder,
teils mit der Feder allein gezeichnet, und die übrigen
31 Blatt sind Zeichnungen in schwarzer Kreide, aus¬
geführt auf feinfaseriges Papier (sämtliche Bogen
19X14 bezw. 19X15 cm groß). Die 31 Kreide¬
zeichnungen entstammen der letzten Lebenszeit des
Meisters, die dieser von 1824 an bis zu seinem am
16. April des Jahres 1628 eintretenden Tode in
Bordeaux verbrachte, abgesehen von zwei kürzeren
Reisen, von denen die eine 1824 nach Paris, die
andere 1826 nach Madrid unternommen wurde.
Wunderbarerweise hatte Goya trotz seines hohen
Alters (er war 1746 geboren) und trotz seiner fort¬
dauernden Kränklichkeit als Künstler damals noch
immer an Originalität und Kraft der Darstellung zu¬
genommen, während allerdings die Grazie und Frische
der Zeichnung, wie sie den früheren Schöpfungen
des Meisters eigen gewesen war, zuletzt mehr und
mehr versagte, jedenfalls aber tritt die gewaltige Per¬
sönlichkeit des Künstlers in den letzten Zeichnungen
des Achtzigjährigen noch einmal in ihrer vollen Wucht
zutage. Was Goya mit der Ausführung dieser seiner
letzten Zeichnungen bezweckte, geht deutlich genug
aus einem vom 20. Dezember des Jahres 1825 da¬
tierten Briefe hervor, den er selbst an seinen Freund
Don Jose Maria Ferrer gerichtet hat. Dort heißt es
nämlich unter anderem: »Was Sie mir bezüglich der
,Caprichos‘ mitleilen, kann nicht geschehen, da ich
die Druckplatten derselben vor mehr als zwanzig
Jahren dem Könige überlassen habe; wie alle übrigen
Platten, die ich gestochen habe, befinden sie sich
jetzt in der Verwahrung der Kupferdruckerei Seiner
Majestät. Und bei alledem hat man mich auch noch
bei der Santa« — dem Tribunal der Inquisition —
verklagt! Ich habe sie nicht kopiert, weil ich noch
bessere Einfälle (,mejores ocurrencias*) für mich zurück¬
behalten habe, die ich später einmal mit größerem
Vorteile zu verkaufen hoffe.« — Unter den »mejores
ocurrencias«, auf die Goya in diesem Briefe anspielt,
sind mehrere der in Bordeaux entstandenen Hand¬
zeichnungen des Madrider Pradomuseums zu verstehen,
fernerhin die in meinem Besitze befindlichen Blätter,
sowie endlich einige Einzelblätter, wie z. B. die beiden
obengenannten Neuerwerbungen des Berliner Kupfer¬
stichkabinetts.
Trotz seiner 80 Jahre dachte Goya damals, als er
den soeben zitierten Brief schrieb, offenbar noch
keineswegs ans Sterben. Wie so viele Greise, hoffte
auch er in der Tat, ein noch weit höheres Alter er¬
reichen zu können. Mit klaren Worten gab er dieser
Hoffnung Ausdruck in einem an seinen Sohn ge¬
richteten Briefe vom 24. Dezember des Jahres 1824,
indem er schrieb: » — denn möglicherweise wird es
mir beschieden sein, gleich Tizian 99 Jahre alt zu
werden«. — Jedenfalls blieb er noch bis in sein letztes
Lebensjahr hinein von einem unermüdlichen Schaffens¬
drange beseelt. Der Dichter Moratin, ein Freund
Goyas, der gleich diesem selbst zur Zeit der spanischen
Reaktionswirtschaft nach Bordeaux ausgewandert war,
schreibt noch in einem vom 28. Juni des Jahres 1825
datierten Briefe an Melon: » — Goya ist noch immer
der alte Hitzkopf und malt, daß ihm die Haare zu
Berge stehen (,estä muy arrogantillo y pinta que se
las pela‘), und für etwaige Korrekturen an dem ein¬
mal Gemalten ist er natürlich beileibe nicht zu haben«.
— Goya selbst berichtet in einem Briefe an Ferrer
vom 20. Dezember desselben Jahres über seine körper¬
liche und geistige Verfassung mit den charakteristischen
Worten: — Verzeihen Sie vielmals diese schlechte
Schrift, aber Auge und Hand, Tinte und Feder, alles
versagt, — nur der Wille ist mir noch geblieben!«
— Diese riesenhafte Willenskraft also ist es, der wir
noch so zahlreiche geistvolle Zeichnungen des greisen
Goya zu verdanken haben; die Bildnisse Moralins,
Silvelas, Muguiros und anderer Persönlichkeiten und
dazu noch eine ganze Reihe von Gemälden, sie alle
sind ebenfalls erst in Bordeaux entstanden. Sogar
eine Anzahl von Miniaturmalereien hat der Meister
in diesen letzten Lebensjahren noch auszuführen ver-
ZEICHNUNGEN VON GOYA AUS DER SAMMLUNG A. DE BERUETE IN MADRID
i68
EINE SAMMLUNG VON HANDZEICHNUNGEN DES FRANCISCO GOYA
mocht, wie aus einem seiner Briefe an Ferrer (vom
20. Dezember 1825) zu ersehen ist.
Den Handzeichnungen aus Goyas letzten Jahren
eignet ein so charakteristisches Gepräge, daß sie auf
den ersten Blick wiederzuerkennen sind. Wie schon
früher erwähnt wurde, vermißt man an ihnen die
frühere Grazie der Strichführung, die der Meister in
seinen Zeichnungen, sowohl wie in seinen Gemälden
im Laufe der Jahre in der Tat eingebüßt hatte; dagegen
zeigen sie noch dieselbe Entschiedenheit der Clairobscur-
Wirkung, dieselbe malerisch empfundene Licht- und
Schattengebung, wie alle übrigen Schöpfungen von
Goyas Meisterhand. Die Akzentuierung der Haupt¬
konturen ist hier sogar noch wuchtiger und noch
fester geworden, als in den Blättern aus Goyas jüngeren
Jahren, während alle übrigen Bildpartien bei diesen
letzten Zeichnungen in der Weise ausgeführt wurden,
daß der Künstler zur Andeutung der Mitteltöne und
der Formenmodellierung den Kreidestift nur ganz
leise über die Bildfläche dahingleiten ließ.
Das bereits von mir zitierte Goyawerk von Loga
enthält im ganzen fünf Reproduktionen von Zeich¬
nungen, die sicherlich aus den letzten, in Bordeaux
verbrachten Lebensjahren des Meisters stammen. Der
gleichen Epoche also gehören auch die hier wieder¬
gegebenen zehn Goyaschen Originalzeichnungen an.
Sie sind sämtlich in schwarzer Kreide ausgeführt, und
einigen der Blätter sind von Goyas eigener Hand
kurze Erläuterungsunterschriften beigegeben. Ich habe
sie aus einer Anzahl ähnlicher Darstellungen aus¬
gewählt, um meinen Lesern einen Begriff zu geben
von der Art der Ausführung, die typisch ist für diese
ganze Serie. Meiner Ansicht nach muß die Mehrzahl
der Blätter wohl aus dem Gedächtnis gezeichnet sein.
Goya besaß die Gabe, die flüchtigsten Momentbilder
des Lebens in der Erinnerung festzuhalten, und be¬
durfte zur Niederschrift solcher Erinnerungen fast nie¬
mals eines Modells. Nur bei einem dieser Blätter
ist mit Sicherheit anzunehmen, daß es vor dem leben¬
den Modell gezeichnet wurde. Es stellt einen am
Boden liegenden Gefangenen dar; mit den Armen
ist er hinterrücks an einen Holzklotz gefesselt, sein
Haupt ist gegen die Brust herabgeneigt. Daß wir es
hier in der Tat mit einer exakten Studie nach der
Natur zu tun haben, geht schon aus den Verhältnissen
der einzelnen Körperteile, insbesondere aber aus der
meisterlichen Behandlung der nackten Füße hervor.
Eines der Blätter hat Goya »Sucesos campestres«
(zu deutsch etwa »Alltagsereignisse aus dem Bauern¬
leben«) betitelt; man erblickt hier einen an einem
Baume aufgehenkten Mann und einen zweiten, der,
einen Wolf auf seinen Schultern tragend, in die Be¬
trachtung des Kadavers versunken dasteht. Die übrigen
Blätter zeigen zwei Szenen mit Wahnsinnigen oder
Idioten; zwei Szenen mit Betenden; einen groben
Arbeitertypus, der mit höchster Kraftanstrengung an
einem Seile zieht; eine Mutter, die lächelnden Glückes
ihr in ihrem Schoße ruhendes Kindlein betrachtet;
eine mit der spanischen »Mantilla« geschmückte Dame
mit ihren Hündchen; endlich eine Duellszene, auf der
die Wut der Brust an Brust ihre Schußwaffen gegen¬
einander entladenden Gegner im Beschauer die Be¬
fürchtung erwecken muß, daß keiner der beiden
Duellanten noch einen Moment länger am Leben
bleiben wird. Diese Angaben mögen genügen, um
den Darstellungsinhalt der hier reproduzierten Goya¬
zeichnungen in Kürze zu charakterisieren.
Die photographischen Aufnahmen für diesen Aufsatz
fertigte der Photograph Moreno in Madrid
ZEICHNUNGEN VON GOYA AUS DER SAMMLUNG A. DE BERUETE IN MADRID
ZEICHNUNGEN VON GOYA AUS DER SAMMLUNG A. DE BERUETE IN MADRID
ZEICHNUNGEN VON GOYA AUS DER SAMMLUNG A. DE BERUETE IN MADRID
ZWEI POLYCHROME TONQEFASSE
AUS DER KAISERLICHEN ERMITAGE IN ST. PETERSBURG
Von Eugen Pridik in St. Petersburg
Die von der Kaiserlichen Archäologischen Kom¬
mission in Südrußland und im nordwestlichen
Kaukasien unternommenen Ausgrabungen ha¬
ben ganz ungeahnt reiche Funde ans Licht gebracht.
Während im hellenischen Mutterlande, trotz des herr¬
schenden Seelenkults, Luxus bei der Bestattung der
Toten gesetzlich direkt verboten war und der prak¬
tische Sinn der Griechen sich wohl auch selbst gegen
eine Vergrabung von Kostbarkeiten sträubte, hat sich
hier im Norden, vielleicht mit unter dem Einflüsse
der reichen, prachtliebenden skythischen Nachbarn,
die alte, patriarchalische Sitte, dem Toten alles, was
im Leben sein größter Stolz und seine Freude ge¬
wesen war, ins Grab mitzugeben, erhalten. Die grie¬
chischen Gräber und skythischen Grabhügel (die so¬
genannten Kurgäne) in diesen Gegenden sind infolge¬
dessen oft wahre Schatzkammern. Herrlicher Gold¬
schmuck von bewunderungswürdiger Feinheit der
Ausführung (Ohrgehänge, Armbänder, Halsgeschmeide,
Diademe, Hals- und Armringe, Ringe zum Teil mit
prachtvollen geschnittenen Steinen, Ketten von ver¬
schiedenartigen Goldperlen usw.), goldene Schwerter,
Schwertscheiden, Köcher und Bogenbehälter (soge¬
nannte Goryte), goldene und silberne Vasen und
Trinkbecher, silberne Trinkhörner usw. haben sich in
solcher Fülle gefunden, daß die Antikensammlung
der Kaiserlichen Ermitage, in welcher alle diese
Schätze aufgehäuft liegen, in dieser Beziehung von
keiner Sammlung der Welt auch nur annähernd er¬
reicht wird: ja, der französische Archäologe Rayet
hat es einmal ausgesprochen, daß, wenn man auch
die Bestände des British Museum, des Louvre, des
Vatikans und des Neapler Museums vereinigte, doch
die Ermitagesammlung sie an Reichtum überträfe.
Aber nicht bloß herrlichen Schmuck haben uns
die Gräber geschenkt; unter den gefundenen Vasen
gibt es gleichfalls Prachtstücke allerersten Ranges aus
der Blütezeit der attischen Vasenmalerei. Auch die
beiden polychromen Tongefäße, die hier zum ersten¬
mal in würdiger Weise publiziert werden^), gehören
zu dem schönsten, was wir von dieser seltenen Vasen¬
gattung haben; sie sind sicher attisches Fabrikat, wie
denn die polychromen Vasen in Statuetten- und
i) Die beiden Vasen waren bisher nur in Zeichnungen
von Jordan, Laurent, Walker und anderen bekannt; die
einzige photographische Aufnahme befindet sich in der
Jubiläumsausgabe der Kaiserlichen Ermitage zur Feier des
fünfundzwanzigjährigen Regierungsjubiläums Kaiser Alexan¬
ders II. (Die Kaiserliche Ermitage 1855 1880), die aber
Büstenform wohl überhaupt alle in Athen gemacht
zu sein scheinen. Beide Vasen sind zusammen in
einem Grabe auf der Kertsch gegenüberliegenden
Halbinsel Taman, an der Stelle des alten Phanagoria,
im Jahre 1869 von Baron Tiesenhausen gefunden
worden. Nach langen erfolglosen Grabungen stieß
dieser hochverdiente Forscher endlich auf ein ganz
unversehrtes, von großen Ziegelplatten umschlossenes
Frauengrab, in dem sich sechs polychrome Vasen in
Statuetten- und Büstenform, sechs bemalte Terra¬
kotten und sechs kleine rotfigurige Gefäßchen fanden,
alles Funde, die dem Stil und der Arbeit nach ins
Ende des 5. Jahrhundert oder spätestens in den An¬
fang des 4. Jahrhunderts gehören; an Schmuck fand
sich nur ein schöner goldener Ring am Finger der
Toten. Die schönsten und am besten erhaltenen
Vasen waren die beiden hier in vier Fünftel der wirk¬
lichen Größe publizierten in Form einer sitzenden
Sphinx und der aus einer Kammuschel hervorkom¬
menden Aphrodite Anadyomene. Die Gravüre in
Verbindung mit den Ac|uarellen soll gleichzeitig eine
Vorstellung von Form und Farbe geben.
Sehen wir uns die Vasen etwas näher an, zu¬
nächst die Sphinx. Die Sphinx sitzt ruhig da, den
Körper im Profil nach rechts gewendet; der herrliche
Kopf mit den schönen klassischen Zügen ist leicht
zur Seite geneigt und dem Beschauer in Dreiviertel¬
ansicht zugekehrt. Der Körper, die Füße und der
Schweif sind elfenbeinfarbig-weiß, die Brüste haben
einen leichtrosa Ton, das Gesicht ist ganz fleisch¬
farben und die zarten Übergänge der verschiedenen
Farbentöne, besonders auf den Wangen, verleihen
der ganzen Figur einen unsagbaren Liebreiz. Die
Lippen sind purpurrot gefärbt, die schöne dunkel¬
blaue Iris ist von dem Weißen des Auges, das bläu¬
lich gefärbt ist, scharf geschieden, jedes Härchen der
Wimpern ist wiedergegeben. Die Augen haben
einen schmachtenden Ausdruck, der Gesichtsausdruck
ist ernst. Um den Hals hat die Sphinx drei Reihen
goldener Perlenschnüre; auf dem dicht gelockten, ganz
vergoldeten Haar, welches auf beiden Seilen in je
zwei Locken auf die Schultern herabfällt, ruht eine
hohe purpurrote Stephane, die mit sieben goldenen
Rosetten geschmückt ist; der Hinterkopf ist mit einer
meines Wissens überhaupt nicht in den Handel gelangt
ist; Abzüge von der Platte sind indessen viel verkauft
worden. Die farbigen Skizzen, die eine ungefähre Vor¬
stellung von der Farbenpracht geben können, sind nach
Aquarellen des Malers Rajewski gemacht.
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ZWEI POLYCHROME GRIECHISCHE TONGEFÄSSE
IN DER KAISERL. ERMITAGE ZU ST. PETERSBURG
ZWEI GRIECHISCHE TONGEEÄSSE
AQUARELLE ZUR VERANSCHAULICHUNG DER FARBENWIRKUNG OBIGER STÜCKE
ZWEI POLYCHROME TONOEFÄSSE AUS DER KAISERL ERMITAGE IN ST. PETERSBURG 173
weißen Haube bedeckt, die oben mit einer gemalten
Rosette verziert ist. Die Federn der Flügel sind
nicht plastisch modelliert, sondern durch verschiedene
Schattierungen blau wiedergegeben; die Schwanz¬
spitze ist auch vergoldet. Die Basis ist unten schwarz
(die Farbe hat durch das Brennen einen etwas röt¬
lichen Ton bekommen), darüber sind die Seitenflächen
der Basis mattrot, oben mit lichtem saftigen Blau
gefärbt, der Würfel unter dem Körper der Sphinx
und der schmale Streifen unter den Flügeln sind
gleichfalls mattrot, die Arabesken auf allen drei Seiten
des Würfels weiß gemalt. Nur der Hals und der
Henkel deuten darauf hin, daß wir hier eine Lekythos
vor uns haben; sie sind aber hinter dem Kopfe der
Sphinx angebracht und stören den schönen Qesamt-
eindruck keineswegs. Am Halse der Lekythos ist
das übliche Ornament angebracht, zwischen den
Flügeln der Sphinx befindet sich ein rotfiguriges
Palmetten- und Rankenornament, wie es für das 5. Jahr¬
hundert charakteristisch ist (s. Abb. auf der nächsten
Seite); auch der Stil weist diese Terrakottastatuette durch¬
aus in das 5. Jahrhundert. Um den Hals zieht sich
ein Kranz mit vergoldeten Früchten, die wie spitze
Zäpfchen gebildet sind. Die Vase ist mit einer dünnen
Schicht Pfeifenton bedeckt, der bemalt ist, nicht mit
gewöhnlichen Wasserfarben, sondern wohl mit Leim¬
wasserfarben, wodurch sich auch die gute Erhaltung
erklärt. Der Körper der Sphinx und das Gesicht
haben einen glänzenden Ton wie polierter, gewachster
Marmor oder Elfenbein, die übrigen Farben sind
matt. Die ganze Lekythos ist 21 Zentimeter hoch,
die Sphinx allein 17 Zentimeter. Bei der Auffindung
soll die Statuette tadellos erhalten gewesen sein, wie
eben gemacht: das kann man von ihr heute nicht
mehr ganz behaupten. Auf der Hauptseite, wo der
Körper der Sphinx im Profil nach rechts gewendet
ist, ist auf dem Bauche der Sphinx die Farbe etwas
abgebröckelt; die Schwanzspitze, der Hals und der
Henkel der Lekythos, sowie ein Stückchen von der
Stephane sind abgebrochen gewesen und wieder an¬
geklebt. Die Rückseite dagegen und der Kopf, die
Brust und die Vordertatzen der Sphinx sind tadellos
erhalten; die Farben sind dort von einer Frische,
daß man staunen muß. Über die Bedeutung der
Sphinx zu reden, würde uns hier zu weit führen i).
Die Sphinxe sind nach hellenischem Volksglauben
Würgengel, Todesgeister, die die Lebendigen hinweg¬
raffen. »Aber diese Würgerinnen sind keine hä߬
lichen Dämonen; sie sind schön, berückend durch
Liebreiz, bezaubernd durch Anmut. Sie singen
wunderbar und haben ihr geheimnisvolles Rätsel, das
sie singen, von den Musen gelernt. Der Tod, den
sie bringen, ist hinter Schönheit versteckt; er lauert
unter lachenden Rosen.« Diese schönen Worte Furt-
wänglers passen vorzüglich auch auf unsere ent¬
zückende Statuette; die Sphinx ist hier in der Tat
verführerisch durch ihren Liebreiz und gleichzeitig
furchtbar; sie ist wie eine Katzennatur, sammetweich
1) Siehe zuletzt A. Furtwängler, die Sphinx von Ägina
in dem Münchener Jahrbuch für bildende Kunst I, S. 1 ff.
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XVIII. H. 7
und anschmiegend, bis sie zum Sprunge ausholt und
unentrinnbar ihr Opfer faßt.
Ebenso herrlich, nur etwas schlechter erhalten ist
die andere Terrakotta vase in Gestalt der aus dem
Meere in einer Kammuschel hervorkommenden Aphro¬
dite Anadyomene. Die Statuette Ist 15 Zentimeter
hoch; Hals und Henkel sind abgebrochen; nur die
Ansatzstellen sind erhalten, aber die Form muß genau
dieselbe gewesen sein, wie bei der Sphinx, Auch
der Kopf der Aphrodite und fünf Stücke von der
rechten Muschelschale waren abgebrochen und sind
mit einer mastikartigen Masse geklebt, vielleicht so¬
gar im Altertum: am Halse hat dieser Klebstoff eine
etwas bläuliche Färbung hervorgerufen. Die nackten
Teile der Göttin sind entzückend, die ganze Statuette
ist rosa oder eher hellrot, von porzellanförmigem
Glanz, und besonders auf Wangen und Lippen ist
der Fleischton vorzüglich wiedergegeben. Die Augen
sind nicht so gut erhalten wie bei der Sphinx. Um
den Hals hat die Göttin ein Geschmeide von Perlen
und 21 Bommeln oder länglichen Goldperlen; besser
erhalten ist die Vergoldung bei den Perlenschnüren,
die sich auf der Brust kreuzen und unter den Brüsten
Anhängsel von je drei Perlen haben, die in Form
von Dreiecken angeordnet sind. Das dicht gelockte
Haar über der Stirn, das auf beiden Seiten in je
zwei Locken herabfällt, ebenso wie der Strahlen- oder
Blätterkranz mit elf Rosetten oder Blüten waren auch
ganz vergoldet: die Vergoldung hat sehr gelitten
und an vielen Stellen sieht man nur noch die rot¬
braune Farbe, die die Unterlage für die Vergoldung
gebildet hat. Von den dreizehn Strahlen oder Blät¬
tern, die ursprünglich gebildet waren, sind mehrere
abgebrochen; einige Härchen sind mit ganz feinen
Pinselstrichen auf Stirn und Wangen hineinhängend
gemalt; das Haar auf dem Kopfe steckt in einer
weißen Haube. Die Wellen, die die Muschel um¬
spülen, sind in lichtem Blau gemalt, die Wände der
Muschel selbst sind außen weiß, innen rosa oder
hellrot: der Rand der Muschel und der innerste
Zwickel derselben sind dunkelrosa bis rot gefärbt. In
der linken Muschel ist durch Einwirkung des Lichts
die Farbe ganz verblaßt, so daß nur noch Spuren
davon zu sehen sind; in der rechten Muschel hat
sich die Farbe sehr gut erhalten. Der innere Mantel
der Muschel soll nach Stephani bei der Auffindung
der Statuette grellrot gewesen sein; auch da ist die
Farbe verblaßt. Die Aphroditestatuette gehört dem
Stil nach gleichfalls in das 5. Jahrhundert und stammt
aus derselben attischen Fabrik wie die Sphinx, ist
wohl auch von derselben Künstlerhand geformt wie
sie; wie Collignon und Rayet sie für praxitelisch
haben halten können und sie an das Ende des 4.
oder den Anfang des 3. Jahrhunderts haben setzen
können, ist für mich unerklärlich.
Eine Vermutung mag hier kurz ihren Platz fin¬
den. Beide Statuetten sind so schön und form¬
vollendet, daß sie auf bedeutende Vorbilder zurück¬
gehen müssen, und diese haben wir, wenn ich nicht
irre, in einem Werke des Phidias, dem Throne des
Zeus in Olympia, zu suchen. Als Stützen der Arm-
25
174 ZWEI POLYCHROME TONOEEÄSSE AUS DER KAISERL. ERMITAGE IN ST. PETERSBURG
A. DAS ORNAMENT ZWISCHEN DEN
FLÜGELN
leimen des Thrones waren nach Tansanias (V, ii, 2) zwei
Sphinxe angebracht, die Jünglinge zwischen ihren Klauen hielten,
als Symbol dafür, daß Zeus Herr sei über Leben und Tod, und
unsere Statuette erinnert sehr an ein Goldelfenbeinbild, die
sitzende Stellung der Sphinx eignet sich vorzüglich als Armstütze,
nur das Motiv ist etwas, dem Charakter des Gefäßes entspre¬
chend, verändert: der tote Jüngling zwischen den Klauen der
Sphinx ist fortgelassen. Eür die Aphrodite hat dasselbe schon
Stephani vermutet. Nach Tansanias (V, 11, 8) war an der Basis
des Thrones die Geburt der Aphrodite dargestellt: Eros emp¬
fängt die aus dem Meere auftauchende Göttin, Peitho bekränzt
sie, alle großen Götter sind anwesend. Die Art, wie der Vor¬
wurf, die Geburt der Aphrodite darzustellen, hier in unserer
Statuette gelöst ist, und die strahlende majestätische Schönheit
der Göttin sind eines so genialen Künstlers wie Phidias wohl
würdig. Doch stelle ich das hier als bloße Vermutung hin:
vielleicht findet sich noch einmal eine Gelegenheit, ausführlicher
darauf zurückzukommen.
Unsere beiden Statuetten sind einzig in ihrer Art nicht nur
wegen der tadellosen Arbeit und der vorzüglichen Erhaltung,
sondern ein besonderer Reiz dieser Eiguren liegt auch gerade
darin, daß uns in ihnen die Verbindung der Malerei mit der
Plastik so anschaulich entgegentritt, wie es bei den übrigen be¬
malten Terrakotten nicht annähernd der Pall ist. Seit den Tagen
von Winckelmann und Goethe haben sich die Ansichten über die
Polychromie der antiken Skulpturen sehr geändert. Damals galt
es als ausgemacht, daß die antike Plastik Bemalung und Earbe
ausschließe; heutzutage gibt es wohl kaum einen Archäologen,
der diesen Glaubenssatz noch nachsprechen dürfte’). Die wenigen
Angaben, die wir in unseren antiken Schriftquellen haben, stim¬
men so vorzüglich zu den Ergebnissen der Ausgrabungen der
letzten Jahrzehnte, daß über die Polychromie der antiken Skul¬
pturen heute kein Zweifel mehr bestehen kann; namentlich die
Punde in Olympia, Delphi, Delos, auf der Akropolis von Athen,
in der Nekropolis von Sidon, um nur das Wichtigste zu nennen,
und andere haben unsere Kenntnisse so bereichert, daß wir über
diese Frage jetzt ganz anders urteilen können wie vor dreißig
Jahren. Wir können jetzt zu Recht behaupten, daß bis weit in
die Kaiserzeit hinein Bemalung kaum je ganz gefehlt hat, wenn
sie auch zu verschiedenen Zeiten verschieden behandelt worden
ist. Zur Erläuterung nur einige Beispiele. Die alten Götterbilder
waren ursprünglich holzgeschnitzt und natürlich bunt gemalt. Auch
die früharchaischen Porosskulpturen, die sich auf der Akropolis
von Athen gefunden haben (Hydragiebel, Typhongiebel, Stier-
1) Zuletzt hat über diese Frage gehandelt A. Furtwängler, Ägina,
das Heiligtum der Aphaia, München igo6, S. 304 ff. Vergl. auch M.
Collignon, la polychromie dans la sculpture grecque, Paris 1898, wo
S. 97 ff. die wichtigste Literatur zitiert ist, und E. Gardner, a handbook
of greek sculpture, London 1905, S. 28 ff.
FL DIE I’ALMETTE AM
HENKEL
C. DAS ORNAMENT VORN AM
HALSE
EINZFLHFITEN VON DER SITZENDEN SI’HINX
Naliirliclie Grüße
ZWEI POLYCHROME TONOEFÄSSE AUS DER KAISERL ERMITAGE IN ST. PETERSBURG 175
gruppe), zeigen noch volle Bemalung, auch der nackten
Fleischteile: das Material, der poröse Muschelkalkstein,
war eben so minderwertig, daß es verdeckt werden
mußte. Die Einführung des Marmors in die Skul¬
ptur bringt einen großen Wandel mit sich: man will
das edle Material recht zur Geltung kommen lassen
und doch auf den Reiz der Farbe nicht ganz ver¬
zichten. Die Koren von der Akropolis in Athen, die
Ägineten und die sonstigen archaischen Marmor¬
skulpturen lehren uns, wie man sich dabei geholfen
hat: die nackten Teile werden nicht mehr bemalt,
auch das Gewand wird nicht mehr durchweg gefärbt,
sondern nur mit farbigen Säumen und Ornamenten
geschmückt. Die antiken Quellen geben uns auch
die Bezeichnung für dieses doppelte Verfahren: Gänosis
und circumlitio. Die Gänosis bestand in einer Ab¬
tönung, Beizung, Lasierung des Marmors durch Ein¬
reibung mit flüssigem, mit Öl vermengten punischem
Wachs, das durch nahe daran gehaltene Kohlenbecken
zur gleichmäßigen Verteilung über die ganze Fläche
und zum Eindringen in die Poren des Marmors ge¬
bracht wurde. Vitruv VII, g, der uns dieses Verfahren
beschreibt, bemerkt ausdrücklich, daß es für die
nackten Fleischteile angewendet worden sei. Dadurch
wurde der grelle Ton des Marmors gemildert und
eine gewisse Weichheit und Ähnlichkeit mit der
menschlichen Epidermis hervorgerufen, ohne daß das
feine Korn des Marmors darunter litt. Der Ausdruck
circumlitio (Ummalung) deutet darauf hin, daß hier
nur eine Prozedur gemeint sein kann, bei der gewisse
Teile, Umrisse größerer Flächen usw. farbig behandelt
wurden. Denn sonst hätte auch die bekannte Er¬
zählung, daß Praxiteles diejenigen seiner Statuen am
meisten geschätzt habe, an welche der berühmte Maler
Nikias Hand angelegt habe, gar keinen Sinn; zum
Anstreichen hätte sich Nikias kaum hergegeben, und
gerade so feine Terrakotten, wie unsere beiden Vasen,
zeigen recht deutlich, was für Effekte, welche Leben¬
digkeit, welcher Liebreiz durch künstlerische circum¬
litio erreicht werden konnten. Der freie große Stil,
der sich gleich nach den Perserkriegen zu entfalten
beginnt, liebt wieder Bemalung größerer Flächen und
meidet die zierliche Musterung, wie wir sie bei den
Koren und Ägineten finden. Unsere beiden Vasen
gehören, wie wir gesehen haben, an das Ende des
5. Jahrhunderts: da wir von der Bemalung der Par¬
thenonskulpturen leider nichts Genaueres wissen, so
können wir zum Vergleich nur den lycischen Sarko¬
phag aus Sidon heranziehen, und da sehen wir auch,
wie sich die Sphinxe vom blauen Hintergründe
weiß abheben und nur Haar und Augen bemalt sind.
Aus dem 4. Jahrhundert haben wir einige Hauptstücke
für antike Polychromie, den Sarkophag der Klage¬
frauen und den sogenannten Alexandersarkophag aus
Sidon: überall sehen wir Bemalung, nur die Farben¬
skala ist reicher geworden: statt der Beschränkung
auf Rot und Blau, wie wir sie bei den archaischen
Skulpturen finden, werden jetzt auch Gelb, Rosa,
Violett, Braunrot und ähnliche Farben verwandt und
größere Flächen, wie z. B. die ganzen Gewänder usw.
bemalt. Beim Hermes des Praxiteles in Olympia
finden sich auch sichere Farbspuren am Haar und
an den Sandalen. Aus späterer Zeit erwähne ich nur
eine Aphroditestatue aus Pompeji, wo noch das ganze
Gewand rosa, gelb usw. gefärbt ist, die Augustus-
statue von Prima porta usw.; die Anwendung von
verschiedenfarbigen Steinen in der späteren Kaiserzeit
ist ja auch nur ein Ersatz für die Bemalung. So
sehen wir, wie sich durch die ganze Kunstgeschichte
die Bemalung nachweisen läßt. Das Nackte ist bei
den Marmorskulpturen wohl nie bemalt gewesen; man
begnügte sich mit der Gänosis. Ob darunter bis¬
weilen eine farbige Lasur, die den Marmor durch¬
schimmern ließ, z. B. auf den Wangen, wie bei
unseren Statuetten, vor der Gänosis angewendet wor¬
den ist, ist schwer zu sagen und wohl kaum je die
Regel gewesen; wir können sie jedenfalls an keiner
der erhaltenen Statuen nachweisen. Dagegen die
Haare, der Bart, die Augen, wohl auch die Brust¬
warzen und die Lippen sind wohl stets bemalt ge¬
wesen, ebenso wie das Gewand, die Sandalen und
sonstiges Beiwerk (Helme, Waffen, Schmuck usw.),
wenn es nicht aus Metall eingesetzt war. Bestimmte
Gesetze können dabei natürlich nicht aufgestellt wer¬
den, jeder Künstler hatte vollkommene Freiheit, wie
weit er bei der Färbung seines Bildwerkes gehen
wollte. Dabei kam es wohl auch sehr darauf an, ob
das Bild allein für sich zu wirken bestimmt war,
oder ob es als Teil eines größeren Ganzen z. B. als
Schmuck eines Bauwerks dienen sollte. Da die Ar¬
chitekturstücke selbst in Farbenpracht erstrahlten, so
mußte auch der bildliche Schmuck, die Giebel, Metopen,
Friese bemalt werden. Jedenfalls hielt sich die Be¬
malung stets in gewissen künstlerischen Grenzen und
die griechischen Marmorskulpturen haben nie den
Eindruck von bemalten Wachsfiguren hervorgerufen.
Die griechischen Künstler haben sich bemüht, ihre
lebenden Modelle soweit als möglich in Form und
Farbe zu kopieren, haben aber stets die Grenzen
ihres Könnens erkannt und sie nie überschritten; die
Bemalung bleibt stets konventionell und die Wahl
der Farben beschränkt.
■-25
LANDHAUS. ARCHITEKT ARMAS LINDOREN
MODERNE BAUKUNST IN FINNLAND
Von Alarik Tavaststjerna in Helsingfors
Man wird die neuen Strömungen in der finn-
ländischen Baukunst unserer Tage schwerlich
richtig charakterisieren und beurteilen können,
wenn man nicht die Art der Architektur in Betracht
zieht, die der modernen zeitlich voranging. Verwandte
Züge verknüpfen diese Bauarten nicht miteinander,
wohl aber die schärfsten Kontraste.
Im großen und ganzen gesehen trägt die Archi¬
tektur des verflossenen Jahrhunderts in Finnland durch¬
aus ein ausländisches Gepräge. Dieses läßt sich aufs
einfachste erklären. Noch vor hundert Jahren bildete
Finnland einen unselbständigen Teil Schwedens. Bei
der Vereinigung mit Rußland — 1809 und später
— wurde der Grundstein zu der eigentümlichen
Staatsform des Landes gelegt. Neue Möglichkeiten
für ein entwickeltes Kulturleben eröffneten sich hier¬
mit. Selbstverständlich sollten hieraus der Baukunst
Aufgaben neuen, monumentalen Charakters erstehen.
Ein Herrscherwort — und die Kleinstadt Helsingfors
verwandelte sich in die Hauptstadt des neuen Gro߬
fürstentums. Gewaltige Bauprobleme standen jetzt
vor der Tür. Wo aber gediegene, geschulte Kräfte
zu deren Lösung finden? Im Lande selbst hatte man
solche Kräfte nicht zur Verfügung; die finnländische
Kunst — besonders die Baukunst — führte nämlich
zu jener Zeit ein kaum merkbares, schwächliches
Leben. Man maßte sich an das Ausland wenden.
Und dies wurde für Jahrzehnte zur Regel. Entweder
wurden Ausländer einberufen, oder es waren ein¬
heimische Architekten gezwungen, ihre Ausbildung
im Auslande zu erwerben. Erst 1879 wurde schlie߬
lich durch die Einrichtung des Polytechnischen In¬
stitutes in Helsingfors die Ausbildung einheimischer
Architekten in Finnland ermöglicht. Aber noch lange
danach vernahm man den einmal angeschlagenen
fremden Grundton.
Von den Ausländern, die in Finnland gebaut
haben, wurde der zuerst einberufene ohne Zweifel
auch der bedeutendste; Karl Ludwig Engel, von Ge¬
burt ein Deutscher. Von 1816 an in unserem Lande
und besonders in Helsingfors tätig, erhielt er die be¬
deutungsvolle Aufgabe, die politische und kulturelle
Existenz des neugebildeten Staates in architektonischen
Formen zu verkörpern. Engel errichtete Bauten für
den finnländischen Senat, die Universität und deren
Bibliothek, für die lutherische Landeskirche, von vielen
kleineren Aufträgen nicht zu reden. Und wie scharf
die finnländische Architektur unserer Tage auch von
seiner Baukunst abweicht, muß doch immer zugegeben
werden, daß Engel nach einem groß angelegten Plan
gearbeitet und unserem Helsingfors einen lichten und
offenen, freien, monumentalen Charakter hat verleihen
wollen. Den Neoklassizismus, der die Baukunst im
Auslande beherrschte, verpflanzte er mit seinen ein¬
fach-grandiosen Schöpfungen nach Finnland. Als
dann, nach Engels Tode im Jahre 1840, die Ent¬
wickelung unserer Baukunst allmählich andere Bahnen
einschlug, bestand ein auffallender verwandter Zug
zwischen der antikisierenden Richtung Engels und
der darauffolgenden sogenannten »Renaissance«: beide
strebten sie bewußt nach einer möglichst solennen
Gestaltung nach außen und nach innen. Hierbei
wurde aber kein Unterschied gemacht zwischen der
abweichenden Art der entsprechenden Aufgaben. Das
Feierliche, durchaus am Platze in bezug auf Bau¬
fragen öffentlichen Charakters, wurde auch auf Privat¬
bauten übertragen — niemand, am wenigsten der
Architekt selbst, sah darin etwas den Geschmack ver-
MODERNE BAUKUNST IN FINNLAND
177
PARTIE DES GESCHÄFTS- UND WOHNHAUSES »POHJOLA« IN HELSINGFORS
ARCHITEKTEN : GESELLIUS-LINDGREN-SAARINEN
letzendes. Herausgerissen aus der warmen, sonnigen
Umwelt des Südens, wurde die reich und mächtig
geformte Palastarchiteklur der Renaissance zur Ge¬
staltung bürgerlicher Häuser im trüben Norden redu¬
ziert. Wie verflachend und zur Unwahrheit verleitend
dieses natürlich auf den schaffenden Baukünstler
wirken mußte, sah man nicht ein, ebensowenig wie
das lächerlich Aufgeblasene in dieser Transformation.
Dem Ganzen fehlte es an Klangfülle: es war entweder
matt oder gespreizt. Eine volltönende, breit harmo¬
nisierte Orchestersymphonie wurde auf einer Zither
oder Guitarre gespielt.
Alles dieses mußte Opposition hervorrufen. Und
alsbald erklang ein neuer Ton in der Architektur des
Landes: innig, trotzig, voller jugendlicher Begei¬
sterung.
Was bekämpfte man? Woran glaubte man; wel¬
chem Ideal jubelte man zu?
Es war die mutige Reaktion junger, reichbegabter
Talente gegen fade Schablone, gegen die seelenlos
spießbürgerliche Behandlung künstlerischer Probleme,
gegen die antiindividualistischen und antinationalen
Tendenzen, welche im Laufe von Jahrzehnten die
finnländische Baukunst durchsäuert und ihre gesunde
Entwickelung verhindert hatten. Mit der Wärme der
Überzeugung und zugleich der Verachtung glaubte
man an eine Baukunst, die frei war von all diesem
Übel, frei von jedem leeren Prunk, jeder aufge¬
schminkten Lüge, an eine eigene, von Grund aus
finnländische Architektur. Wahrheit forderte man
und über den Sieg der Wahrheit jubelte man.
Um die Mitte der neunziger Jahre des vorigen
Jahrhunderts begann die Revolte. Die Pioniere waren
die jungen Baukünstler Eliel Saarinen, Armas Lind-
gren und Herman OeselUus. Noch Schüler der Ar¬
chitekturabteilung des Polytechnikums, erhielten sie
im Jahre 1897 nach einem siegreich bestandenen
Wettbewerb den Auftrag ein vierstöcki¬
ges Privathaus^) in Helsingfors zu bauen.
Verhältnismäßig unansehnlich, ist der
Bau doch bemerkenswert als die erste
Schöpfung der Firma » Gesellius-Lindgren-
Saarinen'<, die später die Führung der
neuen Richtung übernehmen sollte. Viele
Ideen, die damals neue Bahnen andeu¬
teten, haben hier ihre erste Gestaltung
gefunden (obwohl ihnen freilich noch
manches Tastende, Ungefestigte anhaftet),
und dieser Bau kann also gewissermaßen
als der Ausgangspunkt des art nouveau
innerhalb der finnländischen Architektur
gelten.
Um stärker die Eigenart des neuen
Stiles hervorzuheben wäre es verlockend,
ausführlich unsere Renaissancearchitektur
zu charakterisieren. Aber es ist genügend,
den schon erwähnten typischen Charak¬
terzug derselben, die Feierlichkeit, noch
einmal zu unterstreichen. Man betrachte
doch die Fassaden: ein militärisch
strammes, streng symmetrisch gebundenes
Grundschema mit gleichen Fenstern in gleichen Grup¬
pen oder gleichen Abständen voneinander; das Dach
möglichst wenig abschüssig, oft am Gesims mit einer
Balustrade versehen, deren Aufgabe es unter anderen
ist, die nicht beabsichtigte unruhige Wirkung der un¬
regelmäßig über die Dachlinie emporragenden Schorn¬
steine zu benehmen; die Ornamentik schließlich ohne
Individualität, allgemeine stereotype Phrasen, dem
1) Das Tallbergsche Haus im Stadtteil »Skatudden
»LÄKARENESHUS (DAS HAUS DER ÄRZTE) IN HELSINGFORS
ARCHITEKTEN: GESELLIUS-LINDGREN-SAARINEN
178
MODERNE BAUKUNST IN EINNLAND
fleißig benutzten Nachschlagebuch der Stilarten ent¬
nommen — das sind die typischen Grundlinien in
der ein für allemal bestimmten Paradeuniform. Und
das Interieur: die Zimmer, präzise viereckige Säle,
Seite an Seite, liegen meistens en file-, die Türen
sind breit, zweiflügelig (die einflügelige Tür wird als
zu simpel« nur für Küche, Vorratskammer und der¬
gleichen gebraucht) und dann — eine scheinbare
Kleinigkeit — in jedem, selbst dem kleinsten Zimmer
wird die Mitte der Decke durch eine papierne Rosette,
Gips imitierend und mit einem eisernen Haken darin,
pointiert; es wird gar nicht in Betracht genommen,
ob dieses oder jenes Zimmer seine Hauptquelle künst¬
lichen Lichts gerade dort haben muß. Das Solenne
ist die Seele des Renaissancehauses.
Gerade dieses Solenne war aber den Männern
der neuen Richtung ein Dorn im Auge. Es ver¬
giftete ja augenscheinlich die private Architektur und
gab der öffentlichen das Gepräge einer kalten, von
außen aufgezwimgenen, schablonenhaften Neutralität.
Von all dem Banalen, in ein System Gebannten und
kosmopolitisch Gefärbten wollte man los kommen
und statt dessen intuitiv, aus dem Geiste der eigenen
Nation schaffen. Ein bemerktes Resultat dieser Be¬
strebungen wurde der finnländische Pavillon auf der
Pariser Ausstellung iQoo, eine Schöpfung der Firma
Gesellins - Lindgren - Saarinen. Sie wirkte wie eine
Fanfare: geh in dich! Kehre zurück zu der guten
alten Kunst deiner Heimat! Betrachte diese altertüm¬
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büWiSrsssbbb I li -‘3
lichen, stimmungsvollen Dorfkirchen, unsere soliden
Burgen aus dem Mittelalter! Laß dich von diesem
Anblick begeistern und schmücke dein Werk nicht
mit den nichtssagenden konventionellen Gipsdekora¬
tionen, sondern mit den Formen und Farben, welche
dir aus der Fauna und Flora der Heimat entgegen¬
leuchten. Wirf die Schablone beiseite und folge
deinem Instinkt! Laß das Lineal und halle dir stets
den Zweck des Hauses vor Angen! So und nur so
wird deine Schöpfung Leben und Wahrheit gewinnen.
Ein Programm wie dieses mußte lebhaften Ein¬
druck machen auf junge, warmblütige Gemüter, die
das lote Kramen in Stilarten herzlich satt hatten und
sich nach einer neuen, lebendigen Parole sehnten.
Die Renaissance wurde kühn und radikal annulliert.
Bauten, welche die Richtung in dieser Beziehung
repräsentierten, entstanden bald in Menge. Welches
Aufsehen erregte nicht das igoi erbaute Geschäfts¬
und Wohnhaus Pohjola und das für einige Ärzte
erbaute Privathaus, Läkarcncs liiis (Haus der Ärzte)
genannt, beide in Helsingfors und Schöpfungen der
Firma Gesellius-Lindgren-Saarinen: »Pohjola«, diese
ungeheuerliche architektonische Phanlasmagorie, wo
ein ganzer Schwarm absonderlicher Gestalten und
Formen der Urzeit in dem schweren, düstern Material
des Hauses zu leben scheint und tatsächlich auch
hier und da fratzenhaft hervorwächst, einen Hauch
1
PORTAL VORHALLE UND TREPPENHAUS
IM HAUSE DES POLYTECHNISCHEN VEREINS ( SAMPO ) IN HELSINGFORS. ARCHITEKTEN: LINDAHL & THOME
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PARTIE EINES WOHNHAUSES IN HELSINGEORS VORHALLE EINES GESCHÄFTSHAUSES IN WIBORG
ARCHITEKT: USKO NYSTRÖM ARCHITEKT; ALLAN SCHULMAN
i8o
MODERNE BAUKUNST IN EINNLAND
DIE JOHANNESKIRCHE IN TAMMERFORS. ARCH,: LARS SONCK
sagenhafter Mystik über das Haus verbreitend; Das
Haus der Ärzte« wiederum mit seinen glatten, ge¬
tünchten Fassaden ohne jede Leiste oder Fenster¬
umrahmungen und allen Dekor reduziert auf die
kleinen symbolischen Figuren des Eckenerkers — eine
Apotheose der Einfachheit ohnegleichen bisher hier
in Finnland.
Man kann behaupten, daß diese beiden Häuser je
eine Entwickelungslinie der finnländischen Architektur
eröffnet haben. »Das Haus der Ärzte« wurde der
Urtypus aller jener hellgetünchten, mehr
oder weniger spärlich dekorierten Häuser
unter steilen roten Ziegeldächern, die
man jetzt allgemein bei uns sieht. »Poh-
jola« seinerseits inaugurierte bei uns eine
Serie Häuser mit Fassaden aus natürlichem
Stein und mit ausgeprägt rustiken Formen.
Betrachtet man die neue Richtung ge¬
nauer, so wird man auf jedem Schritt
deren Charakter der Opposition gegen die
Renaissance deutlich gewahr.
Von innen nach außen — nicht um¬
gekehrt — soll die Komposition geschehen.
Der in allen Beziehungen zweckmäßigen
Gestaltung des Zimmers wird darum großes
Interesse zugewandt. Für die öffentliche
Architektur ist in dieser Beziehung der von
Gesellius-Lindgren-Saarinen ausgearbeitete
Entwurf zu einem Historisch-Ethnographi¬
schen Museum in Helsingfors^) in hohem
Grade charakteristisch, denn dieser Entwurf beruht auf
modernen Ideen, die zwar im Auslande entstanden, aber
desselben Geistes Kinder sind wie die neue Richtung bei
uns und bei ihrerVerwirklichung einen stark betonten na¬
tionalen Charakter erhalten haben. Im Privathause wird das
Salongepräge vermieden. Die Einzeltür kommt wieder
zu Ehren, oft kombiniert mit einem schmäleren Teil,
der gewöhnlich zugeriegelt ist und nur bei Bedarf
geöffnet wird. Die Wohnräume sind nur mit Rück¬
sicht auf wirkliche Bewohnbarkeit und Möglichkeit
gemütlicher Einrichtung entworfen, Faktoren, die wäh¬
rend der Renaissance - Periode kaum in Betracht
kamen. Die Konsequenz hiervon ist, daß die früher
dominierende, in einem Zuge linierte Mittelmauer ihr
»noli me tangere« aufgeben mußte und ebenso die
gerade Außenmauer: ein oder zwei »Kniee« in der
ersteren kann wunderbar leicht die Entstehung stören¬
den Verkehrslinien in einer Wohnung verhindern,
und in wie hohem Grade eine Erkerpartie oder sogar
eine schwache Anschwellung der Fassade nach außen
zur Belebung eines Interieurs beitragen, ist überflüssig
zu erläutern. Und in der Außenarchitektur sind diese
Maueranschwellungen für die neue Kunst ebenso
charakteristisch wie unentbehrlich geworden. Sie wer¬
den fast unglaublich in der Form variiert — oft an
ein und demselben Hause und offenbaren so die
starke Neigung für das Malerische, die die Richtung
auszeichnet. Vor allem flieht man die trockene Regel,
und die unerbittlichen Imperative der Symmetrie sind
freieren Gestaltungsprinzipien zum Opfer gefallen.
Es lag im Wesen der Opposition, nicht nur
die Renaissance zu verleugnen, sondern auch positiv
zu beweisen, daß man die Kraft hatte etwas Neues
zu schaffen. Die Lust neue Formen und Kombina¬
tionen zu finden macht sich daher lebhaft geltend.
Das steile, gewöhnlich rote Dach, das recht oft über
einige Mauerpartien hinabgleitend sich diesen an¬
schmiegt, damit andere um so schärfer hervorgehoben
werden, trägt mit seinen Schornsteinen und Mansarden-
i) Noch im Bau begriffen.
KLEINKINDERSCHULE IN HELSINOFORS. ARCH.: W. |UNO UND FABRITIUS
MODERNE BAUKUNST IN FINNLAND
WOHNHAUS IN HELSINGFORS. ARCHITEKTEN: B. JUNO UND BOMANSON
fenstern dazu bei, der äußeren Physiogno¬
mie des Hauses einen neuen, eigenartigen
Zug zu verleihen. Ebenso verhält es sich
mit den Fenstern. Ihre Größe, Lage und
Form variieren sehr. Und das nicht nur
der Fassade wegen. Im Gegenteil ist
hier der Wunsch, jedem Zimmer eine so¬
wohl in praktischer wie künstlerischer Be¬
ziehung möglichst vorteilhafte Beleuchtung
zu geben, ein mitbestimmender Faktor.
Der Erker ist schon erwähnt; die Loggia
kommt ab und zu vor, trotzdem sie für
das hiesige Klima ungeeignet ist. Zu
diesen die Fassade belebenden Elementen
gesellen sich der Turm oder eigentlich
der Turmhelm und der Spitzgiebel, Mo¬
mente, die für die Silhouette des Hauses
von großer Bedeutung sind. Alle diese
Architekturmotive asymmetrisch gegenein¬
ander zu balancieren ist durchaus nicht
leicht, und es ist nicht jedem beschert, diese
Aufgabe in künstlerischem Geiste zu lösen.
Das merkt man leider nur zu oft in un¬
serer neuen Architektur. In der neuesten
dagegen merkt man recht allgemein ein Streben
nach symmetrischer Ausbildung der Fassade. Es ist
augenscheinlich schwer, wenn nicht gar unmöglich,
in solchen Städten wie Helsingfors das malerische Prin¬
zip mit Glück durchzuführen; dazu sind die Straßen
und Plätze hier allzu geradlinig angelegt worden.
Nachdem die Renaissance jetzt bei uns definitiv ent¬
thront worden, scheint eine unparteiische Betrach-
OESCHÄFTS- UND WOHNHAUS PIRTTI IN HELSINGFORS
ARCHITEKTEN : GESELLIUS-LINDGREN-SAARINEN
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XVIII. H. 7
tung außerdem ergeben zu haben, daß die äußere
Symmetrie an sich nicht von Übel sei, sondern viel¬
mehr in gewissen Fällen gut mit den Forderungen
des neuen Ideals in bezug auf die innere Architektur
vereinbar ist. Wo also Bedingungen für die äußere
Symmetrie vorhanden waren, ist diese wieder ange¬
wandt worden. Aber daraus folgt nicht, daß ein all¬
gemeiner Rückzug zum statiis qiio ante stattgefunden
hätte. Dieses sei erwähnt als ein Beweis für die
Lebenskraft der neuen Richtung und zugleich als ein
gutes Omen für eine zukünftige, immer scharfsichtigere
Entwickelung unserer Baukunst.
Oder: sollte mit der Symmetrie wirklich der ein¬
mal vollkommen abgeschaffte Dekor der Renaissance
wieder von neuem erstehen?
Das scheint vollkommen unmöglich. Das Detail
der Renaissance mußte verschwinden, denn es besaß
eine Feinheit und Vollendung, die jeder weiteren
Entwickelung trotzten. Man konnte ja nicht hier
stehen bleiben, wenn man in allen übrigen Beziehungen
vorwärts strebte. Das meue« Detail zerschnitt des¬
halb kurzerhand jedes Band mit der alten Kunst. Sein
Wesen ist neu in der Wahl der Motive: die ein¬
heimisch-nordische Tier- und Pflanzenwelt muß immer¬
fort neue Motive liefern und wird mit menschen¬
ähnlichen mytischen Gestalten und Formen verknüpft,
diese oft grausam verzerrt oder hinterlistig hervor¬
lugend. Und sehr charakteristisch für das Neue ist,
daß dies Dekor, wo es im Putz oder natürlichem
Stein gebildet ist, äußerst intim mit seinem Material
zusammenhängt. Diese Fratzen und Gestalten scheinen
im Stein zu wurzeln und zu leben und nur für einen
Augenblick an die Oberfläche desselben geschlüpft
zu sein, um die einfältige Menschenwelt zu betrachten
oder zu verhöhnen. Alles »Angeklebte«, wie die
Renaissance es liebt, wird streng vermieden. Außer die¬
sem bildnerischen Schmuck macht sich letzter Zeit auch
26
MODERNE BAUKUNST IN FINNLAND
1 82
INTERIEUR DES GEBETHAUSES IN BERGHALL (H ELSINGFORS)
ARCHITEKT: V. I’ENTTILÄ
eine Verzierung mittels direkt im Bewurf angebrachter
Steinmosaik bemerkbar: eine einfache Methode von
eigenartiger Wirkung. Selbstverständlich hat man die
Farbe nicht vergessen sowohl im Ganzen wie im
Detail, besonders was die Innenarchitektur betrifft;
der Farbe hat die moderne Baukunst in Finnland
manche schöne Effekte zu verdanken, leider trifft
aber auch zuweilen das Gegenteil ein. Nunmehr
macht sich aber in allem Dekor ein Streben nach
größerer Verfeinerung und Veredelung des Rohen
und Primitiven geltend.
Schließlich sei es noch erwähnt, daß der neue
Stil dem Material und dessen naturgemäßer Behand¬
lung eine große Bedeutung zumißt. Die harten, sehr
schönen Granitsorten, an denen das Land so reich
ist, sind immer mehr in Anwendung gekommen,
sogar bei Bekleidung ganzer Fassaden, und ebenso
der sogenannte Topfstein (täljsten), diese grauschim¬
mernde, weiche, außerordentlich bildbare, aber zu¬
gleich kräftige Steinart, die sehr reichlich im östlichen
Finnland vorkommt. Und dem Putz wird es nicht
mehr gestattet, natürlichen Stein vorzutäuschen. Der
Putz wird seinen individuellen Möglichkeiten gemäß
behandelt und auf diese Weise sind ihm Eigenschaften
abgewonnen worden, die in bemerkenswertem Grade
das Aussehen eines Hauses beleben können.
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Daß die baukünstlerische Komposition sich all¬
mählich aus dem Bann des »Stils« befreit hatte, wurde
als ein Segen empfunden. Und es war ein Segen,
obwohl diese Befreiung natürlich den Keim zu Gu¬
tem wie Bösem in sich trug. Auf der Grundlage
der Selbständigkeit sollte der Architekt arbeiten. Die
Hinweisung auf die einheimische Baukunst ver¬
gangener Jahrhunderte bezweckte nur den Blick auf
eigene verschollene Schätze der Nation zu lenken
und das Gemüt mit jener warmen Stimmung zu
erfüllen, die allein imstande ist, den Gedanken zu
beflügeln und der Hand Festigkeit zu verleihen. Das
alles wollte man. Aber die Hinweisung barg eine
Gefahr in sich, sogar für die Führer der Bewegung.
Die Verwirklichung des nationalen Gedankens wurde
nur allzu leicht eine Fessel für die Selbständigkeit und
verleitete zu manchem absurden Anachronismus. Wenn
man sich begeistern ließ von der Stimmung, die über
der Architektur des Mittelalters ruht und kraft dieser
Begeisterung arbeitete, so war es ja natürlich, daß
die Formwelt des Mittelalters wieder hervortrat. So
vergaß man, daß die Gegenwart unzählige Möglich¬
keiten geschmeidiger und eleganter Baugestaltung
darbietet, und begann in der Komposition auf eine
beinahe unglaubliche Art mit schweren Massen,
mit dem zyklopisch Bastanten und roh Behauenen
zu operieren.
Jedoch: die neue Richtung war eine gewaltsame
Opposition gegen die Renaissance und so versteht
man denn psychologisch diesen Zug zu einer Formen¬
welt, die nie geschult, nie übermäßig verfeinert, nie
GESCHÄFTSHAUS »OTAVA« IN HELSINGFORS
ARCHITEKT: KARL LINDAHL
FENSTER AUS
DER PRIVATBANK IN
HELSINOFORS
ARCHITEKTEN;
LARS SONCK UND
WALTER JUNG
WOHNHAUS OLOESBORG« IN HELSINOFORS
ARCHITEKTEN ; OESELLIUS-LINDOREN-SAARINEN
WOHNHAUS IN HELSINOFORS
ARCHITEKT: GUSTAF ESTLÄNDER
KRANKENHAUS »EIRA
IN HELSINOFORS
ARCHITEKT:
LARS SONCK
26
MODERNE BAUKUNST IN FINNLAND
1 84
kunstgemäß ausgemeißelt worden, man versteht diese
Sympathie für das primitiv Solide, das ursprünglich
Wilde. Ein extremes Beispiel für diese Sympathie ist
das Vereinshaus »Sampo< , erbaut 1903 in Helsingfors.
Man sehe nur die gewaltigen rohen Blöcke, die in
der Eintrittshalle den Gewölben ihren niedrig ange¬
brachten Anfang verleihen, man sehe den roh ge¬
zimmerten Treppenpfosten, die mächtigen Einfas¬
sungen subtiler elektrischer Beleuchtungskörper, man
sehe diese ungeheueren Beschläge an den Türen —
und der Griff! - Ja, das Haus existiert wirklich:
Es ist ein wertvoller Beleg für die Übertreibungen
der neuen Richtung.
Die Neigung für das trotzig Massive, für das den
Menschen der Gegenwart Abschreckende, ist auch
aus einem andern Gesichtspunkte erklärlich. Man
erinnere sich, daß Bobrikoffs Gendarmenfaust gerade
zur Zeit der Entstehung der neuen Richtung Finn¬
land derb gepackt hatte. Und mir scheint, daß man
kaum fehlgreifen dürfte, wenn man behauptet, daß
der politische Druck, die Unsicherheit an Leib und
Gut, in bestimmter Richtung die Architekten — be¬
wußt oder unbewußt • — in der Wahl der Formen
beeinflußt haben. Diese schwerfälligen, geschlossenen,
sozusagen nach innen gekehrten Kompositionen, die
man jetzt oft bei uns sieht, scheinen gleichsam alle
Kraft gesammelt zu haben in Erwartung eines drohen¬
den, gefährlichen Feindes. Der massige, breite, niedrige
Turm, einige an Schießscharten erinnernde Fenster,
Scheiben kleinsten Formats, niedrige, in Spitzbogen¬
form gebaute Tore, sowie in Granitblöcke gefaßte
Eingänge, deren Türen mit tüchtigen Beschlägen ver¬
sehen sind — alles dieses, so charakteristisch für die
moderne Baukunst in Finnland, hat derselben von
Lästerzungen den Spottnamen Gefängnisarchitektur«
eingebracht, obwohl dessen deutliche Formensprache
zu sagen scheint: ich will meinen Herrn und Ge¬
bieter beschützen;
haltet Euch fern Ihr
Räuber und schlei¬
chendes Gesindel!
Die oben ange¬
deuteten Charakter¬
züge offenbaren die
deutliche Neigung,
die Bauart längst ver¬
gangener, stark er¬
regter und unsiche¬
rer Zeiten zu attrap-
pieren. Das Roman¬
tisch-Malerische ist
das Ideal, das dem
Architekten vor¬
schwebt. Aber gar
oft hat dieses Ideal
derart den Baukünst¬
ler geblendet und
verwirrt , daß er
bei der Kompo¬
sition die sachlich
eindringende Ana¬
lyse der vorliegenden modernen Aufgabe aus den
Augen verloren hat. Um den bezweckten Stimmungs¬
effekt zu erzielen, wird die natürliche und zeitgemäße
Aufgabe auf eine unnatürliche und unzeitgemäße
Weise gelöst. Hierin liegt die Schwäche der Rich¬
tung, die zuerst von den Architekten Sigurd Frosterns
und Gustaf Strengeil hervorgehoben wurde in einer
Serie allgemein bemerkter Artikel, die im Frühjahr
1904 in der Tagespresse erschienen. Deren Oppo¬
sition gegen die Opposition war, im großen gesehen,
ohne Zweifel ganz am Platze, ein Wort für die Zeit
und vor der Zeit gesprochen, obgleich die meisten
es gar nicht verstanden, ein Blitz, der nicht traf. Sie
verwarfen die Schwärmerei, das launische, bizarr
phantastische Spiel mit Bauformen und Verzierungen
und forderten einen gesunden Rationalismus als Aus¬
gangspunkt für das baukünstlerische Schaffen. Die
Phantasie müsse hervorquellen aus einem überaus
reichen modernen technischen Wissen und sich nicht
dem Gefühl ergeben; ein Bauproblem der Gegen¬
wart müsse mit den Mitteln der Gegenwart gelöst
werden; ein kurzsichtiger Nationalismus, dessen ein¬
zige Gedankenquellen dürftig komponierte Dorfkirchen
und einige burgartige Bauten, sowie vielleicht noch
Motive der finnisch-russischen Bauernarchitektur im
östlichen Finnland seien, müsse gesprengt werden,
damit eine Baukunst auf der Base moderner west¬
europäischer Kultur entstehen könne. Der archäo¬
logische und archaisierende Zug der Richtung sei
gar nicht national, sondern im Gegenteil eklektisch,
in deren »schimmernder Legierung Reminiszenzen
an englische Gotik und deutsches Mittelalter, an den
spanischen Übergangsstil und maurisch-arabische For¬
men auftauchen«.
Die Aufforderung der jungen Opponenten, der
Romantik zu entsagen, scheint vorläufig wenig Gehör
gefunden zu haben. Sie wiesen allerdings in die Zu¬
kunft, deuteten neue
Ideale an. Aber ihre
Kritik der bestehen¬
den Richtung war in¬
sofern einseitig, als
sie nur die Mängel
derselben hervor¬
hoben. Für die
Männer dieser Rich¬
tung bedeutete je¬
doch die Beseelung
des Problems so un¬
geheuer viel und fand
ihren Ausdruck unter
anderem in dem leb¬
haften Interesse für
die Planbildung.
Daß sie in dieser Be¬
ziehung unserer Ar¬
chitektur wertvolle
Impulse gegeben,
muß deshalb hier
ausdrücklich hervor¬
gehoben werden.
VORHALLE IM HAUSE DES POLYTECHNISCHEN VEREINS ( SAMPO )
IN HELSINOFORS. ARCHITEKTEN: LINDAHL UND THOME
EINE NEUE KOPIE DES MYRONISCHEN DISKOBOLEN IN ROM
Von Walther Amelung in Rom
Kaum ein Kunstwerk der Welt man mag
alle Zeiten durchdenken — hat so andauernd
die erstaunte Bewunderung wachgerufen, wie
der Diskoswerfer des Myron, eine Statue, in der der
Künstler mit ungeheurem Wagemut einen Höhepunkt
äußerster Spannung und Bewegung am jugendlich
männlichen Körper dargestellt hat, den Augenblick,
in dem, wie vor einer Explosion, alle Kräfte sich zur
letzten höchsten Leistung zusammenfassen und spannen,
in dem der ganze Körper in äußerster Bewegung nur
zwischen zwei festen Punkten im Gleichgewicht ge¬
halten wird, zwischen dem fest in den Boden ge¬
krallten rechten Fuße und der mit dem schweren
eisernen Diskos mächtig nach rückwärts geschwungenen
rechten Hand. Der Körper beugt sich wie ein ge¬
spannter Bogen; im nächsten Augenblick prallt er
gestreckt empor und, wie vom Bogen der Pfeil, saust der
Diskos aus der vorgeschwungenen Rechten zum Ziele.
Der linke Arm hängt nur lose gespannt abwärts und der
linke Fuß schleift mit umgeknickten Zehen auf dem
Boden. Der Kopf (s. die 3 Abbildungen) ist der Ge¬
walt des Schwunges gefolgt und blickt rückwärts. Nie
im Leben konnte Myron diesen flüchtigsten Augen¬
blick am lebenden Modell festhalten und studieren.
Ein glücklicher Blick nur konnte ihm blitzartig offen¬
baren, welch eine Fülle von Möglichkeiten gerade
dieser Moment barg, von dem Reichtum der wun¬
derbaren Kräfte, die in einem athletisch vollkommen
ausgebildeten Körper walten, das lebendigste Bild zu
geben. Aufbauen mußte er seine Figur ganz aus
der Erinnerung, komponieren mußte er sie aus der
Idee dieser Aktion, deren einfachste eindrucksvollste
Formel er suchen mußte und fand. Dabei verstand
es sich für ihn, den älteren Zeitgenossen des Phidias,
von selbst, daß er die Figur reliefartig ausbreitete, so
daß sie in der Ansicht, die als die einzige Haupt¬
ansicht gelten sollte, dem Beschauer sofort all ihre
Motive, alle Umrisse in voller Klarheit und Schönheit
entfaltet. Dazu kam das unerhörte technische Wagnis
— das Original war aus Bronze — eine derartig
reich bewegte, nach beiden Seiten weit ausragende
Figur fast nur auf einen Fuß zu stellen. Aber was
wäre all das, so erstaunlich es in jener Zeit des
Ringens und Werdens sein mag, wenn nicht die
Linien und Formen dieses Diskobolen eine so gran¬
diose, ernste, reiche Sprache redeten, eine Sprache,
der es nicht an Härten und Gewaltsamkeiten fehlt,
die sich aber in dem Kopf und seinem stillen Aus¬
druck zu einer bestrickenden Schönheit und Feinheit,
zu einer Lebensfülle steigert, die von tief-innerem
Feuer genährt wird. Das ist Bachsche Musik!
Aber wo ist das Werk, von dem ich spreche, als
stände es vor mir? Feuer hat es geschmolzen. Nur
Marmorkopien der römischen Zeit sind uns erhalten,
und langer Arbeit bedurfte es, ehe es gelingen wollte,
aus diesen ein annähernd getreues Bild der einzigen
Schöpfung zu gewinnen. Zwar gab es lange eine
gut erhaltene Wiederholung der ganzen Figur — sie
i86
EINE NEUE KOPIE DES MYRONISCHEN DISKOBOLEN IN ROM
ist immer noch die einzige, an der der Kopf erhalten
ist — aber ihr Besitzer, der römische Fürst Lancelolti,
hält seinen Schatz mit kindischer Eifersucht, der es
nicht ganz an Berechnung fehlt, vor allen Blicken
verschlossen. Zwei schlechte Photographien aus alter
Zeit gaben die einzige Anschauung von ihr; da stellte
sich vor einigen Jahren heraus, der Kopf, der wert¬
vollste Teil, sei doch einmal vor Zeiten abgegossen
worden; ein Abguß, von dem seither weitere Exem¬
plare abgeformt wurden, fand sich im Louvre. Nun
konnte man daran gehen, den Abguß einer der son¬
stigen Wiederholungen mit diesem Kopfe zu ergänzen.
Furtwängler ließ diesen Versuch in München mit dem
Abguß der vatikanischen Kopie unternehmen, und
das Resultat war zwar noch nicht durchaus befrie¬
digend, wirkte aber doch wie eine Offenbarung, be¬
sonders als man einen dieser Abgüsse, nachdem der
Stamm, die für den Mar¬
mor notwendige Stütze,
entfernt war, bronzieren
ließ, um auch dadurch
dem Originale näher zu
kommen. Die Figur schien
sich vom Boden zu lösen,
und dieser Eindruck
schwebender Leichtigkeit
wurde noch gehoben
durch die verschmälernde
dunkle Farbe und das
Spiegeln der Flächen und
Kanten. Aber man hatte
den linken Arm, der an
keiner der öffentlich aus¬
gestellten Kopien erhalten
ist, nach den Photogra¬
phien des Discobolo Lan-
celotti und nach einer
Statuette, von der nur Ab¬
güsse bekannt sind und
von der noch nicht ein¬
mal feststeht, ob sie antik
ist, ergänzen müssen. Dazu ist die Wiederholung im
Vatikan erbärmlich flau, durchweg überarbeitet und
im ganzen etwas kleiner, als die im Pal. Lancelotti;
Gründe genug, um zu erklären, warum diese Zusam¬
mensetzung, so verdienstlich sie im Augenblick war,
auf die Dauer nicht befriedigen konnte.
Da wurden im April des verflossenen Jahres am
Ufer des tyrrhenischen Meeres und im Gebiet des
alten Laurentium Reste einer römischen Villenanlage
gefunden und in ihnen Fragmente einer neuen Wie¬
derholung des Diskobolen (Abb. i). Die Anlage ist auch
an sich interessant: das Wohngebäude lag nicht weit
vom Meeresstrande, zu dem drei Marmortreppen ab¬
wärts führten. An der einen, der Südseite des Ge¬
bäudes, dehnte sich ein ummauerter Garten aus, offen
gegen das Meer. Auch zu diesem führte eine breite
Marmortreppe nieder, und nicht weit vor ihr fand
sich im Garten das Postament der Statue, die so auf¬
gestellt war, daß sie ihre Hauptseite dem Meere zu¬
wendete; beachtenswert ist, daß die Basis nur etwa
einen halben Meter hoch ist, die Figur also für unsere
Begriffe sehr niedrig stand. Wir können diese Be¬
obachtung öfter machen; Griechen und Römer liebten
es in den besten Zeiten, den Statuen fast Auge in
Auge gegenüberzustehen; sie blieben dadurch in in¬
timerer Beziehung mit dem Bildwerk und dessen
obere Teile verschoben sich nicht zu stark. Jeden¬
falls sollten wir bei der Aufstellung antiker Statuen
diesem Geschmacke Rechnung tragen.
Die Ausgrabung hatte in der Nähe eines könig¬
lichen Jagdschlosses, Castel Porziano, stattgefunden
auf Befehl des Königs, der die Fragmente des Dis¬
kobolen dem römischen Museo nazionale delle Terme
überweisen ließ; alsbald machte sich der heutige
Direktor dieses schönsten Museums der Welt, Giulio
Emanuele Rizzo, mit seltener Energie an die Arbeit,
deren Ergebnis dem Leser auf unserer Tafel vor Augen
steht. Die eine dieser Ab¬
bildungen gibt die neue
Wiederholung, soweit sie
sich aus ihren Fragmen¬
ten zusammensetzen ließ.
Ein Blick zeigt jedem die
hohe Vollendung der
Ausführung, und näheres
Studium lehrt bald, wie
wenig hier von der her¬
ben Größe der originalen
Formengebung verloren
ist. Dadurch überragt
die neue Kopie alle an¬
deren weit. Dann kommt
hinzu, daß hier vom lin¬
ken Arm nur einige
Finger fehlen, deren Lage
sich aber auch mit Hilfe
der Stützen bestimmen
läßt; und vollständig sind
die Schamteile erhalten,
die denn auch in dem
staatlichen Museum nicht
Gefahr laufen, von einem barbarischen Feigenblatt
überdeckt zu werden; wie in allem liegt auch hier
in dem breiten Halbmond der streng stilisierten
Haare monumentale Größe, und wie in allem, ist
auch hier lebendigstes Gefühl in der Art, wie das
Glied von der heftigen Bewegung emporgeworfen
wird. Die Bewegung des Kopfes läßt sich nach
dem erhaltenen Halsansatze mit Sicherheit erschließen,
ebenso die Haltung des rechten Armes aus dem
Schulteransatz. Von den Füßen ist nur der linke
große Zehen gefunden worden. Noch sei erwähnt,
daß sich aus bestimmten Anzeichen eine Ergänzung
der Statue in antiker Zeit erkennen läßt; von ihr
stammt die Plinthe mit dem Unterteil des Stammes,
der übrigens hier so diskret wie möglich hinter die
Beine gerückt ist.
Wäre dieses wundervolle Fragment vor hundert
Jahren zutage gekommen, man hätte es einem Bild¬
hauer zur Ergänzung überantwortet; ja, noch vor
weniger als einem halben Jahrhundert wäre im Vater-
ABIi. 1. FRAGMENT EINER ANTIKEN MARMORKOPIE DES ABB. 2. DER DISKOBOLOS DES MYRON
MYRONISCHEN DISKOBOLEN ERGÄNZTER GIPSABGUSS
i88
EINE NEUE KOPIE DES MYRONISCHEN DISKOBOLEN IN ROM
lande der Kunst eine derartige Barbarei nicht unmög¬
lich gewesen. Inzwischen hat sich durch den Vor¬
gang eines Mannes, der sich dadurch den Dank aller
kommenden Geschlechter verdient hat, des Professor
Treu in Dresden, ein anderes Prinzip Bahn gebrochen:
fort mit allen willkürlichen Ergänzungen! Wo besser
erhaltene Wiederholungen sich finden, suche man mit
Abgüssen der ergänzenden Teile das Fehlende zu
ersetzen! Darnach hat denn erfreulicherweise auch
Rizzo gehandelt, bisher ein einsamer Stern am nächt¬
lichen Himmel italienischer Museumsverwaltung. Und
gewiß wird man ihm auch darin Recht geben, daß
er den Marmor ganz unberührt ließ, aber einen Ab¬
guß der neuen Wiederholung benutzte, um das ganze
Werk vollständig wiederherzustellen. Auf den Hals
fügte sich der Kopf nun ohne Schwierigkeit, da die
neue Kopie in ihren Maßen mit der im Pal. Lancelotti
durchaus übereinstimmt. Zur Ergänzung des rechten
Armes benutzte Rizzo den Abguß eines vorzüglichen
Fragmentes in der Casa Buonarotti in Florenz — die
Übereinstimmung in der Güte der Arbeit zwischen
diesem Arm und dem neuen Funde ist so groß, daß
sogar der Gedanke auftauchen konnte, der Arm stamme
von der Figur und sei an derselben Stelle vor Jahr¬
hunderten gefunden worden die Füße endlich
lieferte die Wiederholung der Figur im British Museum.
So steht nun das ganze Werk in gesicherter Rekon¬
struktion vor uns (Abb. 2), wesentlich besser, schöner,
überzeugender als vorher in München. Ein großer
Schritt vorwärts ist getan, und Dank sei dem Manne
gesagt, der zum erstenmal auf italienischem Boden
und gegen den Widerstand der rückständigen Ele¬
mente eine derartige Arbeit geleistet hat. Marmor
und Abguß stehen jetzt, wie in unseren Abbildungen,
in einem neu eröffneten Zimmer des Thermenmuseums
nebeneinander^).
Wer einen Schatz besitzt, soll sich nicht damit
genügen lassen, ihn zu erhalten; nur was Frucht
bringt, lebt. Eine gelungene Leistung aber birgt in
sich die Verpflichtung zu weiteren, höheren Taten.
Möge dieser neue Gewinn des römischen Museums
den Beginn eines neuen Lebens in allen italienischen
Antikengalerien bedeuten!
1) Beide sind inzwischen von Rizzo in dem neu er¬
schienenen »Bollettino d’Arte« del Ministero della P. Istru-
zione Anno I Num. I mit drei Tafeln publiziert worden.
Vgl. auch Lanciani in den Monumenti antichi della R.
Accademia dei Lincei 1906 S. 241 ff., wo besonders aus¬
führlicher über die antike Villenanlage berichtet wird.
Herausgeber und verantwortliche Redaktion: E. A. Seemann, Leipzig, Querstraße 13
Druck von Ernst Hedrich Nachf. o. m. b. h. Leipzig
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CONSTANTIN GUYS
Von Karl Eugen Schmidt
Die Geschichte dieses Zeichners gehört mit zu
den seltsamsten Dingen unserer Zeit. Kein
Romandichter könnte sich ein Künstlerleben
fremdartiger ausdenken, und wenn Guys die Idee ge¬
habt hätte, seine Lebenserinnerungen niederzuschreiben,
hätten wir ein modernes Seitenstück zum Gil Blas,
zum Simplicius Simplicissimus und zum Lazarillo de
Tormes erhalten. Als er im Jahre 1892 in der Maison
Dubois starb, in jenem Krankenhause, welches seit
einem halben Jahrhundert die letzte irdische Herberge
der in der Boheme hängengebliebenen Pariser Künstler
und Dichter ist, erfuhr man mit Staunen, daß Guys
so lange noch gelebt hatte — soweit man wußte,
daß er überhaupt je gelebt hatte. Dies nicht zu
wissen, bedurfte keiner Entschuldigung, denn Con-
stantin Guys hat von den vielen, vielen tausend
Blättern, die er geschaffen, niemals eins mit seinem
Namen unterzeichnet. Und daß die Wenigen, die
ihn kannten, ihn für längst gestorben hielten, war
ebenfalls nicht überraschend, denn seit mehr als
zwanzig Jahren hatte Guys kein Lebenszeichen mehr
gegeben, war keines seiner Blätter mehr in einer
illustrierten Zeitung oder bei einem Kunsthändler ge¬
sehen worden.
Guys stand bei seinem Tode im neunzigsten
Lebensjahre. Geboren am 3. Dezember 1802 in
Vlissingen, das damals französisch war, entlief er mit
fünfzehn Jahren der Schule und dem Hause und
durchzog die von Abenteuern und Wundern angefüllte
Welt. Mit dem englischen Dichter Byron kam er
nach Griechenland, um die vermeintlichen Nach¬
kommen von Phidias, Perikies und Aristides aus der
türkischen Knechtschaft zu erretten. Nach seiner
Rückkehr von diesem Kreuzzuge ließ er sich anwerben
und wurde französischer Dragoner, als welcher er es
bis zum Wachtmeister brachte. Viel später erst, als
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XVIII. H. 8
Vierziger, versuchte er sich zum erstenmal als Zeichner,
aber es ging ihm nicht so gut wie dem Maler Raf-
faelli, der in einer Schilderung seiner Anfänge be¬
richtet, daß er gleich im ersten Anlaufe, ohne jemals
die geringste Anleitung erhalten oder auch nur eigene
Versuche gemacht zu haben, ein Bild malte, das von
der Jury des Salons aufgenommen wurde.
Von den ersten Versuchen des Wachtmeisters a. D.
sagt Charles Baudelaire in seinen unter dem Ge¬
samttitel L'Art romantique herausgegebenen Aufsätzen
über die Kunst seiner Zeit: »Um die Wahrheit zu
sagen, zeichnete er wie ein Barbar, wie ein Kind,
das sich über die Ungeschicklichkeit seiner Einger
und über den Ungehorsam seines Werkzeugs ärgert.
Ich habe eine große Anzahl dieser primitiven Kritze¬
leien gesehen, und ich gestehe, daß die meisten Leute,
welche sich auf Kunst verstehen oder die sich für Kenner
halten, ohne Schande das in diesen dunkeln Ver¬
suchen versteckte Genie hätten verkennen können.«
Guys selbst teilte dieses Urteil Baudelaires, und
wenn ihm später eines seiner frühem Blätter in die
Hände fiel, pflegte er in ein komisches Gemisch von
Scham und Zorn zu geraten und die mißratene Früh¬
geburt zu vernichten.
Ohne also jemals den geringsten Unterricht oder
die leiseste Anleitung erhalten zu haben, wurde Guys
Zeichner, weil er eben dem inneren Drange nicht
widerstehen konnte. Dazu war er geboren; und wie
er als Vierziger die schweren Soldatenfäuste zum Ge¬
horsam unter seine künstlerischen Absichten zwang,
so wäre es ihm — um paradox zu reden — auch
ohne Hände gelungen, das Ziel zu erreichen, dem
seine Natur ihn entgegendrängte. So wie in unseren
Tagen ein anderer großer Zeichner, der mit Guys
eine gewisse Ähnlichkeit hat, Daniel Vierge, nach der
Lähmung seines rechten Armes die Linke genau zum
27
ZEICHNUNGEN VON CONSTANTIN GUYS
ZEICHNUNGEN VON CONSTANTIN OUVS
CONSTANTIN GUYS
193
gar nicht denkbar, und man kann nicht begreifen,
wie der Mann mit solchen Mitteln solche Ziele er¬
reichen konnte.
Das ist ja gerade das Wunderbare in jedem wirk¬
lichen Kunstwerke, daß wir vor ihm stehen als vor
einem Unverständlichen, Unfaßbaren, Übermenschlichen.
Wenn ein Bild so verständlich ist, daß man die Art
seines Entstehens restlos erklären kann, dann handelt
es sich sicher um ein Bäckerdutzendstück, wie es jeder
mittelmäßige Kunstgeselle Zusammenzimmern kann.
Die Technik eines Künstlers läßt sich wohl erklären,
und sie wirft gewöhnlich schätzbares Licht auf die
Geheimnisse seiner Schaffensart, für das übrige aber
ist immer nur die ganz individuelle Geistes- und Ge¬
mütsrichtung des Künstlers verantwortlich, die sich
nicht nachahmen und auch nicht sezieren läßt.
Die von Constantin Guys angewandte Technik
unterscheidet sich so sehr von der in den Kunst¬
schulen gelehrten, daß sie wohl ein näheres Eingehen
verdient. Wie schon gesagt, halte Guys nicht nur
keinen Kunstunterricht empfangen, sondern er halte
sich obendrein der Kunst erst in einem Alter zu¬
gewandt, wo andere Leute schon anfangen, an ein
beschauliches Rentnerleben zu denken. Er mußte
sich also seine Technik selbst erfinden, und zwar in
den Jahren, wo die Hand vom überlegenden Ver¬
stände geleitet wird. Sehen wir nun, was Guys unter
diesen Verhältnissen fand, und auf welche Art er
seine Blätter schuf. Baudelaire gibt uns den ge¬
wünschten Aufschluß.
Abgesehen von den Zeichnungen, die er als Kriegs¬
berichterstatter anfertigte und wobei er das unmittel¬
bar Geschaute direkt zu Papier bringen mußte, hat
Guys niemals direkt vor dem Modell gearbeitet. Nach¬
dem er den ganzen Tag herumgebummelt war, und
alle möglichen Menschen und Dinge angeschaut hatte,
setzte er sich in der Nacht an den Zeichentisch und
warf in wenigen Stunden zehn, zwanzig, dreißig und
mehr der beobachteten Szenen auf das Papier. Sein
Atelier war mit riesenhohen Stößen von Zeichnungen
angefüllt, die er nach dem Grade ihrer Vollendung
zusammenpackte. Er begann seine Arbeit mit dem
leisen Aufzeichnen der Umrisse. Dies geschah mit
schwachen Bleistiftstrichen, die weiter keinen Zweck
hatten, als den Dingen ihren Platz im Raum zu geben.
Dann bearbeitete er das Blatt mit Deckfarbe und
hob so die Massen von Licht und Schatten heraus.
War er damit fertig, so vollendete er das Blatt durch
kräftiges Nachziehen der Konturen mit Tusche. Sehr
oft begnügte er sich beim erstenmal mit der Angabe
der Umrisse. Bei irgend einer späteren Gelegenheit
nahm er dann seine Blätter wieder vor und brachte
sie der Vollendung um einen oder mehrere Grade
näher. Bei dieser Technik blieb das Ensemble vom
ersten bis zum letzten Augenblick die Hauptsache,
das einzige Ziel des Künstlers. Die Nuancierung,
die Valeurs, die Stufenleiter der Lichter und Schatten
blieben sich vom ersten bis zum letzten Augenblicke
gleich, das Blatt war eigentlich immer fertig, denn
die Gesamttonalität, der Lichtfleck, die Melodie von
Hell und Dunkel war immer da. Aber so oft der
Künstler sein Blatt wieder zur Hand nahm, wurde
diese Melodie stärker und eindringlicher, und wenn
er die letzten schwarzen Tuschstriche aufsetzte, er¬
scholl die Musik zwar nicht harmonischer, aber mäch¬
tiger, überzeugender, gewaltiger als vorher.
Diese Technik, die wie alles Arbeiten nach dem
Gedächtnis jede überflüssige und nebensächliche
Einzelheit ausscheidet und vom Anfang bis zum Ende
auf das Ganze losgeht, erklärt uns vieles von der ver¬
blüffenden und nachhaltigen Wirkung dieser Blätter,
Der große Rest, der noch bleibt, der dämonische,
tragische, phantastische Zug, den wir bei Goya und
Toulouse de Lautrec wiederfinden, und der in seinem
Wesen etwas mit den seltsamen Phantasien Edgar
Allen Poes gemein hat, dieses Gemisch von Mitleid
und Verachtung für die Menschen, von menschlicher
Schwäche und göttlicher Schaffensfreude, von ver¬
nichtender Selbsterkenntnis und künstlerischer Begei¬
sterung, dieses Zusammentreffen von höchsten und
tiefsten Neigungen des Geistes und des Herzens —
wie könnte man versuchen, das zu schildern? Das
wahre Kunstwerk spricht für sich, und es kann keinen
Dolmetscher geben, der seine Botschaft restlos ver¬
künden könnte. Man muß zu Guys selber gehen,
um zu verstehen, wie ein handgroßes Blättchen, wor¬
auf man weiter nichts als eine Kutsche und zwei
Pferde erblickt, die vollständige geistige und sittliche
Synthese einer ganzen Zeit enthalten und aussprechen
kann.
Die Brüder Goncourt entwerfen nach ihrem ersten
Zusammentreffen mit Guys im Jahre 1858 in ihrem
Tagebuche ein Bild von seiner Persönlichkeit, das in
manchen Punkten auch auf seine Arbeiten paßt: »Aus
dem Munde dieses Teufelskerls springen soziale
Schattenrisse, Bemerkungen über den französischen
und den englischen Nationalcharakter, alles neu und
noch nicht in den Büchern verschimmelt, Satiren,
die nur zwei Minuten lang sind, Pamphlete in einem
einzigen Worte, eine vergleichende Philosophie des
Nationalcharakters der Völker.«
Abgesehen von den vereinzelten Stimmen, die
Guys vor fünfzig Jahren feierten, ohne ihn jemals so
bekannt und geschätzt machen zu können wie Dau-
mier, Gavarni und zehn oder zwanzig andere zeit¬
genössische Zeichner, die es nicht verdienten, in einem
Atem mit diesen Dreien genannt zu werden, hat Guys
eigentlich niemals viel Beachtung von seiten des
größeren kunstliebenden Publikums gefunden. Erst
zehn Jahre nach seinem Tode wurde man wieder auf¬
merksam auf ihn, und jetzt werden die einst achtlos
verschleuderten Blätter aus ihren Schlupfwinkeln her¬
vorgezogen, um in die Mappen der Sammler zu
wandern, wo sie neben den Blättern Daumiers und
Gavarnis die Kunst und das Leben des zweiten Drittels
des 19. Jahrhunderts wiederspiegeln.
ZEICHNUNGEN VON CONSTANTIN GUYS
ZEICNUNG VON CONSTANTIN GUYS
ZEICHNUNGEN VON CONSTANTIN GUYS
DIE BEWEINUNG MIT DEM STIFTER
Von Otto Seeck
VOR einigen Jahren bemerkte ich unter den Neu¬
ankäufen der Berliner Galerie ein Bild der alt¬
niederländischen Schule, aus dem mir trotz
seines geringen Umfanges alsbald jener eigentümliche
Hauch künstlerischer Größe entgegenwehte, wie er
nur den Werken der allerersten Meister eigen ist. Im
Einzelnen fand ich darin manche wohlbekannten Züge
wieder, im Ganzen erschien es mir fremd und rätsel¬
haft, und wie ich später hörte, war es den Leitern
der Museen ebenso gegangen. Der eine hatte darin
anfangs die Hand des Roger van der Weyden er¬
kennen wollen, ein anderer auf den Meister von Fle-
malle geraten; doch bald war man dahin einig ge¬
worden, daß der Maler des Bildes zwar mit beiden
nahe Verwandtschaft zeige, zugleich aber auch eine
kräftige Eigenart, die ihn ebenso sehr von dem einen
wie von dem anderen unterscheide. Manches, wie die
eckige Bewegung der Gestalten, die schematischen
Hände und die etwas stilisierten Pflänzchen des Vorder¬
grundes, wies auf die Frühzeit des 15. Jahrhunderts
hin; anderes, namentlich Himmel und Landschaft,
zeigte schon eine merkwürdig hohe Entwickelung,
die selbst am letzten Ende desselben nicht ihresgleichen
fand. Wahrscheinlich wollte man diese widersprechen¬
den Momente einigermaßen versöhnen, indem man
das Bild gerade in die Mitte des Jahrhunderts setzte.
Demgemäß trägt es im Kataloge die Bezeichnung:
»Niederländischer Meister um 1450«; doch wie wir
sehen werden, ist es dadurch viel zu spät datiert.
Wenden wir uns zunächst der Einzelbetrachtung
zu, so fällt vor allem die Komposition ins Auge, ln
der Verteilung der Massen verrät sie ein Raumemp¬
finden, wie es selbst bei den Italienern dieser Zeit nicht
gewöhnlich, bei den Niederländern beispiellos ist.
Wenn es auch, wie alles echt Künstlerische, in erster
Linie instinktiv gewesen sein wird, hat es doch seinen
Ausdruck nur durch planmäßige, höchst bewußte An¬
ordnung finden können.
Die Aufgabe, der Beweinung Christi das Stifter¬
bildnis hinzuzufügen, hätten die meisten so gelöst,
daß sie die heilige Geschichte in den Mittelpunkt
setzten und das Porträt bescheiden auf eine der beiden
Seiten rückten. Doch die Asymmetrie, die auf solche
Weise notwendig entstehen mußte, hätte das Kompo¬
sitionsgefühl unseres Meisters beleidigt. Er wählte den
kühnen Ausweg, Handlung und Bildnis, Heiliges und
Profanes als gleichberechtigte Gegenstücke auf die
beiden Seiten der Bildfläche symmetrisch zu verteilen.
Doch volle Gleichberechtigung durften sie nicht in
Anspruch nehmen; trotz der Symmetrie, die der
Künstler forderte, mußte dem eigentlichen Gegenstände
des Bildes, zu dem der Stifter doch nur Zusatz war,
auch räumlich ein Vorrang gewährt werden. Dies
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XVIII. H. 8
ist erreicht, indem die rundliche gewellte Linie, die
Haupt und Schulter der Gottesmutter bilden, durch
den Kreuzeshügel fortgesetzt und bis in die rechte
Ecke der Bildfläche herabgeführt wird. Da der Stifter
hinter diesem Hügel kniet, gewinnt so das Heilige
eine klare Umrahmung, die es scharf von dem Profanen
scheidet, und kann sich zugleich ununterbrochen über
den ganzen unteren Teil des Gemäldes ausdehnen.
Doch was in die Hälfte, welche dem Bildnis einge¬
räumt ist, hinüberragt, sind nur Gewänder und die
starr ausgestreckten Extremitäten des Leichnams; die
Köpfe und die bewegten Hände, in denen sich das
Wesentliche des Vorgangs ausprägt, sind alle auf die
linke Seite hinübergedrängt, so daß der Eindruck der
Symmetrie denn doch erhalten bleibt. Freilich stand
ihr entgegen, daß eine Gestalt zu dreien als Gegen¬
gewicht dienen sollte; doch auch diese Schwierigkeit
hat der Künstler glänzend gelöst.
Da der Stifter sich hinter dem Hügel befindet,
vor dem die Szene sich abspielt, müßte er kleiner
erscheinen, als die Personen der Handlung; doch
unser Bild gehört noch einer Zeit an, die sich um
die Gesetze perspektivischer Verjüngung nicht kümmerte.
Der Maßstab des Bildnisses ist daher sogar noch um
eine Kleinigkeit größer als bei den heiligen Gestalten;
auch ist sein Kopf etwas höher gestellt und tritt schon
dadurch kräftiger hervor. Und während sie dicht
aneinander geschmiegt und seitlich noch etwas in
den Rahmen hineingedrängt sind, ist er auf beiden
Seiten von freiem Luftraum umgeben. Auch daß
die Füße Christi nicht ganz den rechten Bildrand
erreichen, wirkt dahin, daß die Gestalt des Stifters
sich breiter zu entfalten scheint, und die schräge Linie
des Leichnams drückt für das Auge die Gruppe kräftig
nach der linken Seite hin. Diese Linie wird dann
am Himmel durch den untersten Wolkenzug noch
einmal wiederholt, und um sie hier dem Auge deut¬
licher zu machen, geben unter ihr zwei feine Strati
die Horizontale an. Doch darüber schneidet das
schräggestellte Querholz des Kreuzes mit seinem
dunkeln Braun kräftig in den blauen Himmel hinein
und zieht den Blick in entgegengesetzter Richtung
nach der Seite des Stifters hinüber. Für diese fällt
auch der Kreuzesstamm, der nicht nach der üblichen
Tradition in die Mitte gestellt ist, mit seiner ganzen
dunklen Schwere in die Wagschale und bildet so
das wichtigste Mittel, um zwischen den beiden Bild¬
hälften trotz der Verschiedenheit ihrer Fignrenzahl ein
wohlabgewogenes Gleichgewicht herzustellen.
Ein ausgesprochener Kolorist, wie die Brüder van
Eyck, ist unser Meister nicht. Seine Farbe wirkt
nicht unharmonisch, aber doch ein wenig hart. Auch
ist sie ihm nicht Selbstzweck, sondern muß vor allem
28
ROFiERT CAMPIN. DIE BEWEINUNG MIT DEM STIFTER. BERLIN
ROGER VAN DER WEYDEN. BEWEINUNG. LONDON, EARL OE POWIS
ROGER VAN DER WEYDEN. BEWEINUNG. BRÜSSEL
200
DIE BEWEINUNG MIT DEM STIFTER
der Komposition dienen. Um auch in dieser Be-
zielumg die Symmetrie zu betonen, sind die kräftigsten
Akzente auf die Gestalten des Stifters und des Jo¬
hannes verteilt, weil sie sich auf den beiden Bild¬
seiten ungefähr entsprechen. Der Schultradition gemäß,
welche die altniederländische Kunst schon seit Hubert
van Eyck beherrschte, ist der Himmel in seinem unter¬
sten Teile weiß, um dann erst ganz allmählich in
ein immer tiefer werdendes Blau überzugehen; das
weiße Kopftuch der Maria hebt sich daher nur durch
die Goldstrahleu , die es umgeben, bescheiden von
ihm ab, während die Köpfe jener beiden mit ihrem
dunklen Umriß in scharfem Kontrast zu dem hellen
Grunde stehen. Rot und Blau waren nach alter
Überlieferung die Farben der Gottesmutter. Doch
ist das Blau auf das Untergewaud beschränkt, von
dem nur ein kleines Stück des Ärmels sichtbar wird,
und auch hier beinahe zu Schwarz vertieft, so daß
es kaum noch farbig wirkt. Und das Rot ist zu einem
hellen Rosa geworden, das durch eine starke Bei¬
mischung von Gelb sich der Fleischfarbe annähert.
Dadurch schließt es sich dem bräunlichen Leichnam
und der Sandfarbe des Hügels im Tone so an, daß
jeder Kontrast vermieden wird und der mittlere Teil
des Bildes in der Farbe beinahe neutral erscheint.
Bei Johannes dagegen steht das helle leuchtende Braun
des Mantels in scharfem Gegensätze zu dem Blau des
Untergewaudes, bei dem Stifter das kräftige Rosa des
Kittels zu dem Schwarz des Kragens. So fallen sie
dem Beschauer am meisten ins Auge als die beiden
Säulen der Komposition.
Ganz eigentümlich ist die Behandlung des land¬
schaftlichen Hintergrundes. Während sonst die Maler
dieser Zeit den Horizont fast immer so hoch hinauf¬
ziehen, daß er die Gestalten weit überragt, ist er hier
ganz niedrig. Links ist die Landschaft durch die
Gruppe beinahe vollständig verdeckt, so daß hier das
Auge durch keinerlei gleichgültiges Beiwerk von dem
Ernste des heiligen Vorganges abgezogen wird; nur
rechts neben dem Stifter breitet sie sich freier aus,
um diese ärmere Seite des Gemäldes etwas zu be¬
reichern. Der Himmel nimmt mehr als die Hälfte
der Bildfläche ein, ein Verhältnis, das sich meines
Wissens bei keinem anderen Niederländer des 15. Jahr¬
hunderts wiederholt; doch er verdient diesen breiten
Raum durch seine außerordentliche Schönheit. Bis
über die Köpfe hinaus bleibt er leer, um hier das
Auge nicht zu verwirren und abzulenken; doch höher
hinauf bedecken ihn Wolken von so mächtigem Zuge
der Bewegung, so phantasievoller und zugleich uatur-
wahrer Gestalt, wie sie bis auf Ruisdael herab nicht
wieder gemalt worden sind. Selbst der Genter Altar
steht in dieser Beziehung weit hinter unserem Bild¬
chen zurück. Der große Himmel läßt für die Land¬
schaft im engeren Sinne nur ein kleines Fleckchen
übrig; doch genügt es dem Künstler, sie in drei Gründe
zu gliedern. Offenbar ist ihm dies eine so gewohnte
Übung, daß er auch dort nicht auf sie verzichten
mag, wo der beschränkte Raum ihre Anwendung
kaum noch gestattet. Der Vordergrund wirkt etwas
unnatürlich; denn der Kreuzeshügel, der ihn abschließt,
entbehrt der raumfüllenden Körperlichkeit, weniger
an sich, als weil der Stifter, der hinter ihm kniet,
nicht perspektivisch zurücktritt. Der Mittelgrund be¬
steht nur aus ein paar buschbedeckten Höhen, die
einzig dem Zwecke dienen, die blauen Berge und
Türme des Llintergrundes wirkungsvoll in die Ferne
zu schieben. Auch diese Landschaft stände in ihrer
Zeit einzig da, wenn nicht der Meister von Flemalle
sie in seiner Kreuzigung nachgeahmt hätte. Sonst
bemühen sich die Niederländer schon seit Hubert
vau Eyck, so viel interessante Einzelheiten in ihren
Hintergründen anzuhäufen, wie nur irgend darin
Platz finden. Irn geschlossenen F^aum erscheinen
Baldachine und Teppiche, Spiegel, blanke Leuchter,
Möbel und hüLische Kleinigkeiten jeder Art, alle mit
liebevoller Sorgfalt ausgeführt, in der Landschaft
Wälder, Felsen und Gebirgszüge, Flußläufe und Seen,
Burgen und Städte, belebt von zahlreichen kleinen
Figürchen. Hier nur ein schlichtes Hügelland, an
dem dieblaue Ferne mit ihren in Luft verschwimmen¬
den Umrissen und der mächtige Himmel darüber die
Hauptsachen sind, keine auffälligen Einzelheiten, nichts
von menschlicher Staffage! Unserem Meister ist die
Erkenntnis schon aufgegangen, daß ein gar zu reicher
Hintergrund die Handlung drückt, nicht hebt. Auch
darin zeigt er sich als großen Komponisten, daß er
durch diese FFescheidenheit in den Nebendingen das
Figürliche zu um so mächtigerer Geltung bringt.
Nach seiner Absicht soll die Landschaft dem Ganzen
nur Stimmung geben, nicht an und für sich etwas
bedeuten. Dem flüchtigen Blicke verschwindet sie
fast; doch wer sich in ihre grandiose Einfachheit zu
vertiefen weiß, der empfindet hier eine Vorahnung
dessen, was erst zwei Jahrhunderte später die hollän¬
dische Kunst in ihrer höchsten Blüte erstrebt und
erreicht hat.
Der nackte Körper, der die ganze Komposition
beherrscht, ist häßlich, aber durchaus naturwahr. Der
Knochenbau, die Muskeln, selbst die Falten der Haut
sind mit solcher Treue wiedergegeben, daß man an¬
nehmen muß, der Künstler habe eine magere, halb¬
verweste Leiche als Modell benutzt. Denn daß seine
anatomische Kenntnis sehr gering war, zeigen die
Gewandfiguren, bei denen namentlich die Arme noch
recht mangelhaft gebildet sind. Auch der nackte Fuß
des Johannes und die Hände lassen zu wünschen
übrig. Außer bei dem Leichnam, wo auch sie nach
der Natur gezeichnet sind, wiederholen sie überall
denselben knochigen, langfingerigen Typus; selbst bei
dem Stifter sind sie nicht charakteristisch. Desto be¬
deutender ist sein Kopf; an Feinheit der Einzelbe¬
obachtung wie an Größe der Gesamtauffassung steht
er kaum hinter den Bildnissen der van Eycks zurück.
Auch der starre Schmerz der Maria, das weiche Mit¬
leid des Johannes sind in ihren Gesichtern meisterlich
zum Ausdruck gebracht und stehen im wirksamsten
Gegensätze zu der schaurigen Unbeweglichkeit in den
Zügen der Leiche mit ihren gebrochenen Augen und
dem halboffenen Munde.
Damit sind wir von dem rein Formalen schon
zu dem geistigen Inhalt gelangt, der in diesem Bilde
DIE BEWEINUNG MIT DEM STIFTER
20i
gar nicht hoch genug einzuschätzen ist. Maria ist
am Fuße des Kreuzes auf ein Knie gesunken und
stützt den Leichnam ihres Sohnes an das andere: wie
einst das Kind in ihrem Schoße geruht hat, so jetzt
der Mann nach der schmerzlichen Erfüllung seines
Erlösungswerkes. Mit dem linken Arm hält sie ihn
umfaßt; mit der Rechten hat sie sein starres Haupt
gehoben, um ihre Wange noch einmal liebkosend an
die seine zu drücken, ln dieser Stellung scheint sie
schon lange verweilt zu haben; denn Johannes, der
jetzt nach der Bestimmung des Entschlafenen an seiner
Statt ihr Sohn geworden ist, erhebt sich eben von den
Knien und sucht ihren Kopf mit sanftem, mitleidigen
Drucke von dem des Toten zu lösen, während er
zugleich dessen herabgleitenden Körper unterstützt.
Und inmitten dieser bewegten Gruppe der starre
Leichnam mit seinen eingedrückten Knien und schlotte¬
rigen Armen, denen nur durch den Schmerz der Seinen
eine grause Bewegung zurückgegeben ist. Denn un¬
heimlich gespensterhaft pendeln sie und biegen sich.
So ist mit schneidender Kraft, die auch vor dem
Häßlichen als Mittel des Ausdrucks nicht zurück¬
schreckt, der herbe Empfindungsgehalt dieser Szene
dem Beschauer nahe gebracht; und welchen mächtigen
Eindruck das Gemälde auf die Zeitgenossen gemacht
hat, das ergibt sich aus den zahlreichen Nachbildungen,
deren es Meister wie Roger van der Weyden, Hans
Memling, Gerhard David, Quentin Matsys gewürdigt
haben, von zahllosen Geringeren ganz zu geschweigen.
Von fast getreuer Kopie schreiten sie fort zu immer
freierer Umgestaltung, die zuletzt das Original kaum
noch wiedererkennen läßt; doch das Hauptmotiv wird
beibehalten bis tief ins i6. Jahrhundert hinein.
Die Annahme, daß unser Gemälde für alle jene
Wiederholungen unmittelbar oder mittelbar das Vor¬
bild gewesen ist, wird zwar nicht von allen geteilt,
scheint mir aber schon durch die Analyse, die v>fir
von seinem Inhalt gegeben haben, mit Sicherheit be¬
wiesen. Denn durch die Stifterfigur ist die Gestaltung
der Gruppe bedingt, durch diese die Landschaft in
ihrer hoheitsvollen Schlichtheit; keine Einzelheit, selbst
die Stellung des Kreuzes nicht, dürfte für die Ge¬
samtwirkung des Bildes anders sein, als sie ist. Wo
alles so absichtsvoll und doch zugleich so unge¬
zwungen zueinander paßt, jeder Teil mit Rücksicht
auf die übrigen gedacht ist, da muß das Ganze aus
einheitlichem Plan hervorgegangen sein; Entlehnungen
sind höchstens in unbedeutenden Kleinigkeiten denk¬
bar. Vor allem sei auf die Stellung des Leichnams
hingewiesen. In den italienischen Darstellungen der
Pieta pflegt er ganz oder annähernd wagerecht auf
den Knieen der Maria zu liegen, von denen seine
Extremitäten meist herabhängen. Ebenso erschien er
in der Miniatur des Turiner Gebetbuches, welche Graf
Durrieu mit Recht dem Hubert van Eyck zugewiesen
hat. Es ist dies eben die natürliche Lage, und wer
von ihr abweicht, muß besondere Gründe dafür ge¬
habt haben. Diese lassen sich für unsere Beweinung
deutlich nachweisen. Denn um zu der Figur des
Stifters das symmetrische Gleichgewicht herzustellen,
mußte die Gruppe ganz auf die linke Seite hinüber¬
gedrängt werden, und dies geschah am augenfälligsten
durch die schräge Linie, welche der Leichnam bildet.
In unserem Gemälde war sie also für die Komposi¬
tion notwendig, während sie überall sonst, wo sie
sich wiederfindet, überflüssig oder selbst störend
ist. Gleichwohl wollen wir uns den Beweis nicht
ersparen, daß der älteste bekannte Meister, bei dem
unsere Gruppe wiederkehrt, sich zu dem Berliner
Gemälde als Nachahmer verhält. Dies ist für uns
um so wichtiger, als sich daraus für den Schöpfer
desselben eine sichere Datierung ergibt.
Roger van der Weyden hat das Motiv unseres
Bildes nicht weniger als dreimal wiederholt, immer¬
fort daran bessernd und umgestaltend. Bei einem
Künstler von diesem Range werden wir im allge¬
meinen berechtigt sein, jede vollkommenere Lösung für
die spätere zu halten, um so mehr wenn sich nachweisen
läßt, daß die Veränderungen derselben den Zweck
haben, ganz bestimmte Fehler der früheren zu korri¬
gieren. Nach diesem Prinzip zeitlich geordnet, be¬
finden sich die betreffenden Bilder: i. in London
beim Earl of Powis, der mir freundlichst gestattet hat,
das Bild photographieren zu lassen und zu veröffent¬
lichen, 2. im Brüsseler Museum, 3. im Kaiser-Friedrich-
Museum zu Berlin.
1. Das Londoner Gemälde ist ein Breitbild, das
unmittelbar über den Köpfen der Gestalten abschnei¬
det, so daß von dem Kreuze nur der unterste
Teil sichtbar bleibt. Offenbar wagte der Künstler
nicht, in der Darstellung der Wolken mit seinem
Vorbilde zu wetteifern, und verkleinerte deshalb den
Himmel bis auf das unvermeidlichste Maß. So brauchte
er nur ein paar kleine, wenig auffallende Ballenwolken
anzubringen, die in ihrer Technik denen des Berliner
Bildes sehr ähnlich sind, aber an Schönheit unend¬
lich weit hinter ihnen zurückstehen. Die Landschaft
ist auch hier in drei Gründe geteilt, nimmt aber einen
größeren Raum ein; doch bleibt der Horizont noch
immer so niedrig, daß die Köpfe der stehenden Fi¬
guren über ihn hinausragen. Es sind dies links der
heilige Hieronymus in Kardinalstracht, zn seinen
Füßen ein kniender Stifter, rechts der heilige Domini¬
kus in einem Buche lesend. Zwischen ihnen ist die
Hauptgruppe des Berliner Gemäldes wiederholt, aber
ohne den Johannes, für den neben den beiden neu-
hinzugekommenen Heiligen kein Platz mehr übrig
blieb. Doch damit verliert der Leichnam, der schon
auf dem Original nicht ganz fest zu liegen scheint,
eine notwendige Stütze. Roger selbst hat dies emp¬
funden und läßt deshalb den Hieronymus sehr ana¬
chronistisch in die Handlung eingreifen; mit der
rechten Hand präsentiert er den Stifter, mit der linken
stützt er den Kopf des Christus. Doch behält sein
Gesicht die feierliche Starrheit, wie sie den Figuren
der sante conversazioni eigen zu sein pflegt, und
verrät nichts von der Teilnahme, die man in dieser
schmerzlichen Szene bei einem so tätig Mitwirkenden
voraussetzen müßte. Offenbar ist sein Zugreifen weiter
nichts als ein Notbehelf, der durch die Beseitigung
des Johannes erforderlich wurde.
Zeigt schon diese geschmacklose Umgestaltung
202
DIE BEWEINUNG MIT DEM STIFTER
der Komposition, daß Roger sie nicht erfunden, sondern
von einem Vorgänger übernommen hat, so tritt dies
noch deutlicher in der Stellung des anderen Heiligen
hervor. Schon bei Hubert van Eyck war der feine
Gedanke aufgetaucht, das profane Stifterbildnis durch
einen scharf betonten Trennungsstrich von den gött¬
lichen Personen zu scheiden. Zu diesem Zwecke
zieht sich sowohl bei der Madonna des Louvre, als
auch bei der Berliner ein Fußbodenstreifen durch die
Mitte des Bildes hin, der durch besonders reiche
Ornamentation ausgezeichnet und in seiner ganzen
Länge ohne jede Unterbrechung sichtbar ist. Die
gleiche Scheidung hat unser Anonymus dadurch her¬
beigeführt, daß die Linie des Kreuzeshügels die gött¬
lichen Gestalten umrahmt und von dem dahinter
knienden Stifter trennt. Bei Roger kniet dieser dem
Christusleichuam so nah, daß der herabhängende Arm
desselben sein Gewand zu berühren scheint, und hinter
dem Hügel steht Dominikus, der als Heiliger in die
engste Gemeinschaft der göttlichen Personen gehört.
Wenn er so von ihnen geschieden wird, so ist dies
nichts als gedankenlose Wiederholung eines Motivs,
welches das Original in ganz anderem Sinne ver¬
wendet hatte.
Bei der Maria stimmt jede Falte, bei dem Leich¬
nam jeder Muskel mit dem Berliner Gemälde überein;
doch verrät sich die Kopie in einer etwas matteren
Behandlung. Außerdem nimmt das Gesicht der Ma¬
donna eine eigentümliche Mittelstellung zwischen dem
Original und dem späteren, wohlbekannten Typus
Rogers ein. Endlich sind die Farben etwas verändert.
Das Blau des Ärmels ist leuchtender, das Rosa des
Gewandes tiefer und kräftiger geworden, so daß die
Farbe des Leichnams stärker damit kontrastiert. Das
weiße Kopftuch steht nicht mehr gegen den gleich¬
falls weißen Himmel, sondern gegen das braune Erd¬
reich, von dem es sich energisch abhebt. Wie die
Hauptgruppe von der linken Seite in den Mittelpunkt
gerückt ist, so soll sie auch in der Färbung kräftiger
hervortreten. Trotzdem bleiben die stärksten Akzente
noch immer auf die beiden Seiten verteilt, offenbar
aus keinem anderen Grunde, als weil auch in dieser
Beziehung der Künstler noch im Banne seines Vor¬
bildes stand. Links steht das Schwarz des Stifterge¬
wandes in äußerst scharfem Gegensätze zu dem Weiß
und Scharlachrot, in das der Schutzheilige gekleidet
ist; rechts wiederholen sich Schwarz und Weiß an
der Ordenstracht des Dominikus und verbinden sich
mit leuchtendem Ultramarin an der Einbanddecke
seines Gebetbuches. Diese Kontraste fallen viel mehr
ins Auge als die milderen der Hauptgruppe, und dazu
kommt, daß die Silhouetten der beiden Seitenfiguren
sich gegen den hellen Himmel abheben, wieder nach
dem Muster des Berliner Gemäldes. So durchzieht
das Bild auch koloristisch ein Zwiespalt, der sich aus
dem Widerstreit der eigenen Absichten des Künstlers
und seiner IJberlieferung ergeben hat. Roger will
den Mittelpunkt auch in der Farbe mehr hervortreten
lassen, hat aber noch nicht den Mut, von seinem
großen Vorbilde sich völlig loszusagen, obgleich dieses
die entgegengesetzte Tendenz verfolgte.
ln diesem Falle kann, wie mir scheint, kein Zweifel
sein, was Original, was Nachahmung ist. Schwieriger
wäre die Entscheidung bei dem Brüsseler Gemälde,
wenn nicht der unverkennbare Fortschritt, den es
gegen das Londoner zeigt, seine spätere Entstehung
bewiese.
2. ln der zweiten Darstellung desselben Gegen¬
standes hat Roger selbst an der ersten strenge Kritik
geübt, indem er die Fehler, welche hier begangen
waren, sorgfältig vermied. Einerseits geschieht dies
durch engeres Anlehnen an sein Vorbild, von dem
er sich andererseits doch kühner zu befreien weiß.
Dies letztere gilt in erster Linie vom Kolorit. Indem
er der Maria jetzt einen dunkelblauen Mantel gibt,
zu dem das gelbliche Braun des Leichnams beinahe
als Komplementärfarbe wirkt, ist der auffälligste Kon¬
trast iu die Hauptgruppe verlegt. Denn das Kirschrot
des Johannes auf der einen Seite, das Schwarz und
Weiß der Magdalena auf der anderen sind derart ab¬
getönt, daß sie völlig zurücktreten. Der Kopf der Maria
zeigt jetzt ganz den charakteristischen Typus Rogers.
Die Heilige rechts steht nicht mehr, wie vorher Do¬
minikus, hinter dem Hügel, sondern ist unmittelbar
neben den Leichnam getreten. Doch salbt sie diesem
nicht die Füße, wie das ihres Amtes ist, oder greift
sonst tätig in die Handlung ein, sondern ist im Be¬
griff, mit gefalteten Händen zum Gebete iiiederzu-
knien. Da der Künstler die Gruppe in ihrer ursprüng¬
lichen Dreiheit hergestellt und wieder mehr nach
links gerückt hat, braucht er auf der rechten Seite
ein Gegengewicht, wie es im Original das Stifterbildnis
geboten hatte. Daher darf Magdalena nicht am Boden
liegen, wie das Salben der Füße es nötig machen
würde, sondern muß ihr Haupt ungefähr zu der
gleichen Höhe erheben, wie die Gestalten der anderen
Seite. Da sie den Stifter ersetzen soll, hat die Er¬
innerung an ihn auf ihre Darstellung eingewirkt und
auch sie zur unbeteiligten Beterin gemacht. Daß die
Schwere des Leichnams es verbot, den Johannes zu
entfernen, ohne für ihn irgend einen Ersatz zu schaffen,
hatte Roger schon bei dem Londoner Bilde empfunden.
Jetzt ist jener in seine Stelle wieder eingesetzt, faßt
aber den toten Leib nicht, wie im Original, nur
leicht von der Seite an, sondern ergreift ihn kräftig
hinter dem Rücken, wodurch er ihm eine viel festere
Stütze bietet. Überhaupt sind dem Meister die sta¬
tischen Gesetze deutlicher zum Bewußtsein gekommen.
Bei dem Berliner Bilde ist am Ärmel der Maria gar
nicht bemerkbar, daß der Ärm des toten Christus auf
ihm ruht, und dasselbe wiederholt sich auch bei der
Londoner Kopie. In Brüssel werden durch ihn die
Falten kräftig beiseite gedrückt, eine unbedeutende
Kleinigkeit, die gleichwohl für das Zeitverhältnis der
drei Gemälde und für das gereiftere Nachdenken
Rogers sehr bezeichnend ist. Derselbe Fortschritt
zeigt sich in der Behandlung des Hintergrundes. Der
Himmel ist auch hier über den Köpfen abgeschnitten,
aber während auf dem Londoner Bilde die Landschaft
reicher gestaltet war, geht der Künstler jetzt in ihrer
Vereinfachung noch über das Berliner hinaus. Ob¬
gleich die drei Gründe festgehalten sind, zeigt sie
DIE BEWEINUNG MIT DEM STIFTER
203
doch nicht mehr als ein paar Erdwellen, arif denen
wenige Büsche stehen; doch diese bescheidenen Mittel
werden geschickt für das historische Kolorit benutzt.
Schon auf dem Londoner Gemälde hatte Roger vor
den Leichnam einen Schädel hingelegt, in erster
Linie wohl, weil ihn der Gegenstand als solcher inter¬
essierte. Denn er ist mit großer Liebe nach der
Natur gemalt und gehört zu den besten Teilen des
Bildes. Doch diente er zugleich dazu, die Schädel¬
stätte kenntlich zu machen, ln diesem Sinne ist er
auf dem Brüsseler wiederholt, in der Ausführung viel
gleichgültiger und geringer, wodurch sich die Selbst¬
kopie kennzeichnet. Zugleich aber sind in der Land¬
schaft auch die Zeiten des
Jahres und des Tages cha¬
rakterisiert, indem ein paar
entlaubte Büsche auf den Vor¬
frühling hinweisen und der
Horizont das Gelb des Son¬
nenunterganges zeigt. So
finden wir hier eine Anzahl
wirklicher Verbesserungen,
nicht nur des Londoner Früh¬
werks, sondern auch seines
Originals, daneben aber auch
neue Schwächen. Als Kopie
der Kopie ist der nackte Kör¬
per noch matter in seinen
Formen; vielleicht nicht ohne
Absicht ist seine häßliche,
aber charaktervolle Herbig¬
keit gemildert, doch zugleich
verflacht. Um den Leichnam
noch deutlicher als den alles
beherrschenden Mittelpunkt
der Handlung zu bezeichnen,
läßt Roger aller Augen, auch
die des Johannes, sich auf ihn
richten. Aber daß dieser auf
dem Berliner Bilde die Maria
ansieht, bewirkt eine unge¬
mein feine Abstufung zwi¬
schen ihrem Mutterschmerz
und seinem Mitleid, die hier
verloren geht.
3. Das dritte Gemälde
Rogers bildet das Mittel¬
stück des Marienaltars, der sich zuerst in der Kar¬
thause zu Miraflores nachweisen läßt und jetzt dem
Kaiser-Friedrich-Museum gehört. Dies größere Ganze,
in das es sich hier einfügen mußte, bedingte es, daß
der Gegenstand nicht mehr als Breitbild behandelt
werden konnte. Um die hohe Tafel besser zu füllen,
hat Roger sich dem Geschmacke seiner Zeit gefügt
und den Horizont höher hinaufgerückt, was eine
reichere Gestaltung der Landschaft bedingte. Auch
sonst hat er hier viel kühner geändert, doch bleibt das
Vorbild unseres Anonymus noch immer erkennbar,
vor allem an der schrägen Lage und den gestreckten
Beinen des Leichnams, an seinem pendelnden Arm
und an dem Hauptmotiv, daß Maria ihre Wange an
die seine drückt. Selbst derartige Einzelheiten kehren
wieder, wie daß der Mutter neben den Tränen, die
ihre Wange bedecken, auch eine über die Nase her¬
abrinnt. Das Original war von dem Fehler nicht
freizusprechen, daß Christus auf ihrem Knie sehr un¬
sicher ruhte; denn ihre Hand und die des Jüngers
berührten ihn mehr, als daß sie ihn festhielten. Daß
dies Roger aufgefallen war, zeigte schon das Brüsse¬
ler Bild, auf dem er den Johannes fester zugreifen
ließ. Doch als er den Marienaltar schuf, genügte ihm
dies nicht mehr, und die gründliche Korrektur jenes
Fehlers wurde zum Ausgangspunkt für eine Neuge¬
staltung der ganzen Komposition. Maria kniet nicht
mehr, sondern sitzt und bietet
so dem Leichnam auf ihrem
Schoße ein breiteres und bes¬
ser gestütztes Lager. Das
würde bedingen, daß er wa¬
gerecht zu liegen käme; doch
Roger hält seine schräge Rich¬
tung fest, indem er sie das
rechte Bein zurücknehmen
läßt und so noch an ihr
früheres Knien erinnert. Hatte
sie vorher die eine Hand
nur lose an den toten Leib
gelegt, so umschlingt sie ihn
jetzt mit beiden Armen und
faltet zugleich die Finger fest
ineinander. In erster Linie
soll dies jede Möglichkeit des
Herabgleitens ausschließen;
doch steigert es zugleich den
Ausdruck des Mutterschmer¬
zes, da man es auch als ein
krampfhaftes Ringen der Hän¬
de auffassen kann. Dadurch
aber ist dem Kopfe, den sie
vorher mit ihrer Rechten sanft
gehoben hatte, seine frühere
Stütze entzogen; er muß eine
neue durch Joseph von Arima-
thia erhalten, der zugleich mit
der anderen Hand ihr Haupt
von dem des Leichnams zu
lösen sucht, wie es in der
ursprünglichen Komposition
Johannes getan hatte. Daß die gleichgültigere Person hier
an die Stelle des Lieblingsjüngers gesetzt wird, ist eine
nicht sehr glückliche Abschwächung des Motivs. Aber
da Roger jenen als eine Hauptfigur betrachtete, mochte
er ihn nicht im Rahmen halb verschwinden lassen, wie
es die Stellung der Gruppe für denjenigen, der hinter
Christi Haupt stand, notwendig machte. Er räumt
dem Johannes den breiten Winkel ein, den die
Linie des Leichnams mit der linken Seitenwand bil¬
det, und gibt ihm die Stellung des Trösters zurück,
die schon der Anonymus ihm zugeteilt hatte, indem
er ihn beide Arme in liebevollem Mitleid nach Maria
ausstrecken läßt. So entstand auch hier, wie auf dem
Original, das Problem, daß ein Kopf zu dreien sym-
204
DIE BEWEINUNG MIT DEM STIFTER
metrisch das Gleichgewicht lialten sollte, und auch
hier wurde es dadurch gelöst, daß er höher gestellt
und so kräftiger hervorgehoben wurde. Der Anony¬
mus hatte Maria mit der Hand in das widrige Blut
der Seitenwunde hineintappen lassen; dies empfand
Roger als unschön undjegte deshalb den Leichnam
nach rechts hinüber, so daß die Wunde nach oben
zu liegen kam und der Blutstrom der uunüttelbareu
Berührung durch die Hände der Mutter entzogen
wurde. Auch das Schlenkern des einen Armes schien
ihm nicht ohne Grund häßlich; er ließ ihn daher fest
an den Leib drücken; doch auf das Pendeln des
anderen, das so schauerlich wirkte, mochte er nicht
verzichten. Die herben Formen der Leiche hatte er
schon auf dem Brüsseler Gemälde etwas zu verschönen
gesucht; auch der Marienaltar zeigt das gleiche Be¬
streben, doch wird es hier nicht durch Mildern und
Verwaschen erreicht, sondern dadurch, daß Roger ein
minder abstoßendes Modell nach der Natur studierte.
So zeigt dies schöne Werk nach jeder Richtung hin
ein mächtiges Wachsen des Meisters über sich selbst
und über sein Vorbild hinaus; aber daß die Be¬
weinung mit dem Stifter dies Vorbild war, bleibt
trotzdem unverkennbar.
Damit ist für unsere ganze Gemäldegruppe eine
feste Zeitgrenze gewonnen, und zwar eine sehr frühe.
Denn der Marienaltar wurde 1445 in die Karthause
von Miraflores gestiftet und muß schon vor 1438 ge¬
malt sein. Die eine Hand des auferstandenen Christus,
der auf der dritten Tafel unseres Altarwerkes darge¬
stellt ist, wiederholt sich nämlich ganz genau bei dem
Johannes des Werlaltars in Madrid, und wie schon
Tschudi bemerkt hat, kann es auch in diesem Falle
nicht zweifelhaft sein, was Original, was Kopie ist.
Denn bei jenem Christus ist die Handbewegung durch
den Gegenstand motiviert: er zeigt der Mutter seine
Wundenmale; bei dem Täufer dagegen hat sie keinen
anderen Grund, als daß die ganz eigentümliche Ver¬
kürzung und Fingerstellung den Meister von Flemalle
interessiert hatte und deshalb von ihm nachgebildet
wurde. Sein Bild aber trägt die inschriftliche Jahres¬
zahl 1438. Nun fanden wir Roger in den Bewei¬
nungen zu London und Brüssel noch ganz abhängig
von dem Vorbilde des Anonymus; nur schüchtern
erlaubte er sich kleine Änderungen, die zum Teil
durch die Aufträge der Besteller hervorgerufen und
keineswegs alle Verbesserungen waren. Dagegen zeigt
ihn der Marienaltar auch in der Nachahmung von
einer Selbständigkeit und künstlerischen Reife, die zu
dem Schlüsse zwingt, daß mehrere Jahre reichster
Entwickelung zwischen ihm und jenen früheren Ver¬
suchen liegen. Ist dieses Werk also schon vor
1438 entstanden, so wird man jene beiden Bilder
noch in die allererste Frühzeit Rogers setzen müssen,
das heißt in das Jahr 1432, in dem er selbständiger
Meister wurde, oder doch sehr wenig später. Daraus
folgt aber weiter, daß ihr gemeinsames Vorbild, die
Berliner Beweinung mit dem Stifter, kaum nach 1432
gemalt sein kann, also ebenso alt ist, wie der Genter
Altar, wenn nicht noch älter.
Auf eine sehr frühe Zeit weist auch die Tracht des
Stifters hin. Er ist bekleidet mit einem bis auf die Füße
herabreichenden Obergewande, aus dem der Kragen des
Untergewandes nur wenig hervorschaut. Jenes besteht
aus einfarbigem Tuch, ist am Halsausschnitt, an den
Händen und am unteren Saume mit Pelzwerk besetzt
und um die Hüften gegürtet. Charakteristisch sind
namentlich die Ärmel, die an den Handgelenken ziem¬
lich eng sind, um sich weiter nach oben mächtig
aufzubauschen. Ganz dieselbe Tracht finden wir aber
auch bei dem Jodocus Vydt des Genter Altars, nur
daß bei diesem die Bauschen der Ärmel zu ganz
unförmlichen Säcken werden; doch dies kann indivi¬
duelle Übertreibung des Modischen sein. Eigentüm¬
lich ist unserem Stifter nur der schwarze Kragen mit
Pelzbesatz; oder soll man ihn richtiger Schärpe nennen?
Denn er schließt sich nicht, wie es die Art eines Kragens
ist, gleichmäßig um den Flals zusammen, sondern
liegt der rechten Schulter mir mit einem kleinen Ende
auf, während er über die linke weit herabhängl Ein
ähnliches Kleidungsstück habe ich nur auf dem ersten
Blatte des Gebetbuches von Chantilly abgebildet ge¬
funden, wo der Herzog von Berri an der Tafel dar¬
gestellt ist. Hier trägt ein Mann des Hofstaates, der
ganz im Vordergründe steht und dem Beschauer den
Rücken zukehrt, etwas au sich, was über die Schulter
und zwar gleichfalls über die linke nach hinten nieder¬
hängt und der Schärpe unseres Stifters gleichartig zu
sein scheint. Das Blatt ist dadurch ganz genau datiert,
daß es unvollendet geblieben ist; offenbar ist seine
Bemalung durch den Tod des Bestellers, der 1416
eintrat, unterbrochen worden. Viel später dürfte man
solche Kragen oder Schärpen kaum getragen haben.
Denn seit den zwanziger Jahren des 15. Jahrhunderts
ist die Zahl der erhaltenen Bildnisse so groß, daß
wir auch andere Beispiele dieses eigentümlichen
Schmuckes besitzen müßten, wenn er damals noch
üblich gewesen wäre.
Noch bezeichnender ist die Haartracht des Stifters;
doch um dies zu erklären, wird ein weiteres Ausholen
erforderlich sein.
Die Memoiren des Olivier de la Marche, die um
die Wende des 1 5. Jahrhunderts verfaßt sind, erzählen,
um das Jahr 1461 sei der Herzog von Burgund durch
eine Krankheit seines Haares beraubt worden und
habe infolgedessen die Verfügung erlassen, daß sein
ganzer Hof sich den Kopf rasieren müsse. Diese
Nachricht hat man zur chronologischen Bestimmung
von Bildern benutzen wollen; doch wie mir der beste
Kenner der belgischen Geschichte, Henri Pirenne in
Gent, versicherte, ist sie erfunden. Denn weder passe
ein solcher Erlaß zum Charakter Philipps des Guten,
noch finde sich in irgend einer der zeitgenössischen
Quellen, die für jene Epoche recht zahlreich sind,
eine Bestätigung dafür. Diesen Gründen kann ich
noch die folgenden hinzufügen:
1. Auf dem Genter Altar, der schon 1432 voll¬
endet wurde, erscheint Jodocus Vydt mit rasiertem
Kopfe. Denn daß es sich hier nicht um eine natür¬
liche Glatze handelt, ergibt sich aus den Stoppeln,
die auf dem Schädel ganz ebenso dargestellt sind,
wie an Kinn und Wange. Jene Mode ist also schon
DIE BEWEINUNG MIT DEM STIFTER
205
mindestens drei Jahrzehnte früher nachweisbar, als
Philipp der Gute sie eingeführt haben soll.
2. Auf seinen zahlreichen Bildnissen sehen wir
den Herzog meist mit bedecktem Haupte; da aber
unter dem Hute nie ein einziges Haar sichtbar wird,
scheint er tatsächlich kahlköpfig gewesen zu sein. Aber
diese Eigenschaft kann er nicht erst als Fünfundsech-
zigjähriger durch eine Krankheit erworben haben;
denn die Gemälde, welche sie erkennen lassen, zeigen
ihn teilweise sehr viel jünger. Aller Wahrscheinlich¬
keit nach hat er sich den Kopf ebenso rasiert, wie
jodocus Vydt, aber schon lange vor 1461.
3. Einzelne Bildnisse stellen ihn auch barhaupt
dar; so das Gemälde von Roger van derWeyden in
Antwerpen und mehrere Miniaturen in Bilderhand¬
schriften, von denen ich nur die datierten nenne:
Paris, man. franq. gigg vom Jahre 1456, Brüssel
gog2 aus demselben Jahre, g270 aus dem Jahre 1461.
Hier trägt er immer eine Perücke. Wenn er aber
bei sich selbst durch künstliches Haar die Kahlköpfig¬
keit verhüllte, so hatte er gar keinen Grund, sie von
seinem Hofe zu fordern.
Zur Büchersammlung der Herzoge von Burgund,
die jetzt in die Brüsseler Bibliothek übergegangen ist,
gehört auch ein Band, der kein Datum trägt, aber
in den Kostümen der Minialureii genau mit den Hand¬
schriften von 1456 übereinstimmt, also wahrscheinlich
um dieselbe Zeit entstanden ist (Nr. 0231). Es ist
La fleiir des Iiistoires von Jean Mansel, eine Samm¬
lung historischer Erzählungen, die mit der Schöpfung
der Welt beginnt und bis auf die eigene Zeit des
Verfassers herabreicht. Hier ist (S. 154a) auch die
Eroberung Karthagos im Bilde dargestellt. Die Schar
gepanzerter Ritter, welche das römische Heer be¬
deuten soll, hält zur Seite, und aus den Toren der
Stadt strömen die besiegten Bürger hervor, alle im
bloßen Hemde und mit gebundenen Händen. Diese
Illustration dürfte durch eine persönliche Erinnerung
des unbekannten Malers beeinflußt sein. Denn als
das aufrührerische Gent 1453 in der Schlacht bei
Gavere Philipp dem Guten unterlegen war, da mußten
ihm die angesehensten Bürger im Hemde und mit
einem Strick um den Hals entgegenziehen, um seine
Füße zu küssen und seine Gnade zu erflehen. Es
ist also sehr bezeichnend, daß auf unserer Miniatur
die Karthager alle haarlos sind; und um das Rasiert¬
sein auszudrücken, ist über ihre Schädel ein leichter
grauer Ton gelegt, der die Stoppeln oder das Durch¬
scheinen der Haarwurzeln durch die Kopfhaut wieder¬
geben soll. Ebenso wird im Jahre 1453 die Aristo¬
kratie von Gent ausgesehen haben, als sie in ihrem
tiefen Neglige die Perücken zu Hause lassen mußte.
Darin also hat Olivier de la Marche ganz recht, daß
unter Philipp dem Guten die vornehme Welt ihre
Köpfe zu rasieren pflegte. Doch als er schrieb, war
dieses bereits eine verschollene Mode, die ihm so
sonderbar schien, daß er eine Erklärung dafür suchte.
Er fand sie in jener angeblichen Krankheit des Her¬
zogs, wie man im jüngst vergangenen Jahrhundert
das Auftreten der Krinoline aus der Schwangerschaft
der Kaiserin Eugenie erklären zu müssen glaubte.
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XVIII. H. 8
Wir werden an jener Sitte um so weniger Anstoß
nehmen dürfen, als wir wissen, daß sie sich im i8.
Jahrhundert wiederholt hat. Denn auch die Bilder
Hogarths zeigen uns ja rasierte Köpfe, deren Blöße
mit der bekannten Zopfperücke bedeckt ist.
Im Reiche Philipps des Guten hatten die Perücken
eine ganz bestimmte Form, die wir in zahllosen Bildern
wiederfinden. Ohne Scheitel gehen die Haare radien¬
förmig vom Wirbel aus und sind nach allen Seiten
hin gleich lang, so daß sie einen regelmäßigen Kreis
bilden. Aufgesetzt bedecken sie einen Teil der Stirn,
lassen aber den Hinterkopf bis über die Höhe der
Ohren bloß. Die Gemälde, welche uns diesen Kopf¬
putz zeigen, gestatten nicht immer zu erkennen, ob
natürliches oder künstliches Haar gemeint ist. Aber
da auf jener Miniatur in der Bürgerschaft von Kar¬
thago nicht etwa behaarte und unbehaarte Köpfe sich
mischen, sondern die ganze Schar rattenkahl ist, so
wird man schließen dürfen, daß zu einer gewissen
Zeit die Perücke in den höheren Gesellschaftskreisen
ganz allgemein verbreitet war.
Versuchen wir diese Zeit genauer zu umgrenzen.
Was jene kleine Rundperücke ablöste, ist uns aus
den Bildnissen des Bouts und Memling genau bekannt.
Die meisten lassen ihr Haar in mächtigem Schwall
über Ohren und Nacken herabwallen; andere, wie die
Bildnisfiguren des Löwener Abendmahls (1467), tragen
es kurz geschnitten, aber nicht mehr rasiert. Das
Perückentragen hört nicht ganz auf, wie unter ande¬
ren die Stifterbildnisse zeigen, die Hugo van der
Goes dem Hippolytusaltar des Dirk Bouts hinzuge¬
fügt hat. Denn die ungeheure Haarmasse, die hier
über den Rücken des Mannes herabhängt, ist zweifel¬
los Perücke. Doch diese hat eine ganz neue Gestalt
und soll nur den Mangel eigenen Haares verbergen;
man schafft nicht mehr, um sie bequemer aufzusetzen,
künstliche Kahlköpfe. Dieser Wechsel muß um die
Mitte der fünfziger Jahre oder wenig früher einge¬
treten sein. Denn jene Bilderhandschriften, die mit
der Jahreszahl 1456 datiert sind, zeigen in buntem
Wechsel teils die Rundperücke, teils das lange Haar;
zu der Zeit, wo sie entstanden, stritt also die neue
Mode noch mit der alten um die Vorherrschaft. Um
den Anfang der sechziger Jahre scheint sie sich dann
vollständig durchgesetzt zu haben. Jedenfalls ist mir
kein Bildnis bekannt, das erweislich nach 1461 gemalt
wäre und noch die Rundperücke oder den rasierten
Kopf aufwiese.
Fragen wir weiter, wann sie zuerst auftreten, so
sind die ältesten datierten Zeugnisse, die ich dafür
kenne, die folgenden. Bei jenem Mahle des Herzogs
von Berri, das, wie wir (S. 204) gesehen haben, dem
Jahre 1416 angehört, trägt er selbst und mit ihm die
vornehmeren Gäste das Haupt bedeckt; aber daß unter
den Hüten gar nichts von Haaren bemerkbar ist, weist
auf Kahlköpfe hin. Demgemäß zeigt das Hofgesinde,
das ihn barhaupt bedient, mit einer einzigen Ausnahme
die Rundperücke. Ein wenig jüngeres Beispiel bietet
eine Madonna mit Stifterfamilie in Belle-Gasthuis zu
Ypern, die mit der Jahreszahl 1420 bezeichnet ist.
Hier erscheint dieselbe Perücke sowohl bei dem
29
2o6
DIE BEWEINUNG MIT DEM STIFTER
Manne als auch bei seinen vier Söhnen bis zum
kleinsten herab. Die Herrschaft jener Mode läßt sich
also von 1416 bis 1461 nachweisen, obgleich sie
schon um 1455 angefochten wird.
Natürlich hat sie sich auch im Anfang dieses Zeit¬
raumes nicht gleich ausnahmslos durchgesetzt, sondern
manche haben noch lange Jahre ihr eigenes Haar be¬
hauptet. Am deutlichsten zeigt sich dies in den Bild¬
nissen der Brüder van Eyck. Soweit sie Laien dar¬
stellen - denn Geistliche waren schon durch ihre
Regel vom Mitmachen der Mode ausgeschlossen — ,
tragen sie meist irgend eine Ko|:)fbedeckung, unter
der, wie bei den Herzogen von Burgund und Berri,
keine Spur von Haar sichtbar wird; so das Bildnis
auf der Richtertafel, in dem man Jan van Eyck zu
erblicken pflegt, das
aber in Wirklichkeit
Hubert darstellt, fer¬
ner der Jüngling in
Hermannstadt, die
drei Männerbildnisse
in London, der Ar-
nolfini und der Baul-
douin de Lannoy in
Berlin. Sind sie da¬
gegen barhaupt, so
erblicken wir bei
ihnen entweder den
rasierten Kopf oder
die Rundperücke.
Der erstere findet
sich, wie schon ge¬
sagt, bei Jodocus
Vydt, die zweite bei
dem Kanzler Rolin
des Louvre, bei den
Stiftern in Dresden
und Leipzig und bei
dem Bildnis der Pil¬
gertafel, in dem ich
Jan van Eyck zu er¬
kennen meine. Ne¬
ben dieser Mehrzahl
erscheinen aber auch
vereinzelte Männer,
die der Mode zuwider noch ihr eigenes Haar
tragen; es sind der berühmte Mann mit den Nelken
in Berlin, der Greis bei Baron Oppenheim in Köln
und der Jan de Leeuw in Wien (1436). Ihnen stellt
sich das Stifterbildnis der Londoner Beweinung
an die Seite, das, weil von Roger van der Weyden
gemalt, nicht älter als 1432 sein kann. Die Oppo¬
sition gegen das allgemeine Perückentragen hat also
mindestens bis um die Mitte der dreißiger Jahre fort¬
gedauert; doch wie man leicht begreift, waren die¬
jenigen, welche sich ihm widersetzten, Leute von
gutem Haarwuchs. Die Glatzköpfe dagegen werden
zu den ersten gehört haben, welche eine Mode be¬
grüßten und annahmen, die ihnen gestattete, ihren
natürlichen Defekt zu verhüllen. So kenne ich denn
auch vom Anfang des 1 5. Jahrhunderts bis zum Jahre
147g nicht mehr als drei Bildnisse, die einen echten,
nicht einen rasierten Kahlkopf ohne Bedeckung zeigen.
Es sind die folgenden:
1. Der Herzog von Berri auf dem Titelblatte des
Brüsseler Gebetbuches. Es ist wahrscheinlich schon
vor 1402 ausgemalt, da es in einem Inventar dieses
Jahres erwähnt zu sein scheint.
2. Der Stifter eines Gemäldes, das sich in der
Sakristei von St. Sauveur zu Brügge befindet. Es
stellt einen Gekreuzigten zwischen vier Engeln mit
den Marterwerkzeugen dar, zu dessen Füßen links
die Madonna, rechts der Stifter knien. Die Engel
zeigen in ihrer Gewandung noch die sanft geschwunge¬
nen Linien der Gotik ohne jede scharfe Brechung
der Falten. Am Fußboden ist das Fliesenmuster nach
hinten zu noch gar
nicht verjüngt, so
daß er senkrecht zu
stellen scheint. Das
Bild ist also entweder
noch voreyckisch
oder es gehört in
die erste Frühzeit
Huberts; später als
in das erstejahrzehnt
des 1 5. Jahrhunderts
wird man es kaum
setzen können.
3. Der Stifter
unserer Beweinung.
Erst als man in
den fünfziger Jahren
die Perücke abzu¬
legen begann und
sich daran gewöhnte,
wieder das eigene
Haar zu tragen, ge¬
langte man sehr
allmählich dazu, sich
auch derGlatze nicht
zu schämen. Das
älteste Beispiel dafür,
das mir bekannt ge¬
worden ist, findet
sich bei einem Stifter
des Memlingschen Altars von 1479, der im Johannis¬
hospital zu Brügge bewahrt wird. Aus allem diesen
wird man sich überzeugt haben, daß unsere Bewei¬
nung eher um 1420 oder noch früher, als um 1450
anzusetzen ist.
Dem entspricht es, daß dieses Bild noch gar keinen
Einfluß des Genfer Altars erkennen läßt, der sich
namentlich in der Stifterfigur zeigen müßte. Nicht
nur die Belichtung ihres Kopfes ist ganz anders als
bei Jodocus Vydt, sondern vor allem auch die Zeich¬
nung der Hände. Diese sind nicht der Natur nach¬
gebildet, sondern nach einem Schema gemalt, was
ein Meister von dieser Befähigung gewiß nicht getan
hätte, falls ihm ein so glänzendes Beispiel des Gegen¬
teils schon bekannt gewesen wäre. Und wenn doch,
so hätte er wahrscheinlich die Hände des Genfer
UNBEKANNTER MEISTER. DER GEKREUZIGTE. BRÜGGE, ST. SAUVEUR
DIE BEWEINUNG MIT DEM STIFTER
207
Stifters nachgeahmt. Statt dessen hat er sein Vorbild
jenem alten Gemälde von St. Sauvenr entlehnt. Mit
ihm stimmt er in dem leicht gekrümmten kleinen
Finger überein, in dem aufwärts gebogenen Daumen,
in der Art, wie nur die Fingerspitzen zusammenge¬
legt und die Handballen weit voneinander entfernt
sind, mit den Händen der Maria auch darin, daß der
vierte und fünfte Finger durch einen breiteren Zwischen¬
raum voneinander und von dem zweiten und dritten
getrennt sind, die ihrerseits dicht zusammenliegen.
Dies sind so charakteristische Ähnlichkeiten, daß sie
unmöglich Zufall sein
können.
Berührungspunkte, die
über den allgemeinsten
Schulzusammenhang hin¬
ausgehen, zeigt unser Mei¬
ster nur mit einem Ge¬
mälde der van Eycks, und
dieses gehört zu den frühe¬
sten, die uns von den gro¬
ßen Brüdern erhalten sind ;
ich meine die kleine Ma¬
donna mit dem Karthäuser
im Kaiser- Friedrich -Mu¬
seum zu Berlin.
Die Wandlungen, wel¬
che dieses Bildchen im
Urteil der Kunstgelehrten
durchgemacht hat, sind so
charakteristisch und hän¬
gen mit unserem Gegen¬
stände so eng zusammen,
daß wir sie hier nicht über¬
gehen dürfen. So lange
es in dem abgelegenen
Burleigh House nur we¬
nigen Forschern zugäng¬
lich war, galt es für eins
der schönsten Werke des
Jan van Eyck und genoß
als solches ungeteilter Be¬
wunderung. Da entdeckte
Hymans, daß ein Gemäl¬
de, das Blaise Hutter in
einem Inventar vom Jahre
1595 dem »Rupert van
Eyck« zuschrieb, mit diesem Bildchen identisch sein
müsse. Zwar war die Beschreibung desselben falsch,
stimmte aber besser dazu, als wenn sie richtig ge¬
wesen wäre. Denn wenn sie von einer Madonna mit
dem heiligen Bernhard und einem Engel sprach, so
war hier der Stifter zwar keineswegs der heilige
Bernhard, wohl aber ein weißgekleideter Mönch, wie
jener es gewesen war. Und die heilige Barbara hinter
ihm macht mit ihrem kurzen Lockenhaar einen so
knabenhaften Eindruck, daß ein flüchtiger Betrachter
sie leicht für einen Engel halten konnte. Zudem ist
ihr Turm durch die Gestalt des Mönches von ihr
getrennt, und es bedarf eines sehr genauen Zusehens,
um zu erkennen, daß sie ihn anfaßt und dadurch als
ihr Attribut bezeichnet. So erklärten sich die Irr-
tümer des Blaise Hutter leicht aus der Art dieses
Bildes, und es blieb kaum ein Zweifel übrig, daß
er es gemeint haben müsse. Nun ist es zwar zu
allen Zeiten vorgekominen , daß man Kunstwerke
fälschlich auf irgend einen berühmten Namen taufte.
Aber Hubert van Eyck war damals kein berühmter
Name. Im 16. Jahrhundert zollte man wohl seinem
jüngeren Bruder, den man aus den Signaturen seiner
Bilder kannte, die verdiente Anerkennung, von ihm
selbst aber wußte man so gut wie nichts, und daß
Blaise Hutter nie von ihm
gehört hatte, ergibt sich
am deutlichsten aus der
Verstümmelung seines Na¬
mens in »Rupert van Eyck .
Mithin lag hier ein Zeugnis
vor, das nicht erfunden
sein konnte, also sicher
aus guter alter Überliefe¬
rung geschöpft war, und
es auf das ähnliche Bild
bei Gustav Rothschild in
Paris zu beziehen, wie man
neuerdings versucht hat,
ist ganz unmöglich, weil
auf dieses die Beschreibung
in keiner Weise paßt. Denn
hier stehen neben dem
weißgekleideten Mönch
nicht r/« Engel , sondern
zwei heilige Frauen, von
denen keine auch nur die
allergeringste Ähnlichkeit
mit einem Engel darbietet.
Die Beglaubigung der Bur-
leigh-House-Madonna ist
also eine so gute, wie
man sie für ein unbezeich-
netes Werk jener Frühzeit
nur verlangen kann.
Da wurde das Bildchen
für das Berliner Museum
erworben, und Tschudi,
der es zum erstenmal ver¬
öffentlichte, konstatierte
aufs neue, daß es mit den
Gemälden des Jan van Eyck große Ähnlichkeit habe.
Dies war durchaus kein Grund, es dem Hubert abzuspre¬
chen. Denn daß ein guter Schüler seinem Meister bis zum
Verwechseln ähnlich werden kann, läßt sich durch so
manche Beispiele belegen. Noch heute schwankt die
Forschung bei vielen Bildern, ob sie Perugino oder dem
jungen Raffael, ob Rubens oder dem jungen van Dyck
zuzuteilen sind, und daß Jan seinen Bruder sehr genau
und mit großem Geschick nachgeahmt hatte, ergab
sich ja aus dem Genter Altar, wo die Hände der
beiden Meister sich kaum scheiden lassen. Nichtsdesto¬
weniger erklärte Tschudi, die Karthäusermadonna könne
nur von Jan van Eyck herrühren, und unter diesem
Namen wurde sic im Berliner Museum ausgestellt.
HUBERT VAN EYCK. DIE MADONNA MIT DEM KARTHÄUSER.
BERLIN
29
208
DIE BEWEINUNG MIT DEM STIFTER
Hier hatte man reiche Gelegenlieit, sie mit anderen
Werken des Meisters zu vergleichen, und fand bei
stets erneuter Betrachtung, daß sie von ihnen denn
doch recht wesentlicli verscliieden sei. Aber statt
dieses als willkommene Bestätigung des Blaise Hutter
zu begrüßen, riet man jetzt auf Petrus Cristus.
Kaum hatte man sich auf diesen Namen besonnen,
so gelang es James Weale, die Person jenes wei߬
gekleideten Mönches festzustellen. Es war ein ge¬
wisser Hermann Steenken, der dem Karthäuserkloster
der heiligen Anna ter Woestire angehört hatte und
einmal vor einer Statue der heiligen Barbara in Ver¬
zückung beobachtet worden war. Daß diese Be¬
stimmung richtig war, konnte nicht bezweifelt werden.
Denn auf dem Rothschildschen Bilde erschien ja der¬
selbe Mann in Verbindung mit Barbara als seiner
persönlichen Schutzheiligen und mit Anna als der
Herrin seines Klosters. Da dessen Lage in der Nähe
von Brügge auf Beziehungen zu den Brüdern van
Eyck hinwies, gab man jetzt zu, daß das Pariser Ge¬
mälde von Jan oder auch von Hubert herrühren könne,
doch für das Berliner hielt man an Petrus Cristus
fest. Aber Hermann Steenken war schon 1428 ge¬
storben, beinahe zwei Jahrzehnte früher, als die Tätig¬
keit jenes unbedeutenden Malers begann.
Auch für diese Verlegenheit wußte Dvorak Rat.
Der biedere Karthäuser sollte als Heiliger verehrt und
deshalb noch zwanzig Jahre nach seinem Tode im
Bilde verewigi worden sein. Doch von seiner Heilig¬
sprechung weiß man nichts, und gesetzt sie wäre
erfolgt, so ist er hier doch nicht als Heiliger darge¬
stellt. Denn er steht nicht gleichberechtigt neben
seiner Barbara, sondern wird von ihr als demütiger
Beter der Madonna empfohlen. Nach tausend Ana¬
logien kann es gar nicht zweifelhaft sein, daß wir
hier keinen Heiligen, sondern einen ganz gewöhnlichen
Stifter vor uns haben. Das Verhältnis der beiden
Bilder werden wir uns so zu denken haben, daß das
größere Pariser für die Klosterkirche, das kleinere
Berliner für die eigene Zelle des Mönches bestimmt
war; zu seinen Lebzeiten aber müssen beide gemalt
sein, womit die Urheberschaft des Petrus Cristus
ausgeschlossen ist.
Der Entdeckung James Weales folgte sehr schnell
eine noch wichtigere. Der Graf Paul Durrieu erkannte,
daß mehrere Blätter des Turiner Gebetbuches, das
jetzt leider ein Raub der Flammen geworden ist, ans
der Werkstatt der van Eycks hervorgegangen waren,
und führte den Beweis, daß sie in den Jahren 1416
und 1417 gemalt sein mußten. Sie lagen also nicht
nur der Tätigkeit des Petrus Cristus, sondern auch
der des Jan van Eyck voraus und konnten folglich
nur von Hubert und seinen Gehilfen herrühren. Unter
diesen Miniaturen befand sich aber auch eine Ma¬
donna mit einer Gruppe weiblicher Heiligen, die zu
dem Berliner Bildchen die auffälligsten Analogien
zeigte.
Zum Überfluß sei noch auf ein Merkmal hinge¬
wiesen, mit dem beide van Eycks alle ihre Ölgemälde,
soweit sie größere Landschaften enthielten, bezeichnet
zu haben scheinen, den Zug wilder Gänse am Himmel.
Er fehlt nur auf der Berliner Kreuzigung und auf
den Petersburger Altarflügeln. Doch bei jener ist der
obere Teil des Bildes so schlecht erhalten, daß diese
gebrochene Reihe kleiner schwarzer Linien leicht zer¬
stört sein kann, und bei diesen ist die Vermutung
gestattet, daß sie auf der verlorenen Mitteltafel ge¬
standen hat. Denn sie findet sich auf dem Genter Altar
sowohl auf der Innenseite (Einsiedlertafel), als auch auf
der Außenseite (die Stadtansicht auf der Rückseite des
Brüsseler Adam), ferner bei den drei Marien der Samm¬
lung Cook, bei den Madonnen des Louvre und der
Sammlung f^othschild, bei dem heiligen Franz in
Turin und der heiligen Barbara in Antwerpen, kurz
auf allen Gemälden der Brüder, die einen landschaft¬
lichen Hintergrund besitzen und vollständig erhalten
sind. Ein Zeichen, das bei ihnen mit solcher Regel¬
mäßigkeit erscheint, auch wo ihre Himmel nicht von
anderen Vögeln belebt sind, und das sich meines
Wissens sonst bei keinem Maler wiederfindet, darf
man wohl als ihre gemeinsame Künstlermarke be¬
trachten. Ein Beispiel ganz ähnlicher Art bietet ja
die Eule des Herri met de Bles. Ob Hubert durch
jenen Wanderzug sich als weitgereisten Mann be¬
zeichnen, ob er durch die eckige Gestalt desselben
an seinen Namen erinnern wollte, der ja dem Worte
»Eck' ähnlich ist, lassen wir unentschieden. Jeden¬
falls weist auch das Erscheinen dieses Vogelzeichens
bei der Berliner Madonna darauf hin, daß sie von
einem der beiden Brüder gemalt ist.
Daß unser Bild hinter dem größeren Pariser an
bestechender Schönheit zurücksteht, ist richtig; doch
hindert dies nicht, in ihnen die gleiche Hand zu
erkennen. Der Wertunterschied erklärt sich zum Teil
daraus, daß eine Wiederholung, auch wenn sie noch
so frei ist, doch selten mit der gleichen Frische ge¬
malt wird, wie das erste Bild. Doch kommen noch
andere, bedeutsamere Gründe hinzu. Hermann Steenken
wurde schon 1402 Vikar seines Klosters, eine Würde,
die man nicht in jungen Jahren erreichte. Da unsere
Gemälde ihn zwar grauhaarig, aber doch noch in
voller Blüte der Manneskraft darstellen, werden sie
nicht viel später entstanden sein; sie gehören also
noch in die Frühzeit des Hubert van Eyck. Dies
erklärt es, warum die Köpfe des Pariser Bildes, auch
das Porträt nicht ausgenommen, noch sehr mangel¬
haft individualisiert sind. Der Mönch zeigt das Haar
eines Greises, aber das glatte Gesicht eines Jünglings,
offenbar aus keinem anderen Grunde, als weil der
Künstler noch nicht imstande ist, seine Züge mit der
scharfen Beobachtung aller Einzelheiten wiederzugeben,
die wir an seinen späteren Bildnissen bewundern. So
haben denn auch die heiligen Frauen alle drei genau
das gleiche Gesicht und selbst die gleiche Dreiviertel¬
ansicht desselben; die Hände vollends unterscheiden
sich so wenig, daß selbst die männlichen des Stifters
kaum anders behandelt sind, als die weiblichen. Ganz
anders auf dem Berliner Gemälde. Wenn hier der
Mönch beträchtlich älter erscheint, so liegt dies wohl
weniger an der späteren Entstehung des Bildnisses,
als daran, daß die Falten und Unebenheiten der Haut
trotz des kleineren Formates doch deutlicher ausge-
DIE BEWEINUNG MIT DEM STIFTER
209
prägt sind. Jedenfalls ist dieser Kopf viel individu¬
eller als der Pariser. Maria und Barbara unterscheiden
sich sehr auffällig im Oesichtstypus; die Hände sind
bei der einen fein und langfingerig, bei der anderen
breit und kurz, bei dem Stifter höchst charakteristisch
der Natur nachgebildet. Der Maler hat die Unvoll¬
kommenheiten seines früheren Werkes empfunden und
schlägt ganz neue Wege ein. Auf diesen aber geht
er nicht mehr so sicher, wie auf den altgewohnten.
Es liegt in der Natur der Dinge, daß erste Versuche
immer etwas Tastendes an sich haben. Weil das
Pariser Bild noch bei dem eingeübten Schema bleibt,
ist es ausgeglichener und deshalb in seiner Gesamt¬
wirkung befriedigender als das Berliner, obgleich
dieses in der künstlerischen Entwickelung des Meisters
eine höhere Stufe bezeichnet.
Noch entschiedener tritt dies in der Landschaft
hervor, die am unverkennbarsten die Hand Huberts
verrät und doch zugleich von seiner sonstigen Art
am meisten abweicht. Die zarte Behandlung des
Laubwerks an Bäumen und Büschen, der feine Farben¬
sinn, mit dem an den Dächern der Stadt der bläu¬
liche Schiefer zu dem Rot der Ziegel gestimmt ist,
der Fluß, der in leuchtender Spiegelung das Ganze
durchzieht, die überreiche Staffage in winzigen Figür-
chen, die grell weißen Punkte, die, durch einen kleinen
Schimmel, durch aufgehängte Wäsche, durch die Kopf¬
tücher der Frauen motiviert, überall verstreut sind
und über das Bildchen ein wunderbares Flimmern
des Lichtes verbreiten, alles dies kehrt bei den
Madonnen des Louvre und der Sammlung Rothschild
wieder. Wann hat Petrus Cristus oder irgend ein
anderer Meister, selbst Jan van Eyck nicht ausge¬
nommen, ähnliches erreicht oder auch nur erstrebt?
Doch während in diesen Beziehungen Hubert ganz
er selbst bleibt, hat er in anderen das Schema be¬
wußt durchbroehen , das seine eigenen Bilder vorher
geschaffen hatten.
Für das älteste von denjenigen, die ich früher
kannte, hatte ich schon nach der Photographie die
drei Marien der Sammlung Cook erklärt. Die Betraeh-
tung des Originals, die mir seitdem möglich geworden
ist, hat mir für diese Zeitbestimmung eine entschei¬
dende Bestätigung gewährt. Denn wie ich mich über¬
zeugt habe, sind die Säume der Frauenkleider hier
noch mit Blattgold aufgesetzt, während Hubert in
allen späteren Gemälden das Gold nur durch schat¬
tiertes Gelb wiedergibt und damit eine viel höhere
Illusion erreicht, ln diesem Bilde ist auch für die
Landschaft das Schema aufgestellt, das Hubert und
seine ganze Schule seitdem beherrscht hat.
Früher hatte ich die Meinung ausgesprochen, daß
erst Jan van Eyck der Erfinder der drei Gründe ge¬
wesen sei; aber durch Hulin aufmerksam gemacht,
habe ich mich überzeugen müssen, daß dies ein
Irrtum war. Schon bei den drei Marien sind sie
durch die Linien der Landsehaft klar voneinander
geschieden und in ihren Tonwerten deutlich abge¬
stuft, und diesem Verfahren ist Hubert dann so treu
geblieben, daß es in seinen spätesten Werken schon
zur Manier ausartet. So ist bei der Anbetung des
Lammes mitten durch die Wiese ein Strich gezogen;
vor demselben sind alle Pflanzen mit der Treue eines
botanischen Atlas einzeln dargestellt, dahinter folgt
eine grüne Fläche, auf der die Blumen nur durch
weiße Punkte angedeutet werden. Über diesem zweiten
Grunde erhebt sich das Erdreich zu Hügeln, hinter
denen als dritter die blaue Ferne liegt. Bei dem
Kanzler Rolin des Louvre wird der erste Grund durch
die Zinnen des Geländers abgeschlossen, der zweite
enthält, schon in sanfter abgetönten Lokalfarben, die
Stadt mit den sie umgebenden Hügeln, der dritte den
blauen Alpenzug. Diese zwei Beispiele mögen als
Illustration des ganzen Verfahrens genügen. Bei der
Karthäusermadonna hat Hubert versucht, ohne diese
schematische Trennung durch ganz allmähliche Über¬
gänge die Ferne in den Vordergrund überzuleiten.
Er läßt daher nicht einmal das Geländer der Loggia
einen durchgehenden Scheidungsstrich bilden, sondern
führt auf der linken Seite das Erdreich darüber hin¬
aus bis dicht an die Figuren heran. Aber dieses
Experiment ist nicht ganz gelungen, weil das per¬
spektivische Wissen des Meisters dafür nicht ausreichte.
Denn da er Landschaft und Architektur von verschie¬
denen Augenpunkten gesehen hat, entsteht zwischen
ihnen ein Zwiespalt, den sein scharfer Blick hinterher
wohl bemerkte, aber seine ungenügende Kenntnis nicht
zu lösen vermoehte. Er ist daher in seinen späteren
Bildern zu der Scheidung der Gründe zurüekgekehrt,
die jenen Zwiespalt zwar nicht aufhob, wohl aber
einigermaßen verhüllte.
Diesem mißglückten Versuch schloß sich ein zweiter
an. Die Schwierigkeit jenes allmählichen Überganges
hat den Meister veranlaßt, die Landschaft kleiner zu
machen und deshalb den Horizont viel weiter herab¬
zurücken, als sonst seine Gewohnheit war. Dies
aber bedingte auch eine ihm ganz neue Farbenwirkung.
Blieben die Köpfe der menschlichen Gestalten unter
dem Horizont, so ließ sieh die bräunliche Farbe von
Haar und Gesicht leicht zu dem Braun und Braun¬
grün der Landschaft stimmen. Hier dagegen kamen
sie gegen den blauen Himmel zu stehen, und an die
Stelle der Tonharmonie trat ein scharfer Kontrast.
Doch ihn koloristisch auszugleichen, war nicht leicht.
Daher ist die Rothschildsche Madonna auch in der
Färbung besser gelungen als die Berliner. Hubert
hatte eben auch in dieser Beziehung etwas unter¬
nommen, was ihm ungewohnt und seinem Farben¬
empfinden, das sich wesentlich auf Tonwirkung richtete,
auch nicht ganz gemäß war. Er ist daher auf diesen
Versuch nur noch bei den singenden und spielenden
Engeln des Genter Altars zurückgekommen; doch hier
setzte sich nicht mehr der einzelne Kopf, sondern die
ganze Masse gegen das Blau des Himmels ab, was
ein Zusammenhalten der Farben sehr erleichterte.
Hiermit kommen wir auf den Himmel unseres
Bildchens, den man am schärfsten getadelt hat. Und
doch liefert gerade er den deutlichsten Beweis, daß
es nicht von Petrus Cristus herrühren, sondern mü¬
der allerersten Frühzeit der niederländischen Kunst
angehören kann. Denn so kindlich stilisierte Wölk¬
chen hat auch der ärgste Stümper nicht mehr gemalt.
210
DIE BEWEINUNG MIT DEM STIFTER
nachdem das Beispiel des Genter Altars gegeben war.
Alle Künstler der folgenden Generation ahmen seine
Wolken entweder nach, oder wenn sie sich das nicht
Zutrauen, lassen sie den Himmel einfach unbewölkt.
Dies pflegd auch Petrus Cristus zu tun; wo er
sich aber doch an Wolken heran wagt, wie bei der
Wörlitzer Kreuzigung, da zeigen sie keineswegs
stilisierte Ränder, sondern sind charakterlose weiße
Klekse ohne eine Spur von klargestalteter Form.
Wie anders die Wolken unserer Madonna, an denen
jeder Strich scharf und bestimmt von künstlerischer
Absicht zeugt, mag sie auch nicht voll erreicht sein!
Es ist immer die noch ungeschulte Naturbetrachtung,
die zum Stilisieren führt; in der Regel tritt es dort
auf, wo ein neues Gebiet der Beobachtung zuerst
erschlossen wird. Ein sehr lehrreiches Beispiel bietet
in dieser Beziehung noch Gerhard David. Ruhig
spiegelndes Wasser und der Wellenschlag des Meeres
waren schon vor ihm gemalt worden ; doch die leicht
bewegte Oberfläche eines Flusses darzustellen, hat er
in der Taufe Christi, die sich im Museum von Brügge
befindet, zum erstenmal versucht. Trotz der sehr
hohen Stufe der Entwickelung, die dieser Künstler
schon erreicht hat, stilisiert er hier so arg, dalf das
Wasser aussieht, als wenn ein Netz darüber gebreitet
wäre. Und man wundert sich, wenn ein Hubert van
Eyck, der noch auf der Schwelle der modernen Kunst
steht, in seiner Frühzeit analoge Fehler begeht!
Den Wolken hat der große Meister ein ganz be¬
sonderes Studium gewidmet; doch ihre stets wech¬
selnde Gestalt bereitete ihm solche Schwierigkeiten,
daß er nie damit zum Abschluß gekommen ist und
die schon eingeschlagenen Wege immer wieder ver¬
lassen hat. Das glücklichste Gelingen zeigt gleich
der erste Versuch bei den drei Marien zu Richrnond,
aber nur weil er hier auf ein festes Gestalten ganz
verzichtet und statt klar abgegrenzter Wolken einen
grauen Nebel gibt, der in unbestimmten Umrissen
den Morgenhimmel überzieht. Die gleiche Ver¬
schwommenheit beherrscht auch bei der Rothschild-
Madonna den größeren Teil des Himmels; nur ganz
oben dicht unter dem linken Rundbogen versucht
sich der Künstler schüchtern an einer fest umschriebe¬
nen Ballenwolke. Ihre Technik ist ganz ähnlich wie
bei der Berliner Madonna und dem Genter Altar:
das Weiß wird durchscheinend über das Blau des
Himmels gelegt, so daß die Schatten durch dünneren
Auftrag hervorgebracht werden, dem nur ein ganz
klein wenig Grau nachhilft. Doch in ihrer Gestalt
erscheint sie noch plump und unschön, wie ein rund¬
licher Wattenkloß. Ganz ähnliche Wolken finden
sich dann auch auf der Berliner Kreuzigung. Doch
der Künstler ist sich ihrer Unvollkommenheit bewußt
und beginnt jetzt ein ganz systematisches Studium
dieser Naturerscheinung, dessen erstes Resultat die
Berliner Madonna darstellt. Cirri, Strati und Cumuli
sind hier scharf unterschieden und die beiden ersteren
auch recht gut nachgebildet. Bei den Ballenwolken
dagegen, die er bisher mit öden Rundlinien um¬
schrieben hatte, interessiert ihn jetzt die ewig schwan¬
kende Bewegung der Ränder, die ja wunderschön.
aber unglaublich schwer wiederzugeben ist. Doch
Hubert ist kühn genug, sich auch an diesem Problem
zu versuchen, und das Ergebnis sind jene stilisierten
Zäckchen, die wohl die Absicht erkennen lassen, aber
von ihrem Erreichen himmelweit entfernt sind. Etwas
besser sind die Cumuli auf der Petersburger Kreuzigung
gebildet, am besten auf dem Genter Altar; aber auch
hier bleiben sie unnatürlich und befriedigen den
Künstler nicht. Bei dem Kanzler Rolin ist er daher
zu den unbestimmten Wolkenbildungen seiner Früh¬
zeit zurückgekehrt, die das Problem nicht lösen, aber
geschickt umgehen und wenigstens alles Störende
vermeiden.
Noch Eins ist bei dem Himmel der Berliner Ma¬
donna sehr zu beachten. Bei den drei Marien sollte
die früheste Morgenstunde dargestellt werden; der
Horizont ist daher noch in klares Gelb getaucht, das
ganz allmählich nach oben in Blau übergeht. Diese
Behandlung entsprach der Zeit des Sonnenaufgangs
oder -Untergangs; bei vollem Tage war sie nicht mehr
richtig. Denn wenn der Horizont auch etwas heller
ist als der Zenit, so bleibt er bei hohem Sonnen¬
stände doch immer blau. Doch jener zarte Farben¬
übergang war so schön, daß Hubert ihn auch auf
die Mehrzahl seiner anderen Bilder übertragen hat,
und die ganze Schule ist ihm darin gefolgt. Bis tief
ins i6. Jahrhundert hinein gibt es keine niederlän¬
dische Landschaft, deren Himmel nicht am Horizont
gelb oder weiß wäre. Die einzigen Ausnahmen, die
ich kenne, sind unsere Madonna und die Berliner
Kreuzigung. Darin liegt, wie mir scheint, ein weiterer
Beweis, daß diese beiden Gemälde entstanden sind,
ehe jener allmähliche Wechsel der Farbe zur festen
Schultradition geworden war, das heißt in der ersten
Frühzeit des 15. Jahrhunderts.
Wenden wir uns nun zu unserer Beweinung zu¬
rück und betrachten wir ihr Verhältnis zur Karthäuser¬
madonna. Während Hubert seine späteren Bildnis¬
köpfe immer im vollen Lichte malt, ist der Mönch unse¬
res Bildchens nur auf der dem Beschauer zugekehrten
Seite beleuchtet; die andere liegt in tiefem Schatten.
Ganz ebenso bei dem Stifter der Beweinung. Schon
oben (S. 202) haben wir gesehen, daß das profane
Bildnis von der Madonna durch einen scharf betonten
Trennungsstrich geschieden ist und daß unser anonymer
Meister dieses in sehr feiner und geistvoller Weise
nachgeahmt hat. Ferner gehören die knochigen, lang¬
fingerigen Hände der Karthäusermadonna ganz dem
gleichen Typus an, den wir an dem Johannes und
der Schmerzensmutter der Beweinung beobachten
können, und daß sie nicht recht zuzugreifen imstande
sind, wiederholt sich gleichfalls bei dem Bildchen
Huberts, wo das Kind sehr unsicher auf den Händen
der Maria ruht. Auch daß die Köpfe sich gegen den
Himmel absetzen, daß die Hauptfarbenakzente auf
die beiden Seiten gelegt sind und die Mitte heller
bleibt, daß der Horizont niedrig ist und in blauer
Ferne verschwimmt, kehrt hier wie dort wieder. Hubert
verleiht seinen Farben ein höchst wirkungsvolles
Flimmern, indem er seine Landschaft mit weißen
Pünktchen überstreut; dasselbe sucht unser Meister
DIE BEWEINUNG MIT DEM STIFTER
21 1
durch die zahlreichen weißen Blümchen des Vorder¬
grundes zu erreichen, freilich nicht ganz mit dem¬
selben Erfolge. Vor allem aber zeigt sich seine Ab¬
hängigkeit von dem Berliner Bildchen in den Wolken,
so verschieden sie auf den ersten Blick auch aus¬
seh en. Hubert hatte hier Cirri, Strati und Cumuli
zum erstenmal beobachtet und sorgfältig unterschieden;
dieselben drei Arten erscheinen auch auf unserer Be¬
weinung und das nicht zu ihrem Vorteil. Denn der
große Zug der Ballenwolken wird durch die kleinen
Formen, die zwischen sie eingestreut sind, nur unter¬
brochen und gehemmt. Es ist dies wieder einer der
zahlreichen Fälle, wo die Überlieferung eines älteren
Meisters ebenso stört, wie sie gefördert hat. Hubert
setzt seine Wolken mit durchsichtigem Weiß auf das
Blau des Himmels und bezeichnet die Lichter durch
dickeren, die Schatten durch dünneren Auftrag; ganz
ebenso unser Meister, nur daß er die hellsten Teile
viel pastoser malt. Soweit sein Himmel sich über
den primitiven Versuch seines Vorgängers erhebt,
knüpft er doch unverkennbar an ihn an.
Daß zwischen den Werken des Roger van der
Weyden und unserer Beweinung ein enger Zusammen¬
hang besteht, hat man nie verkannt; man hat sie daher
sogar der Schule Rogers zugeschrieben. Wir haben
gesehen, daß sie gemalt sein muß, lange ehe dieser
seine Künstlerlaufbahn begann. Doch wenn sie keinem
seiner Nachfolger angehören kann, muß sie von seinem
Vorläufer herrühren. Der Meister, welcher die Kunst
des Hubert van Eyck dem Roger vermittelte, den dieser
in seiner ersten Frühzeit sklavisch nachahmte, um erst
ganz allmählich zu freierer Selbständigkeit durchzu¬
dringen, kann kein anderer gewesen sein, als sein
Lehrer, Robert Campin, und damit hört unser Bild
auf, anonym zu sein.
Andere Werke des großen Meisters aufzufinden,
wird durch den Vergleich mit der Berliner Beweinung
vielleicht möglich sein. Mir ist es trotz eifrigen
Suchens nicht gelungen, und auch Bode teilte mir
mit, daß ihm kein Gemälde bekannt sei, in dem die
gleiche Hand sich erkennen lasse. Trotzdem möchten
wir der Hoffnung nicht entsagen, daß der Bildersturm
dem Robert Campin nicht ganz so übet mitgespielt
habe, wie dem Albert van Ouwater, dessen Aufer¬
weckung des Lazarus ja leider noch bis auf den
heutigen Tag ein Unikum geblieben ist.
BUCHERSCHAU
Histoire de l’art, publiee sous la direction de Andre
Michel. Tom I. Livre II. L’art roman. Librairie A. Colin.
1905.
Bei der Besprechung des ersten Buches dieses breit
angelegten Werkes wurden schon die allgemeinen Vor¬
teile und Schwächen des Programms angedeutet. Das
zweite Buch ist eine schöne Ergänzung des ersten und
dürfte im allgemeinen eine Bestätigung unserer früheren
Urteile geben, doch ist eine größere Einheitlichkeit in der
Komposition dieses zweiten Volums zu bemerken. Aber
wie früher, so ist es auch hier in erster Linie der Inhalts¬
reichtum, die außerordentliche Sachkenntnis der verschie¬
denen mitarbeitenden Spezialforscher, die dem Buche einen
hohen Wert gibt. Die beiden bis jetzt publizierten Bücher
werden immer zusammen als Kompendium für die mittel¬
alterliche Kunstgeschichte einen hervorragenden Platz be¬
halten, denn die geben an tatsächlichem Material mehr
als wir sonst von Handbüchern der Kunstgeschichte zu
erwarten gewohnt sind, aber wegen ihrer betonten fran¬
zösischen Sympathien können sie nicht die besten deut¬
schen Kunstgeschichten ersetzen. Man fragt sich unfrei¬
willig, ob das nicht richtiger und nützlicher gewesen wäre,
wenn die gelehrten Forscher sich auf die Geschichte der
französischen Kunst (nebst orientierenden Kapiteln über
die gleichzeitige ausländische Kunst) beschränkt hätten.
Das Werk würde dadurch jede Schwäche verloren haben
und lesbarer geworden sein. Besonders dieses zweite
Buch bekommt seinen Hauptwert durch die Kapitel über
romanische Kunst in Frankreich.
Das Buch wird mit einer Übersicht der romanischen
Architektur von M. Camille Enlart eingeleitet. Das Thema
gehört kaum zu den fesselndsten und der ungemeine
Reichtum an Bauwerke, die Erwähnung forderten, machte
es nicht leichter, eine unterhaltende Darstellung zu schreiben.
Besonders zu bedauern ist hier die Sparsamkeit an Ab¬
bildungen; infolgedessen verliert das sorgfältig ausge¬
arbeitete Kapitel an Interesse für alle die Leser, die
nicht schon früher mit den zahlreichen beschriebenen Mo¬
numenten bekannt sind. Die allgemeinen Charakteristiken
der romanischen Architektur in den verschiedenen Ländern
müssen das Interesse an den einzelnen Bauwerken ersetzen.
In dem folgenden Kapitel (VI), »La sculpture romane«,
werden durch M. Andre Michel und M. Emile Bertaux
die plastischen Meisterwerke Frankreichs und Italiens aus
den 10. bis 12. Jahrhunderten vorgeführt. Keine anderen
Länder sind erwähnt. Ob diese Disposition im vollen
Einklang mit dem Titel steht, möchten wir hier nicht dis¬
kutieren, lieber betonen, daß das innerhalb der Grenzen
der französischen und italienischen Kunst Gegebene hohe
Ansprüche befriedigt. M. Andre Michels Abschnitt über
die französische Plastik des 11. und 12. jahrhunders ist
vielleicht die interessanteste Partie des ganzen Buches.
Die lebhafte, fesselnde Darstellung dürfte wohl in manchen
Punkten Opposition erwecken, aber gerade diese Eigen¬
schaft ist kein Nachteil für die wissenschaftliche Forschung
— M. Emile Bertauxs’ Vorliebe für Süditalien läßt ihn die
Anfänge der toskanischen Skulptur etwas stiefmütterlich
betrachten, was wohl kaum auffallen würde, wenn nicht
seine Kontributionen sich sonst durch einen seltenen Grad
der Vortrefflichkeit auszeichneten.
Kapitel VII ist der romanischen Wandmalerei in Frank¬
reich und Italien, den othonischen Miniaturen und den fran-
zösichen Glasmalereien gewidmet. Hier bringt zuerst ein
deutscher Forscher, Dr. A. Haseloff, eine sehr lehrreiche
2 1 2
BÜCHERSCHAU
Schätzung der othonischen Renaissance. Die verschiedenen
deutschen und englischen Miniaturistenschulen werden klar
begrenzt und charakterisiert, der Leser bekommt eine
distinkte Vorstellung der Hauptströmungen dieser höchst
bedeutenden Buchmalerei, die in germanischem Boden
wurzelte.
In dem. folgenden Abschnitt desselben Kapitels würdigt
M. Emile Male ausführlich mehrere, jetzt fast verlorene,
in Aquarellkopien erhaltene Fresken in proven^alischen
Kirchen und schätzt besonders in sehr starken Ausdrücken
die Fresken aus Saint Savin, die sogar mit Werken von
Puvis de Chavannes verglichen werden. Fein und treffend
weiß derselbe Verfasser die dekorative Schönheit der alt¬
französischen Glasmalereien zu schildern.
M. Emile Bertaux endet das Kapitel mit einer
systematischen Beschreibung der wichtigsten Monurnental-
rnalereien und Miniaturen aus dem ii. bis 13. Jahrhundert
in Süditalien und teilt dabei das Material in folgenden
Hauptgruppen: Die Basilicat-Schule, Monte Cassino, Sant
Angelo in Formis und die Exultes von italo-byzantinischen
Künstlern. — Die Malerei derselben Zeit in nördlicheren
Gegenden von Italien wird noch nicht besprochen.
Kapitel IX enthält eine mustergültige Darstellung der
»Evolution des arts mineurs du Vlll au Xll siede« von
dem verstorbenen Großmeister auf diesem Gebiete, Emile
Molinien Etwas fremdartig wirkt es, daß in demselben
Kapitel ein Abschnitt über »Les influens orientales« von
M. j. J. Marquet de Vasselot eingeschlossen ist, über dessen
Notwendigkeit wir uns schon bei der Besprechung des
ersten Buches geäußert haben.
Dann folgt noch im IX. Kapitel »L’art monetaire« von
M. Maurice Fron und schließlich eine »Conclusion au
tome Premier« von dem Directeur de l’ouvrage M. Andre
Michel, der diese sehr schwierige Aufgabe in glücklichster
Weise löst. Klar und geistreich zeichnet er die großen
Linien, die die Entwickelung der christlichen Kunst seit
ihrem Anfang bis zum 13. Jahrhundert bestimmen, und
gibt dadurch dem Leser einen wertvollen Überblick, den
man sonst leicht beim Lesen des Werkes von nahe
1000 Seiten verhert. Als Ganzheit wirkt so das zweiteilige
Tom I, imponierend durch seinen Inhaltsreichtum, zuver¬
lässig durch die Mitarbeiterschaft der verschiedenen Spe¬
zialisten und anziehend durch die klare Komposition.
Oswald Siren.
Ausonia, die neue Zeitschrift der Societä italiana di
archeologia e storia delV arte hi in Rom erschienen und dieses
erste reich illustrierte Heft entspricht vollauf den Erwar¬
tungen der gelehrten Welt. Wie die Gesellschaft aus
Archäologen und Kunsthistorikern besteht, so nimmt die
Zeitschrift auch archäologische und kunsthistorische Be¬
sprechungen auf. Paolo Orsi beschreibt interessante vor¬
geschichtliche Gräber bei Modica in Sizilien, die Cava
Lazzaro und die Grotta Lazzaro. Unter den Funden lenkt
er besonders die Aufmerksamkeit der Gelehrten auf eine
besondere Art bearbeiteter Knochen, die man schon in den
Gräbern von Castelluccio gefunden hat und die in den
einfachen Ornamenten Anlehnungen an den ältesten mike-
neischen Stil zeigen. An der Küste bei Girgenti ist statt
dessen ein kleiner Topf mikeneischen Stils gefunden worden
und Orsi betont die Wichtigkeit dieses Fundes, weil er
beweist, daß schon in den uralten Zeiten die griechischen
Schiffer es wagten, an der gefährlichen Südküste zu landen.
D. Comparetti xiuhWzhxi eine archaische Inschrift aus Cuma,
die er dem 5. Jahrhundert zuschreibt, und in welcher eine
klare Andeutung des bacchischen Kultus und seiner My¬
sterien zu lesen ist.
E. Brizio bespricht die Statue des Jünglings von Su-
biaco aus dem Museo delle Terme Diocleziane. Er glaubt
in denr Bildwerk die Darstellung eines sich gegen die gött¬
lichen Pfeile schützenden Niobiden zu sehen und meint,
er könne wohl zu einer Gruppe mit der weiblichen kopf¬
losen Niobide des Museo Chiaramonti gehören. Da Pro¬
fessor Brizio es für wahrscheinlich hält, daß auch die vati¬
kanische Niobide wie der Jüngling aus der neronianischen
Villa von Subiaco stammen müsse, so hätten die beiden
Bildwerke vielleicht dort eine Gruppe gebildet. Er meint,
die Statue des Jünglings von Subiaco sei ein griechisches
Originalwerk des 4. Jahrhunderts vor Christi Geburt. Aus
allem glaubt er schließen zu können, daß in der neronischen
Villa bei Subiaco eine griechische Originalgruppe der Nio¬
biden von einem attischen Künstler des 4. Jahrhunderts
gewesen sein muß und daß man bei regelrechten Aus¬
grabungen wohl noch mehr Fragmente finden würde.
G. Patroni beschreibt eine Hydria mit der Darstellung des
mit der Harpe gegen die Hydra kämpfenden Herakles.
Athena und eine fliehende Jungfrau wohnen dem Kampfe
bei, aber das Eigentümliche der Darstellung ist, daß neben
Herakles eine Ara sich befindet, auf welcher eine Phiale
mit dem Kopf eines Jünglings steht. Die Vase ist nach
Patroni wohl aus der Hälfte des 5. Jahrhunderts. Dr. P.
Diicati publiziert ein Ariballum des Berliner Museums mit
einer interessanten Szene aus den Kentaurenkämpfen, und
B. Nogara die Figur der Bybiis aus dem Kreise der sechs
Heldinnenmalereien, welche im Jahre 1817 bei den Aus¬
grabungen bei Tor Marancia gefunden wurden und jetzt
im Vatikanischen Museum aufbewahrt werden. F. Grossi-
Gondi teilt die Forschungen mit, die er unternommen hat,
um die Villa und die Grabstätte der Gens Furia wieder,
zufinden, welche ungefähr im Jahre 1665 bei Frascati, wie uns
O. Kircher berichtet, aufgefunden wurden. Er meint, daß
die alte Villa am westlichen Ende des Gartens des Klosters
von Camaldoli gewesen sein muß.
Der kunsthistorische Teil der Ausonia enthält einen
grundlegenden Artikel von Erl. Dr. Liseita Ciaccio über
die letzte Periode der gotischen Skulptur in Rom, in welchem
nicht nur eine Anzahl von Grabmälern wie das vom Kar¬
dinal Vulcani in S. Francesca Romana , das von Riccardo
Caracciolo in S. Maria del Priorato, besprochen werden,
sondern auch einige interessante gotische Grabmäler, wie
das vom Kardinal d’Alan^on in Santa Maria in Trastevere,
durch Zusammenstellung der zerstreuten Teile richtig er¬
gänzt werden.
Dr. G. Toesca veröffentlicht verschiedene bronzene
Gegenstände aus dem Städtischen Museum von Lucca, die
er für longobardisch hält und dem 7. Jahrhundert zuschreibt.
Lionello Venturi puhWzitxi ein kleines Trecentobild aus dem
Museum von Stuttgart, auf welchem der Maler Paolo da
Venezia Augustus und die Sibylle dargestellt hat, genau
nach der Erzählung des Jacopo da Voragine.
Rodolfo Lanciani gibt uns verschiedene neue Doku¬
mente, welche Künstler des 16. Jahrhunderts betreffen.
Darunter finden wir eine Nachricht über Alexandro Cioli,
den florentiner Bildhauer, welcher im Jahre 1576 für den
Kardinal Peretti in S. Maria Maggiore arbeitete. Von Pirro
Ligorio erfahren wir, daß er 1542 für den Erzbischof von
Benevent Francesco della Rovere eine Loge in dessen Palast
in via Lata alla grottesca ausmalte. Einen kleinen, interessan¬
ten Bericht publiziertDr.iE.G///5/ff«zort/überdie Art, in welcher
die aus dem Nemisee gehobenen Bronzeköpfe an das Schiff,
zu dessen Schmuck sie dienen sollten, befestigt waren.
Dr. L. Pernier publiziert einen genauen Bericht über die
neusten Ausgrabungen in Kreta. pcd. H.
Herausgeber und verantwortliche Redaktion: E. A. Seemann, Leipzig, Querstraße 13
Druck von Ernst Hedrich Nache., q. m. b. h., Leipzig
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die Statue de- von Subiaco sei ein griechisches
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allem glaubt er sci.iicb- . 1 können, daß in der neronischen
Villa bei Subiaco c'ine g: '•.wiische Originalgruppe der Nio¬
biden von einem attischen Künstler des 4. Jahrhunderts
gewesen sein muß iukI daß man bei regelrechten Aus¬
grabungen wohl noch dm'hr Fiagmente finden würde.
G. Patron! b-.schiT'hi uinc Hvß.'^ia mit der Darstellung des
mit der Marpe gegen die 'i.'iia '• ;,tu,-,fcr(i.ien Herakles.
Athena und eine fliehende Jungfrau iv im.-tMi (ii-.tii Kampfe
bei, aber das Eigentümliche der Daostehu!;:; “/i d iR neben
Herakles eine Ara sich befindet, auf welcher eniv Filiale
mit dem Kopf eines Jünglings steht. Die Vase ist nach
Patroni wohl aus der Hälfte des 5. Jahrhunderts. Dr. P.
Ih/cati publiziert ein Ariballum des Berliner Museums mit
ucr interessanten Szene aus den Kentaurenkämpfen, und
!;'LOr/ die Figur der Bybiis aus dem Kreise der sechs
.. • . v. •,; 'c:n , welche im Jahre 1817 bei den Aus-
• ■ ' - ■•■ M.u -ncia gefunden wurden und jetzt
V -A. ! .mV M‘>be‘.v.ahrt werden. F. Grossi-
. A > < • •. ' • j.-.nfernommen hat,
U i- Ai;': u '.'-i -iMÖ-.i! ■ u wieder,
■Oriindi: n, wci A. 'u u.'-.g': -,0!! ü! | ,}■■-■ ; ; - .i - - .-m ‘ ■■- .-0.; w*'! uns
O. Ki'ciiei beneblet, aufgeiiiuami n. . .,iu. :> -ucAu -tÄli
die alte Villa am westlichen Ende des Gartens des K'osiei's
von Camaldoli gewesen sein muß.
Der kunsthistorische Teil der Ausonia enthält einen
grncdlegendeu Artikel von Erl. Dr. Liseltn Ciaccio über
-;iiv letzte Periode der gotischen Skulptur in Rom, in welchem
nicht nur eine Anzahl von Grabmälern wie das vom Kar¬
dinal .Vulcani in S. Francesca Romana, das von Riccardo
Caracciolp in S. Maria del Priorato, besprochen werden,
sondern auch einige interessante gotische Grabmäler, wie
das vom Kardinal d’Alancon in SanG Mrvui in Trastevere,
durch Zusammenstellung der zcrsn-cuS';/'-. Feile richtig er¬
gänzt werden.
Dr. G. Toesca veröffenvkA.n: . veisdüedene bronzene
Gegenstände aus dem Siudds-rivn Museum von Lucca, die
er für longobardisch häh 7. Jahrhundert zuschreibt.
Lionello Venturi puhA; Heiries Trecentobild aus dem
Aduseum von .StiiUgav: v, Gehern der Maler Paolo da
Venezia Augiivii:-; -i v’ .- v Sibylle dargestellt hat, genau
nach der Er. ib'':;.:; -i- .wopo da Voragine.
RochiJ'-' ... ■- jAbt -uns verschiedene neue Doku¬
mente, v.t--:.;:A >. >- -;!!•! des 16. Jahrhunderts betreffen.
Darurtie' i'v.ü ■' w - ■ne Nachricht über Alexandro CioH,
den (iorvi'r'-A, ü'iohaiier, v/elcher irri Jahre 1576 für den
Kardinal ( t :•<' S .Maria Maggiore arbeitete. Von Pirro
Ligorio ertahi :; •.•!<, daß er 1542 für den Erzbischof von
Benevent rianceoro deila Rovere eine Loge in dessen Palast
in via Lata a/'ia prode-jca ausiraite. Einen kleinen, interessan¬
ten Berich' ; w-!Ü A'iert Dr.E'.G/r/s/ßßZö/z/überdie Art, in welcher
die aiis dem ’de/nisee gehobenen Bronzeköpfe an das Schiff,
zu dessen Schmuck sie dienen sollten, befestigt waren.
L. Pernit'f publiziert einen genauen Bericht über die
-■. :."-A.en Ausgrabungen in Kreta. Fed.H.
-mzv.ann, Leipzig, Querstraße 13
w s. H.,. Leipzig
ZEITSCHRIFT FÜR BILDENDE KUNST IQO7 ORIGINALRADIERUNG VON FRITZ LEDERER - KÖNIGSBERG A. D. EGER
AMRA UND SEINE MALEREIEN
Von Josef Strzygowski
AMRA ist ein kleines Schlößchen am Rande der
großen arabischen Wüste, ungefähr in der Höhe,
wo der Jordan in das tote Meer mündet. Die
Gegend ist vor einigen Jahren, als man in Berlin
die mächtige Prunkfassade aus Mschatta, einem Amra
benachbarten Schlosse enthüllte, in aller Leute Mund
gekommen. Heute legt die k. k. Hof- und Staats¬
druckerei in Wien ein Prachtwerk vor ‘), das nicht ver¬
fehlen wird, dieses hochgespannte Interesse aufs äu¬
ßerste zu steigern. Seit Jahren vorbereitet, bedeutet es
nichts anderes als ein Einlösen von Verkündigungen,
die Vonseiten der Wiener Akademie der Wissenschaften
schon weit vor der Eröffnung des Kaiser-Friedrich-
Museums in Berlin gemacht wurden. Es ist bekannt,
daß ein Priester der Olmützer Diözese, Alois Musil,
das Verdienst der Entdeckung von Amra hat. Jetzt
zeigt sich, daß Musil zugleich der Mann war, einen
Schatz, der ihm bei seinen philologisch-topographischen
Studien in den Schoß fiel, ganz allein auch nach
seiner kulturellen Bedeutung zu würdigen. Aus dem
Kreise derjenigen, die sich in Wien an die Bearbeitung
des Fundes machten, hat Musil allein den richtigen
Weg genommen. Man muß das Schlußkapitel seiner
großen Arbeit lesen, um Zeit und Menschen, die Amra
erbauten, lebendig vor sich zu sehen. Diese Lektüre
kann sich jeder gönnen, denn Musil schreibt aus der
vollen Kraft und Weitsichtigkeit eines modernen Men¬
schen heraus. Erst durch die zielbewußte, großzügige
Bearbeitung seiner Entdeckung hat er diese zu einer
wirklich bedeutenden Tat ausgestaltet.
Die Hof- und Staatsdruckerei bietet nicht nur den
Text Musils. In einem zweiten Bande gibt sie 41
farbige Tafeln nach Aufnahmen des Wiener Malers
A. L. Mielich, der Musil bei einer dritten Expedition
begleitete. Wir sehen Amra in seiner einsamen Wüsten¬
lage, bekommen es im Grundriß, in der Außenansicht
und in Schnitten vorgeführt, wandern dann die Wände
entlang durch die einzelnen Säle und betrachten neu¬
gierig Gemälde, die trotz ihrer öfters fast vollständigen
Zerstörung deutlich von einer Kultur sprechen, die
sich fürs erste fremdartig genug ausnimmt. Mit den
gewöhnlichen Schlagworten »römisch«, »byzantinisch«,
»maurisch« kommt man da nicht aus. Auch der
Forscher muß zuerst Musil lesen, um klar zu er¬
kennen, daß die Malereien von Amra eine Welt vor
uns auftun, in die bisher nur im Wege der Poesie
zu gelangen war. Was Musil mit Amra und den
umliegenden Schlössern vor uns erstehen läßt, ist mehr
als ein halbes Jahrtausend älter als die spanische
Alhambra. Wenn Graf Schack in seinem Buche über
die Poesie und Kunst der Araber in Spanien und
Sizilien die Abendröte der großen islamischen Kultur¬
blüte besungen hat, so führt Musil in die Anfänge
i) Kusejr Amra, Bd. 1: Text; Bd. II: 41 farbige Tafeln.
Hgg. von der Kais. Akademie der Wissenschaften. 250 Kr.
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XVIII. H. g
dieser Strömung zurück und seine Vorführung wirkt
ungleich lebendiger, weil sie sich abhebt von dem
Leben der durch alle Vorstöße und Hemmungen
bis auf unsere Tage unwandelbar bodenständig ge¬
bliebenen Erreger dieser ganzen Bewegung, den heute
wie vor Muhammeds Zeit frei in der Wüste schwei¬
fenden Beduinen. Musil selbst ist einer der ihren
geworden, als Bruder Musa tritt er vor uns hin und
erzählt von heut und gestern, von vergessenen Bauten
und ihrer einstigen Bestimmung.
Wer das Werden der islamischen Kultur verstehen
will, muß streng auseinanderhalten die Zeit bis auf
das Jahr 750 n. dir. und die darauffolgende, mit
der Begründung Bagdads einsetzende Entwickelung
jener Formen in Leben und Kunst, die wir heute für
Merkmale des muhammedanischen Wesens anzusehen
gewohnt sind. Es handelt sich dabei vorwiegend um
die äußere, durch Perser und Türken vollzogene Um¬
bildung einer Weltanschauung, die ursprünglich, das
heißt vor dem Jahre 750, im Innern Arabiens ent¬
standen und von Muhammed dem Monotheismus der
Juden und Christen angenähert worden war. Wie
das Christentum, bevor es in Konstantinopel und Rom
zur uniformen Kirche wurde, sich aus dem Judentum
in den Köpfen der Höchstgebildeten der griechisch¬
orientalischen Welt zu seiner kulturellen Höhe ent¬
wickelt hatte, so erhielt auch der von den Arabern
geschaffene Islam erst in den Köpfen der Höchstge¬
bildeten unter den übergetretenen orientalischen Christen
seine volle Ausgestaltung. Wieweit die bildende Kunst
Überlieferungen aus Südarabien nach Syrien mitbrachte,
das wissen wir nicht. Was die Araber in Jerusalem
(Felsendom) und Damaskus (Große Moschee) schufen,
schließt an den Vorgefundenen christlichen Bestand
an; Amra ist das erste Denkmal, an dem wir sehen
können, was die Omajjadenfürsten ohne solche Vor¬
aussetzungen eigentlich künstlerisch zu schaffen im¬
stande waren. Denn Amra ist eine einheitliche Schöp¬
fung, nicht ein Konglomerat aus mehreren Jahrhun¬
derten. Und vor allem es ist unangetastet durch alle
Jahrhunderte auf uns gekommen.
Da ist es nun höchst interessant zu beobachten,
daß die ganze Bauart nichts neuartig Arabisches auf¬
weist, sondern syrisch ist auch darin, daß auf jedes
reichere plastische Ornament verzichtet ist. Man be¬
tritt den Hauptsaal durch eine schmucklose, aus Stein¬
balken inmitten der Hausteinmauern gebrochene Tür
und befindet sich dann im Mittelschiff einer durch
weitgespannte Rundbogen wie in Ruweha und Kalb-
Luseh gebildeten dreischiffigen Halle, die nach der
in der ganzen Gegend üblichen Art mit Tonnenge¬
wölben aus Stein überdeckt ist. Syrisch ist vor allem
der Abschluß des Saales dem Eingang gegenüber:
an eine geradlinig abschließende Mitteltonne legen
sich seitlich Apsidenräume, wie man sie in den an-
30
214
AMRA UND SEINE MALEREIEN
tiken Bauten Syriens ebenso typisch wie in den christ¬
lichen Kirchen sieht. Überhaupt könnte der Saal von
Amra für eine christliche Kirche gelten, wenn nicht
die Malereien den muhammedanischen Ursprung sicher
stellten. Da sieht man (Abb. i)i) an der vornehmsten
Stelle, dem Eintretenden gerade gegenüber, im Halb¬
dunkel der tiefen Mittelnische eine thronende Gestalt
unter einem Baldachin mit kufischer Inschrift. Leider
ist diese so verblaßt, daß vorläufig nur das Ende
feststeht! Möge ihm Gott Vergeltung geben und sich
seiner erbarmen . Danach wäre der rotbärtige Mann,
den wir wie einen Heiligen mit dem Nimbus um
das Haupt dargestellt sehen, ein Verstorbener, also
nicht, was anzunehmen naheläge, der regierende Khalife.
Unter diesen Umständen könnte man an Muhammed
selbst oder einen seiner Nachfolger denken. Er würde
Christus ähnlich, nach der Auffassung der Araber auf
dem Minbar sitzend als Richter, Herrscher oder Pre¬
diger gegeben sein. Vielleicht bringt die Detailfor¬
schung noch Licht in diese Deutung, wobei das härene
Gewand und die Wahrscheinlichkeit, daß eine Gestalt
links die Lanze hält, eine andere, scheinbar weibliche
rechts akklamierend die Hand erhebt, von Bedeutung
sein dürfte''^), ln derselben Art sieht man in abend¬
ländischen Handschriften Karl den Kahlen und Hein¬
rich 11. dargestellt, nur trägt die eine Begleitfigur dann
statt der Lanze das Schwert. Daß ich mit der Deu¬
tung nicht ganz fehlgehen dürfte, belegt ein anderes
Gemälde des Saales, worin die historischen Bezieh¬
ungen zum Islam unwiderlegbar deutlich sind. An
der Westwand sieht man (Abb. 2) die von Muhammed
und seinen Nachfolgern unterworfenen Reiche in ihren
Vertretern dargestellt: den Kaiser (von Byzanz), Rode-
rich (von Spanien), Chosroes (von Persien) und den
Negus (von Abessynien) nebst anderen, deren Bei¬
schriften verloren gegangen sind. Sie mögen, wie
der Negus, dem Islam nicht mit ihrer ganzen Herr¬
schaft, sondern lediglich mit einem kleinen Teile ver¬
fallen sein. Ein Raum, in dem solche Dinge dar¬
gestellt sind, wird schwerlich, wie man angenommen
liat, als Teil eines Bades zu deuten sein. Vielmehr
haben wir es wahrscheinlich mit einem Thronsaal zu
tun und das ist denn auch die Meinung, die sich dem
unbefangenen Leser in Musils historischer Einbeglei¬
tung aufdrängt.
An diesen Thronsaal schließt sich, das beweist
Musil durch Analogien, ein Bad. Es besteht aus einer
tonnengewölbten Kammer mit umlaufenden Wand¬
bänken und zwei durch Röhrenleitungen aus einem
nahegelegenen Brunnen gespeisten Baderäumen, einem
kreuzgewölbten mit tiefer Fensternische und einem
zweiten mit Kuppel und angebauten Podien in Ap-
1) Unsere Abbildungen geben, in Schwarz-Weiß aus¬
geführt, nur einige wenige Beispiele und ein sehr schwaches
Abbild der zahlreichen prächtigen Farbendrucke der Wiener
Hof- und Staatsdruckerei.
2) Für die Lesung der Inschriften vgl. Nöldeke in der
»Neuen freien Presse« vom 28. März 1Q07. Sollte der
Anfang allähom lauten, so spräche das, wie mir N. Rhodo-
kanakis mitteilt, nicht gegen meine Auffassung (vgl. dazu
die Wiener »Zeit« vom 25. Mai 1Q07).
siden. Die Bilder dieser drei Räume könnten den
Verdacht erwecken, älter zu sein als der Islam. Ich
will sie daher zuerst besprechen.
Womit wird man die Kuppel eines Baderaumes
schmücken? Paßt dahin eine Darstellung des nörd¬
lichen Sternenhimmels? Warum nicht; man hat den
Zodiacus in Pavimentmosaiken angebracht und Petron
läßt im Gastmahl des Trimalchio gar ein Speisebrett
damit geschmückt sein, als Anregung für den Koch,
der auf jedes Zeichen eine entsprechende Speise setzte,
auf den Stier z. B. ein Stück Rindfleisch. Der Ba¬
dende sah in Amra auf weißem Grunde den Schützen
als Kentauren und die Wage dargestellt, getragen von
einem nackten Mann. Ebenso nackt vom Rücken
gesehen die Zwillinge und den Wassermann mit einem
weißen Schultermantel. Andere bekleidete Figuren
umgeben die beiden im Zenit stehenden Bären. Die
ganze Darstellung ist rein antik, nichts weist auf den
Bilderhaß der Moslim. Nur Helios scheint zu fehlen,
den man gern z. B. in zwei vatikanischen Miniaturen
der Hemisphären gemalt sieht. An der Datierung
in vorislamische Zeit hindert lediglich der Zickzack¬
fries, der die Kuppel unten abschließt: ein typisch
altpersisches Motiv, das in Syrien zuerst monumental
angewendet an Mschatta vorkommt.
In den anderen Räumen des Bades findet man
Ranken- und Rautenmuster (Abb. 3, S. 217), die schon
durch ihren weißen Grund so stark an berühmte Mo¬
saiken in Rom, diejenigen aus konstantinischer Zeit in
dem schweren Rundbau von S. Costanza erinnern, daß
auch hier wieder der erste Gedanke für den in der
orientalischen Kunst Unerfahrenen ist, diese Malereien
müßten dem 4. oder 5. Jahrhundert angehören, ln
Wirklichkeit liegt der interessante Fall so, daß wir
es mit der im Orient ungemein langlebigen letzten
Schicht der Antike zu tun haben, die im 8. Jahrhun¬
dert gerade so aussieht, wie im 4. Jahrhundert, wo sie
unter anderem von Jerusalem aus auf Rom überge¬
griffen hat. Durchaus antik sind denn auch die figür¬
lichen Darstellungen, die an die Wände dieser beiden
Räume gemalt sind. Im kreuzgewölbten Raume Bade¬
szenen, die daran erinnern, daß die menschliche Ge¬
stalt auf japanischem Boden von Westasien übernommen
ist: diese Szenen könnten mit einigen Änderungen in
der Qualität ebensogut von einem Ostasiaten gemalt
sein. In der tonnengewölbten Kammer über dem
Eingang ein Traumbild (Abb. 4), das ebenso kompo¬
niert auf dem bekannten Elfenbeinthron in Ravenna
im Traum Josefs wiederkehrt. Und wenn man frägt,
wie es möglich sei, daß eine Stadt westlich jenseits
der griechischen Kulturwelt und ein Schloß diesseits
am Wüstenrande sich in solchen Zügen treffen, dann
liegt die Erklärung darin, daß die italische Residenz
des 5. Jahrhunderts wie Amra aus dem 8. Jahrhundert
abhängig sind von demselben Kunstzentrum, der Me¬
tropole von Syrien, Antiochia. Man muß freilich
wissen, daß die ersten Bischöfe von Ravenna An-
tiochener waren und die syrische Kolonie daselbst
die hervorragendste Rolle spielte. Christentum und
Antike müssen in Antiochia merkwürdig unvermittelt
in der bildenden Kunst nebeneinander bestanden haben.
FÜNF WANDMALEREIEN
AUS DEM SCHLOSSE AMRA
NACH AUFNAHMEN VON
A. L. MIELICH
ABB. 1
ABB. 2
ABB. 5
ABB. 4
VERLAG DER K. K. HOF- UND STAATSDRUCKEREI IN WIEN
2i6
AMRA UND SEINE MALEREIEN
Nur so ist es verständlich, wie in Amra zwei deko¬
rativ zu Seiten eines Fensters in Vorder- und Rücken-
ansiclit gelagerte Franengestalten (Abb. 5) so rein antik
ausfallen konnten, daß man ihren Ursprung lediglich an
der typisch syrischen Zugabe je eines Baumes erkennt.
Der Hauptwert von Amra liegt in den Malereien
des Thronsaales. Diese sind für die Kunstwissen¬
schaft von so durchschlagender Bedeutung, daß es
wohl selbst im Rahmen einer gemeinverständlichen
Besprechung gestattet sein dürfte, zur Herausarbeitung
ihres Wertes etwas weiter auszuholen. Gelehrte und
Laien wachsen heute noch in der schnhnäßigen Über¬
zeugung auf, daß die Gemälde der Katakomben von
Rom das Um und Auf der ältesten christlichen Kunst
seien. Man hat neuerdings für sie die Bezeichnung
christliche Antike geprägt, ln ihnen herrscht in der
Tat durchaus, wie in der griechischen Kunst die
menschliche Gestalt vor. Daneben aber und das
wird allgemein übersehen — hat es eine auf das ab¬
lehnende Verhalten der eigentlichen Semiten gegen¬
über der Menschengestalt znrückzuführende orienta¬
lische Strömung gegeben, die dem Ornament den
Vorzug gab und figürliche Darstellungen repräsenta¬
tiven Charakters ausschließlich auf die Sanktuarien
beschränkte. Ein gutes Beispiel dafür ist das bereits
einmal erwähnte Mausoleum S. Costanza bei Rom.
Dort finden sich solche Mosaiken, in denen die Wir¬
kung ausschließlich auf biblische Gestalten gelegt ist,
nur in den Apsiden; in der Kuppel dagegen ver¬
schwanden sie ganz klein in laubenartig verschlunge¬
nen r^ankenbäumen über einer Flußlandschaft mit
jagenden und fischenden Eroten und in den Mo¬
saiken an der Decke des Umganges sind auf dem
weißen Grund ausschließlich geometrische Muster und
zweimal Weinlanb mit der Darstellung der Trauben¬
ernte gegeben.
Was da in konstantinischer Zeit in Mosaik aus¬
geführt worden ist, das schlägt ähnlich im 5. Jahr¬
hundert ein reicher Mann dem Mönch Nilus vom Sinai¬
kloster vor. Er wollte eine Kirche bauen, an deren
Wänden Jagden gemalt werden sollten, verschiedene
Arten von Tieren durch Jäger und Hunde verfolgt
und Fischzüge mit allerlei im Netz oder mit der Hand
gefangenen Fischen. Für das Sanktuarium waren
Bilder Christi und der Märtyrer bestimmt. Nilus ver¬
wirft den Plan und verlangt aus didaktischen Gründen
Szenen des Alten und Neuen Testamentes. Was
der reiche Mann wollte, war offenbar hergebracht;
Nilus vertritt der Tradition gegenüber eine Neuerung,
die sich zu seiner Zeit allgemein durchsetzt. Wir
stehen dem Ringen von Antike und Mittelalter gegen¬
über: Die Kunst, am Ausgang der Antike und im
besonderen von Antiochia aus zur reinen Schmuck¬
form geworden, wird von der Kirche aus ihrer Bahn
geworfen und dazu ausersehen, diejenigen zu be¬
lehren, die nicht lesen können. Vor diesem Um¬
schwünge konnte man in monumentalen Räumen
Gemälde ohne Bezug auf den Zweck des Gebäudes
sehen, etwa wie heute Puvis de Chavannes im Hotel
de Ville zu Paris Szenen des täglichen Lebens, dar¬
unter Jagd und Fischfang gemalt hat. Die Nach¬
klänge dieser orientalischen, auch in die frühesten
Kirchen übergegangenen Antike findet man in Rom
sowohl wie in Ravenna einmal in den Flußlandschaften
unterhalb der großen Gestalten in den Apsiden, dann
in den mit Rankenwerk gefüllten Gewölbeflächen.
Daß diese Richtung nicht ganz ansstarb, bezeugt die
Nachricht, in der Stephanskirche von Gaza sei ein
Fluß zwischen Wiesen, mit von Vögeln belebtem
Wasser gemalt gewesen. Den Hanptbeweis aber für
das Fortleben dieser Richtung erbringt jetzt Amra.
Die volle Bedeutung dieser Tatsache ergibt sich erst,
wenn man noch eine andere Schlußkette heranzieht.
Es wird so oft von einem Bilderverbot des Islam
gesprochen. Wogegen es sich genau genommen rich¬
tete, läßt sich nach den Schriflquellen nicht sagen,
daß es aber von allem Anfang an bestand, ja älter
als der Islam ist, steht außer Zweifel. Seine Wirkung
zeigt sich schon in der eben geschilderten dekorativen
Richtung der antiken Kunst, die sich unter dem Ein¬
fluß der Serniteu ausgebildet haben dürfte. Und seine
zähe Kraft bewährt sich erst recht, als die Semiten
mit dem Islam zu einer Weltmacht wurden. Denn
es ist u. a. das sog. »Bilderverbot des Islam, was
in Byzanz zum Bildersturm geführt hat. Ich greife
von den historischen Tatsachen nur die an den Rei¬
bungsflächen zwischen Islam und Byzanz spielenden
heraus. Im Jahre 724 schickt Leo der Isaurier, der
Kaiser von Konstantinopel, den Bischof Thcophilus
von Nikolia in Phrygien und Beser, einen bekehrten
Muhammedaner, aus, die Juden und Muslim zum Chri¬
stentum zu bringen. Die Bemühungen scheiterten
aber an der abgöttischen Verehrung, die man den
Bildern bewies, das heißt also doch wohl den Heiligen¬
bildern. Der Khalife Jazid IIL, der bei Musil im Zu¬
sammenhänge mit Amra wiederholt genannt wird,
ließ die Bilder aus den Kirchen der Christen reißen,
die Wände abkratzen und die Malereien auslöschen,
das heißt wohl wieder nur die religiösen, der An¬
betung ausgesetzten Ikonen. Man darf alle diese Nach¬
richten eben nicht als gegen die Bilder im allge¬
meinen gerichtet ansehen. Es ist denn auch bezeichnend,
daß die bilderstürmenden Kaiser sich selbst und die
Ihrigen darstellen ließen. In den Kirchen blieben
nur die biblischen Szenen weg und man griff wieder,
bezeichnend genug, auf die altchristliche Dekoration
der Kirchen des Orients zurück: die Szenen des Alten
und Neuen Testamentes verschwanden und es er¬
schienen dafür wieder wie einst Landschaften, Tier¬
stücke und Jagden. Dem Kaiser Konstantin Kopro-
nymos, von dem die Bilderfreunde aussprengten, er
wolle den Lehren Muhammeds und der Juden auf den
Trümmern des Christentums eine Stätte bereiten, wurde
unter anderem auch vorgeworfen, daß er die Bla-
chernenkirche in einen Obstgarten und ein Vogelhaus
verwandelt habe.
Das sind die Voraussetzungen, unter denen man
Amra betrachten muß, um seiner bahnbrechenden
wissenschaftlichen Bedeutung gerecht werden zu kön¬
nen. Wird erst einmal zugegeben, daß Amra eine
islamische Schöpfung der letzten Omajjadenzeit ist,
dann fällt seine Ausschmückung mit der ersten Periode
. AMRA UND SEINE MALEREIEN
217
des Bildersturmes zusammen und seine Bilder müßten
dann jene Erwartungen erfüllen, die auf Grund der
orientalischen Antike, jener im Bildersturm wieder
lebendig gewordenen Tradition gehegt werden dürfen.
Ich gehe nunmehr an die Betrachtung der Wandgemälde
des Thronsaales, eines Monumentalraumes, der wie
gesagt, schon im Grundriß der Art christlicher Kirchen
Syriens sehr nahe kommt
Im Sanktuarium, das ließ die antike Tradition zu,
ist Muhammed oder einer seiner Nachfolger dargestellt
Von einer Verehrung, des Bildes konnte keine Rede
sein, weil die tiefe Nische, in deren Helldunkel es
erscheint, obwohl nach Süden, das heißt Mekka,
gerichtet, nicht mit dem Mihrab, der Gebetnische, ver¬
wechselt werden kann. Dieser der Tür gegenüber-
Unter dem Thronenden der Hauptnische ist eine
Szene des Fischfanges dargestellt Sie mag symbo¬
lische Bedeutung haben. Dagegen bedeuten alle übrigen
Bilder wohl rein jene lebensvollen Szenen, die sie in
Wirklichkeit darstellen. Neben dem Saaleingang an
der Wand rechts sieht man den Fischfang »mit dem
Netz« ausführlich behandelt (ich möchte glauben,
daß auch oben ein Boot, nicht die ausgestreckten
Arme einer betenden Gestalt gegeben sind). Gegen¬
über, an der Südwand dieser Tonne, ist eine schön¬
gekleidete Frau unter einem Zelte inmitten von Gerät
und Dienern sitzend dargestellt Die Längswand
zwischen diesen Schmalbildern füllt eine bunte Aus¬
malung von Badeszenen (? Abb. 2), durch welche die
Gruppe besiegter Fürsten völlig in die Ecke gedrückt
ABB. 3. DEKORATION AUS DEM SCHLOSSE AMRA. NACH AUFNAHME VON A. L. MIELICH.
VERLAO DER K. K. HOF- UND STAATSDRUCKEREI IN WIEN
liegende Raum kann vielmehr nur der Sitz des Herrn
von Amra gewesen sein und war zumeist, selbst bei
Empfängen, wie man bei Musil nachlesen kann, durch
Vorhänge geschlossen. Und das zweite Bild, von
dem die Rede war, die vom Islam besiegten Fürsten,
lief gewiß nicht Gefahr, Gegenstand einer abgöttischen
Verehrung werden zu können. Was sonst noch von
den Wandgemälden des »Thronsaales« übrigbleibt, das
heißt die Masse derselben, erfüllt überraschenderweise
durchaus, was der Kunsthistoriker davon erwartet, das
heißt diese Gemälde bieten den vollen Beweis für
das Wiederdurchbrechen alter orientalischer Traditionen
im Bildersturm, sie liefern endlich einmal auch einen
anschaulichen Beleg inmitten eines Wirrsales wider¬
sprechender literarischer Nachrichten über diese Be¬
wegung und das Bilderverbot des Islam. Wir sehen uns
zunächst die Wände, dann die Gewölbe des Saales an.
erscheint. Was sonst noch an den Wänden sichtbar
wird, bewegt sich ausschließlich auf dem Gebiete der
Jagd: »verschiedene Arten von Tieren durch Jäger
und Hunde verfolgt«. Über der Badeszene werden
Wildesei durch Windhunde gehetzt. Männer zu Fuß
und zu Pferd suchen sie in eine aus starken Zweigen
errichtete Umzäunung zu treiben. An der Längswand
gegenüber sieht man die Meute in vollem Lauf hinter
Gazellen, die in einem Bilde der Südwand ausge¬
weidet werden (Abb. 6). Gegenüber das Abfangen von
Wildeseln im Netz. Die Masse der Gemälde des
Thronsaales von Amra liefert also jene Szenen von
Jagd und Fischfang, von denen Nilus spricht und die
von den Bilderstürmern wieder eingeführt wurden.
Wenn ich zum Schluß noch mit einem Wort
auf die Malereien in den Gewölben eingehe, so ist
zunächst die merkwürdige Tatsache zu erwähnen, daß
218
AMRA UND SEINE MALEREIEN
alle Bilder der Mitteltonne Frauen vorführen, die mehr
oder weniger nackt sind. Sie verbergen sich ent¬
weder halb hinter Vorhängen oder treten zwischen
diesen heraus, halten wie Viktorien Kreise empor oder
sind sitzend gegeben, fast immer in roten Rimd-
oder Giebelnischen zwischen Säulen auf blauem Grund.
Diese Neigung zur Vorführung der Nacktheit erinnert
an eine aus dem Sande Ägyptens wiedererstandene
Gruppe von kleinen Bildwerken in Stein, Holz, Bein und
Bronze, die wie der Schmuck gewisser Seiden- und
Wollstoffe bezeugt, daß man in Syrien und Ägypten
schon in spätantiker Zeit mit besonderer Vorliebe an
der Nudität hing. Wir haben es also nicht mit einer
erst aus dem Geschmack der Araber geborenen
Neuerung zu tun; ebensowenig sind die Darstellungen
der Handwerke in der Osttonne irgendwie spezifisch
islamischen Ursprunges. Was die Malereien von Amra
bieten, ist aus dem Bestände des späteren orientali¬
schen Hellenismus genommen, in dem sich neben
griechischen einheimisch syrische Elemente melden
und nicht zuletzt auch solche, die von Mesopotamien
und dem Iran aus schon in antiker Zeit nach dem
Westen vorgedrungen waren. Es kann daher nicht ver¬
wundern, an einer Stelle des Zyklus von Amra (Abb. 6)
Personifikationen mit griechischen Beischriften auf¬
tauchen zu sehen, daneben aber eine dekorative Ein¬
ordnung sämtlicher Gemälde, die, von Mesopotamien
ausgehend, sich die byzantinische Kunst ebensogut
wie die abendländische erobert hat: die Verkleidung
der unteren Wandflächen durch (gemalte) Vorhänge,
ln Pompeji wird man dieses Motiv vergebens typisch
nachzuweisen suchen; dort herrscht noch durchaus
der architektonische Sockel. Und schließlich scheint
auch die Vorliebe für Jagddarstellungen mesopota-
misch-persischen Ursprung zu haben. Man halte sich
nur die assyrischen Reliefs neben die sassanidischen
des Tak-i-Bostan und weiter neben die berühmten alten
Perserteppiche, den großen Seidenteppich im Besitze des
habsburgischen Kaiserhauses obenan und wird die Ent¬
wickelungsreihe in ihren Hauptvertretern vor sich haben.
Kuseir Amra füllt eine klaffende Lücke der Kunst¬
geschichte. Es werden noch sehr viele Expeditionen
dahin gehen und den wissenschaftlichen und künst¬
lerischen Schatz zu heben suchen, der dort brachliegt,
von den Beduinen als eine Schöpfung des großen
Zauberers Salomon gemieden. Möchte es Professor
Musil gelingen, für weitere Forschungsreisen die nö¬
tigen Mittel aufzutreiben. Man sollte meinen, daß
dies nach den großen Erfolgen für den Entdecker
von Amra keine Schwierigkeiten mehr hätte.
ZUR CRANACHFORSCHUNO
Von Julius Vogel
SEIT der Dresdner Cranachausstellung im Sommer
i8gg ist das Interesse an dem Leben und den
Werken des sächsischen Meisters in stark auf-
steigender Linie begriffen. Die Forschung hat auf
Grund der gewonnenen Anschauung in stattlichen
Monographien, von denen die fleißigen und gewissen¬
haften Untersuchungen von Eduard Flechsig in erster
Linie auch hier genannt sein mögen, wie in Einzel¬
untersuchungen die Geschichte der Kunst des Meisters
auszubauen gesucht, eine ganze Anzahl neuer und
bedeutsamer Werke ist in den Bereich unserer Kenntnis
gedrungen, Cranach ist jetzt mehr als je in der langen
Zeit, in der er als Künstler gefeiert worden ist, »galerie¬
fähig geworden, für einzelne seiner Werke sind im
Laufe der letzten Jahre Preise gezahlt worden, die
wohl mit Recht einen Schluß auf die Bewertung seiner
Persönlichkeit als Künstler zulassen. Daneben sind
selbstverständlich die alten bekannten Werke etwas
in den Hintergrund der Forschung getreten. Es schien,
als ob sie uns nichts mehr zu sagen hätten, sie galten
als die konstanten Faktoren, um die sich die neuen
Ergebnisse der Forschung zu gruppieren hätten. Ich
hoffe nachstehend an einem der bekanntesten und
früher am meisten besprochenen Werke des Künstlers,
dem berühmten »Sterbenden « des Leipziger Museums,
zu zeigen, daß unser Wissen bisher auf falscher Grund¬
lage beruhte. Diese Tatsache halte ich für wichtig
genug, um für sie die Aufmerksamkeit der Forscher
zu erbitten.
Aus der Geschichte des Gemäldes mag zum Ver¬
ständnis der folgenden Untersuchung soviel wiederholt
werden, daß der Ort seiner ersten Aufstellung, so viel
wir wissen, die Nikolaikirche in Leipzig gewesen ist.
Bei dem mit dem Jahre 1785 beginnenden großen
Umbau der Kirche wurde es mit anderen Gemälden
dem Geschmack der Zeit entsprechend, nach dem
»ein ungesunder, dunkler, finsterer und mit Leichen¬
steinen ausgetafelter Kerker, dessen Gemälde widrige
Ideen erwecken, zu der erfreuenden Christusreligion
nicht passen«, auf den Dachboden der Kirche ver¬
bannt, wo man in den ausrangierten Kunstwerken als
Scheidewände für einen Taubenschlag passende Ver¬
wendung fand, bis sie hier im Jahre 1815 die Auf¬
merksamkeit zweier Kunstfreunde auf sich lenkten,
restauriert und der Leipziger Stadtbibliothek über¬
wiesen wurden. Goethe war es bekanntlich, der auf
Grund der ihm gewordenen Mitteilungen in dem
»Morgenblatt« vom 22. März 1815 die erste Mitteilung
über diese Entdeckung brachte. Im Jahre 1848 wurden
diese Epitaphien - denn um solche handelt es sich —
dem Museum der bildenden Künste überwiesen. Die
LUKAS CRANACH D. Ä. DER STERBENDE
LEIPZIG. STÄDT. MUSEUM
220
ZUR CRANACHFORSCHUNQ
Art der Verwendung auf dem Boden der Nikolai¬
kirche erklärt es, daß sie einer Restaurierung im
Jahre 1815, als sie wieder salonfähig gemacht wurden,
dringend bedürftig waren. Goethe bemerkt auf Grund
seiner Quellen: Sie befinden sich freilich in einem
traurigen Zustande, doch an ihrer Wiederherstellung ist
nicht durchaus zu verzweifeln.« Eine solche Restau¬
rierung von Cranachs »Sterbenden bezeugt Sch uchardt
(Cranachs Leben und Werke 11, S. 85), der das Bild
in seinem ursprünglichen Zustande gesehen hat. Doch
scheint die Herstellung der Gemälde sich damals in
gegebenen Grenzen gehalten zu haben. Viel bedenk¬
licher ist vielmehr eine alte Übermaluno des Gemäldes,
die sowohl seinen Charakter entstellt and ihn ten¬
denziös gefälscht als seine Entstehung in eine falsche
Zeit gerächt hat. Es handelt sich kurz gesagt darum,
daß das Cranachsche Gemälde von Haus ebensowenig
zum Epitaphium wie seiner Bestimmung nach für
die Nikolaikirche bestimmt war. Die in dem oberen
Teil in einem das Gemälde abschließenden Halbkreis
eingezeichnete Inschrift, deren wichtigster Teil die
Widmung ist: »Patri optimo Henricus Schmitburg
Lipsiensis jurium doctor fieri fecit anno ab incarnatione
domini MDXVllI« stammt nicht von Cranach her,
sondern ist von anderer Hand in das Gemälde hinein¬
geschrieben worden, als es für eine neue Bestimmung,
nämlich die Aufstellung in der Kirche, hergerichtet
wurde. An der Stelle nämlich, wo der »Sterbende«
in der Nikolaikirche als Teil eines Epitaphs aufgestellt
war, befand sich das Erbbegräbnis der Eamilie Schmid-
burg, in dem (nach Salomon Stepners Leipziger In¬
schriften vom Jahre 1675 unter Nr. 527) bereits 1490
Doktor Valentin Schmidburg beigesetzt worden war.
Als im Jahre 1518, wahrscheinlich im Verlaufe des
großen Umbaues, dem die Kirche damals unterworfen
wurde, der »Sterbende« hierher überführt wurde,
handelt es sich um die Aufstellung eines der Er¬
innerung an die hier Bestatteten dienenden Grabmals.
Die oben mitgeteilte lateinische Inschrift ist also nicht
mit Rücksicht auf das Gemälde hanc tabulani, sondern
hoc epitaphium fieri fecit 1518 zu ergänzen. Damit
ist der »Sterbende aus der Liste der Gemälde des
Jahres 1518 zu streichen, eine Notwendigkeit, die von
manchem schon, der sich mit der kunstgeschichtlichen
Stellung des Bildes eingehend befaßt hat, im stillen
als sehr wünschenswert empfunden worden ist.
Das Jahr 1518 ist besonders reich an datierten
Gemälden Cranachs. Ich nenne hier folgende:
1. Madonna mit dem Kinde, im Besitze des Gro߬
herzogs von Sachsen.
2. Eine ähnliche Madonna in einer Landschaft im
Dom zu Glogau.
3. Eine Maria am Betpult mit Donator, im Gro߬
herzoglichen Museum zu Weimar (Nr. 23, im
Katalog als »Aus Cranachs oder Grünewalds
Schule« bezeichnet, vgl. jedoch Flechsig, Cranach-
studien S. 103). Wird neuerdings dem Meister
wieder abgesprochen.
4. Das umfangreiche Altarwerk in der Katharinen¬
kirche zu Zwickau, nicht durch Signatur, sondern
durch Urkunde als Werk des Jahres 1518 be¬
glaubigt.
5. Die ruhende Quellnymphe, früher in der Samm¬
lung Schubart in München, jetzt im Museum
der bildenden Künste in Leipzig. Vgl. Wörmann
in dieser Zeitschrift igoo, S. 57. Die Bedenken,
die Flechsig gegen die Echtheit des Bildes an¬
gedeutet hat, vermag ich nicht zu teilen. Die
Jahreszahl 1518 ist jedenfalls unverdächtig.
6. Das Bildnis des Gerhard Volk, früher auf der
Leipziger Stadtbibliothek, jetzt ebenfalls im
Museum der bildenden Künste. Durch eine
gleichzeitige Legende auf der Rückseite als Werk
von 1518 beglaubigt.’)
Zwei weitere dem Jahre 1518 angehörige Bild¬
nisse in Privatbesitz in Sigmaringen (oder vielmehr
in Donaueschingen), die Elechsig S. 103 anführt, kenne
ich nicht. Wenn an den oben genannten Gemälden
durch r^estaurierung manche ursprüngliche Feinheit
verdorben und mancher Ton erst durch die Hand
des Restaurators in das Kolorit hineingekommen sein
mag und das unter Nr. 4 genannte Zwickauer Altar¬
werk nicht nur schlecht erhalten, sondern teilweise
auch Gesellenarbeit ist, so bilden sie doch gegenüber
dem »Sterbenden« eine in sich geschlossene Gruppe,
in die man das letztere Bild als gleichzeitig einzufügen
alle Bedenken tragen muß. Kein Forscher würde schon
aus stilkritischen Gründen je auf den Gedanken ge¬
kommen sein, den Sterbenden«, trüge er nicht als
vermeintliche Bezeichnung des Künstlers die Jahreszahl
1518, das Bild mit den übrigen, die gleiche Jahres¬
zahl tragenden Werken zeitlich zusammenzustellen;
die Gesamthaltung des Bildes, seine eigentümliche
Farbengebung, bei der die reichliche Verwendung des
Kobaltblau in der Wolkenbildung des mittleren Teiles
bezeichnend ist, das schematische in der Komposition,
die Häufung der kleinen Figuren, an sich eine Eigen¬
tümlichkeit vieler Cranachscher Gemälde, aber ent¬
weder solcher, die undatiert sind oder in frühere Jahre
fallen, alle solche Vergleichspunkte müssen uns sagen,
daß der »Sterbende« die Arbeit einer anderen Zeit
ist als der er anzugehören jetzt vorgibt. Die ange¬
deuteten Bedenken werden, wenn sie einmal aus¬
gesprochen sind, keinem Beschauer mehr entgehen.
1) Stilistisch und zeitlich stehen diesem Bildnis zwei
Porträts sehr nahe, die 1900 aus dem Besitze des Leipziger
Rathauses in das Leipziger Museum gelangt sind; die als
Gegenstücke bestimmten feinen und liebenswürdigen Por¬
träts des in der Leipziger Stadtgeschichte bekannten Ehe¬
paares Georg und Apollonia von Widebach, auf die Hedwig
Michaelson, Lukas Cranach, S. 79 aufmerksam gemacht
hat. Ich halte die Bildnisse für Arbeiten des Jahres 1519.
Sie dürften während der Disputation auf der Pleißen-
burg entstanden sein, wenn die Annahme zutrifft, daß
unter dem »höchst vornehmen Gefolge, goldstrotzenden
Rittern, Gelehrten und Ungelehrten«, die Luther damals
aus Wittenberg nach Leipzig geleiteten, auch Meister Lukas
sich befunden habe. Georg von Widebach , der der
lutherischen Lehre zugetan war, befand sich unter denen,
die von Herzog Georg Karlstadt und den Seinigen, also
auch Luther, zum Schutze beigegeben waren.
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XVIII. II. g
31
222
ZUR CRANACHFORSCHUNG
der betreffs der eingemalten Inschrift die hier bei¬
gegebene Abbildung prüft. Man sieht, daß durch
den die Inschrift tragenden schwarzen Streifen und
die darüber liegende, in grauen Tönen gehaltene
Wölbung in dem oberen Teile des Gemäldes die
Krone der Madonna teilweise und ein großes Stück
der Engelsglorie, endlich auch die Spitze vom Turme
der Kapelle übermalt sind. Dieser Teil des Gemäldes
zeigt mit hinreichender Deutlichkeit die Spuren der
späteren Überarbeitung. Aber auch die beiden in den
Ecken angebrachten Köpfe eines Mohren und eines
jungen Mädchens, Füllsel, die in dieser Art öfter bei
Cranach Vorkommen, aber soviel ich sehen kann nur
in Verbindung mit der Architektur, sind Zutaten der
Übermalung. Denn der ganze obere Teil des Ge¬
wölbes ist augenscheinlich von Haus aus durch
einen von unten nach oben sich ins Dunkle ver¬
färbenden Himmel, der sich über den Andächtigen
ausspannt, gebildet worden. Durch die Anbringung
der Inschrift, die sich nicht mitten in den Himmel
hineinsetzen ließ, sondern eines Untergrundes bedurfte,
wäre die Gesamtwirkung durch die Zerschneidung
des Himmels dermaßen verdorben worden, daß sich
der Übermaler entschließen mußte, auch die Ecken
des Bildes und zwar mit grauer Farbe zu überziehen.
Auch in seinen übrigen Teilen weist der »Sterbende«
unverkennbare Spuren einer Übermalung auf, die für
jedes empfindliche Auge unkünstlerisch wirkt. Man
achte einmal auf die zahlreichen Inschriften, die über
die ganze Bildfläche verstreut sind. Den Schrift¬
charakteren nach haben wir hier zwei verschiedene
Hände vor uns. Von Cranachs Hand stammen un¬
zweifelhaft die Sentenzen, die in die untere Hälfte des
Bildes eingeschrieben sind, die auf einer braunen
Truhe am Fuße des Krankenbettes stehenden Worte
des Teufels: Desperandum tibi prorsus etc., sodann
die Worte, die der Priester spricht und die auf den
Wolken über dem Kopfe des Sterbenden stehen:
Peniteat te peccati, veniam pete et spera misericordiam,
und endlich die Verzeihung erflehenden Worte der
abscheidenden Seele: Et si peccavi tarnen te deus
meus nunquam negavi. Mit feinem künstlerischen
Takt hat Cranach die beiden letzteren Inschriften in
die hellblaugefärbten Wolken in hellgelben Buchstaben
eingeschrieben, so daß sie dem Auge nur in nächster
Nähe sichtbar werden, in einiger Entfernung aber nur
mit Mühe lesbar sind. Dem Charakter nach aber gänz¬
lich verschieden sind die Beischriften in der oberen
Hälfte des Bildes: sie rühren den Typen nach, die
mit viel weniger Sorgfalt gezeichnet sind, von einer
anderen Hand her, sie erscheinen — die griechische
über dem Chor der Frauen und die lateinische über
dem Propheten sind teilweise über die Flügel der
Cherubime gemalt - - dem Auge aufdringlich und
beeinträchtigen in hohem Maße die Wirkung des
Bildes. Endlich achte man noch auf die große, die
Dreifaltigkeit umgebende Glorie in der Mitte des Ge¬
mäldes: die Ellipse, die sie bildet, steht — auch auf
der Abbildung erkenntlich — vollständig schief in
den sie umgebenden Wolken, und besteht aus einer
roh hingestrichenen, von ebenso roh gemalten Regen¬
bogenfarben umgebenen gelben Farbschicht — auch
diese eine Übermalung von fremder Hand, die als
Untergrund für die daraufzusehende Doppelinschrift
Sanctus Dominus Deus Sabaot dienen sollte. Ursprüng¬
lich ist unter der Übermalung vielleicht Goldgrund
gewesen.
Aus den vorstehenden Erläuterungen ergibt sich
als Schlußfolgerung: Der Cranachsche »Sterbende«,
der an sich schon wegen der durchaus in das Genre¬
hafte, in das Alltägliche gezogenen Auffassung der eigent¬
lichen Sterbeszene absolut keinen kirchlichen Charakter
an sich hat und schon wegen der Kleinheit der Fi¬
guren nur in einem kleinen Raume höchstwahr¬
scheinlich im Wohnhause seines Besitzers — bei
günstiger Beleuchtung zur Wirkung gelangen konnte,
ist überhaupt kein Epitaphium und vom Künstler nie
als solches gedacht worden. Erst der Besitzer des
Gemäldes, Dr. Heinrich Schmidburg familiae siiae
finis , hat das Gemälde in ein Epitaph einfügen
und durch eine Reihe von Inschriften entsprechend
dem kirchlichen Zwecke, dem es nunmehr dienen sollte,
vor allem aber um seine Stiftungsurknnde in passen¬
der Form anzubringen, angepaßt. Das ist im Jahre
1518 geschehen. So erklären sich die Übermalungen,
so die Mehrzahl der Inschriften, so überhaupt die
Entstellung, der das Gemälde zum Opfer gefallen ist.
Daß man früher solche Übermalungen unbedenklich
vornahm, namentlich wenn es galt, ein Werk in
maiorem Dei gloriam umzugestalten, auch mit Werken
bekannter und geachteter Künstler schonungslos um¬
ging, ist eine längst bekannte Tatsache, die keiner
Analogien bedarf.
An Stelle der Jahreszahl 1518 wäre nun das eigent¬
liche Datum zu suchen. Ein kurzer Blick auf seinen
eigentlichen Inhalt wird uns einige wesentliche An¬
haltspunkte darbieten. Es ist längst schon darauf
hingewiesen worden, daß die Sterbeszene des Cranach-
schen Gemäldes an die in der Ars moriendi darge¬
stellten Kämpfe anknüpft, die zwischen den himm¬
lischen Mächten, den Engeln, und dem Vertreter des
Teufels in der Gestalt des Höllenrachens um die
sterbende Seele entbrennen. Die volkstümliche Auf¬
fassung dieses Kampfes kommt illustrativ hier ähnlich
zum Ausdruck wie in dem Cranachschen Gemälde,
doch mit der Einschränkung, daß die Darstellung auf
den irdischen Vorgang beschränkt bleibt, aber als
Zeugen des himmlischen Sieges Gott-Vater, Christus
und die Madonna in der Höhe dienen. Cranach er¬
weitert die Darstellung dadurch, daß er das Aufsteigen
der eben den irdischen Leib verlassenden Seele in
Form eines schönen Jünglings, in der geläuterten
Gestalt, die mit der Gottförmigkeit verbunden wurde,
hinzufügt. Nach oben wird die Darstellung ferner
durch die von der Glorie umgebenen Dreifaltigkeit,
durch den Chor der Heiligen, unter denen Johannes
der Täufer, Petrus und Paulus auch äußerlich er¬
kenntlich sind, durch den Chor heiliger Frauen mit
der Madonna an der Spitze, durch Cherubime und
Engel abgeschlossen. Diese ganze bildliche Auffassung
beruht aber weniger in der volkstümlichen Tradition,
als vielmehr in einem kirchlich fixierten Glaubenssatz,
ZUR CRANACHFORSCHUNG
223
der die einzelnen Elemente unserer Darstellung in sich
trägt. Er ist zu finden in dem Benedictionale der
alten Diözese Meißen, die 1512 von Melchior Lotter
in Leipzig gedruckt wurde.
Für uns kommt in Frage der Ordo commen-
dationis anime sive morientis conductus ab hoc seculo.
ln dem ziemlich langen Gebet am Sterbelager des
Menschen heißt es da unter anderem:
Commendo te omnipotenti deo charissime
frater: et ei cuius es creatura committo ut humani-
tatis debitum morte interueniente persolueris: ad
auctorem tuum qui te de limo terre formauerat
reuerteris. Egredienti itaqae anime tiio de corpore
splendidus angelorum cetas occurrat. iudex aposto-
lorum tibi senatus adueniat.
Candidatorum tibi martirum
triumphator exercitus obuiet.
Liliata rutilantium te confesso-
rum turma circumdet. lubilan-
tium te virginum chorus ex-
cipiat: et beate quietis in sinus
patriarcharum te complexus
astringat. Mitis atque festiiius
Christi ihesii tibi aspectus ap-
pareat: qui te inter assistentes
sibi iugiter interesse decernat.
Ignores omne quod harret in
tenebris: quod stridet in flam-
mis: quod cruciatur in tor-
mentis. Cedat tibi deterrimus
sathanas cum satellitibus suis
in aduentu tuo te comitantibus
angelis contremiscat atque in
eterne noctis chaos immane
diffugiat. Exurgat deus et dissi-
pantur inimici eius et fugiant
qui oderunt eum a facie eius
etc.
Dann heißt es weiter:
Delicta iuventutis et igno-
rancias eius quesumus ne me-
mineris dne: sed secundum
magnam misericordiam tuam memor esto illius in
gloria chlaritatis tue: aperiantur ei celi collectundur
illi angeli in regnum tuum dne tuum tecum suscipe.
Suscipiat eum sanctus michael archangeliis dei qui
milicie celestis meruit principatus. Veniant illi obuiam
sancti angeli dei: et perducant eum in ciuitatem
celestem iherusalem. Susipiat eum beatus petrus
apostolus cui a deo claues regni celestis tradite
sunt. Adviet eum sanctus paulus apostolus qui
dignus fuit esse vas electionis. Intercedat pro eo
sanctus iohannes electus dei apostolus .... Prestante
dno nostro ihesu christo: qui cum patre et spiritu
sancto vivit et regnat in secula seculorum.
1) Wieder abgedruckt in der von Pfarrer Dr. Albert
Schönfelder herausgegebenen »Liturgischen Bibliothek«,
1. Band: Ritualbücher (Paderborn 1904). Ich verdanke
diesen schätzbaren Hinweis der freundlichen Mitwirkung
des Herrn Geheimen Kirchenrates Prof. Albert Hauck in
Leipzig.
Die Quelle der bildlichen Darstellung sind die
in der Agende enthaltenen Sterbegebete, die priester-
liche Funktion am Sterbebette, die Hoffnung, die hier
unter ausdrücklicher Umgehung der üblichen kirch¬
lichen Vorstellung vom Fegefeuer an den unmittel¬
baren Eingang der Seele zur ewigen Seligkeit geknüpft
werden. Die Mystik der damaligen Zeit, die die
Rückkehr des Menschen zu Gott behandelt und ihre
populärste Gestalt wohl in den Lehren des 1482
von Sixtus IV. kanonisierten hl. Bonaventura, Schülers
des heiligen Franz von Assisi, erhalten hat, lehrte,
daß man mit Christus sterben müsse, um mit ihm
aus dieser Welt zum Vater zu gehen, und soweit es
dem geschaffenen Geiste möglich sei, »gottförmig«
zu werden. (Vgl. Piper, Zeugen
der Wahrheit III, S. 11 1 ff.) Bei
der Annahme, daß alle wesent¬
lichen Elemente der Darstellung
in dem Meißnischen Benedictio¬
nale von 1512 zu finden sind,
geht man wohl nicht fehl, wenn
man als Jahr der Entstehung
des Gemäldes die Zeit um 1513
annimmt. Höher hinauf zu gehen
halte ich für bedenklich, weil
auch stilistische Parallelen an¬
derer Werke für die angegebene
Datierung sprechen.
Es handelt sich nämlich um
die Holzschnitte eines Werkchens,
das in seinen Illustrationen —
soweit der technisch gröbere
Holzschnitt überhaupt zu einem
mit minutiöser Feinheit ausge¬
führten Ölgemälde als stilistische
Parallele herangezogen werden
kann — dem Leipziger Gemälde
sehr nahesteht. Den Hinweis
auf diese Parallele sowie die
Überlassung der Photographien
verdanke ich Eduard Flechsig,
der auf Seite 64 ff. seiner -Cra-
nachstudien- das bisher nur in zwei Exemplaren nach¬
gewiesene Werkchen erwähnt, das den Titel trägt: »Ein
serandechtig Cristenlich Büchlein aus hailigen schrifften
vnd Lerern von Adam von Fulda in teutsch reymenn
gesetzt . Das Büchlein ist im Jahre 1512 in Wittenberg
erschienen und enthält eine Folge von acht kleinen Holz¬
schnitten, deren Typen denen des »Sterbenden« stilistisch
nahestehen. Blatt 7, das Jüngste Gericht darstellend, das
neben einem zweiten Holzschnitt 1547 in dem »Hortu-
lus animae« wieder Verwendung gefunden hat (vergl.
Schuchardt II, S. 270 Nr. 109), bilden wir hier nach.
Der über der Weltenkugel thronende Erlöser und
Weltenrichter — deshalb ohne die Dornenkrone dar¬
gestellt — ist typisch genommen die analoge Er¬
scheinung wie der Christus auf dem Gemälde und
wirkt mit der Madonna und dem Täufer wie eine
durch die Technik des Holzschnittes und seine Klein¬
heit bedingte Abbreviatur der himmlischen Sphäre.
Dieselbe Parallele findet sich aber auch wie erwähnt
LUKAS CRANACH D. Ä. DAS JÜNGSTE GERICHT
HOLZSCHNITT
31
224
ZUR CRANACHFORSCHUNG
zwischen anderen Figuren des kleinen Holzschnitt-
zyklus und dem des Gemäldes, dessen gesicherte Da¬
tierung auch für dieses bedeutsam ist.
Die neue Datierung, die wir auf diese Weise für
das Cranachsclie Gemälde gefunden haben, ist von
Bedeutung für eine Reihe von Gemälden, die ihm
stilistisch nahe stehen, kein Datum tragen, aber wegen
der Jahreszahl 1518, die der Sterbende^ in der
Schmidburgischen Widmung trägt, in die etwas spätere
Zeit verlegt worden,
obwohl diese Anset¬
zung von manchem
Forscher schon als nicht
unbedenklich empfun¬
den worden ist. Es
handelt sich hier zu¬
nächst um jene klein-
figurigen Bilder, die,
soweit sie eigenhändige
Arbeiten Cranachs sind
oder als solche von
einzelnen Forschern in
Anspruch genommen
werden, sicher einer
Gruppe angehören, die
zeitlich enger begrenzt
ist als man bisher an¬
genommen hat. Zu
dieser Gruppe rechne
ich unter anderen fol¬
gende Vertreter:
1. Flügel -Altärchen
der Sammlung
Richard v. Kauf¬
mann in Berlin.
In der Mitte die
KreuzigungChri-
sti, links Christus
am Ölberg, rechts
Auferstehung. Im
Galeriewerk der
Sammlung von
Kaufmann (Nr.ög
und Tafel 46), als
»etwa 1520 ent¬
standen bezeich¬
net; vgl. Dresdner
Cranach-Ausstel-
lung Nr. 1 15. Von Flechsig, S. 282, dem jungen
Cranach zugeschrieben.
2. Kreuzigung Christi in der städtischen Gemälde-
Sammlung in Straßburg (Nr. 21 des Katalogs).
Entstanden um 1515 . Flechsig, S. 91 u.Taf. 27.
3. Kreuzigung Christi im Städelschen Institut in
Frankfurt a. M. Dresdner Cranachausstellung
Nr. 77. Flechsig S. 105: »Der Stil des »Ster¬
benden« in Leipzig von 1518 gibt uns das
Recht, auch die kleine Kreuzigung in Frank¬
furt in dieses Jahr zu versetzen«,
ln diese Gruppe gehört auch der mit der Jahres¬
zahl 1515 bezeichnete
4. Christus am Kreuz zwischen den Schächern in
Berlin bei Frau Mathilde Wesendonck. Cranach¬
ausstellung Nr. 9, Flechsig S. 89 ff. u. Tafel 22.
Auch andere Gemälde, deren Datierung bisher
geschwankt hat, dürften in diese Gruppe einzureihen
sein, für die vorstehend nur einige typische Vertreter
genannt wurden. So bin ich namentlich geneigt,
den Christus am Ölberg« der Dresdner Galerie, den
man sogar nach 1520 hat ansetzen wollen, zeitlich
unmittelbar an den
> Sterbenden > heranzu¬
rücken, womit Flechsig
(S. 92) übereinstimmt.
Aus stilistischen Grün¬
den ist auch ein Ge¬
mälde mit großen Fi¬
guren, das von Haus
aus zum Epitaphium
bestimmt gewesen ist,
in dieser Umgebung zu
nennen: Die Dreieinig¬
keit mit Engeln, die
die Leidensinstrumente
tragen, der Madonna,
dem heiligen Sebastian
und Sterbenden, die
sich am Boden winden,
im Leipziger Museum,
im Katalog unter Nr.
248 noch als Leipziger
Meister aus dem An¬
fang des 16. Jahrhun¬
derts angegeben (vgl.
Cranachausstellung Nr.
1 53, Flechsig, Cranach-
studien S. 98), ein ganz
charakteristisches Werk
des Meisters, das bei¬
nahe in all’ seinen ein¬
zelnen Typen, sogar
den Porträtzügen der
Figuren, in der Be¬
handlung der Wolken,
in der Verwendung des
Kobaltblau, dem »Ster¬
benden« unmittelbar
an die Seite zu stellen
ist. Endlich mag in
diesem Zusammenhänge noch eine ungemein feine,
wenn auch etwas verputzte »Dreieinigkeit« genannt
sein, die, aus dem Besitz des Herrn Robert Lehmkuhl
in Bremen stammend, auf der kunstgeschichtlichen Aus¬
stellung in Erfurt im September 1903 zu sehen war.
Das Bild, das dafür bezeichnend ist, wie sorgsam und
zart Cranach eine Engelsglorie zu gestalten wußte,
ist 40 cm hoch und 27 cm breit und dem Stil des
»Sterbenden« durchaus verwandt, weshalb es auch in
den an die Erfurter Ausstellung anknüpfenden »Meister¬
werken aus Sachsen und Thüringen« (S. 13) um das
Jahr 1518 angesetzt wird, »da es an die Gedächtnis¬
tafel des Doktor Schmidburg in Leipzig erinnert«.
LUKAS CRANACH D. Ä. DIE DREIEINIGKEIT
BREMEN, SAMMLUNG LEHMKUHL
ZUR CRANACHFORSCHUNG
225
Die gleiche Dreieinigkeit in der Engelsglorie auf dem
sechsteiligen Gemälde der Dresdner Galerie Nr. igoöd
ist hiernach sicher Schülerarbeit.
Auch in dem Holzschnittwerk des Meisters findet
sich eine bedeutsame Nummer — das größte Blatt,
das aus seiner fleißigen Hand hervorgegangen ist -
für die sich auf Grund unserer Ausführungen eine
neue Datierung gewinnen läßt. Es ist dies die so¬
genannte Himmelsleiter des heiligen Bonaventura,
ein Blatt, das ursprünglich mit dem Holzschnitt einer
Hölle zusammen eine Darstellung bildete und zu einer
solchen auch auf dem
Abdruck der Pariser Na¬
tionalbibliothek vereinigt
ist. (Abgebildet in der
Lippmannschen Ausgabe
der Cranachscheu Holz¬
schnitte auf Tafel 51 und
51a; vgl. Schuchardt II,
S. 235 ff.) Das Blatt schil¬
dert im Anschluß an die
Grundsätze der Mystik
Bonaventuras die Rück¬
kehr des Menschen zu
Gott, deren verschiedene
Stufen der Heilige unter
dem Bilde einer Leiter
von sieben Staffeln dar¬
gestellt hatte. Auf diesen
Staffeln gelangt man
immer höher zur Voll¬
endung der Erleuchtung
des Geistes; in Christo
schaut man dann nicht
mehr allein den Ver¬
mittler, sondern Gott
selber, mit dem man
sich eins fühlt in Friede
und ungetrübter Selig¬
keit. Cranach hat den
mystischen Sinn dieser
Lehre in seiner Weise
verarbeitet und mit Rück¬
sicht auf die Person des
Kurfürsten, der unten an
der Leiter kniet, ausge¬
legt. Ein Vergleich mit dem »Sterbenden« lehrt, daß
beide Darstellungen dem Gedanken, der Komposition
und einzelnen Typen nach aufs engste zusammen¬
gehören: dem Inhalt nach handelt es sich um die Be¬
freiung des Menschen von den Qualen der Hölle, um
das Aufstreben der geläuterten Seele zu den Sphären
überirdischer Herrlichkeit, der künstlerischen Anlage
nach haben wir das nämliche Kompositionsschema in
dem Prinzip des Aufbaues und in der Anordnung der
Gruppen vor uns; auch die Übereinstimmung der
Typen weist auf gleichzeitige Entstehung hin. Lipp-
mann (auf Seite 13 des genannten Werkes) setzt das
Blatt in die Zeit um 1520, Flechsig (S. 4g) wegen
der stilistischen Eigenschaften mit den oben Seite 223
genannten Holzschnitten des Büchleins von Adam
von Fulda in die Jahre 1510 oder 1511. Unsere
Analyse dürfte diese Datierung in der Hauptsache
bestätigen. Diese Jahre bedeuten für Meister Cranach
offenbar eine Zeit, die ihm den Gedanken an Tod,
Erlösung der Seele und ewiges Leben besonders
nahelegte und ihn zur künstlerischen Gestaltung der
ihn bewegenden Ideen und Gedanken anregte. Eine
Zeit, in der die Pest zahllose Opfer in den deutschen
Landen forderte, legt eine solche Vermutung sehr nahe.
Ist doch auf dem im Leipziger Museum befindlichen
Gemälde der Dreifaltigkeit neben der Madonna der
heilige Sebastian, der Pa¬
tron gegen die Pest, dar¬
gestellt; die Sterbenden,
die hier sich am Boden
winden, sollen offenbar
Pestkranke sein, die die
Seuche dahinrafft. In
jedem Falle muß man
aber bei dem »Sterben¬
den« der Annahme ent¬
gegentreten, daß es sich
in dem Gemälde um eine
Darstellung protestanti¬
scher Tendenzen, um die
Hinneigung zu den Leh¬
ren Luthers, von der der
Künstler hier Zeugnis
ablege (so neuerdings
wieder Hedwig Michael-
son, Lukas Cranach d. Ä.,
S. 7g), handelt. Wir
wissen allerdings, daß
Heinrich Schmidburg
Luther nahestand und
diesem bei seinem Tode
(1520) hundert Gulden
vermachte — quod mihi,
so schreibt Luther an
Spalatin 13. November
1520, nulla causa magis
placet quam ut mortuus
iustus damnet vivos im-
pios. Es wäre bedenk¬
lich, in jenen Jahren
schon in der Kunst pro¬
testantische Tendenzen zu suchen im Sinne der
großen reformatorischen Bewegung, die erst einige
Jahre später das Volk ergriff. Nein, das Bild
ist vielmehr ganz aus katholischen Anschauungen
herausgewachsen und entspricht auch den religiösen
Bedürfnissen der damaligen katholischen Welt. Selbst
Luther hat sich noch und zwar im Jahre 151g zu
dieser Auffassung bekannt, wenn er in dem Sermon
von der Bereitung zum Sterben« also schreibt: »Es
soll kein Christenmensch an seinem Ende daran
zweifeln, daß er in seinem Sterben nicht allein ist,
sondern er soll gewiß sein, daß wie es das Sakrament
ausweist, auf ihn gar viele Augen sehen. Zuerst
die Augen Gottes selber und Christi, darum weil er
seinem Worte glaubt und seinem Sakrament anhängt.
LUKAS CRANACH D. Ä. DIE HIMMELSLEITER DES HEILIGEN
BONAVENTURA. HOLZSCHNITT
226
ZUR CRANACHFORSCHUNG
Dann die lieben Engel, die Heiligen und alle Christen . . .
Wenn aber Gott auf dich sieht, so sehen ihm nach
alle Engel, alle Heiligen, alle Kreaturen, und wenn
du im Glauben bleibst, halten sie alle die Hände
unter. Geht dann deine Seele heim, so sind sie da
und nehmen sie in Empfang.«
Im Jahre 1522 hat der Cranachsche Sterbende«
eine Art Ergänzung erhalten, indem zu dem Gemälde
ein Deckel hinzugefügt wurde, der mit ihm zusammen
einen Schrein bildete, was nicht anders zu denken ist,
als daß sich das Cranachsche Gemälde in einer ver¬
tieften Umrahmung befand, über der an einem Schar¬
nier drehbar ein Deckel lag, der bei besonderer Ge¬
legenheit geöffnet wurde. Auch dieser Deckel, der
im Leipziger Museum bis vor zwanzig Jahren ma¬
gaziniert war, ist in seiner Hauptdarstellimg, einer
Kreuzigung Christi über einem Kircheninterieur mit
Angehörigen des Stifters (in Lichtdruck veröffentlicht
in den Bau- und Kunstdenkmälern Sachsens, Leipzig-
Stadt, auf Tafel S), kunsfgeschichtlich nicht uninteressant.
Von Cranachs Hand stammt er keinesfalls. Scheibler-
Janitschek fühlten sich (Gesch. der Malerei S. 507)
wegen der starken Phantastik an Grünewald erinnert.
Dann wurde einmal an den Leipziger Maler Heinrich
Schmidt gedacht, wobei aber nur eine unbekannte
Größe durch eine andere ersetzt wurde. Schon vor
Jahren dachte Eduard Flechsig einmal gesprächsweise
an den aus Landshut i. B. stammenden Maler Georg
Lemberger, den neuerdings Heinrich Röttinger in
Wien in den Mitteilungen der Gesellschaft für ver¬
vielfältigende Kunst igo6, S. 1 ff. bei einer Unter¬
suchung über das Holzschnittwerk von Lemberger
(Monogrammist G L, früher, wohl zuerst von Nagler,
irrtümlich Gottfried Leigel genannt; vergl. auch »Kunst¬
chronik« N. F. 1., Sp. 322) als Meister des Gemäldes
erwiesen hat. Ein Gemälde dieses, Altdorfer nahe¬
stehenden Künstlers war bisher noch nicht bekannt.
Wir wissen von ihm, daß er 1523 das Bürgerrecht
von Leipzig erwarb, also damals sich schon einige
Zeit hier aufgehalten haben muß. Literarisch ist ein
Gemälde von ihm bezeugt. Im Richterbuch des Jahres
1537 findet sich der Eintrag, daß »Gorge von Lands-
hnt«, einem Gläubiger, den er nicht bezahlen
konnte, »ein bilde Adam vnd Eva, ein kirnst stucke,
hinder das Gericht gelegt« hat (Archiv für Gesch.
des deutschen Buchhandels Xll, S. 187; vergl.
auch neuerdings Wustmann in seiner »Geschichte
der Stadt Leipzig« S. 422). Lemberger scheint haupt¬
sächlich Buchkünstler gewesen zu sein, worauf auch
die Phantasiearchitektur der Leipziger Kreuzigung, die
in Holzschnitten der damaligen Zeit vielfach wieder-
kehrt, hindeutet. Er war kein Meister großen Stils
und ersten Ranges, immerhin aber ein solcher, an
dem die Geschichte der Kunst nicht mehr achtlos
vorübergehen darf. Vielleicht gelingt es, ihn auf Grund
der neuesten Nachweise weiterzuverfolgen. Ist doch
die sächsische Kunstgeschichte im Zeitalter der Refor¬
mation großenteils überhaupt noch eine terra incognita,
die erst noch erforscht werden soll!
WILHELM GIESE
Diesem Heft ist eine Radierung des jungen
Wilhelm Giese beigegeben. Giese lebt in
Magdeburg, das ihn als Lehrer der Kunst¬
gewerbeschule beschäftigt. Weil er aber nicht bloß
malt, zeichnet und radiert, weil er auch Künstler ist,
sieht und liebt er selbst die Schönheit und die künst¬
lerischen Reize Magdeburgs und seiner Landschaft,
einen spröden Stoff, dem nicht jedermanns Palette,
Stift und Sinne beizukommen vermögen. Diesem
Milieu entstammt auch unsere Radierung, die das
Licht der Öffentlichkeit auf der letzten Schwarz-
Weiß- Ausstellung der Berliner Sezession erblickte:
der »Markt in Magdeburg«. Von dem bekannten
Denkmal Ottos des Großen auf diesem Platz hat die
künstlerische Absicht nur ein kleines Stück der Um¬
friedigung stehen lassen. Denn dieser Absicht kam
es auf die Wiedergabe der zwischen dem ruhenden
Pol der Marktschirme, -Körbe und -Frauen herum¬
wimmelnden Menschen an. Tristes Regenwetter sorgt
dafür, daß die Bewegung dieser Menschen nicht zum
Stocken kommt. Ja, selbst wo Obst- oder Gemüse¬
handel zu einer Gruppenbildung zwingt, drückt die
Haltung der Beteiligten Hast und nervöse Unruhe
aus. Diese Männer, Weiber, Kinder kann man des¬
halb auch nicht in Gemütsruhe revidieren, ob sie die
vorschriftsmäßigen Finger, Augen, Ohren haben —
man kann ihnen aber ansehen, ob sie größere oder
geringere Eile haben, und ob sie schwer oder leicht
zu tragen haben. Diese Figuren sind keine »fleißigen«
Studien nach dem gestellten Modell im Atelier be¬
quem, plastisch und »mit Liebe« gezeichnet, sie sind
in solidem Studium vor der Natur erarbeitet. Wer
die Künstlerbundausstellung im Leipziger Buchge¬
werbemuseum gesehen hat, konnte unter den dort
ausgestellten Zeichnungen Gieses auch eine von den
Vorstudien sehen, die Giese in künstlerischer Ge¬
wissenhaftigkeit anfertigte, ehe er an die Bearbeitung
der Kupferplatte ging. Diese selbe Gewissenhaftigkeit
zeigt seine Radiertechnik. Da wird keine zeichne¬
rische Schwäche mit dem beliebten Schleier der
Aquatinta verhüllt, sondern klar und deutlich Strich
für Strich geätzt. Dieser Strich ist bei Giese nicht
ein bloßes Mittel, mehr oder weniger dunkle Flächen
zu erzielen; er ist bei ihm Element der Technik, also
genau das, was er bei Rembrandt, Manet, Whistler
ist. Whistler! Gewiß, Gieses Strich ist derber, und
sein Detail deshalb nie so raffiniert fein wie bei dem
sensiblen Anglo-Amerikaner. Dafür entschädigt Giese
— und das ist seine Stärke — durch eine feste Bild¬
wirkung, eine fabelhafte räumliche Geschlossenheit,
die er seinem angeborenen, instinktiven Kompositions¬
gefühl verdankt. Dabei mag er wohl hier und da
an Japan erinnern: aber dies »Japanische« ist eben
angeboren, nicht etwa wie bei Degas oder Toulouse-
Lautrec durch Studium entwickelt. Unterstützt wird
dieses Raumgefühl stets von rein verstandesmäßigen
Erwägungen über den richtigen, will sagen knapp¬
sten Ausschnitt, über die Wirkung von Diagonalen,
über den Parallelismus der Linien. Und so kommt
in jede Arbeit Gieses ein so starker ornamentaler Ge¬
halt — ornamental im besten Sinne des Wortes ge¬
meint — , daß sie sich wie unsere Radierung gern
vom Sammler in die Hand nehmen und in der Nähe
liebevoll betrachten läßt, und dabei doch auch an
der Wand ihren Platz behauptet.
PAUL DO BERT.
-J
DISKUSWERFER. BRONZIERTER OlPSABOUSS. MÜNCHEN
Nach einer Aufnahme der Verlagsanstalt F. Bruckmann
a) Vor dem Wurf
b) Im Wurf
ABB. 1. MOMENTAUFNAHMEN EINES DISKUSWURFES
c) Absprung
DER DISKUSWERFER
Eine künstlerische Untersuchung von Ludwig Volkmann
Die Aufstellung der neugefundenen Kopie des
Myronischen Diskuswerfers aus Castel Por-
ziano im Thermenmuseum zu Rom nebst der
trefflichen Ergänzung durch Giuüo Emanuele Rizzo
hat in letzter Zeit erneut die besondere Aufmerksam¬
keit auf jenes Meisterwerk griechischer Plastik gelenkt,
das von jeher als ein Wendepunkt in der Entwicke¬
lung der Skulptur, als ein kühner Vorstoß im Sinne
größerer Freiheit und Bewegung nach monumentaler
Gebundenheit, gegolten hat. (Vgl. den Aufsatz von
Walter Amelung in Heft 7 des vorliegenden Jahr¬
ganges.) So darf auch eine gerade an diese Figur
sich anknüpfende künstlerische Betrachtung allgemeine¬
rer Art auf einiges Interesse rechnen, die den wesent¬
lichsten Problemen, die hier zugrunde liegen, nachzu¬
gehen versucht und ihre Lösung auf anschauliche
Weise zur Darstellung bringen möchte. Denn wenn
Myrons Diskoboi ebensogut gleichsam ein künstlerisches
Glaubensbekenntnis bedeutet wie der Doryphoros des
Polyklet, so müssen auch wir uns über die grund¬
sätzlichen Fragen Rechenschaft geben können, die hier
durch die Tat eines Meisters ihre Beantwortung ge¬
funden haben. Und an der Hand eines vielleicht
nicht ganz wertlosen neuen Anschauungsmateriales
ergeben sich daraus von selbst mancherlei verglei¬
chende Blicke in das Wesen plastischer Schöpfung
und künstlerischer Arbeit überhaupt.
Die erste Anregung zu eingehenderer Beschäftigung
mit den künstlerischen Problemen des Diskuswerfers
1) Nach einem zur Winckelmann-Feier des archäolo¬
gischen Seminars der Universität Leipzig im Dezember
igo6 gehaltenen Vortrage.
Zeitsclirift. für bildende Kunst. N. F XVIII. H. cj
gab mir — so seltsam dies klingen mag — eine
Darbietung im Varietetheater. Unter dem Namen der
»Drei Olympier« nämlich traten in Berlin und ander¬
wärts drei hervorragend schön gebaute und athletisch
durchgebildete junge Männer auf, die in sehr geschick¬
ter Weise plastische Posen und Gruppen stellten, und
zwar mit völlig unbekleidetem Körper, der nur, wohl
einem hohen Polizeipräsidium zuliebe, mit einer Bronze¬
farbe »bedeckt« war, im übrigen aber alle Formen
der prachtvoll gleichmäßig entwickelten Muskulatur
zeigte. Dabei nun war eine Darstellung des Diskus¬
werfers nach Myron besonders glücklich und forderte
in mehrfacher Hinsicht unmittelbar zum prüfenden
Vergleich mit dem Kunstwerk selbst heraus. Eine
freundlichst überlassene Photographie danach, und
zwar ohne den Bronzeanstrich des Körpers, ist hier
abgebildet, und daneben das vatikanische Exemplar
des Diskobolen, weil gerade dieses, obgleich keines¬
wegs die beste Wiederholung, dem Darsteller zum
Vorbild gedient hat. Es braucht dabei die bekannte
Tatsache nur gestreift zu werden, daß diese aus rö¬
mischer Zeit stammende Marmornachbildung des
Bronzeoriginales nicht nur ziemlich verweichlicht und
verflaut ist, sondern auch in dem durch Albagini
restaurierten Kopf einen wirklichen Fehler aufweist;
er ist falsch aufgesetzt und müßte richtig nach rück¬
wärts blicken, wie bei dem Exemplar im Palazzo
Lancellotti in Rom, was klar aus dem mangelhaften
Übergang vom Rückgrat zu den Halswirbeln hervor¬
geht. Doch nicht darauf soll es hier ankommen,
sondern auf die allgemeine Frage des Verhältnisses
zwischen dem lebenden Geschöpf und dem von Künst-
32
DER DISKUSWERFER
230
ABB. 2. NATURAUFNAHME IN DER STELLUNG DES
MYRONISCHEN DISKUSWEREERS
ABB. 3. DISKUSWERFER NACH MYRON
ROM, VATIKAN
lerhand gebildeten Werk überhaupt, jene Frage, der
ich in meinem Buche »Naturprodukt und Kunstwerk«
von verschiedenen Seiten aus näher zu kommen ver¬
sucht habe und die mich deshalb auch in diesem
Falle besonders anregen mußte. Und darin liegt viel¬
leicht der größte Wert derartiger »plastischer Dar¬
stellungen«, daß sie solchen Vergleich ermöglichen
und so neben der Freude am schönen, harmonisch
durchgebildeten nackten Körper auch dazu beitragen
können, den leider noch immer recht darniederliegen¬
den Sinn für die Plastik zu wecken und zu fördern,
wenn man sie recht betrachtet. Freilich muß dabei
zunächst der in begreiflicher Übertreibung gelegent¬
lich hervortretenden Auffassung vorgebeugt werden,
als ob damit nun wirklich schon Kunstwerke oder
selbständige künstlerische Werte geboten würden.
Denn bei aller Ähnlichkeit der Stellung und aller
Schönheit und Grazie des »Modells« dürfen doch
auch hier die fundamentalen Unterschiede zwischen
Natur und Kunst nicht übersehen oder geleugnet
werden. Auf den ersten Blick ist es ja wohl ganz
auffallend, wie streng sich der antike Meister an die
Natur gehalten und wie richtig er die Funktionen und
Veränderungen der Muskulatur wiedergegeben hat,
so namentlich in den kräftig modellierten Teilen der
rechten Schulter und des Armes oder in den Falten
des eingebogenen Leibes und der Leisten, im Ansatz
des Brustkorbes usw. Aber dabei ist doch im Ganzen
eine so sichere und klare Vereinfachung und künst¬
lerische Stilisierung der Formen vorgenommen worden
-- man beachte nur z. B. wie die ruhigen großen
Flächen der Brust hervorgehoben sind — , daß die
aufs wesentliche gerichtete, verarbeitende und frei
gestaltende Tätigkeit des Künstlergeistes unmittelbar
vor Augen tritt. Vor allem aber ist es das Bewe¬
gungsmotiv als solches, worin sich dies geltend macht,
und da eben darin der Hauptreiz der Figur liegt,
muß hierauf etwas näher eingegangen werden. —
Einige Abweichungen im Einzelnen sind leicht zu er¬
kennen: die rechte Hand am Diskus greift, mit ab¬
gespreiztem Daumen, im Kunstwerk höher hinauf als
in der gestellten Pose, die Brust ist stärker nach vorn
gewendet, die Beugung des ganzen Körpers und be¬
sonders der Kniee ist tiefer, der linke Fuß ist nicht
ruhend aufgestellt, sondern schleift mit gestreckten
Zehen lose nach, jener berühmte Zug, von dem noch
zu reden sein wird. Und, was die Hauptsache ist,
der fabelhaft lebendige Qesamteindnick des Kunst¬
werkes, die lebhaft empfundene, geradezu momentane
Bewegung, kommt in der Wiedergabe durch den
wirklich lebenden Menschen nicht annähernd zur Vor¬
stellung, ja dieser wirkt statt bewegt vielmehr leblos
und erstarrt. Nun ist es ohne weiteres einleuchtend,
warum eine genaue Nachahmung der Figur auch dem
kräftigsten Athleten nicht möglich ist; gerade das hohe
Hinaufgreifen am Diskus, die starke Drehung und
DER DISKUSWERFER
231
Beugung des Körpers, das Ruhen der gesamten Last
auf nur einem Fuß wäre selbst auf ganz kurze Zeit
einfach nicht auszuhalten, und hierin allein schon
zeigt es sich, daß für einen solchen Vorwurf dem
Künstler die bloße Kopie auch des besten Modells
nichts nützen würde. Aber, so könnte man fragen,
liegt die Verschiedenheit des Eindruckes vielleicht nur
an den aufgeführten Einzelheiten, die das ruhende
Modell eben nicht geben kann, und würde eine Mo-
mentaufnahme der Wirkung des Kunstwerkes gleich¬
kommen? Oder liegen auch da noch tiefere Unter¬
schiede vor? — Es lag nahe, gerade hier durch einen
Versuch Gewißheit zu verschaffen, und das gelang
durch die bereitwillige Unterstützung seitens einiger
Herren vom Männerturnverein München, die der Frage
aus künstlerischen wie turnerischen Gesichtspunkten
das gleiche Interesse entgegenbrachten, und denen die
oben unter a bis c wiedergegebenen Aufnahmen zu
verdanken sind. Im Gegensatz zu dem in der heutigen
Leichtathletik gebräuchlichen Diskuswurf, bei dem vor
dem Abschleudern der Scheibe ein Sprung vorwärts
und eine ganze Umdrehung des Körpers ausgeführt
wird, ist hier nach Weise der Antike aus dem Stand
geworfen, wie es auch bei den olympischen Spielen
in Athen gehandhabt wurde. Der Werfende tritt mit
vorgestelltem rechten Fuß an und hebt mit beiden
Händen den Diskus hoch empor (a); dann holt er
nach rückwärts zum Schwünge aus, wobei die linke
Hand die Scheibe losläßt und der linke Arm, das
Gleichgewicht haltend, ausgestreckt wird, während die
Beine zugleich durch die Gewalt des Schwunges ganz
von selbst in die Kniebeuge herabgerissen werden (b);
endlich schleudert der rechte Arm in mächtiger Be¬
wegung den Diskus nach vorwärts und läßt ihn fort¬
sausen, der gesamte Körper aber folgt dieser Aus¬
lösung der Kräfte in lebhaftem Absprung, wobei nun
das linke Bein mit ausgestrecktem Fuß nachgezogen
wird (c). Es ist wichtig, sich über diesen tatsäch¬
lichen Vorgang klar zu sein, der Jedem, der ihn nur
einmal in Wirklichkeit gesehen hat, sofort einleuchtet.
Frühere irrige Auffassungen, wie die, daß der myro-
nische Diskoboi im Anlauf begriffen sei und plötz¬
lich einhalte, werden dadurch überzeugend widerlegt.
Die mittelste der Aufnahmen aber gibt nun Antwort
auf unsere eigentliche Frage, wenn wir sie mit dem
Kunstwerk vergleichen. Gewiß zeigt auch sie wieder,
wie »richtig« und »naiurwahr« der Diskobo! in
vielen Stücken ist, und wie gut ein Myron die blitz¬
schnell vergehende Bewegung zu beobachten wußte,
Jahrtausende vor Erfindung der Momentphotographie.
Auch sind Vv^irklich die Abweichungen im Einzelnen,
die das ruhende Model! aufwies und aufweisen mußte,
zum Teil hier nicht vorhanden; die rechte Hand faßt
den Diskus ganz von oben, der Körper ist stärker
gedreht, die Beine sind tiefer gebeugt. Aber das
Ganze wirkt trotz alledem längst nicht so wahrschein¬
lich und selbstverständlich wie im Kunstwerk, ja es
erscheint fast bizarr mit den eckigen und grätsdiigen
Stellungen der Glieder, die der Apparat wahllos er¬
schnappt hat. So wenig wie das ruhende Modell
hätte also auch die Momentaufnahme zur unmittel¬
baren Übertragung in das Kunstwerk dienen können.
Die wundervoll geschwungene Biegung des Disko¬
bolen, die Amelung mit Recht einem gespannten
Bogen vergleicht, ist nicht allein zur Augenfreude
oder dem geschlossenen Umriß der Figur zuliebe da,
sondern erweckt zugleich, indem wir ihr mit den
Augen folgen, in uns selbst die Empfindung der Be¬
wegung, und mit der Anmut ist auch der künstle¬
rischen Wahrheit Genüge getan. Ein wesentlicher
Punkt aber ist dabei noch nicht berücksichtigt: der
linke Fuß, den der Künstler so köstlich nachschleifen
läßt, steht im Momentbilde mit umgebogenen Zehen
fest auf dem Boden, und — die Naturaufnahme hat
Recht! Dieses Nachschleifen des Fußes nämlich, das
gerade so charakteristisch-momentan wirkt und den
Eindruck der flüchtigen Bewegung so lebhaft unter¬
stützt, ist in Wirklichkeit nicht gleichzeitig mit dem
weitesten Ausholen des Armes, sondern kommt erst
etwas später, im Übergang zum Absprung (c). Da¬
mit wäre denn geradezu in augenfälliger Darstellung
erwiesen, daß es für die Wiedergabe einer Bewegung
in der Kunst, trotz Lessing, mit der Abschrift eines
einzelnen Momentes nicht getan ist, selbst wenn er
der »fruchtbarste« ist, weil eben der Künstler mit
vollem Rechte mehrere Momente in seinem Werk
kombiniert und verschmilzt, wie es auch unser Auge
und noch mehr unsere Vorstellung tut. Ja es ist der
Kunst dadurch möglich, in gewissem Sinne das zeit¬
liche Nacheinander im räumlichen Nebeneinander dar¬
zustellen, wiederum trotz Lessing. Gerade hierauf
beruht beim Diskobo! ganz wesentlich der lebendige
Eindruck, daß nicht ein vereinzeltes Stadium der Be¬
wegung herausgerissen, sondern der gesamte Vorgang
empfunden und zur Empfindung gebracht ist: eben
holt er aus — und schon ist er weiter! Selbstver¬
ständlich behält auch mit dieser kleinen Einschränkung
der Satz vom »fruchtbarsten Moment« seine Bedeutung,
und auch Myron hat nicht vergebens den Augenblick
des weitesten Ausholens mit dem Arm gewählt, um
die Bewegung recht eindringlich zu machen. Der
Vergleich mit dem Uhrpendel, bei dem auch stets die
weiteste Abweichung von der Senkrechten dargestellt
wird, ist bekannt. Es ist in diesem Augenblick so
viel gesammelte Kraft, so viel latente Bewegung in
dem Körper aufgespeichert, daß wir ihn wirklich im
nächsten Moment emporschnellen zu sehen meinen,
und jedenfalls ist diese Phase des Vorganges aus¬
drucksvoller und anregender zu Bewegungsvorstel-
lungen als die dritte (c), bei der sich die Spannung
nun gelöst hat und sich die Bewegung erst recht
eigentlich vollzieht. Nicht darauf kommt es in der
Kunst an, daß eine Hand wirklich greife, sondern
man muß ihr nur glauben, daß sie greifen könne,
nicht darauf, daß der Fuß wirklich springt, sondern
daß er springen könne.
Wie richtig im Besonderen übrigens auch der
nachschleifende Fuß des Diskobolen beobachtet ist,
erweist in Ermangelung der betreffenden Aufnahme
beim Diskuswurf eine entsprechende Momentphoto¬
graphie von Ottomar Anschütz nach einem jungen
Speerwerfer. Auch hier erfolgt dieses Durchziehen
3^*
232
DER DISKUSWERFER
des Fußes
erst nach er¬
folgtem
Wurf, und
es sieht tat¬
sächlich ge¬
nau so leicht
und elegant
aus, wie es
Myron in
der Erinne¬
rung festzu-
halten ge¬
wußt hat.
Überhaupt
ist diese Auf¬
nahme recht
wohl zum
Vergleich
mit dem Dis¬
kuswerfer
heranzuzie¬
hen, auch für
die Armhal¬
tung, und sie bietet zugleich einen besonders an¬
mutigen geschossenen Umriß.
Wie wir sahen, daß Myrons Werk weder die Nach¬
bildung eines kunstvoll gestellten Modells noch die
mechanische Erfassung eines einzigen Augenblickes
bedeutete, sondern das lebendige Resultat fortgesetzter
Anschauung und eine Summe unzähliger wohlbe¬
wahrter Erinnerungsbilder, so hat es nun andererseits
geradezu dafür benutzt werden können, um den alten
griechischen Diskuswurf zu neuem Leben zu erwecken.
Denn bei den olympischen Spielen in Athen hat tat¬
sächlich der Diskoboi als Vorbild und Richtschnur
für die Stellung beim Werfen dienen können, gewiß
ein klassischer Beweis für die dem Kunstwerk inne¬
wohnende unvergängliche Lebenskraft. Besonders der
zweite Sieger, ein Grieche, hatte sich mit dem Be¬
wegungsmotiv der Figur so vertraut gemacht, daß
er es beim Wurf ziemlich genau beibehielt und aus¬
gezeichneten Erfolg damit hatte. Eine Aufnahme
nach ihm zeigt die große Ähnlichkeit der Stellung,
jenen interessanten Chiasmus der Glieder, der für
diese bezeichnend ist, aber auch den fest aufgesetzten
linken Fuß als bemerkenswerteste und nach dem Vor¬
angegangenen verständliche Abweichung gegenüber
der Figur. Besonders lehrreich aber ist diese Auf¬
nahme dadurch, daß sie nicht scharf von der Seite,
sondern etwas von vorn genommen ist, und sie führt
uns dadurch auf eine weitere künstlerische Frage, die
sich an den Diskuswerfer knüpft. Die Klarheit und
Deutlichkeit des Vorganges nämlich geht in dieser
Ansicht zweifellos zum Teil verloren, die Arme und
Beine überschneiden und bedecken sich in unklarer
Weise, das Ausholen mit dem Diskus, die Wendung
der Brust kommt längst nicht so kräftig und aus¬
drucksvoll zur Anschauung. Auf volle Seitenansicht
also ist das Motiv und ist auch die Figur berechnet,
und wenn wir sie daraufhin nochmals betrachten, so
ABI!. 4. SPEERWERFER NACH DEM WURF
Momentaufnalime von Ottoinar Anscliütz
sehen wir sogar, daß sie auch in dieser Hinsicht eine
offenbare und bewußte Steigerung erfahren hat. Denn
insbesondere die starke Wendung der Brust dient
keinem anderen Zweck als der schärfsten Betonung
dieser Seitenansicht, der Ausbreitung aller Teile in
einer Fläche, so daß sie in einem einheitlichen Ge-
sichtsbild deutlich und restlos zusammengefaßt werden
können. Es ist eine -Reliefaiif/assnng« auch der
vollrunden Plastik, die der Kunst der »Goldenen Zeit
eigen war und auch später immer wieder siegreich
aus der Vergessenheit auftauchte. Deshalb konnten
die Griechen ganz nnbedenklich so oft die gleichen
Motive in Freiplastik und in fvelief darstellen, ohne
der Wirkung viel zu nehmen; es ist bekannt, wie
zahlreiche Statuen z. B. auf Münzen sich wieder¬
gegeben finden, und auch der Diskoboi ist in dieser
Weise verwendet worden. Ja bei der Bedeutung, die
in dieser Auffassung der Plastik naturgemäß der Um¬
riß, die Silhouette gewinnt, kann sogar die engste
Wechselbeziehung mit der flächigen Kunst der Vasen¬
malerei bestehen. Auch hier spielt der Diskoboi
seine Rolle, wofür sich mancherlei Beispiele anführen
ließen. Selbstverständlich mußte diese Berechnung
auf eine Hauptansicht auch auf die Aufstellung der
Figur zurückwirken, wie umgekehrt in der Verbin¬
dung mit der Architektur die stärkste Anregung zur
Reliefauffassung der Freiplastik liegen kann, znm Bei¬
spiel in den Giebelgruppen usw. Eine Aufstellung
also, die hierauf nicht Rücksicht nimmt, ist falsch,
weil der künstlerischen Idee des Werkes widersprechend,
lind falsch ist ebenso eine photographische Aufnahme,
bei der auf diesen wichtigen Umstand nicht geachtet
wurde. So verhält es sich beispielsweise mit der
nebenstehenden Ansicht des so ängstlich gehüteten
Diskoboi Lancellotti, dessen eigensinnigem Besitzer
durch den neuen Fund von Castel Porziano sein
ganzer Trumpf aus der Hand genommen ist. Diese
Photographie
hat, in der wohl¬
gemeinten Ab¬
sicht, das Ge¬
sicht voll zu
zeigen, die Ge¬
samtwirkung
der Figur gänz¬
lich aufgehoben,
während gerade
der Kopf nicht
für die Ansicht
en face berech¬
net ist, ja ge¬
wisse Verschie¬
bungen und Un¬
regelmäßigkeiten
aufweist, die in
der Seitenansicht
verschwinden.
Ein Vergleich
mit der Abbil-
, , ABB. 5. MOMENTAUFNAHME EINES DISKUS-
dung des vati- werfers von den olympischen
kanischen Exem- spielen in athen
DER DISKUSWERFER
233
plars zeigt deutlich, wie hier die
ganze Klarheit und Eindringlich¬
keit verloren gegangen ist; der
Arm mit dem Diskus verkürzt
sich und wird dadurch weniger
ausdrucksvoll, ebenso der linke
Arm, und die Drehung des Kör¬
pers erhält im Verhältnis zu den
Beinen etwas Gezwungenes, so
daß die Figur verzerrt und ver¬
zeichnet wirkt und fast umzu¬
fallen scheint. Das linke Bein
schiebt sich unklar hinter das
rechte, und statt des schönen
schlank nachschleifenden Fußes
sieht man eine häßliche breite
Sohle. In der Aufnahme des
vatikanischen Diskuswerfers da¬
gegen kommt alles voll zur Gel¬
tung und die Funktion aller
Glieder tritt in höchster Klarheit
vor Augen, eben weil die Relief¬
auffassung der Figur richtig
verstanden und bei der Wahl
des Standpunktes berücksichtigt
wurde. Besonders mag auf die
prachtvolle Parallele der beiden
Oberschenkel hingewiesen sein,
die sich bei dieser Ansicht er¬
gibt und die wohl zweifellos,
abgesehen von der Deutlichkeit,
zur ästhetischen Wirkung der Fi¬
gur gehört. Es sei hierbei ein
Seitenblick auf eine andere An¬
tike gestattet, auf jenen entzücken¬
den Knabentorso in der Mün¬
chener Glyptothek, dem man den
Namen des llioneus gegeben hat.
Die Beugung und Drehung des
Rumpfes hat eine gewisse Ver¬
wandtschaft mit dem Diskoboi,
namentlich aber ist auch hier
zweifellos die Hauptansicht auf
eine ähnliche Parallele der Schen¬
kel berechnet, wobei sich die
Brust dem Beschauer zudreht.
Trotzdem ist es unmöglich, eine
solche Aufnahme zu bekommen,
die allein auch die Stellung der
Beine klar vor Augen führen
würde, und man muß sich mit
der hier abgebildeten begnügen,
die ganz unleidliche Verkürzun¬
gen und Verdeckungen aufweist. Es gibt allerdings
noch eine Rückenansicht, und diese entspricht ungefähr
dem Gegenpol der eigentlich erforderlichen Aufnahme,
trifft also doch wenigstens die richtige Achse. So
führte die Betrachtung des Diskuswerfers auch auf
die Frage, wie man eine Statue photographieren soll,
worüber Heinrich Wölfflin in dieser Zeitschrift (N. F.
VII. Jahrg.) ausführlicher gehandelt hat.
ABB. 6. DISKUSWERFER NACH MYRON. ROM, PALAZZO LANCELLOTTI
Der Reliefauffassung der Plastik ist bekanntlich
gerade in unseren Tagen ein hochbedeutender und
erfolgreicher Vorkämpfer in Adolf Hildebrand er¬
standen, der nicht nur praktisch durch seine Arbeiten,
sondern auch theoretisch in seiner grundlegenden Schrift
über das Problem der Form dafür eintritt. Sein »Ku¬
gelspieler kann in dieser Beziehung gern als ein
modernes Gegenstück zum Diskuswerfer betrachtet
234
DER DISKUSWERFER
ABB. 7. ILIONEUS. MÜNCHEN, GLYPTOTHEK
werden, denn auch bei ihm sind alle Formen deut¬
lich in einer Fläche ausgebreitet und geben in einer
fest bestimmten Hauptansicht das klarste Bild der sich
vollziehenden Funktionen. Dabei ist die Figur, wie
auch der Diskoboi, durchaus nicht etwa eine klein¬
liche und pedantische Übertreibung des Prinzipes,
sondern gestattet innerhalb des maßgebenden Gesetzes
genügende Freiheit, wie denn der linke Arm des
Kugelspielers als weniger wichtig sich schräg in eine
beschattete Tiefe verliert. Der grundsätzliche Zusammen¬
hang der antiken und der modernen Figur leuchtet
gewiß jedermann ein, aber es ist nicht das Äußerliche
der alten Kunst übernommen, sondern ihr Geist er¬
faßt, der ein echt plastischer Geist war, und es ist
durchaus verfehlt, ein solches Werk antikisierend oder
klassizistisch zu nennen, wie es die Menge, vom Sujet
verlockt, so gern tut, ohne sich überhaupt die Mühe
genauer Betrachtung im Einzelnen zu nehmen. Geistes¬
verwandtschaft ist keine Nachahmung, und die frei¬
willige Unterwerfung unter ein als richtig erkanntes
Gesetz tut der künstlerischen Freiheit und Selbständig¬
keit keinen Abbruch.
Wie dagegen selbst das gleiche Motiv, aus einem
veränderten Geist heraus umgeschaffen, zu etwas ganz
Anderem wird, zeigt eine Bronzestatuette aus helleni¬
stischer Zeit im Münchener Antiquarium, die unseren
Diskuswerfer in sehr merkwürdig veränderter Gestalt
vorführt und damit eine weitere interessante kunst¬
psychologische Frage anregt. Die Stellung im Ganzen
ist geblieben, aber jede Form im Einzelnen und da¬
mit doch auch der gesamte Eindruck ist anders ge¬
worden. Da fehlt völlig die in Myrons Figur bei
aller Lebhaftigkeit des Bewegungsmotives doch vor¬
herrschende Ruhe und Einfachheit der Formengebung,
alles ist übertrieben, barock, die Muskulatur geschwollen,
das Gesicht erregt verzerrt, das Haar in derbe Locken
aufgelöst. So empfand man, ja so sah man damals
den Diskoboi, dessen vornehme Ruhe einer nervösen
Zeit nicht mehr verständlich war, einer Zeit, deren
eigene Kunst weniger auf die Form als solche, als
vielmehr auf Ausdruck um jeden Preis ging — und
wer müßte dabei nicht an gewisse Erscheinungen
unserer eigenen Zeit denken?
Es wäre sehr interessant zu wissen, wie wohl
spätere Geschlechter, das Mittelalter und die Renais¬
sance, den Diskuswerfer in ihrer Weise umgebildet
haben würden, wie das bei anderen Antiken, z. B.
dem Dornauszieher, dem Laokoon und anderen zu
beobachten ist. Leider kann davon beim Diskoboi
nicht die Rede sein, da die vollständiger er¬
haltenen Exemplare erst gegen Ende des i8. Jahr¬
hunderts wieder aufgefunden worden sind. Ein arg
verstümmelter Torso zwar befand sich schon in der
zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts am Tageslicht
und kam in den Besitz des französischen Bildhauers
Etienne Monnot; wie gründlich dieser aber den künst¬
lerischen Vorwurf mißverstand, beweist seine nach
Sitte der Zeit rücksichtslos am Original selbst vorge¬
nommene Ergänzung als »stürzender Krieger , die
sich jetzt im kapitolinischen Museum in Rom befindet.
Es ist trübselig zu sehen, was da aus dem armen
Diskuswerfer geworden ist, besonders wie die Füße
haltlos und unorganisch an die Plinthe geklebt scheinen
und das sonst freischwebende Knie eine unsinnige
ABB. 8. ADOLF HILDEBRAND, KUGELSPIELER
DER DISKUSWERFER
235
Stütze erhalten hat. Die Wendung des Kopfes aller¬
dings ist hier schon richtig erraten. Uebrigens war
auch die Bronzestatuette des Münchener Antiquariums
früher unrichtig, nämlich als sitzende Figur, aufgefaßt
und dementsprechend aufgestellt. Die Wiedergaben
des Diskuswerfers in den älteren Kupferwerken über
die römischen Antiken sind nicht wichtig genug, um
hier näher auf sie einzugehen, obwohl auch sie in
ihrer klassizistischen Umrißmanier oft recht bezeich¬
nend für die Auffassung ihrer Zeit vom Wesen antiker
Kunst sind. Besonders amüsant ist aber eine Wieder¬
holung der Figur in Altwiener Porzellan aus der
Kaiserlichen Manufaktur, und zwar von der Hand
eines Anton Grassi, der 1755 — 1807 lebte und von
der Direktion nach Italien geschickt war, um seinen
Geschmack an der Antike zu bilden«. Die Nach¬
bildung muß also ziemlich bald nach der
Wiederauffindung der Figur gemacht wor¬
den sein und ist ein Dokument dafür, wie
diese auf die damalige Welt wirkte. Da
ist eine elegante weiche Nippfigur daraus
geworden, ein Eindruck, zu dem das Ma¬
terial des Porzellanes und die leichte Be¬
malung nicht unwesentlich beiträgt. Es
herrscht noch eine zierliche Rokokoemp¬
findung vor, und doch merkt man wohl,
wie der Künstler bestrebt war, die Formen
klassisch zu »veredeln«, was ihm gewiß
im Grunde gar nicht lag. So konnten
wir auf Grund dieses Figürchens wenig¬
stens andeuten, wie alle Zeiten die ver¬
gangene Kunst mit verschiedenen Augen
ansehen, und wir selbst müssen wohl, bei
allem Stolz auf unsere wissenschaftlich¬
historische und vom photographischen
Apparat unterstützte Objektivität schlie߬
lich gestehen, daß auch wir in dieser
Hinsicht nicht ganz frei sind. Es ist eben
doch nicht gleichgültig für das Kunst¬
empfinden einer Generation, ob ihr die
Antike soeben durch Canova und Thor-
waldsen in kühler, abstrakter Ferne gezeigt
worden ist, oder ob ein Böcklin und
Hildebrand sie in lebensvolle, greifbare
Nähe rückten. Und bei alledem ist die viel¬
geschmähte archäologische Wissenschaft
auch für das rein künstlerische Verständnis
der antiken Werke nicht so ganz ohne
Verdienst gewesen, als dies von mancher
Seite gern dargestellt wird. Archäologen
sind es gewesen, die gegen die üblen
Ergänzungsversuche an den Originalen
selbst aufgetreten sind, und Verballhor¬
nungen wie der »stürzende Krieger wer¬
den kaum wieder möglich sein, wie das
Verfahren Rizzos bei dem neuen Diskoboi
im Thermenmuseum erhoffen läßt. Jeden¬
falls kann behauptet werden, daß die Figur
durch diese Ergänzung im Gips in ver¬
ständnisvollster Weise ihrer ursprünglichen
Gestalt wieder so nahe gebracht worden
ist wie nur irgend möglich, und die Wirkung
wird noch getreuer sein, wenn man einmal einen
solchen Abguß bronzieren wird, wie es in München
und anderwärts mit Abgüssen des vatikanischen
Exemplares unter Anfügung des Lancellotti-Kopfes
versucht worden ist. Ein solcher bronzierter Ab¬
guß ist auch hier auf besonderem Blatte abgebildet
nach der schönen Furtwänglerschen Aufnahme in
den Brunn - Bruckmannschen Denkmälern, weil er
am besten den ganz anderen Eindruck vergegen¬
wärtigt, den das Bronzeoriginal in seiner dunklen
Färbung mit reizvollen Lichtern und Schatten und
ohne den störenden Notbehelf der Stütze hervorrief.
Es ist bekannt, daß Formen von gleichem Maß in
Bronze knapper und schlanker aussehen als in Stein,
und da das Original eine Bronze war, so kann selbst
ABB. (J. DISKUSWERFER. ROM, BRONZESTATUETTE. MÜNCHEN, ANTIQUARIUM
Nach einer Anfnalime der Verlagsanslall F. Bruckiiiaiin
236
DER DISKUSWERFER
ABB. III. DISKUSWERFER, ALS STÜRZENDER KRIEGER ERGÄNZT
ROM, KAPITOLINISCHES MUSEUM
die exakteste Wiederholung in Marmor ihm in der
Wirkung nicht ganz gleichkommen. Ein in dieser
Weise behandelter Abguß aber ist von geradezu
frappanter Lebendigkeit, namentlich wenn noch die
Augen, wie Studniczka es in Leipzig gemacht hat,
hell gelassen sind, wie wenn sie, nach antikem Brauch,
eingesetzt wären. Diese Wechselwirkung von Material
und Stil mußte wenigstens gestreift werden, um den
Kreis der künstlerischen Fragen zu schließen, die sich
an den Myronischen Diskoboi knüpfen, und es ergibt
sich noch etwas Weiteres daraus. Es lag nahe, daß
bei häufigerer Wiederholung in Marmor allmählig die
strenge Anlehnung an alle Einzelformen des Bronze¬
originales verloren ging und einer mehr marmor¬
gemäßen Behandlung wich. Die älteren Kopien sind
daher getreuer und historisch richtiger, aber eigentlich
ein stilistisches Mittelding, während die späteren flauer
und unzuverlässiger, aber rein als Marmorwerke be¬
trachtet unmittelbar genießbarer sein können, was
leicht zu falschen Vorstellungen führen könnte. Der
bronzierte Abguß der nach unserem Wissen genauesten
Kopie muß somit auch aus diesem Grunde als ein
wesentliches und schätzbares Hilfsmittel zur Erweckung
des ursprünglichen Eindruckes gelten, da das kostbare
Original wohl für immer verloren bleiben wird.
Ein einzelnes Kunstwerk bot die mannigfaltigste
Gelegenheit, den verschiedenen künstlerischen Proble-
ABB. II. DISKUSWERFER
PORZELLANFIGUR VON ANTON ORASSI
men, die ihm zugrunde liegen, sorgsam nachzugehen,
und einiges neue anschauliche Bildermaterial konnte
vergleichend dafür beigebracht werden. Die Fragen
nach dem Verhältnis von Natur und Kunst, nach der
Darstellung der Bewegung im Kunstwerk, nach der
Reliefauffassung der Plastik, dem Wechsel des künst¬
lerischen Zeitgeistes und der Beziehung zwischen
Material und Stil traten nach einander hervor und
forderten zur Beantwortung auf, die sich stets unge¬
zwungen aus dem Kunstwerk selbst ergab. In solcher
gewiß nicht unfruchtbaren Betrachtungsweise mögen
sich mehr und mehr die Archäologen und die Ver¬
treter der neueren Kunstwissenschaft zusammenfinden,
und sie werden es tun, wenn sie stets von den Werken
selbst den Ausgang nehmen und über der Wissen¬
schaft die Kunst nicht vergessen. Denn bei ver¬
ständnisvoller Handhabung kann die ernste Forschung,
wie wir sahen, sehr wohl dazu beitragen, uns der
Kunst unmittelbar näher zu bringen, und diesem
Zwecke mag vielleicht auch die spezielle Betrachtung
des Diskuswerfers zu einem bescheidenen Teile dienen.
Herausgeber und verantwortliche Redaktion: E. A. Seemann, Leipzig, Qiierslralte 13
Druck von ERNST Hedricii Nachf. o. m. b. h. Leipzig
f
LIEBEE MANN
MAX LIEBERMANN DER HAMBURGER PROFESSOREN-KON VENT
MAX LIEBERMANN
ZUM SECHZIGSTEN GEBURTSTAGE
WAS ist wohl das Schönste an Liebermanns Per¬
sönlichkeit? Ich glaube: daß er mit sechzig
Jahren noch Bilder malt, über die man strei¬
ten kann. Bei wie Vielen, die wir miterlebt haben,
ist das der Eall? Wer macht noch, wenn er vierzig
Jahre Arbeit und zwanzig Jahre Ruhm hinter sich
hat, etwas anderes, als jahraus jahrein »echte« Werke
in seiner bekannten Art«? —
Und nun erst das Erstaunlichste: Die jüngsten
Bilder sind bei Liebermann auch stets die reifsten
und — jüngsten. Als man die Erüchte seines letzten
Sommers bei Cassirer ausgestellt sah, diese mit einem
Nichts an Technik geschaffenen Impressionen von
Düne und Meer, da verblaßte, vergraute, vertrübte sich
im Gedächtnisse die ganze lange Reihe seiner Werke
vor so viel Erische, so viel Wahrheit, so viel Sonne.
Das war ja auch das Leitmotiv seiner malerischen Ent¬
wickelung, der Sonne nach und immer nach zu streben.
Nec Soli cedit
Wie selten aber paart sich dem Streben auch die
Kraft der Ausdauer; wenn berühmte Künstler begraben
sind, und Gedächtnisausstellungen veranstaltet werden,
so ergibt sich meist ein schon typisch gewordenes
Urteil: »Herrgott! wie famos und frisch hat der Mann
angefangen! wer hätte der glatten, ausgeschriebenen
Atelierhand solche unbefangen lichtwahren Jugend¬
arbeiten zugetraut' . Liebermann aber ist einer von
denen, die sich nicht unterkriegen lassen. Das ist
sein Stolz.
Viele können es ihm nicht verzeihen, daß er auf
der von ihnen anerkannten und genehmigten Stufe
seiner Leistungen nicht stehen geblieben ist. Und
vergessen doch ganz, daß sie diese von ihnen heute
mit einem vielsagenden »Ja, damals!« hochgehaltenen
Werke einst gerade so verlacht und verlästert haben.
Jahrelang hat der Bürgermeister Petersen mit einem
Vorhang bedeckt in der Hamburger Kunsthalle hängen
müssen, weil das Bild gar zu scheußlich war. Nun
ward’s enthüllt und schaut mit altmeisterlicher Über¬
legenheit auf sein jüngstes Geschwister, den Profes¬
sorenkonvent. Dem Künstler wäre es leichter gefallen,
so ein gediegenes Porträt nach dem anderen zu malen,
ein holländisches Waisenhaus, und wieder eines, lauter
»echte Liebermanns«, und sich einen guten Tag zu
machen. Er hat das bessere Teil erwählt und —
läßt die Kläffer kläffen.
So viel aber sollte jedem deutlich sein, wenn er diese
Persönlichkeit und ihre bald vierzigjährige Leistung
überblickt: der Mann weiß, was er will. Er hat
unsere widerstrebende Empfindung bezwungen, und
deshalb wollen wir ihm vertrauen, auch wo wir uns
für seine letzten Ziele noch nicht reif fühlen; ihm
Der gekämpft hat allerwegen
Der noch kämpft zu dieser Erist
Und der doch nicht unterlegen
Weil er ja unsterblich ist!
G. K-
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XVllI. H. lo
33
STUDIEN VON MAX LIEBERMANN ZUM HAMBURGER PROFESSOREN-KONVENT
STUDIEN VON MAX LIEBERMANN ZUM HAMBURGER PROFESSOREN-KONVENT
33
STUDIEN VON MAX LIEBERMANN ZUM HAMBURGER PROFESSOREN-KON VENT
STUDIEN VON MAX I.IEBERMANN ZUM HAMBURGER PROFESSOREN-KONVENT
242
GROSSE BERLINER KUNSTAUSSTELLUNG 1907
Karl Haider, Schliersee
Dame mit der Rose
Carl Vilh. Ilolsüe, Lyngby
Am Fenster
Viggo Pedersen, Hilleröd (Dänemark)
Abendstimmung
DIE GROSSE KUNSTAUSSTELLUNG
UND DIE AUSSTELLUNG DER BERLINER SEZESSION
Von Emil Heilbut
Die beiden Ausstellungen sind mit einem Zwi¬
schenraum von acht Tagen eröffnet werden.
Die Große Ausstellung hat die Nachteile,
welche in der Ausdehnung liegen, mit Geschicklich¬
keit dadurch wett gemacht, daß sie eine Reihe von die
Aufmerksamkeit lebhafter beschäftigenden Separatvor¬
führungen in Angriff nahm. Unter diesen Separatvor¬
führungen ist der »Porträtsaal« eine der wichtigsten. Er
umfaßt Arbeiten der Gegenwart, aber auch, rückblickend,
der jüngsten Vergangenheit, und sogar einige Bilder
der alten Meister erwarten den Beschauer. Dieser
Porträtsaal ist gleich am Eingang zu finden und seine
zu Vergleichen einladenden Bilder wollen uns ver¬
locken. Es ist indessen geraten, sich nicht verführen
zu lassen und nicht vom geraden Wege abzuweichen,
der durch die Mitte ins Innere führt. Nur dann ge¬
nießt man die Vorteile, welche, in diesem Jahre zu¬
erst, der Katalog bietet. Er ist nämlich nicht mehr
nach dem Alphabet der Künstler geordnet, sondern
nach der Weise, wie die Bilder gehängt sind. Wenn
man dem Wege folgt, der im Kataloge vorgezeichnet
ist, kann man sich bei jedem Bild, unter Vermeidung
des lästigen Blätterns, über den Autor informieren.
Dies ist die einzig richtige Methode eines Kataloges,
es wird einem das Hangen und Bangen: »soll ich
im Katalog nachsehen, wie der Maler heißt? Ach, es
ist ja doch nicht der Mühe wert« erspart -- man
folgt den Bildern so bequem mit dem Kataloge
in der Hand, daß einem jeden Maler sein Recht
wird. Die Leitung der Großen Kunstausstellung ist
zu dieser neuen Methode des Katalogs vermutlich
durch die Ausstellung angeregt worden, welche im
letzten Winter die Akademie zur Einweihung ihres
neuen Heims am Pariser Platz abgehalten hat. Übrigens
ist der Gedanke an sich alt, er stammt, gleich vielen
vernünftigen, aus England.
Der Saal, in welchen man, dem Kataloge gemäß,
nun zuerst eintritt, bietet freilich nicht viel. Das Bild,
das der verstorbene Karl Gussow von seiner Mutter
gemacht hatte, war lange berühmt — bis es jetzt in
diese Ausstellung kam und seinen Nimbus verlor.
Es mangelt ihm die Beseelung; man erblickt fast
nichts anderes als einen sogenannten Studienkopf. Von
Eduard Kämpfer in Breslau ist ein tüchtiges Bild ge¬
kommen: Soldaten Friedrichs des Großen trinken mit
Breslauer Bürgern. Ein Bild von Rudolf Thienhaus,
riesenhaft groß, kühl gemalt und leider gleichgültig,
behandelt eine moderne Kirchenszene. Nicht gleich¬
gültig, im Gegenteile: konvulsivisch wirkt das »Seelen¬
gebet der Heilsarmee«, das Otto Heichert zur Dar¬
stellung erkoren hat. Diese Arbeit findet manchen
freudigen Anteil. Ob das richtig ist? Mir will schei¬
nen, daß das Bild in seinem System etwas Altmodi¬
sches hat, nicht das Altmodische im besten Sinne,
sondern jenes, das nur eine gewisse Zeit lang blühte,
in der Epoche niedergehender Kunst: als in Deutsch¬
land das soziale Genrebild der Hübner und Konsorten
Anerkennung fand. Elendsmalerei mit Rücksicht auf
den Stoff und aus dem Stoff heraus entstanden, nicht
aus einer malerischen Anschauung. Erzählende Kunst,
nicht darstellende.
Der sogenannte blaue Saal enthält wieder, wie
stets, vorwiegend Skulpturen. Die bedeutendsten sind
die Arbeiten Hugo Lederers, des Schöpfers des Ham-
burger Bismarckdenkmals. Er hat für den Sockel dieses
Monuments noch sechs Athletenfiguren geschaffen.
Gestalten, die hauptsächlich die Aktion verkörpern,
einige aber auch das Nachsinnen, so daß bei diesen
ein Zusammenfassen des Athletenhaften mit dem Den¬
kenden entsteht ähnlich wie bei Rodins »Penseur' .
Im ganzen kann man über diese Sockelreliefs schwer
ein Urteil fällen. Gerade wenn sie sich dem Denk¬
mal gut einfügen — wie bestimmt zu erwarten ist —
ist es ziemlich verständlich, daß sie sich, ohne das
Denkmal selbst, unvollkommen präsentieren. Einen
vollkommenen Eindruck, einen ganz ausgezeichneten,
hinterlassen zwei Arbeiterfiguren dieses Künstlers, die
er für das Krupp-Denkmal in Essen geschaffen hat.
Wenig bedeutend ist ein heiliger Georg, vortrefflich
sind Aktzeichnungen des Künstlers, die übrigens schon
früher in der Sezessionsausstellung zn sehen waren.
Ein neuer Name ist Helene Scholz — eine ganz
tüchtige Künstlerin. Sie scheint der französisch -bel¬
gischen Schule anzugehören; man darf das nach ihrer
Büste sowohl ( »celle qui pense — pretiös, aber
ganz brav modelliert) als nach ihrer Figur »la Zelande
annehmen, und bestätigt wird es durch eine recht
lebensvolle Skizze, in der der Bildhauer van der Stap-
pen porträtiert wird.
Gut komponiert ist eine große Gruppe von Theo
Blicks, »Verzweiflung«.
Unter den Malern der jetzt folgenden Säle fällt
Friedrich Stahl auf, der in etwas blasphemischen
Bildern die äußeren Eigentümlichkeiten von vlämi-
scher und Florentiner Kunst zusammenzufassen sucht.
Das farbige Leben, die seltsamen, etwas krassen, hellen
Rots in der Kleidung und die zeichnerische Gestal¬
tung von charakteristischen und übercharakteristischen
jünglingsprofilen und alten Männerköpfen nimmt er
auf. Er travestiert und komponiert neu. Dieses Ver¬
fahren wendet der in Florenz lebende Künstler, der
früher moderne Salonszenen malte, bereits seit meh¬
reren Jahren an. Es sind verschiedene seiner Bilder
auf der diesmaligen Ausstellung, die nach dem Floren-
244
GROSSE BERLINER KUNSTAUSSTELLUNG 1907
tiner Modus behaudelt sind. Sie sind in ihrer Art
geistreich - wenn man des Scherzes nicht über¬
drüssig wird. Aber eines dieser Gemälde steht auf
einer viel höheren Warte, ln ihm ist es dem Künst¬
ler gelungen, fast uns vergessen zu machen, daß er
in den Tempel des Elorentinischen Ruhms gleichsam
spottend eingestiegen ist. ln dem Bilde Parcival
hat er eine ruhige, durchaus sympathische Wirkung
erreicht.
Merkwürdig geht es einem mit dem Bilde des
Grafen Harrach: Ostermorgen . Es ist so schlecht
gemalt, daß man daran vorübergehen möchte. Es
zeigt sich aber vor dem Bilde deutlich, wie wahr es
ist, daß Bilder trotz des Wie , um das es sich bei
Kunstwerken handelt, nicht allein von dem rein op¬
tischen Eindruck abhängen. Vorzüge und Schwächen
der modernen Kunst, die besser als Elarrach malt,
treten entgegen! Einem modernen Maler würde es
immer gelingen, das Atmosphärische um Christus
herum, das Licht seines Gesichtes, wenn es im Ereien
dargestellt wird, wiederzugeben. Wir würden ein
richtiges Licht, die richtige Earbe hier sehen nur
würden wir Christus wahrscheinlich nicht sehen,
wenigstens haben wir ihn von ihnen noch nicht zu
sehen bekommen, derart, daß wir an ihn glauben.
Meistens ist er sogar schrecklich verhunzt, wie auf
dem Bilde des sehr talentvollen Beckmann, das uns
in der Sezession noch beschäftigen wird -- er ist
da wie einer von den Schächern, gleicht ganz und
gar nicht einem Christus. Bei Harrach sehen wir
hingegen einen Christas, das ist ein Unterschied, den
man nicht verkennen wird, und der dazu dient, das
Bild des Grafen Harrach doch nicht schlankweg zu
verurteilen: es hat Verdienste, auch wenn wir be¬
greifen, wie viel leichter es einem Maler der alten
Richtung, mit ihrer Tradition im Christusstil, werden
konnte, den Christus zu bilden als einem Maler der
neueren Zeit, der ohne diese Stützpunkte arbeitet. Har-
rachs Christus, als Typus genommen, hat übrigens
sein absolut eigenes Leben: er gehört zu der Eamilie
der deutschen Christusdarstellungen im ig. Jahrhun¬
dert, bewahrt indessen noch auch in ihr seine eigenen
Rechte.
Sieht man von der Malerei ab, so ist auch in dem
Mittelgrund und in der Eerne des Bildes etwas, das
sehr packt und festhält: durch den himmlischen Erie-
den in der Landschaft. Man geht — trotzdem dies
ein schlechtes Bild ist — von der Arbeit fort, nicht
ohne zu denken, daß dies eins der innerlich reichsten
Werke der Ausstellung ist.
Looschen und Oskar Erenzel geben ihre bekann¬
ten Werte. Dettmann ist mit einem Parkbilde (nach¬
her finden wir ihn auch mit seinem schon in früheren
Ausstellungen gesehenen Triptychon ) vertreten. Hans
Hartig erscheint in Alt- Dresden im Schnee etwas
übertrieben, doch ausdrucksvoll. Kallmorgen zeigt
einen sehr stimmungsvollen Winterabend. Mit dem
Jahrmarkt vorm Tor« verdirbt sich der soeben ge¬
nannte Hartig unsere gute Meinung wieder: das
Bild ist eine unmögliche, leere Sensationshascherei,
im Plakatstil. Max Schlichting bewirkt im »Mond¬
aufgang mit einer Dame in Lila einen geschickten
scharfen Earbenkontrast.
Vortrefflich berührt im allgemeinen die Schwarz-
Weiß-Ausstellung, die in mehreren Räumen ihr still¬
umfriedetes Dasein führt. Um einige Namen zu
bringen, — mehr als um gerade diese und keine
anderen hervorzuheben seien Otto Eischer (mit einer
vortrefflichen Radierung Hamburg< ), Rudolf Jettmar,
Otto Goetze, Ernst Eitner namhaft gemacht; Ernst
Eitner der Hamburger: wie denn überhaui^t in der
graphischen Abteilung sich die Hamburger in sehr
anerkennenswerter Weise bemerkbar machen (nur lllies
in farbigen Blättern ganz und gar nicht glücklich).
Die Glanznummern in der Schwarz- Weiß- Aus¬
stellung es muß hier gesagt werden, daß in kei¬
nem Teile der Ausstellung so sehr wie hier das
Bedauern sich geltend macht, bei der Eülle der
Leistungen nicht zn vieles erwähnen zu können
die bei weitem alles schlagenden Nummern in der
graphischen Abteilung rühren von Eritz Boehle und
Eerdinand Schmutzer her.
Boehle hat zwölf Radierungen ausgestellt, fast
alle aus der neuesten Zeit — ein Zeichen von rüstig¬
ster Kraft, sobald es sich um Blätter gleich diesen
handelt, die mit solchem Ausdruck ausgearbeitet sind.
Man wird gleichzeitig sagen, daß eine Erwägung
wie diese, wenn auch berechtigt, doch nebensächlich
ist. Denn nicht so sehr auf das Maß seiner Arbeits¬
fähigkeit soll der Nachdruck gelegt werden, sondern auf
die wunderbare Qualität der Arbeiten, die er macht.
Die orginellen Ritter, die prachtvolle Roßschwemme:
ein ins Werk gesetzter Hans von Marees! tüchtiger als
Marees: lebensfähiger. Von hinreißendem Rhythmus
die Pferde.
Dann der heilige Hieronymus! köstlich! die Erei-
heit, Breite, Behaglichkeit, Sicherheit der Erzählung!
Dieser behagliche Alte ist wie von einem Bellini, der
Humor bekommen hätte.
Herrlich sind die Reiter mit Pferden, die Bauern
mit Pferden - - von einem Naturalismus, der Stil ge¬
worden ist. Diese Gestalten sind aus dem Mainge¬
biet, dort zu Hause, wo Eritz Boehle lebt, und sie
reihen sich in die klassische Kunst ein.
Der vollständigste Gegensatz zu dem naiven kraft¬
vollen Boehle ist der vollendete Virtuose Schmutzer.
Er hat die gewinnendsten Eormen; er fesselt jeden
von lins (Boehle fesselt nur einen kleinen Teil der
Beschauer, diesen aber aufs innigste). Schmutzer fesselt
anders: einem entzückenden Causeur gleich, dem man
nicht widerstehen kann, dem am wenigsten der ernste
schwerfällige Eachmann widerstehen kann, dem aber
auch alle Eranen zufallen, der überhaupt niemandes
Mißfallen erregt, wenn auch nicht jeder sich darüber
klar wird, wie weit er sich aus der nur gefälligen
Mittelmäßigkeit absondert.
Er ist ein Eürst im Charme, ein Brummei im Ge¬
biet der Radierung, ein unvergleichlicher Gebieter im
Eelde des Modischen - die Eleganz, die Pannemaker
einstmals für den Holzschnitt mitbrachte, die Grazie,
die Wahner im Strich hatte, weist er auf, ja, läßt er
hinter sich.
HANS MAKART
BILDNIS DER FÜRSTIN BULOW
GROSSE BERLINER KUNSTAUSSTELLUNG lgO^
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GROSSE BERLINER KUNSTAUSSTELLUNG 1907
245
Micliael Ancher, Kopenhagen
Faniilienbild
P. A. Besnard, Paris
Madame Rejane
Bernhard Östernian, Schweden
Baronin von Eherstein
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XVIII. II. lo
34
246
GROSSE BERLINER KUNSTAUSSTELLUNG 1907
Wie bei den Herren, die er porträtiert, alles Stoff¬
liche mit >Aisaiice vviedergegeben ist, voller Freude
an den Zufälligkeiten, wie er mit kokettem Insistieren
seinen Ausdruck auf eine Nuance festlegt, wie er
ein Frauenprofil lieblich pikant zeichnet — auch den
neumodischen (oder schon wieder altmodischen) Fran¬
zosen Hellen durch eingehenderes Detail überstrahlend --
das muß gesehen werden, diese Radierungen mit
ihrem spielenden Reize wollen geschlürft sein. Und,
was äußerst merkwürdig ist, dieser entzückende Vir¬
tuose greift nicht nur das Porträt auf, er ist auch ein
Meister des Interieurbildnisses, mit raffiniertem Zauber
führt er z. B. ein Zimmer vor, in welchem man
Joseph Joachim spielen und Eve von Keudell ihn be¬
gleiten sieht, und er radiert selbst Landschaften. Eine
von diesen, von außerordentlichem Charme, ist die
»Alte Brücke in Dresden-, mit einer Vollkommenheit
der Radiertechnik wiedergegeben, einer Klangwirkung
des Tones, daß die alten Kenner wie berauscht sind
und das junge Volk kaum eine Ahnung hat, was die
alten Leute so hinreißt. Aber prachtvoll finden auch
die jungen Leute diese Blätter.
Wieder zu den Gemälden kommend lassen wir
uns Carl Marrs Junges Mädchen Wohlgefallen, Walter
Thors Damenbildnis, Schuster-Woldans geschicktes
Porträt seiner Tochter gewinnt unseren Beifall, an
Schuster-Woldans Bildnis eines Jägers fällt uns auf,
daß der landschaftliche Hintergrund ganz »Gobelin«
ist, an Peter Janssens vortrefflicher Studie« nehmen
wir wahr, wie nahe er Eduard von Gebhardt in
solchen Werken ist. Leider etwas ganz Rückständiges
gibt in einem aparten« Damenporträt Wilhelm Schmurr
(Düsseldorf), Hermann Emil Pohles »Traubendieb«
zeigt ebenfalls etwas Rückständiges in seinem falsch
jovialen Jordaens-Stil : die Säle 11 und 12, die der
Düsseldorfer Künstl erschaff gehören, sind überhaupt,
im ganzen und großen genommen, Ausnahmen abge¬
rechnet — recht minderwertig. Wir gleiten hindurch,
wir lassen darauf von melireren Sälen keinen Eindruck
zu uns dringen — die Sinne noch immer mit Boehle
und Schmutzer erfüllt — bleiben zu Salzsäulen er¬
starrt vor einem Bildnis der Vilma Parlaghi, Fürstin
Lwoff, Beschützerin von Tierschutzvereinen, soi-disant
Verdrängerin von Lenbach und größten Reklame¬
heldin, die es wenigstens diesseits des Ozeans gibt,
stehen, geben uns dann einen Ruck und eilen weiter.
Es kommt wieder eine wertvolle Enklave: Däne¬
mark. Diesmal sind es Gemälde, die unseren hohen
Enthusiasmus wecken.
Nicht um -große Kunst handelt sich’s: um aus¬
gesprochen stille. Novellenstimmung herrscht vor,
nicht dramatische Bewegung, ja indem man Novellen-
stimmung sagt, sagt man schon zu viel. In der No¬
velle geht doch etwas vor: in den dänischen Bildern
geht nichts vor, es ist Zustandspoesie. Die Einleitung
zu Novellen ist gegeben: die Handlung fehlt, fast
selbst die Personen fehlen. Nur die Örtlichkeit ist da.
Julius Paulsen in einem kleinen feinen Mondscheinbilde,
Carl Christian Ferdinand Wentorf in einem guten
Porträt, Ilsted in einer Zeichnerin in hellem Kostüm
vor einer großen Gipsbüste, Svene! Hammershoi in
einem ganz zarten Bilde von Runensteinen, Sigurd
Wandel in einem »Alten Hof in Helsingör< , Svend
Hammershoi wiederum in einem wunderbaren Schlo߬
hof (von Maeterlinckscher Gespenstigkeit und Inkon¬
sistenz der Mauern), und der bereits genannte Wentorf:
in seinem -Schloßgraben«, mit vorzüglichem, son¬
nigen Wasser — geben herrliche Proben dieser stillen,
wunderbaren Kunst.
Lind welche, natürlich schlichten, Charakteristiker
diese Dänen haben! Da ist Michael Ancher, der
nicht nur in seinem sonnigen Selbstporträt eine tüchtige,
auch in dem bewunderswerten »Familienbilde« eine
stille, tiefe, bedeutende Charakteristik gibt.
Dann die Landschafter: Louis jensen, in Nordsee-
laud , Johann Rohde in einer kleinen dänischen Stadt«
und einem »Hafen in einer kleinen dänischen Stadt«
— es sind reizende Künstler! Wie uns auch der Maler
des Mondscheins, Julius Paulsen, wieder in dem
»Sommerhaus (lichte Sommernacht, offene Halle, Pe¬
troleumlampe) entzückt. Dann sehen wir auch einen
Versuch zum Drama: in Viggo Pedersens »Abend-
stimmung- wachwerden, wo sich der Künstler daran
gewagt hat, starke plastische Wolkenbildungen und
glühende Töne der Abendluft — gleichsam Historien¬
kunst anstatt der Novelleustimmung zu geben.
Johannes Larsens »Sommertag« ist ausgezeichnet
in der klaren Wiedergabe des »Unmalerischen . Carl
Vilh. Holsöe schafft im engeren Sinne Novellen¬
stimmungen mit seiner -Dame auf der Treppe« und
in einem sonnigen Zimmerbilde (ohne Figur) »Am
Fenster«. Manchmal trifft man auch eine etwas sen¬
timentale Vorliebe für Wirkungen mit Petroleumlam¬
pen und, höherstehend, die Neigung für das Aufsuchen
seltener, geheimnisvoller Lichtprobleme, so bei Ilsted,
Landschaft von der Insel Falster. Die dänische Kunst
würde ja nicht von dieser Welt sein, wenn sie so
vollkommen wäre, gar keine ein wenig schwächere
oder etwas kränkelnde Punkte zu haben!
Die mehr lebendigen als schönen Tierplastiken
von Anne Marie Carl-Nielsen, die zuerst durch Schulte
bei uns eingeführt wurden, gefallen mir weniger.
Auch etwas gediegenes Philisterium findet man
bei den Dänen: lebensgroße, nicht sehr interessante
Bildnisse von Mädchen mit Zöpfen und dergleichen.
— Sie reichen nicht an das Beste der dänischen
Kunst. Hans Michael Therkildsen scheint mir ent¬
wickelungsgeschichtlich charakteristisch. Ich denke ihn
mir in seinem gutstimnnmgsvollen Bilde »Frau mit Kuh«
nicht unbeeinflußt durch einen Pariser Aufenthalt, bei
Bastien-Lepage. Peter Hansens »Schafe am Dorn¬
busch - Sonnenschein, hinten blaues Wasser —
ein ausgezeichnet detailliert wirkendes Gemälde, ge¬
mahnt mich, obwohl -unausgeführt« und breit ge¬
malt, an ein berühmtes präraffaelitisches Schafbild, das
den Beifall Ruskins fand. Und auch bei Agnes Slott-
Möllers schwebender »Jungfrau Bledelis« denke ich
— in unmittelbarerer Weise - an die Richtung der
Präraffael iten. Daß Joakim Skovgaards Aquarell: »Aus¬
treibung aus dem Paradiese« und sein Aquarell : »Dornen
und Disteln« in die Nähe der Präraffaelitenschule
überleiten, sieht dann jeder. Peter Hansens »Fischer-
GROSSE BERLfNER KUNSTAUSSTELLUNG 1907
247
Oilo Scholderer t
Kinderbildnis 1861
Oskar Zwintscher, Dresden Bildnis mit weißen Astern
34
248
GROSSE BERLINER KUNSTAUSSTELLUNG 1907
dorf im Herbste ist ein erstaunliches Stück an Deut¬
lichkeit und Treue.
Nach den drei dänisclien Räumen wirkt der schwe¬
dische Saal recht unintim.
Das kühl tüchtige Porträt des Grafen Georg von
Rosen kann heute keinen Anteil mehr wecken. Gott-
frid Kallstenius’ Sturmwind' wirkt als eine recht
summarische Leistung nach dem Bilde des Dramatikers
der Sonnenuntergänge bei den Dänen. Emil Oester-
mans Bildnis des Königs Oskar ist eine ganz acht¬
bare Leistung, aber auch nicht mehr. Axel Falilcrantz’
»Strandpartie wirkt unsolide (falscher Corot — schlecht
in den Schatten). Wilhelm Behm zeichnet sich in
seinem Frühlingstag (unter Bäumen ein rotes
schwedisches Bauernhaus, im Vordergruud ruht noch
etwas Schnee) unter den Schweden aus. Und Emil
Oesterman erweist sich in dem Bildnis von Friedrich
Dernburg und noch mehr in dem Porträt einer Dame
(beide sind erheblich besser als das Porträt des Königs)
als einen gewandten und in vielen Sätteln gerechten
Bildnismaler.
Der Saal der Hamburger Künstler schließt sich
dem dänischen Saal 30 an und es ist ersichtlich,
daß eigentlich auch in Flamburg beabsichtigt wird,
derartig zu malen wie die Dänen in Dänemark. Der
Wille ist da, der Weg ist auch da — denn er ist
ungeheuer leicht zu finden es fehlt nur das tiefe
stille Talent. Alle diese Hamburger Künstler »möchten»
es scheint viel mehr hinter ihnen ein Wille gestan¬
den zn haben, der ihnen sagte: seht ihr, so müßt ihr
malen. Und es regte sich nichts, es belebte sich
nichts, es blieb tot, was sie versuchten. Man ist
versucht, an den Honumculus zn denken, das Wesen,
das aus der Gelehrsamkeit hervorging und das nicht
lebensfähig war. Alle diese Künstler haben etwas
ihnen »Anerzogenes«. Es ist im großen und ganzen
leider nur ein zu hilfloser Dilettantismus unter diesen
Künstlern zn finden, deren früheste Ernst Eitncr und
Arthur Illies waren. Die anderen — Schaper, von
Ehren, Sophus Hansen, Kayser nsw. haben sich ange¬
schlossen. Eitner behauptet sich meiner Ansicht nach
unter allen auch jetzt noch recht gut. Z. B. ein Bild wie
sein »Frühling läßt sich sehen. Ausgezeichnet finde
ich ein Schneebild von Sophus Hansen. Das meiste,
was von Illies kommt, ist sehr unerfreulich; sogar
in seiner Griffelkunst ist er unerfreulich und weist
hier bei den farbigen Blättern ein giftiges Kolorit
auf. Besonders sprechen muß man von einem durch
Inhalt und Format ziemlich anspruchsvollen Bilde
von Arthur Siebelist: »Der Künstler und seineSchüler .
Der Künstler hat hier lebensgroß sich selber und
seine Schüler auf einer Dorfstraße im Sonnenlicht
porträtiert. Es hegt vielleicht etwas, was man nicht
unbedingt verwerfen möchte, in der allerdings vor¬
wiegend vom echtesten Dilettantismus zeugenden
Burschikosität, welche dem jungen Siebelist eingab,
sich weder von den Schwierigkeiten schrecken zu
lassen, welche in einem Gruppenporträt hegen, noch
von denen, die in einem Bildnis im Freien hegen,
sondern sogar diese beiden Probleme znsammenzn-
werfen und das Schicksal (das ihm natürlich Unrecht
gab) herauszufordern. Aber die blutjungen Burschen,
welche seine Schüler sind, tun mir leid. Was werden
sie bei ihrem Lehrer an Vorteilen einheimsen. Welch
eine betrübende Vorstellung, sich auszumalen, wie
dieser Lehrer, der noch ringt und kämpft und sich zn
schwere Aufgaben stellt, junge Leute unterrichtet und
ihnen sagt, wie man Bilder malen müsse! Es leuchtet
mir ein, daß jemand, ohne Unterricht zn erhalten,
vorwärts zu kommen vermag, ja das will mir sogar
unter Umständen ganz und gar einleuchtend erscheinen.
Aber wenn ein Lehrer genommen wird, so müßte
es einer sein, der Lehrereigenschaften aufweist, und
cs hat etwas Tragisches, daran zu denken, daß junge
Leute hier einem Lehrer sich überantwortet haben,
der mit weniger Kultur, als erforderlich, an seine
Aufgabe tritt. In einem Witzblatte konnte man eine An¬
frage lesen, wo bei diesem Bilde: »Der Künstler und
seine Schüler der Meister wäre? Leider muß man
dem anonymen Spötter recht geben.
Man wird trotzdem über die einigermaßen »would-
be neue Kunstgemeinschaft Hamburg nicht spotten,
wenn man den nebenanhegenden Saal der Dresdener
Kunstgenossenschaft betrachtet. Kunst ist nicht an
den Ort gebunden gewiß nicht. Beweis dafür
ist die alte Kunststadt Dresden, die unabhängig von
ihrem Ruhme, unabhängig von ihrer Vergangenheit
so schauerliche Bildwerke ausstellen konnte, wie in
dem Saale der Kunstgenossenschaft ilie drei Pastelle
von Osmar Schindler oder den unmalerischen Mönch,
der die Signatur des sonst geschätzten Richard Müller
trägt, oder das dilettantenhafte Bildnis des hambur-
gischen Senators O’Swald von Johannes Mogk. In
diesem Saale scheint mir ein einziges gutes Bild zu
sein: Leon Pohles Kopf des Königs von Sachsen.
Im Vorübergehen bemerkte ich in einem Saal, in
dem alles Mögliche aber vorwiegend Schlechtes hängt,
ein großes Bild eines ziemlich geringen dänischen
Künstlers, Lanrits Tuxen: »Königin Viktorias Diamant-
jubilänm« hat er hier dargestellt. Daß Tnxen ein nicht
guter Maler ist, weiß ich aus seinem Bilde in der
dänischen Abteilung Die Tafel wird aufgehoben«:
das Bild ist geschwätzig, langweilig und unintim.
Hingegen ist das Diamantjubiläum der Königin Vik¬
toria ein immerhin bemerkenswertes Bild; schreck¬
lich — aber bemerkenswert. Es war so bei dem
Jubiläum. Die Mitwelt und die Nachwelt empfangen
den richtigen Eindruck. Die Straße ist ganz erfüllt
von den Dekorationen von rotem Tuch. Vorne steht
das Denkmal der Königin. Am Denkmal hält der
Wagen der Königin, mit Vorreitern — und es gibt eine
entsetzliche Disharmonie zwischen dem Blau der Pferde¬
decken und dem andersartigen Blau, mit dem der
Wagen ausgeschlagen ist. Rings um die Königin
sind die Reihen von Generalen, unter ihnen ist der
Prinz von Wales; wieder überwiegt das Rot. Und
Rot überall, wohin man blickt, an allen Fenstern
krasses rotes Tuch, weit ist man hier von dem An¬
blick der schönfarbenen Teppiche, die im Süden bei
solchen Gelegenheiten heraushängen. Rotes Tuch bis
hinten hin, wo alles sich. Staub, rotes Tuch, Firmen¬
schilder und Häuser, in dicke Atmosphäre auflöst.
GROSSE BERLINER KUNSTAUSSTELLUNG 1907
249
Die Abstufung von vorn, wo die geschmückten Gran¬
den halten, nach hinten hin mit dem prosaischen, den¬
noch solide festlichen Straßenbilde ist gut gegeben.
Man hätte es dem reichlich süßlichen Maler von »Die
Tafel wird aufgehoben« schwerlich zugetraut. Auch
das Viktoriabild ist gräßlich, es entspricht aber einem
Sehbedürfnis, und wenn auch der Kunstmensch sein
Auge von diesem subalternen Bilderbogen« abwendet,
das Wissensverlangen bleibt doch daran hängen.
In genau diesem Sinne würde ich über die Haupt-
und Staatsaktionsbilder von Anton von Werner nicht
durchaus den Stab brechen. Derartige Bilder ver¬
dienen mit Stumpf und Stil ausgerottet zu werden
erst dann, wenn in ihnen Sentimentalität und etwa
absolutes Nichtkönnen neben dem Versuch, darzu¬
stellen, einhergehen. Künstler aus Kassel und Düssel¬
dorf haben uns auch zu solchen Erwägungen Anlaß
gegeben, man kann die Trocken¬
heit eines Werner im Vergleich
zu solchen unwürdigen Rivalen
oder Nachfolgern acliten.
Arthur Kampf, auf den die
allgemeine Aufmerksamkeit jetzt
durch seine Wahl zum Präsidenten
der Akademie gelenkt worden ist,
ist selbstverständlich ein Künstler
von ganz anderem Wert als Anton
von Werner. Er ist eigentlich
ein Künstler, wie wir in dieser
Art keinen anderen in Deutschland
haben. Ganz außer Frage, daß er
so gut zeichnen kann wie die
französischen Akademiker, welche
von unseren Malern, auch den
Sezessionisten , so lange sie in
Paris in der Ecole Julian stu¬
dieren, mit großem Respekt, wenn
auch nicht als Maler, so doch
als Lehrer gewürdigt werden. Er
zeichnet vollkommen so gut und
so sicher wie Jean Paul Laurens
oder wie Lefebvre, wie Cabanel und Geröme. Glän¬
zende, einwandfreie akademische Schule, mit Eleganz
verbunden.
Er hat noch mehr: er hat auch malerisches Talent,
wenn wir Talent die Fähigkeit nennen, alle malerischen
Nuancen wiederzugeben. Während er im Zeichnen
viel besser als Anton von Werner ist, der gar kein
schlechter Zeichner war (Werner hat ganz gute Akt¬
zeichnungen gemacht), ist Kampf im Malen ganz un¬
endlich viel ausgezeichneter als Werner: nach zwei
Seiten hin, sowohl und dies zählt besonders —
in der eigenen Produktion, als auch in der Beur¬
teilung der malerischen Leistungen anderer, moderner
Künstler. Darin ist bekanntlich Werner mit voll¬
kommener Blindheit geschlagen, haut um sich, sieht
nicht, will weniger als Hinz und Kunz sehen. Kampf
steht also als Akademiker seinen Mann, kann oder
hat gelernt, was der beste Akademiker überhaupt nur
lernen kann, ist einfach das Ideal eines Akademi¬
kers, denn wir sehen in Frankreich, wo es ähnliche
Ferd. Sclimutzer, Wien
Begabungen wie Kampf gibt, keinen einzigen Aka¬
demiker, der so wohlgesinnt und friedfertig die ge¬
waltigen Leistungen der Originalgenies anerkennt.
Wir können darum uns über die Wahl dieses jungen
erst zweiundvierzigjährigen Akademikers - an die
Spitze des vorwiegend aus Greisen bestehenden In¬
stituts nieht lebhaft genug freuen. Wir werden dessen¬
ungeachtet seinen Werken die Begrenzung, innerhalb
deren sie gerühmt werden können, nicht wegräumen
können. Seine Gestalten, seine Menschen wirken z. B.
nicht frei, sie wirken wie unter Oberlicht. Auf dem
einen Karton, den er ausstellt und der gewiß meister¬
lich ist, sehen wir rechts Gefangene, und es ist nicht
die geringste Falte an ihrem Bettlerkleid, die nicht
akademisch wäre; ebenso wie der mit straffer Hal¬
tung in die Stadt einziehende Otto 1. nur so weit
lebendig ist, wie es der ausgezeichnete Baß Kinder¬
mann in München war, wenn er
in den Nibelungen den Hagen
vorführte. Dieser ganze Karton
ist meisterhaft - nur meisterhaft;
was ihm fehlt, ist Leben. Das
konnte ihm Kampf nicht geben,
was er ihm aber gab, das ist
hochzuschätzen. Es ist im Bereiche
der akademischen Möglichkeiten
das denkbar Hervorragendste.
Manches von ihm tritt noch
zarter in Studien und Zeichnungen
und Porträts hervor, Bildern aus
der Natur. Andererseits ist es
freilich charakteristisch, daß ihm
ein Entwurf Verkündigung bei
den Hirten«, weniger gelang, weil
ihm das Religiöse gar nicht ge¬
geben ist. Da wird ihm Geb¬
hardt, dessen Wirken er in Düssel¬
dorf vor sich hatte, immer über¬
legen bleiben.
Radierung Auf Böcklins vielgesehener
Venus Anadyomene von 1868,
aus dem Besitz des Obersten von Heyl, fällt uns
der violette Schleier auf, der über die Fernsicht des
Meeres gebreitet liegt. Wie bewundert man die
fabelhafte Überlegenheit Böcklins über Feuerbach,
der ganz konventionell ist, wenn er, wie in der Medea,
das Meer schildert. Welche Empfindung für Licht
ist auch auf dem sonnig flimmernden Körper der
Venus! Übrigens wirkt das Bild nur als eine Skizze.
Thaulow ist mit mehreren Bildern vertreten, die
einen Eindruck von falschen Bijoux erwecken, obwohl
es unzweifelhafte und gute »Thaulows sind. L’avenir
lui sera dur, diesem Künstler, dem bei seinen Leb¬
zeiten so gehuldigt worden ist. Wenn man denkt,
daß Rodin ein Bild von ihm stolz in seinem Atelier
bewahrte! Man sieht heute viel Künstlichkeit in diesen
immer sehr geschickten Bildern, wo prächtiges — zu
prächtiges — Licht sich im Abendscheinein den Wellen
spiegelt. Die Zeiten sind vorbei, in denen man an
Thaulows fließendem Wasser oder an seinen täuschen¬
den Sclmeelandschaften kritikloses Gefallen fand. Das
250
GROSSE BERLINER KUNSTAUSSTELLUNG 1907
L. Jensen, Kopenhagen
Landschaft
Svend Hanimerslioi, Kopenliagen
Schloßhof Koldiiighiis
GROSSE BERLINER KUNSTAUSSTELLUNG 1907
251
Fritz Boehle, Frankfurt a. M
Radierung
252
GROSSE BERLINER KUNSTAUSSTELLUNG 1907
Peler lanssen, Düsseldorf Studie
Bijouhafte in den Bildern dieses zu pariserisch ge¬
wordenen Nordländers fällt unangenehm auf.
Eins der besten Bilder in diesem Teile der Aus¬
stellung ist Rene Billottes Mondaufgang an den Ufern
der Charente, der etwas von einem guten Schreyer
hat. Georges Buysses Kanal im Juni« hat solide
Qualitäten. La Touche ist mit einem Zwischenakt
im Theater vertreten, einem im Licht etwas zu phan¬
tastischen Bilde, wenn man erwägt, daß es sich um
eine moderne Gesellschaftsszene handelt. Liljefors
gibt einen Tour de force in seinen Birkhühnern im
Reif , einem glänzenden Bilde, denn es ist, abgesehen
von der Wahrheit, sehr angenehm im Ton, was man
nicht jederzeit bei Liljefors sagen kann. Bernhard Win¬
ters Bereitung des Flachses« gehört zu den Anschau¬
ungsbildern, die, wenn es ihrer viele gäbe, doch un¬
säglich betrübend wären. Richard Eschke in dem
Bilde eines Städtchens in Mecklenburg, Otto H. Engel
mit einem Abend in der Marsch und der »Friesi¬
schen Stube«, Ernst Gentzel in ^Schloß Wiesenburg«
und »Fläminger Landschaft rufen eine angenehme
Wirkung hervor.
Fritz Burger, ein schweizer Künstler, bei dem
nichts, aber auch nichts das Schweizerische anzeigt,
ist nett in Kinderbildnissen, etwas süß in Professoren¬
porträts. Das Bild »Kind auf dem Sofa« scheint mir
seine beste Leistung diesmal zu sein.
Die Kollektivausstellung Bruno Paul, die mit
riesigem Interesse erwartet wurde und jetzt, da sie
eröffnet ist, in ihren mit Sachen gefüllten, niedrig
gemachten Stuben eine Menge von Beschauern sieht.
welche viel größer ist als bei den Bildern, findet einen
großen Erfolg: wohl mit durch die Gunst des Kaisers,
der ihn bekanntlich herberief und an die Spitze der
Schule des Kuustgewerbemuseums stellte. Die Möbel
dieses Vertreters des neuen Kunstgewerbestils haben
aber — bei glänzender Ausarbeitung und wunder¬
voller Behandlung — doch vielfach etwas Trübsinniges,
Eigensinniges, sich dem Komfort Widersetzendes
in ihrem Wesen. Sie bringen auch Neuerungen in
Gebieten, die deren wahrlich nicht bedürfen, nämlich
im Bereich der Schiffskabiiie, wo ein trefflicher Künst¬
ler wie Bruno Paul doch nicht erkannt hat, daß der
(in England beheimatete) Kajütenstil mit seinen be¬
quemen Sesseln usw. total modern ist und nicht um¬
gewandelt zu werden brauchte. Die barocken und
krausen Schiffsstühle, mit Krokodilshaut bezogen, die
Paul entworfen hat, sind weit rückständiger als die
anspruchslosen praktischen alten Ledersessel. Vor¬
züglich (unter manchem Andern!) ist ein Flügel von
Bruno Paul in einem Musiksaal.
Und nun bleibt mir noch der Saal 40 übrig, der
als eine Art salon carre des Bildnisses gedacht
worden ist. Hier findet man ein reizendes naives
Kinderbildnis des sonst nicht immer so ergiebig ge¬
wesenen Otto Scholderer. Bennewitz von Loefen gab
ein anspruchsloses und angenehmes kleines Porträt
seines Vaters, des bekannten Landschaftsmalers, der
in seiner Jugend von Krüger gemalt wurde. Eduard
von Gebhardt ist mit einem charaktervollen Bildnis
des Bürgermeisters Wortmann vertreten. Von Romney
sieht man ein sehr hübsches Bildnis des Captain
Alexander Forbes. Von Bantzer das bekannte stille
Bildnis seiner Frau. (Daneben hängt ein Stilleben
des wiedereutdeckten Karl Schuch: es ist betrübend
flattrig. Spargel und ein Glas Wasser sind dargestellt,
und man braucht nicht an Manets herrliches Spargel¬
stilleben zu denken, um von dem Schuchschen Spar¬
gel enttäuscht zu sein. Das Ganze dieses Stillebens
flattert und scheint zu schwimmen; das Bild wirkt,
als wäre es durch Wasser gesehen). Dann folgt ein
Jolian Rolide, Kopenhagen Kleine dänische Stadt
GROSSE BERLINER KUNSTAUSSTELLUNG 1Q07
253
Peler Hansen, Kopenhagen
Fischerdorf ini Herbst
Ferdinand Schmutzer, Wien Alle Brücke in Dresden, Radierung
Zeitsehnii für bildende Kunst. N. F, XVlIl. H. 10
35
254
GROSSE BERLINER KUNSTAUSSTELLUNG 1907
wertvolles Bildnis des Malers Peter Burnitz von Hans
Thoma. Lenbachs bekannter glänzender Herr von
Liphart, einer der besten Lenbachs, die es gibt.
Von Gari Melchers das gute Bildnis der Mrs. Hitchcock.
Sargents etwas lebhaft bewegte, aber verblüffende Frau
von Grunelius. Zwintschers mit Geschmack arran¬
giertes (nach Vorbildern, nicht ohne Whistler arran¬
giertes) Bildnis mit weißen Astern . Von Leo Sam-
berger ein gutes Männerporträt. Von Karl Ziegler die
schöne Frau Hertz, ein angenehmes Bild. Von Karl
Bios ein tüchtiges Selbstporträt. Von Karl Bantzer
ein ganz gutes Porträt des Bildhauers Pöppelmann.
Dann von Besnard die bekannte, fabelhafte Madame
Rejane. Hier muß man ein Pause machen, gleichwie
das Bildnis einen enormen Gegensatz zu seinen
Nachbarn rechts und links bildet.
Gegenüber der bürgerlichen Gehaltenheit des
Bantzerschen Porträts auf der einen Seite und einem
etwas pretiösen Bildnisse Zwintschers auf der anderen
Seite vertritt das Besnardsche Bildnis das Springende,
auf den ersten Wurf hin Treffende. Zu Zwintschers
Bildnis — Vor schwarzen Kacheln« nennt es der
Künstler — war nicht viel Genius nötig. Die Frau
konnte einfach stillsitzen, bis sie fertig gemalt war.
Das Bild ist eine stillebenhaft ausstudierte Leistung
und man braucht bei ihm nur den Geschmack an¬
zuerkennen, mit dem Zwintscher die Hände der Frau
gelegt und ihr Blumen in die Hände gelegt hat. Nicht
so kann man über das Bild von Besnard urteilen.
Seine Madame Rejane wirkt wie eine Rakete.
Es ist einerlei, ob man vor dem Talent des
Besnard viel Respekt hat oder nicht, ob man ihn
den Affen des Genies nennt mit Zola oder so abge¬
schmackt sein will wie Roger Marx, der in einem
Augenblick, in dem er vermutlich vom Sonnenstich
getroffen wurde, gewähnt hat, seit Delacroix hätte
die französische Kunst kein solches Genie aufzuweisen
wie Besnard; — es ist einerlei: vor diesem Bilde
verliert man, wenn man sie gehabt hat, die Abneigung
gegen Besnard und beugt sich vor solcher jauchzen¬
den Entfaltung eines großen Könnens. Dieser Thea¬
traliker unter den Malern, der immer etwas von dem
changierenden Feuer der Beleuchtungen von Lofe Füller
hat, wird bei diesem Bilde einer Theaterdame in der
Wahl seiner Mittel beinahe gerechtfertigt. Wie in einer
Explosion dieses Th eater lichtes steht die Dame vor uns,
lachend, den breiten Mund durch ein Rot von Kunst¬
farben gehoben: sie grimassiert, sie macht ein halb
tolles Gesicht — aber ganz Rejane. Sie hat die
Hand an die Frisur gehoben, um eine fallende Locke
zu ordnen, steht plötzlich da, wie eine Erscheinung,
den Oberkörper etwas zurückgebeugt, sich von der
Kulisse abhebend, die eine Parklandschaft darstellt
— sie selber in einer schillernden hellrosafarbenen
Toilette, die Hals, Schultern und Arme freiläßt, und
die Schultern sehen fast grünlich aus, während auf
dem Gesicht eine dicke Schicht rosigen Puders liegt.
Dies Porträt ist gemein und außerordentlich, frech und
lebendig, es hat die Würdelosigkeit einer Affiche und
trifft die Rejane und in ihr die ganze Theaterwelt.
Schreiten wir weiter, so fällt ein sehr schönes.
inniges Frauenporträt von Karl Haider auf. Joseph
Scheurenberg gibt ein sanftes Kostümbild seiner Gattin
aus der Zeit, in der man noch Kostümbilder malte.
Knaus erweckt Behagen mit einem von einem feinen
Ausdruck des Humors getragenen Herrenporträt. Gari
Melchers’ Bildnis eines Fechtlehrers hat etwas zu viel
von dem Renommistereiausdruck von sogenannten
Schlagern eines Salons«, vor Karl Gussows ehemals
berühmt gewesenem Bildnis der Romanschriftstellerin
Ossip Schubin erkennt man, wie tief das Kunst¬
empfinden der Zeit gesunken war, die dieses Porträt
für bewundernswert hielt. Wir sehen hier eine detail¬
lierte Wiedergabe von zwei gelbgrauen Augen, so
zwar, wie sie ein Augenarzt oder ein Vergrößerungs¬
glas wahrnimmt. Das Physische an den Augen ist
recht genau hervorgebracht; und das Bildnis ist un¬
gefähr in einer Linie mit den Stilleben des Friedrich
Heimerdinger zu beurteilen, der, wie es schien, eine
nicht gehobelte Holzfläche, auf die er seine Visitkarte
befestigt hatte, durch einen Goldrahmen begrenzte.
Das Sonntagspublikum befühlte diese ungehobelte Holz¬
fläche und sah, daß sie nur auf die Leinwand gemalt
war, ebenso, daß die Visitenkarte nicht aufgespießt
und umgebogen, sondern ebenfalls nur ein bemaltes
Stück Leinwand war. Heimerdinger hatte seinen Sonn¬
tagserfolg. Gussow aber war eine Zeitlang berühmt,
jetzt sieht man, wie geschmacklos die Köpfe seiner
Bildnisse im Rahmen sitzen, wie ausdruckslos die ehe¬
mals bewunderten Augen sind und wie den Bildern
völlig eines fehlt: die Auffassung.
Als eine fesselnde Arbeit dokumentiert sich Thomas
jugendbildnis des Malers W. Steinhausen, und mit
Makarts altem Bildnis der jetzigen Fürstin Bülow schließt
die Reihe der interessanten Porträts ab.
Das Bildnis ist von etwas flacher Anmut. Durch
Sinn fürs Psychologische hat sich Hanns Makart in
seinem Leben nicht ausgezeichnet. Die dunklen Augen
der Fürstin sind etwas langweilig und man dürfte
selbst sagen: leer. Doch ist viel Reiz in dem Bilde
entfaltet, der auf Kultur des Auges beruht. Z. B. wie
das Handgelenk der Fürstin zwar flüchtig, aber fein
modelliert und getönt ist, wie viel Grazie sich hier
in der Linie und ein gewisser Charme in der silber¬
blaugrauen Färbung zeigt. Vor allem sind die Töne,
welche sich über die vom Kleide niederhängende
Schleppe verbreiten, ebenso die zarten, gelbroten
Farben der Blumen, welche die Fürstin im dunklen
Haar trägt, echter Makart. Noch ist der Zauber dieses
Künstlers nicht völlig untergegangen. Er war auch
im vorigen Jahre in Berlin auf der retrospektiven
Ausstellung am Lehrter Bahnhof zu spüren. Dort
sah man Hanns Makarts Porträt der Charlotte Wolter,
das bedeutender war als das der Fürstin Bülow, dies
Porträt mit seinen Herbstfarben, mit seinen vergehen¬
den, verwesenden Luxustönen. Man erkannte die
Irrtümer, denen der alte Farbenspieler erlegen ist und
freute sich doch seines koloristischen Reizes. An¬
nährend so geht es dies Jahr auf der Porträtausstellung
bei dem Bildnis der Fürstin Bülow.
* *
*
BERLINER SEZESSIÖNS AUSSTELLUNG 1907
255
L. Corintli, Berlin
Das Urteil des Paris
Sommer
Graf Leopold von Kaickreutli, Stuttgart
Bildnis der Gräfin Kaickreutli
35*
256
BERLINER SEZESSIONS-AUSSTELLUNG 1907
Die Ausstellung der Sezession zeigt diesmal eigent¬
lich nur deutsche Bilder. Einige sehr schöne van
Goghs sind die einzige Ausnahme. Die Ausstellung
gruppiert sich, im Ganzen, um Liebermann, und wenn
im Vorwort des Sezessionskataloges gesagt wird, die
alten Sezessionisten werden Klassiker, so trifft das auf
niemanden so zu, wie auf diesen Chef der Se¬
zession. Er ist der Mittelpunkt des Kreises, der sich
hier versammelt hat, er ist der Lehrer der Sezession
in der ästhetischen Anschauung gewesen, und nichts
war gerechter, als daß diese Verbindung, als Vor¬
feier seines sechzigsten Geburtstages, eine Ehrung
des Künstlers durch eine Vorführung von Bildern be¬
reitete, welche seinen Lebenslauf von den früheren
bis in die neuen Zeiten bezeichnen. Es ist auch
wichtig, daß diese Art von Ehrung gewählt worden
ist, denn durch nichts stärker als durch den Vergleich
seiner Arbeiten untereinander wird uns der vollkom¬
menste Eindruck von Liebermanns Wert übermittelt.
Nicht von einer Art festgehalten zu werden, stets
aufnahmefähig für große Eindrücke zu bleiben, trotz
ihrer nicht aus seiner Natur gerissen zu werden, immer
persönlich zu sein, auch dann noch immer, wenn er
sich an andere anschloß: das macht in der Tat den
Wert Liebermanns aus, den viele verkennen, den selbst
seine Freunde noch nicht immer richtig würdigen.
Denn wird er wirklich bewundert, genügend be¬
griffen, hat man vor ihm einen Respekt, wie wenn
er in der Einsamkeit eines kärglichen Landlebens
hauste und zu uns herstrahlte? Nein, so hat man ihn
nicht anerkannt, niemals, in die Gefühle, der Bewun¬
dernden selbst, mischte sich stets etwas Skeptizismus
und die Neigung ein, den Maler nicht für ganz per¬
sönlich zu halten, man traute ihm enorme Vorräte
an Auffassungsgabe, weniger den Vorrat an ange¬
borenem Künstlertum zu, und vielleicht hat sich das
erst in dieser Ausstellung geändert. Der kleine Saal
in der Sezession, der eine Anzahl seiner älteren Bilder
und einige neue birgt, zeugt von einer so tiefen Ori¬
ginalität, daß er auf viele gerade der ihm Nahestehen¬
den wie eine Offenbarung wirkte.
Das älteste der vorgeführten Bilder ist die hollän¬
dische Nähschule, von 1876. Das Neuartige in dem
Bilde ist erstens, daß ein solches Zimmer, mit hellen,
graublauen Wänden und »reizlosen« gelbbraun an¬
gestrichenen Möbeln dargestellt wurde, welches eine
malerische Ausbeute nicht zu gewähren schien, um
so weniger, als kein Helldunkel vorlag, und daß ihm
Liebermann dennoch einen hohen koloristischen Rang,
eine wundervolle Feinheit verlieh. Zweitens muß an
dem Bilde die ganz andere »Schreibweise« begrüßt
werden. Das Bild zeigt keine Gruppierungen mehr
wie die Genrebilder von Knaus oder Vautier, — das
ist selbstverständlich, es ist aber auch verschieden von
dem anders als bei Knaus und Vautier gedachten und
doch noch an Stellungen und Mienenspielen leiden¬
den Genrewesen Menzels. Das Bild Liebermanns
wirkt vielmehr, als ob ein Maler, nachdem er beob¬
achtet hatte, was da war, seiner Wege gegangen
wäre, als ob er nur als eine Art Aufnahmemaschine
für die Nähschule fungiert hätte. Und trotzdem ist
diese Nähschule dann kein maschinenhaftes Bild ge¬
worden, es ist keins von diesen Dutzendbildern ge¬
worden, die uns begegnet sind, seitdem die Maler,
sei es mit ihrer Camera, sei es nur mit ihren Augen
ausgerüstet, auf die Wanderschaft auszogen und die
Natur gefangen nehmen und dann scheinbar wieder
freilassen wollten, während sie sie tatsächlich nur
»gefangen genommen« hatten. Die Ästhetik dieser
Maler war damals noch die von Liebermann. (Daß
es die Aufgabe der Kunst sei, die Natur wiederzu¬
geben.) Was aber seine Bilder, ohne daß er sich
dessen bewußt wurde, von denen dieser Daguerreroty-
pisten unterschied, das war das unmaschinelle Klingen
darin; das Feuer, die Zartheit des Empfindens. Lieber¬
mann begriff erst später, was ihn von den simplen
Nachahmern der Natur entscheidend unterschied. Durch
diese Bewegung, diese Zartheit und dies Feuer werden
wir von der holländischen Nähschule festgehalten,
bei der es die Naturtreue nicht ist — eher noch die
Natursimplizität, die Nichtarrangiertheit des Vorbildes
— die uns anzieht.
Als eine prachtvolle, sonore Leistung schätzen wir
das »Tischgebet« (187g) mit dem nervösen Pinsel¬
strich. Das Bild ist in engster Gemeinsamkeit mit
dem Schaffen von Jozef Israels entstanden (der die
gleiche Komposition gemacht hat), doch ganz ver¬
schieden von Israelschem Wesen; ein vollkommen
echter Liebermann in Ton und Gestaltung liegt hier
vor; wuchtiger als Arbeiten des holländischen Alt¬
meisters, männlicher.
Mit besonderem Interesse betrachtet man den Chri¬
stus im Tempel aus dem gleichen Jahre, das Bild,
das für die Ausstellung wieder ausgegraben worden
ist, denn es war seit dem Sturm, der sich darum im
bayerischen Landtag erhob (1879), als es in München
ausgestellt und von Wilhelm Leibi beschützt wurde,
nicht wieder zum Vorschein gekommen. Es ruhte
im Atelier von Fritz von Uhde; dort ruhte es von
Verdächtigungen und Verleumdungen aus, denen es
unschuldigerweise ausgesetzt worden war.
Man hatte angenommen, daß eine satirische Ab¬
sicht Liebermanns Pinsel gelenkt hätte, als er diesen
Christus malte. Das war aber nicht wahr; so sehr
auch der Künstler — auch bei diesem Bilde, das sieht
man z. B. an der Auffassung der Wendeltreppe im
Hintergrund — für Menzel schwärmte. Menzel hat
in seinem Transparentbild »Christus im Tempel« eine
Karikaturabsicht verwirklicht. Liebermann hingegen
hat ein anderes Naturell; es liegt ebensowenig in
seinem Wesen die Fähigkeit, in der Malerei satirisch
zu sein, wie zu idealisieren. Beides ist ihm gleichwenig
gegeben, beides liegt außerhalb seiner Möglichkeiten.
Daß auch das Ideale zu gestalten außerhalb von
Liebermanns Fähigkeiten liegt, erkennt man, zum Nach¬
teil des Bildes, an dem Christusknaben, der eine ge¬
sunde, tüchtige, grundernste Malerei aufweist — keine
Spur von Satire — , der aber nur irgend ein junge
ist, ohne zur Vorstellungsmöglichkeit von Christus
beizutragen.
Das Bild ist im übrigen ausgezeichnet gemalt,
sehr kraftvoll in seinem, wenn man will, akademischen
BERLINER SEZESSIONS-AUSSTELLUNG 1907
257
Willi. Trübner, Karlsruhe
Schloß Hemsbach
W. Leislikow, Berlin
Der Hafen
258
BERLINER SEZESSIONS-AUSSTELLUNG 1907
Wesen (akademisch insofern, als das Bild »zusammen¬
gesetzt« ist, aus malerischen Typen und malerischen
Einzelheiten bestehend, nicht den Charakter eines »Er¬
lebnisses tragend). Besonders schön gemalt sind
ein blauer Kaftan, einige Hände, ein Licht auf einer
Stirn, der Eußboden — und der sehr zarte Ausdruck
eines müden, vom Bibelstudieren müden, alten Juden,
der, mit der Hand am Mund, gespannt anhört, was
der Knabe sagt. Der Hintergrund — die Treppe —
ist der Synagoge zu Venedig entnommen, wo Lieber¬
mann vorher geweilt hatte. Das
Bild selbst ist in München ent¬
standen, in der kurzen Zeit von
drei oder vier Monaten.
Uber die »alte Strümpfestopferin«,
das »Altmännerhaus in Amsterdam«
und die »Seilerbahn gehe ich kurz
hinweg, diese drei Meisterwerke sind
zu bekannte Bilder. Eine farben¬
schöne, sehr romantische Skizze zu
dem "Netzflickerinnengemälde« der
Hamburger Kunsthalle war weniger
bekannt. Mit großem Anteil be¬
trachtet man Liebermanns neuestes
Werk, sein Porträt des Herrn S. — :
Erstaunlich ist, wie Liebermann hier
den Dargestellten nicht in der Pose
des Qemaltwerdens vorführte, son¬
dern sein Nachdenken zeigte, das er
nur divinatorisch erfaßt haben kann.
Ein Werk der Rekonstruktion: aus
der Fassade das Innere erfaßt.
Wenn Liebermann einmal ver¬
stohlen — bei der Eröffnungsfeier
hat er sich nicht blicken lassen — in
dem achteckigen Raum sich aufhält,
der alle diese Bilder birgt und von
den alten zu den neuen, von den
neuen wieder zu den alten seine
prüfenden Augen wendet, kann er
zufrieden sein und es kann ihn ein
Glücksgefühl erfüllen. Und manche
Beschauer können von Beschämung
gepackt worden sein, denn es han¬
delt sich bei einigen alten Bildern,
die sie jetzt, wie etwas Selbverständ-
liches, bewundern, um solche, die
vormals, man weiß jetzt nicht, warum,
befehdet worden sind.
Für Berlin ganz neu ist Liebermanns großes Bild
des Hamburger Professorenkonventes, von igo6, das
in einem anderen Saale aufgehängt worden ist, als
die eben genannten Bilder. Dieses Werk verdient nicht
die gleiche Bewunderung wie die anderen Liebermann-
schen Bilder. Noch scheint es mir übrigens im Werden;
und es erscheint bei der intensiven Intelligenz Lieber¬
manns durchaus möglich, daß er auch dieser schweren
Aufgabe Herr wird, auf der einen Seite eine Anzahl
Professoren zu malen, die zuhören, auf der anderen
Seite aber, über sie hinausgeführt, in das Reich einer
gesteigerten Porträtkunst versetzt, den ihnen allen ge¬
bietenden Professor Brinckmann. Noch hat ihn Lieber¬
mann sozusagen in einem Zwischenreich: sein Kopf
ist nicht mehr in dem Bereich eines rationalistischen
Porträts gehalten, seine Flächen sind leerer geworden;
— Liebermann fühlte, wohin er in diesem Bildnis
gelangen müßte: Professor Brinckmann ist aber in
dem geistigen Reich noch nicht angelangt, wohin er
ihn bugsieren wollte, daher noch ohne eigentliches
Leben in dem jetzigen Zustand. Unter den anderen
Professoren sind manche ausgezeichneten Köpfe. Per¬
spektivisch sind in dem Bilde noch
manche Unsicherheiten; und das
bestimmt gleichfalls seinen Charakter
als den einer noch nicht vollen¬
deten Arbeit.
Sehr vorangekommen zeigt sich
in dieser Ausstellung Corinth. Er
hat ein glänzendes Porträt des Schau¬
spielers Rudolf Rittner als Florian
Geyer geschaffen. Hierbei hatte er
das Glück, daß sich Rittner nicht
eigentlich eine Maske in dieser Rolle
macht, sondern sich selber gibt,
mithin konnte Corinth der Gefahr,
die sonst in Schauspielerbildnissen
bei der Vorführung einer Rolle liegt
— welche entsetzlichen Fratzen von
Mimen in der Figur Richards III.
haben wir z. B. erlitten — aus dem
Wege gehen. Prachtvoll ist der ge¬
sunde entschlossene Ausdruck Rittners
wiedergegeben. Und von dem er¬
quicklichsten malerischen Reiz ist
Corinths teilweise parodistisches Bild
von dem angeblichen Paris (bei
dem man schwerlich an Griechen¬
land denken kann) und den drei
Göttinnen. Hier funkelt es in einer
Landschaft, die des größten Reizes
voll ist, von blühenden Farben,
die mit prickelndem Geschmack vor¬
getragen sind. Die Szene hat mehr
von einem Künstleratelierscherz als
von einer wirklichen Vorstellung
des Paris von Troja — doch durch
die Meisterschaft der luftigen Per¬
siflage wird das Bild zu ernster
Kunst erhoben.
Trübner ist mit zwei Landschaften vorzüglich, mit
Bildnissen (und dem alten Amazonenbild) nicht so
glücklich vertreten. Leistikow hat sich mit ausge¬
zeichneten Leistungen eingestellt, unter denen beson¬
ders »Der Hafen« anzieht. Slevogt hat eine recht
schlechte Ausstellung veranstaltet und seinem lang¬
weiligen Bilde eines hamburgischen Senators, einem
unglücklichen Selbstporträt und einem nichtssagenden
Bildnis eines älteren berittenen Herrn gegenüber vertritt
lediglich eine kleine, recht nette Skizze (»Sezessions¬
ball«) die Qualitäten des Künstlers. Dora Hitz hat
ein interessantes Porträt von Frau Gerhart Hauptmann
ausgestellt, wie sie, als ob sie in den Wolken thronte.
O. Kolbe, Berlin Dekorative Figur (Stein)
BERLINER SEZESSIONS- AUSSTELLUNG 1907
259
Louis Corinili, Berlin
Rud. Riltner als Florian Geyer M. Beckmann, Florenz
Akte
auf einer weißen Bank sitzend
in einer geschmackvoll arran¬
gierten Robe ihr kapriziöses
Köpfchen über den Beschauer
hinblicken läßt. Habermann
ist mit einem schönen Stu¬
dienkopf aus den achtziger
Jahren vertreten, der schon
in der jahrhunderlausstellung
war. Bedeutende Stil leben
sind von E. R. Weiß. Der
junge Max Beckmann, einer
der Stipendiaten des Villa
Romanapreises, stellt höchst
talentvolle — wenn auch
nicht immer sympathische
— Arbeiten aus; ein Kreu¬
zigungsbild zeigt uns ein
höchst wüstes Treiben: be¬
wundernswert aber ist ein
Adam- und Evabild von er¬
staunlicher Leuchtkraft. Einen
wunderschönen Eindruck ruft
wieder das alte Bildnis her¬
vor, das Kalckreuth von seiner
Gattin schuf. Vielleicht mehr
gezeichnet als gemalt ist
es von einer wundervollen
Innerlichkeit, ein Standard¬
werk der deutschen Kunst.
Außerdem stellt er das zarte
Bild der neben dem reifen¬
den Korn einhergehenden
Max Beckmann, Florenz
Frauenbilclnis
Bauernfrau wieder aus und
sein solides, sympathisches
Selbstporträt neben einem
vielleicht mehr illustrativ ge¬
sehenen Bildnis des Pastors
Behrmann. Hermann Pleuer
ist in seiner gewohnten
Weise vertreten, die jüngeren
Künstler der Sezession zeigen
sich durchweg mit guten
Arbeiten in rüstigem Vor¬
wärtsgehen begriffen. Ulrich
Hübner besonders hat durch
einen langen Aufenthalt in
Travemünde — der für ihn
viel nützlicher gewesen ist
als jener Aufenthalt in der
Villa Romana, welchen ihm
der Künstlerbund bewilligte
— eine Vertiefung gefunden,
welche ihm zu wünschen
war. Unter den alten Mit¬
gliedern der Sezession ist
aber wieder einer erschienen,
der für sich lebt und uns
erfreut: Oberländer. Sein
Wirken berührt sich nicht
mit der pastosen Malerei
der Sezessionisten, nicht mit
ihrer Kampfesfreudigkeit; es
ist gelassen und uns doch
willkommen.
DAS SEELENGARTLEIN
In seiner von der königl. belgischen Akademie preisge¬
krönten Geschichte der vlämischen Malerei verzeichnet
der Brüsseler Kunsthistoriker A. J. Wauters als das be¬
kannteste Mitglied einer alten und zahlreichen Genier
Künstlerfamilic den als Miniaturmaler Margaretas von Öster¬
reich tätigen Gerard Horenbout, den nachmaligen Hof¬
maler Heinrichs Vlll. von England. Schon Dürer, der auf
seiner niederländischen Reise bei ihm vorsprach und na¬
mentlich eine Arbeit seiner damals achtzehnjährigen Tochter
Susanna bewunderte, rühmt ihn als llluministen. Als solcher
steht er vor uns in einer hochbedeutsamen Schöpfung der
Buchmalerei, der künstlerischen Ausschmückung des be¬
rühmten Hortulus animae der Wiener Hofbibliothek.
Diese deutsche Übersetzung eines am Beginne des
i6. Jahrhunderts in Deutschland recht beliebten Erbauungs¬
buches, dessen Verbreitung nach der Drucklegung nur
noch gewachsen war, befand sich einst in den Händen
der Statthalterin der Niederlande, der Erzherzogin Marga¬
reta von Österreich. Für verschiedene in ihrem Aufträge
ausgeführte Gemälde und für illuminierte Livres d’heures
empfing Gerard Horenbout mehrere Zahlungen zwischen
1516 und 1521. Unter diese Arbeiten wird der Wiener
Hortulus animae gerechnet, in dessen Rand Verzierungen
mit Perlen und Tausendschönchen man Anspielungen
auf die hohe Auftraggeberin erkennen wollte. Nächst dem
mit ihm auch in Beziehung gesetzten Breviarium Grimani,
mit dessen kostbarer Reproduktion er nun in den Wett¬
bewerb einer alle Feinheiten moderner Reproduktions¬
technik ausnülzenden Prachtpublikation tritt, gilt er als
eine der herrlichsten Leistungen der Illuminierkunst.
Der Leiter der Kupferstichsammlung der Wiener Hof¬
bibliothek Dr. Friedrich Dörnhöffer stellt seine reiche Sach¬
kenntnis in den Dienst der kunstgeschichtlichen Einwertung
dieses seltenen Denkmales, das in 1 1 Lieferungen zu je
60 M. auf 514 Tafeln mit 109 farbigen, 857 schwarzen und
62 einfach getönten Seiten vorgeführt und in einem be¬
schreibenden Texte auch kritisch gewürdigt werden soll.
Man darf den darin zu bietenden Aufschlüssen gerade bei
einem Herausgeber wie Dörnhöffer mit größter Spannung
entgegensehen und gewiß manches Neue über die vlämische
Malerei als freudig begrüßten Nebenertrag erwarten. Heute
ist nur ein Urteil darüber möglich, wie sich das Werk in
der glänzenden Ausstattungsweise präsentiert und mit den
Feinheiten der Arbeit in der Wiedergabe selbst abfindet.
Der Bilderschmuck bietet außer Blattumrahmungen,
für deren künstlerische Belebung figurenreiche Szenen von
großer Mannigfaltigkeit aus dem städtischen und länd¬
lichen Leben herangezogen sind, ganzseitige Heiligenfiguren
mit einer durchwegs überaus subtilen Behandlung des
landwirtschaftlichen, beziehungsweise architektonischen Hin¬
tergrundes. Die in dem vorliegenden Probehefte vereinig¬
ten Kalenderbilder des Jänner, Februar, April, Mai und
Juni geben entzückende Einzelheiten in einer wirklich ver¬
blüffenden Weise wieder und ermöglichen geradezu wie
an dem Originale selbst ein zuverlässiges Urteil über alle
Werte der Arbeitsweise des seltenen Werkes, ob es nun
die Auffassung und Anordnung der Szenen an sich, die
Beherrschung des Raumproblems, der Perspektive, der
Seelengärtlein. Hortulus aniume. Cod. Bibi. Pal.
Vindob. 2706. Photomechanische Nachbildungen der k. k.
Hof- und Staatsdruckerei in Wien, herausgegeben unter
der Leitung und mit kunstgeschichtlichen Erläuterungen
von Friedrich Dörnhöffer. Frankfurt, Jos. Baer 8r Co., 1907.
Architektur oder der Landschaft gilt. Wie glücklich ist
die Stimmung des Februartages jener des April entgegen¬
gesetzt, wo bis auf die blühenden Bäume und die sprossen¬
den Blümlein des sich verjüngenden Rasens eingegangen
ist! Köstliches Behagen an der Schönheit der wieder¬
erwachten Natur, welche auch andere Genußfreudigkeit
im Menschenherzen aufsteigen läßt, liegt über die Szene
des Maienglückes gebreitet, und Tierbeobachtung und
zarte Landschaftsstimmung vereinigen sich auf dem Juni¬
bilde in ungemein glücklicher Weise. Gerade angesichts
der Tatsache, daß die Typen für diese Darstellungsreihe
immerhin von einer traditionellen Gebundenheit sich nicht
leicht frei machen konnten, wird die künstlerische Aus¬
reifung des Vorwurfes offensichtlich und bei dieser Re¬
produktionsweise auch nach jeder Richtung hin bewertbar.
Volle Klarheit und harmonische Stimmung beherrschen
nicht minder das Kreuzigungsbild, den ernsten Jakobus,
den prächtigen Christoph und die anmutige Katharina,
um deren Liebreiz (siehe die von uns in Dreifarbendruck
nachgebildete Tafel) Horenbout sich mit offensichtlichem
Zartgefühle bemüht hat. Für die so malerischen Bau¬
werke des Hintergrundes konnte gerade Gent mit seinem
Grafenschlosse und seinen Giebelhäusern überaus ver¬
wendbare Motive beistellen, an welchen der Meister augen¬
scheinlich auch nicht achtlos vorübergegangen ist. Seine
Vertrautheit mit Darstellimgsmomenten des See- und
Fischerlebens tritt in dem Hintergründe des Jakobusbildes
sowie in der köstlichen Fischfangszene des Christophblattes,
jene mit der Beschäftigung der Landleute zu den ver¬
schiedenen Jahreszeiten auf dem Februar- und Junibilde
vortrefflich zutage. Der gedeckte Tisch der Jännerdar¬
stellung und der Geflügelhof des Aprilblattes lassen die
LImsicht erkennen, mit welcher auf scheinbar untergeord¬
nete Einzelheiten eingegangen ist. Aber auch der andere
Schmuck der Umrahmungen, Schmetterlinge und Blüten,
die im Wasserglase stehenden Blumen, der Rosenzweig
mit aufbrechender Knospe ist von lebenatmender Frische,
alles mit erquickender Ünmittelbarkeit gegeben. Die Dar¬
stellungsfähigkeit haftet jedoch nicht nur an Äußerlich¬
keiten, sondern steigt auch in die Tiefen der Seele hinab
und weiß ergreifenden Ausdruck aus denselben empor¬
zuholen. Das zeigen die männlichen Gestalten unter dem
Kreuze, die gramgebeugt zusammenbrechende Maria, die
kindlich naive Frömmigkeit der in Betrachtung versunkenen
Katharina, der gleichsam bei mannigfachen Pilgerfahrten
wettergebräunte Charakterkopf des Jakobus. Gar manches
klingt an die Auffassung und Darstellungsart bekannter
Meister niederländischer Großmalerei an; der in Aussicht
gestellte Text wird an der Klarlegung der Wechelbezie-
hungen und an dem Herausschälen der Sonderart Horen-
bouts eine ebenso dankbare als interessante Aufgabe
finden.
Die photomechanischen Nachbildungen, in welchen
die k. k. Hof- und Staatsdruckerei in Wien die Sonder¬
werte der in der Kleinmalerei manch großen Zug betonen¬
den Bilderhandschrift zur Geltung zu bringen und wissen¬
schaftlicher Einschätzung verwendbar zu machen weiß,
stehen ganz auf der Höhe auch verwöhntester Gegenwarts¬
ansprüche und zeigen geradezu eine staunenswerte Ver¬
feinerung der Reproduktionstechnik. Sie erschließt in
glänzender Weise eine hervorragende Schöpfung, in welcher
die schon in ihrem Geltungsgebiete eingeschränkte Buch¬
malerei zu einer nur selten wieder begegnenden Leistungs¬
fähigkeit emporstieg. Joseph Neuwirth.
Herausgeber und verantwortliche Redaktion: E. A. Seemann, Leipzig, Querstraße 13
Druck von ERNST HedriCH Nache., a. m. b. h., Leipzig
\ r
MINIATUR AUS DEM SEELENOÄRTLEIN
Dreifarbendruck, nachgebildet der Tafel in der Ausgabe des Verlages j. Baer 8c Co., Frankfurt.
ZEITSCHRIFT FÜR BILDENDE KUNST IQO7 ORIOINALRADIERUNO VON F. BRACQUEMOND, PARIS
1. Skizze von Francesco Guardi, im Museo Correr, Venedig
SKIZZEN UND ZEICHNUNGEN DES FRANCESCO GUARDI
Von George A. Simonson in London
Guardi war mit seiner Feder und dem Bleistift
bei weitem nicht so tätig als mit dem Pinsel.
In dieser Hinsicht glich er den alten vene¬
zianischen Meistern, die sich als Koloristen viel mehr
auszeichneten als durch ihre Leistungen in der Zeichen¬
kunst. Man findet vereinzelte Blätter seiner Hand¬
zeichnungen in öffentlichen Sammlungen wie in
privaten. Im Vergleich zu seinen unzähligen Ge¬
mälden von Venedig (ohne die Menge von capricci
oder teilweise imaginären Landschaften, mit denen er
seine Geburtsstadt überschwemmte, mit einzurechnen)
sind sie jedoch viel weniger bekannt als seine Malereien.
Der lehrreiche, in der Aprilnummer dieser Zeit¬
schrift erschienene Aufsatz des Herrn Aureliano de
Beruete über Goyas Handzeichnungen gab dem Ver¬
fasser die Idee, dem gleichen Leserkreise über Guardis
Skizzen Mitteilung zu machen. Denn Guardi und
Goya haben einige gemeinsame Kunstprinzipien ge¬
habt, obgleich sie von der Natur mit verschiedenen
Temperamenten ausgestattet waren, und zwischen den
Sphären ihrer Wirksamkeit gar keine Analogie besteht.
Vierunddreißig Jahre später als Guardi geboren, über¬
lebte Goya ihn mehr als ebenso viele Jahre. Der
venezianische . Künstler starb zu Venedig 1793, der
spanische beendete seine Tage zu Bordeaux 1828.
Der eine wie der andere war ein Produkt des acht¬
zehnten Jahrhunderts und ein Vorläufer der modernen
Malerei. Sie waren von demselben Geiste der Em¬
pörung gegen das Konventionelle beseelt und ent¬
falteten dieselben impressionistischen Neigungen,
welche wir in den Werken der modernen französischen
Schule finden. Es ist daher nicht zu verwundern,
daß, nachdem ihr Andenken lange Zeit vernachlässigt
worden war, die künstlerische Welt fast in demselben
Moment zu einer gebührenden Anerkennung ihrer
Verdienste erwacht ist. Vor zwanzig Jahren wurden
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XVIII. H. ii
Guardi und Goya noch nicht verstanden. Jetzt haben
sie den Höhepunkt ihres Ruhmes erreicht.
Diese wenigen Bemerkungen mögen dazu dienen,
anzudeuten, daß ein verbindendes Glied zwischen
Guardi und Goya vorhanden ist und daß eine gewisse
Veranlassung dazu besteht, diesen Artikel dem dieser
Zeitschrift über Goya beigesteuerten folgen zu lassen.
Die Feststellung der Verwahrungsorte von Guardis
Handzeichnungen ist schwer zu erörtern, da sie in
ganz unerwarteten, sogar entlegenen Gegenden auf¬
tauchen. Während sie in wichtigen Sammlungen
von Zeichnungen, wie in derjenigen des Großherzog¬
lichen Museums zu Darmstadt nicht vertreten sind,
befinden sich Proben seiner Schwarzweiß -Arbeit oft
in Museen untergeordneten Ranges verborgen. So
treffen wir vereinzelte Blätter von Guardis Zeich¬
nungen in den Museen zu Lille, Grenoble und Köln
an, um ein paar aufs Geratewohl zu erwähnen, ln
der Regel entdeckt man bloß kleine Serien in öffent¬
lichen Sammlungen und selbst das Britische Museum
kann nur wenige Proben aufbieten; wovon eine, der
Markusplatz in Venedig während eines Festes, mit
zahlreichen Figuren belebt, wohl als eine von Guardis
feinsten Federleistungen gelten mag. Die Zeichnung
ist schon deshalb auffallend, weil sie in ungewöhnlich
großem Maßstabe ausgeführt ist. ln dem Kupferstich¬
kabinett des Berliner Museums findet sich eine Serie
von zwölf Skizzen von Guardi. Die reichste Samm¬
lung jedoch, vom numerischen Standpunkt, besitzt
das Museo Correr^) in Venedig, welches nicht weniger
als achtzig Skizzenblätter von Guardi enthält; einige
davon hängen an den Wänden in einem der Säle des
Instituts, andere sind in einem kleinen Album verwahrt.
1) Siehe des Verfassers Monographie über Francesco
Guardi (Methuen & Co., London), Seite 59.
36
2Ö2
SKIZZEN UND ZEICHNUNGEN DES FRANCESCO GUARDI
Im Jahre 1867 sammelte ein früherer Direktor
des Museums, der verstorbene Commendatore N.
Barozzi, alle im Museum befindlichen Skizzen Guardis
in dieses Bändchen. Es ist ein Album in Oktav¬
format, in Halbpergament gebunden, die Zeichnungen
sind auf der rechten Seite seiner blauen Blätter an¬
gebracht. Die Größe derselben ist verschieden,
schwankend zwischen den Maßen von fünfzehn bis
acht Zentimeter. Dargestellt ist eine Reihe von Mo¬
tiven, Ansichten von Venedig, Paläste, Kirchen, Kanäle,
Brücken, Senatoren, maskierte Figuren und allerlei
Landschaften, Häfen, Schlösser, Seen und Marine¬
szenen nebst Architekturstücken, Ruinen, Pyramiden
und verfallenen Tempeln, jede Zeichnung ist mit
zwei Nummern versehen; diejenigen, welche die
Reihenfolge der Zahlen vorstellen, sind später einge¬
schoben und laufen von Nr. i bis Nr. 54 und, nach
unterbrochener Reihenfolge, weiter von Nr. 65 bis
Nr. 73. Die in dem Album fehlenden Skizzen
(Nr. 55 bis Nr. 64) sind aufgehängt, wie vorerwähnt,
oder befinden sich auf Gestellen in dem Museum.
Ein Inhaltsverzeichnis mit Beschreibungen jeder Zeich¬
nung, welches von Commendatore Barozzi dem Bande
beigefügt war, zählt insgesamt achtzig Studien des
Guardi auf. Auf der Rückseite des Einbandes des
Albums steht eine Anmerkung^) geschrieben, der ge¬
mäß Teodoro Correr, der Stifter des Museums, eine
kleine Anzahl dieser Zeichnungen Guardis Sohn,
Giacomo, abgekauft hat. Einige Skizzen vom Gia-
como, welcher auch Künstler wurde, haben sich denen
seines Vaters eingemischt. Zwischen seinen beschei¬
denen Leistungen und denjenigen des Francesco ist
aber ein so starker Unterschied, daß die Sichtung
der Werke des Vaters und des Sohnes leicht wird.
Besonderes Interesse haftet einigen von Guardis
Skizzen in dem Museo Correr an; zum Beispiel wenn
sie Stadtviertel, aus der unmittelbaren Umgebung
seiner Wohnung während seiner letzten Lebensjahre
in der Gemeinde von S. Canziano, Venedig oder
Plätze und Städte auf dem Festlande, welche er von
Zeit zu Zeit besuchte, darstellen. Eine Studie ist da
zu einem imposanten, noch vorhandenen Gemälde,
welches wir verfolgen können als in Udine ausgeführt,
und da sind andere mit eigenhändigen Kommentaren
des Malers über den wiedergegebenen Ort, woraus
wir mit Sicherheit schließen können, welchen Teil
von Norditalien er durchreiste. Wie sein Meister
Antonio Canale, besuchte Guardi das Tal der Brenta,
Padua und die Marca Trevigiana.
Einige von Guardis Handzeichnungen sind von
ihm mit der vollen Unterschrift, andere nur mit
seinen Initialen (F. G.) versehen, aber die Mehrzahl
derselben sowie seiner Malereien, sind unsigniert. Es
gibt eine Menge von Nachahmungen seiner Werke,
aber Guardis Stil ist so unverkennbar, daß der Laie,
außer wenn die Fälschungen sehr geschickt sind,
die Meinung eines Sachverständigen nicht braucht,
um über ihre Echtheit zu entscheiden. Viele von
1) Siehe des Verfassers Monographie über Francesco
Guardi, Seite 59.
Guardis Zeichnungen sind sehr hastig ausgeführt und
tragen Anzeichen fieberhaften Schaffens. Dennoch
existieren sehr sorgfältig gefertigte Studien von ihm,
welche, wie wir annehnien dürfen, nicht zu seiner
eigenen Zerstreuung, sondern im Aufträge für seine
venezianischen und ausländischen Gönner gemacht
wurden, und diese mag er verkauft haben, wie man
von Giarnbattista Tiepolo sagt, daß er mit seinen
Studien gehandelt habe. Ohne Zweifel benutzte
Guardi zuweilen Feder und Bleistift, um eine Studie,
bevor er sie auf die Leinwand übertrug, vorzubereiten
und wir finden vollendete Studien von ihm, die mit
den Gemälden, die nach ihnen gemacht waren, so
genau übereinstimmen, daß man fast annehmen könnte,
daß er sein Sujet zuerst malte und es dann in schwarz¬
weiß kopierte. Sehr feine, sorgfältig ausgeführte
Zeichnungen von Guardi sind selten und werden
heutzutage von Kennern sehr hoch geschätzt. Es ist
befriedigend zu sehen, wie sowohl Zeichnungen als
Bilder des Meisters sich allmählich in öffentliche
Museen ihren Weg bahnen, durch Ankauf oder durch
Vermächtnis. So ist vor nicht langer Zeit die Dutuit-
Kollektion mit vier sehr geistreichen Skizzen Guardis,
alle Darstellungen vom Markusplatze, in das Pariser
Museum im Petit Palais übergegangen. Auf diese
Weise darf man ernstlich hoffen, daß Guardis beste
Studien die Mappen bereichern werden, welche den
Zeichnungen der alten Meister in Museen bestimmt
sind, und schließlich unter die Kategorie unveräußer¬
licher Kunstwerke fallen werden. Neulich, bei An¬
laß des Ablebens eines sehr bekannten englischen
Sammlers, ging eine Federzeichnung Guardis von
ungemeinem Interesse, den Aufstieg des Grafen Fran¬
cesco Zambeccari in einem Ballon^) darstellend, in
anderen Besitz über, und die Aufgabe, ihren gegen¬
wärtigen Verbleib nachzuweisen, falls es nicht sogleich
geschieht, mag eine unmögliche sein.
Wir haben festgestellt, daß Guardi einer der
frühesten Impressionisten war. ln seinen Zeichnungen
geht sein Impressionismus noch weiter als in seinen
Gemälden, alle Einzelheiten verbannend, die für
malerische Effekte unerheblich zu sein scheinen.
Guardi war der glänzendste Darsteller des Pittoresken
in der Szenerie von Venedig nicht nur unter den
Malern seiner Zeit, sondern auch unter den modernen.
Es ist gerade in Bezug auf »pittoreske- Landschaft,
daß Ruskin in der einzigen Stelle in seinen »Mo¬
dernen Meistern«, in welcher er Guardi beiläufig
erwähnt, dessen Namen denjenigen von Canale und
Tempesta beigesellt. Dem oberflächlichsten Beobachter
von Guardis Zeichnungen wird seine besondere Ge¬
schicklichkeit, das Malerische in der Topographie von
Venedig wiederzugeben, auffallen. Manchmal ist es
das Staccato seiner zitternden Linien, das unsere Auf¬
merksamkeit erzwingt, manchmal der wunderbare
chiaroscuro Effekt, den er hervorbringt. Seine Feder¬
striche sind so individuell und originell, daß man
gerne annehmen könnte, daß, wenn Guardi gewollt,
1) Siehe des Verfassers Monographie über Francesco
Guardi, Seite 57.
2. Zeichnung von Francesco Guardi (aus der Sammlung von Miss S. C. Hewitt, New York)
3. Skizze von Francesco Guardi, im Museo Correr, Venedig
36“*
4. Originalzeiclinung von Francesco Guardi, aus der Sammlung von George A. Simonson in London
5. Originalzeiclinung von Giainbaltista Piranesi, aus der Saninilmig von George A. Sinionson in London
0. Originalzeiclinung von Antonio Canale, aus der Saniinlung von George A. Sinionson in London
266
SKIZZEN UND ZEICHNUNGEN DES ERANCESCO GUARDl
er ein vortrefflicher Radierer hätte werden können
und Whistlers lebhaften reizvollen Blättern von Ve¬
nedig mit nicht weniger frappanten Radierungen hätte
zuvorkommen können. Whistler kann als ein unbe¬
wußter Nachfolger von Guardi angesehen werden,
nicht nur weil seine nervösen Linien mit denjenigen
des Venezianers eine nahe Verwandtschaft zu haben
scheinen, sondern auch wegen der gleichartigen Effekte
von Licht und Luft. Guardi wie Whistler zeichnete
sich durch seine raschen Entwürfe von venezianischen
Veduten und seine Darstellungen des bunten Schiff¬
wesens der Lagunenstadt aus. Aber als Eiguren-
zeichner übertrifft Guardi bei weitem den Whistler.
Gerade in seinen Skizzen von Venezianern läuft
Guardis Sinn für Humor gleichsam über, und die
Szenen des flotten Lebens der eleganten Welt in
Venedig, welche er in seinen Gemälden geschildert
hat, lassen einen unvergeßlichen Eindruck auf das
Auge. Zwei seiner feinsten Stücke, in denen er mit
zauberhaftem Pinsel solche Szenen uns vergegen¬
wärtigt, hat der Verfasser das Glück gehabt in London
letzthin zu entdecken. Das eine stellt eine Maskerade
in einem Saale des Ridotto zu Venedig vor^), das
andere ein Eest auf dem Markusplatze am Himmel¬
fahrtstag. Einem sehr geistreichen modernen Kunst¬
kritiker, dem der Einfluß der japanischen Kunst auf
Whistler vorgeschwebt haben mag, ist das »chinesische«
Aussehen gewisser Eiguren in Guardis Darstellungen
aufgefallen, wodurch er sich veranlaßt fühlt die Be¬
merkung zu machen, daß Guardi durch chinesische
Eigurenstudien beeinflußt gewesen sein mag. Tiepolos
Chinoiseries sind Beispiele orientalischen Einflusses,
es ist aber kein Grund vorhanden, anzunehmen, daß
Guardis flotte Staffagen nicht gänzlich die Geschöpfe
seiner Phantasie sind. Besondere Erwähnung seiner
Eiguren wird deshalb gemacht, weil sie in vielen
seiner Zeichnungen eine sehr wichtige Rolle spielen.
Mögen sie auch nicht immer die Grazie und den
Reiz von Pietro Longhis Studien venezianischer
Kavaliere und Koketten haben, von denen eine in
ihrer Art einzige Sammlung im Museo Correr zu
Venedig sich befindet, so erregen Guardis Staffagen
ein viel regeres Interesse bei uns als die Figuren in
den Sittenbildern des Longhi, dessen Anschauung des
tollen venezianischen Lebens lange nicht so originell
ist als die Guardis.
Unser Künstler zeigt sich als ein vollendeter
Meister in dem Gebrauch von Sepia. Mit diesem
jetzt ganz veralteten Mittel gelingt es ihm, Schatten
und Halbschatten so fein abzustufen, daß die weichen
Farbentöne seiner Bilder in denselben fast vorher
angedentet genannt werden können. Zu der Ab¬
bildung Nr. 4, einer höchst genial ersonnenen Zeich¬
nung von Guardi, ist ein schimmernder Lichteffekt in
meisterhafter Weise wiedergegeben. Durch die Säulen¬
bogen, in einen leichten Schatten im Vordergründe
gehüllt, sehen wir einen von der Sonne leuchtend
erhellten, innern gewölbten Hof, in welchen das Licht
i) Siehe in der Zeitschrift »L’Arte« (Fase. IV, 1907)
des Verfassers Aufsatz; »La mascherata al Ridotto in Ve¬
nezia di Francesco GuardU.
von oben hereinströmt. In der linken oberen Ecke
ist eine Spanne offenen Himmels sichtbar, besäumt
von den zickzackigen, von der Witterung beschädigten
Umrissen der Mauer. Sparsam wie auch Guardi mit
dem Gebrauch von Sepia vorgegangen ist, erhöht er
doch hierdurch die Effekte seiner Architekturstücke
und gibt uns eine Idee von Raum und Licht, welche
ohne eine Grundlage von Sepia kaum möglich ge¬
wesen wäre. Modernen Malern, welche ihre Aqua¬
relle mit allen möglichen Farben zu überladen pflegen,
würde der Verfasser ein Studium von Guardis Sepia¬
arbeit anempfehlen.
Mit diesem einfachen Mittel, welches er sehr leicht
aufsetzt, erzielt er wunderbar frappante chiaroscuro
Effekte. Viele seiner Zeichnungen könnten Mono¬
chrome in braunem oder blondem Farbenton genannt
werden. Wie auch andere Maler seiner Zeit, Zucca-
relli zum Beispiel, machte Guardi einige Versuche in
Aquarellmalerei, einer damals noch im Werden be¬
griffenen Technik. Guardis Aquarelle, obwohl sie
eher gefärbte Zeichnungen sind als Aquarelle im
modernen Sinne des Wortes, haben als erste Versuche
in diesem Mittel kein geringes kunsthistorisches In¬
teresse. In Anbetracht, wie sehr sich dasselbe für
schnelle Improvisationen eignet, ist es merkwürdig,
daß Guardi keinen freieren Gebrauch davon ge¬
macht hat.
Wir haben den Leser bereits darauf aufmerksam
gemacht, daß Guardi nicht radiert hat, obgleich er
alle Fähigkeiten besessen zu haben scheint, einen
vorzüglichen Radierer abzugeben. Wir wagen zu
behaupten, daß seine Anlage hierfür seinen Feder¬
zeichnungen entnommen werden kann. Es ist schwer
zu begreifen wie es kam, daß Guardi nicht das Ra¬
dieren von Canale erlernte, um so mehr weil zwei
von Canales weniger begabten Schülern, Bernardo
Bellotto und Michele Marieschi dem Beispiele ihres
Meisters folgend auch radiert haben, ln seinen Zeich¬
nungen hielt sich Guardi bloß an Canale Insoweit
er auch von der Sepia Gebrauch machte, ln der
Federführung glich er ihm nicht. Guardi war nicht
ein bloßer Nachahmer des Canale, wie zu häufig an¬
genommen wird. Er hatte ein bestimmteres künst¬
lerisches Temperament als sein Lehrer und auch einen
viel frappanteren Stil. Gewöhnlich heißt es bloß,
daß Canale einen Einfluß auf Guardi ausgeübt hat.
Wir glauben, daß zwischen beiden ein Austausch
von Einfluß stattfand, ln der königlichen Gemälde¬
sammlung zu Windsor sowie unter den Zeichnungen
alter Meister in der daselbst befindlichen Bibliothek
gibt es viele Arbeiten von Canale, in denen er einen
sehr ungebundenen Stil an den Tag legt und einen
Blick für das Malerische, in welchem wir den Ein¬
fluß von Guardi auf ihn wohl sehen können. Von
der etwas konventionellen Manier Canales machte
sich Guardi bald frei, da wir bereits in seinen jugend¬
lichen Arbeiten seinen individuellen, obwohl noch
unentwickelten, Stil erkennen. Ein Beispiel einer seiner
reifen Federstudien ist unter Fig. Nr. 4 abgebildet,
während Fig. Nr. 6 eine von Canales feinsten
Schwarzweiß -Leistungen vorstellt. Ein Vergleich der
7. Skizze von Francesco Giiardi, im Museo Correr, Venedig
8. Skizzen von Francesco Guardi, im Museo Correr, Venedig
268
SKIZZEN UND ZEICHNUNGEN DES FRANCESCO GUARDI
Reproduktionen dieser beiden Zeichnungen zeigt,
wie verschieden die Temperamente von Canale und
Guardi waren.
Wenn Canale ein vollkommenerer Meister seines
Handwerkes und ein gediegenerer Bildner von Archi¬
tektur war, so hatte Guardi einen phantasiereicheren
Sinn für Komposition und einen weit leichteren
Federstrich als sein Lehrer. Nebst Canale und Guardi
wollen wir noch einen Venezianer an dieser Stelle
nennen, dessen architektonische Darstellungen unüber¬
troffen sind, nämlich Giambattista Piranesi.
Abbildung Nr. 5 gibt eine seiner verhältnismäßig
seltenen Federstudien wieder, durch welche wir ihn
viel besser beurteilen können als in seinen Kupfer¬
stichen. Piranesi war einer der Hauptvertreter des
Architekturkultes, welcher im achtzehnten Jahrhundert
allgemein wurde unter Kunstliebhabern. Piranesis
große Vorliebe für klassische Ruinen und Trümmer
wurde auch von Guardi geteilt. Der letztere jedoch
hatte ein viel feineres Auge für das Malerische,
wenn auch Piranesis Visionen großartiger antiker
Architekturszenen, wovon seine Zeichnungen von An¬
sichten, der Tempel zu Paestum im Soane Museum
(London), gute Beispiele bilden, ebenso imposant
sind. Die beiden abgebildeten Zeichnungen von
Guardi und Piranesi sind teilweise, wenn nicht ganz,
phantastische Kompositionen, während Canale in seiner
in weichem Sepiaton ausgeführten Studie offenbar
eine wirkliche Naturszene dargestellt hat. Die Illu¬
stration Nr. 2 zeigt eine Landschaft am Meeresstrand,
wie Guardi deren viele ähnliche gemalt hat. Die
Originalzeichnung, welche aus der Sammlung des
spanischen Künstlers Raimondo de Madrazo stammt,
ist jetzt in New York, und zwar im Besitze von
Fräulein S. C. Hewitt. Die Rokokoeinfassung der
Landschaft ist ganz eigen und erinnert an die Plafond¬
dekorationen barocken Stils in den venezianischen
Palästen, welche Giambattista Tiepolos Deckenfresken
umgeben. Zum Schluß machen wir den Leser noch
auf die Abbildungen der Skizzen Guardis, welche
im Museo Correr sich befinden, aufmerksam. Als
impressionistische Studien betrachtet, sind dieselben
trotz ihrer etwas flüchtigen Ausführung höchst lehr¬
reich, besonders da wir wissen, daß der Guardi-
Skizzenschatz im Museo Correr zu Guardis Hinter¬
lassenschaft gehörte und bei seinem Tod in den Besitz
seines Sohnes Giacomo überging. Das alles sind
Arbeiten seiner letzten Tage. Eine davon ist mit der
Jahreszahl 1789 bezeichnet und eine andere kann
kaum vor 1792 entstanden sein, denn sie stellt das
Theater La Fenice vor, das erst in diesem Jahre
eröffnet wurde. Erläuternde Bemerkungen über die
hier abgebildelen Skizzen des Museo Correr sind
überflüssig, zumal näheres über ihre Entstehung nicht
bekannt ist. In der Sammlung von Zeichnungen in
der Brera ist eine Studie Guardis von Kämpfern zu
Pferd und zu Fuß, welche in derselben skizzenhaften
Weise entworfen ist als diejenige (Nr. 8), welche
wir diesem Aufsatze als vorletzte Abbildung ange¬
schlossen haben.
9. Skizze von Francesco Guardi, im Museo Correr, Venedig
Die Terrasse der Villa Brancas
Nach einer Radierung von Felix Bracquemond
FELIX BRACQUEMOND
Von Karl Eugen Schmidt, Paris.
Die Leiter der Societe nationale haben den vor¬
trefflichen Gedanken gehabt, eines der ältesten
Mitglieder ihrer Gesellschaft im diesjährigen
Salon durch eine Sonderausstellung zu ehren. Dieser
Gedanke an sich wäre weiter nicht besonders lobens¬
wert, denn obwohl die Societe nationale keine zwanzig
Jahre alt ist, hat sie doch schon eine ganze Reihe
ältester Mitglieder, von denen man gewiß keine
hundert Werke beisammen sehen möchte. Hier aber
handelt es sich um Felix Bracquemond, und das ist
einer der interessantesten Künstler, nicht nur der
Societe nationale, sondern überhaupt unserer Zeit.
Wahrscheinlich gibt es Leute genug, die Bracque¬
mond überhaupt nicht kennen, und die ihn kennen,
wissen kaum von der Vielseitigkeit seiner Begabung
und seiner Tätigkeit. Weitaus am bekanntesten ist
der Radierer Bracquemond. Wer immer sich um die
moderne Griffelkunst des neunzehnten Jahrhunderts
kümmert, weiß, daß Bracquemond vielleicht der er¬
staunlichste Techniker der Radierung ist, und daß
neben ihm nicht drei moderne Stecher genannt zu
werden verdienen. Charles Meryon, eben einer von
denen, die genannt werden müssen, pflegte seinen
Bewunderern zu sagen:
»Nein, Ihr irrt Euch: ich habe gar keine Ahnung
von der Kunst des Radierers. Ich kann einfach nicht
radieren. Aber Bracquemond, das ist ein Radierer,
der kann radieren.«
Mit Meryon hat Bracquemond einige, wenn auch
nicht viel Ähnlichkeit. Er gehörte mit dem auch
noch unter uns weilenden Radierer und Drucker
August Delätre zu den intimsten Freunden des einstigen
Marineoffiziers, und an ihn ist der letzte, ganz vom
Irrsinn beherrschte Brief gerichtet, den Meryon kurz
vor seinem Tode in der Irrenanstalt von Charenton
schrieb. Ein so wunderbarer Radierer und Künstler
Meryon auch war, ich kann mich nicht ganz von
dem Gedanken losmachen, daß er dem in seinem
Gemüte schlummernden Irrsinn nicht wenig von dem
mysteriösen Reize verdankt, der uns in seinen Blättern
fasziniert. Immer oder wenigstens in den meisten
Fällen und gerade in seinen berühmtesten und herr¬
lichsten Blättern umlauert den Künstler und den Be¬
schauer ein latentes Grausen. Es ist die Stille un¬
mittelbar vor oder nach dem Verbrechen. Soeben
erst sind die Mörder in jener unheimlichen Finsternis
verschwunden oder aber sie werden im nächsten
Augenblick hervorstürzen und ihr grausiges Werk
verrichten. Diese Atmosphäre des Wahnsinns scheint
mir neben den rein technischen und künstlerischen
Vorzügen seiner Blätter eine Hauptursache, warum
der Beschauer von der Rue des Mauvais garqons,
von der Morgue, von dem Stryge und von fünfzig
anderen Blättern Meryons gleichsam dämonisch an¬
gezogen und festgehalten wird. Meryon ist, möchte
ich sagen, der Edgar Allen Poe der Radierung.
ZeitschnU für bildende Kunst. N. F. XVI II. H. i
37
270
FELIX BRACQUEMOND
Bracquemond hat nun von diesen Wahnvor¬
stellungen, von diesen schauerlichen Mysterien nicht
die Spur. Er ist der gesundeste, klarste und heiterste
Künstler, den man sich denken kann. Wenn ich
oben gesagt habe, daß er mitunter an Meryon er¬
innert, so bezieht sich das auf mehr äußerliche Dinge.
Auch Bracquemond grübelt und philosophiert zu¬
weilen, und da liebt er es, wie Meryon pflegte, seine
Gedanken nicht nur durch die Zeichnung, sondern
auch durch eini¬
ge Verse auszu¬
sprechen. Meryon
tat das allerdings
viel häufiger als
Bracquemond,
und bei ihm kam
es vor, daß die
Verse die Haupt¬
sache wurden,
daß die Zeich¬
nung nur so ne¬
benbei mitging.
Auch der Inhalt
der Verse ist der
Natur der beiden
Künstler nach
sehr verschieden.
Bracquemond ge¬
fällt sich in hei¬
terer Ironie, in
kerngesundem
Humor, Meryon
ist düster und ge¬
heimnisvoll wie
in seiner Zeich¬
nung. Einige
Verse Bracque-
monds sind in
Frankreich be¬
rühmt geworden
und werden oft
zitiert. Die Kritik
hat er mit einer
Elster verglichen,
die der Welt ver¬
kündet, daß das
einzig Schöne das
Häßliche sei; die
Presse ist bei ihm
eine Ente, die in drolligen Versen erklärt, daß sie etwas
höchst Erstaunliches zu erzählen habe:
Merveille! Merveille! Merveille!
Bonnes gens, ouvrez l’oreille;
Je vais vous dire un recit
Qui s’est passe loin d’ici.
Den Advokaten, die auch von Daumier so ent¬
setzlich mitgenommen wurden, widmet er als Sinn¬
bild eine fette Rabenschar, die sich am Galgen er¬
götzt, und darunter schreibt er:
Cri funebre, sombre plumage,
je suis le rapace corbeau.
Voulez-vous avoir mon image,
Voyez Loyal ou Chicaneau.
Dann hat Bracquemond noch etwas mit Meryon
gemein, was ihn zum Liebling der Sammler macht.
Denn neben diesen beiden gibt es überhaupt keinen
modernen französischen Radierer, der so sehr die
Aufmerksamkeit der Sammler erregt hätte. Höchstens
Legros kommt noch in Betracht, und dann die Aus¬
länder Whistler und Zorn. Das kommt daher, daß
Meryon und Bracquemond eigentlich nie für den
Handel gearbeitet haben und daß sie ihre Arbeit
nicht für beendet
hielten, wenn die
Kupferplatte fer¬
tig war. In der
Tat ist damit nur
einTeil der eigent¬
lichen Arbeit ge¬
tan: der Drucker
ist ebenso wich¬
tig wie der Ra¬
dierer. Die Ar¬
beit des Radierers
zerfällt in drei Ab¬
teilungen, deren
jede fast gleich¬
wichtig ist, wenn
es sich um die
Herstellungwirk¬
lich vollkomme¬
ner Blätter han¬
delt. Da ist zuerst
der Zeichner, der
die Nadel führt,
dann der Ätzer,
der die Linien
dem Kupfer ein¬
graben läßt, end¬
lich der Drucker,
der das Bild von
dem Kupfer auf
das Papier über¬
trägt. Die aller¬
meisten unserer
heutigen Radierer
begnügen sich
mit den beiden
ersten Arbeiten
und überlassen
das Drucken ei¬
nem anderen. Sie
überlassen dem Auftraggeber auch die Wahl des Papieres,
und besonders hierin unterscheiden sich Bracquemond,
Meryon und einige wenige andere Griffelkünstler von
dem großen Haufen ihrer Kollegen.
Das Drucken ist gewiß ebenso wichtig wie das
Zeichnen und das Ätzen, aber in den letzten sechzig
Jahren und bis auf den heutigen Tag haben die
Pariser Radierer einen so vorzüglichen Drucker ge¬
habt, daß sie ihm diesen Teil ihrer Arbeit ruhig über¬
lassen konnten. Der alte August Delätre druckte die
Blätter so gut, wie es nur jeder Radierer selbst hätte
tun können, und in vielen Fällen besser. Aus seiner
FELIX BRACQUEMOND
271
Schule sind dann drei oder vier Drucker hervorge¬
gangen, darunter sein Sohn Eugen Delätre, die fast
ebenso zuverlässig und künstlerisch drucken wie der
alte Meister. Das also durfte Meryon und Bracque-
mond ruhig dem Drucker überlassen. Anders steht
es mit dem Papier. Jedermann weiß, daß wir uns
heute des miserabelsten Papieres erfreuen, das man
sich vorstellen kann. Wahrscheinlich wird es in
dreißig Jahren noch schlechter sein, aber augenblick¬
lich können wir
unsschlechteres
Papier über¬
haupt nichtden-
ken. Nicht nur
alle unsere Zei¬
tungen, sondern
auch fast alle
unsere Bücher
werden in fünf¬
zig Jahren ein¬
fach zerbrechen
und in Staub
zerfallen, sobald
man sie anrührt.
Für den Griffel¬
künstler ist das
ganz besonders
mißlich, und
schon vor fünf¬
zig Jahren fahn¬
deten Leute wie
Meryon und
Bracquemond
auf das schöne
Papier, das un¬
sere von der
modernen indu¬
striellen Ent¬
wickelung un¬
berührten Vor¬
fahren in ihrer
Einfalt aus köst¬
lichen Lumpen
machten. Man
kaufte alte Ge¬
schäftsbücher
und sonstige Fo¬
lianten auf und
benutzte die leer
und weiß gebliebenen Blätter zum Drucken. Selbst¬
verständlich konnten und erst recht können das nur
solche Künstler, die ganz wenige Abzüge machen.
Der Verleger, der bei einem Radierer eine Platte be¬
stellt und tausend oder zehntausend Abzüge davon
macht, kann an solche Feinheiten nicht denken.
Aus diesem Grunde aber kümmert sich der Samm¬
ler nicht oder wenig um die von dem Verleger heraus¬
gegebenen Blätter, selbst dann nicht, wenn der Mann
mit allen Schikanen arbeitet und fünfzig Abzüge vor
der Schrift, ebensoviele mit Künstlereinfall, ebenso-
viele auf Japan, China, Holland usw. druckt. Es mag
Leute geben, denen das imponiert, aber der Sammler,
der seine Blätter wirklich liebt und versteht, gibt auf
diese Mätzchen nichts mehr. Schon darum nicht,
weil er weiß, daß heutzutage die Kupferplatte gestählt
wird und danach viele tausend Abzüge liefert, deren
einer ganz genau so schön und gut wird wie der
andere. Vor fünfzig Jahren war das anders: da nutzte
sich die Kupferplatte schnell ab und die ersten Ab¬
züge, die man an dem Fehlen der Schrift oder an
dem Künstler-
einfal! erkannte,
waren bei wei¬
tem die besten
und schönsten.
Dazu kam dann
noch der soge-
nannteKünstler-
druck, der da¬
mals noch nicht
ein Spekula¬
tionsartikel des
Verlegers ge¬
worden war.
Zur Zeit, wo
Bracquemond
seine besten
Blätter schuf,
zog der Künstler
von der in
Arbeit befind¬
lichen Platte
und von der so¬
eben fertig ge¬
wordenen eini¬
ge Blätter ab,
die er seinen
Freunden gab.
Das waren wirk¬
liche Künstler¬
drucke, deren
Schönheit noch
erhöht wurde
durch die Sorg¬
falt, womit das
Papier ausge¬
wählt war.
Bekanntlich
bezahlen Samm¬
ler nicht nur die
Schönheit, sondern auch die Seltenheit, und da ist
es natürlich, daß die ersten Drucke Bracquemonds
heute fabelhafte Preise erzielen. Nicht so fabelhaft
wie die Künstlerdrucke Meryons freilich, die in ein¬
zelnen Fällen 10000 Franken erreicht haben, aber
doch immer so, daß der gewöhnliche Staatsbürger
sich mit Grausen wendet. Daß Meryon weit höher
geschätzt wird als irgend ein anderer moderner
Radierer, hängt auch mit seiner latenten Tollheit zu¬
sammen. Der Mann machte von jeder Platte fünf,
zehn, zwanzig Abzüge in verschiedenen Zuständen,
er kratzte die halbe Platte weg und brachte ein Meer
^ MAKCOT La CKITKlUf:.
(i V'H-i cfi 1/u.e- ^Lurtu-lihLj studiu,m (j ut inITnunc (oyuwJt.
Nach einer Radierung von Felix Bracquemond
37
272
FELIX BRACQUEMOND
mit vielen Schiffen an die Stelle, wo vorher eine
Schafherde weidete, er hatte immer neue Einfälle, die
immer künstlerisch, aber sehr oft wirklich wahnsinnig
waren, und sobald ihm etwas durch den Kopf ging,
kam es auch auf die Platte, die er gerade auf dem
Tische hatte. Es gibt also von manchen Blättern
Meryons Zustände, die nur in ganz wenigen Exem¬
plaren vorhanden sind, und diese Seltenheit verzehn-
ja verhundertfacht ihren Wert. Manche Blätter von
Meryon kann man im letzten, fertigen und endgültigen
Zustande für zehn
oder zwanzig Eranken
kaufen, während sie
in einem besonders
seltenen früheren Zu¬
stande tausend oder
fünftausend Eranken
wert sind respektive so
hoch bezahlt werden.
Es kommt also
ungefähr auf folgen¬
des hinaus: ein Ra¬
dierer, der von den
Sammlern geschätzt,
gesucht und hoch be¬
zahltsein will, muß vor
allen anderen Dingen
selbstverständlich ein
eigenartigesTalent be¬
sitzen aber fast ebenso
wichtig ist, daß er sich
nicht in die Hände
eines Händlers begibt,
daß er seine Platten
nicht einfach in die
Druckerei liefert, wo
man tausend oder
zehntausend gute oder
schlechte Abzüge
macht, sondern daß
er selber druckt oder
dabei steht, wenn ge¬
druckt wird, daß er
sein Papier selber aus¬
sucht und daß er so
wenig Abzüge wie
möglich macht. Ich
weiß sehr gut, daß die
Radierer diese Verhältnisse besser kennen als ich, und
daß sie einen triftigen Grund haben, wenn sie trotzdem
einen andern Weg einschlagen: um das Radieren zu
betreiben, wie Bracquemond und Meryon getan haben,
muß man wohlhabend oder bedürfnislos sein. Wer
Geld verdienen will oder muß, ist auf den Verleger
oder Händler angewiesen, und bei dem Händler muß
es die Masse bringen.
Bracquemond ist wie fast alle großen Künstler
des neunzehnten Jahrhunderts nicht aus dem akade¬
mischen Unterricht hervorgegangen. In dem Fache,
worin er seinen größten Ruhm errungen hat, ist ihm
eigentlich überhaupt nie Unterweisung geworden.
Zwar hat er sich auf dem in seiner klaren Festigkeit
geradezu an Holbein erinnernden jugendbildnis, das
er im Alter von neunzehn Jahren gezeichnet hat, als
Schüler Guichards bezeichnet, aber Guichard, seiner¬
seits Schüler von Ingres, hat ihn nur im Zeichnen
und Malen unterrichtet. Die ganze Technik der Radier¬
kunst hat Bracquemond für sich allein ausgedacht und
ausprobiert, und seine erste Anleitung fand er in der
Enzyklopädie, die Diderot und d’Alembert fast hundert
Jahre vorher veröffentlicht hatten. Bracquemond ist
sein ganzes Leben
lang — wie Böcklin
und viele andre Künst¬
ler — ein Tüftler,
Bosseier und Ent¬
deckergewesen. Nicht
nur in der Radier¬
kunst fand er alle
bereits früher geübten
Techniken neu auf
und fügte neue Ver¬
fahren den alten hinzu,
sondern auch auf an¬
deren Kunstgebieten
hat er sich als immer
weiter suchender und
probierender Entdek-
ker bewährt. In ihm
wie in so manchem
anderen Künstler un¬
serer und früherer Zeit
steckt etwas vom Al¬
chimisten und Gold¬
macher, und dieser
Zug führte ihn zur
Keramik, die wirklich
mit der einstigen Al¬
chimie manche Ähn¬
lichkeit hat.
Als Beraldi vor
einigen zwanzigJahren
den Katalog derRadie-
rungenBracquemonds
aufstellte, führte er
nahezu 800 Num¬
mern an, und seither
wird diese Zahl wohl
noch einmal voll ge¬
worden sein. In diesem außerordentlich großen Lebens-
werke,doppeltgroß,wenn wirdieTätigkeit Bracquemonds
auf anderen Gebieten berücksichtigen, kann man drei
oder vier Abteilungen sondern. Erstens haben wir es
mit Stichen nach Gemälden anderer Meister zu tun, die
ohne jede Erage zu den herrlichsten und vollkommen¬
sten Nachstichen gehören. Es ist geradezu wunder¬
bar, wie Bracquemond sich der Art so durchaus ver¬
schiedener Künstler anschmiegt, und wie er dabei
doch immer persönlich und individuell bleibt. Er
hat Holbein und Rubens, Ingres und Delacroix, Millet
und Corot, Turner und Manet, Decamps, Rousseau
und Gustav Moreau nachgestochen, und immer hat
FELIX BRACQUEMOND
273
Nach einer Radierung von Felix Bracqueinond (Haut d’un baftant de Porte)
Bucheinband, entworfen von Felix Bracqueniond
274
FELIX BRACQUEMOND
er mit unglaublicher Gewandtheit den eigentümlichen
Charakter des Vorbildes hervorgehoben und unter¬
strichen, ohne dabei die eigene Persönlichkeit zu ver¬
stecken oder zu unterdrücken.
ln zweiter Reihe wären die Bildnisse zu nennen,
die er nach seinen Freunden und Zeitgenossen radiert
hat. In der Villa Brancas in Sevres, wo er seit einem
halben Jahrhundert wohnt, haben die ausgezeichnetsten
Pariser Künstler und Schriftsteller der letzten fünfzig
Jahre verkehrt, und fast alle haben dem Hausherrn
gesessen. So ent¬
standen die berühm¬
ten Blätter nach Me-
ryon, Edmond de
Goncourt, Leon Cla-
del, Theophil Gau¬
thier, Manet, Edwin
Edwards , Fantin-
Latour, Baudelaire,
Puvis de Chavannes,
Corot, Delacroix,
Chenavard usw.,von
denen einige wie die
vier erstgenannten
die höchste Meister¬
schaft nicht nur des
Künstlers und Tech¬
nikers, sondern auch
des Menschenken¬
ners, des Erfassers
einer fremden Indi¬
vidualität bekunden.
Die dritte Reihe
hat Bracquemond
seine herrlichsten
W erke gegeben, aber
nein, es ist nicht
möglich, den nach
Holbein gestoche¬
nen Erasmus, den
Boissy d’ Anglas
nach Delacroix, den
David nach Gustav
Moreau, alle die
nach Millet radierten
Blätter weniger hoch
einzuschätzen alsden
Haut d’un battant de
Porte, als Margot la Critique, als die Ebats de Canards,
und es ist auch nicht möglich, die oben genannten
Bildnisse diesen Tierstudien unterzuordnen. Die Wahr¬
heit ist, daß Bracquemond auf diesen drei Gebieten
gleich vollkommene Werke geschaffen hat, und es ist
lediglich eine persönliche Geschmacksneigung, viel¬
leicht eine Vorliebe für die Tieranekdote, die mich
seine Raubvögel, seine Enten, Möven, Maulwürfe,
Hähne vorziehen läßt. Aber ich kann mir wirklich
nicht denken, daß ein anderer Künstler das Leben
dieser Tiere auch nur ebensogut schildern könnte.
Ich kann mir absolut nicht vorstellen, daß jemals ein
alter Gockel so wunderbar gezeichnet werden könnte
wie der vieux coq Bracquemonds, daß die im Wasser
tollenden Enten jemals einen so vertrauten Freund
finden könnten wie diesen Radierer. Diese Blätter
kann man stundenlang anschauen und sich immer
neu an ihnen erfreuen. Man kann sie da an die
Wand hängen, wo das Auge jeden Tag und jede
Stunde auf sie fällt, und nie wird man sie erblicken,
ohne sich an ihnen zu freuen. Von wie vielen
modernen Kunstblättern kann man ein gleiches sagen?
Die vierte Reihe der Radierungen Bracquemonds
führt uns auf ein
ganz anderes Gebiet.
Einige zweihundert
der von Beraldi ge¬
nannten Radierungen
hat der Künstler als
keramischen Dekor
geschaffen. In den
sechziger Jahren ge¬
hörte Bracquemond
mit Goncourt, Phi¬
lipp Burty und eini¬
gen anderen Künst¬
lern und Schrift¬
stellern zu den ersten
Kennern und Freun¬
den der japanischen
Kunst, und das mag
ihn zu seinen ersten
keramischen Ver¬
suchen geführt ha¬
ben, diedurch seinen
Wohnort gleich bei
der Porzellanmanu¬
faktur einen neuen
Anstoß erhalten
mußten. Eine Zeit¬
lang arbeitete Brac¬
quemond für die
Manufaktur, dann
war er fast ein volles
Jahrzehnt für einen
der größten franzö¬
sischen Fabrikanten
tätig und schuf in
dieser Zeit unzählige
Entwürfe. Nachdem
er zuerst die Radie¬
rung mit der Keramik verbunden halte, indem er die
feuchten Blätter auf den Ton legte und so in den
Ofen brachte, wo das Papier verschwand, während
die Tinte der Zeichnung in den Ton eingebrannt
wurde, wandte er später auch die Malerei an und
ging dann zum Schmelz und überhaupt zu allen
möglichen Arten der Dekorierung über. Lange vor
Carries schon hat Bracquemond so allerlei Gefäße
aus Porzellan, Steingut und Fayence geschaffen, die
mit den japanischen Erzeugnissen wetteifern.
Wenn der Radierer, Keramiker und Maler Muße
fand, beschäftigte ersieh mit anderen kunstgewerblichen
Gebieten. Er hat Entwürfe für Stickereien, für Buch-
FELIX BRACQUEMOND
275
einbände, für Geschmeide, für Tafel si Iber, für schmiede¬
eiserne, geschnitzte und gegossene Gegenstände ge¬
liefert, und mit Jules Cheret und Alexander Charpen-
tier zusammen hat er die Stadtwohnung und das
Landhaus des bekannten Mäcens Vitta vollständig mit
künstlerischem Hausrat ausgestattet. So kann der
Meister, der jetzt im 74. Jahre steht und der seit
seinem 14. Jahre als Künstler und Kunstgewerbler
tätig ist, auf ein ebenso langes wie fruchtbares Leben
zurückschauen , auf
ein Leben , dessen
Resultate für zehn
andere Menschenle¬
ben genügen würden.
Bracquemond aber
genügen sie noch
nicht, denn heute wie
einst ist er unermüd¬
lich an der Arbeit,
und auf dem Gebiete
der mit farbigem
Schmelz ausgestatte¬
ten goldenen Prunk¬
gefäße, das er in den
letzten Jahren bevor¬
zugt, hat er sein letztes
Wort noch lange nicht
gesprochen.
Bracquemond ist
nicht nur als Tech¬
niker in seiner Kunst
von erstaunlicher Viel¬
seitigkeit, er gehört
wie die Künstler der
Renaissance zu den
Elitemenschen, denen
eigentlich keine Be¬
tätigung des mensch¬
lichen Geistes fremd
ist. Wer ihn je in
seiner idyllisch am
waldigen Bergeshang
oberhalb der Manu¬
faktur von Sevres ge¬
legenen Wohnung be¬
sucht hat, deren Aus¬
sicht er auf seinem
berühmten Blatte »Die
Terrasse der Villa
Brancas« festgehalten hat, weiß, wie überaus an¬
ziehend und lehrreich die Unterhaltung mit dem
Meister ist. Das Alter hat seine körperliche Be¬
weglichkeit etwas gehemmt, ohne dem Geiste das
geringste anhaben zu können. Da die Augen beim
Radieren nicht mehr mitwollen, kam er eines Tages,
als er von seinem Gärtner erfahren hatte, seine Frau
sei Stickerin, auf den Gedanken, Aquarelle als Stick¬
muster zu entwerfen. Und nach einigen nicht sehr
gelungenen Versuchen hat er jetzt eine ganz unend¬
liche Skala von Farbentönen mit Buchstaben und
Zahlen bezeichnet, welche Zahlen und Buchstaben er
nun auf die Pause seiner Entwürfe schreibt, also daß
die Stickerin danach ihre Röllchen wählt und keinen
Irrtum begehen kann.
Nebenbei aber ist Bracquemond schon seit Jahren
auch literarisch tätig. Er hat ein ebenso originelles
wie anregendes Buch über »Zeichnung und Farbe
geschrieben , aus welchem ich in den bei E. A.
Seemann erschienenen »Künstlerworten« manches
zitiert habe, das aber schon lange ganz ins Deutsche
hätte übersetzt wer¬
den sollen. Außer¬
dem greift er hie
und da zur Feder,
wenn ihn ein beson¬
derer Anlaß reizt,
und in den letzten
Jahren arbeitet er an
seinen Erinnerungen
und Eindrücken, die
sicherlich zu den in¬
teressantesten Künst¬
lerbüchern der neue¬
ren Zeit gehören
werden. Denn Brac¬
quemond ist nicht
nur ein großer Künst¬
ler und ein ganzer
Mann, er hat auch
zu fast allen bedeu¬
tenden Persönlich¬
keiten Frankreichs in
der zweiten Hälfte
des neunzehntenjahr-
hunderts in mehr
oder weniger engen
und freundschaft¬
lichen Beziehungen
gestanden , also daß
seine Erinnerungen
uns nicht nur die
Ansichten eines aus¬
gezeichneten Künst¬
lers, sondern auch
manche interessante
Aufschlüsse Überseine
Zeitgenossen bringen
werden.
Zum Schluß sei
noch erwähnt, daß die
Gattin des Meisters eine außerordentlich begabte Malerin
ist, die ihre seit vierzig jahren geschaffenen Pastelle und
Ölgemälde nur in der Öffentlichkeit zu zeigen brauchte,
um in der modernen Kunstgeschichte den ihr ge¬
bührenden Platz neben Berthe Morisot, Eva Gonzalez
und den männlichen Meistern impressionistischer
Porträtkunst einzunehmen. Der Sohn des Künstler¬
paares, Pierre Bracquemond, hat vom Vater den
suchenden und experimentierenden Forschergeist ge¬
erbt und ist nicht nur als tüchtiger Maler, sondern
auch besonders durch die Erneuerung alter Mal¬
techniken bekannt geworden. Er hat die uns erhalten
Selbstbildnis Bracqiiemonds aus dem Jahre 1853
276
FELIX BRACQUEMOND
gebliebenen ägyptischen, griechischen und römischen
Malereien studiert und bemüht sich jetzt, die Vorzüge
der unveränderlichen Wachsfarben über die nach¬
dunkelnden und auch sonst allen möglichen Einflüssen
unterworfenen Ölfarben darzutun. Vielleicht finden
wir später eine Gelegenheit, auf diese interessanten
Versuche, sowie auf die »Monotypen« Pierre Bracque-
monds zurückzukommen.
Nach einer Radierung von Felix Bracqueniond
DER NEUE VERMEERi)
Zur obigen Abbildung.
SEIT einigen Wochen hängt der neue Vermeer,
den Dr. A. Bredius in einer Brüsseler Privat¬
sammlung fand, im Mauritshuis im Haag neben
des Delfter Meisters lebensgroßem Mädchenporträt.
Dieselbe Galerie birgt außerdem noch die -Allegorie
des Neuen Testaments«, die -Diana« und jenes
Wunderwerk der »Ansicht von Delft«. Fürwahr eine
reiche Kollektion, wenn man bedenkt, daß von dem
Meister überhaupt nur vierunddreißig Werke auf uns
gekommen sind. Das neuentdeckte Bild ist nur klein
(19,5X17,8 cm), hält aber ob seiner koloristischen
Qualitäten jenen umfangreicheren Werken tapfer stand.
— Während so manches andere Bild, klein be¬
ginnend, im Laufe der Zeit seinen Siegeszug durch
die Welt nahm, von Sammlern und Händlern heiß
umworben, um schließlich mit ganzen Vermögen
bezahlt zu werden, verbarg sich unser Bildchen fast
zweieinhalb Jahrhunderte lang in heute wohl nicht
mehr nachweisbaren Sammlungen — unbekannt und
namenlos, aber doch seine Besitzer mit stiller Be¬
wunderung erfüllend. Keine Urkunde, keine Er¬
wähnung in irgend einem Versteigerungskatalog ließ
seine Existenz ahnen, bis ein glücklicher Zufall, dem
allerdings der feinfühlige Kenner zu Hilfe kam, allen
Freunden des Meisters — und wer rechnete sich
nicht dazu! dies neue, anziehende Werk bescherte.
1) Vergl. auch Kiinstchronik« Nr. 24.
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XVIII. H. i,
Den, der mit freudiger, vielleicht etwas neugierig
erregter Erwartung zum erstenmal vor jenes Mädchen
tritt, trifft ein stiller, seltsam beruhigender Blick aus
zwei Augen, über die sich ein durchsichtiger grünlicher
Schatten breitet. Wir kennen jenen Blick, wir kennen
auch das Mädchen selber schon — aus dem Buda-
pester Bildnis. Wir kennen auch die eigene Wirkung,
die jener Blick auf uns auszuüben pflegt, weil er uns
oft in seinen Bann gezogen hat. Ich möchte fast
sagen, daß in ihm allein schon die ganze Farben- und
Lichtharmonie Vermeers innerlich, geistig ausgedrückt
ist. Denn jene blauen, grünlichen, silbergrauen, grau¬
braunen, Ocker- und zitrongelben Töne, die auf allen
Gemälden Vermeers die koloristischen Hauptakzente
bilden, übersetzen eigentlich nur den mit Worten
nicht wiederzugebenden Stimmungsgehalt jenes Blickes
in eine für das Auge auch sinnlich wahrnehmbare
Sprache. Ihre delikate Auswahl, ihre bis in die fein¬
sten Nuancen differenzierten Abwertungen erwecken
in uns ein ganz ähnliches, leis und still im Herzen
webendes Gefühl weitabziehenden Friedens, wie jene
großen venezianischen sogenannten »Existenzbilder«.
Beide stehen sich, so verschieden sie auch scheinen
mögen, innerlich ungemein nahe.
Für Vermeer ist unser Bildchen von ganz be¬
sonders warmem Ton. Das mag daher kommen,
daß statt des am häufigsten verwandten Zitrongelb
ein kräftiges Ocker in dem großen Blattmuster des
38
278
DER NEUE VERMEER
Gobelins neben ebenfalls aus Ocker und Blau ge¬
mischtes Grün gesetzt ist. Dem Teppich selbst, wie
noch manchem Detail, begegnen wir auch auf an¬
deren Bildern. Denken wir z. B. an das »Atelier<
in der Galerie Czernin in Wien. Auch auf der
Allegorie des Neuen Testaments im Mauritshuis
findet er als Bedeckung des Podiums Verwendung.
Aber nicht nur in dieser Äußerlichkeit berührt sich
mit jenen unser »Mädchen mit der Flöte«; auch
wegen seines mehr dunkel gehaltenen Gesamttones
muß es dieser Gruppe, zu der noch die »Lauten¬
spielerin mit dem Brief im Rijksmuseum gehört,
angereiht werden.
Aus welcher Zeit der künstlerischen Entwickelung
Vermeers es stammt dieser Frage bleiben wir
heute noch die bestimmte Antwort schuldig. Weder
eine Signatur, noch ein Datum geben einen Flinweis.
Noch immer müssen wir uns mit der einzigen Jahres¬
zahl 1656 auf der Dresdener Kupplerin bescheiden,
aus der wir aber sehen, daß der Vierundzwanzig-
jährige bereits ein vollendeter Meister war.
Der eigentümliche Hut des Mädchens hat uns —
seien wir ehrlich zuerst etwas befremdet. Es ist
indessen zu bedenken, daß gerade sein breiter Rand
das köstliche Helldunkel auf Stirn und Augen mög¬
lich macht, das mit den anderen weiblichen Kopf¬
bedeckungen nicht so ohne weiteres zu begründen
gewesen wäre. Diese Überschattung der Stirn liebte
aber Vermeer. Bei den männlichen Figuren, den
Kavalieren, bot ihm der große breitkrämpige schwarze
Filzhut dazu oft willkommene Gelegenheit. Es mag
ihn gereizt haben, auch einmal den zarten, helleren
Teint des weiblichen Gesichtes dem grünlichen
Schattenton gegenüberzustellen und die sich daraus
ergebenden koloristischen Wirkungen zu beobachten
und festzuhalten.
Gerade bei Vermeers Bildern ist es im allge¬
meinen überflüssig, nach dem Inhalt der Darstellung
zu fragen. Es sind ja meist ganz einfache, gewöhn¬
lich nur einfigurige Szenen ohne lebhafte Handlung
und ohne hastige Bewegungen. Unser Bildchen
scheint jedoch nicht mehr vollständig und vielmehr
das Fragment eines größeren Gemäldes zu sein. Der
Bildausschnitt sieht nicht so aus, als sei er vom
Künstler von vornherein beabsichtigt. Es liegt näher.
anzunehmen, daß ursprünglich ein größerer Raum
die Figur umgab. Hätte dann der seltsame Hut viel¬
leicht noch eine andere Bedeutung als die des bloßen
Schattenspenders? Stand er nicht vielleicht im Zu¬
sammenhang mit irgend einer Allegorie, für die wir
beim Fehlen anderen charakterisierenden Beiwerkes
keine Erklärung mehr finden können? Bemerkens¬
wert ist wohl, daß jene wegen ihres gleichartigen
koloristischen Stiles oben angeführte Gruppe halb
allegorischen, halb musikalischen Inhaltes im Aufputz
ebenfalls etwas gesucht und in der Versinnbildlichung
des Allegorischen nicht besonders glücklich ist. ln
dieser Beziehung konnte Vermeer, ebenso wie viele
andere, doch nicht ganz der Modeströmung wider¬
stehen - und vielleicht dürfen wir deshalb diese
Bilder als solche einer späteren Schaffensperiode an¬
sprechen. —
Technisch sind sie und unsere neue kleine Tafel
vollkommen und in dem gewohnten, meist dünnen
Earbenauftrag gemalt, der allenthalben das Korn der
Leinwand oder wie hier (auch in der Abbildung
sichtbar) die Holzfaserung erkennen läßt. Die pi¬
kanten Tupfen sind mit geübtem Blick überall dahin
gesetzt, wo der Meister ihrer belebenden Wirkung
sicher war.
Der neue, seltene Eund hat für das Leben oder
für die Stilentwickelung des Delfter Vermeer zwar
keine Aufklärung bringen können — eher fügte er
noch ein neues Rätsel hinzu. Dennoch ist durch
ihn (ganz abgesehen von dem reichen künstlerischen
Genuß) eine Ffoffnung neu belebt worden, die auch
allgemeiner gefaßt werden darf; daß trotz des seit
geraumer Zeit schon betriebenen eifrigsten Suchens
und Jagens nach alter Kunst doch noch mit un¬
erwarteten Entdeckungen gerechnet werden darf. Und
wenn wir uns zurückblickend vergegenwärtigen, wie
aus W. Bürgers »Sphinx im Laufe der Jahre eine
allgemein hochgeschätzte und allen liebgewordene
Künstlerpersönlichkeit geworden ist, über deren bürger¬
liche Verhältnisse doch auch nicht mehr völliges
Dunkel herrscht, so scheint es nicht ausgeschlossen,
daß auch auf seinen künstlerischen Entwickelungs¬
gang noch einmal ein heller, klärender Lichtstrahl
fallen wird. KURT PREISE (Haag).
DIE KLOSTER VON SUBIACO')
In diesem Werke finden wir die Ergebnisse der ge¬
meinsamen Forschungen einiger der tüchtigsten Vertreter
der jungrömischen Historikerschule zu einem einheitlichen
Ganzen zusammengefaßt. Jeder der vier Arbeitsgenossen
hat das seinem speziellen wissenschaftlichen Interessen-
und Kompetenzbereiche am nächsten liegende Sonder¬
gebiet des gegebenen Gesamtstoffes getrennt bearbeitet,
ohne doch dabei die Resultate der parallellaufenden Unter¬
suchungen seiner Mitarbeiter jemals aus dem Auge zu ver¬
lieren. Auf diesem Wege ist denn eine Publikation zu¬
stande gekommen, die sowohl ihren Verfassern, wie auch
der hohen italienischen Unterrichtsbehörde, die jenen An¬
regung und Auftrag gab, zur höchsten Ehre gereicht.
Der Rahmen eines referierenden Aufsatzes verbietet uns
leider, den Gesamtinhalt der trefflichen Publikation mit
gleichmäßiger Ausführlichkeit hier wiederzugeben ; wir
werden daher über die innere Geschichte der berühmten
alten Klöster, sowie über den Inhalt ihrer Archive und
ihrer Bibliotheken hier nur einen möglichst knappen Über¬
blick geben, um uns dafür etwas eingehender mit den die
Leser dieser Zeitschrift hauptsächlich interessierenden
kunstgeschichtlichen Forschungsergebnissen des obigen
Werkes zu befassen.
Die Durchforschung der Bibliotheken und Archive der
beiden Klöster — Sacro Speco und Santa Scolastica —
hatte Professor Vincenzo Federici, Lehrer für Paläographie
und Diplomatik an der Universität Rom, übernommen.
Seiner historisch-kritischen Sonderstudie über diese Bücher¬
und Urkundensammlungen sind detaillierte Verzeichnisse
der 411 Handschriften-Codices und der 173 Inkunabeldrucke
der beiden Bibliotheken, sowie kurze Regesten zu den 4000
öffentlichen und privaten Urkunden der beiden Kloster¬
archive beigefügt.
Der Autor berichtet zunächst über die Entstehung der
beiden Bibliotheken, über die lokale Schreibertätigkeit der
Mönche von Santa Scolastica und vom Sacro Speco, über
die Codicesankäufe der Klosterprioren und die Schenkungen
von seiten gewisser Privatleute, kirchlicher Behörden und
auswärtiger Klöster, sowie über die spätere Wiederver¬
sprengung der so aufgesammelten reichen Bücherschätze,
wie sie namentlich die zweimalige Unterdrückung der
Klöster im Gefolge gehabt hatte. Sodann folgen gedrängte
Angaben über den Inhalt der bis heute in den beiden
Bibliotheken verbliebenen Manuskriptcodices und über den
paläographischen Charakter derselben. Den letzteren An¬
gaben zufolge lassen die Sublacenser Codices sich in drei
Gruppen einteilen, nämlich in eine römische, eine ro-
1) / Monasteri di Stibiaco. Roma. A cura e spese del
Ministero della Pubblica Istruzione. Vol. 1. P. Egidi: No-
tizie storiche; G. Giovannoni: L’Architettura; F. Hermanin:
Gli Affreschi; Vol. II. V. Federici: La Biblioteca e l’Ar-
chivio.
manische (aus der ersteren abgeleitet und hauptsächlich in
den römischen Benediktinerklöstern selbst entstanden) und
eine gotische Handschriftengruppe. Hierauf bespricht der
Autor in gleicher Ausführlichkeit das allmähliche Anwachsen
und Wiederverstreutwerden der Sublacenser Archive, die
mehrfachen Neuordnungen ihrer Urkundenschätze und ins¬
besondere deren Katalogisierung durch den Pater Isidoro
de Su um die Mitte des 18. Jahrhunderts. Er selbst teilt
dieselben ihrem Inhalte nach ein in Documenti pubblici
(322 Nummern), die unter sich wiederum in Abteiurkunden,
Kirchenurkunden, Kommunalurkunden und Feudalurkunden
geschieden werden, und in Documenti privati, die ihrer¬
seits nach den juristischen Personen geordnet werden, auf
die sie sich beziehen. Die bereits erwähnten kritischen
Verzeichnisse sämtlicher zurzeit noch im Besitze der Klöster
befindlichen Manuskript- und Inkunabelcodices und Per¬
gamenturkunden bieten trotz einiger vom Autor selbst zu¬
gegebenen Kompilationsmängel im Verein mit den beige¬
gebenen umfangreichen Namens- und Sachregistern ein
für die historische Spezialforschung und insbesondere für
die Geschichte der Benediktinerklöster von Subiaco selbst
außerordentlich wertvolles Studienmaterial dar. In philo¬
logischer Hinsicht sind diese Regesten leider weniger in¬
teressant, da die registrierten Urkunden — im Gegensätze
zu den sonst üblichen Gepflogenheiten der modernen Di¬
plomatik — hier nicht in ihrem sprachlichen Original-
gewande wiedergegeben wurden. Im Anhänge hat Federici
einige Dokumente von besonders hervorragender wissen¬
schaftlicher Bedeutung vollinhaltlich publiziert, so nament¬
lich eine neue Redaktion des »Contemptus Mundi« aus
einem Subiacenser Miscellancodex des 15. Jahrhunderts,
sowie das Subiacenser Fragment der »Mirabilia Urbis
Romae«. Nachträglich sind auch den epigraphischen Denk¬
mälern der Subiaco-Klöster noch einige Worte der Erläu¬
terung gewidmet.
P. Fgidis Studie über die Geschichte der Subiaco-
Klöster wird eingeleitet durch ein umfangreiches Kapitel
über die historischen Spezialquellen (Regesten des n. Jahr¬
hunderts, Archivurkunden, Chronicon Sublacense, Chro¬
niken des Abtes Lando, des Paters G. Capisacchi, des
Paters Würtz, Statuten des Kardinals Torquemada vom
Jahre 1456) sowie über die einschlägige historische Spezial¬
literatur von Mabillon ab bis auf die heutige Zeit. Fünf
weitere Kapitel behandeln sodann die Gründung der beiden
Klöster, die beginnende Blüte derselben im 10. Jahrhundert,
die Glanzzeit der Klöster und ihren Rückgang im n. und
12. Jahrhundert, den Zustand der Klöster im 13. und
14. Jahrhundert und schließlich die »Abates Manuales ,
die »Commenda« und die Vereinigung der beiden Klöster
mit demjenigen von Montecassino unter eine gemeinsame
Abtei. Unter Anwendung der strengsten Quellenkritik gibt
der Autor eine klare und lebensvolle Darstellung der Ge¬
schichte dieser berühmten, zwischen die Ausläufer der
38*
28o
DIE KLÖSTER VON SUBIACO
Simbruiner und der Affilaner-Berge eingebetteten Benedik¬
tinerklöster. Er schildert die mannigfach wechselnden Er¬
eignisse, die hier im Laufe der Jahrhunderte sich ab¬
spielten, und betrachtet besonders eingehend die Be¬
ziehungen der beiden Klöster zur römischen Kurie und zu
anderen Abteien des Benediktinerordens. Seine Geschichts¬
darstellung schließt ab mit der Verschmelzung der Abteien
von Subiaco und Montecassino, wie sie wenige Jahrzehnte
nach der im Jahre 1456 erfolgten Einsetzung eines Com-
mendatar-Abtes zustande kam (1514). Von diesem Zeit¬
punkte an — so schreibt Egidi — war die altberühmte
Abtei von Subiaco, die damit endgültig auf ihre persön¬
liche Existenz Verzicht geleistet hatte, zu einem abhängigen
Gliede der cassinesischen Benediktiner-Kongregation herab¬
gesunken. Schon mit der Einführung des Commenden-
Systems hatte sie ihre früher so bedeutende politische
Stellung aufgeben müssen; nunmehr war sie ihrer ad¬
ministrativen Selbständigkeit vollends verlustig gegangen,
und sobald sie einmal der Kontrolle der cassinesischen
Äbte und Visitatoren unterstellt war, durfte man ihre histo¬
rische Eunktion für immer als abgeschlossen betrachten.
In einer Reihe von Nachtragsexcursen behandelt Egidi
sodann noch einige Spezialfragen aus der Geschichte der
Subiaco-Klöster. Im ersten Excurse erbringt er den end¬
gültigen Beweis für die Unechtheit einiger in die Regesten
des 11. Jahrhunderts eingereihten und im Archive von
Santa Scolastica aufbewahrten Urkunden Gregors I., Ni¬
kolaus’ 1. und Johanns VIII.; ebenso wird auch die Su-
biacenser Stiftungsurkunde des consul et dux Cesario
(vom Jahre 884?) als unecht nachgewiesen. Im zweiten
Excurse gibt der Autor eine vollständige chronologische
Liste der Subiacenser Äbte bis zur Zeit der Unterordnung
der beiden Klöster unter die Abtei von Montecassino, wo¬
bei die Angaben der alten Chronisten wie auch diejenigen
der neueren Historiker mehrfache Berichtigungen erfahren.
Im dritten Excurse führt Egidi den Nachweis, daß die le¬
gendäre Überlieferung von der Zugehörigkeit des Städtchens
Tuscolo zum weltlichen Machtbereiche der Subiaco-Klöster
erst um das Jahr 1000 in den Subiacenser Archivurkunden
auftauchte. Der vierte Excurs ist der Betrachtung der
Consuetudines Sublacenses« gewidmet, einer Art von
Klosterreglement mit genauen Angaben über die innere
Verfassung der Klostergemeinschaft und über die Lebens¬
führung und die Obliegenheiten der Mönche; zusammen¬
gestellt augenscheinlich bereits in der ersten Hälfte des
14. Jahrhunderts, können diese Consuetudines ihrer text¬
lichen Fassung nach in der Tat erst im letzten Jahrzent
desselben Jahrhunderts niedergeschrieben sein. Der inter¬
essanteste aller dieser Excurse ist schließlich derjenige
über die ältesten Subiacenser Inkunabeldrucke. Hier sehen
wir den unwiderleglichen Beweis dafür erbracht, daß die
drei frühesten Druckwerke der Subiaco-Klöster bezw. ganz
Italiens, nämlich Ciceros Schrift »De Oratore« (Mai-
Juni 1465), der Lactantius (Oktober 1465) und die Ab¬
handlung des heiligen Augustinus »De Civitate Dei« (Juni
1467), bereits mit beweglichen Leitern gedruckt worden
sind, und zwar von den deutschen Buchdruckern Arnold
Pannartz und Konrad Schweynheym, die im Jahre 1467
in Rom die erste italienische Buchdruckerei eröffneten.
Egidi ist der Ansicht, daß diese beiden deutschen Mönche
die genannte Schrift des heiligen Augustinus bereits nicht
mehr in Subiaco, sondern in Rom gedruckt haben, und
zwar ehe noch die neuen, erst für spätere Werke verwen¬
deten Drucklettern fertiggestellt waren, so daß also auch
dieses Buch in der Tat noch mit den Typen der beiden
ersten Subiacenser Druckwerke von 1465 gesetzt zu sein
scheint.
In der Einleitung zu seiner Studie über die Bait-
geschichte der Subiaco-Klöster weist G. Giovannoni zunächst
auf den bedeutsamen Einfluß hin, den der Benediktiner¬
orden direkt oder indirekt auf die Entwickelung der mittel¬
alterlichen Baukunst im allgemeinen ausgeübt hat: direkt
durch die rege Architektentätigkeit, wie sie die Mönche
selbst — vielfach in Gemeinschaft mit weltlichen Bau¬
künstlern — bei der Leitung und Ausführung von Kirchen-
und Klosterbauten entwickelten; indirekt durch die allmäh¬
liche Ausbildung jenes einzigartigen konstruktiven Bau¬
systems, dessen Keime sich schon in der vom Begründer
des neuen Mönchsordens aufgestellten Ordensregel vor¬
gebildet fanden, und das dann unter strengem Festhalten
an allen wesentlichen Grundelementen jenes Ursystems in
den verschiedenen Niederlassungszentren des Benediktiner¬
ordens den mannigfachsten Differenzierungen unterlag.
Ehe dann der Autor auf die Besprechung der einzelnen
Gebäude von Santa Scolastica und vom Sacro Speco selbst
eingeht, beschäftigt er sich noch des näheren mit den be¬
sonderen topographischen Verhältnissen, die auf die kon¬
struktive Bauentwickelung der beiden Klöster einen so
wesentlichen Einfluß geltend machen mußten. Wie Giovan¬
noni sehr richtig bemerkt, müßte in der Tat einer jeden
baugeschichtlichen Spezialstudie »eine derartig gründliche
Voruntersuchung vorausgeschickt werden, die allein es dem
Forscher ermöglicht, sich über die mannigfachen Grund¬
bedingungen des örtlichen Milieus klar zu werden und
einer jeden derselben den richtigen Koeffizienten an die
Seite zu stellen . . . Erst auf der sicheren Basis solch einer
allgemeinen Voruntersuchung läßt sich ein exaktes Studium
der Monumente selbst vornehmen.« — Diesem Forschungs-
prinzipe gemäß gibt uns der Autor vor allem ein genaues
Bild von der geographischen Gestaltung jener Valle Santa«,
die dereinst zur Wiege der hier zu behandelnden Bene¬
diktinergründung werden sollte, und von dem Anblick, den
sie dem Wanderer dargeboten haben mag, als gegen
Ende des 5. Jahrhunderts der heilige Jüngling« Benediktus
sich in ihre Einsamkeiten zurückzog. Er bestimmt die Lage
einiger der damals von dem Heiligen gegründeten zwölf
Klöster, beschreibt nach der geologischen und lithologischen
Seite die Bodenformation, auf der die Klöster erstanden,
untersucht die Rohmaterialien, mit deren Hilfe sie errichtet
wurden, sowie die Art und Weise, wie diese Materialien
in den verschiedenen aufeinanderfolgenden Bauepochen in
der Mauerstruktur der Subiacenser Klosterbauten Verwen¬
dung fanden. Endlich fixiert er noch einige Daten, die
ihm bei der nachfolgenden baugeschichtlichen Detaildar¬
stellung als sichere Orientierungspunkte dienen sollen.
Selbst eine oberflächliche Betrachtung des Gesamt¬
komplexes der Klosterbauten von Santa Scolastica läßt den
Forscher alsbald erkennen, daß er es hier mit einer Reihe
von Bauwerken zu tun hat, die den verschiedensten Stil¬
perioden entstammen und die gegensätzlichsten Kunst¬
richtungen vertreten. Aus den Zeiten vor dem 11. Jahr¬
hundert sind heutzutage keinerlei Baureste mehr übrig ge¬
blieben, und aus dem 1 1. Jahrhundert selbst, indem doch
die Subiacenser Benediktinerabtei ihre regste Bautätigkeit
entwickelte, hat sich einzig und allein der Campanile er¬
halten, die im Jahre 1053 errichtete »egregia turris« des
Abtes Humbertus. Dieser Turm präsentiert sich in der
Tat noch heute in derselben Gestalt, wie dereinst zur Zeit
seiner Erbauung. Der obere Teil ist zwar wahrscheinlich
gegen Ende des 13. Jahrhunders restauriert worden, jedoch
scheint man dabei dem Kranzgesimse unter Beibehaltung
des alten Baumateriales seine ursprüngliche Gestalt be¬
lassen zu haben; nur die Mehrzahl der alten Triforien
wurde damals vermauert. Die äußere Gesamterscheinung
DIE KLÖSTER VON SUBIACO
281
des Campanile ist jedenfalls bis heutigen Tages dieselbe
geblieben. Diese Tatsache ist um so bedeutsamer, als
dieser Campanile von S. Scolastica älter ist als alle übrigen
Glockentürme des römischen Gebietes; in der Tat gibt er
sich in seinen Grundelementen dem vergleichenden Forscher
zu erkennen als eine Übergangsbildung zwischen dem
lombardischen und dem römischen Campanile. — Weniger
vom Glücke begünstigt war der gleichzeitige alte Kloster¬
bau des Abtes Humbertus cum colonnellis marmoreis
(cf. Chronicon Subiacense), von dem sich leider nicht der
geringste Mauerrest bis in unsere Tage herübergerettet
hat. Der gegenwärtig noch bestehende Klosterbau wurde
von dem römischen Marmorius« Jacobus begonnen, der
während der Regierungszeit des Abtes Landus (1227 — 1243)
den südlichen Frontbau fertigstelite, und wurde dann von
dessen Sohn Cosmas, sowie von den Enkeln Lucas und
Jacobus jun. weiter fortgeführt. Diese folgten zwar im
allgemeinen der durch den ältesten Bauteil gegebenen
Linienführung, vertraten jedoch in der summarischeren
architektonischen Detaildurchbildung bereits eine viel freiere
Kunstrichtung, als ihr Großvater jacobus senior.
Nachdem Giovannoni auf die schlichte Formenstrenge
und das organische Gleichgewicht dieses Klosterbaues hin¬
gewiesen hat, der sicherlich als der klassischste Typus
unter den sämtlichen römischen Klöstern des 12. und
13. Jahrhunderts gelten kann, bespricht er mit der gleichen
Ausführlichkeit die Galiläa-Kirche, das gotische Atrium
derselben und die übrigen Klostergebäude von S. Scolastica,
um schließlich den gesamten Lageplan des Klosters zu
rekonstruieren, wie er sich um die Wende des Quattro-
und Cinquecento (einschließlich einiger heute nicht mehr
existierenden Bauteile) dem Auge präsentiert haben muß.
— Von dem alten Kirchenbaue des 9. Jahrhunderts, sowie
auch von demjenigen, den laut inschriftlicher Angabe
Benediktus VII. errichtet haben soll, sind heute nur noch
wenige hier und da verstreute Reste nachweisbar. Da¬
gegen zeigt die Klosterkirche in ihrer heutigen Gestalt,
die sie erst 1771 — 1777 bei einem durch den Architekten
Giacomo Quarenglii vorgenommenen Umbaue gewonnen
hat, noch zahlreiche Spuren eines gotischen Kirchenbaues
aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts, der sowohl
in seiner Gesamtanlage, wie in den noch vorhandenen
architektonischen Details (Hauptportal, Fensterrose, Ma߬
werkfenster usw.) den gleichzeitig entstandenen Kirchen
der Campagna — d. h. der heutigen, von Palestrina bis
Cassino sich erstreckenden Ciociaria — nahe verwandt
gewesen zu sein scheint. Der frühgotischen Stilepoche
dieser Kirchenanlage gehört augenscheinlich auch das
Atrium an, das von allen Autoren, die bisher über Subiaco
geschrieben haben, infolge einer mißverständlichen Ur¬
kundeninterpretation in das 1 1. Jahrhundert (!) zurückdatiert
wurde. Nicht vor dem 15. Jahrhundert dagegen kann
die große spätgotische Spitzbogenöffnung des Atriums ent¬
standen sein, und ebenso auch die aus Cippollino-Manuor
erbaute Zugangstür zum Refektoriumsvestibüle (Arbeiten
deutscher Künstler). Diejenigen Klostergebäude, in denen
der Krankensaal (13. Jahrhundert), das Refektorium, das
Dormitorium (14. Jahrhundert) und der Kapitelsaal unter¬
gebracht sind, haben so vielfache Umbauten erlitten, daß
von der ursprünglichen Bauanlage so gut wie nichts mehr
vorhanden ist. Besser erhalten ist die Sakristei, deren
Entstehung bis in die zweite Hälfte des Trecento zurück¬
reicht, und die wahrscheinlich zu jenem Komplexe von
Erneuerungsbauten zu zählen ist, die der Abt Bartholo¬
mäus III. in den Jahren 1363 — 1369 ausführen ließ.
Das Sacro Speco-Kloster wird durch ein Konglomerat
von Gebäuden gebildet, das im Laufe der Zeiten im
nächsten Umkreise jener Felsengrotte emporgewachsen ist,
die dereinst dem heiligen Benediktus selbst als Zufluchts¬
stätte gedient hatte. Giovannoni belehrt uns, daß auch
bei diesem Kloster nur einige ganz geringe Baureste in
die Zeit vor dem 12. Jahrhundert zurückdatiert werden
können. Von der ersten Hälfte des t3. Jahrhunderts ab
verfolgt der Autor die Bauentwickelung dieser Klosteranlage
bis zum Ausgange des 14. Jahrhunderts, wo dieselbe ihren
vorläufigen Abschluß erlangte, um dann bis um die Mitte
des 18. Jahrhunderts unverändert zu bleiben. Nach Be¬
sprechung einiger architektonischen Details des zugehörigen
Kirchenbaues insonderheit gewisser, der apulischen Kunst
nahe verwandt erscheinender Ornamentmotive, sowie ferner
eines erst in später Zeit aus kosmatesken Fragmenten neu
zusammengesetzten Tabernakels und endlich der aus der
ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts stammenden Kanzel —
versucht dann Giovannoni, den Lageplan des Sacro Speco-
Klosters, wie es sich im 15. Jahrhundert deiu Auge prä¬
sentiert haben mag, in gleicher Weise zu rekonstruieren,
wie er es bereits beim Monastero di S. Scolastica getan
hatte. Aus dieser Rekonstruktion wird ohne weiteres er¬
sichtlich, daß die Gesamtanlage des Sacro Speco-Klosters
den in der Ordensregel des heiligen Benediktus und in
den Consuetudines Subiacenses festgelegten Anforderungen
und Bedürfnissen des Mönchslebens weit besser entsprach
als diejenige des Klosters der heiligen Scholastica. —
Zahlreiche von Giovannoni eigenhändig gezeichnete Archi¬
tekturaufnahmen illustrieren diesen hochinteressanten Bei¬
trag zur Geschichte der mittelalterlichen Baukunst.
Auch F. Hennanin geht in seiner Besprechung der in
den Subiaco-Klöstern aufgespeicherten Denkmäler der Mal¬
kunst nach streng chronologischen Gesichtspunkten vor,
wobei er dieses reiche Denkmälermaterial in vier Gruppen
einteilt, deren jeder er ein besonderes Kapitel seiner Ab¬
handlung widmet: 1. die ältesten Malereien, 2, die Fresken
des 13. Jahrhundert, 3. die Fresken des 14. Jahrhunderts,
4. die Gemälde des 15, und 16. Jahrhunderts.
Die ältesten Malereien finden sich in einer der Höhlen
unter dem Sacro Speco-Kloster, und zwar in der soge¬
nannten »caverna dei pastori«. Es sind dies die direkt
auf die Felswand gemalten Freskogestalten einer thronenden
Madonna mit dem Christkinde und zweier Heiligen; die
letzteren sind sehr schlecht erhalten, abgesehen vom Kopfe
der einen Heiligenfigur. Die Maltechnik dieser Fresko¬
bilder ist noch ziemlich roh, die dargestellten Figuren je¬
doch lassen bereits ein gewisses Streben nach seelischem
Ausdruck wahrnehmen. Die historische Kritik hat diese
Malereien einstimmig ins 9. Jahrhundert zurückdatiert; da¬
mals weihte nämlich Leo IV. eine Kapelle des Sacro
Speco-Sanktuariums dem heiligen Silvester, dessen Narnens-
zug sich in der Tat aus den Buchstabenresten einer alten
Inschrift zur Rechten des Freskogemäldes herauslesen läßt.
Früher beherbergte der Sacro Speco sowohl wie das Kloster
der heiligen Scholastica noch mehrere andere Malereien
des 9. bis 12. Jahrhunderts, von denen jedoch heutzutage
nicht die geringste Spur mehr übrig geblieben ist. Die
nächstältesten Malereien der Subiaco-Klöster datieren viel¬
mehr erst aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts, und
zwar sind dies wiederum einige Fresken des Sacro Speco:
eine Lünette in der Unterkirche, die Fresken der St. Gre-
gorius-Kapelle und des zugehörigen Atriums und diejenigen
an der Außenfront des ehemaligen »Santuario presso il
Roseto«. Alle diese Freskomalereien wurden von mehreren
gleichzeitig lebenden Künstlern ausgeführt, und zwar —
laut Angabe einer Freskoinschrift der St. Gregorius-Kapelle
— im Jahre 1228, dem zweiten Jahre des Pontifikates
Gregors IX. Hermanin beschreibt diese Fresken mit
282
DIE KLÖSTER VON SUBIACO
größter Ausführlichkeit und unterscheidet in ihnen zwei
verschiedene Künstlerhände. Danach hätte der »Maler des
heiligen Franziskus von Assisi« außer diesem Heiligen
selbst und außer einer das Rauchfaß schwingenden Engels¬
gestalt in der St. Gregorius-Kapelle noch den Bischof Ugo-
lino von Ostia — den späteren Papst Gregor IX. — ge¬
malt, wie er eben diese Kapelle dem heiligen Gregorius
Magnus weihte; ferner an der Außenfront der Kapelle die
Gestalten des Erlösers und zweier Engel und endlich viel¬
leicht auch die Gewölbedekorationen der Kapelle wie des
Atriums. Dem »Maler der Kreuzigung Christi dagegen —
der sich von seinem an erster Stelle genannten Kunst¬
genossen hauptsächlich durch die größere Lebhaftigkeit des
Ausdrucks und der Bewegung seiner Figuren unterscheidet,
sowie durch die besondere Art der Licht- und Schatlen-
behandlung in den Gewandfalten — würden außer der
Kreuzigungsdarstellung und den übrigen Apsismalereien
der St. Gregorius-Kapelle noch die Engelvision des Kloster¬
bruders Oddo und die dekorativen Wandmalereien im
Inneren derselben Kapelle, sowie im Atrium die Gestalten
des heiligen Gregorius und des Hiob zuzuschreiben sein.
Als vollkommen irrtümlich erweist sich die in P. Toescas
Abhandlung über die Kryptafresken von Anagni ausge¬
sprochene Behauptung, der Freskenmaler der St. Gregorius-
Kapelle des Sacro Speco zu Subiaco sei ein »Frater Ro¬
manus gewesen, dessen Bildnis nebst Namensinschrift zu
Füßen der Gestalt des heiligen Petrus auf dem Apsisfresko
dieser Kapelle zu sehen sei; nach Hermanin ist dieser
Frater Romanus vielmehr lediglich als einer der Stifter
dieser Gemälde zu betrachten, ebenso wie der Frater Oddo
zu Füßen der Engelserscheinung, und wie ein dritter Mönch
zu Füßen des heiligen Franziskus. — Eine besonders ein¬
gehende Besprechung widmet Hermanin noch dem be¬
rühmten, angeblich nach dem Leben gemalten Bildnis des
heiligen Franziskus zur Rechten der Eingangstür der St.
Gregorius-Kapelle. Die Überlieferung von der Existenz
solch eines echten Franziskus-Porträts im Sacro Speco ist
ziemlich alt und geht Hand in Hand mit einer anderen,
nach der der heilige Franziskus um raiS den Subiaco-
Klöstern in eigener Person einen Besuch abgestattet haben
soll. Nun ist jedoch das fragliche, in neuerer Zeit stark
übermalte Franziskus-Porträt der St. Gregorius-Kapelle
sicherlich erst im Jahre 1228 entstanden, und zwar wurde
es augenscheinlich von demselben Künstler ausgeführt, der
auch die Freskodarstellung der Kapellenweihe durch den
Bischof Ugolino von Ostia gemalt hat. Demnach sind
beide Gemälde offenbar als Erinnerungsdenkmäler an einen
gemeinsamen Besuch des heiligen Franziskus und seines
Protektors Ugolino in Subiaco aufzufassen; dieser Besuch
selbst würde dann noch vor der kanonischen Heiligsprechung
des ersteren und vor der Papstkrönung des letzteren statt¬
gefunden haben. Auf jeden Fall ist das Franziskus-Porträt
des Sacro Speco-Klosters früher entstanden als die beiden
anderen angeblich authentischen Bildnisse des großen
Heiligen von Assisi, von denen das eine in einer Kapelle
des Klosters S. Francesco a Ripa, das andere — von 1235 —
in der St. Franziskus-Kirche zu Pescia aufbewahrt wird. —
Die Ansicht, daß der Subiacenser »Maler des heiligen
Franziskus« — also P. Toescas imaginärer »Frater Roma¬
nus — auch die Kryptafresken von Anagni gemalt haben
sollte, widerlegt Hermanin endgültig mit Hilfe einer ge¬
nauen stilkritischen Vergleichung der Fresken von Subiaco
mit denjenigen von Anagni. Allerdings haben die letzteren
auch nach seiner Ansicht eine nahe Stil- und Schulver¬
wandtschaft mit den ersteren aufzuweisen; in technischer
wie in künstlerischer Hinsicht jedoch findet Hermanin die
Fresken von Anagni denjenigen von Subiaco soweit über¬
legen, daß eine Identität des Malers von Subiaco mit dem¬
jenigen von Anagni völlig ausgeschlossen erscheine. Beide
Künstler lassen in ihren Werken lediglich eine gemein¬
same byzantinische Schulabstammung erkennen; und zwar
glaubt Hermanin feststellen zu können, daß sie nicht
selbst Orientalen gewesen seien, sondern Angehörige der
eingesessenen römischen Malerschule byzantinisierender
Richtung.
Übrigens waren — vielleicht mit alleiniger Ausnahme
des sogenannten »pittore delle Traslazioni« — alle die
zahlreichen Künstler, von denen die Krypta von Anagni
ausgemalt wurde, und ebenso diejenigen sämtlicher Sacro
Speco-Fresken vom Jahre 1228 in der Tat wohl römische
Maler, die bei aller Nachahmung byzantinischer Vorbilder
sich doch dem Einflüsse jener volkstümlichen römischen
Lokalkunst nicht zu entziehen vermochten, wie sie in der
Unterkirche von S. Clemente, in S. Urbano alla Caffarella,
im Oratorio di S. Silvestro (neben den Santi Quattro Co-
ronati) zu Rom sich triumphierend behauptet hat, und wie
sie im Subiacenser Sacro Speco selbst ein so charakteristi¬
sches Denkmal gezeitigt hat in den von einem Magister
Conxoliis inschriftlich bezeichneten Fresken der dortigen
Unterkirche. Bei Besprechung dieser letzteren Malereien
führt Hermanin den sicheren Nachweis, daß die Unter¬
kirche des Sacro Speco, ehe sie vom Magister Conxolus
neu ausgemalt wurde, bereits einen alle verfügbaren Mauer¬
flächen bedeckenden Freskenschmuck besessen haben muß,
dessen künstlerische Urheber den Freskomalern der St.
Gregorius-Kapelle augenscheinlich sehr nahe verwandt ge¬
wesen sind. Diese älteren Fresken, von denen heute nur
noch ein Lünettenbild irritden Heiligen Stephanus, Nikolaus
von Bari und Thomas von Canterbury übriggeblieben ist
(sowie außerdem noch ein fragmentarisches Bildnis des
Papstes Innozenz 111.), sind offenbar in die Zeit der Er¬
bauung der Unterkirche selbst, also in die ersten Jahre des
13. Jahrhunderts zurückzudatieren. Die gleichfalls den ge¬
samten Innenraum dieserUnterkirche schmückenden Fresken
des Conxolus dagegen können nach Hermanin erst in den
letzten zwanzig Jahren des 13. Jahrhunderts entstanden
sein. Der Schöpfer dieser Malereien offenbart sich als ein
Vertreter der traditionellen, von fremden Schuleinflüssen
völlig freien römischen Kunstweise dieser Zeit. Außer
dem vom Magister Conxolus voll signierten Lünettenbilde
mit der Madonna zwischen zwei Engeln und außer dem
dekorativen Schmuck der Architekturglieder sehen wir in
diesen Fresken eine Reihe von Szenen aus dem Leben des
heiligen Benediktus dargestellt, die uns Hermanin Bild für
Bild ausführlich erläutert. An der malerischen Aus¬
schmückung der Deckengewölbe scheint der Künstler nur
insofern Anteil gehabt zu haben, als er die von den ur¬
sprünglichen Freskodekorateuren der Unterkirche geschaf¬
fenen Gewölbeornamente neu übermalte. Sicherlich von
der Hand des Conxolus stammen schließlich noch einige
Heiligen- und Engelfiguren im ersten Teile des Verbindungs¬
ganges zwischen der Unterkirche und der Cappella di San
Gregorio; leider sind diese letzteren Malereien in späteren
Zeiten so schauderhaft überpinselt worden, daß sie heute
in ihrem ursprünglichen Charakter kaum mehr wiederzu¬
erkennen sind.
Unzweifelhaft als Trecento-Malereien sind nach Her¬
manin im Sacro Speco-Kloster die Fresken der Oberkirche,
der Scala Santa und der Cappella della Madonna zu be¬
trachten, und zwar sollen sie sämtlich von der Hand eines
einzigen, nur von seinen direkten Schülern unterstützten
Meisters herrühren. Ihrem Darstellungsinhalte nach um¬
fassen diese in kunstgeschichtlicher und kunsttechnischer,
wie auch in rein ikonographischer Hinsicht gleich inter-
DIE KLÖSTER VON SUBIACO
283
essanten Freskozyklen eine Reihe von Szenen aus der
Lebens- und Leidensgeschichte Christi und aus dem Leben
der Jungfrau Maria, so\vie außerdem zwei Totentanzbilder
(den »Trionfo della Morte« und die Historie von den drei
Lebenden und den drei Toten). Besonders bemerkenswert
ist in seiner Eigenschaft als ungemein lebendige Darstellung
gewisser Szenen aus dem mittelalterlichen Alltagsleben das
große Kirchenfresko mit der Verurteilung und der Kreuz¬
tragung Christi. Auf Grund einer genauen stilkritischen
Untersuchung aller dieser Fresken gelangt Hermanin zu
der höchst plausibel erscheinenden Schlußfolgerung, daß
der Schöpfer dieser Trecentonialereien ein dem Meister
Barna nahestehender Sienese gewesen sein müsse, der
vielleicht von dem 1363 — 1369 regierenden Abte Barto-
lomnieo III. zur Ausführung der klösterlichen Wand¬
malereien nach Subiaco berufen worden wäre. In der Tat
ist es keineswegs verwunderlich, daß zu einer Zeit, in der
durch die dauernde Verlegung des Wohnsitzes der Päpste
nach Avignon die römische Kunst einen so schweren Schlag
erlitten hatte, ein selbst aus Siena stammender Klosterabt
sich einen Maler aus seiner Heimatstadt verschrieb; denn
dort hatten wenige Dezennien vorher überragende Meister
wie Simone Martini und die beiden Loienzetti die Malkunst
zu einem so stolzen Gipfel der Entwickelung emporgeleitet,
daß die damalige sienesische Schule für auswärtige Kunst¬
bedürfnisse jedenfalls weit hervorragendere künstlerische
Kräfte zur Verfügung stellen konnte, als es der römischen
Schule jemals möglich gewesen wäre. Außerdem wird
die Ausbreitung der damaligen sienesischen Kunstströniung
bis weit nach dem Süden hinab auch sonst noch durch
die mannigfaltigsten urkundlichen Nachrichten beglaubigt,
und desgleichen auch durch zahlreiche Denkmäler siene-
sischer Wandmalerei, wie sie sich in den an der Heerstraße
zwischen Siena und Subiaco gelegenen Städten und Klöstern
— in Bolsena, in Montefiascone und in Rom selbst —
noch bis heutigen Tages erhalten haben. Übrigens hätte
Hermanin bei der vergleichenden Heranziehung derartiger
römischen Denkmäler der sienesischen Trecentokunst zur
Kontrolle seiner Behauptung, daß die Subiacenser Trecento-
fresken speziell von einem dem Meister Barna da Siena
nahestehenden Künstler gemalt sein müßten, auch die
Malereien am Ciborium von S. Giovanni in Laterano
einer vergleichenden Untersuchung unterwerfen sollen, da
diese in der Tat dem Meister Barna selbst zugeschrieben
werden.
Nachdem im Trecento die sienesische Schule einen
ihrer Jünger nach Subiaco entsandt hatte, folgte im Quattro¬
cento die umbrische Schule diesem Beispiele nach. Denn
nach Hermanins Ansicht ist es ein dem Ottaviano Nelli
da Gubbio nahe verwandter umbrischer Künstler, dem die
jetzt leider völlig übermalten Fresken der Cappella degli
Angeli im Kloster der heiligen Scholastica (gestiftet von
dem 1428 verstorbenen Bischof Ludovico von Maiorca), so¬
wie die aus der gleichen Zeit stammenden Gemälde in
der Oberkirche des Sacro Speco zuzuweisen sind. Die
Mehrzahl dieser Fresken stellt Szenen aus dem Leben des
heiligen Benediktus dar. Auch hier wieder sind neben der
Hand des leitenden Meisters mehrere etwas schwächere
Schülerhände unterscheidbar. Der Meister selbst hat augen¬
scheinlich nur das Madonnenbild über der zum alten Ka¬
pitelsaale des Sacro Speco führenden Türöffnung ausgeführt,
sowie außerdem noch die beiden prächtigen kerzentragen¬
den Engelgestalten, mit denen die eine Wandfläche in der
Oberkirche desselben Klosters geschmückt ist.
ETTORE MODIOUANI.
Die Großherzogi. Gemälde-Galerie im Augusteum
zu Oldenburg. 41 Reproduktionen in Pliotogravüre,
mit einem Vorwort und erläuterndem Text von A. Bredius
und Fr. Schmidt-Degener. — Oldenburg, Carl G. Onckens
Hofkunsthandlung, 1906.
Welche gründliche Umwälzung im Reproduktions¬
wesen, die sich in unserer Zeit vollzogen hat! Es sind
noch nicht zwanzig Jahre vergangen, seit ich in einer Folge,
»Die kleineren Gemäldesammlungen Deutschlands« betitelt,
im Aufträge der »Gesellschaft für vervielfältigende Kunst«
in Wien auch die Galerie zu Oldenburg veröffentlicht
habe. Obwohl der photographische Druck damals schon
bekannt war, wurden die Nachbildungen doch in Stichen
und Radierungen ausgeführt; war doch die Gesellschaft
gerade gegründet, um den künstlerischen Vervielfältigungs¬
verfahren gegen die immer stärker andrängenden mecha¬
nischen Reproduktionen eine Stütze zu bieten und sie neu
zu beleben. Vergeblich! Die photographischen Verfahren
haben auf der ganzen Linie gesiegt, haben sich so ver¬
vollkommnet, so mannigfache Formen angenommen, daß sie
schon jetzt imstande sind, fast jedem Kunstwerk in seiner Art
gerecht zu werden, so daß Grabstichel und Nadel nicht mehr
dagegen aufkommen können, ja dies nicht einmal mehr
versuchen. Selbst die »Wiener Gesellschaft«, die durch
Jahrzehnte einer Anzahl Künstler, verdienten und unver¬
dienten, weitergeholfen und unter Mittelgut und Geringem
auch manch schönes Blatt in Radierung und Stich ver¬
öffentlicht hat, hat seit lange auch die mechanischen Ver¬
fahren mit bei ihren Veröffentlichungen heranziehen müssen.
Aber die vielen Hunderttausende, die für Erhaltung der
alten Reproduktionsarten ausgegeben wurden, sind doch
keineswegs fortgeworfenes Geld gewesen: wenn diese
Kunst auch bei Nachbildungen von Gemälden und gar von
alten Stichen und Zeichnungen heute so gut wie beseitigt
ist, so haben doch gerade jene Aufträge die Künstler
wieder die freie Behandlung des Stichels gelehrt und haben
sie wieder auf die rechte alte Bahn geführt, zur Maler¬
radierung, zur vollen Ausnutzung aller künstlerischen Repro¬
duktionsarten für die eigenen Erfindungen und Studien.
Jene erste Publikation der Oldenburger Galerie kann
sich daher mit diesem neuen Onckenschen Werke nicht
vergleichen, obgleich darin schon die meisten Bilder, die
hier reproduziert sind, wiedergegeben sind. Denn diese
mechanischen Abbilder geben die Originale nahezu treu
wieder; sie haben zugleich den Vorzug gleichmäßiger
guter Durchbildung und einen Ton, der dem des Originals
möglichst nahe zu kommen sucht. Der Text, den Bredius
für die Gemälde des 17. Jahrhunderts, Schmidt für die
des 15. und 16. Jahrhunderts verfaßt hat, gibt neben der
künstlerischen Wertschätzung und kunsthistorischen Er¬
läuterung manche wertvolle neue Fingerzeige, die man aus
der Publikation, der wir die weiteste Verbreitung wünschen,
kennen lernen möge. Hier sei es mir gestattet, gewisser¬
maßen zur Ergänzung des kurzen Abrisses über die Ge¬
schichte der Oldenburger Galerie, zwei Männer namhaft
zu machen, die besonderes Verdienst um die Zusammen¬
bringung derselben haben : den 1 qoo verstorbenen Großherzog
Peter und Otto Mündler. Der Großherzog ist der eigent¬
liche Gründer der Galerie, wie wir sie heute vor uns sehen:
er hat den Bau veranlaßt und zum Teil aus seinen Mitteln
bezahlt; er hat aus den Schlössern zusammengesucht, was
noch an guten Bildern darin versteckt war; er hat vor
allem die systematische Vervollständigung angestrebt und
bis zu einem gewissen Grade mit Glück durchgeführt. Die
Erwerbungen für die Galerie machte Großherzog Peter
durch seinen Kammerherrn Freiherrn von Alten, aber der
Ratgeber bei den Ankäufen war ein deutscher Kunst¬
händler in Paris, Otto Mündler. Mündler ist uns älteren
Kunsthistorikern durch seine kritischen Beiträge zu Burck-
hardts »Cicerone« (2. Aufl.) wie durch seinen Essay über
die italienischen Meister im Louvre bekannt. Aber der
treffliche deutsche Gelehrte hat nach anderer Richtung eine
Tätigkeit entwickelt , wegen der er neben den großen
Museunisschöpfern des vorigen Jahrhunderts genannt zu
werden verdient. Als Hauslehrer in Paris in dem Flause
des Sammlers Questier zur alten Kunst erzogen, hatte er,
da ihm keine Gelegenheit ward, sein Wissen in einer Stellung
an einer öffentlichen Sammlung zu verwerten — gleich¬
zeitig mit ihm lebte und verkam in Paris, in einer unter¬
geordneten Stellung an der Bibliotheque nationale, ein
anderer Bahnbrecher in unserer jungen Wissenschaft,
Eduard Koloff — , als Bilderhändler sich etabliert. Aber
dieser Handel widerstrebte seinem geraden, biederen Cha¬
rakter; er suchte der jungen Berliner Galerie als Unter¬
händler, namentlich bei Ankäufen in Italien, nützlich zu
sein. Allein Waagens unglückliche Reise nach Italien im
Jahre 1841, von der er, außer einigen damals nicht be¬
achteten Renaissancebildwerken, kaum Ein gutes Stück
mitbrachte, hatte hier völlig deprimiert. Alles Geld wurde
seither auf Gipsabgüsse verwendet; um die Abgüsse der
Rossebändiger anfertigen zu lassen, lehnte man den Ankauf
der herrlichen Woodbornschen Sammlung von Zeichnungen
Raffaels und Michelangelos ab, die nicht mehr gekostet
hätte, wie jene beiden Abgüsse! Damals wurde Mündler
mit dem rührigen Direktor der Londoner National Gallery,
Sir Charles Eastlake, bekannt, und was er der Berliner
Galerie vergeblich angeboten hatte, wurde ihm jetzt von
London entgegengebracht: im Jahre 1857 trat er als Unter¬
händler in den Dienst der National Gallery. Namentlich
Italien wurde seine Domäne. Monate hindurch durch¬
stöberte er hier alljährlich die Privatsammlungen und
Kirchen, und wenn dann Eastlake im Herbst oder Früh¬
ling nach Italien kam, wurde die Auswahl getroffen aus
dem, was Mündler vorher ausgehandelt hatte. Sieben Jahre
lang, von 1857 bis 1863, ist dieser so für die National Gallery
tätig gewesen; ihm weit mehr als Eastlake, der den Ruhm
dafür erntete, verdankt diese Sammlung ihre großen Meister¬
werke der italienischen Schule, namentlich aus dem 15. und
16. Jahrhundert. Später ging Mündler wieder nach Paris
und suchte hier, wo er es konnte, deutschen Galerien und
deutschen Sammlern behilflich zu sein. So gerade der
Oldenburger Galerie; zuerst im Jahre 1867, als die große
Sammlung des Grafen Schönborn-Pommersfelden dort ver¬
steigert wurde, ln den folgenden Jahren bis zu seinem
Tode 1870 hat Mündler in Paris wie in Italien durch
Erwerbungen für mäßiges Geld die Galerie um kleine
Perlen der italienischen Schule zu bereichern verstanden.
Ehre dem Andenken dieses Mannes, der in der Diaspora,
in den bescheidensten Verhältnissen, sein Deutschtum stets
hochgehalten und ihm Ehre gemacht hat. Bode.
Herausgeber und verantwortliche Redaktion: E. A. Seemann, Leipzig, Querstraße 13
Druck von Ernst Hedrich Nachf., a. m. b. h., Leipzig
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BESALÜ, DIE SPUREN EINES MITTELALTERLICHEN GRAFEN¬
GESCHLECHTES IN DEN ÖSTLICHEN PYRENÄEN
Von Alfred Demiani in Barcelona
IN leuchtender, von keiner
Wolke getrübter Herbsthimmel
wölbt sich über Nord-Catalu-
nien; braune, zerklüftete Berge,
an deren Abhängen sich die
bunten Farben des welkenden
Laubes mit dem dunklen Grün
der Steineichen und dem silber¬
nen Grau der Oliven mischen,
werfen lange Schalten in die
sonnige Landschaft. Am Hori¬
zont glänzt der frische Schnee der Pyrenäen.
Seit Stunden trotten die drei, in einer Reihe vor
einander gespannten Maultiere auf der Landstraße von
Gerona, rollt der zweirädrige Postwagen, dessen großes
leinenes Schutzdach auf und nieder schwankt, vorüber
an Banolas und seinem anmutigen kleinen See, um
sich jetzt endlich seinem Ziel zu nähern.
An dem Vereinigungspunkt zweier tiefeingeschnit¬
tener Flußtäler (Fluvia und Capellada) steigen Felsen
empor; auf den Felsen, mit dem Gestein halbver¬
wachsen, drängt sich ein Gewirr grauer und brauner
Häuser; über den Dächern erheben sich die runden
Absiden uralter Kirchen und schwerfällige vierkantige
Türme; hier und dort leuchtet zwischen dem alten
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XVIII. H. 12
Gemäuer, wie eine fröhliche Blume, eine rote cata-
lanische Mütze.
Der Wagen passiert die hoch und kühn gewölbte
Brücke, welche kaum breit genug für die Spur der
Räder ist; dann ein kurzer Zuruf des Kutschers, und
im Galopp geht’s durch den engen Torbogen, durch
die schmale, bergansteigende Gasse; der rot und gelbe
Kopfputz der Maultiere tanzt, die Schellen klingen;
der Kutscher schreit und knallt mit der Peitsche; die
Passanten springen zur Seite; Hühner flattern und
gackern; Gelächter und frohe Gesichter im Wagen,
Gelächter und frohe Gesichter in den Türen und an
den Fenstern, und das staubbedeckte Fuhrwerk hält
auf der kleinen Plaza von Besalü.
Ich glaube, es wird nicht viele unter den
Lesern dieser Zeitschrift geben , welche schon etwas
von dem stillen Pyrenäenstädtchen gehört haben.
Im Baedeker ist nicht einmal der Name erwähnt.
Es ist dies gerade ein Hauptreiz des Reisens südlich
der Pyrenäen, daß uns hier in vielen Fällen die
Möglichkeit geboten wird, selbständig kleine Ent¬
deckungsfahrten zu unternehmen, da die sonst so
zuverlässigen roten und braunen Reisebegleiter ganz
39
BESALU, DIE SPUREN EINES MITTELALTERLICHEN QRAFENGESCHLECHTS
2 86
oder teilweise versagen. Aber mitunter sind doch
Ortschaften, deren Besuch den Kunsthistoriker in der
angenehmsten Weise überraschen würde, wenigstens
dem Namen nach, als Bahnstation, mit genauer An¬
gabe der Kilometerzahl bis zur nächsten größeren
Stadt, aufgeführt (denn diese Zahlen liefert ja, selbst
für Spanien, das Kursbuch). Da Besalii aber nicht
Bahnstation ist, ist ihm auch diese Ehre nicht zu¬
teil geworden.
Und doch hat sich hier während der Jahrhunderte,
als sich unter der Araberherrschaft in den entlegenen
und rauhen Gebirgstälern der Halbinsel die Neuge¬
burt einer weltbeherrschenden Rasse vorbereitete, ein
bedeutsames Stück Geschichte abgespielt; die eigen¬
artigen und zum Teil wohlerhaltenen Baudenkmäler
der Stadt erzählen uns von Kunst und Kultur am
Anfang unseres Jahrtausends.
Die Geschichte der einstigen Grafschaft Besalii
erscheint mir hinreichend interessant, um sie kurz zu
skizzieren, ehe ich mich der kunsthistorischen Wür¬
digung der uns aus jener Zeit erhaltenen Bauten zu¬
wende.
Als die Araber in der Schlacht von Xeres de la Fron¬
tera (711) die Kriegsmacht der Westgoten vernichtet
hatten und im Verlauf von drei Jahren, ohne auf er¬
heblichen Widerstand zu stoßen, die Pyrenäen er¬
reichten, bedeutete dies für den größten Teil der Be¬
wohner der Halbinsel, bei der hohen Kultur und re¬
ligiösen Toleranz der Eroberer, kaum eine Verschlech¬
terung ihrer Lage. Die meisten scheinen sich auch
diesem Wechsel in der Fremdherrschaft gegenüber
vollkommen indifferent verhalten zu haben. Nur in
den schwer zugänglichen und infolge ihrer klima¬
tischen Verhältnisse für die Araber wohl auch wenig
verlockenden Gebirgen Nord-Spaniens, wo sich ver¬
mutlich Trümmer des gotischen Heeres wiedervereinigt
hatten, begegnen wir bereits im zweiten und dritten Jahr¬
zehnt des 8. Jahrhunderts den ersten Versuchen einer
neuen christlichen Staatenbildung und können das Er¬
wachen der Idee einer Rückeroberung
beobachten.
Und wie die Geschichte von Castilien
in den Schluchten und Höhlen von Asturien
ihren Anfang nimmt und sich mit dem
Namen des gotischen Nationalhelden Pelayo
verknüpft, so weiß die catalanische Über¬
lieferung von einem Goten Quintilian zu
berichten, der um das Jahr 740 in den
östlichen Pyrenäen lebte, sich als Flerr von
Mongrony bezeichnete und eine Erhebung
der Christen in der Gegend von Campro-
don, also im Norden der späteren Graf¬
schaft Besalü, veranlaßte. Gleichzeitig
begegnen wir der sagenhaften Figur des
Otger Catalön mit seinen neun Barones
de la Fama«, welche in den Stammbäumen
catalanischer Geschlechter eine wichtige
Rolle spielen.
Jedenfalls kann man wohl mit Bestimmt¬
heit behaupten, daß die Gegend von Besalü,
das obere Flußgebiet der Fluvia und des Ter^), eine
Schutz- und Heimstätte christlicher Kultur gewesen ist,
und daß in diesen Tälern die Herrschaft des Halb¬
mondes kaum länger als ein Menschenaller gewährt hat.
Die Felsen, welche heute die Häuser von Besalü tragen,
mögen in jenen Tagen des Kampfes eine bedeutsame
Talsperre gewesen sein, und höchst wahrscheinlich
ist die Burg von Besalü bereits damals entstanden.
Die Christen im nordöstlichen Spanien erhielten
bald einen mächtigen Bundesgenossen in Karl dem
Großen, so daß nach Begründung der spanischen
Mark (801) durch den späteren Kaiser, Ludwig den
Frommen die Fterrschaft des Christentums in den heuti¬
gen Provinzen Gerona und Barcelona gesichert schien.
Bereits anläßlich der ersten Expedition Karls des
Großen nach Spanien (778) wird eines Grafen Odilon
von Besalü Erwähnung getan ; wir wissen von dem¬
selben Grafen, daß er 785 das Kloster von Banolas
gegründet hat; und endlich begegnen wir dem Namen
Besalü aufs neue gelegentlich der Einteilung der
spanischen Mark in Grafschaften.
Unter den Nachfolgern Karls des Großen bildet
die spanische Mark anfangs einen Teil des Herzog¬
tums Septimanien, später ist sie ein von dem König¬
reich Aquitanien abhängiges Lehn.
Seit der zweiten Hälfte des g. Jahrhunderts wird
die Bezeichnung Marca Catalana« gebräuchlich, deren
Grafen, jedenfalls nach wie vor gotischer Abstammung,
ausgesprochene Abneigung gegen die Suzerän ität
fränkischer Könige und ein deutlich erkennbares Streben
nach Autonomie an den Tag legen, ja sogar kein Be¬
denken tragen, die Hilfe der Araber gegen ihre Lehns¬
herren in Anspruch zu nehmen.
Im Abschluß dieser Bewegung steht der Stamm¬
vater der souveränen Grafen von Barcelona, Wifred
»lo Pilos«2) oder »el Velloso«“), dessen Geschlecht
1) Beide münden zirka 100 km nördlich Barcelona ins
Mittelmeer.
2) Catalanisch
3) Castilianisch, beides bedeutet »der Behaarte«.
Gesamtansiclit von Besalü
BESALU, DIE SPUREN EINES MITTELALTERLICHEN QRAEENGESCHLECHTS
287
Das Kreuz von Besalu
später die königliche Krone von Aragon mit der Orafen-
krone vereinigte und im Mannesstamm ohne Unter¬
brechung bis zum Anfang des 15. Jahrhunderts regierte.
Ihm gelang es, nachdem er durch einen ent¬
scheidenden Sieg im Tale des Ter über die Araber’),
welche, unter Ausnutzung der regellosen politischen
Zustände in der spanischen Mark wieder bis zu den
Pyrenäen vorgedrungen waren, den Bestand seines
Besitzes gesichert hatte, von Karl dem Kahlen, zum
Dank für erfolgreiche Hilfeleistung gegen die Nor¬
mannen, die von seinen Vorgängern vergeblich und
unter schwerer Schädigung des Landes angestrebte
Unabhängigkeit zu erhalten.
Wifred ist eine jener Gestalten des frühen Mittel¬
alters, um welche die Sage ihren Schleier gewoben
hat, und deren gigantischer Schatten, können wir
auch die Züge nicht mehr deutlich erkennen, sich
über Jahrhunderte erstreckt. Wie sich die Legende
des Wappens von Catalunien, der vier roten Balken im
goldenen Eeld, mit seinem Andenken verbindet“), so
lebt seine Persönlichkeit fort in der Sehnsucht nach
Ereiheit und Unabhängigkeit der heutigen Catalanen.
Bei seinem Tode (902) verteilte er, um die Eort-
dauer der jungen Dynastie zu sichern, die Grafschaften
seiner nördlich und südlich der Pyrenäen gelegenen
Besitzungen an seine Söhne und an nahe Verwandte
des Hauses.
Seit dieser Zeit regiert in Besalu eine jüngere
Linie des gräflichen Hauses von Barcelona, deren
Mannesstamm jedoch nach zwei Jahrhunderten erlischt.
1) Seit dieser Niederlage haben die Araber die östlichen
Pyrenäen nicht wieder betreten, während Barcelona 985
nochmals von ihnen erobert wurde.
2) Karl der Kahle soll nach dem Sieg über die Nor¬
mannen seine Hand in das Blut des verwundeten Grafen
getaucht und vier Streifen auf dem Schild des getreuen Lehns¬
mannes gezogen haben.
Die Regierungszeit der erblichen Grafen von
Besalu, welche, je nach der politischen Lage, ihre
Unabhängigkeit von Barcelona mehr oder weniger
zu wahren wußten, ist derjenige Zeitabschnitt, wo
wir von einer Geschichte von Besalu im eigentlichen
Sinne sprechen können, und an jene Tage einstigen
Glanzes werden wir erinnert, wenn wir die Straßen
des weltvergessenen Städtchens durchwandern.
Aus der Reihe der elf Grafen sind es vor allem
zwei Persönlichkeiten, welche unser Interesse fesseln,
und deren Bautätigkeit und Munifizenz die Stadt ihr
charakteristisches Gepräge verdankt; Miron (968 — 84)
und Bernhard I. Tallaferro (990 — 1020).
Miron war wohl ursprünglich kaum für den
Herrscherberuf bestimmt gewesen ; er hatte vielmehr
die geistlichen Weihen erhalten. Doch da zwei seiner
Brüder ohne Erben starben, gelangte er zur Regierung,
und wir haben das merkwürdige Schauspiel, daß er
die Würde eines Bischofs von Gerona mit der eines
Grafen von Besalii vereinigt. In seiner doppelten
Eigenschaft als geistlicher und weltlicher Eürst be¬
suchte er 983 ein Konzil in Rom und wußte vom da¬
maligen Papst, Benedikt VII., wichtige Privilegien für
die geistlichen Stiftungen seiner Heimat zu erlangen.
Bernhard I. ist einer der nationalen Helden der
RecoiK|uista. Seinen Beinamen Tallaferro’) verdankt
er dem im Kampf gegen die Ungläubigen erlangten
Waffenruhm. Vermutlich hat er sich an der Expedi¬
tion der catalanischen Ritterschaft nach Cordoba (1010)
beteiligt, welche infolge von Thronstreitigkeiten im
Kalifat von einer der rivalisierenden Parteien zn Hilfe
gerufen worden war”).
1) Gleichbedeutend mit dem, durch Uhlauds Ballade
bekannten französisch-normannischen »Taillefer .
2) Es fielen damals unter anderen drei christliche
Bischöfe im Kampf für die Interessen eines nmhameda-
nischen Prätendenten.
39
288
BESALU, DIE SPUREN EINES MITTELALTERLICHEN GRAFENGESCHLECHTS
Um Bedeutung und Selbständigkeit seines Terri¬
toriums zu erhöhen, vor allem aber um sich dem
Einfluß der Bischöfe von Gerona und Vieh zu ent¬
ziehen, plante er die Errichtung eines eigenen Bis¬
tums für die Grafschaft. Er unternahm zu diesem
Zweck mit seinen Söhnen Wilhelm und Wifred 1016
eine Romfahrt, und es gelang ihm auch, die päpst¬
liche Zustimmung zu erhalten, infolge deren er
seinen Sohn Wifred zum ersten Bischof von Besalii
weihen ließ.
Als Zeichen des päpstlichen Wohlwollens für das
junge Episkopat brachte er, als ein Geschenk Bene¬
dikts VIII., der ihn in einer
Bulle als geliebten Sohn
und glorreichen Grafen
von Besalü bezeichnet,
das lignum crucis oder
auch vera cruz von Be¬
salü aus Italien zurück,
eine Reliquie in Form des
Kreuzes von Caravaca ^),
welche bis vor kurzem in
Besalü verehrt wurde und
auch im Wappen der Stadt
Aufnahme gefunden hat.
Das kostbare, der Form
1) Patriarchenkreuz.
des Kreuzes angepaßte Behältnis war, soviel ich aus
Abbildungen habe ersehen können , vermutlich eine
Arbeit des 1 3. Jahrhunderts. Leider ist das durch Alter
und Tradition geheiligte Wahrzeichen im Winter i8gg
durch räuberische Hände entwendet worden und seit¬
dem spurlos verschwunden; vielleicht wird es nach
Jahren einmal in einem Museum oder einer Privat¬
sammlung wieder auftauchen.
Das Bistum von Besalü war nur von kurzer Dauer.
Nach Tallaferros Tode, der in seinem Testament bereits,
um den Krummstab neben der Grafenkrone seinem
Hause zu sichern, seinen jüngeren Sohn Heinrich als
späteren Nachfolger be¬
stimmt hatte,wurde Wifred
mitdem Bistum von Carcas-
sonne entschädigt, und der
neubegründete Bischofs¬
stuhl blieb, vermutlich auf
Betreiben der geistlichen
Herren von Gerona und
Vieh, unbesetzt. Der erste
Bischof von Besalü war also
auch sein letzter gewesen.
Bernhard Tallaferro
fand auf der Brautschau
für seinen ältesten Sohn
und Nachfolger den Tod
in den Wellen des Rhone.
A Apsis — B Fassade — C AKarplalz
C BESALU, SANTA MARIA O
A Apsis — B Detail eines Pfeilers — C Nördüclie Seitenpforfe ~ D Maupteingang
290
BESALU, DIE SPUREN EINES MITTELALTERLICHEN ORAFENGESCHLECHTS
Der glänzendste Vertreter des Geschlechtes hatte
ein unerwartetes und frühes Ende gefunden. Der
Widerhall der allgemeinen Trauer hat sich uns in
einem Rundschreiben des Abtes Oliva von Ripoll,
Bruders des Entschlafenen, an die Geistlichkeit erhalten,
welches von dem Unglücksfall Kenntnis gibt und
dem Verstorbenen unter anderem folgende Eigen¬
schaften nachrühmt: .... nulli suo tempore pie-
tate secundus, acer in armis, corpore pulcher aspectu
decorus, .... eloquens lingua . . . .<
Seine Nachfolger scheinen auch weiterhin znm
päpstlichen Stuhl in guten Beziehungen gestanden zu
haben. Daß die Grafen viel für den Klerus taten,
dafür sprechen allenihalben in ihrem einstigen Bann¬
kreise die zahlreichen Kirchen- und Klosterbaulen im
Rundbogenstil. (Ich möchte hier nur als einige unter
vielen, Porqueras, San Juan de las Abadesas, vor
allem aber Ripoll, anführen, dem ich am Schlüsse
noch einige Zeilen widmen werde.) Daß sie aber
auch gut römisch gesinnt waren, bezeugt ein für Be-
salü historischer Vorgang. Als das durch Gregor Vll.
nach Gerona berufene Konzil, welches der Simonie
und LJnsittlichkeit der Geistlichkeit steuern sollte, durch
die Intrigen des Erzbischofs von Narbonne gestört wurde,
öffnete die Grafenstadt an der Fluvia dem päpstlichen
Legaten ihre Tore, so daß die Verhandlungen im
Schutze ihrer Mauern unbehelligt fortgesetzt werden
konnten (1077).
Doch Bruderzwist und Brudermord, die nicht un¬
gewöhnlichen Begleiterscheinungen mittelalterlichen
Feudalwesens, schädigen Ansehen und Bedeutung des
Ländchens; der Glanz- und Höhepunkt gehört ent¬
schieden schon der Vergangenheit an; bis endlich 1111
der letzte Graf von Besah!, Bernhard III., die Augen
schließt, und die Grafschaft dauernd mit Barcelona-
Catalunien vereinigt wird.
Über die spätere Geschichte von Besah! ist nicht
mehr viel zu berichten. Der Handel blühte im Mittel-
alter durch Export seiner Woll- und Textilprodukte,
begünstigt durch die zunehmende Bedeutung der ca-
talanischen Hafenplätze, welche ihrer Zeit zu den
ersten des Mittelmeeres zählten L) Als reiche Stadt
gehörte es wiederholt zur Morgengabe aragonesischer
Könige an ihre Gemahlinnen.
Später verliert es durch Austreibung der Juden, Ent¬
deckung von Amerika und durch die Vernachlässi¬
gung Catahmiens seitens der spanischen Krone an
Reichtum und Bedeutung.
Infolge seiner strategisch wichtigen Lage am Ein¬
gänge zweier Flußtäler und am Vereinigungspimkt dreier
wichtiger Straßen hat es in der Kriegsgeschichte häufig
eine Rolle gespielt. Erdbeben (1427 und 28) haben das
alte Gemäuer erschüttert; der Bauernaufstand (1462),
vor allem aber in neuerer Zeit der Unabhängigkeits¬
kampf gegen Frankreich und die Karlistenkriege haben
manches zerstört und uns das von Besah! gelassen, was
heute noch unser Interesse in Anspruch nimmt.
asLand der Überraschungen
könnte man Spanien nennen,
im guten, mitunter ja aller¬
dings auch im üblen Sinne
des Wortes. Doch dem
Kunsthistoriker zeigt es sich
eigentlich immer nur von
der angenehmsten Seite.
Nicht nur, daß er hier
Kunstwerke und architek¬
tonische Monumente findet,
die sich mit nichts im übrigen Europa vergleichen
lassen, es gibt hier auch halbvergessene Ortschaften,
welche das Gepräge eines bestimmten Zeitabschnittes
mit einer geradezu verblüffenden Treue bewahrt haben.
Das erstere verdanken wir der eigenartigen ge¬
schichtlichen Vergangenheit des Landes und dem
Einfluß der verschiedenen, sich hier begegnenden Kul¬
turelemente; das letztere ist dem konservativen Sinn
des Spaniers, seiner in unserer hastigen und nervösen
Zeit geradezu vorbildlichen Faulheit und Indolenz
und der ihm angeborenen Ehrfurcht vor seinen reli¬
giösen und historischen Traditionen zuzuschreiben.
Hierzu kommt, wenn wir Spanien lediglich mit
Italien vergleichen, daß auf der pyrenäischen Halb¬
insel die Renaissance bei weitem nicht die Rolle ge¬
spielt hat, wie am Fuße der Apenninen, sich also
hier vieles aus dem Mittelalter erhalten konnte, was
dort einem neuen Schönheitsideal zum Opfer fiel
oder auch in geschmacklosester und verständnislose¬
ster Weise verunstaltet wurde“).
Besah! gehört zu dem an zweiter Stelle erwähnten
Genre kunsthistorischer Merkwürdigkeiten in Spanien.
Das kleine Felsennest weiß uns nur zu erzählen von der
Regierungszeit seiner Grafen, von den Tagen des
Bischofs Miron und des Kriegshelden Bernhard Talla-
ferro, des getreuen und diplomatischen Sohnes der
Kirche.
Zugegeben, daß in Spanien selbst, vor allem aber
in Frankreich und Deutschland, einzelne hervor¬
ragendere und glänzendere Schöpfungen des gleichen
Zeitabschnittes Vorkommen, so wird man als stimmungs¬
volles und harmonisches Gesamt- und Zeitbild etwas
ähnliches nicht leicht wiederfinden.
Es soll hier nicht in spitzfindiger Weise erörtert
werden, ob der Stil der Bauwerke von Besah! als
romanisch, römisch-byzantinisch oder latino-romanisch
zu bezeichnen wäre. Es genügt wohl festzustellen,
daß sie zum Teil bereits Ende des 10. Jahrhunderts
begonnen, in der Hauptsache aber während des
11. Jahrhunderts zu Ende geführt worden sind.
1) Catalimien hat bereits im 13. Jahrhundert eine Acta
de navigacion«, welche für die Schiffahrt der Neuzeit von
grundlegender Bedeutung geworden ist.
2) Z. B. Dom von Palermo.
BESALU, DIE SPUREN EINES MITTELALTERLICHEN GRAFENQESCHLECHTS
2gi
Nimmt man im allgemeinen das Jahr looü als
Geburtsjahr des romanischen Stils an, da damals die
Menschheit, befreit von dem auf ihr lastenden Alb,
dem Glauben an den bevorstehenden Weltuntergang,
aufatmete, und die Kirche, welche natürlich von der
Situation profitiert hatte, eine ausgedehnte Bautätigkeit
beginnen konnte, so würden wir es hier mit Konstruk¬
tionen aus den ersten Tagen dieser Bauweise zu tun
haben. Dasselbe gilt, wenn man der Behauptung
Quicherats beipflichtet: »Le principal caractere de
Tarchitecture romane c’est la voüte« *).
Es ist noch nicht der romanische Stil des 12. Jahr¬
hunderts mit seinen prunkvollen, reichgegliederten,
von innen nach außen sich erweiternden Portalen
und dem zierlichen Ornament seiner Kapitäle. Man
weiß noch nicht durch Aneinanderreihung auf Säulen
ruhender Bogenfenster dem Kircheninneren reichlich
Licht zuzuführen. Der Architektur fehlt die Abge¬
schliffenheit, Feinheit lind Sicherheit einer zielbewußten
Geschmacksrichtung und die Routine künstlerischer
Erfahrung.
Die sich mehr und mehr ihrer Macht bewußt
werdende römische Kirche ist noch bei der Arbeit,
sich unter Benützung dessen, was die Völkerwande¬
rung von römischen Bauwerken übrig gelassen, und
dessen, was in Byzanz bereits seit Erhebung des
Christentums zur Staatsreligion Neues entstanden war,
einen eigenen Stil zu schaffen. Es ist der Stil des
Jahrhunderts Gregors VIL, die Knospe, welche sich
nach zweihundertjähriger Fortentwickelung zur präch¬
tigen Blüte, der Gotik, der einzigen wahrhaft christ¬
lichen Kunstform, entfalten sollte.
Ich möchte hier nochmals Quicherat zitieren, der
meiner Meinung nach in trefflicher Weise das Wesen
der romanischen Kunst präzisiert: »L’architecture ro¬
mane est celle qui a cesse d’etre romaine, quoiqu’elle
tienne beaucoup du romain, et qui n’est pas encore
gothique,quoiqu’elle aitdejä quelque chosedegothique«.
In erhöhtem Maße gilt der erste Teil dieses
Satzes für das 11., der zweite Teil für das 12. Jahr¬
hundert.
An römischen Vorbildern hat es natürlich auch
in Spanien, zumal an der Mittelmeerküste, nicht ge¬
fehlt. Für unseren speziellen Fall könnten im be¬
sonderen Rosas und Ampurias in Betracht kommen;
nördlich der Mündung der Fluvia gelegen, waren sie
bereits griechische, später römische Kolonien. Auch
Besalü selbst hat im Altertum unter dem Namen
Bisuldinum existiert.
Beziehungen zur byzantinischen Kunst sind wohl
vor allem durch die Expeditionen Karls des Großen an¬
geknüpft worden, der ja den Verkehr mit dem östlichen
Kaiserreich eifrig pflegte, um den Weg für Kultur
und Kunst nach seinen nordischen Wäldern zu bahnen.
Hierzu kommt ein drittes Element, der Einfluß
des Orients, dem die übrigen europäischen Völker
durch die Kreuzzüge näher gebracht werden sollten,
der sich aber in Spanien schon seit Jahrhunderten
in intensivster Weise geltend macht. Doch ist dies
eigentlich nur ein Ring, der sich schließt; denn
die Baumeister des Kalifats von Cordoba waren
mehr oder weniger auch bei Byzanz in die Lehre
gegangen.
Spanien ist ziemlich arm an frühromanischen
Bauten. Die geschichtliche Erklärung hierfür ist nicht
schwer zu finden, wenn man sich durch einen Blick
auf die Karte vergegenwärtigt, auf welch enges Ge¬
biet sich die christlichen Staaten vor dem Kreuzzug
Alfons’ VI. von Castilien und der Eroberung von
Toledo (1085), der ersten entscheidenden Tat der
Reconquista, beschränken mußten. Gleichzeitig bietet
sich uns ein, Anhalt dafür, in welchen Provinzen wir
christliche Monumente aus den ersten Jahrhunderten
der arabischen Okkupation suchen können.
■■a :l-
Unter den Gebäuden von Besahi sind es in erster
Linie seine drei Kirchen, welche unsere Aufmerksam¬
keit in Anspruch nehmen.
Die älteste unter ihnen ist zweifelsohne die von
San Pedro , der letzte Rest einer einst mächtigen
Abtei. Nachdem hier bereits seit 823 ein Kloster be¬
standen hatte, das aber durch die Araber zerstört
wurde, gründete Miron an der gleichen Stelle ein
Benediktinerkloster (977), welches er direkt unter den
Schutz des heiligen Stuhles stellte, und dessen Abt
das Privilegium selbständiger Rechtsprechung ver¬
liehen wurde. Die Kirche wurde erst nach dem
Tode des Stifters, und zwar am 23. September 1003,
durch die Bischöfe von Gerona, Vieh und Barcelona
in Anwesenheit des Grafen Tallaferro geweiht. Sie
ist uns fast unverändert erhalten geblieben.
Die Westfront bringt die innere Gliederung in
schlichter, doch monumentaler Weise zum Ausdruck.
Das Hauptportal ist hinsichtlich des Ornaments sehr
einfach gehalten, während das darüber befindliche
große Fenster, vermutlich um einigejahrzehnte jüngeren
Datums, bereits reichere Ausstattung, sowie für den
späteren romanischen Stil charakteristische Merkmale
aufweist und durch die beiden flankierenden Löwen
sehr dekorativ wirkt.
Das Innere hat, wenn auch der Gesamteindruck
durch die barocke Bemalung und Ausstattung des
Altarplatzes einigermaßen beeinträchtigt wird, wesent¬
liche bauliche Umgestaltungen nicht erfahren und ist
ein ausgezeichnetes Beispiel für die kleinen, an¬
spruchslosen und doch so eindrucksvollen Gottes¬
häuser jener Zeit, deren Baumeister mit der Kon¬
struktion des Gewölbes noch wenig vertraut waren.
Man wagt die stützenden Seitenmauern nur mit
schmalen, schießschartenähnlichen Fenstern zu durch-
brechetU); die Hauptlichtquellen sind die Fenster in
den Giebelwänden; das Problem, die Dimensionen
des Raumes bei größter Leichtigkeit der Formen un¬
beschadet der Dauerhaftigkeit zu erweitern, ist noch
nicht gelöst.
1) Jules Quicherat, Melanges d’archeologie et d’histoire.
1) Das Mittelschiff hat nur auf der Südseite Fenster.
292
BESALU, DIE SPUREN EINES MITTELALTERLICHEN GRAFENGESCHLECHTS
Die miltleren Pfeiler der Fluviabrücke
AUS BESALU
San Vicenle
Hospital
Calle del Conde Tallaferio
BESALU, DIE SPUREN EINES MITTELALTERLICHEN GRAFENGESCHLECHTS
293
Die Disposition der einzelnen Teile ist einfach
und klar; sie besteht aus erhöhtem Mittelschiff mit
halbrundem Tonnengewölbe, welches auf von sechs
schweren, quadratischen Pfeilern gestützten Bogen
ruht, aus den beiden, sehr schmalen Seitenschiffen,
deren Gewölbe, in Form von Viertelkreisbögen, sich
an das Hauptschiff anlehnen und aus einem, die
Seitenwände wenig überragenden Transsept. Bei der
halbkreisförmigen, doppelten Apsis kommuniziert der
äußere Halbkreis, welcher die Fortsetzung der Seiten¬
schiffe bildet, mit dem inneren, dem eigentlichen
Altarplatz, mittels offener Rundbögen, welche von
vier Säulenpaaren getragen werden. Die Kapitale sind
beachtenswert, sind aber leider im 18. Jahrhundert
vergoldet worden. Von dem Kreuzgang, der sich an
der Südseite der Kirche anschloß, in der Franzosen¬
zeit aber zerstört wurde, sind nur wenige, kaum er¬
wähnenswerte Reste geblieben.
Ein Opfer der nämlichen Kriegsjahre ist auch die
einstige Hauptkirche von Besalu, Santa Maria, ge¬
worden, deren immer noch imposante Ruinen sich
an der höchsten Stelle der Stadt erheben. Hier hat
sie einst neben der jetzt gleichfalls in Trümmern
liegenden gräflichen Burg, von der sich nur noch ein
einziger wuchtiger Turm aufrecht erhalten hat, weit
ins Land hinausgeblickt.
Ursprünglich hat wohl hier oben nur eine kleine
Palastkapelle existiert. Einer Kirche auf dem Kastell
von Besalu wird zum erstenmale unter Miron Er¬
wähnung getan, auf dessen Veranlassung hier Augus¬
tiner installiert wurden.
Die Bedeutung der Schloßkirche wurde wesent¬
lich durch Begründung des Bischofssitzes erhöht; sie
wurde dadurch zur Episkopalkirche und Kathedrale.
Während früher ihre Bezeichnung als »San Miguel«
oder auch »San Salvador« wechselt, wird sie jetzt
der Himmelskönigin geweiht. Vermutlich wurde auch
in diesen Jahren ein Neubau begonnen. Historische
Unterlagen sind hierfür nicht vorhanden; doch abge¬
sehen von architektonischen Details, welche auf eine
spätere Konstruktion, als die von S. Pedro, schließen
lassen, wird diese Vermutung gestützt durch die
Notiz, daß im Jahre 1055 die Kirche auf der Burg
von Besalu durch den Bischof von Gerona geweiht
wurde. Ferner liegt ein Dokument aus dem Jahre
1029 vor, laut dessen das Kloster von S. Pedro von
allen Dienstleistungen für die Bauaibeiten auf der
Burg entbunden wird. Es müssen mithin auf jeden
Fall in der' ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts um¬
fassende bauliche Veränderungen auf dem Schloß-
berg stattgefunden haben, welche sich auch auf die
Kirche erstreckt haben dürften, da sich eine Neu¬
weihung nötig machte.
Der Grundriß von Sta. Maria ist bereits kompli¬
zierter als der von S. Pedro, und an den Pfeilern sind
Halbsäulen mit sorgfältig ausgeführten, antikisierenden
Kapitälen angefügt.
Erhalten geblieben sind uns, abgesehen von
weniger beachtenswerten Resten, der östliche Teil
mit den drei Apsiden und Turm, eine Partie der
Nordwand mit hübscher Seitenpforte und das Haupt¬
portal, dessen Lünette ein gut ausgeführtes Relief,
Christus umgeben von den Symbolen der Evange¬
listen, trägt.
Die dritte Kirche von Besalu ist die jetzige
Parochialkirche der Stadt, San Vicente. Sie wird
zum erstenmal 977 erwähnt, anläßlich einer Schen¬
kung Mirons an die Augustiner von S. Miguel (Sta.
Maria), zu welcher auch die damals »extra muros«
liegende Kirche gehörte. Ferner berichtet ein Doku¬
ment im Archiv von Besalu über einen Neubau von
S. Vicente durch Tallaferro. Es ist entschieden unter
den Kirchen von Besalu diejenige, welche am spätesten
vollendet wurde.
Wenn auch das Hauptportal und die sehr reich
ausgestattete südliche Seitenpforte den Ruinen von
Sta. Maria etwa zeitgenössische Arbeiten sind, so
trägt das zierliche romanische Säulenfenster des West¬
giebels bereits einen ogivalen Bogen als Abschluß;
auch der Querschnitt des Gewölbes zeigt schon eine
geringe Abweichung von der reinen Form des Halb¬
kreises. Die Harmonie der Architektur innen und
außen wird durch gotische Einbauten und noch
spätere Anbauten gestört.
Die Straßen der Stadt bilden eine passende Folie
und Staffage für die von mir näher geschilderten
Monumente. Das aufmerksame Auge kann noch hier
und dort einen wappengeschmückten Stein, ein Kapitäl,
einen Fries entdecken, welche an den gleichen Zeit¬
abschnitt erinnern.
Besonders lohnend ist ein Gang durch die »Calle
del Conde Tallaferro« mit ihrem originellen Lauben¬
gang. Das Haus Nr. 14 dieser Straße hat ver¬
mauerte romanische Fenster mit ziemlich wohlerhal¬
tenen Säulen und Kapitälen.
Beachtung verdient vor allem das an der Osfseite
von S. Pedro gelegene Hospital, dessen Portal bereits
den Arbeiten des 12. Jahrhunderts ähnelt.
Die anfangs schon erwähnte Brücke über die
Fluvia stammt gleichfalls aus der Zeit der Grafen.
Es ist eine technisch interessante Konstruktion; die
Pfeiler sind unter Benutzung im Flußbett liegender
Felsblöcke errichtet; die Spannung der Bögen ist in¬
folgedessen ganz verschiedenartig und die Fahrbahn
ist nicht geradlinig, sondern bildet in der Mitte einen
Winkel.
Leider ist der Torturm, der noch bis vor wenig
Jahren einen der mittleren Pfeiler schmückte, bis zur
Hälfte abgetragen worden, — um eine Maschine in
die Stadt zu bringen, wie man mir sagte. Man sieht,
also auch die Pyrenäentäler sind von den Segnungen
moderner Kultur nicht verschont geblieben und die
deutschen Schildbürger brauchen sich nicht über Iso¬
lierung zu beklagen; sie finden überall Kollegen, selbst
im Bannkreise der Grafen von Besahi.
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. XVIII. H. 12
40
Santa Maria von Ripoll bei Besalü
Portal von Santa Maria von Ripoll bei Besahi
40*
B
Santa Maria von Ripoll bei Besalii : A Portal, B Detail
Kreuzgang Santa Maria von Ripoll bei Besalii Detail
2g8
BESALU, DIE SPUREN EINES MEFTELALTERLICHEN ORAEENQESCHLECHTS
ergauf, bergab führt die Straße
durch die vulkanische und
pittoreske Felsenlandschaft
von Olot aus dem Gebiet
der Fluvia in das Tal des
Ter; und vor uns erhebt sich
die gewaltige Masse eines
Bauwerkes irn Rundbogenstil,
welches, was Ausdehnung
und Glanz der Ausstattung
anbelangt, das in Besalü ge¬
sehene in Schatten stellt.
Es ist die Kirche des Klosters von Ripoll, dessen
Geschichte mit der des Grafengeschlechtes von Besalü
aufs innigste verknüpft ist.
Der Ahnherr Wifred hatte das Kloster (888) zum
Gedächtnis seines Sieges über die Araber gegründet
und seinen erstgeborenen Sohn Rudolf als Abt ein¬
gesetzt. Noch heute gibt auf dem Altarplatz ein
Mosaik, dessen Ornament den Kampf zwischen
Christentum und Islam symbolisieren soll, von dem
denkwürdigen Ereignis Kunde.
Seit dieser Zeit hat sich das Kloster stets der be¬
sonderen Gunst und Fürsorge der Grafen erfreuen
können, und sie alle, mit Ausnahme eines einzigen,
Oliva Cabreta (984 — go), der das Eisenhemd mit der
Mönchskutte vertauschte und fern der Heimat in
Monte Casino starb, haben hier die letzte Ruhe ge¬
funden. Bernhard Tallaferro legte sich den Titel eines
Grafen von Ripoll bei, und sein Bruder, der Abt von
Ripoll und Bischof von Vieh, Oliva weihte am
15. Januar 1032 die heutige Kirche Santa Maria
von Ripoll' .
Das stolze, fünfschiffige Gotteshaus wurde während
der Karlistenkämpfe 1835 ^^st vollständig zerstört, ist
aber in neuester Zeit in wahrhaft mustergültiger Weise
restauriert worden. Das bei den Wiederherstellungs¬
arbeiten bewiesene feine Verständnis und Stilgefühl
ist anerkennenswert, vor allem aber die weise Mäßigung,
mit der man es verstanden hat, hierbei das so oft
verhängnisvolle »zu viel des Guten < zu vermeiden.
ln erster Linie verdient die prachtvolle Eingangs¬
tür die Beachtung des Besuchers. Man sagt wohl
kaum zu viel mit der Behauptung, daß sie eine der
eigenartigsten Schöpfungen des 11. Jahrhunderts ist.
Es ist hier so recht deutlich zu sehen, wie der reiche
Ornamentschmuck der äußeren Umrahmung, deren
in sieben Reihen angeordneten Reliefs in naiver Dar¬
stellungsweise biblische Historiken von den Büchern
Mosis bis zur Apokalipse vorführen, den Einfluß
spätrömischer Vorbilder nicht verleugnen kann, während
das Portal selbst bereits das Wesen der romanischen
Formensprache zum Ausdruck bringt, hier und dort
aber ein dem Abendlande unbekanntes Fabeltier uns
die Kunde von fernen östlichen Kulturen zuträgt.
Ich möchte es hier in Ergänzung des oben Ge¬
sagten als dankenswert hervorheben, daß man es sich
versagt hat, an dem wunderbaren Werk, das bei der
Zerstörung der Kirche stark gelitten hat, das Geringste
zu ergänzen und sich lediglich auf die Erhaltung des
Vorhandenen beschränkt.
Mir scheint, daß bei der Betrachtung beschädigter
Kunstwerke das Auge verhältnismäßig mühelos Fehlen¬
des anfügt, während angesetzte Nasen, Hände und
Füße die Möglichkeit eines ästhetischen Genusses
zerstören.
Der Kreuzgang, in dessen Schatten die Grafen
schlummern, soweit sie nicht in der Kirche selbst bei-
geselzt sind, hat mehrere Umänderungen erfahren und
ist in seiner jetzigen Gestalt eine Arbeit der Jahr¬
hunderte 12 — 15. Er ist in zwei Stockwerken an¬
gelegt, und wenn sich auch im Detail seiner höchst
anmutigen und abwechslungsreichen Ornamente, zu¬
mal im oberen Stockwerk , sehr erklärlicherweise
mitunter gotische Motive finden, so hat er doch in
seiner Gesamtheit einen einheitlichen romanischen
Eindruck gewahrt. Beide Etagen haben hölzerne
Decken. Die verschiedenartige Färbung der Säulen
verleiht dem Ganzen einen lebhaften und warmen
Ton.
* *
Es ist ein eigenes Land, das Land der Grafen von
Besalü. Die großzügige Natur und das alte den
Jahrhunderten trotzende Gemäuer reden die gleiche,
uns fremde und doch so verständliche Sprache. Man
begreift, daß hier Menschen wohnten, die im Morgenrot
standen einer großen Zeit. Man begreift aber auch
den Zukunftstraum der Catalanen.
Die Kinder dieser Berge sind nicht gewillt, den
Zusammenbruch ihrer Nation ohne Widerspruch und
Kampf als Tatsache hinzunehmen; sie sind entschlossen,
sich den eigenen Weg zu bahnen, koste es, was es wolle.
Hier lebt wohl auch heute noch der kühne, trotzige
und unabhängige Geist der Westgoten, und vielleicht
sind wieder geheimnisvolle Mächte bei der Arbeit,
welche Spanien ein zweites Mal zu neuem Leben
erwecken könnten. Die Rolle der Kirche dürfte
allerdings nicht ganz die gleiche sein wie vor
tausend Jahren, wo sie es war, welche die Waffen
schmiedete.
Ein Volk verliert nicht den Glauben an die Zu¬
kunft, wenn es eine große Vergangenheit kennt und
liebt. Und wie überall der Schild mit den vier blut¬
roten Streifen auf uns herabblickt, und ringsum in
den Bergen die tausendjährigen Wahrzeichen eines
längst entschwundenen Geschlechtes das Auge fesseln,
so ist auch heutigen Tages noch die Erinnerung an
Wifred lebendig geblieben und an den Grafen Bern¬
hard Tallaferro.
FRANZÖSISCHE KUNSTAUSSTELLUNG
IM KAISER-WILHELM-MUSEUM ZU KREFELD
Das Schlagwort von der »Ausstellungsmüdigkeit«
ist heute ein unentbehrliches Requisit jedes Refe¬
renten geworden. Entspricht es aber den Tat¬
sachen? Wie ist es dann zu erklären, daß trotzdem diese
Veranstaltungen nach Zahl und Umfang unaufhörlich
wachsen? Doch wohl nur darum, weil wir im höchsten
Maße ausstellungsbedürftig geworden sind; weil sie
unserer auf Anschauung hindrängenden Zeit unent¬
behrlich sind. Unsere modernen Transport- und Ver¬
kehrsmittel gestatten sogar, an kleineren und scheinbar
entlegenen Orten alles das im Original vorzuführen,
wovon unsere Urgroßväter sich nur durch schriftliche
oder gedruckte Mitteihing unterrichten konnten. Es
gehört freilich ein geschickter Leiter dazu, um außer¬
halb der großen Kunstzentren wirklich etwas Gutes
zu veranstalten. Andererseits sind diese kleineren
Orte nicht so sehr genötigt, persönliche Interessen¬
politik zu treiben, auf »einheimische« Künstlergruppen
und deren Bundesgenossen Rücksicht zu nehmen.
Und gerade das war es, was in den letzten Jahren
den Krefelder modernen Kunstausstellungen einen so
großen ideellen Erfolg sicherte. Liest man die Pro¬
spekte einer modernen Kunstausstellung, so ver¬
folgt sie ausschließlich kulturelle Interessen, will uns
die Bekanntschaft mit neuen Kunstrichtungen ver¬
mitteln, uns den Genuß von Meisterwerken sichern,
mit möglichster Unparteilichkeit ein glänzendes Bild
der neueren Kunst zeichnen, und was dergleichen
verlockende Behauptungen mehr sind. Tritt man
aber in die Glaspaläste an Isar und Spree, Donau
und Rhein, so ist von alledem oft herzlich wenig zu
spüren und die Massenware der großstädtischen
Ateliers erstickt meist die sparsam verteilten guten
Werke. Erfolg, das heißt kulturellen Wert können
doch nur diejenigen Ausstellungen haben, die nach rein
künstlerischen Gesichtspunkten zusammengestellt sind,
wie etwa die verflossene Dresdener und andere mehr.
Das gilt auch von der im Juli gezeigten französischen
Ausstellung in Krefeld. Einen französischen Saal, eine
französische Gruppe haben wir in Berlin und München
oft gehabt. Einzelkünstler waren, besonders in München,
gelegentlich glänzend und überraschend vertreten
und dadurch dem deutschen Publikum näher gerückt.
Aber eine so systematisch geordnete und fast lücken¬
lose Übersicht über die französische Malerei der
letzten zwanzig Jahre ist wohl in Deutschland bisher
nicht geboten. Nicht jeder Künstler ist hier mit
großen Paradestücken erschienen, aber doch jeder mit
typischen Arbeiten, wenn auch nur kleineren Umfanges.
Nun liegt aber das Verdienst der Krefelder Veran¬
staltung durchaus nicht nur auf »historischem« Ge¬
biet. Größer noch ist der erzieherische Wert für die
Bildung des Geschmackes. Nicht, was zufällig der
oder jener Kunsthändler, diese oder jene Künstler¬
gruppe auf Lager hatten, war ausgestellt, sondern das,
was nach langem systematischen Suchen als charak¬
teristisch und zugleich künstlerisch wirksam und
wertvoll erkannt war.
Die Ausstellung war also nicht nur nach bestimmten
Gesichtspunkten, sondern auch nach ganz persönlichem
Geschmack zusammengestellt. In der dadurch be¬
dingten Einheitlichkeit lag ihr Hauptwert. Sie ist
um so erfreulicher als sie eigentlich dem Zusammen¬
wirken zweier Männer entsprang. Neben dem Leiter des
Krefelder Museums war es Herr Avenard in Paris, der
als Pfadfinder und Agitator der guten Sache außer-
ordentlicheDienste geleistet hat und dessen sympathische
Persönlichkeit wesentlich zum Erfolg beitrug. Endlich
kam wohl auch die vornehme Ausstattung der Räume
in dem kleinen aber sehr dezent und geschmackvoll
dekorierten Museum dem Ganzen zu statten.
So entstand eine Ausstellung, verwunderlich für
diejenigen, die man etwas unhöflich als Schaupöbel
bezeichnet, höchst erfreulich für den Kultivierten und
für diejenigen, die geneigt sind, ihren Geschmack
kultivieren zu lassen. Glücklicherweise wächst ja die
Zahl der künstlerischen Genußmenschen, die von Bild
und Statue nicht nur unterhalten und ergötzt, sondern
tief innerlich berührt werden wollen, die nicht Berichte
oder Anekdoten, sondern farbige Genüsse sich ersehnen.
Für sie ist die Krefelder Ausstellung geschaffen.
Hier gibt es keine Schaubude mit historischen und
patriotischen Effektstücken, sondern nur Bilder, von
denen möglichst jedes einzelne einen bestimmten far¬
bigen Wert repräsentiert. Nichts ist schrecklicher, als
retrospektive oder historische Ausstellungen, wenn unter
diesem Vorwand künstlerisch Wertloses nur um der
Vollständigkeit willen zusammengetragen wird, ln
Krefeld hat man sich weise zu bescheiden gewußt. Da
aus der Zeit der aufstrebenden Freilichtmalerei, aus
der Epoche des beginnenden Impressionismus neue
und große Werke heute kaum noch vorgeführt werden
können, ließ man diese frühen Impressionisten nur
eine kleine Visitenkarte abgeben. Da sind ein paar
Landschaften von Monet, ein warmes violett gestimmtes
Seineufer und eine schlichte kühle Winterszenerie mit
kahlen Bäumen, die jene langen bläulichen Schatten
über die beschneite Landstraße werfen, vor denen sich
300 FRANZÖSISCHE KUNSTAUSSTELLUNG IM KAISER- WILHEM-MUSEUM ZU KREFELD
einst die Menschheit so entsetzt hat. Das Straßenbild
und das Seineufer von 1877 von Alfred Sisley (Besitzer
Durand-Ruel) und der sonnige Bauernhof von Camille
Pissarro (datiert 1876. Durand-Ruel) geben uns eine
Vorstellung von jener Zeit, da diese kleine Künstler¬
gruppe sich erschöpfte in dem Bemühen, ans der
schwarzen und braunen Sauce der Akademiker zu lichter
Stimmung zu gelangen, wobei man leicht in ein
kreidiggraues Licht verfiel. Umfassender ist Degas
hier vertreten, der große Mitbegründer des Impres¬
sionismus, der seine etwas willkürlich umrahmten
Naturausschnitte mit großartiger Unbekümmertheit um
die akademische Schönheit und um das Herkömm-
liche in der Wahl der Motive malte. Er war ein
eigensinniger Pfadfinder, aber doch vor allem ein
exquisiter Farbenempfinder. Sehr deutlich tritt das
hervor in einer kleinen Deckfarbenstudie zweier Mäd¬
chen, die Waschkörbe tragen. Plakatmäßig flächenhaft
sind da einige kostbare Farbenflecke nebeneinander
gestellt. Zwischen dem grellen gelben Fond und dem
warmen Braunrot des Papiers vermitteln die Kleider,
das Haar usw. Daß Degas gelegentlich auch in kühlen
Tönen arbeitet, ohne doch kreidig kalt zu werden,
sehen wir an der Studie in grau, einer »Plätterin«.
Wie diese Impressionisten erleuchtend und auf¬
hellend auf die ganze neuere französische Malerei ge¬
wirkt haben, davon gibt uns die übrige Ausstellung
gleichsam den Beweis. Mit guter Absicht sind hier
diesen Hellmalern die Meister gegenübergestellt, die
das lang verpönte Beinschwarz wieder auf ihre Palette
setzten und im Schatten zur Anwendung brachten,
jene Schwarzmaler«, als deren typische Vertreter
Simon und Cottet gelten. Aber auch sie bleiben doch
nicht mehr in jenem undurchdringlich schwärzlichen
Helldunkel, aus dem die Koloristen der Altmeisterschule,
wie etwa Henner, ihre mattschimmernden weichen
Aktfiguren herauswachsen ließen. Auch in den Werken
der schwarzen Bande« ist Sonne und Luft, ist nicht
nur Licht, sondern auch Farbenglut und daneben, dank
jenem Zurückgreifen auf das Schwarz, eine verblüffende
Plastik. Kräftige Zeichnung paart sich mit impres¬
sionistischer Farbenbehandlung. In dieser Beziehung
ist das große Theaterbild von Lucien Simon geradezu
verblüffend. Man sieht wirklich vom ersten Rang
des Theaters ins Parkett hinab, die nackten Schultern
der dekolletierten Schönen und der Einblick in die
Corsage aus der Vogelperspektive sind von unbeschreib¬
licher Realität, man sieht den Busen atmend sich
heben. Und doch nichts von jener zeichnenden
Strichelei oder sauber vertreibenden Halbtonkunst der
alten Zeit, sondern kühne Tonmalerei. Nebenbei ist
auch die Psychologie des Theaterpublikums ebenso
ausführlich, aber nicht so karikiert geschildert, wie auf
irgend einem Bilde der alten Genremaler- Epoche.
Immerhin — das Ganze bleibt ein wenig Bravourstück.
Von rein malerischer Qualität sind dagegen die drei
Landschaften von Cottet, besonders das alte Felsennest
an der Isere. Eine Gruppe von Steinhütten, in eine
Schlucht hineingezwängt, mit den Felsen verwachsen
und mit ihnen zusammen in warmer Abendsonne
erglühend, so daß zwischen den schwarzen Schatten
und Gesteinsrissen überall rotgoldene Lichter heraus¬
blitzen. Noch wunderbarer ist die Wirkung der
Kathedrale von Salamanca bei Sonnenuntergang. Von
türkisblauem Himmel hebt sich in scharfer Kontur die
sonnenvergoldete Steinmasse der Kathedrale, während
im Vordergrund in weichen grauen Tönen Fluß und
Ufer verdämmern. Cottet erzielt wundervolle Farben¬
klänge mit den einfachsten Mitteln, ein paar schwarze
Konturen auf Malpappe hingeschrieben, die Farbe
trocken anfgetragen und bis auf die Pappe wieder ab¬
geschliffen, das liefert alles, Zeichnung und Farbe, Luft,
Licht und Sonne. Simon und Cottet sind in Deutsch¬
land nach Verdienst bekannt. Neu mag vielen die
Erscheinung von Dauchez sein, der die kühle, lichte
Feinheit einer flachen Flußlandschaft so gut zu malen
weilt. Durch ein paar Fichten hindurch erblickt man
eine Ferne von Luft, Sand und Wasser, die endlos
sich hinstreckt und unglaublich nobel in ihrer Ein¬
fachheit wirkt.
Stellen diese Schwarzmaler die Reaktion gegen
den grauen Impressionismus dar, so finden wir im
nächsten Saale die Gruppe der Neoimpressionisten,
also eine verbesserte Ausgabe des alten Impressionis¬
mus, die Konfettimaler, wie sie der Atelierwitz getauft
hat. Nach der bekannten Theorie Signacs lösen sie
das weiße Licht in seine prismatischen Grundfarben
auf und setzen diese ungemischt als farbige Punkte
nebeneinander. Unser Auge soll dann die Mischung
vollziehen, die man ehedem schon auf der Palette vor¬
wegnahm. Indem nun das Auge die zerstreuten Farben¬
punkte sammelt, entsteht jenes Flimmernde, Un¬
bestimmte der Form, das wohl geeignet ist, uns die
Natur, das wirkliche Tageslicht, das Zittern der son-
nendurchglühten Luft vorzutäuschen. Aus der großen
Reihe der Neoimpressionisten lernen wir in Krefeld
besonders Henry Edmond Cross als einen zielbewußten
und begabten Meister dieser Richtung kennen. Das
Bildnis seiner Frau ist wohl geeignet, uns mit dem
Ungewöhnlichen der neuen Technik auszusöhnen.
Hier genügen wirklich wenige Schritte Abstand,
um uns die volle Plastik trotz aller Punktmalerei,
den völligen harmonischen Ausgleich der Kontrast¬
farben und ihr Zusammengehen zur Fläche vor¬
zuspiegeln. Und welche Lebhaftigkeit, welche stark¬
farbige Schönheit kann gerade diese Technik in die
Landschaft hineintragen.
Allerdings ist die Punktmalerei nicht der einzige
Weg, Helligkeit und Luft auszudrücken. Maurice Denis
z. B. versucht die gleichen Effekte mit ruhiger flächen-
hafter Farbenbehandlung zu erzwingen. Aber Denis hat
noch andere, größere Ziele. Er ist ein Raumgestalter
erster Größe. Mit Puvis de Chavannes wetteifert er darin,
durch wenige große Gestalten monumental zu wirken.
Aber statt der gedämpften, schattenhaften Farben des
Puvis hat er die ganze lichte, kühle Helligkeit der
neuesten Schule und jene grenzenlose Einfachheit,
jene naive Ungesuchtheit der Zeichnung, die unser
durch den Realismus verwöhntes Auge irrtümlich als
kindliche Ungeschicklichkeit auffaßt. Wie Denis, so
malt auch Manguin flächig, dekorativ. Während aber
Denis kühles Licht liebt, läßt Manguin alle Farbenglut
FRANZÖSISCHE KUNSTAUSSTELLUNG IM KAISER-WILHELM - MUSEUM ZU KREFELD 301
von seiner reichen Palette ausstrahlen. Glänzende, ja
aufreizende Farbenflecke komponieren sich zur Gestalt
einer sonnenbeschienenen, halbnackten Frau, die in
lichter Frühlingslandschaft ausgestreckt ruht.
Sie verlangen neue Gewöhnungen von unserem
Auge, diese extremen Lichtmaier, und das Publikum
ist darüber entrüstet, wie immer, wenn es aus seiner
gewohnten Bequemlichkeit aufgeschreckt wird. In
Krefeld mußte man eine besondere Erläuterungsschrift
über das Wesen des Pointillismus drucken, weil die
»Gebildeten« ihrer Verständnislosigkeit und ihrem
Abscheu vor den neuen Bildern ebenso lebhaft wie
geschmacklos Ausdruck gaben. Es ist die alte Ge¬
schichte. Man verlacht und bespottet, was man selber
nicht begreift. Auch in Krefeld, wie aller Orten,
wird wohl erst die nächste Generation das als selbst¬
verständlich empfinden, was sie heute verblüfft. Um
so größer das Verdienst derjenigen, die ihnen so
frühzeitig die Bekanntschaft mit diesen Dingen ver¬
mitteln.
Die allen Pleinairisten, die Neoimpressionisten und
die Schwarzmaler stellen die drei Eckpunkte dar, wo¬
durch der Umfang der übrigen Ausstellung festgelegt
wird. Alle anderen vermitteln nach irgend einer
Richtung, oder ergänzen. Zur guten alten franzö¬
sischen Tradition leitet Gaston la Touche zurück. Er
gibt ein Salonstück bester Qualität, voll duftiger Farbe,
voll Charme und Eleganz, einen sonnendurchflimmerten
Musiksalon, in dem die Menschen in sonnigem Be¬
hagen ein wenig Musik machen, in dem alles von
goldiger Stimmung gesättigt ist. Oder wir spüren
die neue Romantik in der rotgoldenen Abendsonnen-
Phantasielandschaft von Menard, mit ihrer matten Zauber¬
glut und in der fast biedermaierischen Mondschein¬
sonatenlandschaft des Henri le Sidaner, oder in den auf
apartes Violett und Graugrün gestimmten Flachbildern
des Vallotton. Dann ist Monet vertreten, nicht der Meister
der Heuschober, sondern der moderne Monet, der Dunst¬
maler, der am abendlichen Themseufer träumerische
Stimmungsbilder in zartestem Violet malt, in die als
dunkle blauviolette Masse die Konturen der Charing-
Cross Bridge oder des Parlamenlshauses hineintauchen,
während ein paar zitternde Lichter, weich quellender
Rauch und Dampf das Leben der Großstadt ahnen läßt.
Und Steinlen — mit einer animalisch urwüchsigen,
von gedämpfter Leidenschaft erfüllten Liebesszene in
dunkelndem Walde.
Die ganze Ausstellung war ein wenig Zukunftsmusik.
Sie verlangte ästhetische Menschen als Betrachter, sie
zeigte, worauf es in Zukunft bei Ausstellungen ankommen
wird: nicht auf gemalte Berichte, sondern auf Tonwerte,
auf Nuancen. Das beste, was wir hier sahen, sind ein
paar farbige Flecke, scheinbar flüchtig hingeworfen, aber
entstanden aus gründlicher Beherrschung der Form,
die als unsichtbares Faktum dem Bilde zugrunde
liegt. Diese paar köstlichen Farbentöne, die uns bei
richtigem Abstand die größte Weite des Raumes, die
geheimnisvollsten Schicksale ahnen lassen, sie sind
doch das Wesentliche an einem Werke der Malerei.
Nach ihnen wird man immer mehr die Qualität eines
Bildes, einer Bildersammlung, einer Ausstellung taxieren.
Die Krefelder Ausstellung hat bewiesen, daß sich
solche Prinzipien ohne Konzession an Publikums¬
geschmack durchführen lassen. M. SCH MID- Aachen.
Ripoll, Mosaik des Altarplatzes (zu dem Aufsätze über Besalü)
Die Inilialen und die Kopfleisten in dem Aufsatz über Besalü sind vom Vater des Verfassers entworfen.
Zeitschnti für bildende Kunst. N. F, XVItl. H. 12
41
DIE NEUESTEN AUSGRABUNGEN IN POMPEJI
SEIT dem letzten Bericht über Pompeji (Kunstchronik
1905, S. 295) haben die Ausgrabungen keine be¬
sonders großen Fortschritte gemacht. Die Gründe
dafür sind mancherlei, vor allem aber hat der Um¬
stand den Ausschlag gegeben, daß während der Periode
Pais und in der ersten Zeit nach seinem Weggange
die Berichterstattung weit hinter den notwendigsten
Anforderungen zurückgeblieben war. Bis der neuer¬
nannte Direttore degli Scavi di Pompei nun die Lücke
ausgefüllt und mit dem Bericht über die Neufimde
bis zur Gegenwart vorgerückt sein würde, wurde des¬
halb das Tempo der Ausgrabungen verlangsamt und
die vorhandenen Kräfte vor allem auf Ausbesserungen
und Ausführung einiger Ergänzungen verwendet, ein
Verfahren, das an sich Billigung verdient, das aber
doch hoffentlich, nachdem Berichterstattung und Aus¬
grabung wieder zusammen gekommen sind, einem
frischen fröhlichen Betriebe der Ausgrabung wieder
weichen wird; wenn man jetzt sieht, wie wenige
Kräfte zur Weiterführung der Ausgrabung in Pom¬
peji verwandt werden, verliert man fast jede Hoffnung,
daß das noch übrige Terrain innerhalb Menschenge¬
denken freigelegt werden wird. Besonders nachdem
die Bewegung für die Bloßlegung Herkulaneums durch
die Entschlüsse der italienischen Regierung aus der
Welt geräumt ist (die italienische Regierung hat be¬
kanntlich beschlossen, die angebotene Unterstützung
Auswärtiger abzulehnen und die Sache selbst zu be¬
sorgen, das Resultat wird aber wohl sein, daß das
Projekt in den dazu ernannten Kommissionen be¬
graben wird), kann man wohl erwarten, daß Pompeji
wenigstens mit Aufbietung aller möglichen Kräfte ge¬
fördert werden wird. Die Neuerungen, die Pais ein¬
geführt hatte, sind zum Teil geblieben, wenn sie sich
auch noch so sehr unangenehm bemerkbar machen,
das heißt, der Eintrittspreis, der von 2 Francs auf 2,50
erhöht war, ist auf seiner Höhe belassen worden, ob¬
gleich infolgedessen die Einnahmen wesentlich hinter
denen früherer Jahre zurückgeblieben sind, auch hat
man die Einrichtung, die unter Pais getroffen war,
daß die meisten Häuser geschlossen und die Kus¬
toden in die einzelnen Häuser verteilt, nicht, wie
früher, den Besuchern zur Begleitung mitgegeben
werden, bestehen lassen, trotzdem die größten Unan¬
nehmlichkeiten daraus sich für die Kustoden, beson¬
ders zur kalten Winterszeit, und auch für das be¬
suchende Publikum ergeben , das ratlos in den
Straßen umherschwankt, wenn es nicht die teuren
Dienste einer Guida in Anspruch nehmen will.
Der Eingang ist an die Porta Marina zurückverlegt,
dabei aber, wohl aus Verwaltungsgründen, der neu
eröffnete Zugang bei der Porta Stabiana durch den
Hof der Gladiatorenkaserne bcibehalten worden, so
daß Pompeji jetzt von drei Stellen aus zugänglich
ist. 1. Von der Porta Marina her für diejenigen, die
mit der Eisenbahn von Neapel kommen; 2. bei der
Porta Nolana für die aus dem elektrischen Tram Ab¬
steigenden, und drittens bei der Porta Stabiana für
diejenigen, die zuerst in Valle di Pompei der Ma¬
donna del Rosario und Bartolo Lungo ihre Verehrung
dargebracht haben.
Doch zurück zu den Ausgrabungen. Im wesentlichen
ist der Straßenzug östlich vom Hause der Vettier bis
hinaufzur Porta Vesuviana bloßgelegt worden (InsulaXVI
auf dem Plan Notizie degli Scavi 1906, S. 149), zwischen
der Fortsetzung der Stabianerstraße und der Via del
Labirinto. In dieser Häuserreihe verdient vor allen
das südlichste, gewöhnlich Casa degli Amoretti d’oro
genannt, eine besondere Hervorhebung. (Der Plan
des Hauses wird in den Not. d. Sc. 1906, S. 375 ge¬
geben). Im Eingang läßt sich noch eine mehrfach
m Pompeji übliche Einrichtung erkennen. Nachdem
die Tür des Nachts geschlossen war, wurde im Innern
ein ziemlich starker Querbalken vorgelegt, für dessen
Enden in den Mauern Löcher ausgespart waren; aber
mit dieser Sicherung begnügte man sich nicht, man
stellte noch schräg gegen den Balken oder unterhalb
gegen die Tür eine Stütze, für deren unteren Fuß im
Boden ein Loch ausgespart war. Es scheint, daß die
alten Pompejaner die Vorliebe der heutigen Römer
teilten, durch Anbringung unendlich vieler Verschlüsse
sich gegen Einbruch zu sichern, Maßregeln, welche
gerade bei dem Ausbruch von 79 das Durchbrechen
der Mauern und das Eindringen in fremde Häuser
keineswegs verhindert haben, ln den Zimmern, die
rechts und links von der Tür liegen (C und D im
Plan), sind die Wände gelb gefärbt, mit je einem
roten Felde in der Mitte; neben einem teilweise zer¬
störten Bilde (Leda mit dem Schwan) ist in dem einen
Zimmer Narcissus dargestellt, der sich mit der linken
Hand auf den Felsen stützt und sein Bild im Wasser
betrachtet, während in dem anderen Zimmer Hermes
mit Kerykeion und Beutel hervorzuheben ist. Beide
Zimmer haben Türen nach dem Atrium (B), in dem
von dem Marmortisch neben dem Impluvium ein
Marmorfuß erhalten ist; über dem Loche, das die
Regenwässer nach der Straße führte, steht ein nied¬
riger Marmorschemel mit Löwenfüßen. Die Wände
des Atriums sind rot über schwarzem Sockel; darin
laufen Streifen lang, die mit Gartenanlagen und ver¬
schiedenen Gefäßen verziert sind, die stehend oder
liegend und mit Bändern umwunden dargestellt sind.
In der Milte der linken Seiten wand gewahrt man die
Reste eines größeren Bildes, man sieht Ziegen und
Schafe gelagert; von ihrem Hirten ist nur das vor-
geslreckte linke Bein mit hoch hinaufgehenden Stie¬
feln erhalten; daneben steht eine Syrinx an der Erde.
Wahrscheinlich war in dem Bilde Paris bei seiner
Herde dargestellt, zu dem Hermes die drei Göttinnen
führt, damit er den Streit um die Schönheit entscheide.
Aus dem Atrium tritt man nach Westen in ein
kleines Zimmer, das über schwarzem Sockel gelbe
Wände hat; von den in der Mitte jeder Wand an¬
gebrachten Bildern ist nur das dem Eingang gegen¬
überliegende besser erhalten. Links sitzt n. r. ein
Jüngling in grünlich-blauem Ärmelchilon, über den
ein dunkelrotes Gewand gezogen ist; auf dem Haupte
trägt er eine gelbe Kappe, deren Zipfel zu beiden
DIE NEUESTEN AUSGRABUNGEN IN POMPEJI
303
Seiten des Hauptes herabhängen ; in der auf dem
Schoße liegenden linken Hand hält er einen Stab;
die rechte Hand liegt vor der Brust, sein Blick ist
dem Beschauer zugewandt. Hinter ihm steht eine
Frau mit rötlich-braunem Haar, das in einen Knoten
auf dem Haupte gebunden ist; sie legt die rechte
Hand an den rechten Arm des sitzenden Jünglings.
Von rechts tritt neben Säulen eine stattliche Frauen¬
gestalt herein mit violettem Chiton und hellerem Hi-
mation bekleidet; sie hat den rechten Arm am Körper
anliegend, während sie den unteren Teil des linken
Armes vorstreckt. Ein nackter links von ihr stehen¬
der Eros weist mit der ausgestreckten Hand auf den
Jüngling hin. Hinter der Frau neugierig hervorlugend
steht eine Dienerin mit violettem Chiton und bläu¬
lich gefärbtem Mantel. Man darf in der Szene wohl
die Annäherung der Helena an Paris erblicken, die
von Aphrodite gefördert wird. — Das Gemälde der
anstoßenden Wand ist bis auf geringe Reste zerstört;
das der gegenüberliegenden Wand wurde in Frag¬
menten an der Erde gefunden; obgleich der einen
darin teilweise erhaltenen Figur der Name «hoTvif bei¬
geschrieben ist, hat sich der Inhalt bis jetzt noch nicht
bestimmen lassen. Kehren wir aus diesem Zimmer
in das Atrium zurück und wenden uns in das süd¬
lich anstoßende Gemach (G), so fallen uns auf den
zinnoberroten Wänden, die über schwarzem Sockel
sich erheben, mehrere Gemälde in die Augen, links
Thetis, die in der Schmiede des Hephästos die für
ihren Sohn Achilleus geschmiedeten Waffenstücke in
Augenschein nimmt. Rechts sitzt Thetis, mit ent¬
blößtem Oberkörper, während ein bläulich -grünes
Gewand um ihre Schenkel geschlagen ist; sie lehnt
den linken Arm auf eine nicht sichtbare Stütze auf
und führt die rechte Hand nach dem jetzt zerstörten
Kopf; links vor ihr steht Hephästos, e. pr. n. r., in
eine Exomis gekleidet, die den rechten Arm und die
Brust freiläßt; er hält mit der linken Hand den Schild
auf dem Ambos aufrecht, um den darauf angebrachten
Schmuck von der Thetis besichtigen zu lassen; die
rechte herabhängende Hand hält den Hammer. Unten
am Ambos lehnt eine Zange, rechts in der Ecke sieht
man den Helm und eine Beinschiene, links zwei
Arbeiter, einen alten und einen jungen, die an der
anderen Beinschiene beschäftigt sind.
Auch die andere Seite ist mit einem Bild ge¬
schmückt; an der Hinterwand erblickt man einen
Tempel, von dem fünf Stufen herabführen; links unten
führt ein Mann in blauer lang herabhängender Chlamys
und braunen Schnürstiefeln einen Stier zum Opfer
heran; rechts steht ein gelber Tisch mit einer Kanne,
vor ihm ein hohes eimerähnliches Gefäß. Neben
dem Tisch steht ein jugendlicher Mann, e. pr. n. 1.,
in rötlich-blauer Chlamys; er hält in der herabhän¬
genden rechten Hand einen Stab (oder ist es eine
Rolle mit dem Orakel?). Links vor ihm steht ein Mäd¬
chen, das mit blauem Chiton und weißem Himation
bekleidet ist und einen Kranz auf dem Haupte trägt;
sie hält mit der rechten Hand eine Schale über den
Tisch; rechts von ihr gewahrt man noch den Kopf
einer anderen Figur, die gleichfalls bekränzt ist. Von
oben, vom Tempel herunter, kommen drei Gestalten
herunter, deren Köpfe zerstört sind, ein Mann zwischen
zwei Frauen, von denen die eine in der rechten Hand
ein kleines Gefäß hat, während die andere mit der
linken Hand einen Schild gefaßt hat. Die Deutung
des Bildes wird durch einen bis jetzt nicht erwähnten
Umstand mit Sicherheit gegeben: der Jüngling rechts
ist nur mit einer Sandale bekleidet, es ist Jason, der,
zum Opfer von seinem Oheim Pelias gerufen, unter¬
wegs den einen Schuh verliert und dadurch den arg¬
wöhnischen Oheim an das Orakel erinnert, das ihm
gebietet, sich vor dem Einschuhigen zu hüten; er
wird den gefürchteten Neffen über das Meer ent¬
senden, um aus Kolchis das goldene Vließ zurück¬
zuholen, und wird dadurch gerade das gefürchtete
Unheil auf sich herabrufen; Jason wird nämlich von
der Medea begleitet zurückkehren, und von dieser
überlistet werden des Pelias eigene Töchter ihren
Vater töten, in der Meinung, ihn zu verjüngen, und
dadurch die Rache, die Jason für seinen Vater Aison
nehmen will, in der schrecklichsten Weise zur Aus¬
führung bringen.
Das Mittelbild der dritten Wand ist leider wieder
sehr zerstört. Man erblickt auf einem Thronsessel
einen Mann sitzend, um dessen Schenkel ein dunkel¬
rotes, mit blauem Saum versehenes Gewand ge¬
schlagen ist; den rechten Arm hat er erhoben, in
der linken Hand scheint er einen kleinen Schild, wohl
eine Schale, zu halten; ein großer gelber Schild lehnt
am Thronsessel an; links vor ihm auf einem Altar
sitzt eine Frau, die dem Beschauer den Rücken zu¬
wendet, den Kopf aber nach ihm herumdreht; sie ist in
ein violettes Gewand eingehüllt, das den rechten Arm
freiläßt; mit der rechten Hand stützt sie sich auf den
Altar; rechts von ihr erblickt man einen in blauen
Chiton und darüber violettes Himation gekleideten
Mann, e. pr. n. 1., der das rechte Bein hinter das
linke geschlagen hat; er stützt den rechten Arm auf
einen Pfeiler auf. Ein im Hintergrund als Dekora¬
tion aufgehängtes Gewand deutet an, daß die Szene
sich im Innern des Hauses zuträgt. Also ein Mann,
ein Krieger, der in seinem Hause an einer Frau ein
Strafgericht zu vollziehen im Begriff ist; um seiner
Gewalt zu entrinnen, hat sich die Frau auf den Altar
des Hauses geflüchtet; ein Jüngling ist bereit, die
Befehle des Königs auszuführen. Wenn man die
Situation scharf ins Auge faßt, bleibt kaum ein Zweifel,
daß es sich um Amphitryon und Alkmene, nach der
Tragödie des Euripides, handelt, ganz ähnlich wie auf
der früher unter dem Namen »Apotheose der Alkmene*
bekannten Vase aus Castle Howard, die sich jetzt im
British Museum befindet, deren wirkliche Deutung
festzustellen mir vor Jahren gelungen ist. Als Am¬
phitryon von seinem siegreichen Feldzuge gegen die
Teleboer zu seiner Gattin Alkmene zurückkehrte, fand
er, statt warm bewillkommnet zu werden, verhältnis¬
mäßig kühle Aufnahme; war doch kurz vorher in
seiner, des Amphitryons, Gestalt Zeus selbst einge¬
troffen und hatte bei Alkmene wärmste Aufnahme
gefunden. Daß Amphitryon den Behauptungen seiner
Gattin, er sei schon früher gekommen und habe ihre
41
304
DIE NEUESTEN AUSGRABUNGEN IN POMPEJI
Gunst genossen, keinen Glauben schenkt, sondern
an ehelichen Irrtum denkt, ist natürlich, was Wunder,
wenn er darauf ausgeht, sie zu bestrafen, und wenn
sie, im Gefühle ihrer Unschuld, auf dem Altäre des
Hauses bei den Göttern Schutz sucht. Auch auf dem
Vasenbild hat Alkmene sich auf den Altar geflüchtet,
Amphitryon hat diesen, ganz wie es im Rudens des
Plautus (Rudens, Akt 111 , Sz. 4) angekündigt wird,
mit Holz umbaut, um die treulose Gattin zu ver¬
brennen, ohne sie doch vom Altäre heruuterzureißen,
schon legt er mit seinem Genossen Antenor die
brennenden Fackeln an den improvisierten Scheiter¬
haufen, da öffnet sich der Himmel, Zeus erscheint,
um die Situation zu klären, den Amphitryon zu be¬
ruhigen und die Treue der Alkmene zu verteidigen,
die Hyaden lassen reichlichen Regen von oben her¬
abfließen, durch welche die Flammen gelöscht werden
— und - die Zukunft des aus der Verbindung des
Zeus mit der Alkmene hervorgehenden Helden, des
Herakles, ist gesichert (vgl. R. Engelmann, Archäo¬
logische Studien zu den Tragikern, Berlin igoo, S. 52).
Das pompejaiiische Wandgemälde bezieht sich dann
auf eine frühere Szene der Alkmenesage, Amphitryon
sitzt als Richter auf dem Thronsessel, indem er das
von ihm erbeutete, aber von Zeus als Bestätigung
seines Sieges überreichte Trinkgefäß des Pterelaos in
der Hand hält. Alkmene hat sich auf den Altar ge¬
flüchtet, und Antenor wartet auf die weiteren Befehle
des Amphitry.
Das Peristyl des Hauses (F auf dem Plan), in das
aus G eine breite Tür führt, hat auf den zwei Lang¬
seiten je sechs Säulen, die im unteren Teile unkanne¬
liertsind, dorischen Stils, abwechselnd unten gelb oder
rot gefärbt. Auf der westlichen Schmalseite, die höher
liegt als die östliche, sind die beiden mittleren Säulen
nach der Innenseite mit einem Pfeiler zusammenge¬
bunden, zwischen denen der Zugang zum Garten
führt (vier Stufen). In den Interkolumnien hängen
Oszillen herab. Köpfe, teilweise bemalt, maskenartig
gestaltet; sie sind an einer Art von Perlschnüren
aufgehängt. Die Wände des Peristyls sind schwarz
bemalt und in Felder ge'cilt; an zwei Stellen ist je ein
Stück Glas mit Stuck in die Wand eingelassen, das
wohl als Spiegel dienen sollte. In der Ecke bei D
war eine Art Larenheiligtum; dort erblickt man
zwei gelbe Felder, darunter je eine Schlange, die auf
den in der Ecke angebrachten Altar zukriecht. In
dem gelben Feld oben links hängt ein Sistrum, das
im Isisdienst gebrauchte musikalische, oder besser ge¬
sagt Lärm verursachende Instrument, ferner ist ein
geflochtener Korb mit Mondsichel und ein kleinerer
Korb gemalt, neben dem zwei rote Gefäße stehen;
darüber hängt eine Schale. Rechts davon gewahrt
man eine sich bäumende Uraeosschlange, über ihr
hängen Gefäße, auf dem rechten Felde dagegen ist
Hermes mit dem Kerykeion gemalt, auf ihn folgt ein
Knabe, eine Frau und ein Mann, sämtlich dem Be¬
schauer zugewandt, mit dem Sistron in der rechten
Hand. Zu beachten ist noch, daß zwischen den
Säulen ein eisernes Gitter lang lief, so daß der Peri¬
stylgarten nur über die Treppe zugänglich war. In
die Felder der Längswand sind Marmorreliefs einge¬
legt; 1. Eine Satyrmaske mit Fackel. 2. Eine Grotte,
in der eine Frau ein Opfer darbringt; neben ihr
steht Eros, der sich an ihrem Gewand festhält. 3.
Ein viereckiges Relief mit Masken und Thyrsusstäben,
mit Lyra, Syrinx, Altar und Fackel. 4. Eine große
viereckige Platte, auf der ein Satyr e. f. dargestellt
ist, der seinen mit Ziegenohren versehenen Kopf nach
links wendet. Das fünfte Rechteck zeigt tragische
Masken, ebenso das sechste. Der Fußboden des Peri-
styls zeigt weiße, sich schneidende Linien mit Kreisen,
so daß in die Mitte jedes Quadrats ein Marmorstück
eingelegt ist.
Das kleine vom Peristyl aus zugängliche Zimmer
Q zeigt weiße Wände mit fliegenden Figuren; hinter
ihm ist eine kleine Gartenanlage angebracht.
Das darauf folgende Zimmer, O, ist ein großes
Tricliuium, also Speisezimmer, bei dem wohl den
Gästen jeder Kline ein besonderer Tisch hingesetzt
wurde; wollte man, wie es gewöhnlich der Fall ist,
nur einen gemeinsamen Tisch für alle Speisesofas an¬
nehmen, dann würden die Gäste sich in unbequemer
Lage befinden, wegen allzu großer Entfernung vom
Tische. — Das Nachbarzimmer R ist ein kleines ge¬
wölbtes Cubiculum mit rotem Sockel und gelben
Wänden, die durch Medaillons mit Büsten geschmückt
sind; außerdem befindet sich in der Mitte jeder Wand
ein kleines quadratisches Gemälde, links Artemis, die
von Aktäon im Bade überrascht wird (Aktäon mit
Pedum trägt schon Hörner, zur Andeutung der von
Artemis an ihm gleich darauf vorgenommenen Ver¬
wandlung in einen Hirsch); die zweite Wand zeigt
Leda mit dem Schwan (sie ist nackt, bis auf einen
violetten Mantel, der ihr vom Haupte den Rücken
hinabfließt; ein Zipfel des Gewandes ist nach der
Scham hinaufgezogen, wie in den für höhere Töchter¬
schulen bestimmten Mythologien, bei denen beliebige
Gewandteile zur Verhüllung bedenklicher Lücken be¬
nutzt werden; sie steht e. f. und hat den linken
Arm um den Schwan gelegt, während sie mit der
rechten Hand nach oben, nach dem Gewand faßt,
um den Schwan (der sich vor der Verfolgung des
Adlers zu ihr geflüchtet hat) zu verbergen; links von
ihr steht Eros mit der Fackel, zwischen ihm und Leda
ein umgeworfener Kalathos, zum Beweise dafür, daß
Leda gerade mit weiblichen Arbeiten beschäftigt war.
Es scheint, daß der Schwan auf dem mit einer roten
Decke überzogenen Bett steht. Die dritte Wand zeigt
Aphrodite beim Fischfang; sie sitzt da mit nacktem
Oberkörper, mit einem blauen, um die Schenkel ge¬
schlagenen Gewand und angelt, indem sie sich mit
der linken Hand auf den Felsen aufstützt. Unterhalb
hält Eros ein kleines Fischchen, eine recht bescheidene
Beute, in die Höhe, während von oben ein zweiter
Eros mit einem Korbe herbeieilt, um den gefangenen
Fisch hineinzulegen.
M, das an der Nordseite des Peristyls zunächst
zugängliche Zimmer, diente einst als Cubiculum, als
Schlafraum; es zeigt schwarze Wände; von der in
der Mitte gewölbten Decke haben sich noch zahl¬
reiche Fragmente erhalten. — Bei der Wand zwischen
DIE NEUESTEN AUSGRABUNGEN IN POMPEJI
305
j und 1 ist im Peristyl ein kleines vorspringendes
Heiligtum mit zwei dorischen Säulen angebracht; die
auf der oberen Stufe ehemals vorhandenen kleinen
Bronzestatuetten, die Gegenstände der häuslichen Ver¬
ehrung, werden wohl in das Neapler Museum ge¬
bracht sein. — Das darauf folgende Gemach, I,
birgt auf seiner Hinterwand die Bilder, von denen dem
ganzen Hause der Name Casa degli amoretti d’oro
gegeben ist, Amoretten mit Gold gedeckt, hinter Glas¬
scheiben verborgen. Nur zwei sind erhalten, davon
eins nur teilweise, andere Bilder gleicher Art sind
offenbar schon im Altertum weggenommen, eins ist
ganz erblindet.
Nördlich schließen sich an dieses Haus andere
kleine an, die nicht bis zur anderen Straße durch¬
gehen, wie die Casa degli Amoretti dorati, sondern
bald von der einen, bald von der anderen Straße
den Eingang haben. Da ist zunächst schräg gegen¬
über dem Eingang der Casa dei Vetti Nr. 36 ein
schmales ärmliches Haus, mit einem Larenheiligtum
im Peristyl, vor dem ein marmorner Tisch steht.
Zwischen den Säulen des Peristyls läuft eine Rinne
lang, die einst wohl mit Erde ausgefüllt war, um
Blumen zu tragen. Solcher Blumenschmuck scheint
ehemals ein beliebter Schmuck für die Peristylien
gewesen zu sein. Auf das Peristyl münden zwei
Zimmer, von denen das linke gelbe, von schwarzen
Streifen durchbrochene Felder über schwarzem Sockel
hat, während das zweite über schwarzem Sockel
weiße Felder zeigt. In der Mitte jeder Wand ist ein
Bild angebracht, und zwar ein solches, das nicht der
griechischen Mythologie, sondern dem römischen
Leben der damaligen Gegenwart entnommen zu sein
scheint. Links gewahrt man eine Frau, die nach
rechts sitzt und den rechten Arm um die Lehne ihres
Stuhles geschlagen hat, während sie den mit einem
Armband geschmückten linken Arm nach rechts aus¬
streckt. Dort sitzt ein Mann, e. f., bekränzt, vor dem
ein Tisch steht, unter dem man ein großes Gefäß
gewahr wird. Von links kommt ein Mädchen durch
eine Tür, zwischen ihr und der ersten Frau steht eine
Säule. Leider ist das Bild ziemlich zerstört. Das
Gemälde der Hinterwand zeigt links einen Mann
nach rechts sitzend, auf einem Stuhle, der eine breite
gebogene Rückenlehne hat; ein blaues Kissen dient
als Polster; er ist in eine weiße Toga eingehüllt,
seine Füße ruhen auf einer Fußbank. Den rechten
Arm streckt er nach vorn, so daß er mit dem Ge¬
wand einen Teil des Gesichtes verhüllt, um den Kopf
hat er eine weiße, mit grünen Blättern verzierte Binde
gelegt. In der Mitte sitzt ein Mann e. f., mit weißer
Tunika bekleidet, die bläuliche Kante hat, darüber mit
weißer Toga, die vom Rücken hinabfällt und dann
über den Schoß geschlagen ist; auch sein Haupt ist
mit einer weißen Binde umwunden, die mit Blumen
und Blättern umsteckt ist; er stützt das Kinn auf die
rechte Hand, was er in der linken Hand hält, ist
zu erkennen, seine Füße ruhen auf einem Schemel.
Neben ihm, weiter nach rechts, sitzt ein dritter Mann,
gleichfalls in weißer (hier grüngekanteter) Tunika und
Toga; sein rechter Arm liegt auf der Lehne auf, mit
einem Kranz in der Hand; die linke auf dem Schoße
aufliegende Hand hat eine Binde oder Börse gefaßt,
auch er hält die Füße auf einem Schemel. Zwischen
dem zweiten und dritten Mann steht im Hintergrund
eine vierte Figur, wohl gleichfalls ein Mann, e. f.
mit grüner Tunika und gelber, weiß gefütterter Toga;
er streckt den rechten Arm aus dem Gewand nach vorn
vor. Am nächsten liegt es wohl, an eine sogenannte
»Conversazione« zu denken, Szenen, die nicht nur in
der Renaissance und später, sondern auch schon im
Altertum durchaus üblich waren. — Das Bild der
dritten Wand ist zerstört. — Nach dem Mosaik zu
urteilen, muß das Zimmer einst als Triklinium ge¬
dient haben; deutlich ist der Platz der lecti durch
das Mosaik bezeichnet, ebenso auch der Platz des
gemeinsamen Tisches durch ein schwarz-weißes Mo¬
saik mit Ornament angedeutet. Nach der Straße zu
hat das Haus einen Laden.
Die Tür Nr. 35 führt durch ein schmales Ostium
zu einem kleinen Atrium, dessen Impluvium mit hoch¬
stehenden Steinplatten eingefaßt ist, während dies in
anderen Häusern sich nur nach der Tiefe zu ent¬
wickeln pflegt; ringsum läuft eine ornamentale Kante.
Aus dem Atrium führte eine Treppe nach dem oberen
Stockwerk. Hinter dem Atrium liegt ein viereckiger
mit Mauern von ca. 1 m. Höhe umgebener Raum,
der jedenfalls zur Ausübung eines Handwerkes diente.
Der Eigentümer scheint der in Pompeji stark ver¬
breiteten Innung der Fullones, der Tuchwalker, an¬
gehört zu haben. Bilder sind in dem Hause nicht
erhalten.
Nr. 34 ist ein Laden ohne Verbindung mit dem
Hause, das also an einen anderen vermietet war;
auch Nr. 33 ist ein Laden mit ziemlich wohlerhalte¬
ner Schenkeinrichtung; an der Vorderseite ist, wohl
zur Abwehr des Unheils, des Malocchio, mit dem
jemand die Insassen bedrohen könnte, ein Phallus
angebracht, der von zwei auf ihn losgehenden Männern
bedroht wird. Man kann dabei an einen in Nord¬
afrika gefundenen Vers denken, dem gleichfalls ein
Phallus zugesetzt ist: hoc vide, vide, vide, ut possis
plura videre! »willst du dein Auge bewahren, so sieh
dies Wunder an«; man will durch solches Zeichen
das Auge des Zauberers bannen, es gleichsam ge¬
fangen nehmen, und dadurch abhalten, Unheil anzu¬
richten.
Bei Nr. 32 findet man im Atrium einen gemauer¬
ten Unterbau für einen Kessel, der jedenfalls für das
vom Hausherrn betriebene Handwerk diente. Links
davon ist ein Zimmer mit roten Wänden; das eine
Mittelbild zeigt auf weißem Grunde eine hochragende
Säule, an der Thyrsusstäbe befestigt sind; davor steht
die Statue eines Priap und ein Rundbau, aus dem ein
Baum hervorwächst, daneben stehen noch andere
Säulen mit breiten Gefäßen auf dem Kapitäl. Da¬
zwischen grasen Ziegen umher, und Frauen eilen
zum Opfer herbei. Das Bild der linken Wand ist
sehr zerstört; und doch läßt sich noch erkennen, was
ursprünglich dargestellt war. Man erkennt rechts
einen Mann mit rötlicher Hautfarbe und von gewal¬
tiger Größe auf einem Felsen sitzend, links davon
3o6
DIE NEUESTEN AUSGFMBUNGEN IN POMPEJI
gewahrt man eine Frau, die wohl auf einem Delphin
reitet, offenbar Galatea, die in dem einäugigen Po-
lyphem die Liebe entzündet hat. Bekannt ist das Ge¬
dicht Tlieokrits, in dem er den wilden Riesen seine
Liebe besingen und die Kostbarkeiten aufzählen läßt,
die er seinem Schätzchen zugedacht hat. - Das Bild
der drillen Wand ist zerstört.
Neben den eben besprochenen Häusern liegt ein
anderes, das seinen Zugang von der Stabianerslraße
hat; dort ist das Dach des Atriums, wohl etwas zu
niedrig, hergestellt, so daß man für die Bilder, die
im Inneren angebracht sind, einigermaßen die antiken
Beleuchtungseffekte wiederhergestellt hat. Wenn man
aus dem Ostium in das Atrium tritt, hat man rechts
das Larenheiligtum, zwei gewaltige gelbe Schlangen,
die auf den Altar zukriechen. Dem Ostium gegen¬
über ist auf dem oberen Teil der Wand eine große
Landschaft mit Tempeln und anderen Gebäuden an¬
gebracht; man bemerkt darunter besonders eine Halle,
die von Karyatiden getragen wird, an sie schließt
sich links und rechts ein Vorbau, dessen Stützen gleich¬
falls durch weibliche Figuren gebildet werden; darunter
treten aus einer Tür, zu der Stufen hinaufführen, links
und rechts je eine weibliche Figur, links eine Frau
mit flacher Opferschüssel, rechts eine Bacchantin mit
Thyrsus. Die Öffnung war mit einer zusammenklapp¬
baren Tür geschlossen. Daneben erblickt man links
auf einem Vorsprung links Ares, rechts Aphrodite in
ganzer Figur.
ln dem kleinen Zimmer darunter zeigt ein Ge¬
mälde vor einem Rundbau, der oben mit schmalen
Fensteröffnungen oder Bukranien geschmückt ist, den
Narcissus, der sich im Wasser spiegelt; dagegen zeigt
das links vom Ostium gelegene Zimmer Ariadne, die
von Bacchus aufgefunden wird, und Selene, die, mit
Lichtkreis um das Haupt angetan, den schlafenden
Endymion aufsucht. Der Hund des Schläfers dreht
den Kopf nach der erscheinenden Göttin um und
bellt sie an, nach der bekannten Theorie, daß Pferde
und Hunde die den Menschen unsichtbaren Gestalten
wirklich sinnlich wahrnehmen, ln einem anderen
Zimmer, das gleichfalls durch eine kleine Tür mit
dem Atrium in Verbindung steht, zeigt ein Gemälde
den Herakles im Gespräch mit zwei Männern; der
links stehende, der vom Rücken gesehen wird, hat
unter dem linken Arm das Schwert, während der in
der Mitte, e. f. stehende, in der rechten Hand den
Speer hält. Man könnte vielleicht an die Unterredung
denken, die Herakles im Hades mit den beiden dort
zurückgehaltenen Helden Theseus und Peirithous
hatte, wenn man nicht erwarten müßte, dann wenig¬
stens den einen der beiden Helden sitzend dargestellt
zu sehen. Theseus und Peirithous unternehmen es
nämlich, die Persephone aus dem Hades zu rauben;
sie werden dabei ergriffen und festgesetzt; als Hera¬
kles in die Unterwelt hinabkommt, versucht er es,
die beiden Helden loszureißen, doch gelingt es ihm
nur bei Theseus; Peirithous könnte seitdem als Heiliger
der Patron der »Sitzengebliebenen- sein. Auf der
zweiten Wand ist Aphrodite und Ares dargestellt;
die beiden sitzen nebeneinander, Ares hat mit der
rechten Hand das kirschrote Gewand der Göttin auf¬
gedeckt, um sie herum sind vier Eroten beschäftigt;
während zwei mit dem Hehn des Gottes, ein anderer
mit dem Schild spielen, hält ein vierter der Göttin
das Schmuckkästchen hin. — Die dritte Wand zeigt
wieder die Auffindung der Ariadne durch Dionysos.
Ariadne liegt da, in tiefen Schlaf versunken, den rechten
Arm über den Kopf gelegt, während der linke hcrab-
hängt; ihr zu Häupten gewahrt man Hypnos, den
Schlafgott, mit einer breiten Schale in der linken
Hand, in der der einschläfernde Trank zu denken
ist. — Das vierte Bild endlich zeigt eine von rechts
oben herabschwebende weibliche Gestalt, deren Ge¬
wand sich hinter ihr bogenförmig aufbauscht; sie
fliegt auf einen Jüngling zu, der mit einem grünen
Gewand um die Schenkel angetan, ruhig dasitzt. Sein
Hund vor ihm wendet den Kopf nach der fliegenden
Göttin. Da der Jüngling nicht schläft, sondern aus¬
drücklich als wachend bezeichnet ist, wird man nicht
an Selene mit Endymion, sondern an Eos und Ti-
thonos denken. Die im Hintergrund sichtbaren ge¬
lagerten Frauengestalten mit Blätterkränzen im Haar,
die sich mit den Armen umschlungen halten, sind
wohl als Ortsgottheiten zu bezeichnen.
Aus tektonischen Gründen verdient bemerkt zu
werden, daß man neben diesem Hause, in Nr. i8
der Stabianerstraße, über der Zisterne eine Reihe von
Amphoren, horizontal in die Erde gebettet, so daß
sie nur von Hals und Fuß festgehalten werden, sonst
frei schweben, über dem Wasser angeordnet hat. Wahr¬
scheinlich sollte doch hier ein leichter und doch ge¬
nügender Verschluß angebracht werden.
Kehren wir jetzt nach der Fortsetzung der Via
del Labirinto zurück, so zeigt das Triclinium von
Nr. 31 rote Wände, in deren Mitte auf gelbem Grunde
eine Landschaft gemalt ist. Man erblickt eine weidende
Herde; neben dem Jüngling, ihrem Hirten, steht ein
zweiter Jüngling, der mit dem ausgestreckten Arm
auf die Ferne deutet; man kann kaum zweifeln, daß
es sich um Paris handelt, der von Hermes auf den
sich nahenden Zug der drei Göttinnen aufmerksam
gemacht wird, die sich in der Schönheitskonkurrenz
seinem Richterspruch unterwerfen wollen. Von dem
Bilde der zweiten Wand erkennt man noch eine hoch¬
ragende, nach oben spitz zulaufende Säule, an der
ein Köcher hängt (solche Säulen pflegen Artemis¬
heiligtümer zu bezeichnen), und einen Baum und
einen Jüngling, der in der vorgestreckten rechten
Hand einen Becher hält. Vielleicht ist gar keine
mythologische Situation, sondern einfach eine heroische
Landschaft gemeint.
Nr. 30 führt zu einem ärmlichen schmalen Hause,
kaum 5 m breit, in dem nur das Larenheiligtum mit
dem Altar und der Schlange hervorzuheben ist. Durch
eine Tür ist es mit Nr. 2g verbunden, in dessen Ein¬
gang ein Graffito C. VETTIUS sichtbar ist; ob damit
der Eigentümer bezeichnet ist, vermag natürlich nie¬
mand zu sagen.
Durch Nr. 28 gelangt man zunächst in ein Atrium
mit einem Marmortisch, auf das sich ein Zimmer mit
weißen Wänden öffnet, ln der Mitte des einen ist
DIE NEUESTEN AUSGRABUNGEN IN POMPEJI
307
die Entführung der Europa durch Zeus unter der
Gestalt eines Stieres gemalt, sie liat ein gelbes Gewand
um die Schenkel geschlagen; während sie das rote
sich bogenförmig über ihr aufblähende Obergewand
mit der rechten Hand festhält, legt sie die linke Hand
auf das Haupt des Stieres; rechts am Ufer erblickt
man einen Altar, rechts und links mehrere Menschen,
die nach der Entführten die Arme ausstrecken; in
der links erscheinenden Gestalt ist wohl der Vater
Agenor zu sehen. Unter diesem Bilde hat ein Kind,
der Höhe nach zu urteilen, mit einem spitzen Gegen¬
stände Vögel in den Stuck eingezeichnet. Gegenüber
erblickt man in flüchtiger Zeichnung zwei Schiffe und
am Lande Männer, die, wie es scheint, einen Menschen
auf den Schultern davontragen. Man wird am besten
an das Laestrygonenabenteuer denken, ähnlich wie es
auf den bekannten Bildern vom Esquilin (in der vati¬
kanischen Bibliothek) dargestellt ist.
Das Triclinium dieses Hauses ist mit einem merk¬
würdigen Bild, einer Stierheize, geschmückt. Im
Hintergrund erblickt man einen Felsen, auf dem eine
Priapherme aufgerichtet ist, daneben ein rundes, mit
Öffnungen versehenes Gebäude, das am ersten an ein
Amphitheater denken läßt. Im Vordergründe gewahrt
man zwei Männer, von denen der eine mit einer wei߬
grauen, der andere mit einer kirschroten Tunika be¬
kleidet ist; beide tragen hoch hinaufgehende Schuhe.
Der eine, der in der linken Hand einen weißlichen
Mantel schwingt, hält in der gesenkten rechten Hand
ein kurzes Schwert. Der andere, mit einem kirsch¬
roten Mantel auf dem linken Arm, ist im Begriff, einen
mit starken Widerhaken versehenen Speer einem nach
links sprengenden Stier in den Nacken zu bohren,
der schon von einem zweiten Speer getroffen ist.
Ein anderer Stier liegt schon getötet am Boden. Es
bedarf keines Hinweises, wie sehr dieser Kampf ge¬
radezu an die heute noch in Spanien üblichen Stier¬
kämpfe mit ihren Picadores und Matadores erinnert.
— Das Bild der anderen Wand ist zu sehr zerstört,
als daß es beschrieben und seiner Bedeutung nach
erkannt werden könnte.
Nr. 27 und 26 scheinen einer sehr alten Zeit
anzugehören, da sie Nachahmung von Marmorinkru¬
station zeigen. Im Triklinium zeigen die Wände
über schwarzem Sockel gelben Grund; auf der Rück¬
seite sind zwei Bildchen angebracht, rechts ein junges
Mädchen mit nacktem Oberkörper, das ein rotes Ge¬
wand um die Schenkel geschlagen hat, und auf einem
Felsen sitzend eine Angelschnur in das Wasser hält;
links dagegen gewahrt man einen Jüngling, der nach
rechts sitzend und den rechten Ellenbogen auflehnend,
in der rechten Hand einen Speer hält; ein Eros hat
seinen ausgestreckten linken Arm gefaßt, als ob er
ihn zum Aufstehen bewegen wolle. Man kann wohl
nicht daran zweifeln, daß beide Bilder in Beziehung
zueinander stehen, und daß man sich als drittes Bild
das hinzudenken muß, wo der Jüngling seine Jagd
auf anderes Wild aufgibt und die schöne Fischerin
sich mit der Beute begnügt, die ihr nicht der Angel¬
haken, sondern der Eros zuführt. — Das Bild der
linken Wand läßt in der Mitte noch einen unge¬
schlachten Riesen erkennen, wohl wieder Polyphem,
der auf seine Galatea wartet. Das Bild der dritten
Wand ist zerstört. Dagegen ist im Atrium noch das
Bild des Zeus zu erwähnen; er sitzt e. f. und hält
die linke Hand beschattend über die Augen, als ob
er in die Ferne spähen wollte; in der rechten Hand
hält er den Blitz, unten steht der Adler, seines Winkes
gewärtig.
Auch das Bild eines Zimmers, das als eine Art
Tablinum betrachtet werden kann, verdient eine kurze
Erwähnung. Links sitzt eine Gestalt, über deren Ge¬
schlecht man zweifeln kann, in kurzem Gewand nach
rechts auf einem Stuhl; sie hält in der einen Hand
einen Speer, der über ihre rechte Schulter ragt; rechts
davon steht ein Mann, der in der rechten gesenkten
Hand einen Speer hält, neben ihm ist ein Hund an¬
gebracht; zwischen beiden Gestalten liegt ein undeut¬
licher Gegenstand am Boden. — Man wird dies wohl
für das Fell eines Ebers halten und in den beiden
Gestalten Meleager und Atalante erkennen können.
Daß das Zimmer nicht die gewöhnliche Form des
Tablinum hat, kommt daher, daß das Haus zwischen
zwei sich schneidenden Straßen spitz zuläuft und
deshalb die gewöhnliche Hausform nicht festhalten
konnte. — Darauf folgt noch Nr. 25, ein Laden ohne
Zugehörigkeit zum Hause, und Nr. 24, das wohl als
Bottega oder Osteria diente. Jenseits dieses Straßen¬
endes folgt nach Norden ein Wasserkastell, in dem
die Verteilung des durch die Wasserleitung gelieferten
Wassers erfolgt, und die Porta Vesuviana, das Ve¬
suvtor, das in seiner Anlage keine Besonderheiten
verrät.
Noch ist zu erwähnen, daß an dem Eingang der
Stabianerstraße in dies Viertel an der Außenseite des
der Casa degli Amoretti dorati gegenüberliegenden
Hauses zwei Bilder angebracht sind, Dionysos, der,
weinselig von einem Satyr gestützt, aus einem Kan-
tharos Wein ausgießt (neben ihm ein Panther), und
Hermes, nach rechts eilend, mit einem Kerykeion in
der Hand; vor ihm ist ein Omphalos mit einer sich
aufrichtenden Schlange angebracht.
Eine Bemerkung verdient wohl auch der Umstand,
daß in dieser Straße vor mehreren Häusern Ruhe¬
bänke angebracht sind; man kann sich die Bürger
vorstellen, wie sie nach des Tages Last und Hitze,
um die kühle Abendluft zu genießen und mit den
Nachbarn traulich zu plaudern, vor ihren Häusern
saßen, ein Bild, das man bis jetzt bei den antiken
Pompejanern nicht vorausgesetzt hätte. — Auch daß
dort wieder ein Pfeiler aufgefunden ist, an dem die
Wasserleitungsröhren in die Höhe geleitet wurden,
so daß von dem Bassin in der Höhe die Verteilung
in die umliegenden Häuser erfolgt, sei nebenbei er¬
wähnt; die bis vor kurzem noch in Palermo bestehende
ganz ähnliche Einrichtung scheint nach der Einfüh¬
rung der allgemeinen Wasserleitung dort ganz ver¬
schwunden zu sein.
Das sind die Resultate der Ausgrabungen, über
die jetzt zu berichten wäre. Hoffentlich geht es nun
rüstig weiter; an gewinnbringenden Resultaten wird
es dann sicher nicht fehlen. ENGELMANN.
WILLIAM UNOER IN WIEN ZU SEINEM SIEBZIGSTEN GEBURTSTAGE
IN diesen Tagen, am i i. September, feierte
William Unger seinen siebzigsten Geburtstag.
Zu dem Tage, mit dem er offiziell in das Qreisen-
alter eintritt , können wir an keiner Stelle dem
Freunde und Kupferstecher , dem verdienten Be¬
gründer der modernen f<adierkunst in Deutschland,
unsere Glückwünsche passender darbringen als hier
in der »Zeitschrift für bildende Kunst . Flat doch
William Unger in den ersten Jahrgängen dieser Zeit¬
schrift seine Sporen verdient; die Aufträge, die ihm
E. A. Seemann erteilte, vor allem die Radierungen der
Meisterwerke in den Galerien zu Braunschweig und
Kassel, die hier vor etwa vierzig Jahren erschienen,
haben zugleich der Zeitschrift ihren Charakter ge¬
geben und das allgemeine Interesse in Deutschland
darauf gelenkt, sie haben vor allem den Sinn an der
malerischen Behandlung des Stichs wieder geweckt
und uns zu der modernen Malerradierung verholten,
die seither auch bei uns in Deutschland besonders
gepflegt und gewürdigt wird.
William Unger lebt seit mehr als einem Menschen¬
alter in Wien; er ist ein Wiener geworden, aber er ist
keineswegs ein geborener Wiener, sondern ein echter
Norddeutscher, der Sproß einer der begüterten alten
Beamtenfamilien Hannovers. William Ungers Vater war
freilich mit Glücksgütern nicht bedacht; der als Sohn
reicher Eltern erzogene Jüngling mußte, infolge derTreu-
losigkeit seines Vormundes, als zweiter Bibliothekar in
Göttingen und als Lehrer der Kunstgeschichte — da¬
durch damals noch eine Kuriosität auf deutschen Uni¬
versitäten! — - sich und seiner Familie aufs einfachste
durchhelfen. War doch für die deutschen Kunst¬
gelehrten noch nicht einmal das Morgenrot der Zeit
angebrochen, in der sie mit pikantem und frivolem
Kunstgeschwätz in den Tagesblättern und illustrierten
Monatsschriften oder durch Gutachten über zweifel¬
hafte Privatsammlungen, Empfehlungen von Kunst¬
versteigerungen und dergleichen auf leichteste Weise
Geld machen und üppig leben können. Zwei der
Kinder des alten Professors Unger wandten sich der
Kunst zu. William wurde Maler, aber bei seiner be¬
sonderen zeichnerischen Veranlagung widmete er sich
bald ausschließlich der Stecherkunst. Die freie Be¬
handlung der Platte mit der Radiernadel, die zuerst
in Frankreich wieder aufgekommen war, entsprach
seinem malerischen Sinne mehr als der ängstliche,
mehr und mehr in Stahlstichart vorkommende Linien¬
stich. Da die Photographie für die Nachbildung von
Gemälden damals noch völlig versagte und die photo¬
graphischen Druckverfahren noch nicht erfunden
waren, so widmete Unger seine Kunst der Nach¬
bildung von Kunstwerken, in erster Linie von alten
Gemälden, die auch im Publikum das meiste Interesse
erregten. Nach den ersten, zum Teil noch halb
schüchternen Versuchen in der Braunschweiger Galerie
hat er bald darauf, jetzt vor vierzig Jahren, in dem
Album der Kasseler Galerie die Radierung zu völlig
freier, malerischer Nachbildung der alten Gemälde,
namentlich der holländischen Meister gebracht. Seine
Radierungen nach Rembrandt erregten vor allem
höchste Bewunderung; noch reifer und freier erscheint
der Künstler, wenn er das helle Tageslicht wiedergibt:
in seinen Radierungen nach Rubens, Cuyp, den beiden
van de Velde und ähnlichen Meistern.
Der Erfolg dieser Arbeiten brachte William Unger
rasch in den Vordergrund unserer deutschen Stecher;
sein Vorbild und seine Schule hat die malerische
Radierung, auf Grund von Rembrandts Behandlungs¬
weise, rasch auch in Deutschland zur Herrschaft ge¬
bracht, seine zahlreichen oft vortrefflichen Radierungen
und Publikationen ganzer Galerien haben wesentlich
dazu beigetragen, das Interesse an alter Kunst bei
uns zu heben und das Verständnis dafür zu fördern.
Auf seinen Schultern stehen die jüngeren Malerradierer,
welche der Schwarzweißkunst wieder ein neues, ihr
eigenstes Feld zugewiesen haben. Wo Unger in
seinem anfangs etwas heimatlosen Künstlerleben sich
niedergelassen hat: in Weimar, in Braunschweig, Kassel
und, seit 1871, in Wien, hat er es verstanden alle,
denen er näher getreten ist, durch seine Kunst zu
fesseln und durch sein ruhiges, freundliches Wesen,
seine Kunstbegeisterung, seinen bescheidenen Sinn,
seinen offenen Charakter sich zu Freunden zu machen.
Mit ihnen, mit allen, die in Deutschland ein warmes
Herz für das Gedeihen der nationalen Kunst haben,
begrüßen wir den Künstler zu dem heutigen Tage,
der ein heiteres Alter einleiten und ihm weiteres erfolg¬
reiches Schaffen bringen möge. IV. BODE.
Herausgeber und verantwortliche Redaktion: E. A. SEEMANN, Leipzig, Querstralte 13
Druck von Ernst Hedricm Nachf. g. m. b. h. Leipzig
KINDERKÖPFCHEN
I
jElTSCHRIFT FÜR BILDENDE KUNST I907
ORIGINALRADIERUNO VON HERMINE LAUKOTA