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Full text of "Zeitschrift für bildende Kunst"

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iüi 


iii 


ZEITSCHRIFT 

FÜR 


DENDE 


KUN 


MIT  DEN  BEIBLÄTTERN 

KUNSTCHRONIK  UND  KUNSTMARKT 


NEUE  EOLOE 

ACHTZEHNTER  JAHRGANG 


LEIPZIG 

VERLAG  VON  E.  A.  SEEMANN 
1907 


Digitized  by  the  Internet  Archive 
in  2018  with  funding  from 
Getty  Research  Institute 


https://archive.org/details/zeitschriftfurbi42unse 


Inhalt  des  achtzehnten  Jahrgangs 


Seite 


Aufsätze  über  neuere  Kunst 

Sir  Charles  Holroyci  als  Radierer.  Von  Sdwin  Brinton. 

Mit  1  Originalradierung  und  4  Abbildungen  .  .  17 

Die  Sprache  der  Schere.  Von  Heinrich  Woljf.  Mit 

1  Silhouettentafel  und  4  Abbildungen . 22 

Eine  Ausstellung  französischer  Künstler  im  Münchener 

Kunstverein.  Von  Wilhelm  Michel . 26 

Lucien  Pissarro  als  Buchkünstler.  Von  Dr.  Erich  Will¬ 
rich.  Mit  I  farbigen  Holzschnitt  und  4  Abbildungen  32 

Der  Pariser  Herbstsalon.  Von  K-  E.  Schmidt  .  .  47 

Leo  Putz.  Non  Wilhelm  Michel.  Mit  2  Intagliogravüren 

und  6  Abbildungen . 53 

Zwei  Jahrhunderte  russischer  Kunst.  Von  Igor  Qrabar. 

Mit  1  Dreifarbendruck  und  23  Abbildungen  ...  58 

Das  Kaiser-Friedrich-Museum  der  Stadt  Magdeburg. 

Von  Alfred  Hagelstange.  Mit  19  Abbildungen  .  81 

Neue  Werke  von  B.  Heroux  und  P.  Buerck.  Von  G.  l\.  108 

Max  Klinger.  Ein  Gruß  zu  seinem  50.  Geburtstage. 


Von  Feli.x  Becker.  Mit  1  Intagliogravüre  und  2  Ab¬ 


bildungen  . 109 

Die  erste  graphische  Ausstellung  des  deutschen  Künst¬ 
lerbundes  im  deutschen  Buchgevverbemuseum  zu 
Leipzig.  Von  R.  Graul.  Mit  15  Abbildungen  .  .  137 

Daniel  Staschus.  Von  W.  Michel.  Mit  1  Original¬ 
holzschnitt  . 164 

Moderne  Baukunst  in  Finnland.  Von  Alarik  Tavast- 

stjerna.  Mit  20  Abbildungen . 176 

Constantin  Guys.  Von  Karl  Engen  Schmidt.  Mit 

11  Abbildungen . 189 

Wilhelm  Giese.  Von  Paul  Dobert.  Mit  1  Original¬ 
radierung  . 227 

Max  Liebermann  zum  60.  Geburtstage.  Von  Gustav 

Kirstein.  Mit  15  Abbildungen . 237 

Die  Große  Kunstausstellung  und  die  Ausstellung  der 
Berliner  Sezession.  Von  Emil  Heilbut.  Mit  1  Tafel 

und  27  Abbildungen . 243 

Felix  Bracquemond.  Von  Kcirl  Eugen  Schmidt.  Mit 
1  Originalradierung  und  9  Abbildungen  ....  269 

Französische  Kunstausstellung  im  Kaiser -Wilhelm- 

Museum  zu  Krefeld.  Von  M.  Schmid . 299 

William  Unger  in  Wien  zu  seinem  70.  Geburtstage. 

Von  W.  Bode.  Mit  1  Originalradierung  ....  308 

Forschungen  zur  älteren  Kunstgeschichte 

Burgos.  Eine  Stätte  gotischer  Kunst  in  Spanien.  Von 

Alfred  Demiani.  Mit  22  Abbildungen .  1 

Aegina,  Das  Heiligtum  der  Aphaia.  Von  Alax  Maas  27 


Seife 


Das  Bildnis  der  Giulia  Gonzaga  von  Sebastiano  del 
Piombo.  Von  Emil  Schaffer.  Mit  i  Tafel  und 

1  Abbildung . .  . . 29 

Niederländische  Gemälde  in  der  Kaiserlichen  Akademie 
der  Künste  zu  St.  Petersburg.  Von  A.  Neoustroieff. 

Mit  7  Abbildungen . 36 

Arbeitende  Bauern  auf  burgundischen  Teppichen.  Von 

A.  Warburg.  Mit  3  Abbildungen . 41 

»Die  Atzel,  die  von  dem  Aal  schwätzt«.  Von  Konrad 

Lange.  Mit  1  Abbildung . 94 

Unbeachtete  Malereien  des  15.  Jahrlumdens  m  Floren¬ 
tiner  Kirchen  und  Galerien.  Von  O.  Wulff.  Mit 

8  Abbildungen . 99 

Ergänzte  Antiken.  Von  Ad.  Michaelis.  Mit  12  Ab¬ 
bildungen  . 113 

Die  spanisch-maiinschen  Fayencen  der  Sammlung  Beit 
in  London.  Von  W.  R.  Valentiner.  Mit  18  Ab¬ 
bildungen  . 119 

Ausstellung  plastischer  Bildwerke  des  r5.  und  16.  Jahr¬ 
hunderts  in  München.  Von  Fritz  Burger.  Mit 
26  Abbildungen  . 146 


Eine  Sammlung  von  Handzeichnungen  des  Francisco 
Goya.  Von  A.  de  Beruete.  Mit  10  Abbildungen  .  165 

Zwei  polychrome  Tongefäße  aus  der  kaiserlichen 
Ermitage  in  St.  Petersburg.  Von  Eugen  Pridik. 

Mit  1  Intagliogravüre,  1  Farbendruck  und  3  Ab¬ 


bildungen  . 172 

Eine  neue  Kopie  des  Myronischen  Diskobolen  in  Rom. 

Von  Walter  Amelung.  Mit  5  Abbildungen  .  .  .  185 

Die  Beweinung  mit  dem  Stifter.  Von  Otto  Seeck. 

Mit  6  Abbildungen . 197 

Amra  und  seine  Malereien.  Non  Josef  Slrzygowski. 

Mit  6  Abbildungen . 213 

Zur  Cranachforschung.  Von  Julius  Vogel.  Mit  5  Ab¬ 
bildungen  . 219 

Der  Diskuswerfer.  Von  Ludwig  Volkmanii.  Mit 

14  Abbildungen . 229 

Skizzen  und  Zeichnungen  des  Francesco  Guardi.  Von 
George  A.  Sinionson.  Mit  9  Abbildungen  .  .  .  26t 

Der  neue  Vermeer.  Von  Kurt  Preise.  Mit  r  Ab¬ 
bildung  . 277 

Die  Klöster  von  Subiaco.  Von  Etlore  Modigliani  .  279 

Besalü,  die  Spuren  eines  mittelalterlichen  Grafen¬ 
geschlechtes  in  den  östlichen  Pyrenäen.  Von  Alfred 

Demiani.  Mit  21  Abbildungen . 285 

Die  neuesten  Ausgrabungen  in  Pompeji.  Von  R. 
Engelmann . . . 302 


IV 


INHALTSVERZEICHNIS 


Kunstbeilagen 


Seite 

E.  Bischof/- Ciilni ,  Menzel.  Originalradierung  nach  136 

F.  Bracqiiemond,  Der  Wolf  im  Schnee.  Original- 


raciieriing . vor  261 

Ernst  Gabler,  Liidvvigsburg.  Originalradierung  nach  18S 

Wilhelm  Diese,  Markt  in  Magdeburg.  Original¬ 
radierung  .  vor  213 

Francisco  Goya,  Zwei  Handzeichnungen  vor  165 

Constantia  Gays,  Zeichnung . vor  189 

Bruno Heroux,  KwsVtrom.  Originallithographie  nach  108 

Charles  Holroyd,  Nymphen  am  See.  Original¬ 
radierung  .  nach  16 

Max  Kliager,  Diana.  Intagliogravüre  .  .  .  vor  109 

Alois  Kolb,  Fröhliche  Wanderschaft.  Original¬ 
radierung  . vor  1 

Fritz  Lang,  Hasen.  Originalholzschnitt  .  .  vor  81 

Fritz  Lang,  Porträt.  Originalholzschnitt  .  .  nach  88 

Herniine  Laukola,  Im  Refektorium.  Original- 

radierimg . nach  52 

Herniine  Laiikota,  Kmderköpfchen.  Original¬ 
radierung  .  nach  308 


Seile 

Fritz  Lederer,  Landschaft.  Originalradierung  .  nach  212 
Max  Liebermann,  Holländischer  Kanal.  Helio¬ 
gravüre  .  vor  237 

Ph.  Maljawin,  Bojarin  im  Festschmuck.  Drei¬ 
farbendruck  .  nach  80 

Miniatur  aus  dem  Seelengärtlein.  Dreifarben¬ 
druck  .  nach  260 

Franz  Mutzenbecher,  Der  weiße  Rabe.  Original¬ 
radierung  .  vor  137 

Sebastiano  del  Piombo,  Damenbildnis  .  .  .  vor  29 

Luden  Pissarro,  Farbiger  Holzschnitt  .  .  .  nach  36 

Polychrome  Tongefäße  aus  der  kaiserlichen 
Ermitage  zu  St.  Petersburg.  Intagliogravüre 

und  Farbendruck . vor  173 

Leo  Putz,  Atelierbesuch.  Intagliogravüre  .  ,  vor  53 

Leo  Putz,  Begegnung.  Intagliogravüre  .  .  .  nach  56 

D<7/nV/Sfaso/;//s,  Vor  Anker.  Originalholzschnitt  nach  164 
William  Unger,  Am  Karst.  Originalradierung  vor  285 
yWiZzf/m  Spaziergang.  Original holzschnitt  nach  284 

Heinrich  Wolff,  Erasmus.  Silhouette  .  .  .  nach  28 


FRÖHLICHE  WANDERSCHAFT.  ORIOINALRADIERUNQ  VON  ALOIS  KOLB 


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BUROOS 

EINE  STÄTTE  GOTISCHER  KUNST  IN  SPANIEN 
Von  Alfred  Demiani  in  Barcelona 


Architektur  ist  in  stein  geschriebene  Ge¬ 
schichte.  —  Man  nimmt  einem  Volke  viel, 
wenn  man  die  Denkmäler  früherer  Tage  ver¬ 
nichtet.  Man  zerbricht  die  Brücke,  welche  aus  der 
Vergangenheit  zur  Gegenwart  herüberführt. 

Die  in  den  Museen  unserer  großen  Kapitalen, 
losgelöst  vom  organischen  Zusammenhang,  aufge¬ 
häuften  Steine  haben  das  Leben  verloren,  sie  sind  tot. 

Doch  glaubt  man  vielleicht  neues  Leben  aus  Rui¬ 
nen  zu  erwecken,  wenn  man  sich  nicht  auf  eine 
liebevolle  Erhaltung  des  aus  der  Vorzeit  Überkom¬ 
menen  beschränkt,  sondern  versucht  in  »stilgerechter« 
Weise  zu  renovieren,  verbessern,  ergänzen  und  voll¬ 
enden? 

Der  Stil  ist  die  Eormensprache  eines  bestimmten 
Zeitabschnittes.  Die  Formen  sind  nicht  zufällig  ent¬ 
standen,  sie  drücken  das  aus,  was  eine  Zeit  gedacht, 
geglaubt,  erstrebt  hat. 

Wie  können  wir  den  Ausdruck  hierfür  wieder¬ 
finden,  wenn  uns  die  Ideale,  welche  damals  die 
Geister  bewegten,  längst  fremd  geworden  sind.  Eine 
im  19.  Jahrhundert  entstandene  gotische  Domfassade 
ist  unwahr. 

Doch  es  gibt  noch  geweihte  Stätten,  wo  die 
Steine  klar  und  deutlich  zu  uns  reden.  Bald  bringen 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XVIII.  Ff.  i 


sie  uns  die  erschütternde  Kunde  von  dem  ewigen 
Werden  und  Vergehen  der  Geschlechter;  so  ist  es 
in  Rom.  Bald  sehen  wir,  daß  eine  stolze  zielbewußte 
Kaste  Jahrhunderte  lang  den  einen  Gedanken  fest¬ 
gehalten  und  verfolgt  hat,  so  entstand  Venedig  mit 
seinem  trotz  der  verschiedenartigsten  Stilarten  so  har¬ 
monischen  Markusplatz.  Bald  zeigt  sich  uns,  daß 
hochentwickelte,  doch  unvereinbare  Kulturelemente 
aufeinander  getroffen  sind,  diese  Dissonanz  empfinden 
wir  beim  Anblick  des  Renaissancepalastes  Karls  V. 
auf  der  Alhambra  oder  der  Moschee  von  Cordoba 
mit  ihrem  berüchtigten  christlichen  Einbau. 

Daneben  finden  wir  Plätze,  welche  nur  kurze 
Zeit  hindurch  eine  Rolle  im  Leben  der  Völker  ge¬ 
spielt  haben.  Sie  liegen  jetzt  abseits  und  halbver¬ 
gessen;  aber  ihre  Monumente  tragen  noch  den  Stempel 
der  Größe  aus  jenen  Tagen,  als  sich  hier  ein  Stück 
Weltgeschichte  abspielte,  und  alles  erinnert  uns  an 
diese  eine,  kurze  Periode  des  Glanzes. 

Zu  diesen  Städten  gehört  Burgos. 

* 

Die  Bedeutung  von  Burgos  beginnt,  als  1230 
Ferdinand  111,,  der  Heilige,  die  Kronen  von  Castilien 
und  Leon  dauernd  vereinigte,  und  endet,  als  im 


2 


BURGOS 


ABB.  2.  GRABMAL  DES  GRÜNDERS  BISCHOF  MAURICIO  IN  DER  KATHEDRALE 


i6.  Jahrhundert  die  Habsburger  die  königliche  Resi¬ 
denz  nach  Madrid  verlegten. 

ln  dieser  Spanne  Zeit  sind  die  wichtigsten  Bau¬ 
denkmäler  der  Stadt  entstanden. 

Wohl  ist  die  Geschichte  von  Burgos  von  altersher 
mit  der  von  Castilien  aufs  innigste  verknüpft,  wohl 
erinnert  die  Ruine  der  1812  durch  die  Franzosen 
gesprengten  Burg  an  jene  Zeiten,  als  die  Höhen 
der  Grenzmark  des  kleinen  christlichen  Königreichs 
Asturien  sich  mit  Kastellen  zum  Schutz  gegen  die 
Einfälle  der  Ungläubigen  bedeckten  und  so  Name 
und  Wappen  von  Castilien  entstanden;  wohl  war 
Burgos  Zeuge  davon,  daß  die  seit  Fernan  Gonzalez 
(930)  erblichen  Grafen  von  Castilien  die  Königswürde 
erlangten;  wohl  war  hier  die  Heimat  des  Cid  (1040), 
des  Name  heute  noch  in  aller  Munde  lebt;  doch  die 
Bauten  aus  jenen  noch  halb  der  Sage  angehörenden 
Tagen  haben  bis  auf  geringe  Reste  denen  eines 
glanzvolleren  Zeitabschnittes  weichen  müssen. 

Burgos  ist  die  Hauptstadt  der  seit  der  Ent¬ 
scheidungsschlacht  von  Las  Navas  de  Tolosa  (1212) 
stets  siegreichen  Reconquista. 

Es  ist  eine,  wenn  auch  zufällige,  so  doch  dem 
Zeitgeist  entsprechende  Umrahmung  dieser  Jahr¬ 
hunderte,  in  denen  sich  Spaniens  Größe  vorbereitet, 
daß  in  ihrem  Beginn  der  Versuch,  an  ihrem  Ab¬ 
schluß  die  Tatsache  einer  Vereinigung  der  höchsten 
Würde  der  Christenheit  mit  der  castilischen  Krone 
stehen  ^). 

Und  wenn  auch  verschiedene  Herrscher,  als  das 
Reich  sich  immer  mehr  nach  Süden  ausdehnte, 
sonnigeren  Residenzen,  wie  Toledo,  Sevilla,  den 
Vorzug  vor  der  rauhen  Gebirgsstadt -)  gaben,  so 
behauptete  doch  Burgos  seine  Stellung  als  erste 
Stadt  der  Monarchie,  »prima  voce  et  fide«  ^). 


1)  Alfons  X.,  Sohn  Ferdinands  III.  und  Beatrix  von 
Schwaben,  Schwester  Friedrichs  II.,  machte  1257—75  An¬ 
sprüche  auf  die  römische  Kaiserwürde  geltend.  Karl  I.  (V.), 
1516  König  von  Spanien,  1519  römischer  Kaiser. 

2)  Burgos  liegt  856  m  ü.  M. 

3)  Wappenspruch  von  Burgos. 


Es  verbindet  sich  aber  auch  mit  der  Blütezeit 
von  Burgos  jener  schöne  und  fleckenlose  Abschnitt 
der  spanischen  Geschichte,  als  sich  Glaubenseifer  und 
Toleranz  vereinigten,  als  man  den  unterliegenden, 
ritterlichen  Gegner  achtete  und  von  seiner  höheren 
Bildung  lernte,  als  die  castilischen  Könige,  ohne 
Ansehen  der  Religion,  jedem  ihrer  Untertanen  das 
gleiche  Recht  gewährten,  und  sich  so  das  spanische 
Judentum  zu  einem  belebenden  Kulturfaktor,  wie  in 
keinem  anderen  Land  während  des  Mittelalters,  ent¬ 
wickeln  konnte. 

So  haben  auch  in  Burgos  maureske  und  jüdische 
Familien,  Gelehrte  und  Künstler  damals  eine  große 
Rolle  gespielt. 

Als  nach  dem  Falle  von  Granada  (1492)  mit 
Beendigung  der  Rückeroberung  die  unselige  Ära  der 
Intoleranz  begann  und  ihre  folgenschwere  Tätigkeit 
mit  der  Ausweisung  der  Juden  eröffnete,  da  war  auch 
der  Stern  von  Burgos  im  Erbleichen,  und  wenn  es 
auch  unter  Karl  V.  noch  seine  Bedeutung  wahrte, 
und  die  Vollendung  seiner  Kathedrale  sogar  in  die 
Regierungszeit  Philipps  II.  fällt,  so  ist  es  doch  im 
Spanien  der  Habsburger  und  Bourbonen  zum  Rang 
einer  Provinzialstadt  herabgesunken. 

In  diesen  Jahren  ist  wenig  Beachtenswertes  in 
Burgos  gebaut,  aber  auch  glücklicherweise  wenig  an 
dem  Vorhandenen  geändert  worden. 

Wie  aus  dem  bisher  Gesagten  sich  beinahe  als 
selbstverständlich  ergibt,  trägt  Burgos  ausgesprochen 
das  Gepräge  der  Gotik.  Auch  die  wenigen  der 
Renaissance  angehörenden  Monumente  fügen  sich 
wenig  auffallend  in  den  Rahmen  des  Ganzen  ein 
und  ordnen  sich  gewissermaßen  der  das  Gesamtbild 
beherrschenden  Idee  unter. 

*  * 

* 

Für  das  Studium  des  gotischen  Baustils  in  Spanien 
ist  Burgos  eine  der  wichtigsten  Städte,  um  nicht  zu 
sagen  die  wichtigste  Stadt,  da  wir  hier  nicht  nur 
einen  der  schönsten  und  reichsten  der  gotischen  Dome 
vorfinden,  sondern  in  Stadt  und  nächster  Umgebung 


ABB,  3.  KATHEDRALE:  ANSICHT  DER  HAUPTFASSADE  ABB.  4.  KATHEDRALE:  PUERTA  DEL  SARMENTAL 

Aus  »)oly,  Meisterwelke  der  Baukunst  und  des  Kunstgewerbes«.  Spanien  I 


BURGOS 


^  o-:- 

-;j  len  7ei;er 
ii.  ::  :i:isschlieniicb  den 
gotischen  DerKmäi  ^n  vnn 
Burgos  gewidmet  sein 
und  hierbei  gleichzeitig 
mit  Hilfe  der  beigefügden 
Abbildungen  versuchen, 
das  für  Spanien  Charakte¬ 
ristische  zum  Ausdruck  zu 
bringen. 

Eine  erschöpfende  Dar¬ 
stellung  würde  die  für 
diese  Arbeit  gesteckten 
Grenzen  bei  weitem  über¬ 
schreiten.  Ich  werde  mich 
lediglich  bemühen,  eine 
kleine  Auslese  dessen,  was 
mir  typisch  erscheint,  zu 
geben  und  hierbei  nach 
Möglichkeit  gleichen  Pe¬ 
rioden  Angehöriges  neben¬ 
einander  stellen. 

Ehe  ich  mich  meiner 
Aufgabe  zuwende,  möchte 
ich,  auch  auf  die  Gefahr 
hin,  einem  Teil  meiner 


In 

Hi 

i. 

ABB.  5.  SAN  ESTEBAN;  PORTAL 


Leser  hiermit  nichts  Neues 
zu  sagen,  einige  Bemer¬ 
kungen  allgemeiner  Natur 
über  gotische  Kunst  in 
Spanien  vorausschicken. 


Wie  die  Gotik  über¬ 
haupt  der  Stil  der  religiö¬ 
sen  Innigkeit  und  der  gläu¬ 
bigen  Frömmigkeit  ist,  wie 
es  ihr  gelungen  ist,  Got¬ 
teshäuser  zu  schaffen,  in 
denen  wir  etwas  von  der 
mystischen  Nähe  eines 
überirdischen  Wesens  emp¬ 
finden,  so  liegt  es  auf  der 
Hand,  daß  sie  für  das 
künstlerische  Leben  eines 
Volkes,  dessen  Geschichte 
einen  fast  achthundertjäh¬ 
rigen  Glaubenskampf  auf¬ 
weist,  von  erhöhter  Be¬ 
deutung  werden  mußte. 

Das  christliche  Spanien 
hat  das  Wesen  dieses  Stils 
besonders  tief  empfunden, 
hat  es  verstanden,  einen 
eigenartigen,  durchaus  na- 


ABB.  6.  KATHEDRALE:  EINGANGSTÜR  ZUM  KREUZOANG 


ABB.  7.  KATHEDRALE:  PUERTA  DE  LA  CORONERIA 


ABB.  S.  KATHEDRALE:  KREUZGANO,  NÖRDLICHE  GALERIE  ABB.  9.  KATHEDRALE:  CAPILLA  DE  LA  VISITACION 


tioiialen  Ausdruck  für  ihn  zu  schaffen  und  hat,  als 
Folge  hiervon,  besonders  zäh  an  ihm  festgehalten, 
ihn  weniger  bereitwillig  als  andere  Völker  dem  neuen 
Geist  der  Renaissance  geopfert.  Die  spanische  Archi¬ 
tektur  steht  bis  zur  Mitte  des  i6.  Jahrhunderts  noch 
unter  gotischem  Einfluß. 

Man  kann  bei  der  spanischen  Gotik  in  ähnlicher 
Weise  wie  anderwärts,  entsprechend  den  drei  Jahr¬ 
hunderten,  denen  sie  angehört,  drei  Hauptabschnitte 
unterscheiden. 

Im  13.  Jahrhundert  wird  sie  sich  sozusagen  erst 
der  neuen  Formensprache  bewußt,  erinnert,  zumal  in 
Art  und  Anordnung  des  Ornaments,  noch  stark  an 
romanische  Vorbilder  und  läßt  bei  Würde  und  Ein¬ 
fachheit  in  der  Form,  eine  gewisse  Roheit  und 
Unbeholfenheit  in  der  Ausführung  des  Figürlichen 
erkennen. 

Das  letztere  gilt  für  die  Provinzen,  welche  das 
damalige  Königreich  Castilien  bildeten,  in  erhöhtem 
Maße;  man  war  dort  der  höherentwickelten  Kultur 
Nordeuropas  erheblich  ferner,  als  beispielsweise  Na¬ 
varra  und  Catalonien,  die  immer  mehr  oder  weniger 
unter  französischem  Einfluß  standen. 

Die  zweite  Periode  bringt,  ohne  an  der  Form 
Wesentliches  zu  ändern,  größeren  Reichtum  und 
größere  Feinheit  des  Ornaments.  Vor  allem  finden 
wir  schon  das  für  die  spätere  Gotik  so  charakteristische 
Pflanzenornament  in  zartester  Ausführung. 

Es  ist  dies  wohl  bei  der  Vereinigung  von  Rein¬ 
heit  und  Klarheit  der  Linien  mit  Anmut  und  Grazie 
das  klassische  Zeitalter  des  Spitzbogenstils. 

Seit  dem  Ende  des  14.  Jahrhunderts  beginnt  das 
Ornament,  auf  Kosten  der  Form  zum  Teil,  zu  über¬ 
wuchern.  Der  Gesamteindruck  leidet  zugunsten  des 
Details.  Man  begnügt  sich  nicht  mehr  mit  dem 
Spitzbogen,  man  wendet  daneben  den  geschweiften 
Bogen  nebst  seinen  abwechslungsreichen  Abarten  an. 

Der  Wunsch,  Macht  und  Glanz  zum  Ausdruck 
zu  bringen,  verdrängt  die  naive  Frömmigkeit,  ln 
demselben  Maße  wie  die  Schlichtheit  aus  den  Kirchen 
schwindet,  nimmt  die  Pracht  der  Profanbauten  zu. 

Es  ist  die  Bauweise  des  Jahrhunderts,  welches 
mit  der  Vereinigung  von  Castilien  und  Aragon,  mit 
der  endgültigen  Vernichtung  der  Maurenherrschaft, 
mit  der  Entdeckung  der  neuen  Welt  und  —  mit 
der  religiösen  Unduldsamkeit  endete. 

Gleichzeitig  tritt  hier  zum  ersten  Male  die  Per¬ 
sönlichkeit  des  Künstlers  in  den  Vordergrund.  Bis 
dahin  hatte  man  selbstlos  »in  majorem  Dei  gloriam« 


geschaffen;  jetzt  verkünden  die  Werke  den  Ruhm 
des  Meisters. 

Wir  finden  hier  bereits  deutliche  Spuren  des 
für  die  spätere  spanische  Kunst  so  charakteristischen 
Naturalismus  und  Individualismus.  Die  Folge  hier¬ 
von  ist,  daß  wir  ganz  hervorragenden  Leistungen 
auf  dem  Gebiet  der  Porträtstatue  begegnen. 

Daneben  macht  sich  in  den  künstlerischen  Schöp¬ 
fungen  dieser  Jahrhunderte  ein  weiteres  Element  in 
Spanien  geltend.  Es  ist  dies  die  Bereicherung  der 
Ideen  durch  bei  Berührung  mit  der  Kultur  des  Orients 
empfangene  Eindrücke,  befördert  durch  die  bereits  er¬ 
wähnte,  uns  so  sympathisch  berührende  Toleranz  jener 
Tage,  welche  trotz  fast  jährlich  sich  wiederholender 
bewaffneter  Zusammenstöße  fruchtbringende  friedliche 
Beziehungen  zwischen  Christen  und  Muhamedanern 
ermöglichte. 

Es  läßt  sich  diese  gegenseitige  Einwirkung  bei  der 
gotischen  Baukunst  im  Norden  und  der  maurischen 
im  Süden  der  Halbinsel  konstatieren,  und  zwar  werden 
die  Merkmale  hierfür  um  so  prägnanter,  je  mehr  sich 
die  beiden  Stilarten  verfeinern  und  ausgestalten’). 

Es  ist  gewiß  kein  plumper  Zufall,  daß  fast  gleich¬ 
zeitig  mit  den  überreichen  und  prunkvollen  christ¬ 
lichen  Bauten  sich  die  märchenhaften  Paläste  der 
Alhambra  und  des  Alkazar  von  Sevilla  mit  ihren 
Stalaktitengewölben  und  von  Arabesken  bedeckten 
Wänden  erheben. 

Der  Umstand,  daß  die  Entstehung  der  erwähn¬ 
ten  maurischen  Bauwerke  der  der  entsprechenden 
christlichen  Konstruktionen  etwa  ein  halbes  Jahr¬ 
hundert  voraufgeht,  gibt  der  Vermutung  Raum,  daß 
auch  hier,  wie  so  oft,  die  kulturelle  Beeinflussung 
des  Siegers  durch  den  Besiegten  die  stärkere  ge¬ 
wesen  ist. 

Im  Zusammenhang  mit  dem  Gesagten,  der  Ver¬ 
tiefung  des  durch  die  Gotik  ausgesprochenen  Ge¬ 
dankens  einerseits  und  der  Zugänglichkeit  für  mau¬ 
rische  Einflüsse  andererseits,  steht  der  höchst  eigen¬ 
artige  Kompromißstil,  welchen  die  spanische  Kunst 
sich  schafft,  als  sie  sich  einem  dritten,  neuen  Ele¬ 
ment,  der  Renaissance  gegenüber  sieht. 

Es  entsteht  so  ein  spezifisch  spanischer,  mehr 
origineller,  als  edler  Stil,  der  die  Gotik  abschließt, 


1)  Das  Bindeglied  zwischen  maurischer  und  christ¬ 
licher  Kunst  bildet  das  sogenannte  »Mudejar«;  da  dieser 
Stil  für  Burgos  kaum  in  Betracht  kommt,  unterlasse  ich  es, 
näher  darauf  einzugehen. 


BURGOS 


7 


oder  auch,  wenn  man  so  will,  im  Verlauf  von  mehr 
als  einem  halben  Jahrhundert  allmählich  von  der 
Spätgotik  zur  Renaissance  hinüberführt. 

ln  abwechslungsreichster  und  zwanglosester  Weise 
werden  Motive  aus  zwei  oder  auch  drei  Stilarten  ge¬ 
mischt.  Im  allgemeinen,  wenigstens  in  Burgos,  be¬ 
hält  man  Struktur  und  äußere  Form  der  Gotik  bei, 
während  man  das  Ornament  bereits  der  Renaissance 
entlehnt;  die  Vorliebe  aber,  die  Wände  mit  Verzierungen 
und  Wappen  zu  bedecken,  die  Verwendung  der  In¬ 
schrift  als  Wandschmuck,  vor  allem  als  Fries,  sowie 
die  Zeichnung  mancher  Einzelheiten  sind  auf  die 
Kenntnis  maurischer  Arbeiten  zurückzuführen. 

Da  sich  diese  Zeit  hauptsächlich  in  Reichtum  und 
Feinheit  der  Skulptur  gefällt,  so  daß  die  Kunst  des 
Bildhauers  die  des  Silberarbeiters  nachzuahmen  scheint, 
hat  man  diesen  Stil  nicht  unzutreffend  als  »plateresk«  i) 
bezeichnet.  — 

Ein  Gang  durch  Burgos  zeigt  uns  Beispiele  für  alle 
Wandlungen  und  Schattierungen  des  gotischen  Stils. 

*  * 

Dasjenige  Bauwerk  natürlich,  welches  unser  Inter¬ 
esse  in  erster  Linie  in  Anspruch  nimmt,  ist  die 
Kathedrale. 

Sie  ist  unter  der  Regierung  Eerdinands  III.  am 
20.  Juli  1221  an  Stelle  einer  bereits  von  Alfons  VI. 
(1075)  errichteten  Kirche,  durch  Bischof  Mauricio 
gegründet  worden. 

Im  Chor  der  Kirche  befindet  sich  das  Grabmal 
des  1240  verstorbenen  Begründers  (Abb.  2),  eine  treff¬ 
liche  Arbeit  des  13.  Jahrhunderts.  Die  liegende  Figur 
ist  in  dünner  Bronze,  welche  einen  Körper  von  Holz 
umkleidet,  hergestellt.  Leider  sind  die  reichen  Ver¬ 
zierungen  in  Emaille  und  kostbaren  Steinen  fast  voll¬ 
kommen  der  Zeit  zum  Opfer  gefallen. 

Als  Jahr  der  Vollendung  des  Baues  ist,  wenn  man 
von  verschiedenen  späteren  Hinzufügungen,  die  man 
im  Interesse  des  Gesamtorganismus  gern  missen  würde, 
absieht,  das  Jahr  1568  anzusehen. 

Die  Entstehungszeit  der  Kathedrale  deckt  sich 
mithin  vollkommen  mit  der  Entwickelung  des  goti¬ 
schen  Stils  in  Spanien.  Hier  können  wir  tatsäch¬ 
lich  den  Werdegang  dieser  Bauweise  von  ihren 


1)  Platero-Silberarbeiter.  Neben  plateresken  Arbeiten, 
welche  noch  gotischen  Einfluß  verraten,  finden  wir  bereits 
vollkommen  der  Renaissance  angehörende. 


Anfängen  bis  zu  ihrem  Übergang  zur  Renaissance 
verfolgen. 

Der  malerische  Reiz  der  Kathedrale  wird  wesentlich 
durch  die  Eigenart  des  Bauplatzes  erhöht.  Alfons  VI. 
soll  einen  hier  belegenen  königlichen  Palast  zur  Ver¬ 
fügung  gestellt  haben.  Sie  erhebt  sich  am  Abhang 
des  durch  das  Kastell  von  Burgos  bekrönten  Hügels, 
und  zwar  ist  das  linke  Seitenschiff  mit  seiner  unteren 
Hälfte  in  den  Berg  eingebaut,  so  daß  sich  das  Niveau 
der  an  der  Nordseite’)  vorüberführenden  Straße  erheb¬ 
lich  über  dem  des  Fußbodens  der  Kirche  befindet. 

Merkwürdigerweise  habe  ich  verschiedentlich,  auch 
von  kunstverständiger  Seite,  beklagen  hören,  daß  man 
sich  gerade  auf  diese  Stelle  kapriziert  und  nicht  das 
Gebäude  in  die  Ebene  gestellt  habe. 

Ich  kann  mir  nichts  anmutigeres  denken,  als  das 
unregelmäßige  Plätzchen  an  der  Westfront  des  Domes, 
welches  durch  eine  Terrasse  mit  der  kleinen,  gleich¬ 
falls  gotischen  Kirche  von  San  Nicolas  de  Bari  über¬ 
höht  wird.  Ganz  abgesehen  davon,  daß  sich  uns  so 
ein  geeigneter  Standpunkt  bietet,  auch  höher  gelegene 
Teile  der  Fassade  zu  betrachten. 

Denn  welche  Abwechselung  im  Aufbau  wird  nicht 
dadurch  herbeigeführt,  daß  von  der  Eingangstür  des 
nördlichen  Querschiffes  zum  Innern  der  Kirche  eine 
doppelte  Ereitreppe  hinunterführt,  während  man  zu 
dem  Portal  der  Südseite  auf  28  breiten  Stufen  empor¬ 
steigt,  oder  daß  man  von  der  Kirche  aus  das  obere 
Stockwerck  des  in  zwei  Etagen  angelegten  Kreuzganges 
betritt  und  zu  seiner  Überraschung  von  hier  in  den 
tiefer  gelegenen  Hof  hinabblickt! 

In  gleicher  Weise  wird  gerügt,  daß  man  die  alten, 
baufälligen  Häuser  in  der  Umgebung  des  Domes 
duldet,  und  hierzu  das  alte,  in  diesem  Ealle  tatsächlich 
ungerechtfertigte,  Lied  von  der  spanischen  Indolenz 
angestimmt.  Man  verlangt  die  Freilegung  des  Baues, 
um  den  Gesamteindruck  genießen  zu  können. 

Es  gibt  wohl  kaum  etwas,  was  den  Mangel  an 
Gefühl  für  das  Wesen  der  Gotik  deutlicher  verrät, 
als  jene  sauber  abgeputzten  und  ausgebesserten  Dome, 
die  sich  mitten  auf  einem  freien,  mit  schönen  Mustern 
gepflasterten  Platz  oder  zwischen  modernen  Garten- 

1)  Ältere  Kirchen  sind  fast  ohne  Ausnahme  so  orien¬ 
tiert,  daß  sich  der  Altar  im  Osten,  die  Türme  im  Westen 
befinden.  Die  Bezeichnung  rechts  (Seite  der  Epistel),  links 
(Seite  des  Evangeliums)  verstehen  sich  für  den  Beschauer, 
der  die  Front  nach  dem  Altar  nimmt.  Die  in  Klammer 
stehenden  Ausdrücke  beziehen  sich  auf  den  Platz  des 
Priesters  am  Altar  beim  Verlesen  des  Textes. 


BURGOS 


-1  n  ,n,  und  um  die  sich  internationale  Hotels, 
i:  .  -  i  .‘..  r  und  Warenmagazine  mit  enormen  Spiegel- 
-U':;  in  respektvoller  Entfernung  aufstellen. 

Gotische  Kathedralen  haben  keine  Fronten,  welche 
i.i  ‘-Lrechnung  auf  ein  Gesamtbild  entstanden  sind. 
Das  ist  schon  deshalb  kaum  möglich,  weil  sie  wohl 
höchst  selten  nach  einem  einheitlichen  Plane  ge¬ 
schaffen  worden  sind.  Jahrhunderte  haben  daran  ge¬ 
arbeitet,  und  jedes  von  ihnen  hat  einen  unabhängigen 
Ausdruck  seines  Könnens  und  seines  Glaubenseifers 
zu  finden  gesucht.  Ein  derartiges  Bauwerk  zerfällt 
in  ebensoviel  Einzelbilder,  als  die  Anzahl  der  kleinen 
Plätze,  die  es  umgeben,  oder  der  krummen  und  winke¬ 
ligen  Gassen  beträgt,  denen  es  als  Abschluß  dient. 

Eine  Gesamtwirkung 
und  vor  allem  auch  Fern¬ 
wirkung  sollen  lediglich 
die  Teile  der  Kirche  er¬ 
zielen,  welche  über  die 
Dächer  emporragen.  Diese 
wollen  aber  nicht  für  sich 
allein  wirken,  sondern 
bilden  einen,  wenn  auch 
den  wichtigsten  und  ton- 
angebendenTeil  desStädte- 
bildes. 

Die  Kathedrale  ist  der 
Stolz  und  das  Wahrzeichen 
der  Stadt.  Schon  von 
weitem,  längst  ehe  man 
die  halb  hinter  Wall  und 
Mauern  verdeckten  Häuser 
erkennen  kann,  sieht  man 
das  riesige  Dach  und  die 
gewaltigen  Türme. 

Die  einstigen  Bewohner 
der  kleinen,  unschein¬ 
baren  Häuser,  die  sich 
schutzsuchend  an  das  Got¬ 
teshaus  herandrängen,  ha¬ 
ben  kein  Opfer  und  keine 
Mühe  gescheut,  um  das 
staunenerregende  Werk  zu 
vollenden;  ihre  Wünsche 
aber  und  ihre  Bitten  wer¬ 
den  durch  die  aufstrebenden  Türme  und  Spitzen  und 
Zacken  und  Zinnen  zum  Allmächtigen  emporgetragen. 

Wollen  wir  uns  an  diesem  anmutigen  Bild  er¬ 
freuen,  so  haben  wir  hierzu  gerade  in  Burgos,  wie 
in  wenig  anderen  Städten,  die  günstigste  Gelegenheit, 
wenn  wir  zu  dem  nahen  Kastell  hinaufsteigen  (Abb.  i). 

Überblicken  wir  die  Kathedrale  von  hier  aus,  so 
ist  eine  Dreiteilung  in  der  Gruppierung  der  Stein¬ 
massen  wahrzunehmen;  die  zwei  Türme,  die  über 
der  Vierung  von  Lang-  und  Querschiff  errichtete 
oktogonale  Laterne  und  die  an  der  Ostseite  der 
Kirche  angefügte,  gleichfalls  achtkantige  »Capilla 
del  Condestable«,  sämtlich  Arbeiten  des  15.  und 
]  6.  Jahrhunderts.  Die  beiden  Oktogone  sind  durch 
je  acht  schlanke  und  reich  verzierte  Fialen  überragt. 

Hierneben  markieren  sich  als  ältere  Bestandteile 


des  Gebäudes  die  das  Querschiff  an  beiden  Seiten 
abschließenden  Bekrönungen^)  und  die  kleinen  runden 
Türme,  welche  die  Ecken  des  quadratischen  Kreuz¬ 
ganges  bezeichnen.  Letztere  sind  in  ihrer  Form  be¬ 
sonders  interessant  und  charakterisieren  im  Gegensatz 
zu  der  Filigranarbeit  der  Spätgotik  die  kräftigere  und 
energischere  Bauweise  des  1 4.  Jahrhunderts,  ohne  die 
Harmonie  des  Ganzen  zu  beeinträchtigen. 

Das  Baumaterial  der  Kathedrale  ist  der  weiße, 
dem  Marmor  sehr  ähnliche,  Kalkstein  von  Ontoria. 

*  s}: 

* 

Den  ältesten  Teil  der  Kathedrale,  welcher  uns 
erhalten  geblieben  ist,  haben  wir  wohl  im  nördlichen 

Querschiffzu  suchen, des¬ 
sen  Portal,  die  »hohe  Tür« 
(man  erinnere  sich  an  das 
bereits  über  die  Uneben¬ 
heit  des  Fundaments  ge¬ 
sagte)  oder  auch  »Puerta 
de  la  Coroneria«,  aus¬ 
gesprochen  den  Charakter 
der  frühesten  Gotik  trägt 
(Abb.  7).  Leider  ist  die 
Pforte  selbst  erst  in  viel 
späterer  Zeit  eingesetzt 
worden.  Außerdem  be¬ 
findet  sich  auf  dieser  Seite 
im  Innern  der  Kirche  die 
einfache  Kapelle  von  San 
Nicolas  Obispo,  die  ein¬ 
zige  der  zahlreichen  Sei¬ 
tenkapellen,  welche  das 
Gepräge  des  1 3.  Jahrhun¬ 
derts  gewahrt  hat. 

Die  nahegelegene  Kir¬ 
che  von  San  Esteban  zeigt 
in  ihrem  Portal  (Abb.  5) 
eine  merkwürdige  Ver¬ 
wandtschaft  mit  der  Puerta 
de  la  Coroneria,  dürfte 
mithin  gleichzeitig  mit 
der  frühesten  Bauperiode 
des  Domes  entstanden 
sein. 

Die  der  hohen  Tür  an  der  Südseite  der  Kathedrale 
entsprechende  »Puerta  del  Sarmental«  gehört  gleich¬ 
falls  dem  13.  Jahrhundert,  doch  sicher  erst  seinem 
Ende  an,  wie  die  deutlich  erkennbare  Verfeinerung 
der  Arbeit  vermuten  läßt  (Abb.  4).  Von  der  ur¬ 
sprünglichen  Umrahmung  des  entsprechend  den  drei 
Schiffen  der  Kirche,  dreiteiligen  Haupteinganges,  deren 
Schönheit  Ponz")  in  seiner  Reisebeschreibung  nicht 
genügend  rühmen  kann,  ist  uns  leider  mit  Ausnahme 
der  zu  beiden  Seiten  der  Mitteltür  eingelassenen 
Doppelstatuen  der  Könige  Alfons  VI.  und  Ferdi¬ 
nand  III.  und  der  Bischöfe  Asterio®)  und  Mauricio, 

1)  Vergl.  Abb.  4.  Rechts  der  Treppe  befindet  sich 
einer  der  hier  erwähnten  kleinen  Türme. 

2)  Antonio  Ponz,  Viaje  de  Espana  1776—94. 

3)  Asterio  erster  durch  die  Akten  des  3.  Konzils  von 


ABB.  U).  KATHEDRALE:  CAI’ILLA  DE  SANTA  ANA 


BURGOS 


9 


sowie  der  Reliefs  in  den  Lünelten  der  Seitentüren 
nichts  erhalten  geblieben.  Man  hat  1794  den  archi¬ 
tektonischen  Schmuck  beseitigt  und  in  barbarischer 
Verständnislosigkeit  Türen  im  Geschmack  der  da¬ 
maligen  Zeit  eingefügt  (Abb.  3). 

Das  14.  Jahrhundert  ist  in  würdigster  Weise  durch 
den  an  der  Südseite  der  Kathedrale  angebauten  Kreuz¬ 
gang  vertreten.  Den  Zugang  bildet  im  südlichen 
Querschiff  ein  Portal,  welches  etwas  frühere  Formen 
als  der  Kreuzgang  aufweist  und  wohl  was  Feinheit 
der  Empfindung  und  der  Komposition  anbelangt,  zu 


sich  wiederholende  Verwendung  des  Wappens  von 
Castilien  und  Leon  als  tapetenartiges  Muster. 

Im  übrigen  ist  Burgos  verhältnismäßig  arm  an 
Bauten  aus  diesem  Jahrhundert,  um  so  reicher  aber 
ist  es  an  spätgotischen  und  plateresken  Denkmälern. 
% 

Die  Erklärung  hierfür  gibt  die  Geschichte.  Al¬ 
fons  XI.  (1312 — 50)  hatte  mit  Vorliebe  in  Toledo 
residiert,  während  sein  Sohn  und  Nachfolger  Don 
Pedro  in  Sevilla  einen  an  die  Lebensführung  eines 
orientalischen  Sultans  erinnernden  Flofhalt  führte. 
Natürlich  wendeten  diese  Herrscher  auch  den  von 


ABB.  11.  CARTUJA:  GRABMAL  JOHANN  II.  UND  SEINER  GEMAHLIN  ISABEL 


den  besten  dekorativen  Schöpfungen  gotischer  Kunst 
in  Burgos  zählt  (Abb.  6)  die  schön  geschnitzten  Tür¬ 
flügel  sind  eine  Arbeit  des  15.  Jahrhunderts. 

Der  Hauptreiz  des  Kreuzganges  besteht  in  dem 
reichen ,  überaus  sorgfältig  ausgeführten  Blattwerk, 
welches  die  Kapitale  und  die  Konturen  der  Spitz¬ 
bogen  verziert.  Die  Wirkung  wird  noch  bedeutend 
erhöht  durch  verblassende  Reste  früherer  Bemalung, 
wodurch  das  Ganze  einen  unaufdringlichen  Ton  von 
Wärme  und  Leben  erhält  (Abb.  8). 

Sehr  geschmackvoll  ist  die  an  den  Türumrandungen 


Toledo  589  urkundlich  nachweisbarer  Bischof  von  Oca, 
der  Mutterkirche  von  Burgos. 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst  N.  F.  XVIIL  H.  i 


ihnen  bevorzugten  Städten  in  erster  Linie  ihre  Bau¬ 
tätigkeit  zu. 

Als  das  Jahr  1369  die  illegitime  Linie  des  Grafen 
Heinrich  von  Trastamara  zur  Regierung  brachte,  wurde 
Burgos,  welches  die  Partei  des  Halbbruders  Peter  des 
Grausamen  ergriffen  hatte,  wieder  ständige  Residenz, 
bis  mit  Heinrich  IV.,  dem  Bruder  der  Isabella  der 
Katholischen,  der  Mannesstamm  der  castilianischen 
Könige  erlosch. 

Hierzu  kamen  vorübergehend  größere  Ruhepausen 
im  Glaubenskrieg,  eine  Reihe  mehr  prunkliebender, 
als  kampfeslustiger  Herrscher,  die  wachsende  Be¬ 
deutung  Burgaleser  Magnatenfamilien,  welche  mit  den 
Königen  an  Ansehen  und  Machlentfaltung  wetteiferten. 


2 


AHB.  12.  PORTAL  DER  CARTUJA  DE  MIRAFLORES  ARB.  13.  KATHEDRALE:  DETAIE  AN  DER  CAPILLA  DEL  CONDESTABLE 

Aus  »Joly,  Meisterwerke  der  Baukunst  und  des  Kunstgewerbes«.  Spanien  I 


ABB.  14.  CARTUJA:  ALTAR  ABB.  15.  KATHEDRALE;  CAPILLA  DEL  CONDESTABLE 

Aus  »Joly,  Meisterwerke  der  Baukunst  und  des  Kunstgewerbes«.  Spanien  1 


12 


BURGOS 


In  diese  Zeit  fällt  die  für  die  Geschichte  der 
Kathedrale  überaus  bedeutungsvolle  Amtstätigkeit  der 
Bischöfe  Alonso  de  Cartagena  (1435  56)  und  Luis 

de  Acuna  (1456—95).  Ihnen  haben  wir  die  Voll¬ 
endung  der  Türme  zu  verdanken,  und  zwar  ist  der 
südliche  Turm  noch  zu  Lebzeiten  Cartagenas  beendigt 
worden.  Die  Wappen  der  Erbauer  haben  neben  dem 
von  Castilien  im  Ornament  Verwendung  gefunden. 
Es  ist  nicht  uninteressant  zu  wissen,  daß  zur  Aus¬ 
führung  der  Arbeit  der  deutsche  Baumeister  Johann 
von  Köln  nach  Burgos  berufen  wurde.  Anregung 
hierzu  mag  der  längere  Aufenthalt  Don  Alonsos  in 
Deutschland  während  des  Konzils  von  Basel  (1431) 
gegeben  haben.  Auch  der  Sohn  Johanns  (f  1478) 
Simon  von  Köln  ist  in  Burgos  tätig  gewesen. 

Es  würde  zu  weit  führen,  hier  auf  Details  der 
Architektur  einzugehen. 

Überraschend  wirkt  der  Abschluß  der  Türme, 
indem  sie  nicht  in  die  konventionelle  Kreuzblume, 
sondern  eine  Art  von  Knauf  auslaufen.  Es  bedarf 
dies  keines  weiteren  Kommentars,  wenn  man  weiß, 
daß  die  Türme  ursprünglich  durch  die  Kolossalstatuen 
von  S.  Paulus  und  S.  Petrus  überragt  gewesen  sind, 
welche  man  aber  1749,  da  die  eine  von  ihnen  herab¬ 
zustürzen  drohte,  entfernt  hat.  Die  heutigen  Be¬ 
krönungen  der  Türme  sind  also  lediglich  die  Sockel 
der  besagten  Statuen. 

Ich  erwähne  dies  noch  aus  einem  anderen  Grunde. 
Wir  haben  hier  ein  gutes  Beispiel  dafür,  wie  sinnig 
diese  Zeit  in  der  Wahl  ihrer  Dekorationsmittel  war, 
sodaß  auch  scheinbar  Zufälligem  oder  zum  mindesten 
wenig  Beachtenswertem  doch  meist  eine  tiefere  sym¬ 
bolische  Bedeutung  zugrunde  liegt.  Der  seiner  Bau¬ 
zeit  nach  ältere  Turm  war  mit  dem  Standbild  des 
S.  Paulus  geschmückt,  während  seine  oberste  Galerie 
das  Monogramm  der  Jungfrau  (S.  M.)  trägt.  Wir 
können  hierin  eine  pietätvolle  Ovation  des  Erbauers 
für  seinen  Vater  und  Vorgänger  im  Amt,  den  Bischof 
Pablo  de  Sta.  Maria,  vermuten. 

An  die  beiden  baueifrigen  Kirchenfürsten,  deren 
Verdienst  es  ist,  daß  hier  nicht,  wie  so  vielfach,  eine 
prachtvolle  Schöpfung  gotischen  Kirchenstils  Frag¬ 
ment  geblieben  ist,  erinnern  ferner  zwei  Seitenkapellen 
der  Kathedrale,  welche  von  ihnen  ausgeschmückt 
worden  sind. 

Es  ist  dies  im  Querschiff  der  Epistelseite  die 
"Capilla  de  la  Visitacion«  mit  einer  Reihe  beachtens¬ 
werter  Grabmäler  (Abb.  9),  unter  ihnen  das  des  Be¬ 
gründers,  Alonso  von  Cartagena,  ein  Werk  des  Gil 
de  Siloe  (eines  Künstlers,  auf  welchen  wir  an  anderer 
Stelle  eingehend  zu  sprechen  kommen  werden)  und 
auf  der  Seite  des  Evangeliums  die  »Capilla  de  Santa 


Ana  ,  welche  Luis  de  Acuiia  an  Stelle  zweier  kleiner 
Kapellen  errichtete.  Das  geschnitzte  Altarbild  ist  eines 
jener  zahlreichen  »Retablos«,  deren  Herstellung  in 
Holz  und  Stein  ein  besonderes  Kunstgewerbe  heran¬ 
bildete,  und  welche  ein  charakteristischer  Schmuck 
spanischer  Kirchen  sind.  Sein  Mittelstück  stellt  einen 
Stammbaum  Christi  dar,  welcher  aus  der  Seite  des 
schlafenden  Abraham  emporsproßt  und  das  Bild  der 
heiligen  Anna  und  des  heiligen  Joachim  umschließt 
(Abb.  10). 

Zu  den  bemerkenswerten  Bauten  des  15.  Jahr¬ 
hunderts  gehört  die  bereits  genannte  Kirche  von 
S.  Nicolas  de  Bari. 

Vor  allem  aber  möchte  ich  den  kleinen  stillen 
Platz  von  San  Lesmes  nicht  unerwähnt  lassen.  Er 
liegt  abseits  der  Stadt.  Die  altertümliche,  von  vier 
verwitterten  Löwen  flankierte  Brücke,  welche  zu  dem 
Platz  über  den  Pico  führt,  und  die  einander  gegen¬ 
über  liegenden  Fronten  der  Kirche  von  San  Lesmes 
und  des  Hospitals  von  San  Juan  mit  ihren  stattlichen 
Portalen  geben  uns  heute  noch  ein  fast  unverändertes 
Bild  des  zu  Ende  gehenden  Mittelalters. 

Wollen  wir  aber  die  Spätgotik  in  ihrer  Vollendung, 
in  der  Feinheit  ihrer  Ornamente,  der  Mannigfaltigkeit 
ihrer  Linien,  dem  Reichtum  ihrer  Formen  und  Bilder¬ 
sprache  und  der  Lebendigkeit  ihrer  Darstellungsweise 
bewundern,  so  müssen  wir  die  östlich  der  Stadt  auf 
einer  Anhöhe  gelegene  Cartuja  de  Miraflores  auf¬ 
suchen. 

An  Stelle  einer  von  Heinrich  III.  (f  1406)  ange¬ 
legten  königlichen  Sommerresidenz  errichtete  hier 
Johann  11.  (Vater  Isabellas  der  Katholischen)  ein  Kar¬ 
täuserkloster,  welches  jedoch  bald  nach  seiner  Grün¬ 
dung  in  Flammen  aufging.  Die  neuerbaute  Kirche 
gestaltete  Isabella  zu  einem  Mausoleum  für  ihre  Eltern. 

Die  bedeutendsten  Künstler,  welche  damals  in 
Burgos  lebten,  haben  sich  vereinigt,  um  aus  dem 
kleinen  Gotteshause  ein  wahres  Kleinod  der  Kunst 
zu  machen  (Abb.  12). 

Die  nur  aus  einem  Schiff  bestehende  Kirche  ist 
nach  Plänen  Johanns  von  Köln  durch  Simon  von 
Köln  beendet  worden.  Die  Ausführung  der  Bild¬ 
hauerarbeiten  aber  wurde  dem  aus  Burgos  gebürtigen 
Gil  de  Siloe  übertragen.  Wir  sind  seinem  Namen 
bereits  begegnet;  hier  können  wir  uns  aber  so  recht 
ein  Bild  von  dem  Können  dieses  hervorragenden 
Meisters  machen.  Seine  Arbeiten  gehören  wohl  zu 
den  schönsten,  was  die  späte  Gotik  überhaupt  ge¬ 
schaffen  hat.  Ich  habe  wenigstens,  mit  Ausnahme 
vielleicht  der  unvergleichlichen  »eglise  de  Brou«  i) 


1)  Bourg,  dept.  Ain  Frankreich. 


ABB.  16.  KATHEDRALE:  GRABMAL  DES  PEDRO  FERNANDEZ  DE  VILLEGAS  ABB.  17.  PROVINCI  ALMUSEUM :  GRABMAL  DES  JUAN  DE  PADILLA 

Aus  »Joly,  Meisterwerke  der  Baukunst  und  des  Kunstgewerbes..  Spanien  1 


14 


BURGOS 


ähnliches  nicht  gesehen.  Ich  möchte  daher  der 
Würdigung  dieses  Künstlers  einen  verhältnismäßig 
weiten  Raum  in  meiner  Ausführung  zumessen. 

Vor  dem  Hochaltar  befindet  sich  das  Grabmal 
Johann  II.  und  seiner  Gemahlin  Isabel  von  Portugal 
(Abb.  ii).  Der  Grundriß  des  Monuments  ist  der 
eines  achtzackigen  Sterns,  bei  welchem  größere  mit 
kleineren  Spitzen  abwechseln.  Das  königliche  Paar 
ist  liegend  dargestellt  und  durch  ein  niedriges,  gitter¬ 
artiges  Ornament  geschieden.  Zu  ihren  Füßen  sind 
Löwe,  Hund  und  Kind  als  Symbole  von  Kraft,  Treue 
und  Liebe  angebracht. 

Die  Augen  des  Königs  sind  halbgeöffnet  und  die 
feinen  Züge,  vor  allem  der  geistreiche  Mund,  kenn¬ 
zeichnen  den  Regenten, 
der,  sehr  zum  Nachteil 
seines  Staates,  mehr  den 
Wissenschaften  als  kriege¬ 
rischen  Unternehmungen 
zugeneigt  war. 

Es  soll  ganz  sicher  kein 
Beweis  von  Unhöflichkeit 
sein,  daß  ich  die  Königin 
erst  an  zweiter  Stelle  er¬ 
wähne.  Sie  liegt  mit  ge¬ 
schlossenen  Augen  da  und 
scheint  noch  im  Marmor 
zu  erröten,  daß  man  sie 
der  Nachwelt  auf  einem 
gemeinsamen  Lager  mit 
ihrem  Gemahl  überliefert 
hat.  Aber  es  mag  wohl 
schon  vor  400  Jahren  die 
Kehrseite  der  Galanterie 
gewesen  sein,  wenn  man 
von  Damen  so  absolut 
nichts  anderes  zu  sagen 
wußte,  als  daß  sie  schön 
und  lieblich  seien. 

Die  prunkvollen  Gewän¬ 
der  sind  von  bewunde¬ 
rungswürdiger  Ausfüh¬ 
rung  und  verraten  in  ihrem 
Faltenwurf  vollendete 
Meisterschaft  in  der  Be¬ 
handlung  des  Marmors. 

Leider  fehlen  Krone  und  rechte  Hand  des  Königs, 
wie  überhaupt  das  Kunstwerk  während  der  Unab¬ 
hängigkeitskämpfe  und  der  späteren  Bürgerkriege  be¬ 
klagenswerter  Weise  stark  gelitten  hat. 

Die  vier  ausladenden  Spitzen  des  Sternes  werden 
durch  die  sitzenden  Figuren  der  Evangelisten  ge¬ 
schmückt,  während  sich  in  den  acht  einspringenden 
Winkeln  die  Statuetten  der  übrigen  Apostel  befanden. 
Von  letzteren  sind  nur  noch  einige,  und  auch  diese 
meist  in  schlechtem  Zustand,  erhalten. 

Im  Relief  des  Sockels  sind  neben  sieben  weib¬ 
lichen  Eiguren  auf  der  Seite  der  Königin,  welche 
christliche  Tugenden  darstellen,  sieben,  die  Eigen¬ 
schaften  des  Herrschers  symbolisierenden,  alttestament- 
lichen  Helden  auf  der  Seite  des  Königs,  sowie  einer 


Pieta  und  einem  Christus  in  Getsemane  zu  Häupten 
des  Ehepaares,  Wappen,  Engel,  Pflanzen-  und  Tier¬ 
ornamente  in  verschwenderischer  Eülle  verteilt.  Alles 
ist  von  unglaublicher  Sorgfalt  der  Modellierung,  jedes 
Figürchen  ein  kleines  Meisterstück  für  sich. 

Die  Wand  auf  der  Evangelienseite  des  Altars  trägt 
ein  Werk  des  nämlichen  Künstlers,  das  Grabmal  des 
1470  im  Alter  von  16  Jahren  verstorbenen  Infanten 
Alonso,  Bruders  der  Königin  Isabella. 

Der  Infant  ist  vor  einem  Gebetschemel  knieend 
dargestellt. 

Eine  diesem  Denkmal  durchaus  verwandte  Arbeit 
enthält  das  Provinzialmuseum  von  Burgos,  nämlich 
das  Grabmonument  des  1491  in  der  Vega  von  Gra¬ 
nada  gefallenen  Pagen  der 
katholischen  Könige,  Juan 
de  Padilla  (Abb.  17),  wel¬ 
ches  dem  Kloster  Fres  del 
Val  entstammt.  Ist  es  auch 
in  ornamentalem  Schmuck 
einfacher  gehalten  als  das 
des  Infanten,  so  zeigt  die 
Ausführung  des  Porträts 
den  Künstler  auf  der  Höhe 
seiner  Meisterschaft.  Die 
Statue  Juan  de  Padillas  ist 
das  Beste,  was  der  Meißel 
Gil  de  Siloes  geschaffen 
hat. 

Das  ist  schon  unverkenn¬ 
bar  die  an  die  Karikatur 
grenzende  Offenheit  in  der 
Wiedergabe  des  Lebens, 
welche  die  Größe  spä¬ 
terer  spanischer  Künstler 
ausgemacht  hat. 

Juan  de  Padilla  soll  sich 
der  besonderen  Zuneigung 
der  Königin  erfreut  haben, 
welche  ihn  wegen  seines 
Mutes  und  seiner  Verwe¬ 
genheit  »el  mi  loco«^)  zu 
bezeichnen  liebte.  Man 
sieht  es  dem  netten,  offenen, 
etwas  arroganten ,  doch 
so  herzlich  unbedeutenden 
Gesicht  an,  daß  es  sicher  keine  geistigen  Vorzüge 
waren,  die  ihm  die  Gunst  seiner  Herrin  verschafft 
hatten. 

Das  letzte,  was  die  Gotik  für  die  Catuja  ge¬ 

schaffen  hat,  ist  der  geschnitzte  Altar,  welcher  die 
Ostseite  der  Kirche  einnimmt.  Er  ist  gleichfalls  von 
Gil  de  Siloe,  doch  im  Verein  mit  einem  anderen 

Künstler,  Diego  de  la  Cruz,  in  den  Jahren  1495 — 99 
hergestellt  worden  (Abb.  14). 

Es  hat  ein  gewisses  historisches  Interesse,  daß  zur 
Vergoldung  der  Schnitzerei  ein  Teil  des  Goldes, 
welches  Kolumbus  von  seiner  zweiten  Reise  mitge¬ 
bracht  hatte,  verwendet  worden  ist. 


1)  Loco  —  Narr. 


ABB,  18.  KATHEDRALE:  QUERSCHIFE  MIT  KUPPEL 


BURGOS 


15 


Man  vergleiche  mit  dieser  spätesten  Arbeit  Gil 
de  Siloes  das  in  Marmor  ausgeführte  Retablo  von 
San  Nicolas  de  Bari.^  ^Es  ist  etwa  gleichzeitig  ent¬ 
standen  und  zeigt  eine  gewisse  Ähnlichkeit  in  der 
Anordnung  der  Bestandteile.  Der  Bildhauer  ist,  so¬ 
weit  ich  habe  in  Erfahrung  bringen  können,  unbe¬ 
kannt,  hat  aber  offenkundig  unter  dem  Einfluß  seines  gro¬ 
ßen  Mitbürgers  gestanden. 

Während  jedoch  das  Al¬ 
tarbild  der  Cartuja  trotz  der 
Mannigfaltigkeit  der  Glie¬ 
derung  die  Einheit  der  Kom¬ 
position  gewahrt  hat  und 
in  dem  von  einem  Kranz 
von  Engeln  umgebenen 
Kruzifix  einen  festen  Kern 
besitzt,  dem  der  Rest  sich 
mehr  nebensächlich  und  er¬ 
gänzend  anfügt,  so  ist  das 
andere  typisch  für  jene  figu¬ 
renreichen  Skulpturen  der 
Spätgotik,  welche  zugunsten 
des  Details  auf  ein  harmoni¬ 
sches  Zusammenwirken  der 
Teile  verzichten  und,  bei 
aller  Bewunderung,  die  wir 
der  vollendeten  Technik  in 
der  Meisterung  des  Steines 
zollen  müssen,  sich  doch 
mehr  an  unser  kunsthistori¬ 
sches  Interesse,  als  an  unser 
ästhetisches  Empfinden  wen¬ 
den. 

Der  wahre  Künstler  wird, 
als  Kind  seiner  Zeit,  sich 
Konzessionen  an  die  herr¬ 
schende  Geschmacksrich¬ 
tungnichtentziehen  können, 
doch  wird  er  Übertreibungen 
gegenüber  einen  Ausweg 
finden. 

*  * 

Um  einen  Begriff  von  der 
Bauart  der  Übergangszeit 
der  Gotik  zur  Renaissance, 
dem  plateresken  Stil,  zu  er¬ 
halten,  müssen  wir  uns  wie¬ 
der  derKathedralezuwenden. 

Da  im  Jahre  153g  ein 
Teil  des  Gewölbes  über  dem 
Altarplatz  einstürzte,  mach¬ 
ten  sich  umfassende  Ausbesserungsarbeiten  nötig.  So 
ist  es  gekommen,  daß  vorherrschend  das  Kirchen¬ 
innere  den  Charakter  dieser  letzten  Periode  trägt. 

Die  Kathedrale  besteht,  abgesehen  von  zahlreichen 
Seitenkapellen,  die  jedoch  für  das  Gesamtbild  kaum 
in  betracht  kommen,  da  sie  alle  mehr  oder  weniger 
abgeschlossene  kleine  Kirchen  für  sich  bilden:  aus 


erhöhtem  Mittel-  und  Querschiff,  zwei  niedrigeren 
Seitenschiffen  und  einem  halbkreisförmigen  Gang 
(Trasagrario)  hinter  dem  Hochaltar.  Es  mag  auf  die 
platereske  Ausschmückung  zurückzuführen  sein,  daß 
dem  Innern  der  Kirche  die  Würde  und  der  Ernst 
anderer  gotischen  Dome  fehlen. 

Während  wir  beispielsweise  in  Sevilla  zunächst 

nur  die  Größe  und  Erha¬ 
benheit  des  Raumes  emp¬ 
finden  und  uns  lange  in 

der  Kathedrale  aufhalten 
können,  ehe  wir  bemerken, 
daß  wir  allenthalben  von 
Kunstwerken  ersten  Ranges 
umgeben  sind,  wird  in  Bur- 
gos  sofort  unser  Interesse 
von  Einzelheiten  in  An¬ 
spruch  genommeu.  Hierzu 
kommt,  daß  es  schwer  oder 
wohl  fast  unmöglich  ist, 

einen  für  den  Überblick 

des  Innenraumes  günstigen 
Standpunkt  zu  finden. 

Wie  in  den  meisten  grö¬ 
ßeren  Kirchen  Spaniens,  ist 
in  späterer  Zeit  der  Chor 
auf  der  dem  Hochaltar  ge¬ 
genüberliegenden  (west¬ 
lichen)  Seite  des  Mittelschiffs 
angelegt  worden.  Hier  ist 
aber  der  aus  dem  17.  Jahr¬ 
hundert  stammende  Einbau 
besonders  schwerfällig  und 
störend.  Hochaltar  und 
Chor  bilden  eine,  wenn 
auch  aufs  prunkvollste  aus¬ 
gestattete,  so  doch  fast  voll¬ 
kommen  abgeschlossene 
zweite  Kirche  im  Innern 
der  Kathedrale,  welche 
einer  Vereinigung  der  ver¬ 
schiedenen  Teile  zu  einem 
einheitlichen  Bild  sehr  hin¬ 
derlich  ist. 

Dies  und  die  Verstümme¬ 
lung  des  Hauptportals  sind 
die  beiden  schweren  Ver¬ 
sündigungen,  welche  sich 
eine  spätere  — ?  höhere? 

Kultur  an  einem  na¬ 
tionalen  Heiligtum  hat  zu 
Schulden  kommen  lassen. 
Ein  Schmuckstück  plateresker  Kunst  aus  den  ersten 
Jahren  dieser  Bauweise  ist  die  bereits  erwähnte  »Ca- 
pilla  de  Condestable« ,  welche  wir  vom  Trasagrario 
aus  betreten  (Abb.  13  u.  15).  Es  ist  die  Begräbniskapelle 
der  Grafen  von  Velasco,  Condestables^)  von  Castilien. 
Sie  bildet  zugleich  ein  historisches  Denkmal  für  die 
politische  Stellung  castilianischer  Granden  jener  Tage, 


ABB.  i9.  CASA  DEL  CORDON 


i)  _Man  zählt  fünfzehn. 


1)  Condestable  connetable  =  Comes  Stabuli, 


BURGOS 


l6 

welche  hier  ein  Vorrecht  für  sich  in  Anspruch  nahmen, 
welches  anderweitig  nur  Königen  gewährt  wurde. 

Die  Kapelle  wurde  im  vorletzten  und  letzten  Jahr¬ 
zehnt  des  15.  Jahrhunderts  von  Simon  von  Köln  im 
Auftrag  einer  aus  dem  Hause  Mendoza  stammenden 
Gräfin  Velasco  erbaut. 

Die  Gräfin  muß  eine  gute  Hausfrau  gewesen  sein; 
man  erzählt  von  ihr,  sie  habe  während  der  Abwesen¬ 
heit  ihres  an  der  Belagerung  von  Granada  beteiligten 
Galten  derartige  Ersparnisse  gemacht,  daß  sie  ihn 
bei  seiner  Rückkehr  mit  einem  Palast,  einem  Jagdpark 
und  einer  Grabkapelle  beschenken  konnte.') 

Der  Palast,  dessen  hier  Erwähnung  geschieht,  ist 
das  in  Burgos  als  Casa  del  Cordön«  bekannte  Ge¬ 
bäude.  Der  Name  bezieht  sich  auf  das  Ordenszeichen 
der  Franziskaner,  den  zusammengeknoteten  Strick 
(cordön),  welcher  die  über  dem  Eingang  angebrachten 
Wappen  der  Velasco  und  Mendoza  umrahmt  (Abb.  ig). 
Der  Bau  ist  ungefähr  in  denselben  Jahren  wie  die 
Capilla  del  Condestable  durch  den  maurischen  Archi¬ 
tekten  Mohammad  de  Segovia  ausgeführt  worden. 
Der  weite  innere  Hof  erinnert  an  die  in  Andalusien 
heute  noch  übliche  Bauweise. 

Leider  wird  das  historische  Haus,  welches  auch 
vorübergehend  den  Königen  als  Absteigequartier  diente 
(Isabella  und  Ferdinand  empfingen  hier  Kolumbus), 
jetzt  zum  Teil  niedergerissen. 

Es  ist  bezeichnend  für  die  Verschiedenartigkeit 
der  Einflüsse,  welchen  die  spanische  Kunst  damals 
unterworfen  war,  daß  im  Auftrag  derselben  Bauherrin 
zu  gleicher  Zeit  ein  deutscher  und  ein  maurischer 
Meister  tätig  sind. 

Während  Ende  des  1 5.  Jahrhunderts  bereits  Bauten 
entstehen,  welche  beweisen,  daß  die  Formen  der 
Renaissance  in  Spanien  nicht  mehr  unbekannt  sind, 
ist  es  hochinteressant,  andererseits  zu  beobachten,  wie 
ungern  man  sich  zum  Teil  dieser  neuen  Richtung 
anschließt. 

Das  Grabmal  des  in  der  Kathedrale  beigesetzfen 
Archidiakon  Pedro  Fernandez  de  Villegas,  des  kasti- 
lianischen  Danteübersetzers,  welcher,  wie  die  Inschrift 
besagt,  erst  1536  gestorben  ist,  ist  noch  rein  im  Stil 
der  späteren  Gotik  gehalten  (Abb.  16). 

Den  Abschluß  der  Restaurationsarbeiten  des  16.  Jahr¬ 
hunderts  bildet  die  auf  dem  Schnittpunkt  von  Lang- 
und  Querschiff  errichtete  achtkantige  Laterne''). 

Die  in  goldenen  Lettern  auf  blauem  Grund  aus¬ 
geführte  Inschrift  des  Schlußsteines  »Acabose  Aüo 
de  1568«  enthält  das  Datum  der  Vollendung.  Diese 
Kuppel  nebst  den  vier  gewaltigen  Pfeilern,  welche 
sie  tragen,  gibt  uns  einen  Begriff  von  der  Prunkliebe 
der  Zeit. 

Die  verschwenderische  Ausschmückung  zeigt  deut¬ 
lich  den  siegreichen  Einfluß  der  Renaissance,  während 
die  Borte  mit  der  Inschrift:  »IN  MEDIO  TEMPLI 
TUI  LAUDABO  TE  ET  GLORIAM  TRIBUAM  NO- 

1)  Los  ahorros  de  una  Condestablesa  de  Castilla  Sem. 
Pint.  Esp.  1850. 

2)  Ich  wende  im  folgenden  der  Einfachheit  halber 
die  Bezeichnung  »Kuppel«  an,  obwohl  dieser  Ausdruck 
nicht  ganz  zutreffend  ist. 


MINI  TUO  QUI  FACIS  MIRABILIA«,  welche  den 
unteren  Rand  umsäumt,  und  der  mit  Metallrosetten 
verzierte  Stern  an  die  Dekorationsweise  des  Mudejars 
erinnern. 

Jedenfalls  müssen  wir  den  feinen  Geschmack  und 
den  Takt  des  Baumeisters  Philipp  von  Burgund  be¬ 
wundern,  dem  es,  wenn  auch  vollkommen  vertraut 
mit  der  neuen  Ideenwelt,  wie  uns  die  Reliefs  von 
der  Hand  desselben  Künstlers  im  Trasagrario  des 
Domes  beweisen,  doch  gelungen  ist,  eine  harmonische 
und  würdige  Form  für  die  Bekrönung  eines  Werkes 
zu  finden,  welches  vom  Geist  des  Mittelalters  durch¬ 
drungen  ist,  ohne  hierbei  zu  verhehlen,  daß  er  selbst 
dieser  Zeit  nicht  mehr  angehört. 

* 

Wenn  wir  im  Chor  der  Kathedrale  an  dem 
schlichten,  doch  in  seiner  herben  Schönheit  so  aus¬ 
drucksvollen  Grabmal  des  Begründers  stehen  und 
von  hier  die  Augen  zu  der  Kuppel  erheben,  welche 
in  ihrem  Zierat  und  Wappenschmuck  die  glänzendsten 
Kunstformen  des  Morgen-  und  Abendlandes  vereinigt, 
so  umfassen  wir  mit  einem  Blick  den  Abschnitt  der 
Geschichte,  in  welchem  ein  kleines,  um  seine  Existenz 
ringendes  Königreich  sich  zu  der  Riesenmonarchie 
entwickelte,  in  deren  Staaten  die  Sonne  nicht  unter- 

ging- 

Unter  dieser  Kuppel  haben  die  beiden  Herrscher, 
deren  Machtentfaltung  in  der  Geschichte  kaum  ihres¬ 
gleichen  findet,  Karl  V.  und  Philipp  11.,  gestanden  und 
bewundernd  zu  ihr  emporgeblickt. 

Karl  V.  soll  hierbei  den  mehr  originellen  als  ge¬ 
schmackvollen  Ausspruch  getan  haben:  »die  Kuppel 
sei  so  schön,  daß  sie  wie  ein  kostbares  Juwel  in  ein 
Etui  gelegt  werden  müßte,  damit  man  sie  nicht  täg¬ 
lich,  sondern  nur  auf  Verlangen  sehen  könnte«. 
Worte,  die  uns  nur  beweisen,  daß  die  höchste  irdische 
Macht  und  ein  feineres  Verständnis  für  das  Wesen 
der  Kunst  nicht  unbedingt  vereinigt  sein  müssen. 

Die  Bemerkung  Philipps  11.,  »es  scheine  mehr  das 
Werk  von  Engeln,  als  von  Menschen  zu  sein«,  verrät 
schon  eher  ein  tieferes  Empfinden. 

Derselbe  Monarch  soll  bei  dem  Anblick  der  Königs¬ 
gräber  der  Cartuja  beklagt  haben,  daß  es  ihm  nicht 
gelungen  sei,  im  Escorial  ähnliches  zu  schaffen. 

Hat  er  hierbei  gefühlt,  wie  kalt  und  leblos  seiner 
Hofarchitekten  Riesenbauten,  von  denen  nur  der  eisige 
Hauch  unnahbarer  Majestät  ausgeht,  sich  neben  diesen 
Meisterwerken  des  Mittelalters  ausnehmen,  und  ist  die 
Ahnung  in  ihm  emporgestiegen,  daß  er  die  ersten 
Schritte  tat  auf  dem  verhängnisvollen  Weg,  den  seine 
Nachfolger  innehielten,  und  der  zur  Vernichtung  des 
spanischen  Genius  führte,  des  Schöpfers  der  steinernen 
Wunder  von  Burgos? 

Saxa  Loquuntur! 

Die  19  Abbildungen  im  Text  sind  zum  Teil  nach 
Photographien  des  D.  Alfonso  Vadillo  Burgos,  die  Zier¬ 
leisten  nach  Entwürfen  meines  Vaters. 


ZEITSCHRIFT  FÜR  BILDEXDE  KUNST  igoh  ORIGINALRADIERUNG  VON  SIR  CFIARLES  HOLROYD- LONDON 


SIR  CHARLES  HOLROYD  ALS  RADIERER 

Von  Selwyn  Brinton  in  London 


Die  vor  kurzem  erfolgte  Berufung  des  Sir  Charles  Holroyd 
auf  den  frei  gewordenen  Direktorposten  der  Londoner 
National-Galerie  wurde  von  der  gesamten  Öffentlichkeit 
als  wohlverdiente  Bekrönung  einer  außerordentlich  erfolgreichen 
Künstlerlaufbahn  anerkannt.  Ließen  doch  die  vielseitigen  Er¬ 
fahrungen,  die  Holroyd  während  seiner  neunjährigen  Leitung  der 
von  Mr.  Tate  letztwillig  gestifteten  British  Art  Gallery  gesammelt 
hatte,  seine  Berufung  auf  jenen  Ehrenposten  vollauf  gerechtfertigt 
erscheinen.  Aber  Sir  Charles  ist  nicht  nur  ein  ausgezeichneter 
Verwaltungsbeamter  und  Galeriedirektor,  sondern  auch  selbst  ein 
ganz  vortrefflicher  Künstler,  der  ebenso  glänzende  Leistungen  auf 
dem  Gebiete  der  Malerei  und  Zeichnung,  wie  auf  demjenigen 
der  künstlerischen  Lehrtätigkeit  aufzuweisen  hat,  und  der  nament¬ 
lich  unter  den  zeitgenössischen  Radierern  Englands  eine  hervor¬ 
ragende  persönliche  Rangstellung  einnimmt. 

Bevor  wir  jedoch  in  dieses  Hauptthema  unserer  Betrachtungen 
eintreten,  wollen  wir  uns  den  Lebensgang  unseres  Künstlers  und 
die  Etappen  seiner  Entwickelung  näher  vergegenwärtigen. 

Alles,  was  Sir  Charles  als  Mensch  wie  als  Künstler  zu  erreichen 
vermocht  hat,  verdankt  er  im  wesentlichen  seiner  ungewöhnlichen 
Arbeitskraft;  seine  Gewissenhaftigkeit  und  sein  emsiger  Fleiß 
bilden  die  gesunde  Basis  seiner  Kunst  und  seiner  Erfolge.  Geboren  zu  Leeds  am  g.  April  des  Jahres  1861 
und  auf  der  Grammar  School  seiner  Vaterstadt  mit  den  Grundelementen  der  jugendbildung  ausgestattet,  trat 
Charles  Holroyd  zunächst  in  das  Yorkshire  College  of  Science  ein,  um  daselbst  die  Bergbaukunde  zu 
studieren.  Aber  so  vielversprechend  auch  seine  Begabung  für  dieses  Studienfach  zunächst  erscheinen 

mochte,  —  so  wenig  ließ  sich  doch  der  noch  stärkere  künstlerische  Betätigungsdrang,  der  in  ihm  schlum¬ 
merte,  auf  die  Dauer  verleugnen.  So  entschloß  sich  denn  der  Jüngling,  in  die  Slade  School  of  Art  über¬ 
zutreten;  namentlich  Alphonse  Legros’  Lehrtätigkeit  an  dieser  Anstalt  war  es,  die  ihn  dorthin  zog,  nach¬ 
dem  ihm  einige  Arbeiten  dieses  Meisters  —  insbesondere  wohl  seine  Kupferätzungen  —  zu  Gesicht 
gekommen  waren.  Vier  volle  Jahre  verbrachte  er  dann  in  dieser  Londoner  Kunstschule,  und  diese 
Studienjahre  sollten  von  dauernder  Bedeutung  für  seine  ganze  fernere  Künstlerlaufbahn  bleiben.  Er  er¬ 
warb  sich  in  dieser  Lehrzeit  die  Medaille  für  Malerei  nach  dem  lebenden  Modell,  sowie  Ehrenpreise  für 
Landschaftsmalerei,  Kupferätzung  und  Komposition,  und  schließlich  noch  ein  Reisestipendium,  das  ihm 
die  Mittel  zu  einer  zweijährigen  Studienreise  auf  dem  Kontinent  in  die  Hand  gab. 

Als  Holroyd  von  dieser  Reise  nach  England  zurückkehrte,  war  Newlyn,  eine  kleine  Stadt  in  Cornwall, 
soeben  zum  Sitze  einer  rasch  aufblühenden  Künstlerkolonie  geworden.  Auch  unser  junger  Künstler  ließ  sich 
alsbald  in  Newlyn  nieder  und  malte  daselbst  eine  Fischerszene  Painting  the  Sail«,  die  im  Jahre  1885  in 
der  Londoner  Royal  Academy  ausgestellt  wurde.  Es  dürfte  jedoch  sehr  zu  bezweifeln  sein,  daß  gerade  Hol- 
royds  Temperament  in  dem  radikalen  Naturalismus  der  Cornwall-Schule  jemals  seine  volle  künstlerische  Be¬ 
friedigung  gefunden  haben  würde.  Rom,  Florenz,  Assisi,  Venedig  hatten  in  jenen  soeben  abgelaufenen  köst¬ 
lichen  Reisejahren  ihren  Zauber  nicht  umsonst  auf  das  empfängliche  Gemüt  des  reisenden  Kunstjüngers 
wirken  lassen;  vielmehr  war  ihm  mit  diesen  Reiseeindrücken  jene  Sympathie  mit  dem  innersten  Wesen  der 
klassischen  Kunst  eingeimpft  worden,  die  in  allen  seinen  späteren  Radierungen  nicht  weniger  sinnfällig  zur 
Geltung  gelangt,  als  die  Kraft  und  Solidität  seines  technischen  Könnens.  Jedenfalls  erhielt  der  junge  Holroyd, 
nachdem  kaum  erst  sechs  Monate  seit  seiner  Niederlassung  in  Newlyn  verflossen  waren,  durch  die  Vermitte¬ 
lung  Alphonse  Legros’  bereits  eine  Anstellung  als  Hilfslehrer  an  derselben  Slade  Art  School,  der  er  wenige 
Jahre  zuvor  noch  als  Schüler  angehört  hatte.  Auch  dieser  neue,  abermals  vier  Jahre  währende  Aufenthalt  an 
dieser  Kunstschule  war  augenscheinlich  von  größtem  Nutzen  für  unseren  Künstler.  Fand  er  doch  auf  diese 
Weise  schon  frühzeitig  Gelegenheit,  seine  persönlichen  Kunstanschauungen  und  Techniken  anderen  mitzuteilen 
und  zu  erläutern.  Außerdem  genoß  er  hier  den  Vorteil,  das  künstlerische  Schaffen  eines  so  ausgezeichneten 
Radierers  wie  Legros  mit  kritischem  Auge  beständig  weiter  verfolgen  zu  können  und  seine  eigene  jugend¬ 
liche  Künstlertätigkeit  noch  längere  Zeit  durch  den  erfahrenen  Altmeister  geleitet  und  überwacht  zu  sehen. 
Vor  der  Gefahr,  in  diesem  langjährigen  Zusammenleben  ein  bloßer  Nachahmer  Legros’  oder  irgend 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XVIII.  H.  i  o 


SIR  CHARLES  HOLROYD  ALS  RADIERER 


i2 

eines  anderen  Meisters  seiner  akademischen  Umgebung 
zu  werden,  war  Holroyd  durch  seine  bereits  voll 
ausgereifte  persönliche  Künstlerkraft  hinreichend  ge¬ 
sichert.  Er  geriet  niemals  in  direkte  Abhängigkeit 
von  jenen  Vorbildern  und  begann  vielmehr  gar  bald 
in  seinem  Schaffen  eine  markante  künstlerische  Eigen¬ 
art  zu  entwickeln.  Sein  an  den  Meisterwerken  der 
klassischen  —  nicht  der  klassizistischen  —  Kunst  ge¬ 
schulter  Sinn  für  Anmut  der  Linienführung  und  für 
harmonische  Bildkomposition  führte  ihn  allmählich 
immer  weiter  ab  von  der  rauhen  Strenge  und  der 
häufig  geradezu  gesuchten  Häßlichkeit,  die  das 
Werk  seines  französischen  Lehrmeisters  kennzeich¬ 
net;  dagegen  bewahrte  er  sich  für  immer  die  von 
Legros  überkommene  Schlichtheit  und  Natürlich¬ 
keit  des  Darsteliungsstiles,  da  er  mit  diesen  ästheti¬ 
schen  Grundsätzen  seines  Jugendvorbildes  vollauf  zu 
sympathisieren  vermochte  und  sie  in  höchstem  Maße 
wertschätzte.  Schon  in  Holroyds  ersten  Malwerken 
aus  dieser  Zeit  macht  sich  die  soeben  charakterisierte 
stilistische  Eigenart  des  Künstlers  deutlich  bemerkbar, 
»Pan,  die  Flöte  spielend«.  Das  Oastmahl  zu  Emmaus«, 
»Der  Tod  des  Torrigiano«,  noch  mehr  aber  in  seinen 
Radierungen,  mit  denen  wir  uns  hier  ganz  speziell 
zu  beschäftigen  haben.  Sein  »Monte  Subasio«,  ein 
Satz  von  einem  halben  Dutzend  Ätzplatten,  zeigt  Dar¬ 
stellungen  jenes  Klosterberges  von  Assisi,  wo  St.  Fran¬ 
ziskus  gelebt,  gebetet  und  gepredigt  hat.  Seine  »Monte 
Oliveto«  -  Platten  behandeln  sodann  das  Mönchsleben 
des  heutigen  Italien,  wie  es  der  Künstler  selbst  bei 
seinem  Aufenthalte  unter  den  Mönchen  jener  mäch¬ 
tigen  mittelalterlichen  Klosteranlage  hatte  beobachten 
können,  die  den  kahlen  vulkanischen  Felsrücken  bei 
Asciano  bekrönt.  Vielleicht  ist  derselbe  liebenswürdige 
Abt,  dessen  Güte  auch  ich  kennen  zu  lernen  Ge¬ 
legenheit  hatte,  der  Gastgeber  Holroyds  gewesen,  als 
dieser  dem  Kloster  von  Monte  Oliveto  seinen  Besuch 
abstattete.  Wahrscheinlich  hat  Sir  Charles  damals 
auch  die  alten  Benediktus- Fresken  Sodomas  und 
Signorellis  an  den  Wänden  des  Klosterhofes  mit 
Hochgenuß  betrachtet,  da  er  uns  in  einer  Radierung 
vom  Jahre  1893  zeigt,  »Wie  Bazzi  den  Kreuzgang 
von  Monte  Oliveto  ausmalte«.  Jedenfalls  aber  muß 
er  bei  diesem  Klosteraufenthalte  das  Alltagsleben  der 
Mönche  mit  tiefster  Anteilnahme  studiert  haben,  um 
ihm  eine  Radierungenfolge  von  so  ausdrucksvoller 
Schönheit  und  Vollendung  widmen  zu  können.  (Na¬ 
mentlich  das  durch  die  Breite  der  technischen  Behand¬ 
lungsweise  und  durch  die  Feinheit  der  Licht-  und 
Schattengebung  besonders  wirkungsvolle  Blatt  »Der 
Kirchenchor  von  Monte  Oliveto«,  sowie  »Ein  Zieh¬ 
brunnen  in  Monte  Oliveto«  ragen  hier  hervor.) 

Im  Jahre  1899  hnden  wir  den  Namen  Holroyds  auf 
der  Liste  der  Vorstandsmitglieder  der  »Royal  Society 
of  Painter  Etchersand  Engravers«,  die  diesen  erweiterten 
Klubtitel  mit  ausdrücklicher  Bewilligung  der  Königin 
von  England  (laut  Urkunde  des  Staatssekretariates 
vom  4.  März  1898)  soeben  erst  angenommen  und 
sich  früher  nur  »Royal  Society  of  Painter-Etchers«  ge¬ 
nannt  hatte.  Wir  werden  also  von  nun  an  das  Oeuvre 
des  Radierers  Holroyd  an  der  Hand  der  jährlichen 


Ausstellungskataloge  dieses  »königlichen Stecher-Klubs« 
mit  besonderem  Interesse  weiter  verfolgen  können. 

Auf  der  siebzehnten  Ausstellung  dieses  Klubs  ( 1 899) 
sah  man  drei  Blätter  aus  der  »Monte  Subasio  «-Folge 
(»The  Lavabo«,  »The  Coro«  und  »The  Confessional«), 
wahre  Meisterschöpfungen  der  Holroydschen  Radier¬ 
nadel;  ferner  seine  »Wald-Nymphen«,  zwei  Blätter 
aus  seinem  »Eva«-Zyklus  (»She  took  the  fruit  thereof« 
und  Adam  and  his  wife  hid  themselves«),  den 
»Canale  Grande«  aus  seiner  Venezianischen  Radierungs¬ 
folge,  sowie  zwei  Ex-Libris- Porträts.  Die  Klubaus- 
stellimg  von  1900  enthielt  das  »Refectorium«  aus 
dem  »Monte  Subasio«-Zyklus,  eine  durchaus  italienisch 
empfundene  »Anbetung  der  Hirten«,  eine  »Najade«, 
sowie  jenes  köstliche  Blatt,  das  betitelt  ist  »Tadworth 
Common«,  und  das  als  »Plain  air«- Ätzung  unser 
besonderes  Interesse  in  Anspruch  nimmt;  wir  werden 
später  sehen,  daß  Sir  Charles  dieser  Arbeitsmethode 
in  freier  Luft  und  im  freien  Lichte  der  Natur,  wenn 
es  sich  irgend  ermöglichen  läßt,  noch  heute  huldigt. 
Gerade  bei  Besprechung  der  zuletzt  genannten  Ra¬ 
dierung  aber  hat  einer  der  Kritiker  Holroyds  —  selbst 
ein  Radierer  —  die  Bemerkung  gemacht:  »Bei  der 
Übertragung  einer  Bleistiftskizze  oder  gar  mehrerer 
solcher  Naturstudien  auf  die  Ätzplatte  muß  notwen¬ 
digerweise,  namentlich  wenn  es  sich  um  Landschafts¬ 
darstellungen  handelt,  etwas  von  jener  Intimität  und 
Inspiration  verloren  gehen,  die  der  Künstler  aus  der 
direkten  Naturbetrachtung  geschöpft  hatte;  insbeson¬ 
dere  der  Himmel  ist  bei  allen  auf  solche  Weise  ent¬ 
standenen  Radierungen  gewöhnlich  schwach,  da  er 
lediglich  den  Zufällen  der  Druckherstellung  seine 
Hinzufügung  zu  verdanken  hat.  —  Von  den  hieraus 
resultierenden  Mängeln  abgesehen,  ist  »Tadworth 
Common«  ein  tadelloses  Kunstblatt!« 

Die  Klubausstellung  1902,  auf  der  Alphonse  Legros 
einige  seiner  Zinkätzungen  veröffentlichte,  war  von  Hol¬ 
royd  mit  den  nachfolgenden  Kupferätzungen  beschickt 
worden:  »Pinienbäume  auf  Lord  Tennysons  Besitzung 
Freshwater«  (zwei  Blatt),  »Giardino  dei  Carceri«,  »Eva 
findet  den  Leichnam  Abels«  und  »Pastorale«.  Das  letztere 
kleine  Blatt  verdient  eine  besonders  liebevolle  Be¬ 
trachtung.  Giorgiones  berühmtes  Gemälde  im  »Salon 
Carre«  des  Louvre-Museums  mag  wohl  unserem  Sir 
Charles  die  Idee  zur  Darstellung  dieser  drei  nackten 
Frauengestalten  eingegeben  haben,  deren  eine,  die 
Stirn  mit  Lorbeer  bekränzt,  eine  Violine  in  der  Hand 
hält,  während  eine  vierte  Mädchenfigur,  in  reiche 
venezianische  Tracht  gekleidet,  auf  einer  Laute  oder 
Mandola  zu  spielen  scheint.  Die  Gruppierung  dieser 
vier  Figuren  ist  ebenso  bewunderungswürdig  wie  die 
Schönheit  ihrer  Bewegungslinien  und  ihrer  Körper¬ 
bildung.  —  ln  demselben  Jahre  hatte  Holroyd  so¬ 
dann  noch  vier  venezianische  Veduten  zur  Ausstellung 
gebracht  und  zwar  »Canale  Grande«,  »S.  Pietro  in 
Castello«,  »Canale  della  Giudecca«  und  »Campanile 
di  S.  Pietro  in  Castello«.  Endlich  sah  das  Publikum 
damals  zum  erstenmal  Holroyds  interessanten  Radie¬ 
rungenzyklus  »Flight  and  Fall  of  Icarus«.  Die  An¬ 
regung  zu  diesem  Zyklus  soll  der  Meister  durch  den 
Anblick  einer  toten  Raubmöve  empfangen  haben, 


SIR  CHARLES  HOLROYD  ALS  RADIERER 


19 


deren  Kadaver  er  auf  der  venezianischen  Lagune  hatte 
dahintreiben  sehen;  jedenfalls  findet  die  Schönheit 
und  Kraft  solch  eines  riesigen  Seevogels,  den  ich  so 
oft  beobachtet  habe,  wenn  er  den  Bug  meines  Schiffes 
umgaukeite  und  umschwebte,  eine  ideale  Verherr¬ 
lichung  in  den  Holroydschen  Ikarusradierungen.  Auf 
dem  ersten  Blatt  sehen  wir,  wie  Daedalus  dem  Auf¬ 
fluge  seines  geliebten  Sohnes  zum  Himmel  mit  be¬ 
sorgten  Blicken  folgt;  auf  dem  zweiten  Blatte,  wie 
die  Strahlen  der  Sonne  das  Wachs,  mit  dem  das 
Gefieder  der  Ikarusschwin¬ 
gen  so  kunstvoll  zusam¬ 
mengefügt  war,  zum  Er¬ 
weichen  bringen;  und 
endlich  auf  dem  dritten 
Blatte,  wie  Ikarus  kopf¬ 
über  zur  Erde  hinabstürzt, 
einem  Vogel  gleich,  der, 
im  eiligen  Fluge  vom 
Schüsse  des  Jägers  getrof¬ 
fen,  sich  in  den  Lüften 
überschlägt. 

Im  Jahre  1904  wird  Sir 
Charles  Holroyd  bereits 
unter  denEhrenmitgliedern 
der  Royal  Society  aufge¬ 
führt.  Der  Ausstellung  die¬ 
ses  Jahres  hatte  der  Klub 
ein  erhöhtes  Interesse  zu 
verleihen  gewußt  durch 
eine  leihweise  überlassene 
prachtvolle  Sammlung 
von  Mantegnastichen,  in 
der  auch  Hauptblätter  wie 
»Der  Kampf  der  Meer¬ 
götter«,  der  »Tanz  der 
Nymphen  auf  dem  Par¬ 
naß«  und  die  »Höllen¬ 
fahrt  Christi«  mit  ent¬ 
halten  waren.  Unter  den 
modernen  Ausstellern  war 
neben  einem  Mempes,Goff, 

Haig,  Chahine,  Helleu  auch 
Sir  Charles  Holroyd  ver¬ 
treten  mit  Kunstblättern 
wie  »Wood-witch«,  »The 
Bather«  (Kaltnadelarbeit) 
und  »Dian  Hunting«,  so¬ 
wie  mit  einigen  seiner 
»Roman  Scenes«,  wie  »Tusculum«,  »Porta  Nomen¬ 
tana«  und  »Oval  Fountain,  Villa  Borghese« ;  vom  letzt¬ 
erwähnten  Blatt  ist  diesem  Aufsatz  eine  kleine  Nach¬ 
bildung  eingefügt  worden. 

Die  Ausstellung  1905  brachte  zehn  neue  Platten 
von  Holroyds  Hand  in  die  Öffentlichkeit,  deren  Titel 
»Nymphs  by  the  Sea«,  »The  Rose  and  Crown«  und 
»The  Round  Lock«  (Szenerien  vom  Medway  River) 
sowie  »Professor  Legros«  und  »The  Rt.  Hon.  Leo¬ 
nard  Courtney«  (radierte  Bildnisse)  einen  Begriff  geben 
mögen  von  der  Vielseitigkeit  ihres  Schöpfers.  Im 
Jahre  1906  endlich  hat  Sir  Charles  in  einer  präch¬ 


tigen  Folge  von  acht  Platten  wiederum  Bilder  aus 
Venedig  gegeben,  und  zwar  die  Blätter  »Porto  di 
Lido«  und  »Fondamenta  delle  Zattere«.  Namentlich 
das  letztere  Blatt  ist  äußerst  beachtenswert  in  der 
exakten  und  charakteristischen  Wiedergabe  jenes  be¬ 
rühmten  Blickes  über  die  weite  Wasserfläche  der 
»Giudecca«  und  auf  die  langgedehnte  jenseitige 
Gebäudereihe  mit  dem  überragenden  Kuppelbau  der 
Redentorekirche.  Auch  die  technischen  Qualitäten 
dieser  Radierung  verdienen  unsere  größte  Bewunde¬ 
rung;  die  kräftigen  Schat¬ 
tenpartien  des  Vordergrun¬ 
des  benutzte  der  Ätzkünst¬ 
ler  in  äußerst  geschickter 
Weise  dazu,  den  Luftraum 
zu  vertiefen  und  die  Fern¬ 
wirkung  zu  erhöhen,  wo¬ 
bei  er  den  weit  gespann¬ 
ten,  von  der  Lagune  wider¬ 
gespiegelten  Wolkenhim¬ 
mel  noch  als  ferneres 
treffliches  Hilfsmittel  he¬ 
ranzog.  Eine  Landschafts- 
szenetie  von  entgegen¬ 
gesetztem  Stimmungscha¬ 
rakter  zeigt  eine  Holroyd- 
sche  Radierung,  die  im 
Jahre  1 904  von  der  Society 
of  Painter-Etchers  ausge¬ 
stellt  wurde;  es  ist  dies 
die  in  ihrem  künstlerischen 
Gehalte  nicht  weniger 
fesselnde  Darstellung  der 
»Langdale  Pikes«. 

Bis  hierher  habe  ich 
nur  diejenigen  Radierun¬ 
gen  aufgeführt,  welche 
die  Royal  Society  of 
Painter-Etchers  als  Werke 
Sir  Charles  Holroyds  — 
ihres  nunmehrigen  Vize¬ 
präsidenten  —  zur  Aus¬ 
stellung  gebracht  hat;  wir 
gewinnen  damit  wenig¬ 
stens  für  eine  größere 
Anzahl  der  interessantesten 
Radiernadelschöpfungen 
unseres  Meisters  einen 
Anhalt  zur  Feststellung 
ihrer  chronologischen  Aufeinanderfolge.  Außerhalb 
dieser  Reihe  gibt  es  jedoch  noch  so  manches  höchst 
wichtige  Blatt  von  seiner  Hand,  dessen  Erwähnung 
hier  nicht  vergessen  werden  darf.  Da  ist  vor  allem 
jener  schöne  Frauenkopf,  betitelt  »Night«,  von  dem  eine 
Reproduktion  diesem  Aufsatz  vorangestellt  worden  ist, 
die  wenigstens  eine  Ahnung  von  der  Schönheit  des 
Originals  vermittelt;  ferner  unter  den  venezianischen 
Veduten  das  delikate  Blatt  mit  der  »Salute«-Kirche, 
sowie  dasjenige  mit  »S.  Simeone  Piccolo«  (ebenfalls 
hier  reproduziert),  jener  kleinen  Kirche,  deren  Kuppel 
über  die  Dächer  malerischer  Palazzi  emporragt,  wäh- 

3* 


VENEDIG,  SAN  SIMONE  PICCOLO 
ORIGINALRADIERUNG  VON  SIR  CHARLES  HOLROYD 


o  n 


SIR  CHARLES  HOLROYD  ALS  RADIERER 


rend  im  Vordergründe  ein  Gewirr  großer  Boote  auf 
dem  Canale  dahingleitet,  —  ein  wahres  Prachtblatt  in 
der  Kraft  und  Solidät  seiner  zeichnerischen  Ausführung. 

Unter  den  figürlichen  Darstellungen  Holroyds  ist 
noch  zu  erwähnen  eine  1902  von  der  Royal  Society 
unter  dem  Titel  Der  junge  Triton  ausgestellte  Ra¬ 
dierung  mit  einer  Gruppe  von  Meeresnymphen,  die 
an  einem  Wogenkamme  emporstreben,  und  von  denen 
die  oberste  ein  Tritonenbaby  auf  ihren  Armen  em¬ 
porhält,  das  lustig  in  sein  Muschelhorn  bläst;  ein 
ähnliches  Blatt  von  gleicher  Schönheit  ist  die 
Nymphs  by  the  sea«.  Zu  der  letzteren  Radie¬ 
rung  gibt  es  übrigens  eine  äußerst  zarte  Silber¬ 
stiftstudie  Holroyds,  auf  der  die  beiden  Najaden- 
figuren  dieser  Komposition  im  Gegensinne  dargestellt 
sind.  Unter  denjenigen  Blättern  Holroyds,  auf  denen 
die  Figuren  nur  als  nebensächliche  Staffage  land¬ 
schaftlicher  Darstellungen  gelten  wollen,  sind  hervor¬ 
zuheben  die  beiden  großartigen  Radierungen  Der 
Sturm«  und  '>Der  verlorene  Sohn<.  Zum  Schlüsse 
wollen  wir  noch  die  köstliche  Eibenbaumstudie  »A 
Yew  Tree  on  Glaramara«  erwähnen;  dieses  Blatt 
zeichnet  sich  durch  besonders  kraftvolle  Zeichnung 
aus,  nur  daß  hier  der  nächstliegende  Vordergrund 
vielleicht  etwas  verworren  und  unklar  wirkt. 

Nachdem  wir  nunmehr  unsere  Übersicht  über 
das  radierte  Werk  Holroyds  abgeschlossen  haben, 
wird  es  den  Leser  interessieren,  noch  einiges  über 
die  Ätztechnik  und  die  persönlich  künstlerischen  In¬ 
tentionen  des  Meisters  zu  erfahren;  ich  bin  in  der 
glücklichen  Lage,  seine  eigenen  Äußerungen  für  meine 
Mitteilungen  über  diesen  Gegenstand  verwerten  zu 
können. 

Den  Begriff  der  Radierung  kann  man  in  Kürze 
definieren  als  eine  mit  spitzem  Stahlgriffel  in  eine 
besonders  präparierte  Metallplatte  —  in  der  Regel 
Kupferplatte  —  eingravierte  Linienzeichnung,  von  der 
sich  Abdrücke  auf  Papier  hersteilen  lassen,  wenn 
man  die  gravierte  Plattenfläche  mit  einer  Tusche  ein¬ 
reibt.  Für  die  Gravierung  der  Platte  aber  gibt  es 
zwei  verschiedene  Arbeitsmethoden:  die  eigentliche 
Radierung,  bei  der  die  Zeichnung  mit  Hilfe  der 


VILLA  BORGHESE.  ORIGINALRADIERUNG  VON 
SIR  CHARLES  HOLROYD 


Radiernadel  nur  in  eine  die  Metallplatte  bedeckende 
dünne  Wachsschicht  eingeritzt  wird,  um  dann  erst 
vermittelst  eines  chemischen  Säurebades  in  das  Metall 
selbst  eingeätzt  zu  werden,  und  die  sogenannte  Kalt¬ 
nadelarbeit,  bei  der  keinerlei  chemisches  Mittel  in 
Anwendung  gelangt,  sondern  die  Zeichnung  vielmehr 
mit  der  Radiernadel  direkt  in  die  Metallplatte  ein¬ 
graviert  wird.  Die  meisten  Arbeiten  Holroyds  sind 
echte  Radierungen  der  zuerst  charakterisierten  Art; 
nur  ausnahmsweise  hat  der  Meister  die  »kalte  Nadel« 
einmal  allein  verwendet  (und  zwar  in  dem  1904  aus¬ 
gestellten  Blatte  The  Batherer«).  So  bedient  sich 
also  unser  Künstler  in  erster  Linie  der  ätzenden  Säure 
zur  Herstellung  seiner  Plattengravierung.  Jedoch  legt 
er,  wie  er  mir  selbst  sagte,  auf  diesen  Umstand 
weniger  Gewicht,  als  auf  die  Tatsache,  daß  er  bei 
der  ersten  Anlage  einer  jeden  Radierung  immer  auf 
die  Natur  selbst  zurückgeht,  und  daß  er  namentlich 
die  Landschaftsgründe  seiner  Blätter  zumeist  im  Freien 
nach  der  Natur  direkt  auf  die  Platte  ätzt,  wobei  er 
in  der  Regel  nur  die  allereinfachsten  Radiertechniken 
in  Anwendung  bringt.  Nach  vollendeter  Ätzung 
nimmt  er  wohl  auch  die  kalte  Nadel  noch  zur  Hand, 
bringt  hiermit  jedoch  gewöhnlich  nur  noch  wenige 
ganz  leichte  Retuschen  auf  seiner  Platte  an.  Es  gäbe 
für  ihn  —  so  sagte  mir  Sir  Charles  —  keine  ange¬ 
nehmere  Erholung  von  seiner  angestrengten  Haus¬ 
arbeit  in  der  National  Gallery  oder  in  der  Tate  Gallery, 
als  in  freier  Natur  seine  geliebte  Ätzkunst  wieder 
aufzunehmen,  im  vergangenen  Jahre  in  Venedig, 
dieses  Jahr,  wie  er  sich  vorgenommen  hat,  an  den 
englischen  Seen.  Dann  ist  es  des  Meisters  liebste 
Ferienunterhaltung,  seine  Natureindrücke  in  freier 
Landschaft  mit  dem  Stahlgriffel  direkt  auf  die  vor 
ihm  liegende  Ätzplatte  zu  bannen.  Diese  Holroyd- 
sche  Plainairmethode  wird  zwar  von  Radierern,  die 
der  Atelierarbeit  nach  sorgfältig  durchgeführten  zeich¬ 
nerischen  Naturstudien  den  Vorzug  geben,  nur  zu 
gern  kritisiert;  wir  aber  erkennen  um  so  vorurteils¬ 
freier  die  packende  Naturwahrheit  eines  Holroydschen 
Kunstblattes  an,  das  uns  die  unmittelbare  Wirkung 
einer  Landschaftsszenerie  —  ihre  momentane  atmo¬ 
sphärische  Stimmung,  ihren  Charakter,  ihre  Indivi¬ 
dualität  —  in  so  meisterlicher  Wiedergabe  genießen 
läßt.  — 

Im  weiteren  Verlaufe  unserer  Unterhaltung  teilte 
mir  der  Künstler  fernerhin  mit,  wie  viel  er  aus  dem 
Studium  der  Kupferdrucke  des  großen  Meisters  Andrea 
Mantegna  gelernt  habe,  dessen  Werke  er  gar  oft  mit 
dem  Grabstichel  kopiert  habe.  Seiner  Ansicht  nach 
habe  die  Kunst  des  Radierens  in  unserer  Zeit  —  wie 
auch  schon  in  früheren  Epochen  —  sich  allzu  sehr 
vom  malerischen  Effekt  abhängig  gemacht,  um  nun¬ 
mehr  nur  noch  dem  Reiz  der  gebrochenen  Linie  zu 
huldigen  und  jeder  einfachen  Flächenwirkung  ge¬ 
flissentlich  aus  dem  Wege  zu  gehen;  und  zwar  sei 
es  Rembrandts  geniale  Ätzkunst  gewesen,  durch  deren 
faszinierendes  Vorbild  das  Bestreben  aller  späteren 
Radierer  fast  ausschließlich  auf  diese  »malerischen« 
Wirkungsmöglichkeiten  hingelenkt  worden  sei.  »Nun 
ist  dies  zwar«,  fährt  Holroyd  fort,  »eine  an  sich 


SIR  CHARLES  HOLROYD  ALS  RADIERER 


21 


höchst  schätzbare  Richtung 
der  Radierkunst,  deren  Schöp¬ 
fungen  völlig  eigenartige  und 
hochkünstlerische  Reize  inne¬ 
wohnen;  aber  gerade  wenn 
wir  dies  zugeben,  muß  uns 
andererseits  das  Zugeständnis 
eingeräumt  werden,  daß  auch 
diametral  entgegengesetzte 
Bestrebungen,  die  mehr  nur 
auf  eine  gewisse  klassisch 
griechische  Einfachheit  und 
Schönheit  der  Linienfüh¬ 
rung  abzielen,  mit  den  tech¬ 
nischen  Voraussetzungen  der 
Ätzkunst  sehr  wohl  verein¬ 
bar  sind.«  Und  als  schla¬ 
genden  Beleg  für  diese 
letztere  Behauptung  zeigte 
mir  Sir  Charles  ein  von 
Ingres  radiertes  Bildnis  des 
Bischofs  von  S.  Malo.  »Die 
neuere  Radierkunst«,  so 
schloß  der  Meister  seine  Betrachtungen,  »hat  mehr 
nur  dem  Charakteristischen  gehuldigt  als  dem  Schönen. 
Bleiben  wir  charakteristisch,  so  viel  wir  nur  immer 
können!  Aber  vergessen  wir  dabei  nie,  daß  die  Be¬ 
tätigungsgrenzen  des  Kupferätzens  weit  genug  gesteckt 
sind,  um  dem  Schönen  wie  dem  Charakteristischen 
allezeit  gleichen  Raum  zu  gewähren!« 

Das  radierte  Oeuvre  des  Sir  Charles  Holroyd 
umfaßt  im  ganzen  bis  jetzt  ungefähr  dreihundert 
Platten.  Seinem  letztjährigem  Ferienaufenthalte  in 
Venedig  haben  wir  allein  nicht  weniger  als  zwölf 
neue  Radierungen  zu  verdanken,  und  eine  ebenso 
große,  vielleicht  auch  noch  größere  Anzahl  hofft  der 
Meister,  wie  er  selbst  mir  sagte,  bei  seinem  diessom- 
merlichen  Besuche  der  englischen  Seen  zu  vollenden. 
Als  eine  ganz  besondere  Ermutigung  zur  Fortsetzung 
seiner  Radierertätigkeit  empfindet  er  das  verständnis¬ 
volle  und  einmütige  Interesse,  das  seinen  bisherigen 
Griffelschöpfungen  in  Deutschland  entgegengebracht 
worden  ist;  so  sind  neuerdings  mehrere  seiner  Kupfer¬ 
drucke  in  die  Sammlungen  des  Königlichen  Kupfer¬ 
stichkabinetts  zu  Dresden  eingereiht  worden. 

Übrigens  glaube  ich  mir  den  Dank  des  Meisters 
zu  verdienen,  wenn  ich  ihn,  den  trefflichen  Interpreten 
der  klassischen  Naturschönheiten  Italiens,  wie  auch 
der  zarteren  und  blühenderen  Reize  der  englischen 
Landschaftsnatur,  an  dieser  Stelle  hinweise  auf  die 
wundervollen  Darstellungsstoffe,  die  gerade  seiner 
Radierkunst  die  deutsche  Waldlandschaft  darbieten 
würde,  deren  zauberhafte  Pracht  den  altdeutschen 
Meister  Lukas  Cranach  schon  vor  Jahrhunderten  zu 
so  köstlichen  Kunstschöpfungen  angeregt  hat.  Wie 
verlockend  müßte  es  für  einen  so  glänzenden  Figuren¬ 
zeichner  wie  Holroyd  sein,  diese  von  gebrochenen 


Sonnenstrahlen  und  tiefen  Schattendämmerungen  durch¬ 
webten  Waldwinkel  mit  Gestalten  aus  der  deutschen 
Sagen-  und  Märchenwelt  zu  bevölkern  und  zu  beleben! 

Zum  Schlüsse  möchte  ich  noch  einige  Worte  anfügen 
über  eine  prächtige  Ätzplatte  von  der  Hand  unseres 
Meisters,  die  er  für  diese  Zeitschrift  geschaffen  hat,  und 
deren  Originalabzüge  dem  vorliegenden  Aufsatze  als 
Hauptillustration  beigegeben  sind.  Obwohl  hier  die 
Figuren  der  beiden  Nymphen  —  die  übrigens  an 
ihre  Schwestern  auf  Holroyds  »Pastorale«-Radierung 
erinnern  —  die  Bildkomposition  beherrschen,  liegt 
der  wahre  Hauptreiz  dieses  außerordentlich  schönen 
Blattes  für  mich  doch  in  der  Behandlung  des  land¬ 
schaftlichen  Milieus.  Die  beiden  Mädchengestalten 
-  die  eine  völlig  entkleidet,  die  andere  nur  leicht 
verhüllt  —  ruhen  im  Schatten  eines  mächtigen  Eich¬ 
baumes.  Ihnen  zu  Füßen  lächelt  ein  stiller  Waldsee, 
während  in  der  Ferne  eine  Burg-  oder  Klosterruine 
über  die  Wipfel  weitgedehnter  Urwälder  zum  Him¬ 
mel  emporragt,  und  am  äußersten  Horizonte  die  klare 
Silhouette  herrlicher  Gebirgszüge  sichtbar  wird.  Der 
Eindruck  ungemessener  Fernen  wird  hier  mit  nicht 
geringerer  Überzeugungskraft  im  Beschauer  wach¬ 
gerufen,  als  auf  den  umbrischen  Landschaftsdarstel¬ 
lungen,  die  Pietro  Perugino  bei  so  vielen  seiner 
Altargemälde  als  Hintergrundmotiv  verwendet  hat. 
Hier  atmet  der  Mensch  freier,  hier  hat  er  Raum  zu 
ungebundener  Bewegung.  Vor  allem  aber  findet 
hier  meine  kurz  zuvor  geäußerte  Ansicht  ihre  Be¬ 
stätigung,  daß  die  außerordentliche  Vornehmheit  der 
Holroydschen  Figurenzeichnung  bei  diesem  Blatte 
noch  übertroffen  wird  durch  die  Meisterschaft,  mit 
der  die  Radiernadel  des  Künstlers  hier  die  schönste 
aller  Waldlandschaften  hervorgezaubert  hat. 


E 


DIE  SPRACHE  DER  SCHERE 

Von  Heinrich  Wolfe  in  Königsberg 

'S  verdroß  schon  manchen,  der  gewillt  war,  sich  »zur  Kunst 
erziehen«  zu  lassen,  in  der  Flut  heutiger  Kunstliteratur  so 
wenig  festen  Boden  zu  finden.  Er  hatte  sich  aus  Einzel¬ 
resultaten  geordnet  ein  Gesamtvermögen  an  Kunstwissen  gedacht, 
einen  in  stetiger  Arbeit  wachsenden  Bau,  wie  auf  vielen  anderen 
wissenschaftlichen  oder  technischen  Gebieten.  Aber  was  man  an 
strenger  Wissenschaft  ihm  geben  konnte,  handelte  weniger  von 
Kunst,  als  von  einzelnen  Resultaten  der  Kunstgeschichte:  Daten  und 
Zusammenhänge  wurden  ihm  unwiderleglich  bewiesen.  Doch  aus 
denselben  Bausteinen  wurden  sehr  verschiedene  Gebäude  errichtet, 
deren  jedes  die  Entwickelungsgeschichte  oder  Ästhetik  der  Kunst 
darstellen  wollte. 

Es  wird  heute  so  oft  prinzipiell  vor  Kunstschulen  gewarnt  und 
betont,  wie  wenig  man  Kunst  lehren  oder  lernen  könne,  da  jedes 
Gesetz,  also  jedes  Wissen,  allmählich  verdächtig  wurde.  Aber  es 
ist  dann  nicht  einzusehen,  warum  vor  den  Kunstästhetiker  bei  der 
Unsicherheit  seines  Lehrstoffes  nicht  dieselbe  Warnungstafel  gestellt 
wird,  wie  vor  den  Akademieprofessor. 

Jedenfalls,  wenn  auch  über  die  Bewertung  des  verschiedenen 
Baumaterials  niemals  eine  Einigung  zu  erzielen,  wenn  wirklich  nur 
die  ewige  Abwechselung  der  Meinungen  das  Dauernde  wäre:  das 
Ordnen  zu  einer  Gesamtanschauung  wird  immer  Bedürfnis  sein, 
auch  wenn  sie  sich  noch  so  oft  änderte.  Oder  man  darf  nicht 
Politiker  sein  wollen,  wenn  man  nicht  irgend  eine  politische  An¬ 
sicht  aufbringen  kann.  Und  jede  Regierung  scheint  in  Zeiten  der 
Anarchie  besser  als  keine. 

In  der  Politik  scheint  das  Gesetzgeben  allerdings  fast  leichter  zu  sein,  als  in  der  Kunst. 

Zwar,  wenn  man  fand,  daß  nur  aus  schon  vorhandener  Kunst  Gesetze  abgeleitet  und  gegen  eine  neue 
oft  ungerecht  angewendet  werden  können,  so  werden  ja  auch  Staatsgesetze  nicht  erst  geschaffen  und  dann  das 
zu  regierende  Volk  dazu  gesucht,  sondern  fortwährend  schaffen  neue  Bedürfnisse  neue  Gesetze.  Im  Leben 
wie  in  der  Kunst  werden  neue  Bewegungen  immer  erst  unter  alten  Gesetzen  zu  leiden  haben,  bis  sie  Bedürfnis 
wurden.  Und  wir  können  Gesetze  nicht  entbehren,  nur  weil  sie  so  selten  ewig  sind,  wie  unsere  Bedürfnisse. 

Im  Kunstleben  aber  meint  heute  der  Außenstehende  oft,  daß  die  Sprecher  nur  für  sich  reden  und  gar 
nicht  auf  Antwort  warten.  Und  wenn  es  wirklich  Debatten  gibt,  so  kommt  es  doch  nicht  zu  Beschlüssen. 
Es  werden  viele  kleine  Bücher  geschrieben,  die  nur  anregen  wollen.  Und  wir  sind  doch  schon  so  angeregt! 

Immerhin  gemeinsam  waren  den  letzten  Jahren,  bei  dem  Suchen  nach  dem  Stil  unserer  Zeit,  allerhand 
Reinigungsbestrebungen.  Nach  den  schlechten  Erfahrungen  mit  den  alten  Gesetzen,  was  die  Kunst  solle, 
versucht  man  jetzt  umgekehrt  zu  lehren,  was  sie  nicht  dürfe.  Aber  jeder  reinigt  natürlich  vor  anderer  Tür: 
Man  ist  über  gute  Malerei  noch  uneinig,  aber  jedenfalls  soll  der  Maler  nicht  Literat  sein;  oder  es  ist  noch 
nicht  ganz  klar,  wo  echtes  Deutschtum  in  der  Kunst  liegt,  aber  man  soll  nicht  den  Franzosen  spielen.  Und 
man  ist  durch  das  Kunstgewerbe  zu  großer  Strenge  in  der  Reinheit  des  Materials  gekommen:  Man  soll  nicht 
Marmor  in  Stuck  imitieren  oder  radieren  »wie  gemalt  .  Man  soll  jedem  Ding  seine  Sprache  lassen. 

In  dieser  Forderung  der  Sprachreinheit  des  Materials  liegt  nun  ein  Gesetz,  das  wir  gewiß  brauchen  können, 
so  lange  wir  nicht  zu  streng  sind.  Aus  dem  geregelten  Schreibunterricht  nur  wird  sich  die  ausgeschriebene 
Handschrift  entwickeln;  so  muß  man  das  Gesetz  kennen,  aber  übertreten  dürfen.  Denn  die  äußerste  Konsequenz, 
die  das  Gesetz  als  Zweck,  nicht  als  Mittel  nimmt,  nicht  Gesetze  für  die  Kunst,  sondern  die  Kunst  nur  für  die 
Gesetze  braucht,  führt  zum  langweiligsten  Linienstich,  zum  prinzipiellen  Pointillismus,  zur  Kalligraphie. 


SILHOUETTE  VON  HEINRICH  WOLFE 


Es  ist  vielleicht  nicht  wertlos,  daran  zu  erinnern,  um  einer  nur  kleinen  Kunst  gerecht  zu  werden,  die 
als  eine  der  Folgen  moderner  Liebe  zur  Biedermeierzeit  jetzt  zu  neuem  Leben  erwacht,  der  Silhouette. 

Fast  scheint  sie  lebendiger  werden  zu  wollen,  als  sie  es  jemals  war.  Daß  sie  früher  wenigstens  nur  ein 
bescheidenes  Ansehen  genoß,  darauf  deutet,  daß  man  nach  einem  zu  sparsamen  französischen  Minister  alles 
ä  la  Silhouette  nannte,  was  ärmlich  oder  lächerlich  wirkte.  Es  schien  doch  eine  armselige  Art  des  Por- 
trätierens,  diese  von  Vielen,  aber  nur  von  wenigen  Künstlern  geübte  Kunst  fürs  Haus.  Mehr  aus  dem 
Bedürfnis  geboren,  billig  Erinnerungen  an  Angehörige  schaffen  und  verschenken  zu  können,  als  aus  dem  Ver- 


DIE  SPRACHE  DER  SCHERE 


23 


langen  nach  Kunst  Wenn  man  durch  ein  Licht  ein 
Schattenbild  auf  ein  Stück  Papier  an  der  Wand  werfen 
ließ,  gehörten  keine  besonderen  Fähigkeiten  dazu,  die 
nachgezeichneten  Umrisse  mit  einem  Storchschnabel 
zu  verkleinern  und  so  auszuschneiden,  daß  das  Ge¬ 
sellschaftsspiel  alt  und  jung  erfreute.  Und  oft  auch 
uns  heute  noch. 

Den  Kunstwert  aber  jener  alten  Familienbilder 
werden  wir  nicht  verwechseln  dürfen  mit  unserer  Freude 
an  der  guten  alten  Zeit,  die  wir  ebenso  in  ganz  kunst¬ 
losen  alten  Photographien  genießen;  mit  jener  halb  be¬ 
lustigten  Hochachtung,  wie  wir  sie  leicht  vor  kindlicher 
und  primitiver  Kunst  empfinden,  weil  wir  sie  anders 
nehmen,  als  sie  gemeint  sind.  Viele  jener  alten  Schatten¬ 
risse  reizen  uns  auch  schon  um  der  Dargestellten 
willen,  so  diejenigen  aus  dem  Goethekreis.  Gewiß 
wurden  auch  manche  schon  von  geschickteren  Händen 
direkt  aus  dem  Papier  geschnitten,  so  daß  wohl  ein 
Reiz  von  Leben  mit  gefaßt  wurde. 

Im  ganzen  aber  handelte  es  sich  um  das  Streben 
nach  objektivster  Naturwiedergabe,  nur  aus  Mangel 
an  Können  auf  die  Form  der  Silhouette  vereinfacht, 
die  ja  oft  genug  durch  nachträglich  hineingezeichnete 
Details  wieder  unterbrochen  wurde.  Das  Pflegen  der 
absoluten  Umrißzeichnung  schließlich  —  man  pauste 
sich  sogar  Rembrandt  in  dünnen  Konturen  —  ver¬ 
zichtete  auch  noch  auf  den  Reiz  der  Lebendigkeit,  den 
die  Schattenwirkung  gewiß  vor  anderen  Profildar¬ 
stellungen  voraus  hat.  So  tat  man  den  letzten  Schritt, 
um  vom  Schattenbild  auf  das  Lichtbild  vorzubereiten. 
Denn  diese  ganze  Kunst  mit  ihrem  wissenschaftlichen 
Beigeschmack,  der  sie  für  Lavater  so  wichtig  machte, 
war  damals  im  Grunde  nur  eine  Vorahnung  der 
Photographie,  die  das,  was  man  eigentlich  wollte,  noch 
besser  gab.  Und  der  man,  als  sie  auftrat,  auch  sofort 
Platz  machte. 

sfs  ^ 

Man  wird  diese  Vergangenheit  der  Silhouette  im 
Auge  behalten  müssen,  wenn  man  sich  für  ihre  Zu¬ 
kunft  interessiert.  Und  auch  wenn  man  sie  nur  für  ein 
lustiges  Spiel  hält,  wird  man  das  immer  noch  sinn¬ 
reicher  treiben  können,  als  wenn  man  es  nur  genau  so 
zu  machen  strebt,  wie  es  Großvater  tat. 

Man  hat  ja  die  Anfänge  der  Silhouette  schon  in 
den  Vasenzeichnungen  der  Griechen  sehen  wollen. 
Dann  kann  man  schließlich  auch  die  Profile  der  Ägypter 
und  jedes  Relief  überhaupt  als  Verwandten  ansprechen. 
Als  Vorbild  heuriger  Modeneigung  kommt  wohl  aber 
nur  eben  jene  Zeit  vor  reichlich  hundert  Jahren  in 
Betracht,  als  die  Silhouette  ihren  Namen  erhielt. 

Den  Wert  von  Stilspielerelen  nun,  die  gewiß  in 
oft  erstaunlicher  Weise  jene  alten  Schattenrisse  in  ihrem 
Zeitcharakter  nachzuempfinden  suchen,  kann  man  be¬ 
liebig  beurteilen  und  wird  doch  die  Jahre  fast  be¬ 
rechnen  können,  wo  all  dies  Spielen  mit  der  Geschichte 
—  malen  wollen  wir  Historien  nicht  mehr  —  vor¬ 
bei  ist. 

»  Art  de  la  deuxieme  main«  nach  Menzels  hübschem 
Französisch.  Es  wird  nicht  lange  dauern.  Die  Sorge 
um  diese  arme  Kunst  ä  la  Silhouette  lohnt  aber  nicht 


erst,  bei  der  Unfruchtbarkeit  aller  Inzucht,  wenn  sie 
nicht  von  vornherein  frisches  Blut  erhält. 

Wenn  der  Stil  der  alten  Silhouette  nicht  einfach 
beibehalten  werden  kann,  so  scheint  auch  der  Haupt¬ 
stoff  von  damals,  das  Porträt,  aussichtslos,  heute  diese 
Kunst  zu  tragen.  Allenthalben  ist  es  freilich  momentan 
wieder  Mode,  Bildnisse  auszuschneiden.  Ob  dieser  Wett¬ 
bewerb  den  abends  in  den  Wirtshäusern  herumirrenden 
Professionisten  schadet  oder  nützt,  weiß  ich  nicht. 
Auf  die  Dauer  wird  jedenfalls  der  Durchschnittspreis 
von  50  Pfennigen  auch  bei  besseren  Leistungen  schwer¬ 
lich  zu  erhöhen  sein.  Das  Publikum  hat  seine  Photo¬ 
graphie  und  wird  auch  weiterhin  heute  nur  Ulk  in 
der  Silhouette  sehen,  auch  wenn  gelangweilte  Dilet¬ 
tanten  bei  Regenwetter  in  der  Sommerfrische  den 
Sport  mittreiben.  Und  vor  allem  glaube  ich,  daß  die 
photographierte  Silhouette  nicht  mehr  weit  ist. 

Sie  war  eigentlich  schon  da.  Denn  in  der  ersten 
Zeit  der  Daguerreotypie  wurden  öfters  Profile  einfach 
schwarz  gefärbt,  teils  wohl,  weil  außer  dem  Umriß 
so  wie  so  noch  nicht  viel  zu  sehen  war,  teils  aus  Hang 
an  alter  Mode. 

Wenn  man  nun  an  die  amüsante  Schattenwirkung 
denkt,  die  elektrisches  Licht  heute  hervorbringt,  etwa 
wenn  bei  einem  Lichtbildervortrag  jemand  versehent¬ 
lich  in  der  Pause  zwischen  Apparat  und  Projektions¬ 
fläche  tritt,  kann  man  wohl  erwarten,  daß  diese  leben¬ 
digen  Silhouetten  mit  ihrem  bei  aller  Drastik  höchst 
reizvoll  detaillierten  Kontur  bald  genug  mit  dem  Mo¬ 
mentapparat  der  wieder  neuen  Mode  dienstbar  gemacht 
werden  und  ihr  oft  genügen. 

Da  ein  Bedürfnis  nach  dem  Porträtsilhouetten¬ 
schneider  heute  jedenfalls  nicht  auf  die  Dauer  zu  kon¬ 
struieren  ist,  wird  er  sich  nur  an  die  wenigen  halten 
können,  denen  am  Porträt  nicht  gerade  liegt,  sondern 
an  der  Kunst  in  der  Silhouette.  Da  ergibt  sich  eine 
Erweiterung  des  Stoffgebietes  bald  von  selbst. 

Aber  gerade  weil  sie  nicht  mehr  Bedürfnis  ist, 
werden  die  eigenen  Bedürfnisse  der  nun  freien  Kunst 
mehr  beachtet,  ihre  eigene  Sprache  gerade  heute  mehr 
betont  werden  müssen,  wenn  sie  sich  den  anderen 
Künsten  und  der  Photographie  gegenüber  überhaupt 
halten  soll:  statt  der  Sprache  der  Biedermeierzeit  die 
Sprache  der  Schere. 

*  * 

Wer  jemals  aus  einem  Stück  Papier  Figuren  schnitt, 
wird  den  Unterschied  dieses  Schaffens  gespürt  haben 
gegenüber  aller  Zeichnung  mit  Pinsel  oder  Stift. 
Wenigstens,  wenn  er  ohne  Vorzeichnung  schnitt. 
Denn  die  schafft  nur  scheinbar  Erleichterung,  stellt 
aber  in  Wahrheit  tausend  Warnungstafeln  auf,  um 
den  leichten  Tanzschritt  der  beweglichen  Schere  zu 
solcher  Ehrbarkeit  zu  mäßigen,  daß  sie  fast  dem 
Messer  des  Holzschneiders  gleicht,  der  ernst  seine 
abgesteckten  Furchen  pflügt. 

Nein,  da  hat  sie  noch  eher  einen  anderen  großen 
Verwandten,  die  Steinplastik.  Nicht,  weil  zum  Relief 
meist  Profile  benutzt  werden,  sondern  das  Herauslösen 
des  gleichsam  schon  vorhandenen  Kunstwerkes  aus 


DIE  SPRACHE  DER  SCHERE 


SILHOUETTE  VON  HEINRICH  WOLFE 


der  Umklammerung  des  überflüssigen  Steins’),  diese 
Seelenbefreiung,  zu  der  eigentlich  nichts  nötig  ist,  als 
das  Werk  schon  im  Block  zu  sehen,  dieses  »Weg¬ 
nehmen'  im  Gegensatz  zum  Hinzutun  der  Malerei 
sind  verwandte  Züge  trotz  aller  Größenunterschiede. 
Gemeinsam  in  gewissem  Grade  ist  den  beiden  Künsten 
auch  die  Greifbarkeit,  der  geringe  Zwang  zur  Illusion. 
Wie  von  Gott  am  sechsten  Schöpfungstage  erhält  jedes 
Männlein  zwei  richtige  Arme  und  Beine.  Jeder  Baum 
ist  zu  greifen;  er  ist  da. 

Mit  dem  Ausschneiden  erst  fängt  die  Silhouette 
überhaupt  an.  Und  so  kann  sie  schon  ein  verstän¬ 
diges  Spiel  sein,  des  Abends  bei  der  Lampe,  und 
große  und  kleine  Zuschauer  dabei.  Und  so  wenig 
Illusion  bei  der  Wirkung  der  »wirklichen«  Figürchen 
im  Schattenspiel  ist,  so  reizt  doch  im  Entstehen  ge¬ 
rade  das  schwarze  Papier  die  Vorstellungskraft  mächtig, 
schon  nach  den  ersten  wie  zufälligen  Einschnitten. 
Freilich  tut  Vorsicht  not  beim  Schneiden,  da  nichts 
zu  reparieren  ist.  Aber  schließlich,  was  keinen  Men¬ 
schen  mehr  abgibt,  reicht  vielleicht  immer  noch  etwa 
für  einen  kleinen  Strauch.  Und  der  Zufall  ist  natür¬ 
lich  mit  beim  Spiel. 

Man  braucht  ja  auch  die  ganze  Sache  so  wenig 
tragisch  zu  nehmen,  wie  der  Märchendichter  Andersen. 
Der  trieb  seine  Scherenspiele  so  nebenbei,  wie  andere 
das  Dichten.  Das  muß  vielleicht  so  sein.  Jedenfalls 
verstand  er  die  Mundart  seiner  Schere:  Schnell  fraß 
der  spitze  Schnabel  die  lustigsten  Löcher  und  aus 
den  armen  Papierschnitzeln  wurden  phantastische  Be- 


i)  Grimm,  Michelangelo. 


gleiter  seiner  Märchen.  So,  nebenbei,  entstanden  auch 
des  armen  Sandmanns  Eckert  überraschende  Sachen. 

Und  wer  diese  Dinge  als  Kunst  zu  harmlos  findet, 
muß  sie  immer  noch  so  vernünftig  finden,  wie  die 
heutigen  Pinselübungen  der  Kinder  in  der  Schule. 
Es  ist  ja  nur  natürlich,  mit  einem  neuen  Material 
nicht  gleich  Natur  imitieren  zu  wollen.  Das  Kunst¬ 
werk  liegt  doch  zwischen  dem  Naturvorbild  und  dem 
Material,  aus  dem  geschaffen  werden  soll;  von  beiden 
Eltern  hat  es  seine  Seele.  Da  ist  es  sehr  vernünftig, 
von  Pinsel  oder  Schere  erst  zu  hören,  was  sie  zu 
sagen  haben,  ehe  wir  sie  nach  unserm  Willen  zwingen. 

Wir  haben  das  wohl  von  den  Japanern  gelernt, 
und  noch  eines  können  wir  gerade  für  die  Silhouette 
von  ihnen  gebrauchen:  das  Arbeiten  aus  dem  Hand¬ 
gelenk.  Der  Ausdruck  galt  früher  als  Symbol  des 
Oberflächlichen  in  der  bildenden  Kunst  und  bei 
unserer  auf  das  Individuelle  gerichteten  Kunst  hat 
solches  Arbeiten  auch  seine  Gefahren.  Und  doch 
brauchen  wir  zum  Erfassen  von  Formenzusammen¬ 
hängen  jenes  Gefühl  des  Rhythmischen,  das  wir  bei 
jeder  guten  Bewegung  im  Tanz  oder  beim  Eislauf 
im  eigenen  Körper  empfinden. 

Dem  Japaner  jedenfalls  schien  für  seine  Gedanken 
auf  dem  Weg  aus  dem  Kopf  in  die  Hand  und  ins 
Kunstwerk  hinüber  das  Handgelenk  nie  unwichtig. 
So  schuf  er  nicht  die  letzten  Zufälligkeiten  des  Blüten¬ 
zweiges  vor  sich,  aber  aus  dem  Gefühl  des  eigenen 
Körpers  heraus  einen  solchen  von  höchster  Lebens¬ 
möglichkeit.  So  aus  dem  Handgelenk,  ohne  hinzu¬ 
sehen  fast,  schufen  schon  von  den  alten  Silhouetten¬ 
künstlern  einige  ihre  Figürchen. 

So  mag  der  neue  Schattenschnitt  an  alles  sich 
wagen,  was  er  zwischen  Himmel  und  Erde  findet. 
Und  wenn  die  greifbaren,  schwarz  stehengebliebenen 
Figuren  seiner  Phantasie  nicht  genügen,  mag  er  auch 
weiße  Figuren  aus  dem  schwarzen  Grund  schneiden 
und  so  doch  noch  durch  stärkere  Illusion  wirken. 
Schon  Andersen  gestattete  seiner  Kunst  diese  Sprach- 
freiheit.  Aber  freilich,  jedes  Detail  mehr  ist  eine  Ge¬ 
fahr  für  die  Solidität  dieses  aus  feinen  Teilen  zu¬ 
sammenhängenden  Gewebes.  So  ist  bei  der  ge¬ 
schnittenen  Silhouette  eine  Beschränkung  nur  Natur, 
die  bei  der  gezeichneten  als  Zwang  erscheint.  Warum 
soll  man  schließlich  gezeichnete  Figuren  schwarz  zu¬ 
streichen?  Warum  dann  nicht  auch  noch  mehr 
zeigen,  als  immer  nur  den  Kontur?  So  würde  eine 
Ausstellung  der  frühen,  geschnittenen  Schattenbilder 
Konewkas  vielleicht  Bedauern  wecken,  daß  der  Buch¬ 
handel  ihn  dazu  brachte,  später  nur  noch  für  den 
Holzstock  zu  zeichnen.  Er  wäre  einer  der  Begab¬ 
testen  gewesen,  die  Silhouette  auf  eigene  Beine  zu 
stellen. 

Und  auch  von  der  geschnittenen  Silhouette  »pour 
la  Silhouette«,  die  freilich  immer  noch  leicht  genug 
eine  brotlose  Kunst  sein  wird,  gibt  es  ja  heute  Wege 
zu  einer  angewandten  Schattenkunst.  Gerade  wenn 
man  von  der  eigentlichen  Sprache  der  Silhouette  aus¬ 
geht,  die  gewissermaßen  die  geschnittenen  Löcher  als 
das  Wichtigste  nimmt  und  das  durchbrechende  Licht 
als  das  Wirkende,  ist  der  Weg  zur  Diaphanie  und 


DIE  SPRACHE  DER  SCHERE 


25 


zum  Schablonenschnilt  nicht  weit.  Freilich  ist  hierzu 
nötig,  daß  eine  Vervielfältigung  nicht  auf  die  Wieder¬ 
gabe  der  Wirkung,  sondern  auf  eine  Reproduktion 
der  Schablonen  selbst  gerichtet  sein  müßte.  Wie  das 
zu  erreichen  wäre,  etwa  durch  Stanzen  oder  auf 
photographischem  Wege  durch  Verdichtung  der  dunk¬ 
len  Bildschicht,  weiß  ich  nicht.  Greifbare  Silliouetten 
könnten  aber,  lose  eingeklebt,  auch  eine  amüsante 
Unterbrechung  des  Bildschmucks  unserer  Zeitschriften 
bilden.  Und  jedenfalls  liegt,  glaube  ich,  hier  die  Zu¬ 
kunft  der  Silhouette,  wenn  sie  eine  hat.  Die  Redak¬ 
tion  dieser  Zeitschrift  hat  sich  beeilt,  meiner  Idee 
gleich  die  Tat  folgen  zu  lassen. 

Man  hat  in  England  neue  Silhouetten  für  Wetter¬ 
fahnen  geschaffen,  ähnlich,  wie  man  sie  primitiv  an 


den  Masten  ostpreußischer  Fischerboote  findet  Man 
könnte  auch  an  eine  Neubelebung  der  Firmenschilder 
denken,  die  mit  allerhand  einfachen  Figuren  quer 
in  die  Straßen  ragen. 

Und  die  Möglichkeit  billigerer  Verwendung  für 
den  Zinkdruck,  namentlich  in  Kinderbüchern,  bleibt 
ja,  auch  wenn  die  Originale  aus  Papier  geschnitten 
werden.  Es  braucht  sich  darum  nicht  aufzudrängen, 
wie  die  Sachen  gemacht  sind. 

Wie  wir  es  aber  heute  an  einem  Bild  nicht  zu 
tadeln  pflegen,  wenn  man  auch  die  Wirkung  der 
Pinselstriche  bemerkt,  so  werden  wir  auch  bei  der 
Silhouette  die  Sprache  der  Schere  nicht  nur  unter¬ 
drückt  sehen  wollen. 


SILHOUETTE  VON  HEINRICH  WOLFE 


Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XVIII.  H.  1 


4 


EINE  AUSSTELLUNG  FRANZÖSISCHER  KÜNSTLER  IM 
MÜNCHENER  KUNSTVEREIN 

Von  Wilhelm  Michel 


DR.  RICHARD  ADALBERT  MEYER  gebührt  das  Ver¬ 
dienst,  diese  außerordentlich  instruktive  Ausstellung, 
die  später  auch  in  Frankfurt,  Dresden,  Karlsruhe 
und  Stuttgart  gezeigt  werden  soll,  organisiert  zu  haben.  Es 
sind  in  der  Hauptsache  die  Neoimpressionisten,  die  hier 
vorgeführt  werden,  und  dazu  gesellen  sich  bedeutende 
und  charakteristische  Werke  der  Schule  von  Pont-Aven. 
ln  anderer  Weise  als  das  junge  Deutschland  wird  diese 
jüngste  französische  Malergeneration  von  den  großen 
Problemen  der  Wirklichkeit  und  des  Stiles  bewegt.  Von 
der  befremdlichen,  fast  bürgerlichen  Ruhe  und  Zufrieden¬ 
heit,  die  sich  im  neuesten  deutschen  Kunstschaffen  be¬ 
merkbar  macht,  spürt  man  hier  nichts.  Hier  ist  alles  noch 
Kampf  und  Ringen,  Ringen  um  die  elementarsten  Grund¬ 
lagen,  auf  denen  sich  eine  spätere  Synthese  mit  voller 
Sicherheit  wird  aufbauen  können.  Pani  Cezanne,  dem  in 
der  jüngsten  Entwickelung  der  französischen  Malerei  ein 
so  hervorragender  Platz  gebührt,  ist  leider  quantitativ  nur 
sehr  schwach  vertreten.  Neben  zwei  weiblichen  Porträt¬ 
studien  sieht  man  von  ihm  eins  seiner  zahlreichen  Still¬ 
leben,  in  dem  wunderbare,  der  Natur  naiv  abgelauschte 
Harmonien  erklingen.  Von  Seiirat  ist  besonders  die  große 
Studie  zur  »Grande  Jatte«  zu  erwähnen,  in  welcher  der 
neue  Grundsatz  der  Farbenteilung  zuerst,  wenn  auch  zag¬ 
haft,  zur  Anwendung  kam.  Weiter  fortgebildet  wird  die 
Teilungstechnik  durch  H.  E.  Croß,  der  im  übrigen  stark 
unter  dem  Einflüsse  des  japanischen  Farbenholzschnittes 
steht.  Auch  Liice  und  Rysselberglie  gelangen  durch  das 
neoimpressionistische  Rezept  zu  schönen,  überzeugenden 
Ergebnissen,  während  es  in  den  Schöpfungen  Paul  Signacs 
in  allzu  pedantischer  Weise  auf  die  Spitze  getrieben  er¬ 
scheint.  Signac  stellt  den  Höhepunkt,  aber  wohl  auch 
den  Ausklang  der  neoimpressionistischen  Bewegung  dar. 
Man  besinnt  sich  beim  Anblick  seiner  die  Form  und  die 
stoffliche  Charakteristik  fast  ganz  preisgebenden  Malereien, 
daß  das  Problem  der  Farbenreinheit  schließlich  doch  nur 
ein  sekundäres,  ein  Atelierproblem  ist.  Mit  einer  philo¬ 
sophiegeschichtlichen  Terminologie  könnte  man  sagen: 
Signac  ist  zu  einem  radikalen  Kritizismus  gelangt,  der 
letzten  Endes  sich  selbst  zerstören  muß.  —  Eine  wunder¬ 
bare  Formenwelt  kommt  in  den  Strandbildern  von  Maurice 
Denis  zur  Darstellung.  Die  Bewegung  dieser  nackten  Kinder- 
und  Mädchenkörper  ist  voller  Ornament,  voll  einer  großen 
stilistischen  Gebärde,  die  an  die  besten  Schöpfungen  Puvis 
de  Chavannes’  denken  läßt.  Tiefe,  tragische  Töne  er¬ 
klingen  in  den  Gemälden  von  Laprade,  unter  denen  eine 
»Dame  auf  der  Terrasse«  besonders  ins  Auge  fällt.  Camoin 
vereinigt  in  seinem  »Kind  auf  dem  Sofa«  die  blendende 
Rosenfarbe  des  Sofabezuges  mit  dem  starken,  gelbbraunen 
Inkarnat  des  nackten  Körpers  zu  einem  außerordentlich 
kühnen,  vollklingenden  Akkord,  ln  Diriks  Seestücken  be¬ 
wundert  man  den  fabelhaften,  dionysischen  Farbenprunk, 


die  lachende  Freiheit  und  barbarische  Größe,  mit  der  uns 
die  Natur  hier  vor  Augen  tritt.  Voll  köstlicher  Unmittel¬ 
barkeit  der  Bewegung  ist  Jean  Puys  »Modell«,  breit  hin¬ 
gestrichen  mit  dunkler  Kontur,  und  an  Farbe  nur  das 
Nötigste  und  Überzeugendste  darbietend.  Ebenso  breit 
und  flächig,  fast  dem  Plakat  sich  nähernd,  ist  die  Dar¬ 
stellungsweise  in  Emile  Bernards  Selbstbildnis.  Charles 
Gnerins  »Klassisches  Theater«  ruft  mit  seiner  flockigen, 
lockeren  Farbe  und  der  gobelinartigen  Auffassung  Er¬ 
innerungen  an  Diaz  und  Monticelli  wach.  Vuillards  poin- 
tillistisch  behandelte  Interieurs  liegen  ganz  in  den  reifen, 
feinen,  gedrückten  Farben,  die  wir  aus  den  besten  japani¬ 
schen  Farbenholzschnitten  kennen  gelernt  haben.  Vallotton, 
der  bekannte  Holzschnittkünstler,  macht  als  Maler  kein 
sonderliches  Glück.  Seine  Farben  sind  nackt  und  reizlos, 
wenn  auch  kräftig,  seine  Landschaften  nehmen  sich  aus 
wie  geschickte  Entwürfe  zu  Farbenholzschnitten,  und  tat¬ 
sächlich  könnte  man  das,  was  sie  an  charakteristischen 
Farbenwerten  enthalten,  mit  drei  oder  vier  Platten  wieder¬ 
geben.  —  Eine  große,  feurige  Seele  spricht  aus  den  Land¬ 
schaften  van  Goghs.  Die  große,  einheitliche  malerische 
Anschauung,  die  sich  in  seinem  »Olivenhain«  kundgibt, 
wird  von  wenigen  seiner  Mitstrebenden  erreicht.  Aus 
seinem  »Goldenen  Ährenfelde«  blickt  uns  die  Natur  selbst 
mit  blinden  Augen  an,  wie  ein  belebtes  Wesen,  dessen 
ungefüge,  schwere  Zunge  das  Wort  nicht  zu  artikulieren 
vermag,  das  es  von  seinem  Leid  uns  sagen  möchte.  Die 
wilden,  wirren,  verkrampften  Formen  der  Bäume,  die  man 
auf  dem  Bilde  »Irrenhaus  von  Arles«  sieht,  reden  fast 
deutlicher,  als  für  die  Gemütsruhe  des  Beschauers  gut  ist, 
von  den  tagfremden  Qualen,  die  das  weiße  Haus  im 
Hintergründe  beherbergt.  Mit  seiner  großen,  gewaltigen 
Naturauffassung,  mit  dem  ungeheuren,  von  keiner  Schule 
abhängigen  Impressionismus  seines  Ausdruckes  scheint 
van  Gogh  mehr  der  Bürger  einer  größeren  Zukunft  als 
unserer  Zeit  zu  sein.  Neben  ihm  verdient  Paul  Gauguin 
genannt  zu  werden,  der  hier  allerdings  nicht  besonders 
gut  vertreten  ist.  Trotzdem  wird  man  an  der  tropischen 
Landschaft  dieses  enragierten  Verächters  aller  europäischen 
Zivilisation  seine  aufrichtige  Freude  haben  können.  —  Zur 
Vervollständigung  der  Nomenklatur  seien  noch  die  bisher 
nicht  erwähnten  Künstler  Bonnard,  Frau  Cousturier,  Henri 
Matisse,  Lebeau,  Henri  Manguin,  Marquet,  Roussel, 
Schuffenecker  und  Louis  Valtat  genannt.  Die  ausgestellten 
Bilder  stammen  teils  aus  Privatbesitz  (Feneon,  Luce,  Ver- 
baeren,  Schuffenecker,  J.  Bernheim  und  Vollard),  teils  aus 
den  großen  Beständen  der  Galerie  Druet,  deren  ausge¬ 
zeichnete,  nach  eigenem  Verfahren  hergestellte  Photo¬ 
graphien  jedem  Liebhaber  und  Erforscher  der  neoimpres¬ 
sionistischen  Bewegung  ein  erstklassiges  Anschauungs¬ 
material  bieten. 


AOINA,  DAS  HEILIGTUM  DER  APHAIA 

Von  Max  Maas 


VOR  kurzem  hat  der  neuerwählte  Präsident  der 
Society  for  the  Promotion  of  Hellenic  Studies, 
Professor  Percy  Gardner,  einen  Vortrag  über  die 
wichtigsten  Ereignisse  des  verflossenen  archäologischen 
Jahres  gehalten.  Der  englische  Gelehrte  hat  darin  für 
das  Gebiet  der  Publikationen  Furtwänglers  großes  Ägina¬ 
werk  als  »The  book  of  the  season«  bezeichnet.  In  der 
Tat  ist  diese,  auf  Kosten  der  kairischen  Akademie  her¬ 
gestellte  und  in  ihrem  Verlag  erschienene  systematische 
Schilderung  der  letzten  äginetischen  Ausgrabungen  und 
ihrer  Resultate,  bei  der  Furtwängler  von  seinen  Ausgrabungs¬ 
genossen  Ernst  R.  Fiechter  und  Hermann  Thiersch  unter¬ 
stützt  wurde,  ein  Monumentalwerk.  (Der  Textband  hat  IX 
und  504  Seiten  und  413  Tafeln  im  Text;  der  Tafelband 
besteht  aus  130  Tafeln  und  einer  Karte.)  —  Es  ist  eine 
vorbildliche  Publikation,  was  Text  und  Tafeln  betrifft,  vor¬ 
bildlich  auch  wegen  der  verhältnismäßigen  Schnelligkeit, 
mit  der  sich  die  Münchener  Gelehrten  daran  gemacht  hatten, 
ein  abschließendes  großes  Werk  zu  schaffen;  sie  haben 
die  Schwierigkeiten,  die  eine  Publikation  macht,  wenn  sie 
erst  lange  nach  Abschluß  der  Ausgrabungen  zustande 
kommt,  wohl  eingesehen  und  danach  gehandelt. 

In  der  Arbeitsteilung  für  die  Publikation  sind  Furt¬ 
wängler  die  Schilderung  der  bayrischen  Ausgrabung  des 
Aphaiaheiligtums  im  Jahre  1901,  die  Einleitung  über  den 
Namen  des  Heiligtums,  die  umfassenden  Kapitel  über  Mar¬ 
morskulpturen  und  der  letzte  Abschnitt  über  die  Geschichte 
des  Heiligtums  zugefallen.  Furtwänglers  Ausführungen 
sind  außerordentlich  fesselnd  und  enthalten  Exkurse  von 
weittragendster  kunsthistorischer  Bedeutung,  —  wir  nennen 
hier  nur  die  Betrachtungen  über  Marmortechnik  und  die 
Malerei  der  Skulpturen  und  über  Komposition  von  Giebel¬ 
gruppen  und  Tempelbau  im  allgemeinen.  Alles,  was  ins 
Gebiet  der  Architektur  fällt,  hat  E.  R.  Fiechter  mit  reichem 
Wissen  und  peniblester  Genauigkeit  durchgeführt;  der 
Tempel,  die  mit  dem  Tempel  gleichzeitig  oder  später  ent¬ 
standenen  Bauten,  die  Reste  älterer,  dem  Tempel  voran¬ 
gehender  Bauten,  Reste  von  Vasen,  Steingeräten  und  Dach¬ 
ziegeln,  die  ornamentalen  Teile  der  Akroterien.  Eine 
außergewöhnliche  Fülle  von  Vergleichsmaterial  namentlich 
aus  dem  unteritalisch -sizilischen  Tempelgebiet  ist  hier 
herangezogen;  zahlreiche  Tafeln  bringen  kleine  und  große 
Aufnahmen,  Pläne  und  Rekonstruktionen  des  tüchtigen 
Architekten. 

Endlich  ist  Thierschs  nur  zu  gewissenhafte  und  aus¬ 
führliche  Behandlung  der  Weihgeschenke  (abgesehen  von 
Gemmen,  die  wieder  Furtwängler  zufielen)  und  der  In¬ 
schriften  nicht  zu  vergessen;  aber  auch  die  in  den  wissen¬ 
schaftlichen  Resultaten  zum  Ausdruck  gekommene  Mithilfe 
des  Assistenten  im  Gipsmuseum  Dr.  Johannes  Sieveking 
soll  erwähnt  werden,  der  an  den  Arbeiten  für  die  Rekon¬ 
struktion  der  Giebelgruppen  und  bei  der  ganzen  Herstellung 
des  Bandes  sich  mitbetätigt  hat. 

Unter  den  hauptsächlichsten  in  dieser  Publikation  nieder¬ 
gelegten  Ergebnissen  ist  zunächst  die  Zuweisung  der  Kult¬ 
stätte  an  die  Nymphe  Aphaia  zu  nennen,  deren  Verehrung 
wohl  mit  Einwanderern  aus  Kreta,  wo  die  Göttin  unter 
dem  Namen  Britomartes  sich  hoher  Ehren  erfreute,  nach 


Ägina  gekommen  ist.  Bereits  in  der  zweiten  Hälfte  des 
7.  Jahrhunderts  stand  ein  Haus  und  ein  Altar  für  Aphaia, 
wie  die  wichtige  gefundene  Inschrift  erzählt.  Ein  schlichtes 
Kulthaus  war  in  dieser  ersten  Bauperiode  für  Aphaia  ent¬ 
standen;  Furtwängler  meint,  es  sei  säulenlos  gewesen, 
aber  vielleicht  war  es  doch  ein  Templum  in  antis,  würdig 
des  in  der  Aphaiainschrift  genannten  Elfenbeinschmuckes. 
Ein  feiner  archaischer  Tempel  für  Aphaia  folgte  in  der 
ersten  Hälfte  des  6.  Jahrhunderts,  wie  zerschlagene  bunt¬ 
bemalte  Bauglieder,  die  innerhalb  der  Terrassierung  des 
späteren  Tempels  aufgedeckt  wurden,  zeigen.  Auch  hat 
sich  schon  damals  eine  riesige  einzelne  jonische  Säule 
nnerhalb  des  heiligen  Gebietes  erhoben,  die  wahrschein- 
ich  eine  Sphinx  trug.  Zu  Anfang  des  5.  Jahrhunderts 
wurde  das  kleine  Heiligtum,  vielleicht  von  den  nach  Mara¬ 
thon  in  den  äginetischen  Gewässern  kreuzenden  Persern, 
durch  Feuer  zerstört.  Größer  und  stattlicher  errichtete 
nunmehr  das  reiche  und  mächtige  Handelsvolk  der  Ägineten 
den  Tempel  für  seine  lokale  Gottheit.  Ein  stattlicher  Pe- 
ripteros  erhob  sich,  eine  geräumige  Terrasse  wurde  ge¬ 
schaffen  umgeben  von  einer  Stützmauer,  ein  Propylon, 
Tempel,  Dienerschafts-  und  Vorralshäusersind  nachzuweisen. 
Der  große  Altar  von  gestreckter  langer  Form  lag  vor  der 
Ostfront  des  Tempels,  ein  gepflasterter  Opfertanzplatz 
(Thymele)  schloß  sich  ihm  an.  Weibliche  Statuen  und 
Gruppen  von  Kriegern  haben  wahrscheinlich  den  Platz 
geschmückt.  Es  ist  kein  Zweifel,  daß  alle  diese  Bauten  in 
einem  Zuge  nach  einem  einheitlichen  Plane  errichtet  worden 
sind;  es  ist  auch  nachher  nichts  Nennenswertes  mehr  hin¬ 
zugetreten  und  der  Glanz,  der  die  Göttin  Aphaia  zu  der 
Zeit  (490 — 475  V.  Ch.)  umstrahlte,  als  Pindar  ihr  einen 
Hymnus,  vielleicht  zur  Einweihung  des  neuen  Tempels, 
dichtete,  ist  bald  darauf  erloschen. 

Aber  das  wichtigste  Resultat  der  bayerischen  Aus¬ 
grabungen  ist,  daß  sie  mit  zu  einem  Neuarrangement  der 
Münchener  Giebelgruppen  geführt  haben,  dieser  Giebel¬ 
gruppen,  die,  seitdem  der  Engländer  C.  R.  Cockerell  und 
der  Deutsche  Hallervon  Hallerstein  sie  1811  aus  den  Tempel¬ 
trümmern  hervorgesucht  hatten,  schon  so  viele  archäo¬ 
logische  Federn  in  Bewegung  gesetzt  haben.  Sind  sie  auch 
jetzt  in  ihren  Originalen  unwiderruflich  der  Thorwaldsen- 
schen  Restauration  verfallen,  da  die  teilweise  zur  bequemeren 
Ergänzung  abgemeißelten,  mit  nur  zu  großer  Energie  oft 
falsch  ergänzten  Figuren  —  namentlich  die  des  Westgiebels, 
noch  dazu  in  ihrer  unrichtigen  Anordnung  —  dauernd 
fixiert  worden  sind,  so  sind  sie  wenigstens  im  Modell  in 
richtiger  Ergänzung  und  richtiger  Gruppierung  wiederher¬ 
gestellt.  Seit  Mitte  Mai  schmückt  die  den  Fenstern  gegen¬ 
überliegende  Wand  des  .Äginetensaales  der  Münchener 
Glyptothek  eine  Rekonstruktion  der  Ostfront  und  der  West¬ 
front  des  Aphaiatempels,  die  einem  Fünftel  der  Original¬ 
größe  entspricht.  Daß  Furtwängler  diese  Wiederherstellung 
in  langjährigen  Versuchen  jetzt  gelungen  ist,  dazu  haben 
nicht  allein  die  Funde  der  Kampagne  von  1901  verholten. 
Der  unermüdliche  Hüter  der  Glyptothekschätze  hat  auch 
den  Nachlaß  Cockerells  (im  Besitze  der  Familie  zu  London) 
und  den  Hallers  v.  Hallerstein  (im  Besitze  der  Straßburger 
Bibliothek)  benützen  können,  die  genauen  Angaben  über 


4 


28 


AGINA,  DAS  HEILIGTUM  DER  APHAIA 


den  Fundort  der  einzelnen  Giebelfiguren  und  brauchbare 
Zeichnungen  enthielten;  die  Verwitterungsspuren  und  die 
Platten  mit  den  Standspuren  wurden  einer  peinlichen  Unter¬ 
suchung  unterworfen,  die  neuen  Funde  und  die  nicht  ein¬ 
rangierten  Fragmente  der  Glyptothek  zusammengestellt  und 
so  ist  in  mühevoller,  an  Versuchen  reicher  Arbeit  das 
Wiederherstellungswerk  im  Modell  zum  glücklichen  Ende 
geführt  worden. 

Eine  Figurenzahl  von  dreizehn  Figuren  für  den  West¬ 
giebel,  von  elf  für  den  Ostgiebel  ist  richtig  und  definitiv 
jetzt  festgestellt  und  erst  damit  war  auch  die  Möglichkeit 
der  richtigen  Placierung  gegeben,  für  die  die  auf-  und  ab¬ 
steigende  Giebelform  ja  auch  eine  Richtschnur  abgibt.  In 
beiden  Giebeln  steht  die  als  unsichtbar  aufzufassende 
Göttin  Athena  in  der  Mitte.  Gleichzeitig  sind  wohl  die 
Giebelgruppen  entstanden;  aber  der  Ostgiebel  mit  etwas 
größeren,  freier  gedachten  und  freier  ausgeführten  Figuren 
hat  nur  fünf  resp.  sechs  Kämpfer  zu  den  Seiten  der  Athena, 
der  Westgiebel  mit  noch  etwas  befangenerem  Stil  weist 
deren  dreizehn  auf.  Auch  in  der  Komposition  sind  die 
beiden  Giebel  verschieden.  Im  Westgiebel  je  zwei  Gruppen 
von  je  drei  Kriegern  zu  beiden  Seiten  der  Athena:  zwei 
Lanzenkämpfer  über  einem  zu  Boden  Gefallenen  und  nach 
den  Giebelecken  der  Bogenschütze  und  Lanzenkämpfer, 
die  nach  einem  Gefallenen  zielen  resp.  stechen;  im  Ost¬ 
giebel  eine  einheitlich  von  der  hohen  Göttin  bis  in  die 
Ecken  hinein  verlaufende  Komposition.  Hier  wird  nicht 
um  einen  zu  Boden  Gefallenen  gekämpft,  sondern  ein  auch 
auf  Vasenbildern  dargestelltes  Kampfschema  mit  einem 
Fallenden,  Zurücksinkenden  liegt  vor,  das  in  der  Regel 
jeweils  nur  zwei  Figuren  erfordert.  Nach  den  Farbspuren, 
die  sich  noch  auf  den  Fragmenten  zeigten,  wurde  ein 


leuchtendes  Rot  und  ein  dunkles  Blau  zur  Tönung  der 
Modelle  verwandt,  was  eine  stark  dekorative  Wirkung  her¬ 
vorbringt. 

Gewiß,  der  Aphaia  war  der  Tempel  geweiht,  aber  den 
Heroen  des  Landes  huldigten  die  Giebeldarstellungen:  der 
als  Herakles  charakterisierte  Schütze  weist  auf  die  erste 
Zerstörung  Trojas  unter  der  Mitwirkung  Telamons,  des 
Sohnes  des  Aiakos,  im  Ostgiebel;  der  Westgiebel  erzählt 
von  Kämpfen  des  Ajas,  Achilleus  und  Neoptolemos,  den 
Enkeln  resp.  Urenkeln  des  Aiakos,  vor  Priamos’  Stadt. 
Und  auf  der  höchsten  Spitze  der  Giebel  erhoben  sich 
weithin  sichtbar  prachtvolle  Volutenakroterien,  unter  resp. 
neben  deren  weit  ausladenden  Verzierungen  Mädchen  vom 
Typus  der  Akropoliskoren  den  frommen  Geist  der  reichen 
Handelsinsel  weithin  erkennen  ließen.  Auch  von  diesen 
Akroterien  ist  das  eine  und  zwar  in  ursprünglicher  Größe 
rekonstruiert  nunmehr  in  der  Glyptothek  aufgestellt. 

Wer  die  Künstler  dieser  trefflichen  Werke  aus  der 
Zeit  der  Mitte  zwischen  dem  älter-archaischen  und  dem 
freien  Stil  gewesen  sind,  wissen  wir  nicht.  Die  Funde 
von  Statuen,  die  sich  nicht  in  die  Giebel  einrangieren 
lassen,  sogenannter  »Nichtgiebelkrieger«,  und  anderes  lassen 
an  die  Möglichkeit  von  Konkurrenzarbeiten  denken,  die 
dann  im  Tempelbezirk  zur  Aufstellung  gekommen  sind.  — 
In  einem  kleinen  Hefte  »Die  Ägineten  der  Glyptothek 
König  Ludwigs  1.  nach  den  Resultaten  der  neuen  bayerischen 
Ausgrabungen«,  das  mit  14  Tafeln  und  Abbildungen  im  Texte 
geschmückt  ist  (Kommissionsverlag  A.  Buchholz),  hat  außer¬ 
dem  Adolf  Furtwängler  eine  kurze  Zusammenfassung  des 
Inhaltes  des  großen  Äginawerkes  gegeben,  ein  höchst 
brauchbares  und  empfehlenswertes  Vademecum. 


SILHOUETTE  VON  HEINRICH  WOLFE 


Herausgeber  und  verantwortliche  Redaktion:  E.  A.  Seemann,  Leipzig,  Querstraße  13 
Druck  von  ERNST  Hedrich  Nachf.,  g.  m.  b.  h.,  Leipzig 


ERASMUS 


SILHOUETTE  VON  HEINRICH  WOLFE 


ZEITSCHRIET  FÜR  BILDENDE  KUNST  1906 


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SEBASTIANO  DEL  PIOMBO.  DAMENBILDNIS 

KÖLN.  SAMMLUNG  STEINMAYER 


ZEITSCHRIFT  FÜR  BILDENDE  KUNST  1906 


DAS  BILDNIS  DER  OIULIA  GONZAGA.  WIEN,  IIOFMUSEUM 


DAS  BILDNIS  DER  OIULIA  GONZAGA 

VON  SEBASTIANO  DEL  PIOMBO 


Als  dem  Herzog  von  Sabbionela  und  Fürsten 
von  Bozzolo,  Lodovico  Oonzaga  eine  Tochter 
geboren  wurde,  die  in  der  heiligen  Taufe  den 
Namen  Giulia  empfing,  hat  der  mit  Kindern  reicher 
als  mit  Vermögen  begnadete  Herr  den  Familienzu¬ 
wachs  nicht  allzufreudig  begrüßt.  Aber  Giulia  söhnte 
den  Vater  bald  mit  ihrer  Existenz  aus;  denn  »beinahe 
göttlichen  Geistes«  ’)  schien  sie  erkoren  »für  den 
Kult  Minervens«")  und  den  Ruhm  ihrer  Schönheit  hat 
kein  Geringerer  als  Ariost  zu  einem  unsterblichen  er¬ 
hoben: 

Giulia  Gonzaga,  che  dovunque  il  piede 
Volge,  e  dovunque  i  sereni  occhi  gira, 

Non  pur  ogn’  altra  di  belta  le  cede, 

Ma  come  scesa  dal  ciel  Dea  ranimira  .  .  ß) 

Der  Vierzehnjährigen  bereits  erstand  denn  auch 
in  Vespasiano  Colonna,  dem  Herzog  von  Trajetto 


1)  Ireneo  Affö:  Memorie  di  tre  celebri  principesse 
Gonzaga.  Parma  MDCCLXXXVll.  p.  4. 

2)  Gioanni  Buonavoglia:  Gonzagium  Monumentum  . 
Lib.  111.  (Ms.  der  Bibliotheca  Oliveriana  in  Pesaro.) 
»studiumque  Minervae  nata«,  s.  Affö:  op.  cit  p.  32. 

3)  L’Orlando  furioso.  Canto  46.  Strophe  7  und  8. 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XVIII.  H.  2 


ein  Werber.  Im  heimatlichen  Schlosse  zu  Palliano 
wuchs  dem  um  sechs  Lustren  älteren  Witwer  eine 
Tochter  heran,  er  war  kränklich,  verkrüppelten  Körpers 
und  ließ  beim  Gehen  das  rechte  Bein  nachschleppen; 
aber  Vespasiano  gebot  über  viele  Ländereien  und  darum 
war  er  dem  Herrn  Lodovico  Gonzaga  als  Eidam  hoch¬ 
willkommen.  Die  Töchter  wurden  damals  nicht  gefragt, 
ob  ihnen  der  Mann  gefiel,  mit  dem  sie  ein  Leben 
leben  sollten.  Vespasiano  wußte  das  Opfer  zu 
schätzen,  das  Giulia  dem  Vater  gebracht.  Seine 
Hinfälligkeit  erwägend,  suchte  er  der  jungen  Gattin, 
die  gleich  einer  Tochter  an  ihm  hing,  eine  von  Sorgen 
unbeschwerte  Zukunft  zu  sichern.  Bald  nach  der 
Hochzeit,  die  übrigens  nur  ein  kirchlicher  Akt  blieb*), 
schenkte  er  Giulia  zu  ihrer  bescheidenen  Mitgift  von 
viertausend  Dukaten  andere  dreizehntausend  und  als 
er  anno  1528  starb,  wies  sein  Testament  Giulia  für 
die  Dauer  ihrer  Witwenschaft  sämtliche  Erträgnisse 
seiner  Güter  in  der  Campagna,  den  Abruzzen  und 
im  Königreich  Neapel  zu^).  Seine  Tochter  Isabella, 

1)  Betiissi:  Addizioni  alle  Donne  illustri  del  Boccaccio. 
In  Vinegia  MDCXLVII  cap.  45. 

2)  Das  Testament  ist  abgedruckt  von  Affö:  Vita  di 
Donna  Giulia  Gonzaga,  ln  Vinegia  MDCCLXXXI.  p.  11. 


5 


DAS  BILDNIS  DER  GIULIA  GONZAGA 


r  >  ■  opabiano  ferner  bestimmt,  sollte  einem 

”-r”d.  ■  G^-’iias  in  die  Ehe  folgen,  im  Falle  ihre  von 
J;  rr;  ■  str;-  sehr  gewünschte  Verbindung  mit  Ippolito 
de'  .‘vledici,  dem  Neffen  Clemens’  VII.,  nicht  zustande 
käme.  Daß  seine  Witwe,  freilich  ohne  es  zu  wollen, 
diesen  Plan  zu  nichte  machen  sollte,  hat  der  Colonna 
nicht  vorausgeahnt.  Isabellas  Schätze  lockten  den 
Feuerkopf  Ippolito  nicht,  der  von  einer  toskanischen 
Herzogskrone  träumte,  und  ihre  kargen  Reize  ver¬ 
mochten  den  Jüngling,  den  Roms  schönste  Frauen 
vergötterten,  kaum  zu  fesseln.  Mit  dem  Ungestüm 
seiner  zwanzig  Jahre  warb  er  dagegen  um  Giulia, 
doch  selbst  eine  Übersetzung  des  zweiten  Gesanges 
der  Aeneis,  die  er  der  geliebten  Frau  widmete,  zwang 
ihr  das  ersehnte  Ja<'  nicht  auf  die  Lippen.  Mehr 
als  das  Versprechen  einer  immerwährenden  Freund¬ 
schaft  erreichte  Ippolito  nicht.  Vielleicht  wurde  ihm 
dadurch  jenes  Opfer  leichter,  das  er  auf  Befehl  des 
Papstes  seinem  Hause  bringen  mußte;  er  vertauschte, 
damit  im  nächsten  Konklave  wieder  ein  Kardinal 
Medici  säße,  das  Kriegsgewand,  das  seinen  herrlichen 
Körper  so  wohl  kleidete,  mit  dem  verhaßten  Purpur 
eines  kirchlichen  Würdenträgers.  Er  selbst  mühte 
sich  nunmehr,  sein  Verlangen  nach  Donna  Giulia 
zur  begierdelüsen  Freundschaft  zu  dämpfen,  und 
jene  gewährte  ihrerseits  wieder  dem  Kardinal  von 
San  Prassede  manche  Gunst,  die  sie  dem  freienden 
Ippolito  wohl  versagt  hätte.  So  ließ  die  Herzogin 
auf  seinen  Wunsch  sich  von  dem  Ferraresen  Alfonso 
Lombardi  modellieren ')  und  von  dem  Porträtisten 
des  vornehmen  Rom,  von  Sebastiane  del  Piombo 
malen.  Drei  Jahre  später,  anno  1535,  stand  Giulia 
am  Sterbelager  ihres  Freundes.  Ippolitos  Vetter 
Alessandro,  der  Herzog  von  Florenz  hatte  sich 
durch  ein  rasch  wirkendes  Gift,  das  beliebte  Haus¬ 
mittel  der  Medici,  seines  unbequemen  Verwandten 
entledigt.  Giulia  sollte  nun  bald  erfahren,  was  es 
heißt,  eine  wehr-  und  schutzlose  Frau  zu  sein.  Ihre 
Stieftochter  und  Schwägerin  Isabella  erklärte  das 
Testament  des  Vaters  für  null  und  nichtig  und 
scheuchte  sie  durch  langwierige  Prozesse  aus  dem 
heiteren  Fondi  nach  Neapel  in  den  freudlosen  Kloster¬ 
frieden  des  hl.  Franziskus.  Hier  lebte  Giulia,  stiller 
Wohltätigkeit  und  frommen  Übungen  hingegeben, 
bis  sie  am  ig.  April  des  Jahres  1566  im  Gerüche 
der  Heiligkeit  starb.  Aber  es  fehlte  auch  nicht  an 
Böswilligen,  die  raunten,  in  der  Toten  habe  man 
eine  lutherische  Ketzerin  begraben^);  war  doch  ein 
Buch  von  Valdez  ihr  gewidmet  .  .  . 

Vier  Reiter^)  geleiteten  Sebastiano  del  Piombo, 
als  er  sich  in  den  ersten  Junilagen  des  Jahres  1532 
nach  Fondi  begab*),  »um  dort  eine  Dame  zu  malen«, 

1)  s.  darüber  Gruyer:  L’Art  Ferrarais  etc.  Vol.  1.  p. 
543  u.  Armand;  Les  medailleiirs  etc.  T.  III.  p.  52  u.  53. 

2)  Siehe  darüber  die  Studie  von  Briito  Amante;  Giulia 
Gonzaga  ed  il  movimento  religioso  femminile  nel  secolo 
XVI.  Bologna  i8g6. 

3)  Vasari,  ed.  Milanesi  V.  p.  578  f. 

4)  Les  Correspondants  de  Micliel-Ange  ed.  Milanesi. 
Paris  1890  I.  p.  96  Credo  dimane  partirmi  et  andare 
insino  a  Fondi  a  retrarre  una  signiora  .  .  .« 


und  fünf  Wochen  später  berichtet  er  dem  »compare« 
Michelangelo  von  seiner  Rückkehr  nach  Rom  i). 
Innerhalb  dieser  Frist  entstand  jenes  Bildnis,  das 
Molza  und  Gandolfo  Porrino  in  je  fünfzig  Stanzen") 
priesen,  und  das,  laut  Vasari,  alles  übertraf,  was 
Sebastiano  bis  dahin  geleistet.  Ob  es  später  wirklich, 
wie  er  und  Borghini  erzählen,  an  König  Franz  nach 
Fontainebleau  geschickt  wurde'^)?  Kein  französisches 
Inventar  gedenkt  des  Porträts,  von  dem  sich  übrigens 
Ippolito  zu  Lebzeiten  kaum  getrennt  haben  dürfte. 
Dagegen  zierte  noch  in  der  zweiten  Hälfte  des 
16.  Jahrhunderts  »ein  Bildnis  der  Giulia  Gonzaga 
von  der  Hand  Sebastianos  del  Piombo«  den  Palast 
des  Fulvio  Orsini  zu  Rom*),  und  da  sein  Besitzer 
den  Wert  des  Gemäldes  mit  fünfzig  Scudi  angibt, 
so  erfreute  er  sich  wohl  am  Anblick  des  Originales 
und  nicht  an  einer  jener  Kopien,  deren  es,  nach  einer 
Bemerkung  des  Kardinal  Scipione  Gonzaga'*)  zu 
schließen,  etliche  gegeben  hat.  Eine  solche  Kopie 
befand  sich  bei  den  Gonzaga  in  Mantua  und  nach 
dieser  wurden  jene  zwei  anderen  für  den  Erzherzog 
Ferdinand  von  Tirol  angefertigt,  von  denen  die 
größere**)  verloren  ging,  während  die  kleinere 
ein  Brustbild,  das  an  der  Nasen-  und  Mundpartie 
Übermalungen  aufweist,  heute  im  Wiener  kunsthisto¬ 
rischen  Hofmuseum  aufbewahrt  aber  nicht  ausgestellt 
ist'^).  Mit  diesem  authentischen  Porträt*)  Donna 

1)  p.  98  ebdt.  Tornato  da  Fondi«.  Seine  Rückkehr 
nach  Rom  wurde  von  den  Freunden  Ippolitos,  die  auf  das 
Porträt  gespannt  waren,  mit  Sehnsucht  erwartet,  s.  Molza: 
»Delle  poesie  volgari  e  latine«.  Bergamo  MDCCL.  Vol. 
II.  p.  147. 

2)  Molza,  op.  dt.  Vol.  I.  p.  135.  Das  Poem  Porrinos 
ebdt.  p.  148,  weil  es  der  Herausgeber  der  Werke  Molzas, 
Abbate  Serassi  irrtümlicherweise  diesem  zuschrieb. 

3)  Borghini:  II  Riposo«.  Milano  1807.  Libro  III. 
p.  260. 

4)  Pierre  de  Nolhac:  Les  collections  de  Fulvio 
Orsini  in  d.  Gaz.  des  beaux-arts.  1884.  I.  p.  431. 

5)  Scipio  Gonzaga:  Commentarii  rerum  suarum.  Ms. 
zitiert  bei  Affö:  Vite  di  tre  principesse  Gonzaga  p.  32. 
Anm.  2:  »Julia  illa  Gonzaga,  cujus  egregia  corporis  forma 
laudatore  non  eget,  cum  ejus  effigies  ab  omnibus  fere 
conquiratur  diligentissime  et  conquisita  maxime  pretiosa 
habeatur«  —  Campori.  Raccolta  di  cataloghi  ed  inventarij 
inediti.  Modena  1870  p.  148  Nr.  5  erwähnt  in  der  Samm¬ 
lung  des  Bischofs  Coccopani  zu  Reggio  (f  1650)  ein  Bildnis 
der  Giulia  Gonzaga  von  Tizian.  Kenner  in  seiner  er¬ 
schöpfenden  Studie  Die  Porträtsammlung  des  Erzherzogs 
von  Tirol  im  Jahrbuch  der  kunsth.  Sammlungen  des  Aller¬ 
höchsten  Kaiserhauses  Bd.  XVII.  1,  p.  216  möchte  auch 
in  diesem  Bilde  eine  Kopie  nach  Sebastians  Porträt  erblicken. 
Aber  Tizian  malte  —  vielleicht  nach  Lombardis  Medaille? 
—  ein  Porträt  Giulia  Gonzagas  im  Jahre  1542  und  schenkte 
es  Ippolito  Capiiiipi,  der  davon  dem  erlauchten  Modell 
Mitteilung  machte.  Giulias  Antwort  vom  25.  April  1542 
ist  abgedruckt  bei  G.  B.  Intra,  Di  Ippolito  Capilupi  etc. 
Milano  1893  p.  49. 

6)  Jahrb.  d.  kunsth.  Samml.  d.  Allh.  Kaiserh.  Bd.  X. 
[1889]  Reg.  5561.  Fol.  641.  Inventar  vom  Jahre  1596 

Auf  ainer  tafl  Columnia  Julia«. 

7)  s.  Kenner  op.  cit.  p.  216,  Katalog  Nr.  652. 

8)  Das  Bildnis  Giulia  Gonzagas  von  Sebastiano  del 
Piombo  glaubte  man  wiedererkannt  zu  haben:  in  dem 


DAS  BILDNIS  DER  QIULIA  GONZAGA 


31 


Giulias  vergleiche  man  nun  ein  lebens-,  beinahe  über¬ 
lebensgroßes  Damenbildnis,  das  aus  dem  Palazzo 
Bandini  zu  Rom  stammend  i),  heute  der  Kunsthand¬ 
lung  Steinmayer  in  Köln  gehört,  die  es  vor  zwei 
Jahren  bei  der  Vente  Bourgeois  ’)  erstand.  Auf  dem 
Wiener  Bildchen  ist  Giulias  Haupt  nach  rechts  ge¬ 
wandt,  während  sich  das  Modell  des  großen  Gemäldes 
nach  links  kehrt.  Abgesehen  von  dieser  Ungleich¬ 
heit,  deren  Rechtfertigung  man  in  etwas  Äußerlichem 
vielleicht  einem  Wunsche  des  Erzherzogs  suchen  mag, 
wird  man  nur  Ähnlichkeiten  zwischen  den  beiden 
Damen  entdecken.  Beiden  gemeinsam  sind  die  freund¬ 
lichen  braunen  Augen,  das  braune  Haar  mit  seinem 
natürlichen  dunklen  Goldglanz  und  die  freie  gewölbte 
Stirn,  beiden  gemeinsam  die  hoch  gezogenen,  weit 
gespannten  Brauen  und  das  scharf  akzentuierte  Kinn'^). 
Diese  Gemeinsamkeiten  erstrecken  sich  auch  auf  die 
Kleidung,  das  schwarze  eng  geschlossene  Witwen¬ 
gewand  mit  dem  tiefen  viereckigen  Ausschnitt,  den 
das  braune  Busentuch  verhüllt,  den  hellbraunen 
Schleier  und  endlich  den  schwarzbraunen,  über  den 
rechten  Arm  geworfenen  »Zebelin«,  jenes  Stückchen 
Zobelpelz,  das  die  Damen  der  Renaissance  so  gern 
in  der  Hand  hielten^). 

Bildnis  der  hl.  Agathe  von  Sebastiane  in  der  National- 
Gallery  zu  London  (Nr.  24),  in  einem  la  Fornarina«  ge¬ 
nannten  Damenporträt  beim  Lord  Radnor  auf  Longford- 
Castle  (s.  Amante,  op.  eit.  p.  141  f.)  und  endlich  in  dem 
schönen  Frauenbildnis  des  Städelschen  Institutes  zu 
Frankfurt  (Nr.  42).  Uber  die  Haltlosigkeit  all  dieser  Be¬ 
nennungen  s.  die  ausführliche  Notiz  Weizsäckers  im  Ka¬ 
talog  des  Städelschen  Institutes  1900.  1.  p.  256  f. 

1)  s.  L’Arte  V.  (1Q02)  p.  132. 

2)  s.  Collection  Bourgeois  Freres.  Katalog  der  Ge¬ 
mälde.  Köln  1904  p.  34.  Daselbst  auch  die  Maße  des 
Bildes  1,08  H.  X  0,83  Br. 

3)  Die  Nasen-  und  Mundpartie  habe  ich,  da  diese 
auf  dem  Wiener  Bilde  stark  beschädigt  und  verputzt  sind 
absichtlich  zum  Vergleiche  nicht  herangezogen. 

4)  Über  den  Zebelin  s.  Ludwig  in  den  »Italienischen 


Molza  und  Porrino  geben  In  ihren  pompösen 
Stanzen  »Über  das  Bild  der  Qiiilia  Gonzaga«  keine 
Beschreibung  des  Werkes,  dessen  Mcrrlichkeit  sie 
preisen,  aber  die  dürftigen  Andeutungen,  mit  denen 
wir  uns  bescheiden  müssen,  passen  genau  zu  dem 
Bilde  in  Köln:  Molza  bedauert,  daß  die  goldig  schim¬ 
mernden  Haare  vor  der  Zeit  der  dunkle  Schleier 
umhüllt'),  Porrino  hingegen,  den  die  sanfte  Süßig¬ 
keit  des  Blickes  entzückt,  freut  sich,  daß  der  jugend¬ 
liche  Reiz  der  Brust  trotz  dem  Schleier  noch  zur 
Geltung  kommt“),  und  betont  endlich,  was  schon 
an  der  kleinen  Kopie  und  noch  mehr  an  dem  großen 
Gemälde  auffällt,  daß  kein  Geschmeide  Giulias  Nacken 
ziert,  Hand  und  Busen  gänzlich  schmucklos  sind®). 

.  .  .  la  sua  puritate 

Ornamento  mortal  non  chiede  o  brama  .  .  . 

Aus  alledem  erhellt:  das  Kölner  Gemälde  ist  das 
vielgefeierte  Porträt  der  Giulia  Gonzaga.  Und  doch 
wieder  auch  nicht.  Denn  angefangen  vom  grauen, 
ganz  wenig  bräunlichen  Hintergründe  hat  ein  unge¬ 
schickter  Restaurator  das  ganze  Bild  so  gründlich 
übermalt,  daß  wir  heute  nur  sagen  können:  wir 
wissen,  wie  jene  Fürstin  aussah,  die  zu  rauben 
Chaireddin  Barbarossa  eine  Flotte  nach  Italien  schickte'), 
Sebastianos  »pittura  divina«  jedoch  ist  verloren,  ihr 
Zauber  dahin  für  alle  Zeit  und  Ewigkeit. 


Forschungen  ,  herausgegeben  vom  kunsthistorischen  Institut 
in  Florenz.  Berlin  1906  I.  p.  266.  »Durch  die  Nase  war 
ein  goldener  Ring  gezogen,  an  dem  der  Zebelin  aufge¬ 
hängt  werden  konnte  .  Bei  unserem  Bilde  ist  an  dem 
Ringe  noch  ein  dünnes  Goldkettchen  angebracht. 

1)  Molza,  op.  dt.  vol.  1.  p.  146,  Str.  40. 

2)  Molza,  op.  dt.  vol.  I.  p.  154,  Str.  24  und  p.  155, 
Str.  29. 

3)  ebdt.  p.  156,  Str.  30. 

4)  Am  ausführlichsten  über  diesen  Raubzug  Amante, 
op.  cit.  p.  121. 

EMIL  SCHAEFFER. 


5* 


LUCIEN  PISSARRO 
ALS  BUCHKÜNSTLER 

LUCIEN  PISSARRO  ist  im  Jahre  1863  in  Paris  geboren. 
Sein  Vater  war  der  bekannte  Impressionist  Camille  Pis¬ 
sarro.  Pissarro-Sohn  finden  wir  dann  mit  den  Signac, 
Luce,  Croß  in  jener  Gruppe  jüngerer  Maler,  die  das  Bemühen 
der  älteren  Impressionisten  -  Generation,  die  Auflösung  der 
Form,  bis  an  die  äußerste  Grenze  führten  und  für  ihre  Art 
das  Schlagwort  Neoimpressionismus  prägten.  Das  ist  Lucien 
Pissarro,  der  Franzose.  Er  geht  uns  hier  nicht  viel  an, 
wenigstens  nicht  unmittelbar.  Uns  beschäftigt  Lucien  Pissarro, 
der  Engländer,  der  englische  Buchkünstler,  oder  besser  doch 
—  da  wohl  niemand  aus  seiner  Haut  kann  —  der  französische 
Maler,  der  in  das  strenge  Liniengefüge  englischer  Buchkunst, 
in  ihr  ernst  gemessenes  Schwarz-Weiß  französische  Leichtigkeit, 
auflockernde  Farbe  brachte.  Es  ist  schwerlich  anzunehmen, 
daß  William  Morris,  der  Hohepriester  der  englischen  Buch¬ 
kunst,  solches  Tun  gern  gesehen  hat,  und  zweifellos  wird 
handfeste  Buchkunsttheorie  daran  allerhand  auszusetzen  finden;  doch  sei  dem  wie  ihm  wolle:  uns  dünkt 
das  Ergebnis  in  jedem  Falle  so  anmutig,  und,  falls  Sünde  dabei  ist,  die  Sünde  so  graziös,  daß  wir 
diese  kleinen  Bücher  wirklich  nicht  missen  möchten. 

Zum  Buch  ist  Lucien  Pissarro  vom  Holzschnitt  her  gekommen.  Und  auf  den  Holzschnitt  hat  ihn 
Lepere  gewiesen.  So  berichtet  T.  Sturge  Moore  in  einer  kleinen  Abhandlung,  auf  die  wir  noch  zurück¬ 
kommen  werden.  In  Paris  allerdings  blieb  der  erwartete  Erfolg  aus.  Und  so  entschloß  sich  der 
Künstler,  nach  England  zu  gehen,  wo  man  sich,  wie  er  wußte,  um  die  Neubelebung  der  Holzschnittkunst 
bemühte.  Es  ist  wohl  nicht  weiter  nötig,  von  William  Morris  und  seiner  Keimscott  Press  zu  sprechen. 
Nur  darauf  sei  hingewiesen,  daß  bei  aller  Anerkennung  und  Bewunderung  des  Morrisschen  Werkes  auch  in 
England,  in  London  sich  Bestrebungen  geltend  machten,  der  etwas  priesterlich  schweren  Art  des  utopistischen 
Reaktionärs  eine  leichtere,  modernere  Wendung  zu  geben.  Charles  Ricketts,  der  in  seinen  Zeichnungen  und 
Holzschnitten  einen  fein  kultivierten  Eklektizismus  bekundet,  und  Charles  Shannon,  dessen  weiche  Litho¬ 
graphien  man  kennt,  sind  hier  mit  ihrer  1889  gegründeten  Vale  Press  an  erster  Stelle  zu  nennen.  An  sie 
schloß  sich  der  junge  Pissarro  an,  indem  er  in  Gemeinschaft  mit  seiner  Frau  Esther,  einer  gewandten 
Holzschneiderin,  eine  kleine  Buchdruckerei  gründete,  die  er  Eragny  Press  nannte,  nach  einem  in  der  Nor¬ 
mandie  gelegenen  Dorfe,  in  dem  er  mit  seinem  Vater  gearbeitet  hatte. 

Wir  geben  in  folgendem  den  Bücherfreunden  zu  Nutzen  auf  Grund  der  Werke  selber  ein  kurzes 
Verzeichnis  der  Eragnydrucke,  wobei  wir  uns  auf  die  bereits  genannte  kleine  Abhandlung  von  Moore  und 
auf  ein  im  Dezember  1905  erschienenes  Verlagsverzeichnis  stützen.  Die  Mooresche  Abhandlung  ist  »A 
brief  account  of  the  origin  of  the  Eragny  Press...«  betitelt.  Sie  gibt  unter  anderem  ein  Verzeichnis  der  Bücher, 
die  auf  der  Eragny  Press  mit  der  Vale  Type  gedruckt  sind,  einer  schönen,  wie  ja  auch  Morrisens  Goldene 
Type,  auf  Jensondrucke  zurückgehenden  Antiqua,  die  Ricketts  für  seine  Presse  gezeichnet  hatte.  Eine  er¬ 
freuliche  Beigabe,  die  den  Hauptreiz  des  Werkchens  ausmacht,  bilden  14  den  Eragny-Büchern  entnommene 
Holzschnitte.  Das  Mooresche  Buch  ist  das  erste,  das  in  der  eigenen  Type  der  Eragny  Press  gedruckt 
wurde,  der  Brook  Type,  die  die  Type  der  1903  aufgehobenen  Vale  Press  ablöste. 

1.  Eine  Ausnahmestellung  nimmt  das  erste,  1894  erschienene  Buch  der  Eragny  Press  ein,  ein  kleiner 
17  Seiten  umfassender  Oktavband,  »The  queen  of  the  fishes,  an  adaption  in  english  of  a  fairy  tale  of 
valois,  by  Margaret  Rust.«  Der  Text  dieses  Buches  ist  nicht  in  Typendruck  hergestellt,  sondern  ge¬ 
schrieben  und  von  Platten  gedruckt.  Schriftplatten  und  Holzstöcke  sind  auf  japanisches  Handpapier  ab¬ 
gezogen,  die  Blätter  sind  einseitig  bedruckt  und  je  zwei  nach  vornhin  zusammenhängend,  in  der  Art  der 
chinesischen  und  japanischen  Bücher.  Der  Titel  ist  in  gold  gegeben,  der  Text  in  grau  mit  roten  Bei¬ 
schriften.  Zwölf  Holzschnittbilder  schmücken  das  kleine  Werk,  eines  in  fünf,  vier  in  vier  Farben,  sieben 
in  grau  wie  der  Text.  Die  erste  Seite  zeigt  eine  Umrahmung  in  gold,  die  sich  in  grau  noch  dreimal 
wiederholt.  Dazu  kommen  noch  drei  Zierstücke  in  rot.  Am  Schlüsse  befindet  sich  das  Signet  in  grau, 
ein  sitzendes  Mädchen,  das  ein  Buch  mit  der  Aufschrift  Eragny  Press  hält,  eine  Vorstufe  des  später 
verwandten  anmutigen  Rundbildes.  Das  Ganze  also  von  einer  erstaunlichen  Formen-  und  Farbenlust,  je¬ 
doch  in  keiner  Weise  unruhig  und  bunt.  Der  Preis  für  ein  in  Pergament  gebundenes  Exemplar  betrug 
20  Shilling. 

Alle  folgenden  Bücher  sind  in  üblicher  Art  mit  Typen  gedruckt,  bis  Nr.  16  in  der  Vale  Type,  von 


LUCIEN  PISSARRO  ALS  BUCHKÜNSTLER 


33 


da  ab  in  der  Brook  Type,  auf  Handpapier.  Die 
Einbanddeckel  sind  mit  Papier  überzogen,  das  mit 
Blumenmustern  bedruckt  ist,  die  Rücken  mit  stumpf- 
farbenem  Papier.  Auf  der  Vorderseite  des  Rücken¬ 
überzuges,  hier  und  da  auch  noch  auf  dem  Rücken 
selber,  ist  der  Titel  in  gold  angebracht.  Nur  die 


3.  Jules  Laforgue.  Moralit&  legendaires.  Tome  1. 

1897.  113  Seiten  in  8'^.  Mit  etwas  Rot.  Ein  Holz¬ 

schnitt  »Salome«  gegenüber  der  Anfangsseite,  eine 
Randleiste  um  diese  beiden  Seiten,  neun  Initialen. 
16  Shilling. 

4.  Dasselbe.  Tome  II.  3898.  129  Seiten  in  8^ 


HOLZSCHNITT  VON  LUCIEN  PISSARRO 


drei  Elaubert- Bändchen  (Nr.  6,  8,  9)  haben  blauen 
Papierüberzug  und  grauen  Leinenrücken.  Der  Titel 
steht  hier  auf  einem  weißen  Zettel,  der  auf  den  Vorder¬ 
deckel  in  die  linke  obere  Ecke  geklebt  ist. 

2.  The  book  of  Ruth  and  the  book  of  Esther.  1 896. 
86  Seiten  in  12'’.  Schwarz  und  rot.  Fünf  Holz¬ 
schnitte,  vierzehn  Initialen.  16  Shilling. 


Mit  etwas  Rot.  Ein  Holzschnitt  »Ophelia«  gegenüber 
der  Anfangsseite,  je  eine  Randleiste  um  diese  beiden 
Seiten,  fünf  Initialen,  Signet  (das  sitzende  Mädchen 
im  Rund  mit  dem  Buch:  Eragny  Press)  mit  der 
Schrift  »Fructus  inter  folia«. 

5.  C.  Perrault.  Deux  contes  de  ma  mere  l’oye. 
La  belle  au  bois  dormant  et  Le  petit  chaperon  rouge. 


LUCIEN  PISSARRO  ALS  BUCHKUNSTLER 


iSgcj.  40  Seiten  in  8*^.  Titelholzschnitt,  ein  zwei¬ 
seitiger  von  einer  Randleiste  umgebener  Holzschnitt  in 
schwarz,  mattem  grün  und  gold  vor  dem  ersten 
Märchen,  ein  Holzschnitt  vor  dem  zweiten  Märchen, 
zwei  große  und  mehrere  kleine  Initialen,  Signet. 
20  Shilling. 

6.  Gustave  Flaubert.  La  legende  de  Saint  Julien 
l’hospitalier.  igoo.  96  Seiten  in  16**.  Titelholzschnitt, 
eine  Randleiste,  drei  Initialen,  Signet  mit  der  neuen 
Schrift  »E.  et  L.  Pissarro 

London«.  15  Shilling. 

Vergl.  Nr.  8  und  9. 

7.  Les  ballades  de 
maistre  Frangois  Vil- 
lon.  1900.  92  Seiten 
in  8".  Schwarz  und 
rot.  Ein  Holzschnitt, 
eine  Randleiste,  38  Ini¬ 
tialen,  Signet  auf  der 
Rückseite  des  Titels. 

25  Shilling. 

8.  Gustave  Flau¬ 
bert.  Un  cceur  simple. 

1901.  116  Seiten  in  16®. 

Titelholzschnitt,  zwei 
Randleisten,  fünf  Ini¬ 
tialen,  Signet.  Vergl. 

Nr.  6. 

9.  Gustave  Flau¬ 
bert.  Herodias.  1901. 

116  Seiten,  in  16® 

Titelholzschnitt,  zwei 
Randleisten,  drei  Ini¬ 
tialen,  Signet.  Vergl. 

Nr.  6. 

10.  Autres  poesies 
de  maistre  Frangois 
Villon  et  de  son  ecole. 

1901.  60  Seiten  in  8". 

Schwarz  und  rot.  Titel¬ 
holzschnitt  mit  grü¬ 
nem  Rand,  eine  Rand¬ 
leiste  in  grün,  29  Ini¬ 
tialen,  Signet.  20  Shil¬ 
ling. 

11.  Emile  Verhae- 
ren.  Les  petits  vieux. 

1901.  19  Seiten  in 

Quer- 1 2  Schwarz 

und  rot.  Auf  Japanpapier  wie  Nr.  1.  Titelholzschnitt 
in  Farben,  ein  Initial  in  drei  Farben,  dreizehn  in  rot, 
Signet.  20  Shilling. 

12.  Francis  Bacon.  Of  Gardens.  1902.  27  Seiten 
in  12®.  Schwarz,  rot  und  grün.  Titelholzschnitt,  zwei 
Randleisten,  zehn  Initialen,  Signet,  Schlußstück. 
16  Shilling. 

13.  Choix  de  sonnets  de  P.  de  Ronsard.  1902. 
91  Seiten  in  8”.  Titelholzschnitt  mit  Randleiste  und 
roter  Schrift,  Anfangsseite  mit  derselben  Randleiste, 
roter  Überschrift  und  rotem  Initial,  außerdem  75  Ini¬ 
tialen,  Signet.  30  Shilling. 


14.  Charles  Perrault.  Histoire  de  peau  d’ane.  1902. 
40  Seiten  in  8*^'.  Mit  etwas  Rot.  Titelholzschnitt,  drei 
Holzschnitte  von  T.  Sturge  Moore,  zwei  Randleisten, 
21  Initialen,  Signet.  21  Shilling. 

15.  Pierre  de  Ronsard.  Abrege  de  Part  poetique 
franqois.  1903.  44  Seiten  in  8^’.  Signet  auf  dem 
Titelblatt,  zwei  Randleisten,  mehrere  Initialen  und 
Zierstücke.  15  Shilling. 

16.  C’est  d’Aucassin  et  de  Nicolete.  1903. 

58  Seiten  in  8**.  Mit 
etwas  Rot.  Titelholz¬ 
schnitt  in  fünf  Farben, 
ein  Initial,  Signet.  30 
Shilling. 

Dies  ist  das  letzte 
mit  der  Vale  Type  auf 
der  Eragny  Press  ge¬ 
druckte  Buch.  Die  fol¬ 
genden  zeigen  die  Brook 
Type. 

1 7.  T.  Sturge  Moo¬ 
re.  A  brief  account 
of  the  origin  of  the 
Eragny  Press.  1903. 
54  Seiten  in  8”.  Vier¬ 
zehn  Holzschnitte  aus 
den  bisher  erschiene¬ 
nen  Büchern,  Signet. 
25  Shilling. 

18.  John  Milton. 
Areopagita.  1903  und 
1904.  40  Seiten  in  4®. 
Mit  etwas  Rot.  Eine 
Randleiste,  ein  großer 
und  mehrere  kleine 
Initialen,  Signet.  31 
Shilling  6  d. 

19.  Diana  White. 
The  descent  of  Ishtar. 

1903.  32  Seiten  in 
12®.  Schwarz,  rot  und 
grün.  Titelholzschnitt, 
gezeichnet  von  Diana 
White,  zwei  Randlei¬ 
sten,  vier  Initialen,  Sig¬ 
net.  12  Shilling  6  d. 

20.  Some  poems 
by  Robert  Browning. 

1904.  69  Seiten  in  8®. 
Schwarz  und  rot.  Titelholzschnitt  in  fünf  Farben, 
zehn  Initialen,  Signet.  30  Shilling. 

21.  Samuel  Taylor  Coleridge.  Christabel,  Kubla 

Khan,  fancy  in  Nubibus,  and  song  from  Zapolya. 
1904.  44  Seiten  in  8®.  Schwarz  und  rot.  Titel¬ 

holzschnitt  in  drei  Farben,  Anfangsseite  mit  Randleiste 
in  grün  und  Initial  in  rot  und  grün,  drei  Initialen, 
Signet.  21  Shilling. 

22.  Some  old  freneh  and  english  ballads,  edited 

by  Robert  Steele.  1905.  62  Seiten  in  8®  Schwarz 

und  rot.  Titelholzschnitt  in  fünf  Farben,  20  Initialen, 
Signet.  35  Shilling. 


LUCIEN  PISSARRO  ALS  BUCHKÜNSTLER 


35 


23.  Laurence  Binyon.  Dream  come  true.  1905. 
12'\  Titelholzschnitt  von  Binyon.  12  Shilling  6  d. 
(Das  Buch  hat  uns  nicht  Vorgelegen.) 

24.  T.  Sturge  Moore.  The  little  school.  igo6. 
48  Seiten  in  12^.  Vier  Holzschnitte  von  Moore, 
25  Initialen,  Signet.  18  Shilling. 

25.  John  Keats.  La  belle  dame  sans  merci.  1905. 

32'*.  5  Shilling.  (Das  Buch  hat  uns  nicht  Vor¬ 

gelegen.) 


Die  Auflagen  der  Drucke  v/aren  nur  klein,  sie 
betrugen  meist  gegen  200  Exemplare.  Die  von  uns 
angeführten  Preise  sind  die  ursprünglichen,  jetzt  sind 
sie  höher.  Von  den  mit  der  Brook  Type  gedruckten 
Büchern  wurden  auch  einige  Pergamentexemplare  in 
den  Handel  gebracht,  die  natürlich  erheblich  mehr, 
etwa  vier-  bis  fünfmal  soviel  als  die  Papierdrucke 
kosteten.  Dr.  ERICH  WILLRICH,  Leipzig. 


HOLZSCHNITT  VON  LUCIEN  PISSARRO 


PIETER  BREUGHEL  11.  ANBETUNG  DER  KÖNIGE.  PETERSBURG,  KAISERL.  AKADEMIE  DER  KÜNSTE 


NIEDERLÄNDISCHE  GEMÄLDE  IN  DER  KAISERLICHEN  AKADEMIE 

DER  KÜNSTE  ZU  ST.  PETERSBURG 

Von  A.  Neouströieee 


Die  im  Auslande  wenig  bekannte  Bildergalerie 
der  Kaiserlichen  Akademie  der  Künste  zu 
St.  Petersburg  entstand  durch  Schenkungen 
und  Vermächtnisse,  die  zu  verschiedenen  Zeiten  so¬ 
wohl  von  Mitgliedern  des  Kaiserhauses  als  auch  von 
Privaten  gestiftet  wurden.  Den  Kern  der  Sammlung 
bildeten  die  1758,  zwei  Jahre  nach  der  Gründung 
der  Akademie,  von  ihrem  Präsidenten  j.  j.  Schuwälow 
geschenkten  hundert  Bilder  ausländischer  Meister,  ln 
den  nächsten  zehn  Jahren  wurden  der  Galerie  auf 
kaiserlichen  Befehl  wieder  gegen  hundert  Bilder  über¬ 
wiesen.  Zur  Zeit  Nikolaus  1.  kamen  Bilder  aus  den 
Sammlungen  des  Eustachius  Sapieha  und  des  Grafen 
Mussin -Puschkin -Bruce  in  den  Besitz  der  Galerie. 
Im  Jahre  1854  erhielt  sie  neunzehn  Bilder  aus  der 
kaiserlichen  Ermitage.  Die  größte  Bereicherung  brachte 
aber  1862  die  Einverleibung  der  besonders  an  bel¬ 
gischen  und  französischen  Meistern  des  ig.  Jahr¬ 
hunderts  reichen  Sammlung  des  Grafen  Küschelew- 
Besborödko,  die  nach  seinem  Tode  laut  Vermächtnis 
in  den  Besitz  der  Akademie  gelangte. 

Den  größten  Teil  der  über  tausend  Nummern 
zählenden  Sammlung  bilden  niederländische  Gemälde 
und  diese  wollen  wir  im  folgenden  einer  Betrachtung 
unterwerfen. 


Das  älteste  Bild  der  Sammlung  ist  die  Darstellung 
des  auf  einem  vlämischen  Stadtplatze  abgehaltenen 
Marktes  —  fälschlich  dem  Cornelius  van  Harlem  zu¬ 
geschrieben  —  von  P.  Aertsen.  Wie  stets  bei 
diesem  Meister,  wimmelt  das  Bild  von  Volksfiguren 
jeglicher  Größe  in  einem  bunten  Durcheinander  von 
Earben.  Mit  Vorliebe  ist  grelles  Rot  angewandt,  die 
übrigen  Earben  sind  sehr  temperiert. 

Einer  etwas  späteren  Epoche  gehört  »Die  An¬ 
betung  der  Könige«  in  Winterlandschaft  von  Peter 
Brueghel  II.  an.  Es  ist  eine  von  den  zahlreichen 
Wiederholungen  dieses  Sujets,  unter  welchen  wohl 
die  bekannteste  das  Bild  ist,  das  1881  vom  Amster¬ 
damer  Museum  erworben  wurde.  Eine  Darstellung 
mit  dünnen,  eckigen,  schwärzlichen  Eiguren,  die  sich 
auf  der  weißen  Schneefläche  ganz  besonders  grotesk 
und  phantastisch  ausnehmen.  Das  Bild  erinnert  an 
gleichartige  Bilder  P.  Brueghels  I.  in  Wien  und  den 
»Kindermord«  in  Brüssel.  Ein  seltsamer  Gedanke 
ist  es  auch,  die  Geburt  Christi  in  der  streng  nordischen 
Winternatur  zu  inszenieren  und  die  adorierenden 
Könige  in  einem  von  Schnee  verschütteten  kleinen 
Schuppen  vor  dem  Neugeborenen  knien  zu  lassen. 
Die  in  der  Szenerie  des  Stückes  unentbehrlichen 
Kamele  hat  der  Künstler  wahrscheinlich  aus  Rücksicht 


f 


Luden  Pissarro  sc. 


NIEDERLÄNDISCHE  GEMÄLDE  IN  DER  KAISERLICHEN  AKADEMIE  DER  KÜNSTE 


37 


W.  DUYSTER.  DIE  WACI  ITSTUBE.  PETERSBURG,  KAISERL.' AKADEMIE 


auf  die  Kälte  durch  nordische  Esel  er¬ 
setzt.  Die  Komposition  wird  mit  er¬ 
götzlichen  Episoden  des  Alltagslebens 
belebt.  Der  etwas  bunte,  unruhige  Ein¬ 
druck  des  kleinen  Bildes  ist  durch 
die  Fülle  des  Lebens,  die  derbe  Reali¬ 
stik  und  die  Frische  seiner  Farben  aus¬ 
geglichen.  Ambrosius  Frankens  »Kreuz¬ 
tragung«  ist  ein  gut  gezeichnetes  und 
fleißig  ausgeführtes  Werk,  wenn  auch 
die  dramatischen  Bewegungen  der  zahl¬ 
reichen  Figuren  übertrieben  sind.  Eine 
etwas  verschwommene  Wirkung  erzielen 
die  langgezogenen  Figuren  des  Neffen 
des  Ambrosius,  Frans  Franken  II. ,  von 
dem  die  Galerie  einen  »Maskenball«  be¬ 
sitzt.  Die  dem  Abraham  Bloemaert  zu¬ 
geschriebenen  Landschaften  stammen  von 
seinem  Sohne,  Adriaen  Bloemaert. 

Eines  von  den  Hauptstücken  der 
Galerie,  sehr  unvorteilhaft  hoch  ge¬ 
hängt,  ist  das  »Ecce  homo«  von  Ru¬ 
bens.  Die  riesig  gebauten  Figuren  sind 
typisch  für  die  frühe  Periode  seiner  künst¬ 
lerischen  Tätigkeit,  man  findet  sie  auch 
auf  anderen  Werken  dieser  Epoche.  Die 
frischen  kräftigen  Farbentöne  geben 
noch  nicht  den  malerischen  Schmelz, 
der  den  Hauptreiz  seiner  reiferen  Mal¬ 
weise  bildet.  Die  rote  Drapierung  sticht  effektvoll 
ab  gegen  das  Inkarnat  und  den  dunkelbraunen  Grund. 
Es  ist  wahrscheinlich  dasselbe  Bild,  das  im  Index 
der  Familie  Gonzaga  zu  Mantua,  1627,  als  von  der 
Hand  eines  Pier  Paolo  Fiammingo  erwähnt  wird  und 
welches  Mariette  in  der  Sammlung  de  Julienne  sah; 
es  ist  von  C.  Galle  gestochen. 

Zu  den  Hauptzierden  der  Galerie  gehört  auch 
das  große  Bohnenfest  (»Le  roi  boit«)  von  Jakob 
Jordaens.  Von  den  Darstellungen  dieser  Art  ist  das 
mäßig  große  Bild  eines  von  den  schönsten  und 
könnte  mit  Recht  Werken  von  Rubens  an  die  Seite 
gesetzt  werden.  Die  Verteilung  der  Figuren  ist  nicht 
so  eng  und  verworren,  wie  es  so  oft  bei  jordaens 
vorkommt  und  eine  wunderbare  Glut  und  Leucht¬ 
kraft  der  Farben  herrscht  in  dem  Bilde,  das  voll 
Bewegung  und  Humor  die  gewohnten,  fleischigen, 
robusten  Tischgenossen  an  dem  Feste  versammelt 
zeigt. 

Von  Snyders  besitzt  die  Sammlung  zwei  Tier¬ 
darstellungen,  einen  Fruchtmarkt  und  acht  prächtige 
Kartons  mit  jagddarstellungen,  die  seinerzeit  durch  die 
Kaiserin  Katharina  in  England  von  der  Herzogin  von 
Kensington  gekauft  wurden. 

Rembrandt  selbst  ist  in  der  Galerie  nicht  ver¬ 
treten,  hingegen  treffen  wir  einige  bemerkenswerte 
Werke  seiner  Schule  an.  Das  weibliche  Bildnis  von 
Nie.  Maes  (signiert  und  1678  dadiert)  gehört,  obwohl 
es  aus  seiner  Spätzeit  stammt,  zu  seinen  guten  Porträts 
und  ist  besonders  anziehend  durch  die  feine  male¬ 
rische  Auffassung  und  die  farbenkräftige  und  zugleich 
harmonische  Ausführung.  Den  Einfluß  Rembrandts, 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XVIIl.  H.  2 


den  man  in  dem  besprochenen  Werke  vermißt,  findet 
man  in  dem  breiten,  in  feinem  Helldunkel  ausge¬ 
führten  »Kopfe  eines  alten  Mannes  von  Samuel 
von  Hoogstraaten  (mit  dem  Monogramm  S.  H.).  Der 
dritte  von  den  späten  Rembrandtschiilern ,  Aert  de 
Gelder,  ist  durch  das  Brustbild  eines  jungen  Mannes 
mit  einer  Traube  in  der  Hand  vertreten.  Es  galt 
früher  als  Rembrandt  und  ist  1758  von  j.  j.  Schuwälow 
der  Galerie  geschenkt  worden.  In  leichter,  dünner 
Farbe  hingeworfen,  zieht  uns  dieser  beinahe  skizzen¬ 
haft  behandelte  Kopf  durch  sein  warmes  braunröt¬ 
liches  Kolorit  und  durch  die  geistvolle  Spontaneität 
der  Ausführung  an. 

Von  den  zwei  Bildern  des  Jan  Victors,  die  beide 
seiner  Spätzeit  angehören,  ist  die  »Salbung  Davids«, 
ein  Bild  von  sehr  mäßiger  Qualität,  mit  mittelgroßen 
Figuren;  der  »Wundarzt«  ist  gut  gezeichnet  und 
komponiert,  jedoch  im  Kolorit  ziemlich  trocken. 

Die  Zahl  der  Bildnisse  in  der  Galerie  ist  nicht 
groß,  doch  befinden  sich  darunter  sehr  interessante 
Stücke.  Von  dem  »vortrefflichen  Contrafäter«  Nikolaus 
Nenchatel  sind  zwei  Bildnisse  vorhanden;  ein  männ¬ 
liches,  vom  Jahre  1551,  welches  leider  durch  die 
Restaurierung  stark  gelitten,  und  ein  weibliches,  vom 
Jahre  1561;  das  letztere  ist  sehr  gut  erhalten  und, 
um  mit  Sandrart  zu  reden:  »ganz  lebhaft  gezeichnet, 
natürlich  fleißig  koloriert,  stark  erhaben  und  auf  das 
köstlichste  gemalt  .  .  .  sintemalen  er  (Neuchatel)  alle 
diejenigen  edlen  Gaben  besessen,  die  ein  vollkommener 
Contrafäter  billig  an  sich  haben  sollte«.  Wie  hat 
der  Künstler  es  verstanden,  uns  so  getreu  die  dar¬ 
gestellte  Person  zu  geben,  ohne  ihre  Unschönheiten 


[  ÄKT  ISCHE  GEMÄLDE  IN  DER  KAISERLICHEN  AKADEMIE  DER  KÜNSTE 


RUBENS.  ECCE  HOMO.  I'ETERSBURG,  KAISER!..  AKADEMIE 

und  Mängel  zu  verschweigen,  wie  z.  B.  den  über¬ 
großen  Mund  und  die  zu  dicken  Lippen  und  dabei 
doch  das  Treuherzige,  Jugendlich-Naive  ihres  Ge¬ 
sichtsausdruckes  hervorzuheben,  daß  dieser  veredelte 
Zug  den  Beobachter  beherrscht  und  ihn  die  un¬ 

schönen  Züge,  die  steife  ungraziöse  Haltung  zu  ver¬ 
gessen  zwingt.  Die  wenigen  zur  Geltung  kommenden 
Farben  des  Bildes  (das  Weiß  der  Kopfbedeckung, 
das  Schwarz  des  Kragens  und  das  Karminrot  der 

Ärmel)  verleihen  ihm  einen  ruhigen,  harmonischen 
Eindruck. 

Von  großem  kunsthistorischem  Interesse  ist  das 
bis  jetzt  einzige  signierte  und  datierte  Bild  des 

seltenen  Michael  Sweeris.  Sweerts,  auch  Kavalier 
Schwartz  genannt,  war  in  der  zweiten  Hälfte  des 

17.  Jahrhunderts  in  Holland  und  Rom  tätig.  Das 
Bild  stellt  einen  jungen  Mann  in  schwarzer  Kleidung 
dar,  der  an  einem  mit  grünem  Tuch  bedeckten  Tische 
angelehnt  sitzt.  Auf  dem  Tische  liegen  neben  einem 
bleiernen  Tintenfasse  mit  zwei  Federn  eine  blaue 
Börse,  einige  Notizbücher  und  in  Reihen  aufgestellte 
Goldmünzen.  An  das  Tischtuch  ist  mit  einer  Steck¬ 
nadel  ein  Blatt  Papier  befestigt,  auf  dem  folgende 
Inschrift  steht:  A.  D.  1656  ||  Ratio  Quique  Reddenda  , 
unten  die  Signatur  Michael  Sweerts  .  Das  Bild 
trägt  den  Namen:  -Der  Bankerott",  jedoch  nicht  ganz 
mit  Recht,  denn  aus  dem  Gesichtsausdrucke  des  jungen 
Bankiers  kann  man  wohl  eine  Besorgnis  für  die  ratio 
cuique  reddenda  herauslesen,  die  jedoch  auch  bei 
normalen  Verhältnissen  eines  Bankgeschäftes  stattfindet 


und  keineswegs  auf  irgend  welche  Geldverlegenheit 
deutet.  Das  vortrefflich  gut  erhaltene  Bild  ist  sehr 
malerisch  komponiert  und  in  kräftigen  Farben  sehr 
gut  modelliert.  Das  Gesicht  und  insbesondere  alles 
Weiße,  wie  die  Ärmel  des  Hemdes,  das  Papier,  treten 
aus  den  etwas  verdunkelten  anderen  Farbentönen 
hervor.  Bilder,  die  auf  Grund  der  Überlieferung 
und  laut  Vergleichung  dem  Meister  zuerkannt  werden, 
befinden  sich  in  München,  Wien  (Harrach),  Mailand, 
Haarlem  und  Augsburg. 

Die  holländischen  Landschafter  sind  in  der  Galerie 
reich  vertreten.  Von  dem  Altmeister  van  Goyen  be¬ 
sitzt  die  Sammlung  eine  große,  hügelige  Landschaft 
mit  Aussicht  auf  das  Meer,  welche  in  die  dreißiger 
Jahre  gehört  und  die  in  kühleren  Tönen  als  seine 
früheren  farbenreichen  Werke  (zwei  davon  besitzt  die 
Sammlung  P.  Delärow  in  St.  Petersburg)  ausgeführt 
ist  und,  wenn  sie  auch  die  harmonische  Abge¬ 
schlossenheit  seiner  Werke  nach  1640  noch  nicht 
aufweist,  doch  schon  das  Streben  nach  Abstufung  der 
Töne  deutlich  erkennen  läßt.  Eine  Ansicht  von 
Nymwegen  von  F.  de  Halst,  früher  auch  dem  J.  van 
Goyen  zugeschrieben,  ist  trockener  als  die  Werke 
des  letzteren,  doch  fleißig  in  grauen  und  braunen 
Tönen  ausgeführt. 

Sehr  wichtig  für  die  Bilderbestimmung  sind  zwei 
Landschaften  von  W.  Knyf,  von  denen  die  eine  (nicht 
beide,  wie  Wörmann  angibt)  mit  dem  vollen  Namens- 


N.  NEUCHATEL.  WEIBLIICMES  BILDNIS 
PETERSBURG,  KAISERL.  AKADEMIE 


NIEDERLÄNDISCHE  GEMÄLDE  IN  DER  KAISERLICHEN  AKADEMIE  DER  KÜNSTE 


39 


NIC.  MAES.  WEIBLICHES  BILDNIS 
PETERSBURG,  KAISERL.  AKADEMIE 

zuge  des  Künstlers  bezeichnet  ist  und  die  Jahreszahl 
1642  trägt.  In  ihrem  gelblichen  grünen  Gesamttone 
erinnert  sie  an  van  Goyen  und  die  frühe  Zeit  Salo- 
mon  Ruisdaels;  das  nicht  signierte  Bild  ist  ein  wenig 
größer,  auf  Leinwand  übertragen  und  noch  viel  weniger 
frisch  als  das  erste. 

Auch  von  dem  seltenen  Jan  Coelenbier  (mit 
Monogramm  j.  C.  signiert)  ist  ein  recht  schönes,  fein 
abgestimmtes  Bild  vorhanden;  der  grünliche  Ton  des 
Wassers  geht  allmählich  in  das  Gelbe  und  das  Braun¬ 
gelbe  der  am  Ufer  gelegenen  Gebäude  über;  das 
Ganze  hebt  sich  effektvoll  von  dem  grauen  Himmel  ab. 

Von  den  fünf  dem  Jakob  van  Ruisdael  zuge¬ 
schriebenen  Bildern  scheint  eines  eine  Kopie,  ein 
anderes  G.  Dubois  anzugehören,  drei  jedoch  sind 
sicher  von  seiner  Hand.  Es  sind  dies:  eine  schöne 
bergige  Landschaft  und  zwei  mittelgroße  Bleichen¬ 
bilder  aus  seiner  jüngeren  Zeit  mit  dem  Fernblick 
auf  Haarlem  von  den  Dünen  bei  Overveen;  sie  stammen 
aus  der  Sammlung  des  Fürsten  Sapieha.  Ein  pracht¬ 
volles  Exemplar  dieser  Art  befand  sich  bis  vor  kurzem 
in  der  Sammlung  des  Herzogs  Georg  von  Leuchten¬ 
berg  in  St.  Petersburg;  ein  anderes  gehört  dem  Grafen 
Paul  Ströganow  ebenda.  Die  Unterschrift  Ruisdaels 
auf  der  »Dünenlandschaft«  ist  falsch;  das  sehr  schöne 
Bild  stammt  von  G.  Dubois,  was  an  dem  diesem 
Künstler  eigentümlichen  Blaugrün  und  der  feineren 
Laubbehandiung  zu  erkennen  ist. 

A.  van  Everdingen  ist  mit  einer  sehr  schönen, 
trefflich  erhaltenen  Landschaft  mit  einem  Wasserfalle 
vertreten. 


Von  Salonion  van  Ruisdael  is.t  e-  ■  ..Fähre  von 
1651  vorhanden.  Die  Uirechter  SLh?/;:-'  wird  durch 
eine  Anbetung  der  Hirten  von  C,  Poelcnbnrg  und 
zwei  Bilder  von  Ciiylenborch  repräseinnert.  Auch  ein 
feines,  silbertöniges  Bild  von  Ph.  Wouvennan  besitzt 
die  Galerie. 

Ein  stimmungsvolles  Bild,  voll  Sonne  und  feier¬ 
licher  Farbenpracht,  gibt  uns  Jan  van  de  Capelle  in 
seiner  Marine,  die,  wie  es  so  oft  auf  seinen  Bildern 
vorkommt,  die  gefälschte  Unterschrift  Rembrandis 
trägt  und  deshalb  diesem  Meister  zugeschrieben  wurde. 
Wahrhaft  »modern«  sehen  seine  Bilder  aus,  mit  ihren 
ausgesprochenen,  nicht  temperierten  Farbentönen! 
Wie  ausgeblichen  und  charakterlos  nimmt  sich  daneben 
der  Antwerpener  Biionaventura  Pceters  (»Marine  ) 
oder  erst  der  seltene  J.  Bellevois  (ein  signiertes 
Bild)  aus. 

Von  A.  van  Ostade,  der  in  Privatsammlungen 
St.  Petersburgs  mit  mehreren  Bildern  vertreten  ist 
(ein  besonders  schönes  Interieur  von  ihm  im  Kaiser¬ 
lichen  Palais  zu  Zärskoye  Sselö  und  fünf  Bilder  im 
Palais  zu  Gätschina),  hat  die  Galerie  der  Akademie 
zwei  Bilder.  Eine  »Bauerngesellschaft«  von  1649, 
sehr  gut  erhalten,  hat  alle  Vorzüge  seiner  Werke  aus 
dieser  Zeit.  »Der  leere  Krug«  gehört  seiner  späteren 
Zeit.  Das  Kolorit  ist  nicht  mehr  so  warm,  doch  be¬ 
wundert  man  im  Bilde  den  feinen  Humor,  den  Aus¬ 
druck  des  für  diesen  Bauernkopf  zu  schweren  Nach¬ 
denkens  über  irgend  eine  Kalkulation,  die  den  ver¬ 
schmitzten,  unschönen  Zügen  fast  einen  schmerzhaften 


MICHAEL  SWEERTS.  MÄNNLICHES  PORTRÄT 
PETERSBURG,  KAISERL.  AKADEMIE 


RLÄNDISCHE  GEMÄLDE  IN  DER  KAISERLICHEN  AKADEMIE  DER  KÜNSTE 


.  .ur.iL  iu.k  verk-ilit.  Die  Herberge  am  Wege<^  von 
isoak  van  Osiade  besitzt  alle  Eigenschaften  seiner 
besten  Werke. 

La  main  chaiide  aus/.  M.  - Molenaers  späteren 
Jahren  geliört  nicht  zu  den  besten  Werken  dieses 
in  den  Privatsammlungen  so  oft  vorkommenden 
Künstlers. 

ln  genialer  Breite  hingeworfen  sind  die  zwei 
kleinen  kräftig-rohen,  skizzenhaften  Rundbilder  von 
Benjamin  Cnyp,  eine  Bauernrauferei  und  ein  länd¬ 
liches  Konzert  darstellend.  Demselben  heißen  gelb¬ 
roten  Farbenakkord  begegnen  wir  in  einem  dritten 
Bilde,  einer  Bekehrung  Sauli  .  Sehr  dramatisch  ist 
die  Verwirrung  der  Begleiter  des  Saulus  gegeben 
und  rembrandtisch  ist  der  effektvolle  Lichtstrahl,  doch 
gelingen  dem  Künstler  derartige  Darstellungen  größeren 
Formats  weniger,  als  die  vorherbesprochenen.  Das 
Bild  erinnert  an  die  Verkündigung  an  die  Hirten 
der  Geburt  Christi'  im  Provinzialmuseum  in  Hannover. 
Das  große  Reiterbild  von  A.  Ciiyp  ist  eine  alte  Kopie 
des  Bildes  im  Louvre. 

Das  hiesige  Exemplar  der  Darstellung  des  Sprich¬ 
wortes:  Wie  die  Alten  sungen,  so  pfeifen  die  jungen 
von  J.  Steen  gehört  nicht  zu  den  feinen  Bildern  des 
Meisters.  Die  »Weintrinkerin«  von  Terborch  stammt 
vielleicht  aus  der  Galerie  Choiseuil,  da  das  Bild  als 
dieser  Sammlung  gehörend  von  Chevillier  gestochen 
ist;  in  Florenz  gibt  es  eine  Wiederholung  davon. 
Die  Dame  schlürftallein  ihr  Glas  Wein;  ihr  Kavalier, 
der  wahrscheinlich  zu  viel  des  Guten  genossen,  hat 


sein  müdes  Haupt  im  Schlafe  an  die  Tischkante  ge¬ 
legt.  Fein  in  der  Wiedergabe  des  Materials  ist  das 
zweite,  etwas  restaurierte  Bild,  das  eine  stehende 
Dame  darstellt,  aber  der  übermäßig  große  dunkle 
Hintergrund  macht  es  uninteressant.  Ein  feines  kleines 
männliches  Bild  von  Constantin  Netscher  ist  er¬ 
wähnenswert. 

Die  » Wachtstube«,  dem  P.  Codde  zugeschrieben, 
scheint  mir  von  W.  Duyster  zu  sein,  an  dessen  Bilder 
in  der  National  Gallery  und  im  Museum  zu  Douai 
es  stark  erinnert.  Es  ist  ein  seltsames  Bildchen,  so¬ 
wohl  durch  die  zackige  Zeichnung  der  Figuren,  als 
auch  durch  die  rosa-gelb-braunen  mit  schwarzen  ver¬ 
mischten  Töne.  Die  Gruppe  am  Kamin  ist  von  dem 
weißlichen,  blassen  Feuer  beleuchtet;  die  Schatten  sind 
scharf  und  undurchsichtig  und  vermehren  noch  an 
dem  Bilde  den  Eindruck  der  unruhigen  Schroffheit 
der  Figuren. 

Die  Gruppe  der  italienisierenden  Holländer  und 
die  Stillebenmaler  sind  durch  gute  Beispiele  vertreten; 
wir  treffen  darunter  Namen  wie  Jan  Brueghel,  van 
Huysum,  CI.  de  Gelder,  Verbruggen,  W.  van  Aelst, 
E.  van  Aelst,  j.  Weenix  an. 

Sehr  schade  ist  es,  daß  die  Räume  der  Galerie 
es  nicht  erlauben,  eine  bessere  Gruppierung  der  Ge¬ 
mälde  vorzunehmen.  Manches  gute  Bild  findet  in 
der  Sammlung  keinen  Platz,  die  ohnehin  in  ver¬ 
schiedenen,  voneinander  recht  weit  entfernten  Räum¬ 
lichkeiten  des  Akademiegebäudes  auf  bessere  Zeiten 
warten  muß. 


W.  KNYF.  HOLLÄNDISCHE  LANDSLHAFT.  PETERSBURG,  KAISERL.  AKADEMIE 


ARBEITENDE  BAUERN  AUE  BURGUNDISCHEN  TEPPICHEN 

Von  A.  Waf^burq 


AUS  dem  neuen  Musee  des  arts  decoiatifs  in  Paris 
publizierte  Maurice  Detnaison’)  einige  Bild¬ 
teppiche,  die  fast  alle  als  besonders  hervor¬ 
ragende  Typen  jenes  monumentalen  und  gleichzeitig 
so  praktischen  Wandschmuckes  anzusehen  sind,  der 
schon  seit  dem  14.  Jahrhundert  den  stolzesten  Besitz 
der  Kunstsammler  des  späten  Mittelalters  bildete. 

Indessen  besaß  der  gewebte  Teppich,  den  man 
heute  nur  noch  als  aristokratisches  Fossil  in  Schau¬ 
sammlungen  bewundert,  seinem  ursprünglichen  Cha¬ 
rakter  nach  demokratischere  Züge;  denn  das  Wesen 
des  gewebten  Teppichs,  des  Arazzo,  beruhte  nicht  auf 
einmaliger  origineller  Schöpfung,  da  der  Weber  als 
anonymer  Bildervermittler  denselben  Gegenstand  tech¬ 
nisch  so  oft  wiederholen  konnte,  wie  der  Besteller  es 
verlangte;  ferner  war  der  Teppich  nicht  wie  das  Fresko 
dauernd  an  die  Wand  gefesselt,  sondern  ein  bewegliches 
Bildervehikel;  dadurch  wurde  er  in  der  Entwickelung 
der  reproduzierenden  Bildverbreiter  gleichsam  der 
Ahne  der  Druckkunst,  deren  wohlfeileres  Erzeugnis,  die 
bedruckte  Papiertapete,  die  Stellung  des  Wandteppichs 
folgerichtig  im  bürgerlichen  Hause  völlig  usurpiert 
hat.  ln  diesen  beweglichen,  wenn  auch  noch  recht 
kostbaren,  textilen  Fahrzeugen  überschritten  lebens¬ 
große  nordische  Figuren  die  Grenzen  Frankreichs  und 
Flanderns,  um  die  Märchen  antiker  oder  ritterlicher 
Vergangenheit  im  Gewände  der  neuesten  Mode  »alla 
franzese«  prunkvoll  zu  verbreiten;  daher  muß  selbst 
an  italienischen  Fürstenhöfen  bis  in  die  späte  Früh¬ 
renaissance  hinein  der  neue  Stil  »all’  antica«  mit  den 
privilegierten  Höflingen  »alla  franzese«  um  das  Recht 
kämpfen,  die  wiedererweckten  Gestalten  der  Antike 
zu  verkörpern-).  Konnte  man  auch  in  jenen  barocken 
Höflingsgestalten  in  Zeittracht  nur  mit  Hilfe  der  bei¬ 
gefügten  Inschriften  die  Helden  heidnischer  Vorzeit 
—  Herkules,  Alexander,  Trajan  —  erkennen,  so 
appellierte  dafür  der  stoffliche  Reiz  schimmernder 
Nebendinge  noch  lange  mit  Erfolg  an  den  Material¬ 
sinn  des  schatzsammelnden  Kunstfreundes. 

Im  Gegensatz  zu  diesen  Erzeugnissen  höfischen 
Schmucktriebes  zeigen  nun  unsere  drei  burgundischen 
Teppiche  im  Gegenstand  und  in  der  Auffassung  die 
derb  zupackende  Beobachtungskraft  flandrischen  Wirk¬ 
lichkeilssinnes;  sie  variieren  das  gleiche  Thema  volks¬ 
tümlicher  Genrekunst:  Holzhacker  bei  ihrer  Arbeit; 
zwei  dieser  Bildteppiche,  ein  größerer  und  ein  kleinerer 
(Abb.  1  u.  Abb.  2),  gehören,  der  erstere  sicher,  der 
zweite  wahrscheinlich  noch  dem  15.  Jahrhundert  an, 
der  dritte  (Abb.  3)  dürfte,  wie  mir  aus  Einzelheiten 
der  Tracht  und  aus  der  Komposition  hervorzugehen 


1)  »Les  Arts«,  1905,  Nr.  48. 

2)  Vgl.  »Delle  imprese  amorose  nelle  piii  antiche- 
incisioni  fiorent’ne«  in  der  Rivista  d’Arte  1905,  Nr.  7  —  8. 


scheint,  erst  um  die  Wende  des  1 6.  Jahrhunderts  ent¬ 
standen  sein. 

Auf  dem  ältesten  Teppich  sind  acht  mühselig 
arbeitende  Holzhacker  im  Eichwald  von  einem 
vortrefflich  beobachtenden  Künstlerauge  lebensgroß 
erfaßt  und  festgehalten.  In  der  Mitte  des  Bildes 
bringt  ein  Arbeiter  den  Baum,  den  er  über  der 
Wurzel  angeschlagen  hat,  zu  Fall;  neben  ihm  hackt 
ein  zweiter  die  größeren  Zweige  eines  Stammes 
ab;  zwei  andere  im  Vordergrund  zerkleinern  die 
gefallenen  Stämme  mit  der  Axt  oder  einem  sichel¬ 
förmigen  Hackmesser,  während  zwei  handfeste  Holz¬ 
knechte  das  Zersägen  besorgen.  Die  zerschlagenen 
Scheite  werden  sodann  von  einem  Mann  mit  turban¬ 
artiger  Kopfbedeckung  auf  einen  Haufen  geschichtet, 
während  sein  Nachbar,  der  einzig  Untätige,  sich  für 
sein  anstrengendes  Handwerk  durch  einen  kräftigen 
Schluck  aus  einer  geräumigen  Flasche  stärkt. 

Die  Einzelfigur  überrascht  in  Stellung  und  Ausdruck, 
trotzdem  die  belebenden  Mitteltöne  im  Gesicht  ver¬ 
blichen  sind,  durch  ihre  Naturtreue;  dagegen  fehlt  noch 
der  höhere  Sinn  für  perspektivische  Zusammenfassung: 
die  Figuren,  die  hintereinander  erscheinen  sollten,  sind 
übereinander  aufgebaut,  und  der  horror  vacui,  der 
Fülltrieb  des  Webers,  zerstört  den  Luftraum  durch 
Blattwerk  und  Tiergewimmel  aller  Art;  Affen,  Hirsche, 
Rehe,  Fasanen,  Kaninchen,  sogar  wilde  Tiere:  ein 
Löwe,  ein  Wolf,  ein  Leopard,  haben  sich  im  Walde 
zu  dekorativen  Zwecken  zusammengefunden,  und 
selbst  die  große  Jagddogge  im  Vordergrund  scheint 
nicht  willens,  das  Tierparadies  ernstlich  zu  stören. 
Dieser  Hund  trägt  auf  seinem  Halsband  ein  einge¬ 
webtes  Wappen:  drei  nach  links  gewandte  Schlüsse^); 
dasselbe  eingewebte  Wappen  wird  oben  in  der  Mitte 
über  der  Hand  des  baumumlegenden  Holzhackers 
sichtbar;  da  diese  drei  Schlüssel  auch  auf  dem  Wappen 
der  bekannten  burgundischen  Familie  der  Rolin'-) 
Vorkommen,  suchte  ich  in  dieser  Richtung  nach  wei¬ 
teren  Beziehungen,  wobei  ich  mich  erinnerte,  in  dem 
Buche  von  SoiF^)  über  die  Teppiche  von  Tournai  von 
»bucherons«  gelesen  zu  haben;  die  trockene  heral¬ 
dische  Identifikation  gewann  nunmehr  Leben;  denn 


1)  Weiße  Schlüssel  auf  blauem  Grunde,  wie  mir  zuerst 
Herr  K.  E.  Schmidt  in  Paris  freundlichst  mitteilte;  er  machte 
mich  auch  erst  auf  das  Wappen  des  Hundehalsbandes  auf¬ 
merksam,  das  auf  der  Abbildung  in  >Les  Arts«  nicht  deut¬ 
lich  zu  erkennen  war;  auf  unserer  mit  gütiger  Erlaubnis 
von  Herrn  Metman  gemachten  Neuaufnahme  ist  letzteres 
sichtbar. 

2)  Vergl.  die  Abbildungen  in  der  »Gazette  des  beaux 
Arts«  35  (1906)  S.  23  u.  S.  25.  Die  Schlüssel  sind  bei 
Rolin  nach  (heraldisch)  links  gewandt,  bei  seiner  Frau 
nach  (heraldisch)  rechts. 

3)  E.  Soll,  Les  Tapisseries  de  Tournai  (1S92). 


ABB.  ].  HOLZHACKER  IM  EICHWALD.  TEPPICH,  UM  1460  (3,20  m  X  5,10  m).  PARIS,  MUSEE  DES  ARTS  DECORATIFS 


ABB.  2.  HOLZHACKER.  TEPPICHBRUCHSTÜCK,  ENDE  DES  15.  JAHRH.  (1 ,72  m  X  2,45  in).  PARIS,  MUSEES  DES  ARTS  DECORATIFS 


AliB.  3.  HOI  ZIIACKf  R.  TEI’I'K  H,  ANKANO  DES  IG.  JAHRH.  (3,30  m  X  5,20  m).  PARIS,  .WUSEE  DES  ARES  DECORATIFS 


ARBEITENDE  BAUERN  AUE  BURGUNDISCHEN  TEPPICHEN 


45 


die  Urkunden  beweisen,  daß  eben  diese  »bocherons« 
zu  dem  typischen  Bilderkreis  des  damals  sehr  be¬ 
rühmten  Ateliers  von  Pasquier  Orenier  gehörten. 
Dreimal  —  in  den  Jahren  1461,  1466  und  1505  — 
werden  Holzhacker  als  ausschließlicher  Gegenstand 
ganzer  Teppichzyklen  erwähnt;  der  früheste  Auftrag¬ 
geber  aber  war  der  Herr  des  Landes  selbst,  Herzog 
Philipp  der  Gute. 

Der  erste  Auftrag  von  1461  lautete:  »Eine  Teppich¬ 
kammer  von  Leinen  und  Seide  gearbeitet,  enthaltend 
g  Stücke,  6  Kissen  und  eine  Bankdecke,  nämlich: 
eine  Bettdecke  für  das  große  Bett,  ein  Himmel,  (dazu) 
ein  Rücklaken,  eine  Bettdecke  für  das  Kleinbett 
und  (dazu)  ein  Rücklaken,  und  4  Wandstücke  ganz 
mit  Busch-  und  Blattwerk  bedeckt,  und  besagte  Stücke 
sollen  mehrere  große  Personen  zur  Schau  tragen,  wie 
Bauern  und  Holzhacker,  die  so  tun,  als  ob  sie  in 
besagtem  Gehölz  auf  verschiedene  Weise  schafften 
und  arbeiteten«  i).  Man  kann  nicht  eindeutiger,  noch 
dazu  in  einem  so  kurzen  Programm,  den  Gegenstand 
unserer  Teppichfolge  bezeichnen.  Chronologisch 
wäre  es  also  sehr  wohl  möglich,  daß  diese  eine  der¬ 
artige  »Chambre«  für  Nicolas  Rolin  angefertigt  wurde; 
nur  ist  es  nicht  allzu  wahrscheinlich,  daß  sie  gerade 
mit  der  damals  von  Philipp  dem  Guten  bestellten 
identisch  war,  da  sich  Rolin  1461  in  Ungnade  befand^), 
jedenfalls  hat  Philipp  der  Gute  an  diesen  »bocherons« 
sein  besonderes  Gefallen  gefunden;  er  wiederholt 
nicht  nur  1466  diese  Bestellung  für  ein  Geschenk  an 
seine  Nichte,  die  Herzogin  von  Geldern,  sondern  läßt 
auch  gleichzeitig  für  die  Herzogin  von  Bourbon, 
seine  Schwester,  eine  »Kammer«  fabrizieren,  die 
wohl  dasselbe  Thema  der  Baumarbeit  variiert:  es 
sollen  »orangiers«  dargestellt  werden.  An  Szenen 
aus  der  kunstmäßigen  Orangenzucht  wird  hier¬ 
bei  schwerlich  zu  denken  sein,  da  es  damals  im 
Norden  noch  keine  derartigen  Kulturen  gab;  wohl 
aber  war  die  Orange  durch  Erinnerungsbilder  an  den 
Süden,  wie  eine  Orangenbaumgruppe  auf  dem  Trip¬ 
tychon  des  van  Eyck^)  beweist,  den  Flandrern  be¬ 
kannt,  und  so  mag  es  die  herzogliche  Herrenlaune 
gelockt  haben,  seine  Bauern  das  geheimnisvolle  Ge¬ 
wächs  der  Hesperiden  resolut  bearbeiten  zu  sehen; 
stammt  etwa  das  kleinere  Teppichfragment  aus  dieser 
Folge?"*)  Jedenfalls  gehört  dieses  kleinere  Teppichbild 

1)  » .  .  .  plusieurs  grans  personnaiges  come  gens  pay- 
sans  et  bocherons  lesquels  font  maniere  de  ouvrer  et 
labourer  au  dit  bois  par  diverses  fa^ons.«  Soil  1.  c.  378. 

2)  Daß  die  Dogge  so  auffällig  das  Wappen  trägt, 
könnte  mit  dem  ihm  als  hervorragende  Auszeichnung  ver¬ 
liehenen  Privilegium  Zusammenhängen,  auf  alle  Tiere  jagen 
zu  dürfen;  vergl.  Perier,  N.  Rolin  (1Q04)  S.  317.  Indessen 
war  auch  der  Sohn  des  Kanzlers,  Antoine  Rolin,  Orand- 
Veneur,  und  sein  Wappen  (vergl.  de  Raadt,  Sceaux  Armories 
[igoo]  111,  S.  264)  zeigt  die  drei  Schlüssel,  ganz  wie  auf 
dem  Teppich,  nach  rechts  (heraldisch)  gewandt,  allerdings 
darin  abweichend,  daß  das  Wappen  von  einem  Dornen- 
schnittrand  eingefaßt  (engreliert)  ist. 

3)  Vergl.  Rosen,  Die  Natur  in  der  Kunst  (1903)  Abs.  30. 

4)  Diese  Vermutung,  die  ich  ursprünglich  für  gewagt 
hielt,  weil  von  Orangen  selbst  nichts  zu  sehen  ist,  erhielt 
ihre  Bestätigung  dadurch,  daß  ich  vor  kurzem  in  Paris 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XVIU.  H.  2 


zum  Zyklus  von  arbeitenden  Hokbauern,  und  falls 
die  sinnlos  wirkende  Verkleinerung  des  Teppichs 
nicht  tatsächlich  erst  in  jüngster  Zeit  vorgenornmen 
wäre,  könnte  man  sogar  in  ihm  das  Röddaken  eines 
Bettumhanges  sehen,  wie  denn  auch  die  Leitung  des 
Musee  des  Arts  decoratifs  in  richtigem  Gefühl  den 
Teppich  als  innere  Wandbekleidung  einer  gotischen 
Bettstelle  wirken  läßt*). 

1505  wird  eine  »Chambre  des  personnages  de 
bucherons«  wiederum  in  den  Urkunden  von  Tournai 
erwähnt,  und  zwar  gehört  sie  zu  den  drei  berühmten 
Teppichfolgen,  die  Philipp  der  Schöne  von  Jean 
Grenier,  dem  Sohne  des  Pasquier,  kaufte  und  zu¬ 
sammen  mit  einer  »Chambre  ä  personnages  de  vigne- 
rons«  nach  Spanien  mitnahm  “).  Auch  die  Weinbauern 
hatten  sich  also  die  ihnen  gebührende  Rolle  ®)  im 
Bilderdrama  vom  Leben  des  arbeitenden  Bauern 
verschafft. 

ln  dem  zweiten  größeren  Holzhacker -Teppich 
(Abb.  3)  sehe  ich  jene  erwähnte  Teppichkammer  des 
Jean  Grenier,  der  bei  der  Verarbeitung  der  ererbten 
Kartons  seines  Vaters  unverkennbar  dieselben  drastisch 
beobachteten  Einzelmotive  beim  Sägen,  Sammeln  und 
Aufpacken  des  Holzes  anbringt;  hier  ist  schon  der  Ver¬ 
such  einer  einheitlicheren  perspektivischen  Raumauf¬ 
fassung  gewagt,  und  die  Personen  geben  sich  nicht 
mehr  »naiv«,  gewissermaßen  ohne  Besorgnis  um 
ihr  Aussehen,  der  derben  Tätigkeit  hin.  Aus  dem 
Kopfe  des  Aufsehers,  der  dem  redenden  Besitzer  zu¬ 
hört,  spricht  bereits  das  Spiegelbewußtsein  einer  zier¬ 
lichen  Persönlichkeit,  die  fast  schon  zu  gebildet  er¬ 
scheint,  um  an  dem  groben  Wesen  der  Holzhauern 


eine  spätere  Wiederholung  der  Chambre  des  Orangiers 
fand ,  auf  der  dieselben  Arbeiter  und  wirkliche  Orangen¬ 
bäume  dargestellt  sind;  allerdings  ist  das  Arbeitsmotiv 
nicht  der  ausschließliche  Gegenstand  der  teilweise  roman¬ 
tischen  Darstellung. 

1)  Ich  führe  die  Maße  der  »Chambre  des  orangiers« 
(Soil,  S.  379)  im  einzelnen  an,  um  anderen  die  Teppich¬ 
studien  zu  erleichtern;  dabei  rechne  ich  die  Elle  von 
Tournai,  einer  gütigen  Angabe  von  Herrn  Hocquet  folgend, 
zu  0,74125=0,75  m; 


Teile  der  Teppichkammer 

Höhe 

Breite 

Couverture  du  lit . 

(6V3)  4,75  m 

(7V3)  5,50  m 

chiel . 

(5)  3,75  m 

(6)  4,50  m 

gouttieres . 

(Fallen,  die  den  oberen  Bett¬ 
himmelrand  umziehen) 

(3/j)  0,56  m 

(4V4)  3,19  m 

Couverture  de  couchette  .  . 

(3)  2,25  m 

(4)  3,00  m 

Tappis  de  Muraille  .... 

(sVi)  3,93  m 

(9)  6,75  m 

(doppelt) 

ff  5)  >>  .... 

(5V4)  3,93  m 

(syj  6,18  m 

n  j)  .... 

(5*'4)  3,93  m 

(7)  5,25  m 

bancqnier  . 

(iV,)  1,12  m 

(8)  6,00  m 

2)  Soil  I.  c.  249. 

3)  Teppiche  mit  Boscherons  und  Vignerons  werden 
erwähnt  als  alte  englische  (?)  Tapisserien  im  Mobilier  de 
la  couronne  sous  Louis  XIV  ed.  Guiffrey  (1885)  I,  S.  347. 
Zwei  Teppiche  des  15.  Jahrhunderts,  der  eine  im  Musee 
des  Arts  decoratifs,  der  andere  in  der  Collection  Gaillard 
(Nr.  761)  gehören  höchstwahrscheinlich  zu  jener  »Chambre 
des  Vignerons«. 

7 


ARBEITENDE  BAUERN  AUF  BURQUNDISCHEN  TEPPICHEN 


den  rechten  Spaß  zu  haben.  Die  wiederholten  Be- 
stellunjjen  des  guten  Herzogs  Philipp  dagegen  lassen 
vermuten,  daß  er  und  seine  Hofgesellschaft,  deren 
unbändiges  Temperament  lastender  Prunk  und  höfi¬ 
sches  Zeremoniell  nur  äußerlich  zivilisierte,  an  dem 
grotesken  Treiben  ihrer  Holzbauern  ihr  bon  plaisir« 
fanden,  auch  wenn  der  Bilderbogen  vom  braven 
paysan  et  bocheron  sich  über  ganze  135  Quadrat¬ 
meter  der  Kammer«  hindehnte. 

Das  Reich  der  Natur,  nach  dem  sich  zu  allen 
Zeiten  eine  hyperzivilisierte  Gesellschaftsschicht  zu¬ 
rücksehnt,  war  im  Norden  eben  nicht  von  antikischen 
Satyrn,  sondern  von  den  unfreiwilligen  Komikern 
schwerfälliger  körperlicher  Arbeit  bevölkert. 

Läßt  man  sich  durch  das  einflußreiche  Orenz- 
wächtertum  in  unserer  heutigen  Kunstgeschichtsschrei- 
bimg  nicht  davon  ablenken,  in  dieser  »niedrigeren« 
Region  der  angewandten  nordischen  Kunst  monu¬ 
mentale  Bildkraft  am  Werke  zu  spüren,  so  hat  die 
Einreihung  unserer  burgundischen  Oenrekunst  in 
die  allgemeine  stilgeschichtliche  Entwickelung  keine 
historischen  Schwierigkeiten  mehr.  Szenen  aus  dem 
Leben  des  gemeinen  Mannes  lassen  sich  schon  seit 
dem  Anfang  des  1 5.  Jahrhundert  aus  den  wenigen 
uns  erhaltenen  Teppichinventaren  häufig  genug  nach- 
weisen,  um  sie  als  typischen  Bestandteil  im  Bilderzyklus 
höfischer  Teppichkunst  zu  erkennen;  dafür  nur  einige 
Stichproben:  Valentine  d’Orleans  besitzt  1407  eine 
»chambre  semee  de  bucherons  et  de  bergers<  ^).  Papst 
Felix  V.  führt  in  seiner  Teppichausrüstimg,  die  er 
1440  nach  Basel  mitnahm,  einen  »magnum  tapissium 
grossarum  gentium  ,  mit  sich,  und  ebenso  besitzt 
Paul  IL")  1457  einen  alten  flandrischen  Teppich  »cum 
hominibus  ed  mulieribus  rusticalibus' .  Das  neue  Ele¬ 
ment  liegt  demnach  weniger  im  genrehaften  Gegen¬ 
stand,  als  in  der  überraschenden  Fähigkeit  des  Pasquier 
Grenier  oder  seines  Zeichners,  lebensgroße  Gestalten  in 
dem  packenden  Ausdruck  momentaner  Tätigkeit  zu  er¬ 
fassen.  Aber  auch  hierin  war  ein  größerer  aus  dem¬ 
selben  Tournai  schon  vorangegangen;  unter  der  trüben¬ 
den  Schicht  handwerksmäßiger  Webekunst  sind  uns 
wahrscheinlich  auf  den  BernerTeppichen  jene  verlorenen 
Gerechtigkeitsbilder  Rogier  van  der  Weydens  erhalten, 
der  glorreiche  Besitz  des  Stadthauses  in  Brüssel. 
Carel  van  Mander“*)  rühmt  diese  Schöpfungen  mit 
folgenden  Worten:  »Denn  er  hat  unsere  Kunst  sehr 
verbessert,  indem  er  durch  seine  Erfindung  und  Be¬ 
handlung  seinen  Arbeiten  ein  vollkommeneres  Aus¬ 
sehen  verlieh,  sowohl  was  den  Bewegungsinhalt  der 
Figuren  betrifft,  als  auch  in  der  Komposition  und  in 
der  Charakterisierung  der  seelischen  Erregungen,  wie 
Betrübnis,  Zorn  oder  Freude,  je  nachdem  der  Vorwurf 
es  verlangte.  Zu  seinem  ewigen  Gedächtnis  sind 
auf  dem  Rathaus  zu  Brüssel  sehr  berühmte  Bilder 
von  ihm  zu  sehen,  nämlich  vier  auf  die  Justiz  bezüg¬ 
liche  Szenen.  An  erster  Stelle  steht  da  das  ausge- 

1)  Recueii  d’anciens  Inventaires  (1896)  S.  226. 

2)  Vergl.  Müntz,  Hist.  Gen.  d.  1.  Tap.  S.  12. 

3)  Vergl.  „  Les  Arts  ä  la  cour  des  Papes  11,  S.  282. 

4)  Das  Leben  der  niederländischen  Maler,  übers,  von 
Hanns  Floerke  1  (1906)  S.  75. 


zeichnete  und  bemerkenswerte  Bild,  da  der  alte  Vater 
krank  im  Bett  liegt  und  seinem  verbrecherischen 
Sohne  den  Hals  abschneidet.« 

In  diesem  Lobe  liegt  zugleich  die  richtige  Be¬ 
schränkung;  gewiß  spricht  jene  gepriesene  Mienen¬ 
spiegelkunst  mit  einer  bis  zur  Grimasse  gehenden 
Deutlichkeit  aus  den  Köpfen  des  Herkinbaldteppichs*); 
die  Körper  aber,  von  dem  schweren  überladenen  zeit¬ 
genössischem  Kostüm  mumifiziert,  lähmen  trotz  der 
zappelnden  Extremitäten  das  einheitliche  Zusammen¬ 
wirken  von  Mienenspiel  und  Gebärdensprache.  Die 
Holzhauern  dagegen,  von  keiner  Modetracht  bedrückt, 
können  sich  im  natürlichsten  drastischen  Zusammen¬ 
spiel  von  Mimik  und  Physiognomik  im  echten  Stile 
ihrer  Prosa  ungehemmt  vortragen. 

Der  Name  Rohn  ist  der  Kunstgeschichte  bisher  nur 
aus  der  höheren  Region  der  kirchlichen  Kunst  bekannt: 
der  Kanzler  Rohn  kniet  als  Donator  vor  der  Ma¬ 
donna  auf  dem  Bilde  des  Jan  van  Eyck  im  Louvre, 
und  gleichfalls  mit  seiner  Frau  als  Stifter  auf  den 
Außenflügeln  des  mächtigen  Altarwerkes  vom  Jüngsten 
Gericht  in  seinem  Hospital  in  Beaune.  Die  persön¬ 
lichste  Beziehung  Rolins  zu  diesen  beiden  Meister¬ 
stücken  niederländischer  Andachtskunst  war  wohl 
vereinbar  mit  verständnisvoller  Freude  an  dem  drasti¬ 
schen  Holzbauernteppich,  denn  gerade  diese  primitive 
»compatibility«,  die  Verträglichkeit  zwischen  kirch¬ 
lichem  und  weltlichem  Kunstinteresse  kennzeichnete 
in  jener  Übergangszeit  den  Geschmack  des  Privat¬ 
sammlers,  der  sich  erst  nach  und  nach  aus  dem 
Schatzbewahrer  der  spätmittelalferlich  höfischen  Zivi¬ 
lisation  zum  museumbildenden  Kunstfreund  der 
Renaissancekultur  entwickelte.  Dem  Verständnis  für 
das  rein  Künstlerische  stand  eben  jener  raffinierte 
Materialsinn  entgegen,  der  durch  die  äußerlich  schwie¬ 
rigen  und  doch  lebhaften  Handelsbeziehungen  in 
Westeuropa  herausgebildet,  wohl  aufs  feinste  abzu¬ 
schätzen,  aber  auch  wahllos  zu  häufen  wußte. 

Wider  Erwarten  erhält  man  aus  dem  gleichzeitigen 
Italien  —  wo  unser  modernes  unkritisches  Renaissance¬ 
empfinden  nur  Offenbarungen  bodenständiger  Selbst¬ 
herrlichkeit  anzutreffen  liebt  —  für  dieselbe  Kompa¬ 
tibilität  die  unzweideutigsten  Zeugnisse;  die  Könige 
von  Neapel,  die  Herzöge  von  Ferrara  und  die  Medici 
in  Florenz  schätzten  ihre  von  flandrischen  Meistern 
nach  ihren  eigenen  Wünschen  gewebten  weltlichen 
Bildteppiche  als  ihren  kostbarsten  Besitz  neben  jenen 
andachtsvollen  Seelenstücken  auf  Holz  oder  Leinwand, 
wie  sie  Rogier  van  der  Weyden  selbst  in  Italien  einge¬ 
bürgert  hatte ^);  aber  nicht  nur  dem  gewebten  Feier¬ 
kleid  für  die  häusliche  Wand,  sondern  auch  seinem 
billigeren  Surrogat,  dem  auf  Leinwand  gemalten  Genre¬ 
bild,  räumten  die  Medici  sogar  die  Ehrenplätze  der 
sopraporti  in  ihren  Festsälen  auf  der  Villa  Careggi'^) 

1)  Vergl.  die  Abb.  bei  Jubinal  und  danach  bei  Müntz, 
La  Tapisserie  (Kl.  Ausg.)  S.  151. 

2)  Vergl.  »Flandrische  Kunst  und  Florentinische  Früh¬ 
renaissance«  im  Jahrb.  d.  Preuß.  Kunsts.  1902,  S.  207  und 
»Der  Austausch  künstlerischer  Kultur  zwischen  Norden 
und  Süden«  in  den  Ber.  der  Kunstg.  Ges.  1905. 

3)  Vergl.  »Flandrische  und  Florentinische  Kunst  im 


DER  PARISER  HERBSTSALON 


47 


und  im  Stadtpalaste  ein,  zur  selben  Zeit  (etwa  1460) 
wo  doch  schon  im  Palast  der  via  larga  Antonio  und 
Piero  Pollajuolo  auf  ihren  Leinwandbildern  mit  den 
Herkulestaten  den  neuen  idealistischen  Stil  des  beweg¬ 
ten  Lebens  verkündeten,  bereits  das  Banner  der  neuen 
welterobernden  Pathosformel  »all’  antica«^)  entfaltet 
hatten. 

Die  monumentale  Genrekunst  dieser  burgundischen 
Bildteppiche  war  gleichsam  das  Quellgebiet  jenes 
nordischen  Verismus,  der  seinen  lebenspiegelnden 
Humor  als  eine  unverächtliche  Gegenkraft  dem  dio- 

Kreise  des  Lorenzo  dei  Medici«  in  den  Ber.  d.  Kunstg. 
Ges.  igoi. 

1)  Vergl.  »Dürer  u.  die  italienische  Antike«  in  den  Ver¬ 
handlungen  der  48.  Versammlung  deutscher  Philologen  und 
Schulmänner. 


nysischen  Pathos  im  Kampfe  um  den  Stil  des  be¬ 
wegten  Lebens  entgegensetzen  konnte,  bis  die  klassi- 
zierende  Hochrenaissance  Italiens  im  antiken  Satyr  ihr 
eigenes  und  ihrer  humanistischen  Gesellschaft  ange¬ 
messeneres  Temperamentsventil  wiederentdeckte.  Vor 
dem  elementaren  echten  Orgiasmus  des  heidnischen 
Satyrn,  dem  noch  dazu  der  nackte  Körper  das  unge¬ 
hemmte  Doppelspiel  von  Miene  und  Körper  verlieh, 
zog  sich  der  grimassierende  nordische  Spaßvogel 
zurück,  bis  auch  der  Satyr  im  abschleifenden  Tausch¬ 
verkehr  der  Formen  Wert  und  Prägungsfrische  ein¬ 
gebüßt  und  nun  Breughel  seinen  Bauern  im  Reiche 
der  Sammlerkunst  neu  gewann,  was  sie  eigentlich  von 
altersher  besessen:  das  Hofnarrenprivilegium  spätmittel¬ 
alterlicher  höfischer  Kultur. 


DER  PARISER  HERBSTSALON 

Von  K.  E.  Schmidt 


Der  Herbstsalon  steht  unter  dem  Zeichen  Paul 
Gaiiguins.  Schon  vor  drei  Jahren  waren  im 
Herbstsalon  einige  zwölf  oder  fünfzehn  Arbeiten 
des  damals  gerade  verstorbenen  Künstlers  ausgestellt, 
aber  von  einer  irgendwie  erschöpfenden  Übersicht 
konnte  nicht  die  Rede  sein.  Heuer  werden  uns  nicht 
weniger  als  227  Arbeiten  Gauguins  vereint  gezeigt, 
und  wenigstens  die  letzten  zwanzig  Jahre  des  Künstlers 
werden  damit  erschöpfend  illustriert.  Aus  seiner  ersten 
Zeit  aber  ist  nichts  da,  und  das  ist  schade,  denn  vor 
dreißig  Jahren  hat  Gauguin  ganz  wunderschöne  Sachen 
gemalt,  Ansichten  von  der  Seine  in  der  Umgegend  von 
Paris,  die  von  Lepine  oder  von  dem  Claude  Monet 
der  sechziger  Jahre  gemalt  sein  könnten.  Aus  dieser 
Zeit  ist  hier  nichts  vertreten,  aber  diese  Zeit  ist  es 
ja  auch  nicht,  die  Gauguin  berühmt  gemacht  hat. 

Gauguin  war  ein  Grübler  und  ein  Sonderling. 
Nachdem  er  gezeigt  hatte,  daß  er  zeichnen  und  malen 
konnte,  ergab  er  sich  der  Theorie,  der  im  politischen 
Leben  die  Anarchisten  huldigen,  und  die  bis  zu  einem 
gewissen  Grade  von  Tolstoj  gepredigt  wird.  Aus 
den  Fehlern  und  Mängeln  der  bestehenden  Gesell¬ 
schaft  schließt  der  wissenschaftliche  Anarchismus,  daß 
die  gesamte  Kultur  an  sich  schlecht  sei,  daß  das 
ganze  Gebäude  niedergerissen  werden  müsse,  um 
auf  neuem  Fundament  ein  neues  Gebäude  aufzuführen. 
Um  zu  einer  schöneren  und  besseren  Zivilisation  zu 
gelangen,  müssen  wir  zur  Stufe  der  Barbarei  zurück¬ 
kehren.  Das  war  auch  die  Theorie  Gauguins.  Unsere 
Kunst  leidet,  das  wird  wohl  jeder  zugeben,  am  Tra- 
ditionalismus,  wie  er  in  den  Akademien  gepflegt  wird. 
Wir  sehen  weniger  auf  die  Natur  als  auf  die  Werke 
unserer  großen  Vorgänger.  Schon  die  Nazarener 
und  nach  ihnen  die  englischen  Präraffaeliten  ver¬ 
spürten  etwas  ähnliches,  als  sie  die  höchste  Blüte  der 


Renaissance  verfluchten  und  zu  den  Vorläufern 
Raffaels  und  Michel  Angelos  zurückgingen.  Gauguin 
genügte  das  aber  noch  lange  nicht.  Er  wollte  bis 
zum  Ursprung  aller  Kunst  zurück,  um  an  diese  An¬ 
fänge  anzuknüpfen. 

Wo  findet  man  die  Uranfänge  der  Kunst?  Nun, 
man  findet  sie  da,  wo  man  die  Uranfänge  der  Kultur 
findet:  beim  Kinde  und  bei  den  auf  der  Kindheits¬ 
stufe  stehengebliebenen  Völkern.  Gauguin  schaute 
sich  zunächst  in  Frankreich  selbst  um  und  fand  seine 
Vorbilder  einerseits  bei  den  bunten  Bilderbogen  von 
Epinal,  die  bei  den  Jahrmärkten  und  Kirchweihen 
von  den  Bauern  gekauft  werden,  sodann  bei  den  un¬ 
beholfenen  Holzschnitzereien,  Steinskulpturen  und 
Gemälden,  wie  sie  besonders  in  der  Bretagne,  dem 
am  weitesten  zurückgebliebenen  Teile  Frankreichs, 
recht  zahlreich  sind  und  bis  auf  den  heutigen  Tag 
angefertigt  werden.  Später  genügte  ihm  die  Bretagne 
nicht,  und  er  suchte  seine  Vorbilder  jenseits  der 
Meere.  So  kam  er  nach  den  Südseeinseln,  wo  er 
gestorben  ist.  Der  Zufall  eines  leider  abgeschlossenen 
Wanderlebens  hat  auch  mich  einst  nach  der  Südsee 
geführt,  und  ich  kenne  die  hölzernen  Götzen  der 
Samoaner  aus  eigener  Anschauung,  —  was  übrigens 
nichts  besonderes  ist,  denn  in  dem  ethnologischen 
Museum  von  Berlin  kann  man  davon  mehr  sehen, 
als  wenn  man  sich  sechs  Wochen  in  Apia  aufhält. 
Jedenfalls  aber  ist  dieser  einstige  Besuch  auf  Samoa 
mit  daran  schuld,  daß  ich  den  in  der  Südsee  ent¬ 
standenen  Holz-  und  Steinskulpturen  Gauguins  lange 
nicht  die  Bewunderung  zolle,  wie  sie  von  der  Schar 
der  Leute  gespendet  wird,  die  aus  Prinzip  alles  be¬ 
wundern  ,  was  dem  gewöhnlichen  Menschen  unver¬ 
ständlich,  wenn  nicht  lächerlich  scheint. 

Es  ist  ganz  schön,  sich  von  den  Regeln  der 


7 


DER  PARISER  HERBSTSALON 


Akaden^ie  und  von  der  sklavischen  Nachahmung  der 
Alten  freiziunachen.  Dann  aber  gehe  man  direkt 
zur  Natur.  Es  ist  wahr,  daß  die  bretonischen  Bauern 
und  die  Südseeinsulaner  der  Natur  näher  stehen  als 
die  Pariser  und  die  Berliner,  aber  ihre  ungeschickten 
und  kindischen  Versuche  nachzuahmen,  scheint  mir 
doch  noch  bedeutend  törichter,  als  bei  Raffael  und 
Michel  Angelo  Rat  zu  holen.  Die  naiven,  unbe¬ 
holfenen,  ungeschickten,  kindischen  Formen  Gauguins 
sind  ganz  genaue  Kopien  der  primitiven  Kunstwerke 
der  Bretagne  und  der  Südsee.  Ob  solche  Kopien 
nun  nach  Vorbildern  der  Südseeinsulaner  oder  der 
italienischen  Renaissancekünstler  angefertigt  sind, 
scheint  mir  gleich  verdienstlos.  Sehr  viel  Originali¬ 
tät  ist  darin  nicht  zu  sehen,  und  der  Pfarrer  von 
Rotheneuf  gefällt  mir  besser  als  Gauguin.  In  Rothe- 
neuf  bei  St.  Malo  lebt  nämlich  ein  wackrer  alter 
Geistlicher,  der  seit  dreißig  oder  vierzig  Jahren  die 
Felsen  an  seinem  heimischen  Meeresgestade  mit  Meißel 
und  Hammer  bearbeitet  und  da  eine  ganze  Armee 
menschlicher  und  tierischer  Figuren  in  Flach-  und 
Hochrelief  aus  der  Felswand  herausgehauen  hat.  Das 
ist  genau  ebenso  ungeschickt  und  kindisch  wie  die 
Skulpturen  Gauguins,  aber  bei  dem  braven  Pfarrer 
ist  die  kindische  Ungeschicklichkeit  nicht  gesucht 
wie  bei  Gauguin.  Der  Pfarrer  macht  seine  Arbeiten 
so  gut  und  schön,  wie  er  nur  kann  und  weiß.  Ebenso 
machen  es  die  Südseeinsulaner  und  die  Bretonen. 
Gauguin  aber  und  seine  Nachfolger  stellen  sich  un¬ 
beholfen  und  kindisch,  sie  verstecken  ihr  wahres  Ge¬ 
sicht  hinter  einer  Maske,  sie  sind  innerlich  unwahr, 
und  in  letzter  Linie  wirken  sie  im  Gewand  des  primi¬ 
tiven  Barbaren  nicht  anders  als  der  Sudanneger  in 
Zylinder  und  Frack,  nämlich  komisch  und  lächerlich. 

Nun  hätte  aber  Gauguin  trotz  dem  Snobismus 
unserer  Zeit,  der  alles  Unverständliche  schön  findet, 
um  sein  eigenes  überaus  subtiles  Verständnis  zu  be¬ 
kunden,  nicht  den  Ruf  erwerben  können,  den  er 
gegenwärtig  besitzt,  wenn  er  weiter  nichts  als  ein 
lächerlicher  Nachahmer  primitiver  Ungeschicklichkeit 
gewesen  wäre.  Das  war  er  auch  in  der  Tat  nicht: 
er  war  ein  außerordentlich  stark  und  schön  veran¬ 
lagter  Künstler.  Wie  schon  oben  gesagt,  hat  er  in 
seinen  Anfängen  Sachen  gemalt,  die  man  den  Bildern 
aus  Claude  Monels  bester  Zeit  gleichstellen  darf.  Und 
als  ihn  die  Marotte  der  Barbarei  gefangen  hielt,  nahm 
er  in  die  gesuchte  und  gefundene  Naivität  eine  Farben¬ 
freude  mit,  wie  sie  kaum  ein  anderer  Künstler  unserer 
Zeit  besessen  hat.  Seine  Malereien  aus  der  Südsee 
sind  koloristische  Schwelgereien;  der  Maler  stürzt 
sich  mit  wahrer  Wollust  in  diese  lodernde,  lohende 
flammende  Farbenpracht,  die  in  der  Anwendung 
schmetternder  Töne  wieder  an  die  Bilderbogen  von 
Epinal  erinnert,  aber  zugleich  eine  souveräne,  unglaub¬ 
lich  sichere  und  unumschränkte  Herrschaft  im  Reiche 
der  Farbe  bekundet.  Bei  aller  jubelnden,  jauchzenden, 
ja  brüllenden,  knatternden  und  schmetternden  Pracht 
wird  Gauguin  doch  nie  roh,  nie  gemein,  nie  ge¬ 
schmacklos  und  disharmonisch.  Er  bringt  die  tollsten 
Farben  unvermittelt  zusammen,  und  sie  singen  einen 
herrlichen  Choral  voll  Harmonie  und  Macht.  Diese 


Malereien  wirken  in  ihrer  alles  bezwingenden  Farben¬ 
glut  wie  die  Fenster  unserer  mittelalterlichen  Kirchen, 
aber  was  dort  durch  die  durchscheinende  Tageshelle 
bewirkt  wird,  hat  Gauguin  ohne  diese  mächtige  Hilfe 
zustande  gebracht,  und  man  steht  vor  diesen  Wunder¬ 
werken  koloristischer  Leuchtkraft  wie  vor  den  unbe¬ 
greiflichen  Schöpfungen  geheimnisvoller  Naturkräfte. 

Verläßt  man  die  Gauguin  eingeräumten  Säle  und 
macht  man  den  im  Vorsaale  untergebrachten  Nach¬ 
folgern  und  Nachahmern  des  toten  Künstlers  seinen 
Besuch,  so  nehmen  bald  andere  Gefühle  Besitz  von 
uns.  Die  Unbeholfenheit  Gauguins  findet  sich  hier 
übertrieben  wieder,  und  an  die  Stelle  seiner  herr¬ 
lichen  Farbenmusik  ist  die  plumpeste,  geschmack¬ 
loseste,  bunteste,  schreiendste  und  mißtönigste  Klexerei 
getreten.  Keine  Farbenvereinigung  ist  zu  grell  oder 
zu  abscheulich  für  diese  Gauguinschüler,  die  ihrem 
Meister  wahrlich  wenig  Ehre  machen.  Gauguin 
konnte  etwas,  als  er  auf  das  Können  verzichtete  und 
der  primitiven  Ungeschicklichkeit  nachging.  Seine 
Nachfolger  aber  sind  wirklich  davon  überzeugt,  daß 
Nichtskönnen  eine  neue  Richtung  sei,  und  daß  ein 
Kunstwerk  desto  schöner  sei,  je  weniger  sein  Urheber 
gelernt  habe.  Die  starren  Verteidiger  und  Verfechter 
des  akademischen  Zopfes  hätten  keine  bessere  Bundes¬ 
genossin  finden  können,  als  diese  »neue  Richtung«. 
Wenn  diese  Neuerer  noch  zehn  Jahre  so  fortmachen, 
wird  ohne  jeden  Zweifel  wieder  einmal  eine  Periode 
schulmeisterlichsten  Akademismus  anbrechen,  denn 
solche  Auswüchse  zeitigen  immer  und  überall  die 
Reaktion  nach  der  anderen  Seite. 

Außer  Gauguin  haben  Carriere  und  Courbet  ihre 
retrospektive  Ausstellung,  und  da  ist  es  sehr  merk¬ 
würdig  zu  sehen,  wie  Courbet,  der  einstige  Stürmer 
und  Dränger,  zum  folgsamen  Akademiker  wird,  ver¬ 
glichen  mit  den  Arbeiten  der  Gauguinschüler.  Man 
glaubt,  in  ein  Sanktuarium  der  Museumskunst  zu 
treten,  wenn  man  seine  Bildnisse,  Landschaften  und 
Marinen  anschaut,  und  man  sieht,  daß  Courbet,  ob¬ 
schon  er  die  Natur  für  seine  einzige  Lehrmeisterin 
erklärte,  bei  Tizian,  Frans  Hals  und  anderen  Meistern 
der  Vergangenheit  seine  ganze  Technik  erlernt  hat. 
Besonders  hervorragende  Werke  Courbets  sind  hier 
nicht  ausgestellt,  aber  alles  ist  gesunde  und  starke 
Malerei,  auf  den  besten  Vorbildern  fußend,  der  Wahr¬ 
heit  folgend  und  von  einer  kraftvollen  Persönlichkeit 
getragen.  Über  Carriere,  der  schon  im  diesjährigen 
Champ  de  Mars  seine  Sonderausstellung  hatte,  ist 
nichts  Neues  zu  sagen.  Auch  hier  wieder  hat  man 
das  Gefühl,  daß  uns  ein  einziges  seiner  Meisterwerke 
tiefer  faßt  und  bewegt  als  so  viele  nebeneinander 
hängende  Arbeiten,  die  zusammen  etwas  eintönig 
und  ermüdend  wirken. 

Unter  den  lebenden  Ausstellern  hebe  ich  besonders 
hervor;  die  Russin  Dannenberg,  deren  koloristisch 
äußerst  famose  Arbeiten  eine  seltene  Kraft,  Ursprüng¬ 
lichkeit  und  Frische  bekunden,  so  daß  ich  ihre  Kinder¬ 
szenen  aus  dem  Luxembourggarten  an  die  allererste 
Stelle  der  in  diesem  Salon  gezeigten  Gemälde  setzen 
möchte;  die  Schweizerin  Stettier,  die  koloristisch  viel¬ 
leicht  nicht  so  bedeutend  ist,  aber  in  Frische  und 


DAS  NEUE  HANDBUCH  DER  DEUTSCHEN  KUNSTDENKMÄLER 


49 


Kraft  der  Darstellung  ebenso  hoch  steht;  Franz  Kupka, 
der  gegenwärtig  wohl  der  eigenartigste  und  glän¬ 
zendste  französische  Illustrator  ist  und  sich  in  den 
drei  Frauengestalten,  beleuchtet  von  dem  roten  Glanze 
der  herbstlichen  Abendsonne,  als  ebenso  starker 
Kolorist  betätigt;  Maxime  Dethoinas,  der  in  seinen 
leicht  getönten  Pastellzeichnungen  in  der  Stärke  der 
Charakterisierung  an  Daumier  heranreicht;  Albert 
Bclleroche  mit  zwei  weiblichen  Bildnissen  in  ebenso 
starker  wie  anmutiger  Farbengebung  und  mehreren 
seiner  vorzüglichen  Lithographien;  Rembrandt Bugatti, 
dessen  kleine  Tierbronzen  zu  den  vortrefflichsten 
neueren  Schöpfungen  auf  diesem  Gebiete  gehören; 
Medardo  Rosso,  der  der  interessanten  Reihe  seiner 
impressionistischen  Skulpturen  ein  sehr  merkwürdiges 
und  anziehendes  Kinderporträt  zugefügt  hat;  Stephan 
Haweis  mit  koloristisch  äußerst  anmutigen  und  reiz¬ 
vollen  Strandbildern;  Josza  und  Kandinsky  mit  sehr 
hübschen  farbigen,  Wilhelm  Lefebvre  mit  schwarzen 
Radierungen. 

Von  den  älteren  und  bekannteren  Künstlern,  die 
hier  ausstellen,  erwähne  ich  noch  Anglada-Camarasa, 
der  jetzt  die  einmal  gefundene  Note  auszubeuten  ge¬ 


sonnen  scheint,  denn  seine  diesjährigen  beiden  Bilder 
zeigen  genau  das  nämliche  Farbenkonzert  wie  seine 
Arbeiten  der  letzten  zwei  Jahre:  rosig- weiß  in  blau¬ 
grün,  eine  gewiß  äußerst  ansprechende  und  schöne 
Harmonie,  der  man  aber  eine  von  einem  so  begabten 
Koloristen  wie  Anglada  wohl  zu  erwartende  Ab¬ 
wechslung  vorziehen  würde;  Willette  mit  einer  sehr 
anmutigen  getönten  Zeichnung  und  einem  in  der 
Farbe  recht  unangenehm  wirkenden  Ölgemälde;  John 
Lavery,  der  von  Anglada  den  Nutzen  des  deckenden 
und  harmonisierenden  Glases  lernen  sollte,  denn  so 
sanft  und  harmonisch  seine  mit  Glas  bedeckten  Bilder 
aussehen,  so  gewaltsam  und  hie  und  da  fast  grell 
und  roh  scheinen  seine  dieses  Bindemittels  ent¬ 
behrenden  Gemälde;  Paul  Cezanne  und  Maurice 
Denis,  die  trotz  der  Ungebärdigkeit  ihrer  Nachfolger 
immer  noch  an  der  Spitze  der  jüngsten  marschieren, 
wahrscheinlich  weil  ihre  Absonderlichkeiten  auf  dem 
festen  Grunde  wirklichen  Könnens  ruhen,  was  man 
leider  nur  von  den  wenigsten  modernen  Künstlern 
sagen  kann,  die  durch  erstaunliche  Gesichtsverzer¬ 
rungen  die  Aufmerksamkeit  zu  erregen  und  ihre 
Originalität  zu  beweisen  sucken. 


DAS  NEUE  HANDBUCH  DER  DEUTSCHEN  KUNSTDENKMÄLER’) 


Ein  bescheidener  Band  von  mäßigem  Umfang,  der 
aber  eine  gewaltige  Arbeitsleistung  darstellt.  Das  Hand¬ 
buch  der  deutschen  Kunstdenkmäler  ist  ein  Unternehmen 
des  Tages  für  Denkmalpflege  —  seine  Geschichte  zieht 
sich  seit  sieben  Jahren  durch  die  einzelnen  Tagungen  durch 
und  ist  in  den  Jahresberichten  niedergelegt.  Im  Jahre  iSgg 
hatte  Dehio  in  Straßburg  auf  der  Generalversammlung  der 
Geschichts-  und  Altertumsvereine,  von  der  sich  damals  der 
Tag  für  Denkmalpflege  abtrennte,  der  längst  dringenden 
und  schreienden  Forderung  nach  einem  solchen  Handbuch 
Ausdruck  gegeben.  Der  Dresdener  Tag  für  Denkmalpflege 
hatte  dann  im  Jahre  igoo  die  Herausgabe  eines  eigenen 
Handbuches  beschlossen  und  zur  Durchführung  des  Planes 
eine  Kommission  eingesetzt,  bestehend  aus  dem  Vorsitzenden 
des  Tages,  Hugo  Loersch,  aus  Cornelius  Gurlitt  und  Adolf 
von  Oechelhäuser.  Das  ganze  Programm  war  aber  erst 
lebensfähig,  als  Dehio  sich  bereit  erklärte,  die  Riesenarbeit 
zu  übernehmen  und  durchzuführen.  Die  lange  Vorgeschichte 
des  Werkes  war  auch  eine  Leidensgeschichte  und  nicht 
immer  amüsant.  Zur  Durchführung  der  nötigen  Material- 
samnihmg  war  ein  ganzer  Stab  von  Mitarbeitern,  zur  Nach¬ 
prüfung  der  Angaben,  zur  Neuaufnahme  der  noch  gar  nicht 
inventarisierten  Gegenden  waren  umfängliche  und  wieder¬ 
holte  monatelange  Reisen  notwendig.  Ein  Verleger  hätte 
die  erforderlichen,  sehr  erheblichen  Mittel  nicht  aufbringen 
können,  vor  allem  nicht,  wenn  das  Werk  seinen  billigen 
Preis  behalten  sollte.  Erst  durch  eine  sehr  bedeutende 
Bewilligung  aus  dem  Dispositionsfonds  Sr.  Majestät  des 
Kaisers  ward  das  Werk  ermöglicht. 


i)  Georg  Dehio,  Handbuch  der  deutschen  Kunstdenk- 
mäler.  Im  Aufträge  des  Tages  für  Denkmalpflege  be¬ 
arbeitet.  Band  I.  Mitteldeutschland.  Berlin,  Verlag  von 
Ernst  Wasmuth  igo5.  360  S. 


Die  Gesichtspunkte,  die  Dehio  bei  seiner  Arbeit  leiteten, 
hatte  er  schon  vor  sechs  Jahren  in  einer  ausführlichen  Denk¬ 
schrift  niedergelegt;  in  der  Einleitung  zu  dem  ersten  Bande 
hat  er  sie  noch  einmal  zusammengefaßt.  Wie  sehr  und 
wie  oft  ein  jeder,  der  sich  mit  deutscher  Kunst  zu  be¬ 
schäftigen  hatte,  der  Kunstgelehrte,  der  Architekt,  der 
Konservator,  der  Kunstfreund  ein  solches  Handbuch  ent¬ 
behrt  hat,  das  empfindet  man  eigentlich  erst  jetzt,  seit 
man  den  ersten  Band  in  der  Hand  hält.  Unsere  Reise¬ 
handbücher  haben  sich  ja  bemüht,  diesem  Bedürfnis  in 
etwa  zu  entsprechen;  zumal  die  neuesten  Auflagen  des 
Baedeker  leisten  darin  Erstaunliches  —  man  hat  sich  daran 
gewöhnt,  sie  als  die  bequemsten  wissenschaftlichen  Hand¬ 
bücher  zu  konsultieren.  Es  ist  ja  bezeichnend  für  die 
Hypertrophie  des  historischen  Sinnes  in  Deutschland,  daß 
diese  Reisehandbücher  von  geschichtlichen  Angaben  über¬ 
füllt  sind,  aber  von  den  größten  Wundern  der  Technik 
kaum  Notiz  nehmen.  Aber  trotzdem  konnten  die  Reise¬ 
führer  doch  nur  auf  die  allerersten  Fragen  dem  Fachmann 
Antwort  geben.  Die  zum  Teil  ganz  ausgezeichneten  be¬ 
rühmten  Kunststätten  des  Seemannschen  Verlages  bieten 
zunächst  eine  geschichtliche  Darstellung,  keinen  catalogue 
raisonne.  Es  blieb  dann  der  alte  ehrliche  Lotz.  Noch 
heute  stehen  wir  voll  Staunen  und  Rührung  vor  dieser 
Leistung  eines  einzigen  Menschen:  seine  1862  erschienene 
Kunsttopographie  Deutschlands  suchte  systematisch  die 
Denkmäler  und  Kunstschätze  in  Deutschland  und  Deutsch- 
Österreich  aufzuzählen  —  Lotz  hat  hier  ein  Vorbild  ge¬ 
schaffen,  das  als  Formel  wenigstens,  von  allen  deutschen 
Denkmälerinveutaren  aufgenommen  worden  ist.  Aber  das 
Werk  ist  nie  wiederaufgelegt,  längst  vergriffen,  dazu  un¬ 
handlich.  Vollständigkeit  konnte  hier  kaum  angestrebt 
werden;  der  Autor  konnte  nur  einen  bescheidenen  Teil 
selbst  bereisen  —  er  half  sich  mit  fleißigen  Auszügen, 


DAS  NEUE  HANDBUCH  DER  DEUTSCHEN  KUNSTDENKMALER 


abu-  waren  Zufallsergebnisse.  Und  vor  allem:  als 
Dcnkmiikr  wurden  damals  eigentlich  nur  die  Bauten  des 
Mittcialters  und  der  Renaissance  angesehen,  kaum  noch 
die  der  Spätrenaissance.  Über  Barock  und  Rokoko  herrscht 
ein  eisiges  Schweigen,  ein  Zeugnis  von  der  Verachtung 
der  Zeit  diesen  Jahrhunderten  gegenüber. 

Es  blieben  nur  die  großen  Denkmälerinventare,  die 
seit  ilreißig  Jahren  in  allen  Bundesstaaten  und  Provinzen 
Deutschlands  in  Arbeit  sind.  Ja  diese  Inventare.  Sie 
tragen  gar  wenig  den  Stempel  des  neuen  Reichs:  selbst 
das  überall  nniformierende  Preidten  hat  es  unterlassen 
oder  versäumt,  hier  einen  gleichmäßigen  Schnitt  vorzn- 
schreiben  —  sie  sehen  vielmehr  aus  wie  ein  buntscheckiger 
Bundeskontingent  aus  den  Zeiten  des  entschlafenen  rö¬ 
mischen  Reiches  deutscher  Nation.  Alle  Formate  zwischen 
Oktav  und  Folio,  gar  nicht  illustrierte  und  fast  reine  Tafel¬ 
werke,  die  einen  in  schwerer  und  oft  drückender  historischer 
Rüstung,  die  anderen  behende  über  diese  Schwierigkeit 
wegspringend,  die  einen  im  Telegrammstil,  die  anderen 
in  binmenreicher  Schilderung.  Heute  stellen  diese  deutschen 
Inventare  eine  Reihe  von  fast  140  Bänden  dar,  nebenein¬ 
andergestellt  eine  Länge  von  fast  6  Metern  —  sie  kosten 
zusammen  etwa  anderthalbtausend  Mark.  Das  ist  eine 
Ehbliothek  für  sich  geworden.  An  einen  Abschlnß  ist 
vielfach  noch  gar  nicht  zn  denken:  wenn  das  bayrische 
Inventar  in  dem  bisherigen  Turnus  weitergeführt  worden 
wäre,  so  hätte  die  Vollendung  fast  noch  ein  Jahrhnndert 
erfordert.  Dazu  kommt  noch  ein  anderes:  die  deutschen 
Inventare  sind  entstanden  als  Handbücher  für  die  praktische 
Verwaltung,  für  die  Denkmalpflege,  in  zweiter  Linie  erst 
als  Repertorien  für  die  Kunstgeschichte.  Daraus  ergibt 
sich  ihr  besonderer  Charakter:  sie  streben  Vollständigkeit 
an  und  wollen  sämtliche  historische  Denkmäler  aufzählen, 
soweit  sie  für  die  Denkmalpflege  in  Betracht  kommen. 
Das  sind  wohl  Dokumente  einer  lokalen  und  provinzialen 
Kunstgeschichte,  keinesfalls  aber  unbedingt  Kunstdenkmäler, 
die  für  den  Aufbau  einer  deutschen  Kunstgeschichte  oder 
auch  nur  der  künstlerischen  Entwickelung  eines  größeren 
Gebietes  in  Betracht  kommen. 

Ein  Handbuch,  das  dies  ganze  ins  Uferlose  ange¬ 
schwollene  Material  zusannnenfassen  wollte,  mußte  vor 
allem  eine  Kunst  üben:  die  Kunst,  wegzulassen.  Und 
daneben  mußte  der  Satz  gelten:  Ein  mit  solchem  Aufwand 
von  ausgezeichneter  Arbeitskraft,  mit  solchen  Mitteln  durch¬ 
geführtes  Werk  wird  schwerlich  ein  zweites  Mal  vom 
Fundament  aus  neu  gebaut  werden:  also  mußte  dies 
Buch  auf  möglichst  viele  Fragen  Auskunft  geben  und 
möglichst  verschiedene  Fragen  zu  befriedigen  geeignet  sein. 

Wie  steht  nun  zu  diesen  Fragen  das  neue  Handbuch? 
Es  ist  ein  Akt  der  Selbstentäußerung  und  Aufopferung, 
wenn  ein  vielbeschäftigter  Universitätslehrer  einen  ganzen 
Abschnitt  seines  Lebens  für  die  konseoiuente  Durchführung 
einer  so  ausgedehnten  und  zunächst  wenig  dankbaren 
Aufgabe  bestimmt  —  und  für  die  begeisterte  Hingabe  und 
die  eiserne  Energie,  mit  der  das  große  Werk  unternommen 
worden  ist,  kann  die  Kunstwissenschaft  dem  Autor  nicht 
dankbar  genug  sein.  Man  hört  bei  allen  wichtigen  Punkten 
und  Fragen  den  Gelehrten,  der  auf  der  Höhe  seiner 
Wissenschaft  steht  und  in  knappster  Form  auch  zu  den 
augenblicklichen  Problenren  Stellung  nimmt.  Ein  sicherer 
und  ausgesprochen  persönlicher  Geschmack  leitet  die  Dar¬ 
stellung  und  gibt  den  Ton  der  künstlerischen  Kritik  an. 

Keinem  literarischen  Unternehmen  gegenüber  ist  es 
leichter,  den  Vorwurf  der  Unvollständigkeit  zu  erheben,  als 
gegenüber  einem  solchen  Handbuch.  Ich  schätze:  je 
kleiner  das  Gebiet  ist,  das  ein  Kritiker  übersieht,  um  so 
eher  wird  er  geneigt  sein,  dem  Autor  den  Vorwurf  zn 
machen,  daß  er  Monumente  ausgelassen  hat,  die  ihm 


wichtig  erschienen.  Neben  den  r^enkmälern,  die  der  Be¬ 
arbeiter  absichtlich  ausgelassen  hat,  werden  natürlich  solche 
stehen,  die  er  nicht  gekannt  hat,  zumal  in  den  Gebieten, 
die  noch  nicht  inventarisiert  sind  (für  den  vorliegenden 
Band  war  etwa  die  Hälfte  des  in  Betracht  kommenden 
Gebietes  noch  uninventarisiert,  also  völlig  neu  zu  bereisen). 
Ein  Ausgleich  wird  erst  in  den  späteren  Anflagen  eintreten 
können,  die  hoffentlich  nicht  zu  lange  auf  sich  warten 
lassen.  Der  Verfasser  hat  in  dem  Vorwort  die  Bitte  aus¬ 
gesprochen,  ihn  durch  Einsendung  von  Berichtigungen 
lind  Ergänzungen  jetzt  schon  zu  unterstützen.  Man  möchte 
wünschen,  daß  die  Fachgenossen  dieser  Bitte  möglichst 
oft  und  reichlich  entsprächen  und  daß  ein  jeder  Benutzer 
des  Buches  durch  solche  Angaben  seinen  Dank  für  das 
Werk  abstattete.  Vielleicht  aber  läßt  sich  jetzt  schon  und 
zunächst  bei  den  folgenden  Bänden  ein  höherer  Grad  von 
Vollkommenheit  erreichen,  wenn  die  Korrekturen  der 
einzelnen  Beschreibungen  oder  wenigstens  aller  wichtigen 
vor  dem  Druck  den  nächsten  Sachverständigen,  den  Kon¬ 
servatoren  und  Provinzialkonservatoren,  den  Musennis- 
direktoren,  den  Vorsitzenden  der  Geschichts-  und  Alter¬ 
tumsvereine,  den  zuständigen  Lokalhistorikern  und  mög¬ 
lichst  auch  bei  noch  nicht  inventarisierten  Orten  den 
Geistlichen  usw.  zugestellt  würden  (was  bisher  nur  in 
sehr  bescheidenem  Umfang  geschehen  ist).  Das  gibt 
natürlich  eine  nicht  geringe  Arbeit  mit  der  Schere  und 
einen  ziemlich  ausgedehnten  Briefwechsel  —  es  ist  aber 
dasselbe,  was  der  Verfasser  eines  jeden  Gelehrten¬ 
lexikons,  eines  jeden  Kunsthandbuchs,  überhaupt  einer 
jeden  statistischen  Arbeit  leisten  muß.  Zuletzt  ist  das 
zum  größten  Teil  Sekretärarbeit.  Ich  bin  überzeugt,  daß 
alle  Fachgenossen  mit  Vergnügen  sich  an  einer  solchen 
Durchsicht  beteiligen  würden.  Für  die  Beamten  der  Denk¬ 
malpflege,  die  ihre  Denkmäler  einigermaßen  auswendig 
kennen  müssen,  ist  diese  Arbeit  gar  nicht  so  groß  und 
ungeheuerlich. 

ln  der  Absteckung  der  Grenzen,  in  der  Zuweisung 
des  Raumes  möchte  man  wohl  einzelnes  noch  geändert 
wissen.  Der  Titel  verheißt  ein  Handbuch  der  deutschen 
Kunstdenkmäler,  und  der  Autor  erklärt  in  der  Vorrede, 
daß  aus  diesem  Grunde  die  große  Masse  der  Wehrbauten 
für  das  Handbuch  nur  sekundäre  Bedeutung  habe  —  inso¬ 
fern  sie  Kunstformen  aufweisen,  seien  sie  genauer  be¬ 
schrieben,  sonst  nur  kurz  genannt.  Ich  halte  das  im  Prinzip 
für  unrichtig.  Dieser  Grundsatz  läßt  eine  wirkliche  Wür¬ 
digung  der  Wehrbauten  gar  nicht  zu.  Die  Entwickelung 
des  Typus  läßt  sich  nur  geben,  wenn  zunächst  von  den 
Schnmekformen  abgesehen  wird.  Das  architektonisch 
Wertvolle  und  Wichtige  liegt  bei  den  Wehrbauten  zunächst 
in  der  Gesamtdisposition,  in  Grundriß  und  Aufbau  —  und 
hierin  liegt  auch  für  die  ganze  Gattung  das  Künstlerische. 
Nun  ist  freilich  die  knappe  Beschreibung  einer  Burgruine 
eine  der  schwierigsten  Aufgaben  für  den  Inventarisator. 
Es  gibt  kein  Schema  wie  bei  den  Kirchenbauten.  Dazu 
ist  die  Sonderling  der  Bauzeiten  ohne  eingehende  Unter¬ 
suchung  oft  ganz  unmöglich.  Aber  Angaben  wie  Haber¬ 
burg.  Burgruine  sehr  zerstört  —  Hallenberg.  Burgruine.  Bis 
1518  vom  Graf  von  Henneberg  bewohnt.  —  Hanstein. 
Burgruine,  im  ganzen  gut  erhalten  und  zum  Teil  ausgebaut. 
—  Reichelsburg.  Burgruine  —  Stolberg.  Schloßruine,  wenig 
erhalten  —  bieten  doch  zu  wenig  und  vor  allem  nichts 
Positives.  Hier  dürfte  etwas  größere  Breite  nichts  schaden. 

Dafür  ist  der  Autor  in  den  größeren  Städten  in  der 
Aufzählung  der  kirchlichen  Denkmäler  etwas  weit  gegangen. 
In  Bamberg  und  Würzburg  z.  B.  sind  auch  alle  kleinen 
Klosteranlagen  genannt,  auch  die  umgebauteu  und  profa¬ 
nierten.  Auch  abgebrochene  Gebäude  aufzuzählen  ist 
sicher  nicht  der  Zweck  des  Handbuchs,  es  sei  denn,  daß 


DAS  NEUE  HANDBUCH  DER  DEUTSCHEN  KUNSTDENKMÄLER 


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sie  erst  in  jüngster  Zeit  beseitigt  wären  und  daß  man 
annehmen  könnte,  es  würde  jemand,  der  sie  etwa  im 
Reiseführer  oder  in  jüngerer  kunstgeschiclitlicher  Literatur 
aufgezählt  fände,  nach  ihnen  suchen.  Dafür  möchte  man 
in  größeren  Städten  gern  wissen,  in  welchen  Straßen 
solche  kleine  Anlagen  zu  finden  sind,  zumal  wenn  sie  jetzt 
ganz  anderem  Zweck  dienen  und  den  Ortseingesessenen 
unter  den  alten  Namen  gar  nicht  bekannt  sind  (so  Bamberg, 
Clarissenkloster,  gegen  1341,  profaniert). 

Gegenüber  dem  verhältnismäßig  breiten  Raume,  der 
den  Werken  der  Architektur  und  der  Großplastik  gewidmet 
ist,  ist  den  Werken  der  Kleinkunst  kaum  ein  Wort  gegönnt. 
Der  Schatzkammer  in  Bamberg  sind  genau  vier  Zeilen 
gewidmet;  die  einzelnen  Stücke  sind  nur  genannt,  ohne 
weitere  Charakterisierung,  die  wichtigsten,  die  ganz  un¬ 
schätzbaren  und  fast  ohne  Parallele  dastehenden  Paramente 
sind  überhaupt  nicht  erwähnt.  Kunstgeschichtlich  ist  diese 
Sammlung  in  der  Bamberger  Schatzkammer  wichtiger  als 
ein  paar  Dutzend  von  den  Durchschnittskirchen  aus  Mittel¬ 
deutschland.  Hier  bietet  Lotz  eigentlich  viel  mehr.  Aus 
dem  Kirchenschatz  zu  Fritzlar  werden  nur  ein  Tragaltärchen 
(soll  heißen;  Reliquientafel)  und  die  Altarleuchter  genannt. 
Dann  heißt  es  »auch  sonst  noch  im  Kirchenschatz  manche 
bemerkenswerte  Stücke  (darunter  ist  z.  B.  das  kostbare 
ottonische  Altarkreuz).  Der  Würzburger  Domschatz  ist 
überhaupt  nicht  genannt. 

Nach  dem  im  Vorwort  aufgestellten  Programm  soll 
von  den  Werken  der  Bildnerei  und  Malerei  unberück¬ 
sichtigt  bleiben,  was  in  Museen  und  Privatsammhmgen 
aufbewahrt  wird;  aufgenonnnen  ist  nur,  was  zum  Schmuck 
und  zum  Mobiliar  der  beschriebenen  Baudenkmäler  gehört. 
Daß  die  Galerien  in  Dresden  und  Kassel  nicht  aufgeführt 
werden,  ist  in  der  Ordnung;  die  sucht  man  zunächst  nicht 
in  diesem  Handbuch  —  sie  haben  vor  allem  ihre  allgemein 
zugänglichen  Kataloge.  Etwas  anderes  ist  es  mit  den 
kleinen  Kunstsammlungen  in  Aschaffenburg,  Würzburg, 
Bamberg,  Gotha,  Pommersfelden,  Coburg,  Jena,  Altenburg. 
Hier  ist  man,  auch  wenn  der  Reiseführer  das  Nötige  ent¬ 
hält  (was  er  nur  in  wenigen  Fällen  tut),  doch  in  dem 
Kunsthandbuch  für  einen  Hinweis  dankbar,  der  nicht  viel 
mehr  als  eine  kurze  Charakteristik  der  Sammlung  mit  An¬ 
gabe  ihrer  Abteilungen  zu  enthalten  braucht.  Bei  der 
Veste  Coburg  sind  die  Sammlungen  in  dieser  Weise  ge¬ 
nannt  —  warum  nicht  auch  sonst?  Bei  Pommersfelden 
ist  erwähnt;  »Unter  den  übrigen  Räumen  ist  das  Vor¬ 
handensein  einer  Galerie  für  Gemälde  bemerkenswert«. 
Warum  nicht  auch  die  heutige  bedeutende  Gemälde¬ 
sammlung  genannt,  warum  nur  der  Raum? 

Wie  dankbar  waren  wir  früher  Lotz  für  seinen  Hinweis 
auf  Bilderhandschriften.  Die  sind  in  dem  neuen  Handbuch 
gänzlich  unter  den  Tisch  gefallen.  Dazu  handelt  es  sich 
in  Würzburg,  Bamberg,  Aschaffenburg,  Gotha  doch  um 
Kunstdenkmäler  ersten  Ranges,  ohne  die  die  deutsche 
Kunstgeschichte  gar  nicht  denkbar  ist.  Die  Angabe  kann 
hier  die  knappeste  sein  —  eine  halbe  Seite  würde  für 
Bamberg  vollauf  genügen.  Es  ist  natürlich  hier  wieder 
schwer,  die  Grenze  zu  ziehen;  Wie  soll  man  es  dann  mit 
den  Bibliotheken  von  München  und  Berlin  halten?  Ich 
meine  nur,  man  könnte  auch  hier  die  Gattungen  charak¬ 
terisieren.  Das  Heftchen  ist  jetzt  durchaus  nicht  zu  stark. 
Man  möchte  eher  größere  Breite  als  weitere  Einschränkung 
wünschen.  Ein  Bogen  mehr  —  und  man  könnte  alle  diese 
Wünsche  erfüllen,  einer  großen  Reihe  von  Benutzern 
schätzenswerte  Dienste  leisten,  den  inneren  Wert  des 
Büchleins  erhöhen,  ohne  es  irgendwie  zu  belasten. 

Es  gab  für  das  Handbuch  zwei  Pole  und  zwei  Vor¬ 
bilder;  die  trockene  von  künstlerischer  Einschätzung  völlig 
absehende  sachliche  Nüchternheit  von  Lotz  und  die  sub¬ 


jektive  temperamentvolle  Kritik  von  Burckhardt.  Dehio 
hat  sich  mehr  dem  höchst  persönlichen  Ton  des  Cicerone 
genähert.  Dies  stark  subjektive  Element  mag  man  nicht 
missen  —  es  gibt  den  Schilderungen  einen  besonderen 
Reiz,  gelegentlich  hat  die  Charakteristn.:  eine  fast  epi¬ 
grammatische  Kürze.  In  dieser  unmittelbaren  Verknüpfung 
der  Beschreibung  mit  der  Kritik  liegt  ein  ganz  bestimmter 
Vorzug;  hier  ist  für  ähnliche  Charakteristiken  zugleich  ein 
sprachliches  Vorbild  aufgestellt.  In  der  Schilderung  der 
Flauptbauten  liegt  auch  die  wertvollste  wissenschaftliche 
Arbeit;  man  lese,  was  der  Autor  über  Arnstadt,  Bamberg, 
Marburg,  Meißen,  Würzburg  sagt.  Ganz  vortrefflich  ist 
auch  die  eindringliche  Charakteristik  der  Skulpturen  von 
Bamberg,  Naumburg,  Ereiberg,  Wechselburg.  Den  zufällig 
gerade  jetzt  die  kunsthistorische  Republik  bewegenden 
Streitfragen  ist  vielleicht  hier  etwas  zu  viel  Beachtung  ge¬ 
schenkt  —  in  zehn  Jahren  werden  nach  diesen  bescheidenen 
Kohlensäureausscheidungen  andere  Stürme  sich  in  dem 
Wasserglase  —  ach  leider  nur  Wasserglase  —  aus  dem 
wir  schlürfen,  vollziehen. 

Ob  ein  solches  Flandbuch,  dessen  Grundstock  etwas 
Dauerndes  bleiben  soll,  Verdikte  bringen  darf,  die  allzusehr 
den  Stempel  der  Kunstanschauung  vom  Jahr  1Q05  tragen, 
wage  ich  zu  bezweifeln.  So  wenn  die  Außenarchitektur 
von  Banz  abstoßend  genannt  wird,  wenn  dem  Meister 
Neuniann  in  Vierzehnheiligen  schwere  Eehler  vorgerechnet 
werden,  durch  die  er  sein  eigenes  Werk  gestört  hat,  die 
ganz  entsetzliche  Gestalt  der  Nebenräume,  die  unentrinnbar 
störenden  Eenstereinschnitte.  Solche  richtende  Kritik  übte 
Burckhardt  ja  auch.  Aber  gerade  das  erscheint  uns  als 
das  Unfreie,  zeitlich  Gebundene  bei  ihm.  Und  endlich 
darf  diese  geistreiche  und  pointierte  Charakteristik  nicht 
auf  Kosten  der  eindeutigen  sachlichen  Beschreibung  er¬ 
folgen.  In  jedem  Fall  verlangt  man  zuerst  zu  wissen, 
welche  Gestalt,  welchen  Grundriß,  auch  welche  Größe 
der  Bau  hat.  Die  Beschreibung  der  Eremitage  in  Bayreuth 
beginnt  mit  den  Worten;  »Eür  bestimmte  Seiten  der  Kultur 
des  18.  Jahrhunderts  eine  Illustration  von  kostbarer  Un¬ 
mittelbarkeit;  weniges  dergleichen  hat  sich  so  gut  erhalten. 
Begonnen  von  Georg  Wilhelm  ca.  1720.  Eine  mit 
pedantischem  Ernst  durchgeführte  Maskerade  .  .  .«  Von 
dem  Fasanerieschloß  in  Moritzburg,  von  dem  Schloß 
Wilhehnshöhe  erhalten  wir  wohl  eine  künstlerische  Cha¬ 
rakteristik,  aber  gar  keine  Beschreibung.  Den  Gartenan¬ 
lagen  möchte  man  gern  mehr  Beachtung  geschenkt  wissen, 
sie  werden  ja  ganz  im  allgemeinen  viel  zu  stiefmütterlich 
der  Architektur  gegenüber  behandelt  —  und  den  großen 
Planschöpfern  des  17.  und  18.  Jahrhunderts  waren  s/^  doch 
die  Hauptsache,  die  Schlösser  nur  ein  Moment  in  dieser 
großartigen  Komposition;  der  Park  von  Wilhelmshöhe  ist 
hier  ein  Kunstwerk  ersten  Ranges.  Wie  wenig  gibt  eine 
Beschreibung  des  Parks  von  Sanspareil  in  Bayreuth  Park 
mit  allerlei  Grottenarchitektur,  Naturtheater  usw.,  Reflex 
von  Fenelons  Telemach  in  vollem  Verfall«.  Dabei  gehören 
im  übrigen  die  Schilderungen  der  Anlagen  des  Barock  und 
des  Rokoko,  von  Vierzehnheiligen  und  von  Würzburg,  von 
Dresden  und  von  Bayreuth  gerade  zu  den  feinsten  und 
anmutigsten  Partien  des  Buches.  Den  persönlichen  Ton 
an  sich  möchte  ich  gewiß  nicht  ausschalten  und  ich  gestehe 
gern,  daß  ich  lieber  im  Bayle  und  in  Diderot  und  d’Alemberts 
Encyclopedie  nachlese  als  im  Brockhaus  und  im  Meyer. 

Diese  kleinen  Bedenken  sollen  nicht  kleinlich  er¬ 
scheinen.  Sie  wollen  den  Wert  des  Buches  und  der  darin 
geleisteten  erstaunlichen  Arbeit  nicht  herabsetzen.  Sie 
möchten  aber  helfen,  daß  die  künftigen  Bände  noch  inten¬ 
siver  den  Bedürfnissen  all  der  verschiedenen  Benutzer  ge¬ 
recht  würden  —  und  sie  möchten  die  fruchtbare  Mitarbeit 
aller  Fachgenossen  hierzu  anrufen. 


DAS  Nf.ÜE  HANDBUCH  DER  DEUTSCHEN  KUNSTDENKMÄLER  —  LITERATUR 


as  die  \  erlagsbiiclihandluiig  zu  dem  Buche  geleistet 
l;.u.  i-n.  «i;ch  erstaunlich,  aber  nach  der  Seite  der  Geschinack- 
Die  einfachsten  Grundsätze  einer  anständigen 
'riiLi.inordnimg  scheinen  der  Druckerei  noch  verborgen 
gcvecsen  zu  sein.  Verscliiedene  Typengattungen,  schlecht 
verteilt,  Unsicherheit  in  der  Schreibart  (Innentitel :  Deutsch, 
Auhentitel:  deutsch),  Interpunktion  am  falschen  Platze. 
Die  geschmacklos  an  Stelle  des  Schmutztitels  dem  Titel¬ 
blatt  vorgestellte  Karte  ist  jämmerlich.  Der  Einband  ist 
miserabel,  das  Leinen  des  Rückens  reißt  bei  der  geringsten 
Strapazierung  des  Büchleins,  das  man  doch  dauernd  in  der 
Tasche  führen  soll,  sofort  durch.  Als  Vorsatzpapier  ist 
das  billigste  graue  Klosettpapier  verwandt.  Die  äußere 
Einbanddecke  huldigt  allzu  geflissentlich  einer  wahren 
Zisterzienseraskese.  Bescheidenheit  ist  ja  eine  gute  Sache, 
aber  man  darf  sie  nicht  mißbrauchen.  Paul  ciemcn. 


Das  Schloß  zu  Aschaffenburg.  Von  Dr.  phil.  Otto  Schulze- 

Kolbitz.  (Studien  zur  deutschen  Kunstgeschichte.  Heft  65.) 

J.  H.  Heitz.  (Heitz  &  Mündel.)  Straßburg  1905. 

Die  eingehende  Studie  stellt  die  Baugeschichte  des 
Aschaffenburger  Schlosses  an  Hand  urkundlichen  Materiales, 
alter  Abbildungen  und  Eorschungen  am  Bau  selbst  fest 
und  berichtigt  auch  namentlich  die  seitherige  Vorstellung 
über  den  Standort  des  sogenannten  »alten  Schlosses«  (den 
Interimsbau).  Entsprechend  den  drei  wesentlichsten  Bau¬ 
perioden  schildert  Verfasser  das  alte  Schloß  (bis  1552), 
den  Notbau  (sogenanntes  »altes  Schloß«)  von  1556  bis 
1606,  endlich  den  Neubau,  das  berühmte  Werk  Meister 
Ridingers,  wie  es  jetzt  noch  vor  uns  steht.  Dieser  letzte 
Teil  des  Buches  ist  übersichtlich  gegliedert,  nach  Bauherr 
und  Bauveranlassung,  Wiedergabe  vorhandener  Urkunden 
und  Abbildungen,  endlich  Beschreibung  des  vorhandenen 
Baues  selbst.  Im  Anhang  sind  Auszüge  aus  Urkunden, 
Reisehandbüchern,  topographischen  und  geographischen 
Werken,  sowie  ein  Verzeichnis  der  Münzen  mit  Abbildungen 
des  Schlosses  zusammengestellt. 

Wie  der  Verfasser  nunmehr  festgestellt  hat,  stand  das 
älteste  Schloß  an  gleicher  Stelle  wie  das  jetzige;  sein  ein¬ 
ziger  Überrest,  der  schon  1337  errichtete  Streitturm,  wurde 
in  den  Neubau  Ridingers  einbezogen.  Eine  Zeichnung 
Veit  Hirsvogels  des  Jüngeren,  deren  Entstehung  in  die 
Jahre  1530  bis  1540  zu  setzen  ist,  gibt  uns  das  Aussehen 
des  malerisch  gruppierten  ältesten  Baues  wieder.  1552 
wird  er  auf  Geheiß  des  Markgrafen  Albrecht  von  Branden¬ 
burg-Kulmbach  geplündert  und  aus  Übermut  in  Brand  ge¬ 
steckt.  1566  sah  der  Graf  von  Zimmern  die  traurigen 
Reste  und  verwünscht  den  Urheber  dieser  Greuel. 

In  der  folgenden  Zeit  wird  der  verloren  gegangene  Bau 
ersetzt  durch  Adaptierung  kleinerer  in  der  Nähe  liegender 
Nebengebäude  und  Wohnhäuser,  die  bei  Merian  wie  in 
dem  Prospekte  Ridingers  als  »altes  Schloß«  bezeichnet  sind. 

Nach  der  Wahl  des  Erzbischofs  Schweickhardt  von 
Kronenborg  1604  zum  Kurfürsten  ändert  sich  dieser  Zu¬ 
stand.  1605  wird  mit  dem  Neubau  begonnen,  der  am 
17.  Eebruar  1614  bezogen  wird,  nachdem,  wie  Ridinger 
schreibt,  der  »jämmerliche  Anblick  des  Trümmerhaufens« 
endlich  vernichtet  und  die  Erzbischöfe  nunmehr  wieder 
eine  würdige  Residenz  haben,  nachdem  sie  sich  »mit  ihrer 
Hofhaltung  außerhalb  in  einem  geringen  Werk  hatten  auf¬ 
halten  müssen«.  Die  Interimsbauten  selbst,  1673  teilweise 
verbrannt,  werden  1783  von  Fürstbischof  Friedrich  Karl 


von  Erthal  gänzlich  abgerissen.  Von  dem  neuen  Schlo߬ 
bau  sind  eine  größere  Anzahl  alter  Abbildungeu  erhalten 
am  wertvollsten  aber  ist  die  vom  Architekten  des  Baues 
selbst  verfaßte  Monographie,  die  als  ein  hochinteressantes 
literarisches  Denkmal  zur  Baugeschichte  des  17. Jahrhunderts 
bezeichnet  werden  darf.  Ridingers  Vorwort  enthält  eine 
Reihe  auch  für  unsere  Verhältnisse  höchst  beherzigens¬ 
werter  Winke.  Er  betont  mit  Recht,  daß  zur  Ausführung 
nicht  nur  gute  Pläne,  sondern  auch  tüchtig  geschulte  Hand¬ 
werker  vonnöten  sind.  Als  begeisterter  und  selbstloser 
Künstler  will  er  durch  sein  Werk  auch  jungen  Handwerks¬ 
leuten  Nutzen  bringen,  es  soll  dartun,  daß  »ein  sinnreicher 
Gesell  nicht  allein  bei  dem  Klüpfel  und  Eisen  soll  bleiben 
lassen,  sondern  er  muß  sich  auch  befleißigen,  die  rechten 
architektonischen  Fundamente  zu  erlernen,  wozu  auch  in¬ 
sonderheit  die  Kunst  der  Perspektive  und  Optik  gehören«. 
Auch  darin  war  Ridinger  ein  großer  Meister,  er  sieht  seinen 
Lebenszweck  auch  in  der  Hebung  des  Handwerkstandes. 

Es  ist  dankbar  zu  begrüßen,  daß  Verfasser  die  Grund¬ 
risse  nach  Ridingers  Werk  wiedergegeben  hat,  wir  lernen 
hierdurch  nicht  nur  den  Bau  in  seiner  ursprünglich  ge¬ 
planten  Fassung  kennen,  sondern  auch  die  vom  Meister 
teilweise  durchgeführte  Art  der  perspektivischen  Darstellung 
der  Grundrisse.  Ridinger  schneidet  z.  B.  das  Erdgeschoß 
dicht  unterhalb  der  Decke  und  stellt  es  sodann  aus  der 
Vogelschau  gesehen  dar,  so  daß  man  von  oben  in  die 
Räume  hineinsieht  und  sich  über  alle  Einzelheiten  leicht 
orientieren  kann,  eine  namentlich  auch  für  Laien  höchst 
instruktive  Darstellungsweise. 

Die  Hauptrechnung  der  Jahre  1605  bis  1618  hat  sich 
glücklicherweise  erhalten.  Sie  berichtet  uns,  daß  das  ge¬ 
waltige  Werk  die  Summe  von  901  771  fl.  verschlungen  hat, 
die  damals  üblichen  Frondienste  nicht  gerechnet.  Als 
Bruchort  des  Sandsteinmateriales  nennt  ein  Wochenlohn¬ 
zettel  Obernburg  und  Miltenberg. 

Von  jüngeren  Quellen  interessiert  namentlich  das  Reise¬ 
tagebuch  des  Monsieur  de  Monconys,  Conseilhr  du  Roy 
en  ses  conseils  d’Estat  von  1675,  das  den  plastischen 
Schmuck  des  Kaisersaales  sehr  rühmt  (le  plat-fond  est 
d’assez  beau  bas  relief  de  plastre).  Leider  wurde  dieser 
schöne  Saal  durch  den  Umbau  des  18.  Jahrhunderts  ver¬ 
nichtet.  Die  bei  Ridinger  dargestellte  Dachkonstruktion 
vermissen  wir  leider  unter  den  beigegebenen  Abbildungen, 
sie  wäre  im  Interesse  der  historischen  Architektur  erwünscht 
gewesen. 

Ridingers  eigenartige  Wiedergabe  plastischen  Schmuckes 
durch  perspektivische  Darstellung  in  sogenannten  geraden 
Ansichten  geht  aus  der  Giebelzeichnung  Tafel  14  hervor. 

Die  Baubeschreibung  selbst  läßt  sich  hier  im  Auszuge 
ohne  gleichzeitige  Beigabe  von  Zeichnungen  kaum  schildern, 
erwähnt  seien  die  großen  Futtermauerkonstruktionen,  die 
teilweise  zur  Anlage  großer  Terrassen  am  Mainufer  ent¬ 
lang  dienten.  Der  gewaltige  Bau  wurde  rasch  gefördert, 
so  z.  B.  das  Kellergeschoß  in  einem  Jahre  vollendet. 

Für  die  Künstlergeschichte  des  17.  Jahrhunderts  ist  von 
Wert  die  Feststellung  des  Urhebers  der  Skulpturen  der 
Schloßkapelle,  als  welchen  die  Baurechnung  des  Jahres 
1618  den  Bildhauer  Hans  Juncker  nennt.  Dem  Verfasser 
ist  es  gelungen,  den  teilweise  recht  spröden  Stoff  geschickt 
und  anregend  zu  behandeln,  für  die  Benutzung  des  Buches 
in  Architektenkreisen  wäre  die  Wiedergabe  einer  Anzahl 
Maßaufnahmen  als  Textabbildungen  eine  wertvolle  Be¬ 
reicherung  gewesen.  Adolf  Zeller. 


Herausgeber  und  verantwortliche  Redaktion:  E.  A.  Seemann,  Leipzig,  Querstraße  13 
Druck  von  Ernst  Hedrich  Nachf.,  g.  m.  b.  h.,  Leipzig 


ZEITSCHRIFT  FÜR  BILDENDE  KUNST  1Q06 


ORIOINALRADIERUNO  VON  HEKMINE  LAUKOTA 


9 


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1 


Zeitscfirift  für  brfdende  Xunsf  1906 


^tefierhesucß 

Qemäfde  von  J2)eo 


LEO  PUTZ 


BIEDEFiMEIER 


LEO  PUTZ 

Von  Wilhelm  Michel 


Der  Name  Putz  weckt  die  Erinnerung  an  sonnige 
Blumenbeete,  tiefgrüne  Baumschatten,  an 
flirrende  Seidenstoffe  und  anblühendeMädchen- 
körper,  deren  zarte  Haut  im  köstlichen  Email  schimmert. 
Er  weckt  die  Erinnerung  an  strahlende  Farbenfeste, 
die  der  Gottheit  des  Lichtes  zu  Ehren  gefeiert  wurden. 
Freilich  spielt  das  Licht  in  jedem  Kunstwerk  eine 
bestimmte  Rolle,  da  es  ja  erst  Farben  und  Formen 
aus  der  Nacht  hervorruft.  Putz  aber  gehört  zu  jenen 
Künstlern,  bei  denen  die  rein  sinnliche  Erscheinung 
und  Wirkung  des  Lichtes  und  der  Farbe  die  In¬ 
spiration  auslöst.  Das  Licht  ist  der  alleinige  Held 
all  der  Idyllen,  Epen  und  Tragödien,  die  ihr  Pinsel 
vor  uns  entstehen  läßt,  und  sie  machen  sich  zu 
Herolden  seiner  tausendgestaltigen  Taten.  Ihre  Werke 
haben  als  hauptsächlichen  Vorzug  immer  den,  daß 
sie  das  Licht  bei  einer  besonders  eindrucksvollen 
Leistung  zeigen. 

Bei  Leo  Putz,  dem  in  München  schaffenden  Tiroler, 
läßt  sich  eine  Entwickelung  von  der  gegenständlichen 
zur  Lichtmalerei  genau  verfolgen.  Er  begann  mit 
Werken,  deren  Wesen  noch  von  allerhand  Gedank¬ 
lichem  durchdrungem  war.  Er  malte  das  Triptychon 
vom  Gestiefelten  Kater,  er  konzipierte  einen  großen, 
pathetischen  Gedanken  in  dem  nicht  zur  Ausführung 
gediehenen  Figurenbilde  »Vom  Tode  zum  Leben«, 
er  brachte  uns  gar  eine  gewaltige  Tafel  mit  dem 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N  F.  XVIII  H,  3 


moralisierenden  Titel  »Vanitas«,  die  er  heute  mit 
Recht  zu  seinen  Jugendsünden  zählt. 

An  sich  betrachtet,  tut  es  freilich  einem  Bilde  keinen 
Eintrag,  wenn  es  außer  den  Sinnen  auch  den  Intellekt 
aufruft  als  Empfangsstelle  der  symbolischen  Gedanken¬ 
inhalte,  die  sich  in  seine  Linien  und  Farben  hinein¬ 
geschlichen  haben.  Aber  die  Erfahrung  lehrt,  daß 
diese  Bedeutungsvorstellungen  im  Schaffen  jugend¬ 
licher  Künstler  fast  stets  einen  Irrtum  und  eine 
Hemmung  bedeuten. 

Der  Jüngling  ist  seinem  Wesen  nach  Idealist  und 
Dualist.  Seine  Sinne  sind  unreif  und  undiszipliniert, 
und  deshalb  erscheint  ihm  die  Wirklichkeit  als  das 
Reich  des  Unzulänglichen  und  Unfertigen,  in  welchem 
die  geistigen  Werte,  an  denen  sein  Herz  hängt,  nur 
eine  sehr  mangelhafte  Ausprägung  finden.  Er  zieht 
also  zwischen  Geist  und  Erscheinung,  zwischen  Seele 
und  Körper  eine  scharfe  Trennungslinie.  Da  er  aber 
begriffen  hat,  daß  die  Kunst  darauf  ausgeht.  Seelisches 
auszudrücken,  wird  seine  Kunst  eine  symbolistische  in 
des  Wortes  weiterer  Bedeutung.  Aber  mit  dem  heran¬ 
nahenden  Mannesalter  wächst  die  Stärke  und  der 
Reichtum  seiner  sinnlichen  Erlebnisse.  Der  ganze 
Mensch  nimmt  daran  Teil,  alles,  was  an  Lebenskraft 
in  ihm  ist,  wird  bei  der  Aufnahme  und  Vertiefung 
äußerer  Eindrücke  wirksam.  Erst  der  Mann  kommt 
in  die  Lage,  mit  Goethe  die  »glücklichen  Augen« 

8 


LEO  PUTZ 


iMU  alles  zu  preisen,  was  je  sie  gesehen.  Und  er  er¬ 
kennt,  daß  diejenige  Kunst  die  »seelenhafteste<'  ist, 
die  von  den  stärksten  Sinneserlebnissen  zehrt.  Den 
gedanklichen  Gehalt,  die  absichtlich  eingeführten  Be¬ 
deutungsvorstellungen  lernt  er  als  entbehrliches,  unter 
Llmständen  sogar  schädliches  Beiwerk  einschätzen. 

So  ist  auch  Leo  Putz  zu  immer  einfacheren  Gegen¬ 
ständen  gekommen,  je  mehr  sich  die  Kraft  seiner 
malerischen  Anschauung,  seine  Fähigkeit  zu  optischen 
Erlebnissen  entwickelte.  In  seinen  kräftigen,  guten 
Sinnen  hat  er  das  Kapital  erkannt,  von  dem  seine 
Kunst  zu  zehren  hat.  So  konnte  es  kommen,  daß 


Fanfaren  der  vollen  Sonnenglut  sind  schön  und  be¬ 
rauschend,  aber  auch  die  sanften  Flötentöne  des  zer¬ 
streuten  Tageslichtes  sind  Musik,  nicht  so  reich 
orchestriert,  dafür  jedoch  intimer  und  innerhalb  eines 
geringeren  Umfanges  delikater  harmonisiert. 

ln  zahlreichen  Interieurs  und  Stilleben  hat  Leo 
Putz  dieses  Binnenlicht  verherrlicht.  Die  zitternden 
Farbtöne  scheinen  hier  wie  leichte  bunte  Schmetter¬ 
linge  über  den  Dingen  zu  schweben.  In  klösterlicher 
Abgeschiedenheit  stehen  die  Dinge  da,  und  man 
spürt  aus  ihnen  einen  Anhauch  von  Keuschheit  und 
leidenschaftsloser  Ruhe.  Sind  es  auch  nur  zierliche 


LEO  PUTZ 

die  großen  modernen  Virtuosen  des  Sehens,  vor  allem 
Manet,  auf  ihn  Einfluß  gewannen  und  daß  die  Taten 
des  Lichtes  zum  alleinigen  Gegenstände  seines  künst¬ 
lerischen  Bemühens  wurden. 

Er  liebt  über  alles  die  Sonne,  die  heiß  auf  bunten 
Tulpen-  und  Cynienbeeten  liegt,  die  ihre  zitternden 
Kringeln  auf  duftige  Kleiderstoffe  malt  und  bei  der 
Berührung  mit  der  durchsichtigen  Haut  eines  Frauen¬ 
körpers  einen  sachten,  blassen  Blutschein  annimmt. 
Aber  ebenso  sehr  wie  die  Sonne  liebt  er  das  fromme, 
tote  Binnenlicht,  das  kühl  und  rein  über  den  Gegen¬ 
ständen  einer  stillen  Stube  liegt  und  für  dessen  ver¬ 
schwiegene  Reize  gerade  moderne  Nerven  eine  so 
hohe  Empfänglichkeit  besitzen.  Die  jauchzenden 


BABETTE 

weiße  Teetassen  oder  wie  z.  B.  in  dem  »Grauen  Kleid« 
achtlos  verstreute  Kleidungsstücke,  an  denen  der 
Künstler  die  Wirkungen  des  Binnenlichtes  demonstriert, 
man  wird  vor  ihnen  doch  in  eine  seltsame  Rührung 
versetzt,  in  eine  Stimmung  voll  sanfter  Schwermut 
und  schmerzloser  Entsagung.  Wenn  man  in  einen 
stillen,  klaren  Teich  hinabsieht  und  drunten  die  selt¬ 
sam  entrückte,  verzauberte  Welt  von  Pflanzen,  Steinen 
und  verfärbten  Holzstücken  betrachtet,  erlebt  man 
ähnliches  an  dumpfen  Rührungen  und  vagen  Sehn¬ 
süchten.  Manche  Interieurs  von  Putz  sind  so  gemalt, 
als  erfülle  den  Raum  eine  blanke,  klare  Wasserflut, 
in  der  das  Licht  ertrinkt  und  alle  Farben  ruhig  und 
stille  werden.  Die  tiefe  lyrische  Wirkung  dieser  Be- 


LEO  PUTZ 


55 


leuchtung  kann  als  vortrefflicher  Beleg  dafür  gelten, 
wieviel  an  »Seele«  das  Resultat  einer  reinen  sinn¬ 
lichen  Beobachtung  enthalten  kann. 

Dieselbe  wundervolle  Ruhe  des  Lichtes  wie  die 
Interieurs  weisen  übrigens  auch  einige  Freilichtarbeiten 
des  Künstlers  auf.  Sie  haben  jenes  stumpfe,  zerstreute 
Licht,  das  zur  Herbstzeit  nicht  selten  unsere  Augen 
labt  und  das  zumal  den  Münchenern  von  der  Künstler¬ 
laune  des  heimischen  Himmels  oft  genug  beschert 
wird.  Ich  möchte  hierher  auch  das  Gemälde  »Spät¬ 
sommer«  rechnen.  Eine  wehmütige,  verspätete  Sonne 
liegt  über  dem  weißen  Oartentisch  und  der  Frauen¬ 
gestalt,  die  mit  einem  Ausdruck  leiser  Müdigkeit  und 
eines  grundlosen  Herbst  Verdrusses  zur  Seite  blickt. 


all  das  hat  er  wieder  und  wieder  erlebt  und  mit 
überzeugenden  Mitteln  verdolmefscLt,  Mit  einem 
Temperament,  das  an  Rubens  denken  läßt,  hat  er 
besonders  die  derben  Reize  draller  .Münchener  Mägd¬ 
lein  geschildert,  deren  blondes  Fleisch  Mdi  in  üppigen 
lebenslustigen  Formen  entfaltet.  Einen  feineren  Typus 
stellt  sein  »Atelierbesuch«  dar,  und  auch  ihm  ist  er 
in  vollem  Maße  gerecht  geworden.  Hat  er  doch 
schon  durch  seine  Rokokobilder,  besonders  die  be¬ 
rühmte  »Begegnung«  dargetan,  daß  ihm  ein  ausge¬ 
prägter  Sinn  für  die  Eleganz  der  Bewegung  und  die 
Zierlichkeit  der  Formen  innewohnt.  Das  feinste 
Meißener  Porzellanfigürchen  steht  nicht  pikanter  und 
libellenhafter  da  als  die  artige,  hochfrisierte  Rokoko- 


LEO  PUTZ 

Das  zaghafte,  halb  verschleierte  Licht  hebt  sogar  die 
toten  Gegenstände,  Kaffeegeschirr  und  Obstkörb¬ 
chen,  mit  einer  unnachahmlichen,  preziösen  Be¬ 
tonung  hervor. 

Die  bedeutendste,  nuancierteste  Leistung  des  Lichtes, 
die  wir  kennen,  ist  die  formale  und  koloristische 
Herausarbeitung  des  nackten  menschlichen  Körpers. 
Kein  Wunder,  daß  Leo  Putz  von  diesem  Problem 
am  nachhaltigsten  gereizt  wurde,  ln  der  Schilderung 
des  nackten  weiblichen  Körpers  hat  er  es  heute  schon 
zu  einer  Meisterschaft  gebracht,  die  wohl  von  keinem 
zeitgenössischen  Maler  Deutschlands  übertroffen  wird. 
Den  sensationellen  Farbenreiz  der  nackten  Haut,  ihre 
einzig  dastehende  stoffliche  Eigenart,  das  animalische 
Leben,  das  ihre  empfindlichen  Flächen  stets  verändert, 
den  leuchtenden  Flimmer,  der  ihre  Kontur  umgibt. 


IMMENSEE 

Sylphide,  der  hier  ein  skurriler  Verehrer  des  schwachen 
und  ach!  so  schönen  Geschlechtes  inbrünstig  das 
Händchen  küßt. 

Der  Geist  einer  Kunst  bestimmt  ihre  Technik. 
Ja,  man  kann  wohl  sagen,  daß  er  mit  ihr  identisch 
ist.  Wenn  wir  trotzdem  für  beides  verschiedene  Namen 
haben,  so  entspringt  dies  nur  aus  einem  Wechsel  des 
Standpunktes.  Die  Sache  aber  bleibt  dieselbe  und 
bewahrt  ihre  Einheitlichkeit. 

Putzens  Lichtanschauung  ist  ohne  den  breiten, 
weichen  Strich  seines  Pinsels  nicht  denkbar.  Wer 
das  Licht  so  sieht  wie  Putz,  der  wird  zu  seinen 
Mitteln  greifen  müssen,  um  es  darzustellen,  wie 
vor  ihm  Manet  und  Trübner  zu  ähnlichen  Mitteln 
gelangt  sind. 

Auf  diesem  Pinselstrich  beruht  einerseits  Putzens 


8 


LEO  PUTZ 


LEO  PUTZ 

großzügige,  lockere  Formbehandlung,  andererseits  die 
beispiellose  Reinheit  seiner  Pigmente.  Bis  in  die 
tiefsten  Schatten partien  hinein  erklingen  bei  ihm  stets 
sonore,  wohllautende  Töne,  die  nicht  die  mindeste 
Trübung  befleckt.  Rein  und  voll  rauschen  seine 
Harmonien  daher,  vergleichbar  der  überwältigenden, 
glockenklaren  Melodie  Mozarts.  Ihr  schwelgendes 
Dahinfluten  wird  von  keiner  Dissonanz  gehemmt; 
die  verwendet  Putz  nicht  einmal  als  Kunstmittel. 
Seinem  harmonischen,  unproblematischen  Gemüt  ent¬ 
steigen  nur  ebenmäßige,  voll  erblühte  Farbengestalten. 
Er  überschüttet  uns  mit  einer  verschwenderischen 
Fülle  von  optischem  Wohllaut,  in  dessen  Genuß  wir 
zu  harmlosen,  glücklichen  Kindern  werden. 

Putz  steht  heute  im  siebenunddreißigsten  Lebens¬ 
jahre.  Das  sonnige,  schöne  Meran  ist  seine  Heimat, 
und  ihr  verdankt  seine  Natur  die  reichen  Schätze  an 
Temperament  und  sinnlicher  Tüchtigkeit.  München 
und  Paris  haben  den  Künstler  in  ihm  gebildet,  und 


SPÄTSOMMER 

heute  zählt  er  mit  Frier  und  Eichler  zu  den  ersten 
der  »Scholle«.  Seine  große  Kollektivausstellung,  die 
dieses  Jahr  in  den  Räumen  des  Braklschen  Kunst¬ 
salons  in  München  stattfand,  war  ein  Ereignis,  das 
den  Besuchern  nicht  sobald  aus  dem  Gedächtnis  ver¬ 
schwinden  wird. 

Zur  abschließenden  Kennzeichnung  seines  Wesens 
kann  ich  nur  ein  Wort  wiederholen,  welches  bei 
dieser  Gelegenheit  niedergeschrieben  wurde:  Aus  dem 
Glück  der  Sinne  geboren,  bringt  seine  Kunst  dieses 
Glück  wieder  im  Genießenden  hervor:  ein  kindliches, 
sonniges,  animalisches,  aber  deshalb  nicht  weniger 
tiefes  und  echtes  Glück.  Putz  ist  Gegenwarts-  und 
Diesseitsmensch  mit  allen  seinen  Instinkten.  Seine 
Kunst  steht  mit  beiden  Füßen  auf  der  Erde.  Bei  aller 
Kultur  ist  sie  vollwangig,  fast  robust,  von  keinem 
Gedanken  angekränkelt,  voll  halkyonischer  Heiterkeit, 
und  stammt  aus  einem  Lande,  wo  ewig  die  Sonne 
scheint. 


LEO  PUTZ 


FREILICHTSTUDIE 


LEO  PUTZ 


MERANER  SALTNER 


ZEICHNUNG  VON  Al  EXANDF^E  BENOIS 


ZWEI  JAHRHUNDERTE  RUSSISCHER  KUNST 

Von  Igor  Grabar  in  Moskau 


BIS  vor  kurzem  kannte  Europa  nur  vereinzelte 
russische  Künstler:  Werestschagin  und  Anto- 
kolski  von  den  Älteren,  Somov  und  Maliawin 
von  den  Jüngeren  —  waren  die  wenigen  Namen, 
welche  bisher  den  westeuropäischen  Künstlerkreisen 
geläufig  waren.  Die  große  russische  Ausstellung, 
die  im  Pariser  Salon  d’Automne  Gastfreundschaft  ge¬ 
noß,  und  heuer  zum  großen  Teil  in  die  Säle  von 
Schuhes  Kunstsalon  nach  Berlin  übersiedelt,  bietet 
zum  erstenmal  Gelegenheit,  einen  Blick  in  die  Ent¬ 
wicklungsgeschichte  russischer  Kunst  zu  werfen.  Das 
meiste  von  dem  hier  Ausgestellten  war  für  Paris  ein 
vollkommenes  Neuland.  Es  kam  so  unerwartet,  daß 
der  Ausdruck  »revelation  —  Offenbarung  —  zum 
geflügelten  Wort  wurde  und  wohl  ebenso  oft  in  den 
Kritiken  zu  lesen  war,  wie  es  die  Gefühle  des  Pu¬ 
blikums  in  den  Ausstellungssälen  zum  Ausdruck 
brachte. 

Schon  der  Umstand,  daß  trotz  dem  Krachen  der 
Bomben  und  dem  Geknatter  der  Gewehrsalven 
beim  blutigen  Scheine  der  Riesenbrände  ein  Häuf¬ 
chen  in  die  Schönheit  verliebter  Phantasten  Kunst¬ 
schätze  sammelte,  ja  sogar  die  Willenskraft  hatte, 
selbst  zu  arbeiten  -  allein  dies  schon  mußte  bei 
den  westeuropäischen  Künstlern  Sympathien  für  ihre 
östlichen  Kollegen  erwecken. 

Der  Anreger  und  Hauptveranstalter  der  Ausstellung, 
Sergei  Diagilev,  ist  eine  der  bedeutendsten  Erscheinungen 
in  der  modernen  russischen  Kunst.  Dieser  mit  feinem 
Geschmack  und  eiserner  Energie  begabte  Mensch  hat 
es  verstanden,  alles  Neue  und  Lebensvolle  in  der 
russischen  Kunst  um  sich  zu  scharen.  Er  gründete 


vor  acht  Jahren  die  Zeitschrift  »Mir  Iskusstwa«,  welche 
nicht  bloß  das  Organ  der  jungen  bildenden  Kunst 
wurde,  sondern  auch  den  bahnbrechenden  philoso¬ 
phischen  Theorien  Mereschkovskis  und  Rosanovs  Platz 
gab,  wie  auch  die  Dichtungen  Briussovs,  Baimonts, 
W.  Iwanovs  und  Andrei  Bielys  brachte.  Dieser 
Kraftmensch  stellte  sich  eine  Riesenaufgabe.  Er  durch¬ 
querte  Rußland  und  verschaffte  sich  Eingang  in  alle 
Gutshäuser  und  Gehöfte,  wo  er  nur  die  Anwesenheit 
von  Kunstwerken  vermuten  konnte.  Ehe  es  zu  spät 
war  und  alles  vom  Feuer  vernichtet,  oder  die  gerade¬ 
zu  verbrecherische  Nachlässigkeit  sich  in  Mode  ver¬ 
wandelt  hatte,  sammelte  er,  was  er  konnte,  registrierte 
und  photographierte  es  für  die  kommenden  Geschlechter. 
Und  nicht  bloß  Rußland  hat  er  einen  Dienst  erwiesen: 
auch  Frankreich,  Italien,  Schweden  und  Deutschland 
sind  ihm  zu  Dank  verpflichtet.  Mehr  als  einen  von 
den  besten  Künstlern  dieser  Länder  rettete  er  in  des 
Wortes  ureigenster  Bedeutung.  Ein  Porträt  Roslins, 
vielleicht  das  beste  dieses  Zauberers  des  i8.  Jahr¬ 
hunderts,  fand  Diagilev  in  der  verfallenen  Badestube 
eines  alten  Magnatensitzes.  Vieles  fand  er  auf  Speichern, 
in  Kellern,  buchstäblich  unter  Haufen  von  Moder  und 
Fäulnis  und  entriß  es  der  völligen  Vernichtung. 
Dank  diesen,  zu  unserer  Schande  müssen  wir  es  ge¬ 
stehen,  »Ausgrabungen«  könnte  vieles  in  der  Kunst 
des  i8.  Jahrhunderts  von  einem  neuen  Standpunkte 
aus  betrachtet  werden.  Eben  dieser  Roslin,  bisher 
ein  zweitklassiger  Maler  nach  den  wenigen  Porträts 
in  Versailles  und  im  Louvre,  erscheint  jetzt  als  einer 
der  größten  Porträtisten. 

Überhaupt  leben  wir  in  einer  sehr  eigenartigen 


ZWEI  JAHRHUNDERTE  RUSSISCHER  KUNST 


59 


Zeit.  Nach  einer  Reihe  von  künstlerischen  Epochen 
von  sehr  engen  Sympathien  verstanden  wir  es,  unser 
künstlerisches  Empfinden  fort  bis  ins  Unendliche  zu 
erweitern.  Zweifellos  sind  wir  in  unserer  Vielseitig¬ 
keit  so  weit,  daß  sich  in  unserem  Herzen  die  un¬ 
glaublichsten  Gegensätze  nebeneinander  vertragen: 
Albrecht  Dürer  und  Claude  Monet,  Zurbaran  und 
Beardsley,  Claude  Lorrain  und  Van  Gogh,  Palestrina 
und  Richard  Strauß.  Oder  solche  Trios  in  einem 
Atem  ausgesprochen:  Dante-Tolstoi-Wilde;  Donatello- 
Canova-Maillol.  ja  sogar  Canova,  denn  auch  ihn 
haben  wir  längst  aufgehört  zu  verachten;  mehr  noch, 
wir  lieben  ihn.  Wir  lieben  sogar  die  Bologneser,  nicht 
wahr,  ein  nettes  Geständnis;  noch  vor  kurzem  wurden 
sie  als  der  Ausbund  der  Banalität  und  Hohlheit  be¬ 
trachtet.  Wir  lieben  auch  die  polierten  Landschaften, 
welche  noch  unsere  Väter  außer  sich  brachten  — 
nicht  unsere  Großeltern,  die  vergossen  Tränen  der 
Rührung  bei  ihrem  Anblick.  Uns  entzücken  Porträts, 
welche  noch  unlängst  mit  dem  vernichtenden  Worte 
Kitsch  gebrandmarkt  wurden.  Vor  Ingres  erschauern 
wir,  Waldmüller  charmiert  uns,  Kaspar  Eriedrich  rührt 
die  heimlichsten  Saiten  unseres  Herzens,  ja  sogar 
Winterhalter  läßt  uns  nicht  gleichgültig  und  erweist 
sich  als  braver  Meister.  Nachdem  wir  gänzlich  un¬ 
fähig  geworden  waren,  den  verleierten  Syrop  italie¬ 
nischer  Melodien  zu  ertragen  und  nur  noch  Wagner 
zu  goutieren  vermochten,  und  auch  da  nur  von  der 
allerletzten  Periode,  —  beginnen  wir  plötzlich  für 
Gluck  zu  schwärmen  und  man  könnte  jede  Wette 
eingehen,  daß  es  nicht  lange  mehr  dauert  und  wir 
erleben  auch  eine  Restauration  der  vielgeschmähten 
italienischen  Musik.  Und  wer  weiß,  ob  nicht  der 
alte  Verdi  uns  noch  einige  Überraschungen  aus  dem 
Jenseits  bereitet.  Vom  Halbgott  Delibes  schon  gar- 
nicht  zu  reden,  sein  Platz  ist  unter  den  ganz  Großen. 

Solche  Umwertungen  vollziehen  sich  bald  plötzlich 
und  unerwartet,  bald  sind  sie  das  Ergebnis  lang¬ 
jährigen  Grübelns  und  Suchens.  So  auf  der  Hundert¬ 
jahrausstellung  in  Paris,  wo  wir  David,  Ingres,  Court, 
Bazille  und  Legros  neu  entdeckten.  Besonders  aber 
Chasserieau,  Daumier  und  den  »italienischen«  Corot, 
der  den  sogenannten  »Trouillebertschen«  Corot  fast 
zum  Fumisten  machte.  Zu  einer  solchen  Zeit  ist 
besonders  lehrreich  eine  Kunstausstellung  zu  sehen, 
welche  alles  Starke  vereinigt,  was  ein  ganzes  Volk 
von  den  Anfängen  seiner  Kunst  bis  auf  unsere  Tage 
geschaffen.  Denn  die  zwei  Jahrhunderte,  welche  auf 
der  russischen  Ausstellung  dargestellt  sind,  kann  man 
seine  ganze  Kunstgeschichte  nennen. 

Jf! 

Kunst  und  Kultur  erhielt  Rußland  aus  Byzanz. 
Architektur,  Mosaiken,  Wandmalereien,  Email  und 
Miniatur  —  alles  brachten  die  Griechen  nach  Ru߬ 
land  und  überschwemmten  im  Laufe  von  drei  Jahr¬ 
hunderten  (lo. — 13.)  alle  größeren  russischen  Städte. 
Die  versteinerten  Traditionen  der  griechischen  Kirche 
fesselten  auf  lange  Zeit  die  Freiheit,  ohne  die  keine 
Kunst  denkbar  ist;  weniger  in  der  Architektur  als  in 


der  Malerei.  Denn  der  in  diesem  waldreichen  Lande 
fremde  Stein,  das  Hauptbaumaterlai  der  Griechen,  mußte 
bald  dem  Holze  weichen.  Das  führte  unwillkürlich 
zu  neuen  architektonischen  Formen.  Die  nordischen 
Kirchen,  Holzkirchen,  das  ist  das  höchste,  was  die 
altrussische  Kunst  geschaffen.  Es  sind  wahre  Märchen, 
erstarrt  inmitten  sonderbarer,  schwarzer,  gieichsam 
verzauberter  Wälder^).  Die  Malerei  war  in  einer 
weniger  glücklichen  Lage.  Von  Skulptur  schon  gar 
nicht  zu  reden.  Die  Traditionen  duldeten  sie  nicht 
in  der  Kirche.  Es  existierten  mehrere  Malschuien, 
welche  sich  eigentlich  nur  wenig  voneinander  unter¬ 
schieden  und  ohne  Ende  die  byzantinischen  Motive 
wiederholten.  Erst  im  Anfang  des  15.  Jahrhunderts 
versucht  Andrei  Rabliov  neue  Elemente  in  den  hoff¬ 
nungslosen  Byzantinismus  zu  legen.  Seine  vor  kurzem 
unter  einer  Stuckschicht  in  der  Kathedrale  des  Sergi- 
Troizki-Klosters  entdeckten  Fresken  zeugen  von  einer 
reichen  Erfindungsgabe,  feinem  dekorativen  Gefühl 
und  seltenem  Farbentalent.  Mit  Iwan  III.,  der  Ru߬ 
land  ein  für  allemal  von  der  Zwangsherrschaft  der 
Tartaren  befreite,  beginnt  sich  auch  in  der  Kunst  ein 
frischerer  Geist  fühlbar  zu  machen.  Das  hatte  haupt¬ 
sächlich  seinen  Grund  in  der  Anwesenheit  zahlreicher 
ausländischer  Künstler,  welche  vom  Zaren  aus  Italien 
und  anderen  Ländern  berufen  wurden.  In  Moskau 
sehen  wir  am  Ende  des  17.  Jahrhunderts  einen  Meister, 
der  sich  schon  vollkommen  vom  byzantinischen  Joche 
befreit.  Das  war  Simon  Uschakov.  Seine  religiösen 
Kompositionen  sind  nicht  mehr  durch  Fasten  und 
Beten  inspiriert,  man  fühlt  in  ihnen  einen  Menschen, 
der  mit  allen  Fibern  am  Leben  hängt.  Ein  neuer 
Mensch,  der  Bahnbrecher  eines  neuen  Geschlechts. 
In  dieselbe  Zeit  gehören  die  kolossalen  Wandmale¬ 
reien  in  den  Jaroslawschen  Kirchen.  Der  künstlerische 
Flug  dieser  Werke  ist  so  hoch,  sie  sind  so  phantasie¬ 
voll  erfunden,  daß  sie  wohl  manchen  Fresken 
des  italienischen  Trecento,  verschiedenen  »Trionfi 
della  morte«  an  die  Seite  gestellt  werden  dürfen.  Das 
immer  öfter  bemerkbare  Streben  nach  Neuerungen 
rief  in  den  reaktionären  Kreisen  eine  starke  Gegen¬ 
bewegung  hervor.  Diese  Streitfragen  gaben  Anlaß  zur 
Berufung  ganzer  Konzile  2).  Doch  der  Bannfluch  der 
Konzile  konnte  dem  Lauf  der  Ereignisse  kein  Halt 
gebieten.  Uschakov  war  nicht  mehr  allein.  Eine 
andere  Zeit  schien  anzubrechen. 

Peter  der  Große  (1668 — 1725)  fand  den  Boden 


1)  Der  Schreiber  dieser  Zeilen  machte  vor  einigen 
Jahren  eine  Reise  längs  der  Suchona,  Dwina,  Mesenj  und 
den  Ufern  des  nördlichen  Eismeeres.  Ungefähr  3000  Werst 
per  Boot  und  ebensoviel  per  Achse.  Es  gelang  ihm,  viele 
Zeichnungen  und  Photographien  nach  diesen  Kirchen  auf¬ 
zunehmen.  Und  es  war  höchste  Zeit,  da  alles  dies  durch 
Eeuerschäden,  Erdrutsche  und  Alterschwäche  von  Tag  zu 
Tag  seinem  Ende  entgegengeht. 

2)  So  die  berühmten  Philippiken  des  Diak  Wiskowaly 
auf  dem  Konzil  von  1554.  Auch  lag  in  diesem  zähen 
Kampf  gegen  die  neuen  Heiligenbilder  eine  der  Haupt¬ 
triebfedern  des  Schismas  (»Raskol«),  welches  sich  unter 
dem  Patriarchen  Nikon  im  letzten  Viertel  des  17.  Jahr¬ 
hunderts  vollzog. 


ZWEI  JAHRHUNDERTE  RUSSISCHER  KUNST 


..  .c  Relormeii  schon  vorbereitet.  Eine  der 
.::.c;:sien  Taten  dieses  kraftvollsten  der  Souveräne 
aer  Entscnluß,  eine  Anzahl  junger  Leute  nach 
■•v.'-ai'-n.'pa  zu  schicken  und  dort  Künste,  Wissen¬ 
schaften  und  Handwerke  zu  erlernen.  Von  den 
Maiern  waren  Nikitin  und  Matwejev  die  stärksten. 
Als  sie  ins  Ausiand  gingen,  waren  sie  in  der  Kunst 
keine  Neulinge  mehr.  In  bezug  auf  Iwan  Nikitin 
(i688-  1741)  schrieb  Peter  der  Zarin  Katharina,  welche 
damals  in  Berlin  weilte,  sie  solle  Nikitins  Reise  unter¬ 
brechen  und  der  König  möge  ihm  befehlen,  seine 
Person  abzumalen  und  wen  er  sonst  noch  für  nötig 
erachte,  damit  man  wisse,  daß  es  auch  im  russischen 
Volke  tüchtige  Meister  gäbe.«  Nikitin  arbeitete  unter 
Anleitung  Tomaso  Redis^)  in  Florenz  und  später  bei 
Largilliere  in  Paris.  In  den  zwanziger  Jahren  kehrte 
er  nach  Rußland  zurück,  wo  er  viel  Arbeit  erhielt. 
Unter  anderem  malte  er  das  Porträt  Peters  auf  dem 
Sterbebett  (1 725).  Sehr  interessant  ist  auch  ein  ande¬ 
res  Werk  von  ihm,  einen  kleinrussischen  Hetman 
darstellend.  Dieses,  langezeit  fälschlich  als  Porträt 
Masepas  bezeichnete  Bild  ist  vorzüglicii  in  seiner 
Charakteristik  des  düsteren  kalten,  wohl  grausamen 
und  habgierigen  Mannes,  welches  sonderbar  mit  dem 
dritten  bekannten  Werke  Nikitins,  dem  eleganten 
Porträt  des  jungen  schönen  Baron  Sergei  Stroganov 
kontrastiert.  Im  Jahre  i736gingNikitin  wegen  Teilnahme 
an  einer  Verschwörung,  nach  einer  Knutenstrafe,  in 
die  Verbannung  nach  Sibirien,  wo  er  auch  bald  dar¬ 
auf  starb.  Sein  Gefährte  Andrej  Matwejev  (1701  - 
1739)  reiste  zusammen  mit  ihm  im  Jahre  1716  ins 
Ausland  ab,  begab  sich  aber  nicht  nach  Italien,  sondern 
nach  Holland,  wo  er  ein  Schüler  Carel  de  Moors") 
und  De  Wits'^)  wurde.  Sein  Selbstporträt  mit  seiner 
Frau  gehört  zu  den  wenigen  Werken  dieses  Meisters, 
welche  sich  bis  auf  unsere  Zeit  erhalten  haben.  Neben 
den  ins  Ausland  gesandten  Malern  dürfen  wir  nicht 
einige  vorzügliche  Graveure  und  den  talentvollen 
Architekten  Semzov  vergessen,  welche  Wissen  und 
Können  aus  Westeuropa  in  ihr  Vaterland  brachten. 
Doch  an  diesen  Sendungen  ins  Ausland  ließ  Peter 
es  sich  nicht  genügen.  Während  seiner  Europareise 
im  Jahre  1716  schlug  er  dem  Gascogner  Louis  Cara- 
vaque^)  vor,  in  seine  Dienste  zu  treten.  Bald  sehen 
wir  ihn  in  Petersburg  als  eine  der  ersten  Autoritäten 
in  den  Sachen  der  Kunst.  Er  malte  viele  Porträts, 
unter  ihnen  ein  vorzügliches  Doppelbildnis  der  beiden 
Töchter  Peters  in  jugendlichem  Alter.  Außerdem  prüfte 
er  die  aus  dem  Auslande  zurückkehrenden  jungen 
Künstler.  Auf  derselben  obenerwähnten  Europareise 
lernte  Peter  den  älteren  Rastrelli  '^),  einen  vorzüglichen 
Bildhauer,  kennen  und  bewog  ihn,  nach  Rußland  zu 
ziehen.  Im  Jahre  1757  gründete  die  Kaiserin  Elisa¬ 
beth  in  Petersburg  eine  Akademie  der  Künste  und 
berief  eine  Anzahl  hervorragender  Künstler  nach  Ruß- 


1)  1665  —  1726,  Schüler  Carlo  Marattas  und  Balestras. 

2)  1656—1738.  Schüler  von  Gerard  Dow  und  Mieris. 

3)  1695—1754.  Schüler  von  Spiers. 

4)  Gest.  1754,  Schlachten-  und  Bildnisnialer. 

5)  Carlo  BartholomeoRastrelli,  starb  in  Petersburg  1744. 


land:  Toeque'),  Lagrenees),  Le  Lorrain^),  Leprince^) 
aus  Frankreich,  Rotari*^)  und  Torelli**)  aus  Italien 
und  Ericksen'^)  aus  Dänemark.  Außerdem  wäre  noch 
von  den  minderbedeutenden  der  Bildhauer  Gillet”), 
der  Porträtist  Lüders*’)  und  der  Zeichner  und  Gra¬ 
veur  Moreau  zu  nennen. 

Unter  Katharina  11.  scheint  sich  der  künstlerische 
Geist  des  russischen  Hofes  noch  zu  steigern.  Ein 
ganzes  Heer  glänzender  Namen  verherrlicht  die  Re¬ 
gierung  dieser  deutschen  Prinzessin,  welche  es  verstand, 
die  allerrussischste  Kaiserin  zu  werden.  Hier  nur 
die  bedeutendsten:  Falconet^’),  der  eins  der  besten 
Reiterstandbilder  nach  Donatellos  Gattamelata  und 
Verocchios  Colleoni  —  das  Denkmal  Peters  des  Großen 
schuf.  Den  Kopf  desselben  modellierte  Marie-Anne 
Collot^  ’),  eine  hochbegabte  Natur,  die  uns  noch  eine 
ganze  Anzahl  reizvoller  Skulpturen  hinterließ,  unter 
ihnen  die  Büste  Pauls  1.  und  seiner  Gemahlin.  Ferner 
Roslin^*),  der  geniale  Schwede,  in  dessen  Porträt  der 
Kaiserin  Maria  Feodorowna  so  vieles  an  die  Raphael 
Mengssche  Perle'im  Louvre,  jenes  distinguierte  Bildnis 
der  Prinzessin  Maria  von  Sachsen,  später  Königin 
von  Spanien  mahnt.  Nur  scheint  das  Roslinsche  Werk 
noch  größer  und  dekorativer  empfunden.  Hier  wäre 
noch  der  virtuose  Lampi sen.,  ein  glänzendes, 
doch  oberflächliches  Talent  zu  nennen.  Gleichzeitig 
arbeiteten  in  Petersburg  solche  bedeutenden  Bau¬ 
meister,  wie  der  jüngere  Rastrelli^®),  Guarenghi^*^), 

1)  Louis  Toeque,  berühmter  französischer  Porträtist 
(1695— r 772),  lebte  in  Petersburg  1757—1759. 

2)  Louis  Jean  Francois  Lagrenee  (1724—1803).  1760 

bis  1762  Direktor  der  Petersburger  Akademie.  Malte  viele 
Bilder  und  Porträts  in  Petersburg. 

3)  Der  erste  Professor  der  Malschule  an  der  Peters¬ 
burger  Akademie. 

4)  Jean  Baptiste  Leprince  (1734—1781).  In  Rußland 
1758—1762. 

5)  Conte  Pietro  Rotari  (1707  —  1762).  In  Peters- 
biirg  1757.  starb  daselbst. 

6)  Stephano  Torelli  (1712  —  1780).  In  Petersburg  1758. 
Starb  daselbst.  Professor  der  Akademie  seit  1763. 

7)  Vigilius  Ericksen,  dänischer  Maler,  in  Petersburg 
seit  1757.  Starb  daselbst  1772. 

8)  Nicolas  Gillet  (1708—1791).  Der  erste  Professor 
der  Skulptur  an  der  Akademie.  In  Petersburg  1759—1778. 

9)  Sachse. 

10)  Jean  Michel  Moreau  (1741  —  1814).  Seit  1758  Ge¬ 
hilfe  Le  Lorrains  in  der  Akademie. 

11)  Maurice  Etienne  Falconet,  Bildh.,  geb.  1716  zu 
Vevey,  f  UQi  zu  Paris,  1766—1778  in  Petersburg. 

12)  1748—1821.  Schülerin  und  später  Schwiegertochter 
Falconets. 

13)  Alexander  Roslin,  1710—1793.  Arbeitete  viel  in  Paris, 
hauptsächlich  aber  in  Stockholm  und  seit  1777  in  Petersburg. 

14)  Giovanni  Batista  Lampi,  1751  — 1830. 

15)  Rastrelli.  Conto  Carlo,  J  1771,  russischer  Oberhof¬ 
baumeister.  Als  seine  Hauptwerke  nennt  man  das  neue 
Schloß  zu  Sarskoe-Selo,  den  Neubau  von  Peterhof,  das 
Winterpalais. 

16)  Guarenghi,  Giacorno,  Maler  und  Architekt,  geb.  1744 
zu  Bergamo,  gest.  1817  zu  Petersburg.  Als  Maler  Schüler 
von  R.  Mengs,  als  Architekt  von  Pozzi.  Petersburger 
Bauten  von  ihm  das  Theater  der  Eremitage,  die  Gemälde¬ 
galerie,  Bank  und  Börse. 


D.  LEWIZKI.  NATALIE  BORSTSCHOV,  STIFTFRÄULEIN  DES  1.  NIKITIN.  KLEINRUSSISCHER  HETMAN 

SMOLNYKLOSTERS.  Im  Besitz  S.  M.  des  Kaisers  von  Rußland  Museum  in  der  Akademie  der  Künste,  St.  Petersburg 


SILV.  STSCHEDRIN.  NEAPEL 
Museum  der  Akademie  der  Künste,  St.  Petersburg 
Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XVIII.  11.  3 


ZWEI  JAHRHUNDERTE  RUSSISCHER  KUNST 


Cameron-),  Brenna'’)  und  zum  Schluß  der 
^  rr  zauberischer  Dekorationen  Conzago^). 

Selbstverständlich  mußte  dieses  künstlerische  Eu¬ 
ropa,  welches  an  den  Hof  der  nordischen  Herrsche¬ 
rinnen  übersiedelte  und  ihn  mit  Wellen  künstle¬ 
rischer  Produktion  überflutete,  die  tiefsten  Spuren 
in  der  russischen  Kunst  hinterlassen,  ln  den  Tradi¬ 
tionen  dieser  besten  Westeuropäer  wird  ein  ganzes 
junges  Geschlecht  erzogen  und  schon  die  zweite 
Hälfte  des  i8.  Jahrhunderts  ist  durch  eine  Reihe 
Namen  charakterisiert,  auf  die  Rußland  wohl  das  Recht 
hat,  stolz  zu  sein.  Besonders,  da  die  besten  dieser 
Künstler  gar  keine  blinden  Nachahmer  und  Kopisten 
der  Ausländer  waren.  Vor  allem  Feodor  Rokotov 
(1780  — 1812).  Erwar  einer  der  ersten  einheimischen 
Professoren  der  Petersburger  Akademie.  Von  seinem 
Lehrer,  dem  Grafen  Rotari,  hatte  er  die  Eleganz  und 
Zartheit  des  Pinsels,  welche  er  übrigens  manchmal 
mißbrauchte.  Er  liebte  die  lockende  Verschwommen¬ 
heit  der  Konturen  und  den  Earbenschmelz  jugend¬ 
licher  Erauenköpfe;  daher  verfiel  er  bisweilen  in  eine 
allzugroße  Weichheit  der  Form  und  gewisse  Ver¬ 
wischtheit  der  Töne.  Dennoch  machen  ihn  sein  saf¬ 
tiges  Malen  und  seine  exquisite  Farbengourmandise 
zu  einem  der  liebenswürdigsten  rein  malerischen  Ta¬ 
lente  seiner  Epoche.  Bekanntlich  saß  ihm  die  Kaiserin 
für  mehrere  Porträts,  die  sie  selbst  als  die  allerähn¬ 
lichsten  bezeichnete.  Vorzüglich  sind  noch  die  Por¬ 
träts  des  Fürsten  Orlov  und  zwei  Jugendbildnisse 
Pauls  I.  Besonders  das  etwas  später  entstandene, 
mit  der  schönen  Kopfbewegung,  den  satten,  tiefen 
Farben  und  der  flüssigen,  dabei  aber  schlicht  präzi¬ 
sierten  Malweise.  Michael  Schibanov  ist  der  zweite 
bedeutende  Porträtist.  Er  war  Leibeigener  Potiom- 
kins  und  ist  es  bis  zu  seinem  Tode  geblieben.  Weder 
sein  Geburts-  noch  Todesjahr  sind  festgestellt.  Man 
kennt  nur  wenige  seiner  Malereien,  die  von  großer 
und  eigenartiger  Begabung  zeugen.  Sein  Bildnis 
Katharina  II.  im  Reiseanzug  ist  in  Kiew  1787  gemalt, 
während  der  Reise  der  Kaiserin  in  ihre  neueroberten 
Gebiete  im  Süden  Rußlands. 

Die  imposanteste  Erscheinung  jedoch  des  18.  Jahr¬ 
hunderts  ist  Dmitri  Lewizki  (1735  — 1822).  Anfangs 
lernte  er  bei  seinem  Vater,  einem  Kiewer  Priester,  und 
kam  verhältnismäßig  spät  nach  Petersburg,  wo  er 
unter  kn\&[{ux\g  Antropovs'')  arbeitete.  Zweifellos  sah 
er  hier  Bilder  verschiedener  ausländischer  Maler,  von 
denen  Tocque  vielleicht  den  tiefsten  Eindruck  auf 
ihn  machte.  Trotzdem  ist  doch  seine  künstlerische 
Physiognomie  eine  so  eigenartige,  daß  wir  vergeblich 
in  der  europäischen  Kunst  einen  ihm  nahestehenden 
Künstler  suchen  werden.  Sein  Porträtzyklus,  welcher 
die  Pensionärinnen  des  adligen  Smolny-Stifts  darstellt, 
gehört  zu  den  Gipfeln  der  Porträtkunst  überhaupt. 


1)  Antonio  Rinaldi  aus  Rom,  gest.  um  1780. 

2)  Charles  Cameron,  geh.  1772.  Berühmt  sind  seine 
jonische  Kolonnade  mit  dem  hängenden  Garten  zu  Zars¬ 
koje  Selo. 

3)  Brenna,  Kais.  Hofarchitekt,  baute  1801  die  K.  Biblio¬ 
thek  in  das  kleine  Theater  um,  voll.  1802  die  Isaakskirche. 

4)  ln  Rußland  1794—1804.  Starb  1831. 

5)  Alexej  Antropov,  1716-1795,  Maler  am  Synod. 


Sogar  in  Paris,  wo  das  Louvre  von  Meisterbildnissen 
dieser  königlichen  Epoche  strotzt,  neben  Rigaud,  Lar- 
giliere  und  Tocque  behauptet  Lewizki  siegreich  seinen 
Platz.  Er  hat  nicht  die  eiserne  Hand  Rigauds,  auch 
nicht  die  tolle  Gewandtheit  eines  Reynolds,  Raeburn 
oder  Romney,  nicht  die  matte  gezierte  Eleganz  eines 
Gainsborough.  Er  scheint  einfach  und  naiv  wie  ein 
Kind,  offen  und  ohne  Falsch  wie  ein  Jüngling,  der 
plötzlich  aus  der  Kleinstadt  in  den  Trubel  der  Resi¬ 
denz  versetzt  ist.  Doch  dieser  Jüngling  hegte  eine 
heiße  Liebe  zur  Natur  und  Schönheit,  er  liebte  auch 
sein  Handwerk  und  hat  niemals  mit  seinem  Können 
gespielt,  wie  es  die  späteren  Engländer  oft  getan. 
Darum  sind  auch  die  Porträts  dieser  Stiftsfräulein  von 
einem  solchen  rührenden  Reiz  durchwoben.  Keine 
einzige  Schönheit,  die  meisten  sind  eher  häßlich,  und 
dennoch  welch  unwiderstehlicher  Charme.  Im  Jahre 
1788  kam  der  Italiener  Lampi  nach  Petersburg;  hier 
hatte  er  berauschenden  Erfolg:  Katharina  11.  bewilligte 
ihm  acht  Sitzungen  zu  einem  Porträt.  Im  Laufe  seines 
sechsjährigen  Petersburger  Aufenthaltes  wurde  er  mit 
Aufträgen  überschüttet  und  drängte  zeitweise  alle  seine 
Kollegen  in  den  Hintergrund.  Die  glänzende,  doch 
hohle  Kunst  dieses  verwöhnten  Lieblings  der  Wiener 
und  Petersburger  Gesellschaft  brachte  den  unglück¬ 
lichen  Lewizki  vollkommen  aus  dem  Gleise.  Er  wollte 
Lampi  mit  dessen  eigenen  Waffen  besiegen  und  be¬ 
gann  ihn  nachzuahmen.  Dies  hatte  aber  die  traurig¬ 
sten  Folgen:  es  war  für  ihn  der  Anfang  einer  steten 
Dekadenz,  die  er  nie  mehr  aufzuhalten  vermochte. 

Der  bedeutendste  von  Lewizkis  Schülern  war 
Wladimir  Borowikovski  (1758-1820).  Er  war  ebenso 
wie  sein  Lehrer  —  Kleinrusse.  Nach  Rokotov,  Schibanov 
und  Lewizki  —  der  vierte  große  Bildnismaler.  Von 
Lewizki  ging  er  ins  Atelier  des  älteren  Lampi i)  über. 
Trotzdem  blieb  er  vollkommen  selbständig  und  hat 
weder  in  der  Technik  noch  in  der  Farbe  oder  Kom¬ 
position  die  geringste  Ähnlichkeit  mit  irgendeinem 
seiner  Lehrer.  Vorzüglich  gelangen  ihm  große  Re- 
präsentationsporträts  in  Sammet  und  Seide  gekleideter, 
mit  Orden  geschmückter  Würdenträger.  So  das  be¬ 
kannte  Bildnis  des  Fürsten  Kurakin.  Vielleicht  noch 
besser  gelangen  ihm  zarte  Porträts  schwärmerischer 
Frauen ,  bei  denen  er  leider  zuweilen  in  eine  etwas 
süßliche  Sentimentalität  verfiel. 

Von  seinen  Zeitgenossen  sind  noch  Nikolaj  Ar- 
gunov^),  Stepan  Stschukin'^),  der  Maler  des  unerbitt¬ 
lich  realistischen  Porträts  Pauls  I.  mit  dem  Krückstock, 
und  endlich  Peter  DroshitP)  mit  seinem  Porträt  der 
Familie  Antropov  zu  erwähnen. 

Die  schlichten  aber  dekorativ  gehaltenen  Land¬ 
schaften  Semioii  Sischedrins^),  des  Malers  Peterhofer 
Fontänen,  Fiodor  Alexejevs^),  des  Sängers  weiter 

1)  Giovanni  Batista  Lampi  (1775  —  1837)  Sohn  kam 
mit  seinem  Vater  nach  Petersburg,  wo  er  nach  Abreise 
des  Vaters  noch  sieben  Jahre  blieb,  und  dessen  Erfolg  erbte. 

2)  Geb.  1771,  starb  nach  1829. 

3)  1758  —  1825,  Schüler  Lewizkis. 

4)  1745-1805. 

5)  1745—1804,  Schüler  der  Petersburger  Akademie 
und  Casanovas  in  Paris. 

h)  1753 — 1824.  Schüler  der  Petersburger  Akademie 
und  von  Moretti  und  Gaspari  in  Venedig. 


W.  BOROWIKOVSKI.  SENATOR  KUSCHNIKOV 
Im  Besitz  des  Grafen  M.  Cassini,  St.  Petersburg 


E.  ROKOTOV.  PAUL  I. 
Winterpalais,  Galerie  Romanov,  St.  Petersburg 


K.  BRÜLLOV.  GRÄFIN  SAMOILOV  MIT  TOCHTER 
Ini  Besitz  von  Baron  Günzburg,  Kiew 


O.  KIPRENSKl.  SELBSTPORTRÄT 
Ini  Besitz  iles  Herrn  E.  Schwarz,  St.  Petersburg 


9 


ZWEI  JAHRHUNDERTE  RUSSISCHER  KUNST 


.'lewapsrspektiven,  Alexej  Belskis^)  und  Aiichael  Sii'fl- 
«01^5-)  sind  das  wenige,  was  auf  diesem  Gebiet  ge¬ 
leistet  wurde. 

Aus  der  Zahl  der  Bildhauer  sind  Fedor  Schiibin  ''), 
Michael  Koslovski-^)  und  Feodosi  Stschcdrin^)  her¬ 
vorzuheben.  Das  Meisterstück  des  letzteren  ist  seine 
grandiose  Büste  Pauls  1.,  wohl  das  ähnlichste  Porträt 
des  unglückseligen  Herrschers.  Kurz  vor  seinem  Tode 
entstanden,  offenbartes  einen  für  das  1 8.  Jahrhundert 
ungewöhnlich  grausamen  Realismus  und  ein  schonungs¬ 
loses  psychologisches  Eindringen.  Man  spürt  den 
ganzen  eisigen  Schauer,  mit  dem  diese  rätselhafte  Ge¬ 
stalt  an  der  Schwelle  des  ig.  Jahrhunderts  umhüllt 
war.  Hier  ist  alles:  die  Unmenschlichkeit  einesMenschen, 
sein  Größenwahn,  sein  drohendes  Verhängnis,  etwas 
Klägliches  und  Schreckliches  zugleich.  Welch  furcht¬ 
bare  Umwandlung  aus  dem  reizvollen  Rokotovschen 
Jüngling  in  die  verzerrt-komische  Maske  des  Stschu- 
kinschen  Porträts  und  endlich  in  diese  todtraurige 
tragische  Larve  bei  Stschedrin. 

Vielleicht  noch  erschöpfender  als  in  Malerei  und 
Skulptur  fand  der  Geist  der  Zeit  seinen  Ausdruck  in 
den  Werken  der  Architektur.  Kokorinov'^)  schuf  das 
grandiose  Gebäude  der  Petersburger  Kunstakademie, 
Woronichin')  die  Kazansche  Kathedrale;  Bashenov 
endlich  das  düstere  Schloß  Pauls  1.  und  das  könig¬ 
lich  angelegte  Rumianzevmuseum  in  Moskau*). 

Bei  dem  Ausbruch  der  französischen  Revolution 
tragen  die  Kunsthistoriker  gewöhnlich  das  i8.  Jahr¬ 
hundert  zu  Grabe  und  registrieren  eine  neue  Epoche, 
den  Neoklassizismus;  dann  folgt  die  Romantik,  dann 
der  Realismus  usw.  Sind  diese  Rubriken  wirklich 
so  unverrückbar;  schrieb  nicht  während  der  Blüte¬ 
zeit  des  sprudelnden  Rokoko  Winckelmann  seine 
Apologien  des  Klassizismus,  und  noch  früher  sein 
Vorgänger  Graf  Caylus?  Baute  der  geniale  Souflot 
nicht  schon  während  der  Regierung  Ludwigs  XV. 
an  dem  Pariser  Pantheon,  welches  kaum  von  den 
klassischen  Gebäuden  des  ersten  Kaiserreiches  zu 
unterscheiden  ist?  Durch  die  Kunst  des  i6.  bis 
i8.  Jahrhunderts  zieht  sich,  wie  ein  roter  Faden,  das 
Erbteil  des  ewigen  Roms  und  verbindet  trotz  aller 
Bernini,  Meissoniers  und  den  Zeitgenossen  Watteaus 
alle  diese  Epochen  viel  fester  als  man  es  sonst  an¬ 
nimmt.  Dieselben  Leute,  welche  für  Katharina  IL  in 
Petersburg  und  Moskau  bauten,  schufen  ihre  Archi¬ 
tekturen  später  für  Paul  I.  und  dann  für  Alexander  1. 

0  1730—1796,  Schüler  von  Peresinotti. 

2)  1748—1823,  Landschafts-  und  Schlachtenmaler, 
Schüler  der  Petersburger  Akademie,  Leprinces  in  Paris  und 
Jakob  Hackerts  zu  Rom. 

3)  1740—1805. 

4)  1753-1802. 

5)  1751  —  1825,  Schüler  Petersburger  Akademie  und 
d’Allegrains  in  Paris. 

6)  Akademiedirektor. 

7)  1759—1814- 

8)  Seine  Rolle  beim  Bau  des  Paul-Palais  ist  nicht  mit 
Sicherheit  festgestellt.  Jedenfalls  waren  die  ersten  Ent¬ 
würfe  von  ihm  und  nicht  von  dem  Italiener  Brenna,  der 
den  Bau  zu  Ende  führte. 


Kraft  einer  natürlichen  Reaktion  mußte  nach  einer 
Epoche  der  ornamentalen  Überladung  eine  größere 
Einfachheit  des  Schmuckes  eintreten.  Die  ge¬ 
schwungenen,  ausladenden  Formen  verschwinden, 
die  ornamentale  Ausschmückung  wird  sparsamer  an¬ 
gewandt,  jedoch  mit  großem  künstlerischem  Takt. 
Keinesfalls  kann  aber  von  einem  Verfall  der  Archi¬ 
tektur  die  Rede  sein,  eher  war  es  eine  Wandlung. 
Es  entstand  eine  Reihe  von  Bauten  großen  Stils: 
die  Admiralität  von  Sacharov,  die  Börse  von  Tonion, 
der  Doppelbogen  des  Generalstabes,  das  heutige 
Museum  Alexanders  111.  und  das  Alexandratheater 
von  Rossi,  ferner  die  Moskauer  Universität,  das 
Eremitagemuseum  und  eine  Anzahl  von  Privathäusern. 
Zugleich  entwickelte  sich  auch  die  architektonische 
Skulptur,  als  deren  Vertreter  wir  Terebenev,  Pimenov 
und  andere  sehen. 

Auch  die  Bildnismalerei  verkümmerte  nicht, 
sondern  nahm  nur  andere  Formen  an.  Eine  Zeit, 
welche  Kiprenski  und  Brüllov  ihre  Söhne  nennt, 
bedeutet  gewiß  keinen  Verfall.  Der  temperament¬ 
volle  Orest  Kiprenski ')  gibt  in  seinen  Porträts  der 
Malerei  des  rasenden  Gericault  nichts  nach.  Besonders 
kraftvoll  ist  das  Bildnis  seines  Vaters,  das  mit  einer 
Rubensschen  Wucht  heruntergemalt  ist,  auch  das  voll¬ 
kommen  anders  konzipierte  Bildnis  des  bekannten 
Partisans  aus  dem  Jahre  1812  Denis  Dawydov  in 
Husarenuniform  2).  Kiprenski  war  ein  unruhiger  Geist 
und  strebte  sein  lebelang  nach  neuen  künstlerischen 
Problemen,  darum  sind  seine  Werke  einander  so  gänz¬ 
lich  unähnlich.  Wenn  das  Porträt  seines  Vaters  an 
Rubens  mahnt,  sein  Dawydov  an  Gericault,  so  läßt 
sein  stark  von  einer  Seite  beleuchtetes  Selbstporträt 
unwillkürlich  ans  Rembrandtsche  Helldunkel  denken. 

Was  Lewizki  fürs  18.  Jahrhundert  bedeutet,  ist 
im  ig.  Karl  Brüllov%  Seine  letzten  Porträts,  jenes 
tollkühne  Bildnis  eines  Mädchens  auf  sich  bäumendem 
Rappen,  oder  die  verschiedenen  immer  sehr  bild¬ 
mäßigen  Porträts  der  Gräfin  Samojlov,  gehören  zum 
höchsten,  was  die  neuere  russische  Kunst  überhaupt 
geschaffen.  Er  bedurfte  eines  titanischen  Könnens, 
um  sich  solche  Probleme  zu  setzen  und  sie  so 
spielend  zu  lösen.  Was  für  Kenntnisse,  was  für  einen 
Reichtum  an  Erfahrung  dieser  Mensch  in  sich  barg, 
ist  auch  an  seinen  Aquarellen  zu  sehen.  Wohl  das 
hervorragendste  ist  das  Doppelbild  des  Ehepaares 
Olenin  irgendwo  in  Rom  zwischen  alten  Ruinen. 
Ein  Ingres  hätte  es  zeichnen  können.  Nur  war 
Brüllov  freier  und  auch  malerischer.  Sein  höch¬ 
stes  Können  zeigte  er  jedoch  in  einem  Kolossal¬ 
gemälde,  seinem  berühmten  »Untergang  Pompejis«, 
welches  er  als  Pensionär  der  Kunstakademie  malte. 
Viele  möchten  in  dieser  gigantischen  Kraftanstrengung 
nur  eine  banale  Illustration  zu  verschiedenen  damals 
kursierenden  Gedichten  dieses  Inhalts  sehen.  Ob  mit 

1)  Sohn  eines  Leibeigenen  (1783—1836),  Schüler  der 
Petersburger  Akademie,  arbeitete  zuletzt  in  Rom,  wo  er 
das  Scharfe  seiner  Individualität  fast  gänzlich  verlor. 

2)  Beide  im  Museum  Alexanders  III. 

3)  1799  —  1852.  Schüler  seines  Vaters  und  der  Peters¬ 
burger  Akademie. 


A.  BENOIS.  ITALIENISCHE  KOMÖDIE.  LE  BILLET  DOUX 
Im  Besitz  des  Herrn  J.  Morosov,  Moskau 


A.  BENOIS.  ITALIENISCHE  KOMÖDIE.  POLICHINELLE  INDISCRET 
Im  Besitz  des  Herrn  W.  Hirschmann,  Moskau 


ZWEI  JAHRHUNDERTE  RUSSISCHER  KUNST 


:  v'  enn  wir  heuer  die  Bologneser  goutieren,  so 

■?  voilkommen  unverständlich,  wie  man  dieses 
.  -.i;  ciiTor  solchen  geradezu  diabolischen  Kühnheit 
und  einer  so  spielenden  Leichtigkeit  entstandene  Werk 
nicht  schätzen  kann.  Ich  ziehe  die  Brüllovschen 
Porträts  seinen  Bildern  vor;  doch  während  den 
Bildnismaler  Ingres  ein  Abgrund  vom  langweiligen 
und  kalten  Historienmaler  trennt,  so  ist  zwischen 
Brüllovscher  Bildnis-  und  Historienmalerei  ganz  und 
gar  kein  Abgrund').  Sein  Zeitgenosse  Fiodor  Bniiir), 
ohne  Zweifel  weniger  begabt  als  Brüllov  in  rein 
malerischer  Beziehung,  malte  außer  einer  riesigen 
technisch  vorwurfsfreien,  doch  temperamentlosen  Lein¬ 
wand  Die  eherne  Schlange^  einige  ganz  vorzügliche 
religiöse  Kompositionen  für  die  Isaakskathedrale;  in 
ihrem  tiefen  Ernst  und  mystischer  Durchdrungenheit 
läßt  sich  eine  gewisse  Seelenverwandtschaft  mit  den 
Nazarenern  fühlen,  nur  ist  er  ihnen  als  Maler  weit 
überlegen.  Sein  Porträt  der  Eürstin  Wolkonski,  in 
seinen  sonderbaren,  an  die  venezianischen  Stimmungen 
der  Spätrenaissance  anklingenden  Earben,  zeigt  ihn 
als  feinsinnigen  Bildnismaler. 

Ein  Abgrund  verschiedener  Weltanschauungen 
und  Begabungen  gähnt  zwischen  Brüllov  und  seinem 
gewaltigen  Zeitgenossen  Alexander  Iwanov'^).  Es 
scheint  unbegreiflich,  daß  diese  beiden  zu  gleicher 
Zeit  in  Rom  arbeiteten.  Beide  an  riesigen  Bildern. 
So  verschieden  sie  selbst  sind,  so  verschieden  ist  ihr 
Werk.  Im  selben  Maße  wie  Brüllov  der  Liebling 
des  Schicksals,  war  Ivanow  sein  Stiefkind.  Das  Leben 
Brüllovs  war  ein  ununterbrochener  Siegeszug^)  - 
das  Leben  Iwanovs  eine  endlose  Elut  von  Ent¬ 
täuschungen.  Brüllov  gelang  alles  mit  spielender 
Leichtigkeit,  —  Iwanov  im  Gegenteil  kostete  jedes 
Problem  blutigen  Schweiß.  Eür  Brüllov  existierten 
keine  wühlenden  und  nagenden  Zweifel,  welche  so 
viele  der  größten  Söhne  Rußlands  quälten:  Gogol, 
Dostojevski,  Tolstoi.  Die  Natur  hatte  ihm  ein  Talent 
gegeben  ähnlich  dem  blendenden  Brillantfeuerwerk 
Rubensschen  Genies  und  es  wäre  ungerecht,  wollten 
wir  ihm  eben  diese,  seine  stärkste  Seite  zum  Vor¬ 
wurf  machen.  Ivanow  gehörte  einem  anderen  Schlage 
Menschen  an.  Er  konnte  wie  Dostojevski  und  Tolstoi 
nicht  an  der  Oberfläche  dieses  Meeres  ungelöster 
Tragen  bleiben.  Unwiderstehlich  zog  es  ihn  tiefer 
und  tiefer.  Oft  schien  er  dem  Untergange  nahe. 
Ein  fanatisch  religiöser  Mensch,  machte  er  die  Be¬ 
kanntschaft  von  David  Strauß  und  nun  begann  seine 
Jeremiade.  Er  konnte  sein  mächtig  geplantes  Werk 


1)  Dieser  öffnete  sich  erst  später,  als  Brüllov  sein 
letztes  Werk,  die  öde  »Eroberung  Pskovs«  malte.  Inter¬ 
essant,  daß  gerade  dieser  schwächste  seiner  Werke  zum 
Ideal  all  der  Epigonen  des  Historienkomponierens  wurde: 
der  Flawizkis,  Wenigs,  K.  Makowski  u.  a. 

2)  1800-1875. 

3)  1806 — 1858.  Schüler  seines  Vaters. 

4)  Wie  groß  der  Erfolg  dieses  genialen  Jünglings  in 
Rom  war,  sieht  man  aus  den  Ovationen,  die  ihm  zuteil 
wurden:  eine  Volksmenge  erwartete  ihn  früh  morgens  an 
der  Tür  seines  Ateliers  und  bei  seinem  Erscheinen  im 
Theater  hob  sich  alt  und  jung  von  den  Plätzen. 


»Christi  Erscheinung«  nicht  zu  Ende  führen.  Nur 
an  der  Neige  seines  Lebens  fing  in  dem  Chaos,  der 
ihn  umgab,  sich  eine  künstlerische  Lösung  seiner 
religiösen  Probleme  zu  formen  an,  erst  damals,  als  er 
die  Zweifel,  welche  Strauß  in  ihm  geweckt,  durch¬ 
lebt  und  er  sich  zu  einer  neuen  verklärten  Welt¬ 
anschauung  durchgerungen.  Die  besten  Dokumente 
dafür  sind  seine  Skizzen  zu  den  Eresken  eines  riesigen 
Tempels,  welcher  die  letzte  Zeit  das  Ziel  seiner  heißen 
Wünsche  war  und  nie  zur  Ausführung  gelangte. 
Diese  Skizzen  sind  so  sonderbar  modern  empfunden, 
daß  sie  das  Ansehen  haben,  als  seien  sie  erst  heute 
oder  gestern  entstanden.  Gänzlich  unerwartet  sind 
die  chaldäisch-assyrischen  Stimmungen,  welche  diese 
Werke  durchwehen.  In  Europa  kam  man  erst  in 
den  achtziger  Jahren  zu  ähnlichen  Motiven.  Was 
für  feenhafte,  wundervolle  Träume  dieser  einsame 
Riese  haben  mußte,  um  solch  ein  Werk  zu  schaffen. 
Vielleicht  noch  überraschender  sind  seine  -  mag  es 
noch  so  sonderbar  klingen  »Pleinairstudien« 
nach  nackten  Modellen.  Beim  Anblick  dieser  grell- 
blauen  Schalten,  dieser  Rosa-  und  Lilatöne  auf  den 
Körpern  drängt  sich  unwillkürlich  die  Trage  auf,  wie 
ein  Mensch  in  den  zwanziger  und  dreißiger  Jahren 
solche  Earben  sehen  konnte.  Auf  der  allermodernsten 
Ausstellung,  neben  den  Bildern  der  wildesten  Impressio¬ 
nisten,  würden  sie  nicht  ihre  Schärfe  und  Erische 
verlieren '). 

Unterdessen  fuhren  einige  überlebende  Künstler 
des  18.  Jahrhunderts  und  ihre  Schüler  fort,  Bildnisse 
zu  malen  so,  wie  man  es  von  altersher  gewohnt 
war.  Sammet  und  Seide  verschwanden  allmählich, 
Jabot,  Fichu  und  gepuderte  Perücken  wichen  anderen 
einfachen  Moden.  Selbstverständlich  wurden  auch 
die  Porträts  mit  der  Zeit  weniger  prächtig  und  reich. 
Dafür  aber  erschien  in  ihnen  ein  neues  Element:  sie 
wurden  lieblich  und  zart,  von  einer  leicht-languissanten 
Grazie  durchdrungen.  Das  was  bisher  nur  Lewizki 
in  seinen  Stiftsfräulein  auszudrücken  verstanden,  dies 
pikante  Gemisch  von  Sentimentalität  und  versteckter 
Koketterie,  von  Naivität  und  leichter,  kaum  merk¬ 
barer  Verderbtheit  —  alles  dies  wird  jetzt  gang  und 
gebe  bei  den  Künstlern  dieses  russischen  Bieder- 
meiertums  der  Zeit  Alexanders  1.  Auch  bei  Kiprenski 
fühlen  wir  zuweilen  diese  Stimmung,  so  in  dem 
reizenden  Kniestück  einer  Dame  in  gelbem  bunt¬ 
gesticktem  Schal  und  Häubchen.  Mehr  noch  bei 
Alexander  Warneck'^),  einem  anspruchslosen  und  an¬ 
genehmen  Maler.  Es  gab  noch  viele  Porträtisten, 
die  wenig  konnten,  dennoch  sympathische  Erschei¬ 
nungen  waren  in  ihren  offenen,  zarteinfachen  und 
naiven  Gefühlen.  Oft  auch  vollkommene  Dilettanten, 
welche  es  liebten,  mit  Pinsel  und  Stift  zu  spielen 
und  nur  auf  diese  Weise  ihren  Gefühlen  Ausdruck 
zu  geben  vermochten.  So  entstand  im  Verborgenen 

1)  Die  letzten  dieser  Studien  sind  in  der  Galerie 
M.  Botkin  in  Petersburg,  minderwertigere  in  der  Tretia- 
kovschen  Galerie  und  dem  Rumianzevschen  Museum;  im 
letzteren  auch  sein  großes  Bild  und  sämtliche  religiöse 
Skizzen. 

2)  1782—1843.  Schüler  Lewizkis  und  Stschukins. 


ZWEI  JAHRHUNDERTE  RUSSISCHER  KUNST 


67 


manch  intimes  feinsinniges  Werkchen.  Darum  wohl 
stehen  sie  uns  oft  so  nahe.  Sie  haben  für  uns  den 
eigenen  Reiz  alter  großmütterlicher  Stammbücher  mit 
den  rührenden  Widmungen  und  Gedichten,  mit 
naiven,  aber  liebevollen  Zeichnungen,  wo  wohl 
auch  dann  und  wann  eine  Modeberühmtheit  ihren 
Autographen  hinterließ.  Dieselben  Gefühle  hegen 
wir  auch  für  eine  Anzahl  Künstler,  welche  auf  kleinen 
Leinewanden  das  malten,  was  unsere  Großmütter  in 
ihre  Stammbücher  zeichneten.  Meistens  Interieurs 
und  was  sich  in  ihnen  abspielte.  Kleine  nette  Szenen 
des  Alltagslebens,  oft  auch  ländliche  Sujets.  In  dieser 
Zeit  lebte  und  arbeitete  ein  bescheidener  Künstler, 
welcher  es  verstanden  hatte,  aus  diesem  Zauberkreis 
des  Dilettantismus  einen  Schritt  in  die  wirkliche  Kunst 
zu  machen.  Alexe]  Wenezianov],  ein  Schüler  Boro- 
wikowskis,  mit  keinem  hervorragenden  Talent  begabt, 
war  weder  ein  glänzender  Kolorist,  noch  ein  guter 
Zeichner.  Dafür  liebte  er  die  Natur  über  alles  und 
malte  sie  so  gut  er  konnte.  In  seinen  letzten  Werken, 
die  er  peinlich  nach  der  Natur  malte,  fühlt  man  seine 
schlichte  und  kristallklare  Seele.  Meistens  sind  es 
Szenen  aus  dem  Dorfleben,  zwar  nicht  ohne  ein  leicht 
rustikales  Gepräge,  das  uns  heute  etwas  geziert  und 
wenig  überzeugend  scheint;  doch  liegt  dies  wohl 
eher  an  der  Epoche,  als  am  Künstler  selbst.  Vene- 
zianov  wird  zuweilen  der  Gründer  der  realistischen 
Schule  genannt.  Wohl  mit  Unrecht.  »Getreu  nach 
der  Natur«  wurde  lange  vor  ihm-)  und  auch  zu  seiner 
Zeit  gemalt,  doch  gehört  das  Schlagwort  »Realismus« 
einem  viel  späteren  Geschlechte  an,  welches  jeder 
Geziertheit  Eeind,  eher  in  das  Gegenteil,  eine  offene 
Brutalität,  verfiel. 

Gleichzeitig  mit  Wenezianov  arbeitetete  noch  eine 
ganze  Anzahl  ebenso  bescheidener  und  fleißiger  Künst¬ 
ler,  oder  auch  Amateure.  Sie  malten  Enfiladen  bunt 
tapezierter  Zimmer,  Musselinfigürchen  junger  Mädchen 
am  Spinet,  auf  dem  altmodischen  Rotholzdivan  plau¬ 
dernde  Herren  in  farbigen  Schlafröcken,  mit  langen 
Pfeifen  irn  Munde,  jedes  kleine  Detail  genau  ab¬ 
gemalt,  oft  nicht  ohne  malerischen  Reiz.  So  gelangen 
manchen  der  Wenezianov-Schüler  köstliche  kleine  Bilder, 
besonders  Tyranov  und  Selenzov%  Ein  anderer 
Schüler  Wenezianovs  Sergej  Sarianko^)  verstand  es, 
die  etwas  dilettantische  Malweise  der  Wenezianov- 
Schule  mit  soliderem  malerischen  Können  zu  ver¬ 
einigen.  Ein  sehr  sympathischer  Künstler  war  noch 
Graf  Feodor  Tolstoi,  ein  Zeitgenosse  Wenezianovs, 
Bildhauer,  Medailleur  und  Maler  vorzüglicher  In¬ 
terieurs. 

So  ein  Amateur  war  anfangs  auch  Paul  Fedotov'J, 
dieser  russische  Hogarth.  Noch  als  Offizier  zeichnete 
er  Szenen  aus  dem  Kasernenleben,  dem  Kleinbürger- 


1)  1780  —  1847. 

2)  So  das  köstliche  Bildchen  von  Lossenko  (1737  —  1773) 
in  der  Tretiakovschen  Galerie. 

3)  1790-1845. 

4)  1818  —  1870. 

5)  1816—1852,  Gardeoffizier,  verließ  den  Dienst, 
verfiel  durch  physische  Entbehrungen  in  Wahnsinn  und 
starb  in  einer  Anstalt  für  Geisteskranke. 


tum,  der  niederen  Bureaukratie.  Ohne  jegliche  mora¬ 
lische  Hintergedanken  malte  und  zeichnete  er  einfach, 
was  er  sah.  Er  sah  aber  dieses  graue  Alltagsleben 
mit  wahren  Künstleraugen,  seine  Kunst  liebte  er  über 
alles,  ihretwegen  hungerte  er  und  lebt^-  in  den  un¬ 
möglichsten  Spelunken.  Ein  vollkommener  Autodi¬ 
dakt,  arbeitete  er  Tag  und  Nacht  und  ’  ■ -chte  sein 
technisches  Können  so  weit,  daß  einige  üciails  seiner 
Bilder  wohl  eines  Mieris  wert  sind.  Später,  gleich¬ 
zeitig  mit  Gogol,  begann  eine  Neigung  zur  Moral¬ 
predigt  sich  in  seinen  Arbeiten  zu  zeigen.  Doch  liebte 
er  seine  Kunst  an  und  für  sich  zu  sehr,  um  sie  voll¬ 
ständig  der  Propaganda  moralischer  Ideen  zu  opfern. 
Eine  neue  Generation  griff  diese  Moralpredigt  auf, 
verstand  aber  nicht  in  den  Grenzen  der  Kunst  zu 
bleiben.  Bald  war  vom  Schönheitskultus  nichts  mehr 
übrig:  alles  war  schlecht  gezeichnete  und  gemalte 
Publizistik. 

Der  Anfang  dieser  Epoche  fällt  mit  den  Reformen 
der  sechziger  Jahre  zusammen.  Sie  waren  schon  jahr¬ 
zehntelang  vorbereitet  durch  eine  Reihe  Schriftsteller, 
welche  den  Orkan  der  europäischen  Revolutionen 
miterlebt.  Die  Ideen  Proudhons  fanden  Widerhall 
in  Rußland,  wurden  aber  einseitig  und  geradezu  bar¬ 
barisch  angewandt.  Der  Kunst  wurde  jede  selbständige 
Rolle  geraubt  und  man  kam  so  weit  zu  behaupten, 
daß  sie  nur  eine  jüngere  Schwester  der  Literatur  sei. 
In  Wirklichkeit  war  sie  nur  ein  armer  Bastard.  Der 
talentvolle  Kritiker  Pissarev,  der  Spitzführer  dieser 
kunstfeindlichen  Bewegung,  schuf  ein  geflügeltes  Wort, 
das  wohl  am  stärksten  ihr  Verhältnis  zur  Kunst  aus¬ 
drückte:  »Ein  Grütztopf  ist  tnehr  wert  als  die  Sixti¬ 
nische  Madonna«.  Gedenke  man  auch  des  Mannes, 
der  1848  in  Dresden  vorschlug,  die  Sixtinische  Ma¬ 
donna  auf  den  Eestungswall  zu  stellen,  um  sich  gegen 
die  preußischen  Kanonen  zu  schützen.  Er  dachte,  die 
Preußen  würden  aus  Pietät  nicht  auf  ein  solches 
Kunstwerk  schießen.  Auch  er  war  ein  Russe,  ein 
Genie  und  ein  Barbare  zugleich,  -  Bakunin.  Dem 
wütenden  Andrange  der  publizistisch-revolutionären 
Ideen  konnten  die  Künstler  nicht  widerstehen.  Sie 
gaben  nach  und  gingen  ins  Joch  der  Reformatoren. 
Doch  nicht  nur  sie  wandten  sich  von  Apoll  ab,  — 
auch  er  verließ  sie.  Wenn  einer  von  diesen  Verirrten 
seine  Blicke  von  neuem  zu  ihm  kehrte,  fand  er  keine 
Erhörung.  Dabei  waren  unter  ihnen  Leute  von  großer 
Begabung.  Zeitlich  der  erste  von  ihnen  war  Wassili 
Ferov  *),  ein  starker  herrischer  Charakter.  Jetzt  ist  es 
schon  über  ein  halbes  Jahrhundert  her,  daß  er  seine 
ersten  Bilder  malte;  wir  haben  uns  an  diesen  Ver¬ 
ächter  der  Schönheit  gewöhnt  und  müssen  gestehen, 
daß  in  vielem ,  das  unter  seinen  Händen  entstand, 
mehr  Kunst  ist,  als  er  selbst  wohl  vermutete.  Einige 
seiner  Sittenbilder  und  Porträts  werden  ohne  Zweifel 
einen  gewissen  absoluten  Wert  behalten  und  viel¬ 
leicht  noch  hoch  geschätzt  werden.  Ein  noch  größe¬ 
res  Talent  war  Wassili  Werestschagin-),  doch  auch 
er  war  vom  Dämon  der  Propaganda  besessen.  Was 


1)  1834  —  1882. 

2)  1842  1904. 


ZWEI  lAHRHUNDERTE  RUSSISCHER  KUNST 


jungen  Jahren  durch  Naturstudiuni  erwor- 

,  vvar  durch  langjährige  Bildermacherei  einge- 
.  .  t.  Erst  in  der  Napoleonserie  erklangen 

:  arben  und  rein  künstlerische  Gedanken ,  die  wieder 
der  Natur  abgelauscht  schienen  ^).  Diese  Serie,  welche 
ge  vöhnlich  als  sein  Verfall  bezeichnet  wird,  ist  eher 
eine  Renaissance  zu  nennen,  die  sich  bei  seinen 
letzten  Studien  aus  Japan  noch  steigert.  Es  änderte 
sich  zugleich  auch  sein  Verhältnis  zur  Moderne.  Er 
hat  es  mehrfach  geäußert,  das  Streben  der  jungen 
allein  nach  der  Schönheit,  der  Form  und  Farbe  sei 
der  einzig  richtige  Weg  zur  Kunst. 

Vielleicht  das  größte  Talent,  welches  durch  die 
Unkultur  einer  ganzen  Generation  in  seiner  Entwicke¬ 
lung  so  stark  gehindert  wurde,  ist  Ilja  Repin'~).  Die 
Natur  hatte  ihn  mit  solch  einer  Begabung  versehen, 
die  im  i  g.  Jahrhundert  in  Rußland  nur  einem  Brüllov 
und  Iwanov  zuteil  ward.  Er  war  Vater  aller,  die  in 
den  siebziger  und  achtziger  Jahren  begannen,  sich 
nach  der  Natur  zu  sehnen.  Er  spielte  eine  ähnliche 
Rolle,  wie  Courbet  in  Frankreich.  Auch  er  war  ein 
poesieloser  Prosaiker.  Er  liebte  nur  das  Leben  und 
diese  Liebe  wohl  war  es,  die  ihn  davor  rettete,  das 
Schicksal  seiner  Kameraden  der  »Wanderaussteller«®) 
zu  teilen.  Jetzt  scheint  uns  seine  Malerei  schwer, 
roh  und  langweilig;  er  gehört  für  uns  schon  der 
Geschichte  an.  Doch  auch  für  ihn  kommen  noch 
bessere  Tage.  Und  vielleicht  ist  die  Zeit  nicht  mehr 
weit,  da  eine  Auferstehung  des  Dramatischen  in  der 
Kunst  Repin  neue  Anhänger  wirbt.  Auch  seine  Por¬ 
träts  werden  wohl  noch  einmal  neu  entdeckt;  inwie¬ 
fern  können  wir  an  dem  psychologisch -fesselnden 
Bildnis  Mussorgskis  ahnen. 

Noch  einige  Namen  der  »Wanderer«,  die  schwer¬ 
lich  in  Vergessenheit  geraten  werden:  Nikolai  Gay^), 
ein  unruhiger  suchender  Grübler,  der  einige  in  ihrem 
nackten,  schneidenden  Realismus,  fast  verletzend  wir¬ 
kende  Episoden  aus  der  heiligen  Geschichte  und  eine 
Reihe  vorzüglicher  Bildnisse  hinterläßt.  Ferner 
Viktor  Wasnezov'^),  dessen  Bilder,  besonders  aber 
Illustrationen  aus  dem  altrussischen  Epos  eine  zahl¬ 
lose  Menge  Nachahmer  erzeugten  und  dessen  religiöse 
Kompositionen  die  byzantinische  Heiligenmalerei  neu 
auflebcn  ließen.  Vor  allem  aber  Wassili  Surikov'^), 
eine  der  eigenartigsten,  selbständigsten  und  dabei 
allerrussischsten  Erscheinungen  in  der  Kunst.  Alle 
seine  Bilder  sind  riesigen  Formates  und  stellen  Epi¬ 
soden  aus  der  Geschichte  Rußlands  dar').  Trotzdem 

1)  ln  der  Nähe  Moskaus  machte  er  unzählige  Natur¬ 
studien  für  diese  Serie. 

2)  Geb.  1844. 

3)  Dieser  Künstlerbund  organisierte  Anfang  der  sieb¬ 
ziger  Jahre  die  ersten  Wanderausstellungen,  welche  Rußland 
durchreisten  und  bis  heute  existieren.  Einer  der  Haupt¬ 
gründer  war  Iwan  Kramshoi  (1837—1887),  ein  schwacher 
Porträtist,  dessen  Werke  eher  retuschierten  Photographien 
ähnlich  sehen.  Dank  seiner  Bildung  spielte  er  eine  große 
Rolle  im  Kreise  seiner  Freunde. 

4)  1830-1894. 

5)  Geb.  1848. 

6)  Geb.  1848. 

7)  »Die  Hinrichtung  der  Strelizen  .  »Menschikov  in 


haben  sie  nichts  mit  der  landläufigen  Historienmalerei 
zu  tun,  nichts  mit  jenen  großen  theatralischen  Insze¬ 
nierungen,  welche  nach  den  Rezepten  Coutures,  Dela- 
roches  und  Pilotys  kombiniert  und  kompiliert  wurden. 
Es  war  kein  historisches  Genre,  was  er  malte,  keine 
Illustration  historischer  Anekdoten.  Er  verstand  es, 
uns  in  entfernte  Epochen  zu  versetzen,  undefinierbare 
Stimmungen  und  Nuancen  der  Vergangenheit  zu 
wecken.  Das  gelang  nur  wenigen.  So  dem  rätsel¬ 
vollen  Berliner  Zwerg,  der  kraft  seiner  magischen 
Kunst  die  Schatten  des  alten  Fritz  und  seiner  Tafel¬ 
runde  in  Sanssouci  aus  dem  Jenseits  zu  uns  gerufen. 
Vergleicht  man  Surikov  mit  Menzel,  diesem  Fein¬ 
schmecker  des  Rokoko,  so  scheint  er  daneben  grob 
und  barbarisch,  doch  unter  der  rauhen  Kruste  ist  ein 
unbegreifliches  historisches  Hellsehen  verborgen’). 
Neben  Surikov  auf  demselben  Gebiete  arbeitete  Alexej 
Riabuschkin  (1861  — 1904).  Trotz  der  gefährlichen 
Nachbarschaft  eines  solchen  Herrn  des  1 7.  Jahr¬ 
hunderts  wie  Surikov,  hatte  er  es  verstanden,  sich 
einen  kleinen  Winkel  zu  erobern,  den  ihm  keiner 
streitig  machen  kann.  Es  ist  das  intime  nicht  öffent¬ 
liche  Leben  des  alten  Moskau.  Seine  scharfe  Be¬ 
obachtungfand  auch  in  der  Jetztzeit  Motive  und  brachte 
ein  durch  sein  spezifisches  Parfüm  sich  auszeichnen¬ 
des  Bild  —  »die  Teetrinker«  hervor. 

Das,  was  die  »Wanderer«  mit  der  Kunst  Fedotovs 
gemacht  hatten,  dessen  Werke  noch  durch  viele  Fäden 
mit  der  großen  Vergangenheit  verbunden  waren,  das 
taten  sie  auch  mit  der  Landschaft,  — sie  vulgarisierten 
sie.  Kitschier  gab  es  nicht  unter  ihnen,  auch  nicht 
Calamesch wärmer;  zu  sehr  liebten  sie  die  Wahrheit. 
Die  Prinzipien,  welche  das  19.  Jahrhundert  von  Alexe- 
jev  und  dem  älteren  Stschedrin  erbte  und  die  in  den 
Bildern  des  jüngeren  Stschedrin  “)  eine  plötzliche  über¬ 
aus  glänzende  Renaissance  erlebten,  glimmten  noch 
in  den  Jugendwerken  Iwan  Aiwasovskis%  der  sie  mit 
einigen  eigenartigen  Turnerschen  Elementen  zu  ver¬ 
einigen  verstand,  fort,  flackerten  noch  einmal  in  den 
Landschaften  Maxim  Worobiovs^)  auf  und  erloschen. 
In  der  Tat,  Stschedrin  sen.  war  Schüler  Casanovas, 
der  letztere  Schüler  Guardis  -  so  ist  Stschedrin  jun. 
der  gerade  Urenkel  des  venezianischen  Farbenzauberers. 
Ungeachtet  dieser  Traditionen  ist  in  seinen  römischen 
und  neapolitanischen  Werken  so  viel  Originalität,  daß 
man  einige  von  ihnen  für  Corots  der  italienischen 
Periode  halten  kann.  Dieselben  grün-silbernen  Har¬ 
monien,  dieselben  leichten  luftigen  Töne.  Und  wer 
weiß,  ob  nicht  Corot  als  Jüngling  diese  Bilder  in 


der  Verbannung«.  »Die  Boyarin  Morosov«  in  der  Tretia- 
kovschen  Galerie.  »Die  Eroberung  Sibiriens«  im  Museum 
Alexander  111. 

1)  Zu  nennen  wären  noch  von  den  »Wanderern«: 
lUarion  Prianischnikov,  ein  tüchtiger  Genremaler,  Wladimir 
Makovski,  sein  Nachahmer  und  späterer  glücklicher  Rivale, 
Korsiichin,  Sawizki.  Yaroschlenko,  Maximov  —  alle  Gen¬ 
risten.  Endlich  Nesterov,  der  in  seinem  kraftlosen  Epi¬ 
gonentum  seinen  Begeisterer  Vasnezov  nie  erreicht. 

2)  Silvester  Stschedrin,  1791—1830. 

3)  >817 

4)  1787-1855. 


J.  RF.PIN.  LEO  TOLSTOI  IN  SEINEM  ARBEITSZIMMER 
Im  Besitz  des  Herrn  N.  Perzov,  St.  Petersburg 


K.  KOROWTN.  SÄNGER  SCMALIAPIN 
Ini  Besitz  des  Herrn  J.  Morosnv,  Moskau 


Zeitschrift  füt  bildende  Kunst.  N,  f.  XVIII.  11.  3 


K.  JUON.  MARKT 


10 


ZWEI  JAHRHUNDERTE  RUSSISCHER  KUNST 


7C 


Rom  gesehen.  Es  ist  möglich,  daß  Rußland  ohne  die 
Wandererbarbaren  sein  eigenes  Barbizon  erlebt  hätte. 
Und  dennoch,  hat  nun  dieses  grobe  Vulgarisieren  der 
Landschaft  nur  Schaden  gebracht?  Kaum:  eine  Propa¬ 
ganda  der  Wahrheit,  der  einfachen  nackten  Wahrheit 
war  stets  vonnöten  und  hat  ihre  Mission  erfüllt. 
Die  Landschafter,  welche  im  Atelier  ihre  Wälder, 
Berge  und  Meere  komponierten,  ohne  je  etwas  ähn¬ 
liches  in  der  Natur  gesehen  zu  haben,  waren  in  ihrem 
rücksichtslosen  Zynismus  zu  weit  gegangeiU).  Als 
Gegengewicht  war  ein  grober,  schonungsloser  Natura¬ 
lismus  nötig,  eine  animalische  Naturiiebe,  nur  lag  hier 
der  Nachdruck  eben  auf  der  Wahrheit,  dem  »Selbst¬ 
gesehen  .  Das  was  damals  Wahrheit  schien,  ist  es  schon 
für  uns  nicht  mehr.  Auch  die  Wahrheit  ist  ja  wie  alles 
relativ.  Und  gewiß  ist  dies  für  uns  ein  großes  Glück. 

Der  erste  von  diesen  Wahrheitssuchern  war  Iwan 
Schischkirr).  Er  malte  nach  der  Natur,  nur  nach 
der  Natur,  verbrachte  ganze  Tage  im  Walde  von 
Jugend  auf  bis  ins  tiefe  Alter.  Seine  Landschaften 
sind  trocken,  langweilig  und  korrekt;  er  haßte  so 
heiß  jede  Komposition,  die  er  für  etwas  Unehrliches, 
Lügnerisches  hielt,  daß  er  in  ein  anderes  Extrem  ver¬ 
fiel,  in  das  Protokoll.  Seine  Bedeutung  in  der  Ent¬ 
wickelung  der  russischen  Landschaft  im  letzten  Viertel 
des  19.  Jahrhunderts  ist  ebenso  wie  die  Repins  sehr 
groß.  Ebenso  wie  dieser  war  er  durch  und  durch 
Prosaiker,  ebenso  mit  eiserner  Gesundheit  und  eiser¬ 
nem  Fleiß  begabt:  ein  griesgrämiger  Waldschrat  mit 
seiner  buschigen  Löwenmähne  und  seinem  unge¬ 
schlachten  Benehmen.  Er  war  nur  noch  gröber  als 
Repin,  welcher  Rembrandt  und  Velasquez  vergötterte. 
Schischkin  verachtete  sie  alle  offen,  denn  sie  waren 
alle  »verlogen«.  Eine  andere  bedeutende  Gestalt  war 
Archip  K^iiinshi'^),  welcher  die  Künstlerkreise  im  An¬ 
fang  der  siebziger  und  achtziger  Jahre  durch  seine 
Beleuchtungseffekte  in  Aufregung  brachte.  Damals 
schienen  diese  blendende  Sonne,  diese  heißen  Sonnen¬ 
untergänge  und  stillen  Mondscheinbilder  der  künstle¬ 
rischen  Jugend  Offenbarungen.  Heute  müssen  wir 
sagen,  daß  seine  Sonnenbeleuchtung  mit  den  schwarzen 
Schatten  etwas  sehr  Unwahres,  Laternenhaftes  hat,  ebenso 
wie  man  bei  seinen  Mondscheinlandschaften  unver¬ 
meidlich  an  bengalisches  Feuer  denkt.  Dennoch  war 
auch  seine  Mission  sehr  wichtig.  Endlich  muß  noch 
Sawrassov^)  genannt  werden,  dessen  Bedeutung  eine 
ganz  hervorragende  war.  Sein  berühmtes  Frühlings¬ 
bild  in  der  Tretiakovschen  Galerie  bewirkte  einen 
völligen  Umschwung  in  der  russischen  Landschaft. 
Hier  glaubten  alle  nicht  bloß  die  protokollarische, 
sondern  die  echte  künstlerische  Wahrheit  zu  fühlen. 
Es  war  ein  Frühling  der  russischen  Landschaftsmalerei. 
Wassili  Polenov'^)  war  das  Bindeglied  zwischen  Sav- 

1)  Unter  ihnen  waren  auch  begabte  Leute,  wie  Bogo- 
liubov,  Lagorio,  Orlovski  (nicht  mit  dem  gewandten,  doch 
oberflächlichen  Zeichner  zu  verwechseln),  Klever  (jetzt  zum 
Kitschmaler  geworden).  Alle  unerträgliche  Bildermacher. 

2)  1831  —  1808. 

3)  Geb.  1842. 

4)  1830—1897. 

5)  Qeb.  1844. 


rassov  und  der  heranwachsenden  Generation.  Ein 
fein  gebildeter,  viel  gereister  Mann,  war  er  es,  der 
die  jungen  Moskauer  auf  die  westeuropäische  Kunst 
hinwies.  Er  zeigte  ihnen  Corot  und  Werke  der  ande¬ 
ren  Barbizoner;  er  vermittelte  ihnen  den  Eintritt  in 
zwei  Privatgalerien  in  Moskau,  in  denen  Corot,  Dau- 
bigny,  Dupre,  sogar  Millet  und  andere  ausgezeichnet 
und  zahlreich  vertreten  waren.  Besonders  der  junge 
Konstantin  Kprowin  i)  war  es,  auf  den  dies  einen 
tiefen  Eindruck  machte.  Mit  diesem  Namen  beginnt 
die  Geschichte  der  neuesten  russischen  Malerei.  Von 
nun  an  verschwindet  die  Manier,  die  Künstler  in  Land¬ 
schafter,  Genremaler,  Porträtisten  usw.  zu  teilen,  völligs). 

:!•  sf: 

Charakteristisch  ist,  daß,  ebenso  wie  in  Frankreich 
die  Malerei  ihren  Fortschritt  der  Landschaft  verdankt. 
Unter  dem  Einfluß  Sawrassovs  und  Polenovs  begannen 
die  jungen  Künstler  begeistert  die  neuentdeckte  Natur 
zu  malen;  es  war  nicht  diejenige,  welche  der  alte 
Schischkin  mit  seinen  kalten,  gleichgültigen  Augen 
sah.  Man  lernte  in  Barbizon,  man  strebte  nach  dem 
schönen  Ton,  nach  einem  pikant  gewählten  Motiv. 
Neben  Korowin  arbeiteten  Isaak  Lewithan'^)  und  Va¬ 
lentin  Serov^).  Diese  drei  Künstler  gaben  der  rus¬ 
sischen  Grundnote,  die  Sawrassov  und  Polenov  ange¬ 
schlagen,  erst  die  rechte  künstlerische  Form.  Korowin 
verstand  wie  kein  anderer  den  geheimen  Reiz  der 
Fleckenwirkung,  Lewithan  entdeckte  die  Poesie  der 
armseligen  russischen  Dörfer  und  fand  Mittel,  sie  aus¬ 
zudrücken.  Serov,  gleichfalls  ein  Dichter  ärmlicher 
nordischer  Felder,  struppiger  Bauernpferdchen  ■'^)  und 
trauriger  grauer  Herbsttage,  liebte  mehr  als  seine  Kame¬ 
raden  die  Farbe.  Von  Jugend  auf  ein  Schüler  Repins, 
war  er  schon  mit  20  Jahren  ein  vollkommen  fertiger 
Künstler  und  schuf  alsjüngling  einige  Porträts,  welche 
alles  bis  dahin  Gemalte  hinter  sich  ließen,  ebenso  wie 
vieles  später  Ausgestellte.  Besonders  fein  in  der  Malerei 
waren  zwei  Porträts,  beide  aus  der  zweiten  Hälfte 
der  achtziger  Jahre.  Indem  lichtdurchfluteten  Kinder¬ 
porträt  hat  das  Repinsche  Problem  der  Unerwarteten 
Heimkehr«'’)  einen  bedeutend  feineren  Interpreten  ge- 

1)  Geb.  1861. 

2)  Schon  Polenov  malte  alles,  jedoch  in  seinen 
großen  religiösen  Kompositionen  war  er  nur  ein  Epigone 
Brüllovs  und  zwar  der  letzten  Periode  Sein  Hauptwerk 
liegt  in  der  Landschaft  und  in  seinem  persönlichen  Einfluß 
auf  die  künstlerische  Jugend  Moskaus.  Von  den  übrigen 
Epigonen  der  Historie  wären  noch  Flawizki,  Perov  der 
letzten  Jahre  und  Sieniiradzki  zu  nennen.  Letzterer  war 
übrigens  selbständiger  und  ihm  ist  ein  gewisser  Schön¬ 
heitssinn  nicht  abzusprechen.  Eerner  die  beiden  5iiV^- 
doniski  und  Kalarbinski. 

3)  1861  —  iQOO,  Schüler  Sawrassovs. 

4)  Geb.  1865.  Schüler  Repins  und  Tsebistiakovs,  eines 
der  feinsten  Zeichner,  Brunischer  Schule. 

5)  Seine  Vorgänger  auf  diesem  Gebiete  waren  Peter 
Sokolov,  ein  poetisch  gesinnter  Maler  kleiner  Jagdbilder, 
und  Pferdemaler  Twertschkov. 

6)  Eins  von  seinen  berühmtesten  Bildern,  das  noch 
heute  seine  malerischen  Reize  nicht  verloren  hat. 


10 


FÜRST  A.  SCHERWASCHIDZE.  PORTRÄT  N,  TARCHOV.  ZIEGEN 

Im  Besitz  des  Herrn  R.  Woslr^nkov,  Moskau 


72 


ZWEI  JAHRHUNDERTE  RUSSISCHER  KUNST 


fiinden.  Das  Serovsche  Werk  ist  noch  realer,  weist 
aber  dabei  einen  malerischen  Charme  auf,  der  Repin 
ganz  fremd  war.  In  den  schillernden  musikalischen 
Earben  des  anderen  Porträts  könnte  man  den  Einfluß 
Renoirs  sehen,  wäre  nicht  dieses  junge  hellgekleidete 
Mädchen  im  sonnigen  Garten  lange  vor  Serovs  Be¬ 
kanntschaft  mit  den  Impressionisten  gemalt.  In  Mos¬ 
kau  geriet  er  unter  den  Einfluß  Korowins,  und  mit 
ihm  und  Lewithan  gab  er  sich  ganz  einer  leiden¬ 
schaftlichen  Suche  nach  russischen  Motiven  hin.  Ganz 
unmerklich  kamen  sie  alle  drei  zu  eleganten  silber¬ 
grauen,  auf  die  Dauer  aber  einförmig  langweiligen 
Harmonien.  Dieser  graue  melancholische  Ton  schien 
ihnen  die  wahre  nationale  Earbenskala,  es  schien  als 
ob  die  grauen  Hütten,  die  grauen  Herbsttage  und 
die  ganze  armselige  Natur  nur  mit  diesen  diskreten 
Earben  richtig  charakterisiert  werden  könnten.  Serov 
machte  mehrfach  den  Versuch,  zur  Earbe  zuriiekzu- 
kchren;  doch  niemals  gelang  es  ihm,  die  Koloristik 
seiner  ersten  Porträts  zu  erreichen.  In  der  Charakte¬ 
ristik  dagegen  ging  er  stetig  vorwärls  und  gab  unter 
anderem  solche  Werke  wie  das  Porträt  M.  .Morosovs. 
Auch  begann  er  eine  Serie  Gouaches  aus  dem  höfischen 
Leben  des  i8.  Jahrhunderts,  welehe  in  vielen  Bezieh¬ 
ungen  Menzeischen  Schöpfungen  nahe  kommen.  Lewi¬ 
than  gab  eine  Reihe  reizvoller  russischer  Landschaften 
voll  sammetener  Melancholie  und  träumerischer  Poesie. 
Zum  Schluß  seines  kurzen  Lebens  fühlte  er  jedoch, 
daß  er  nur  zu  lange  in  einer  Kunst  verharrte,  die 
eigentlich  schon  fast  die  Literatur  streift:  war  in  der 
Kunst  der  Wanderer  ein  gut  Teil  Literatur,  so  war 
auch  in  diesem  unermüdlichen  Suchen  nach  spezifisch 
russischen  Motiven  eine  gewisse  Dosis  literarischer 
Hypnose.  Das  Entscheidende  in  der  Malerei  ist  durch¬ 
aus  nicht  die  Poesie  des  Motives,  sondern  die  Poesie 
ihrer  eigenen  Formen;  ebenso  wie  in  der  Musik  nicht 
das  Sujet  wichtig  ist,  nicht  die  Poesie  der  Fabel,  sondern 
die  Musik  selbst,  das  mystische,  rätselhafte  Innere  der 
musikalischen  Konzeptionen,  welche  »musikalische,  nur 
rein  musikalische«  genannt  werden  können.  Ebenso 
gibt  es  Malerei,  allein  Malerei.  Ganz  zu  Ende  seines 
Lebens  wird  sich  Lewithan  dieser  Wahrheit  bewußt, 
ihn  ergreift  ein  rasender  Farbendurst.  Es  gelingt  ihm, 
sieh  aus  seiner  Grauheit  herauszuarbeiten,  doch  der 
Tod  unterbricht  plötzlich  sein  Schaffen.  Korovin 
malte  noch  in  den  achtziger  Jahren  einige  reizvolle 
Bilder  kleineren  Formates  und  in  den  neunziger  Jahren 
das  lebensgroße  Porträt  einer  Dame  in  Weiß,  ganz 
eminent  in  seinem  silbernen  Ton.  Auf  der  Weltaus¬ 
stellung  in  Paris  igoo  fiel  er  dureh  seine  dekorativen 
Panneaus  auf,  in  denen  er  es  verstanden  hatte,  die 
japanischen  Farbenholzschnitte  für  seine  nordischen 
dekorativen  Phantasien  zu  benutzen. 

Unterdessen  arbeitete,  wohl  auch  unter  europäischen 
Einflüssen  eine  Anzahl  Künstler  in  Moskau,  unter 
denen  besonders  Ilja  Ostroiichov Wassilij  Pereplet- 
schikov^),  Abram  Archipov  und  Sergej  Winogradov  zu 
nennen  wären.  Etwas  abseits  steht  ApolUnarij  Was- 


1)  Geb.  1858. 

2)  Geb.  1863. 


snezov'^),  ein  Bruder  Viktors,  der  Autor  groß  ange¬ 
legter  sibirischer  Urallandschaften  und  einer  Serie 
interessanter  Zeichnungen  und  Aquarelle  aus  dem 
Leben  Alt-Moskaus.  Diese  ganze  Bewegung  spielte 
sich  in  Moskau  im  Laufe  von  zwei  Jahrzehnten  ab, 
von  1880  1900.  In  Petersburg,  wo  sich  die  Akade¬ 

mie  befand,  schien  die  Kunst  vollkommen  zu  ver¬ 
steinern;  sogar  Repin,  der  einzig  lebendige,  zog  auch 
in  den  achtziger  Jahren  nach  Moskau. 

Doch  plötzlich  im  Anfänge  der  neunziger  Jahre 
tauehen  im  einförmigen  Gewühl  der  Aquarellausstel¬ 
lungen  sonderbare,  noch  nie  gesehene  Zeichnungen 
und  Aquarelle  auf.  In  diesen,  gänzlich  mit  der  Peters¬ 
burger  Ausstellungskunst  dissonierenden  Illustrationen 
aus  dem  1 8. Jahrhundert  von  Alexander  Benois'j  fühlte 
man  etwas,  was  weder  bei  den  Wanderern,  nodi  beim 
damaligen  Jung-Moskan  zu  finden  war.  Wer  in  der 
westeuropäischen  Kunst  zn  Hause  war,  konnte  natür¬ 
lich  die  künstlerische  Provenienz  dieser  Arbeiten  fest¬ 
stellen.  Erstens  waren  es  die  genialen  Zeichnungen 
Menzels  aus  dem  Leben  Friedrichs  des  Großen.  Schon 
allein  die  Liebe  für  diesen  Menzel  der  vierziger  Jahre, 
für  das  Rokoko,  welches  von  verschiedenen  italie¬ 
nischen  und  Münchener  Malern  zu  einem  so  ver¬ 
achteten  Genre  heruntergedrückt  war,  zeigt  in  ihm 
einen  Künstler  von  ganz  besonderer  Selbständigkeit. 
Bald  nachdem  Benois  an  die  Öffentlichkeit  getreten, 
folgt  Wm  Konstantin  Soniov'^)  mit  pikanten  Aquarellen 
aus  der  Biedermeierzeit,  vor  welchen  man  anfangs 
nicht  wußte,  war  es  eine  große  Sehnsucht  nach  ent¬ 
schwundenen  Zeiten,  oder  eine  leise,  tiefverborgene 
Ironie.  Die  Bilder  Benois  wurden  belacht;  vorSomovs 
Aquarellen  hielt  man  sich  buchstäblich  die  Seiten. 
Wie  lachte  das  Publikum  beim  Anblick  dieser  komischen 
Krinolinfigürchen  und  Krüppelchen,  welche  der  jungen 
Kunst  nun  ein  für  allemal  den  beleidigenden  Ausdruck 
»Dekadent«  verschafften,  der  schon  früher  der  jungen 
Moskauer  Schule  angehängt  war.  Am  lächerlichsten 
erschien  gerade  das,  was  der  Kern  und  die  Kraft 
dieser  neuen  Kunst  war.  Fast  gleichzeitig  begann 
diese  Bewegung  in  London  mit  dem  genialen  Beards- 
ley  und  in  Deutschland  mit  den  Zeichnungen  Th. 
Th.  Heines,  Julius  Diez  und  den  Zeichnern  des 
Simplizissimus.  Diese  leidenschaftliche  Sehnsucht 
nach  der  Schönheit  vergangener  Epochen  verkörperte 
sich  nicht  in  Bilderchen  aus  Rokoko,  Zopf  und  Bieder¬ 
meierzeit,  sondern  führte  zu  einer  wahren  Renaissance 
der  Graphik.  Beardsleys  ätherische  Kunst,  ein  köst¬ 
liches  Amalgam  altfranzösischer  Graphik  und  raffi¬ 
nierten  japanischen  Farbenholzschnittes,  war  etwas 
ganz  Neues,  nie  Dagewesenes,  ein  orgiastisch  packender, 
berauschender  Nektar.  Aueh  Heine  und  Diez  schufen 
neue  Werte,  nachdem  sie  der  bizarren  phantastischen 
Graphik  des  18.  Jahrhunderts  Herr  geworden  waren. 
Benois  klammert  sich  an  Menzel,  an  seine  Lehrer,  die 
Franzosen,  und  an  Chodowiecki,  den  Urquell  Menzel¬ 
scher  Inspirationen.  Somov  vergrub  sich  in  die  lieben 

1)  Geb.  1856. 

2)  Geb.  1870. 

3)  Geb.  1869. 


V.  SEKOV.  PETER  I.  AUF  DER  JAGD 
Im  Besitz  des  Herrn  Kulepov,  Gatschina 


I.  LEWITHAN.  HERBST 
Ini  Besitz  des  Herrn  N.  Perzov,  St.  Petersburg 


74 


ZWEI  JAHRHUNDERTE  RUSSISCHER  KUNST 


alten  Stammbücher,  lockenden  Modebildchcn,  in  all 
die  köstlichen  Nippes  und  amüsanten  Dingelchen, 
welche  ihn  von  Jugend  auf  in  seinem  Elternhause 
umgaben  und  nach  denen  er  die  Petersburger  und 
Pariser  Antiquarbuden  durchstöberte. 

Diese  graphische  Bewegung  zog  eine  ganze  Reihe 
junger  Petersburger  Künstler  in  ihren  Bann:  tilgen 
Lanceray^) ,  Leo  Bakst'-),  Anna  Osiroiimov,  Alstislav 
Dobiizcinski  und  Victor  Samirailo.  Im  Laufe  einiger 
Jahre  arbeiteten  diese  Künstler  für  die  Zeitschrift  Mir 
Iskusstwa«  und  schufen  wahre  Perlen  zeichnerischer 
Kunst,  blinkend  in  der  hohen  Vollkommenheit  ihrer 
kapriziösen,  endlosen  Erfindungskraft  und  geschmack¬ 
vollen  Raffinerie.  Sie  fanden  ihre  eigene  Kunst,  deren 
Anfang  zwar  auch  in  Beardsley  zu  suchen  ist,  sich 
aber  in  ganz  neue  meisterhafte  Eormen  ergoß.  Bakst 
ist  außerdem  wohl  das  größte  dekorative  Talent  Ru߬ 
lands.  Seine  leichten,  graziösen,  ewig  neuen  archi¬ 
tektonisch  überzeugenden,  dabei  neckisch  prickelnden 
Phantasien  sind  manchen  der  schönsten  Leistungen 
des  i8.  Jahrhunderts  an  die  Seite  zu  stellen.  Wie 
keiner  versteht  er  es,  dem  wollüstigen  Laufe  der  Kon¬ 
turen  zarter  Erauenkörper  zu  folgen,  wie  keiner  spinnt 
er  mit  seinem  zauberhaften  Stift  blinkende  Gewebe 
geistreicher  flüsternder  Intrigen.  Die  ganze  Gruppe 
inspirierte  Benois,  diese  hochbegabte  Natur,  die  zum 
Lehrer  wie  geschaffen  schien.  Er  erweckte  die  ganz 
vergessene  Buchkunst  zu  neuem  Leben.  Er  bewachte 
wie  ein  Argus  die  ihm  so  teuere  alte  Kunst,  und 
verteidigte  sie  so  gut  er  konnte  gegen  die  modernen 
Vandalen,  welche  ihre  Hände  an  die  alten  Kunst¬ 
denkmäler  legten.  Unter  seiner  Feder  entstanden 
glänzende  Apologien  der  Schönheit.  Sie  gehören  zu 
den  besten  Seiten  sowohl  des  »Mir  Iskusstwa«,  wie 
auch  anderer  Zeitschriften.  Seine  eigene  Kunst  ist 
sehr  originell  und  fand  große  Anerkennung  auch  im 
launischen  Paris.  Er  besitzt  ein  nicht  endenwollendes 
Erfindungstalent  und  ist  ein  geistreicher  Zeichner 
und  Improvisator:  die  kompliziertesten  Kompositionen, 
die  feinsten  ornamentalen  Linien  fließen  mit  einer 
Leichtigkeit  aus  der  Spitze  seines  Pinsels.  In  den 
letzten  Jahren  scheint  sich  in  ihm  eine  Wandlung  zu 
vollziehen;  er  beginnt  sich  zur  Farbe  zu  wenden, 
seine  Malerei  wird  heller,  er  befreit  sich  allmählich 
von  den  schweren  grauen  Tönen,  dem  Erbteil  der 
Graphik.  Noch  ein  Künstler  ist  hier  zu  nennen: 
Stepan  Jaremitsch ,  mit  seinen  Versaillesstudien,  die 
in  einer  eigenartig,  an  Graphik  mahnenden  Technik 
gemalt  sind,  zwar  noch  schwer  und  düster  in  den 
Farben,  doch  verraten  sie  auch  einen  ausbrechenden 
Farbendurst.  Auch  Somov  steht  an  einem  Scheide¬ 
wege.  Er  möchte  gern  von  einer  nicht  zu  leugnenden 
Manieriertheit  seiner  letzten  Werke  loskommen,  dank 
zu  langer  Trennung  von  der  Natur,  dem  Urquell  jedes 
Schaffens.  Die  letzte  Zeit  beschäftigt  er  sich  fast  nur 
mit  Porzellanskulptur;  diese  fein  empfundenen  Figür- 
chen  scheinen  eine  wahre  Auferstehung  eines  Aulicek 
oder  Kändler.  Frau  Ostroumov  treibt  ausschließlich 

1)  Geb.  1875. 

2)  Geb.  1867. 


Farbenholzschnitt  und  Lithographie,  worin  sie  großen 
Geschmack  und  ein  distinguiertes  Können  besitzt.  Agnes 
Lindeniann  ist  noch  hier  zu  erwähnen,  eine  brave 
Zeichnerin  kleiner  Interieurs  in  Larssonschem  Stil. 
Ferner  Alexander  Haiisch  und  Diinitri  Kardovski,  ein 
derber,  erfahrener  Zeichner,  der  durch  Münchenerische 
Kunst  erzogen  ist.  Gleichzeitig  arbeitete  in  Peters¬ 
burg  der  tüchtige  Porträtist  Josef  Dras  und  in  Mos¬ 
kau  ein  vorzüglicher  Illustrator  und  Zeichner  Leonid 
Pasternak,  der  sich  durch  seine  Tolstoiserie  schönen 
Ruf  auch  im  Auslande  erworben. 

Es  gibt  Augenblicke  in  der  Kunstgeschichte,  wo 
sich  trotz  starker  Talente  eine  leise  Ermattung,  ein 
kaum  merkliches  Nachgeben  der  schöpferischen  Energie 
fühlbar  macht:  gewisse  Ergebnisse  sind  errungen, 
gestürzt  sind  alle,  die  man  bekämpfte,  das  Ringen  ist 
zu  Ende,  die  revolutionäre  Stimmung  weicht  einem 
friedlichen  Ausnützen  der  Eroberungen.  Zu  solcher 
Zeit  gibt  es  kein  Vorschreiten.  Mehr  noch:  dringt 
nicht  ein  frisches  Element  ein,  so  kann  auch  die 
köstlichste  Kunst  in  einem  wenn  auch  noch  so  schön 
verzauberten  Kreise  erstarren.  Etwas  ähnliches  voll¬ 
zog  sich  an  der  Jahrhundertwende  in  Rußland.  Der 
Kreis  der  »Mir  lskusstwa«-Zeichner  ist  in  einer  Lage, 
in  der  sich  auch  die  Simplizissimusgraphiker  befinden: 
zu  viel  Vollkommenheit.  Die  schärfsten  Bosheiten 
eines  Heine  flössen  schon  bis  zum  letzten  Tropfen 
seines  künstlerischen  Giftes  aus,  die  sichersten  Kon¬ 
turen  und  die  schönsten  Tonalitäten  der  bestialischen 
Instinkte  erklangen  längst  bei  einem  Bruno  Paul, 
seine  duftigsten  Linien  schon  fand  ein  Bakst  und 
seine  virtuosesten  Grotesken  erlebte  ein  Lanceray. 
Wohin  weiter?  Im  besten  Falle  ein  stetes  Sich- 
wiederholen.  Oder  eine  neue  Verliebtheit  in  die 
Natur,  eine  neue  Rückkehr  vom  stilisierten  Leben 
zum  Chaos  zitternder  Farben  und  wogenden  Lichts. 
Nach  einer  Generation  von  Stilisten  müßte  wieder 
eine  Malergeneration  kommen.  Maler  gab  es  unter 
den  Petersburger  Graphikern  nicht;  nur  noch  in 
Moskau  malte  man.  Doch  konnte  man  sich  dort 
aus  der  Formel  der  Graumalerei  nicht  herausarbeiten. 
Im  Jahre  igoo  stirbt  Lewithan,  welcher  eben  gerade 
noch  seine  offizielle  Anerkennung  erlebte.  Es  be¬ 
ginnt  eine  Periode,  wo  alle  Ausstellungen  durch 
lewithanisierende  »Rußlandsucher«  überschwemmt 
sind;  zugleich  greift  unter  Zorns  Einfluß  eine  uner¬ 
trägliche  Breitpinselei  um  sich.  Auch  Jan  Zion- 
glinskif  verfällt  dieser  Pinselei,  nachdem  er  einer 
der  ersten  gewesen,  der  in  seinen  Studien  die  Morgen¬ 
röte  der  kommenden  Farbenprobleme  ahnte.  Auf 
den  talentvollen  Schüler  der  Petersburger  Akademie 
Filipp  Maliavinf  halte  die  berühmte  rote  Dame 
Zorns’  eine  sehr  nachhaltige  Wirkung.  Er  malt  seine 
grellroten  Bauernweiber,  welche  einen  solchen  Erfolg 
auf  der  Pariser  Weltausstellung  hatten;  neben  diesen 
meterlangen  Farbenbändern,  diesen  wilden  Pinsel¬ 
hieben  schienen  selbst  die  flottesten  Porträts  Zorns' 
schüchtern  und  zahm.  Maliawin  ist  kein  eigentlicher 

1)  Geb.  1863. 

2)  Geb.  i86(). 


ZWEI  JAHRHUNDERTE  RUSSISCHER  KUNST 


Naturalist;  mit  jedem  Jahr 
entfernt  er  sich  mehr  von 
der  Natur  und  lebt  allein 
für  seine  wahnsinnigen, 
blutigen  Fanfaren;  alljähr¬ 
lich  verstärkt  er  ihre  Leucht¬ 
kraft  und  Grellheit.  Un¬ 
willkürlich  fragt  man  sich; 
wann  ist  er  zu  Ende,  wie 
lange  noch  reicht  die  ge¬ 
waltige  Stimme,  die  ihm 
die  Natur  gegeben. 

Nicht  fern  von  den 
Farbenproblemen  stand 
eine  Gruppe  junger  Künst¬ 
ler,  die  sich  um  Kninshi 
geschart.  Nach  seinen 
Triumphen  in  den  sieb¬ 
ziger  und  achtziger  Jahren 
verließ  dieser  originelle 
Mensch  für  immer  die 
Öffentlichkeit,  dabei  aber 
im  stillen  weiter  arbeitend. 
Als  die  Akademie  1894 
reformiert  wurde,  erhielt 
er  ein  Meisteratelier  und 
schuf  eine  ganze  Schule 
Landschafter,  unter  denen 
mehrere  interessante  und 
starke  Talente  waren.  Die 
eigenartigsten  unter  ihnen 


v.  MUSSATOV.  IM  SCHLUMMER 


sind  Nikolai  Röhrich 
und  .  Xi'küvU  Rylov\  In 
den  ers! /  '  ''ß'Urn  Röh- 
v'Nt;  '  '  C'  pich  der 
Sh!  i.'i. den; 
Vieh:.':  wozu 

später  ■  ■  ’  ,n  dec 

Finnen  OeH  T' ’d; 

rieh  ist  ie  ;  ’  -d;  ^ 

ruhiger  Kü  .  d  /  .  '  ps 

ist  schwer  ze  ;pen,  .. 
rin  sich  sein  Talent  noeü 
verkörpern  wird.  Jeden¬ 
falls  malte  er  mehrere, 
interessant  konzipierte  und 
ausgeführte  Werke,  wel¬ 
che  in  schönen  harmoni¬ 
schen,  doch  leider  oft 
schweren  und  allzu  düste¬ 
ren  Farben  gehalten  sind. 
Rylov  ist  ein  begabter  Poet 
der  nordischen  Natur,  in 
der  er  aufgewachsen  ist. 
Sein  Grünes  Rauschen 
ist  ein  ernstes,  ausgetrage¬ 
nes  Werk.  Von  den  übrigen 
Schülern  Kuinshis  wäre 
noch  der  talentvolle  Boga- 

1)  Oeb.  1S74. 

2)  Oeb.  1872. 


M.  WRUBEL.  AUEERSTEIIUNO 
Stäcllisclies  Museum,  Kiev 


76 


ZWEI  JAHRHUNDERTE  RUSSISCHER  KUNST 


jevski  za  nennen  mit  seinen  sonderbaren  steinernen 
Landschaften,  und  Latri,  der  Maler  Krimer  Motive. 
Die  schweren  schwarzen  Farben  Kuinshis  erbte  seine 
ganze  Schule.  Sein  Streben  nach  Vereinfachung  der 
Formen  und  Farben  nahm  in  den  Werken  der  Jungen, 
dank  einiger  Münchener  Einflüsse,  eine  Wendung  zu 
einem  aufdringlichen  Stilisieren.  Sogar  Rylov,  ein 
geborener  ^  Naturalist,  verfällt  oft  in  ein  unnötiges 
Lapidarisieren. 

Eine  frische  rein  naturalistische  Strömung  ergoß 
sich  in  die  Kunst  erst  mit  dem  Erscheinen  von  einer 
Reihe  Studien  und  Bildern  verschiedener  Maler,  die 
lange  im  Auslande  gelebt  und  gearbeitet  und  in  der 
Kunst  Monets  und  später  auch  Cezannes,  Gauguins 
und  van  Ooghs  das  fanden,  was  einem  versumpften 
Moskau  und  Petersburg  nötig  war.  Von  da  an  sah 
man  wieder  fröhliche,  furchtlose  Farben,  die  den 
Charakter  der  Ausstellungen  vollkommen  veränderten. 
Map  verstand,  daß  außer  dem  grauen  hoffnungslosen 
Rußland  es  noch  ein  anderes  freudigeres  gibt;  wie 
armselig  Rußland  auch  sei,  die  Sonne  doch  für  jeder¬ 
mann  scheine.  Man  verstand,  daß  dieses  reiche 
schenkende  Gestirn  auf  dem  Schnee  solche  Farben¬ 
orgien  entflammte,  im  blauen  Himmel  solche  Türkise 
und  Saphire  entzündete  und  den  Brillanten  der  mit 
Reif  bedeckten  Bäume  solche  Regenbogen  entlockte, 
daß  unsere  Palette  dagegen  arm  und  kraftlos  schien 
und  die  ganze  frühere  Farbenprüderie  und  Grau¬ 
keuschheit  nur  ein  trauriges  Mißverständnis  gewesen 
war.  Einige  Namen:  Nikolai  Tarchov,  Impressionist, 
auch  in  Paris  sehr  geschätzt;  schönes  Farbengefühl; 
Nikalai  Milioti,  ganz  merkwürdiger  Farbenphantast; 
Alexej  Jawleiiski,  ein  in  van  Gogh  und  Gauguin  ver¬ 
liebter,  doch  selbständiger  Palettenexperimentator:  Boris 
Anisfeld,  auch  ein  unermüdlicher  Sucher  und  Grübler; 
Walther  Lockenberg,  Maler  der  Rennen  und  seiden¬ 
schillernder  Jockeys;  auch  Igor  Grabar^).  In  Moskau 
verließ  eine  ganze  Anzahl  Künstler  die  Reihen  der 
Graumaler:  Wassili  Perepletschikov ,  der  einst  auch 
eine  Rolle  in  dem  Rußlandsuchen  gespielt;  Konstatin 
Yuon,  der  talentvolle  Schöpfer  einer  Serie  von  Bildern 
aus  dem  Leben  der  Kleinstadt;  seine  letzten  Werke 
zeigen  in  ihren  frischen  Farben,  daß  er  schon  vieles 
erreicht  und  noch  viel  mehr  erreichen  wird;  Nikolai 
Mestscherin,  ein  stilles,  poesievolles  Talent,  das  seine 
reduzierten  Farbenharmonien  gegen  starke  Farben 
vertauschte,  die  in  ihm  immerzu  schlummern  schienen. 
Ferner  von  den  jüngsten  noch,  Michael  Larionov, 
ein  starkes  naturalistisches  Talent. 

Zur  Zeit  als  das  Triumvirat  Serov- Korowin- 
Lewithan  ihr  so  nötiges  und  wichtiges  Werk  taten, 
lebte  und  arbeitete  in  Moskau  ein  Künstler,  der  nichts 
mit  den  Idealen  seiner  Feunde  gemein  hatte.  Das 
war  Michael  Wriibel'-).  Noch  in  den  siebziger  Jahren 
entwarf  Wrubel  für  die  im  Bau  befindliche  Wladimir¬ 
kirche  in  Kiew  eine  Anzahl  Skizzen,  welche  für  jene 

1)  Der  Leser  wird  wohl  das  etwas  kitzliche  Zusammen¬ 
fällen  der  soeben  zitierten  Persönlichkeit  mit  der  des  Ver¬ 
fassers  dieses  Aufsatzes  nicht  übel  nehmen. 

2)  Geb.  1850. 


Zeit  so  hirnverbrannt  schienen,  daß  man  sie  nur  be¬ 
lachte,  die  Wände  der  Kathedrale  aber  einem  anderen 
zum  Dekorieren  gab.  Und  gerade  in  diesen  fünf 
Skizzen  fühlt  man  den  Stempel  eines  unverstandenen 
Genies.  Wären  diese  Skizzen  ausgeführt,  so  würde 
Rußland  eine  Kirche  besitzen,  wie  sie  seit  der 
Renaissance  nicht  mehr  entstanden.  Das,  wovon 
Iwanov  nur  zu  träumen  wagte,  hatte  er  nach  einem 
halben  Jahrhundert  wieder  aufgegriffen.  Aber  sein 
eigenes  koloristisches  Genie  gab  diesen  Träumen 
einen  hinreißenden  Reichtum  an  Nuancen  und  Farben. 
Ein  Mensch,  der  mit  einem  Regenbogen  in  den  Augen 
geboren  ist.  Was  für  eine  Kraft  des  dekorativen  Gefühls, 
was  für  ein  Verständnis  der  Wand,  was  für  eine  Monu¬ 
mentalität  und  freskenartige  Einfachheit  der  Linien 
und  Flächen.  Wenn  dieser  wunderbare  Mensch  einen 
grenzenlosen  Schmerz  ausdrücken  wollte,  so  verstand 
er  es,  ein  abgrundtiefes  Fallen,  —  so  fand  er  die 
überzeugendste,  oft  furchtbar  verzerrte  fratzenhafte 
Form.  Auch  Titanen,  wie  Donatello  und  Michel¬ 
angelo  taten  es,  ebenso  Rubens.  Von  den  Modernen 
Gauguin  und  van  Gogh.  Bei  Wrubel  wird  dieses 
Verzerren  manchmal  zur  fürchterlichen,  krampfhaften, 
jedoch  niemals  gewollten,  wenn  auch  oft  hilflosen 
Grimasse.  So  die  horrende,  gigantische  Kraftan¬ 
strengung,  die  er  »Dämon«  nannte.  Dieser  gefallene 
Engel,  eins  der  letzten  Werke  Wrubels,  symbolisiert 
seinen  eigenen  Fall,  den  Fall  eines  Riesen  unter  der 
Kraft  übermenschlichen  Wollens.  Früher  unver¬ 
standen  und  einsam,  ist  jetzt  sein  Name  auf  aller 
Lippen  und  sein  Einfluß  auf  die  Jugend  wächst  tag¬ 
täglich.  Seine  Kunst  setzte  eine  Gruppe  junger  künst¬ 
lerischer  Kräfte  ins  Leben,  welche  Bruchstücke  seiner 
gewaltigen  Gesänge  aufsammelten.  Der  erste  von 
ihnen  ist  Paul  Kusnezov.  Ein  Schüler  Serovs,  be¬ 
gann  er  mit  naturalistischen  Studien,  bis  ihm  Wrubel 
und  die  Malerei  Victor  Mussatovs^)  neue  Horizonte 
öffneten.  Dieses  zu  früh  verstorbene  Talent,  das  auch 
mit  einer  kindlichen  Liebe  an  den  Epochen  festhielt, 
welchen  Benois  und  Somov  so  nahe  standen,  war 
ihnen  jedoch  ganz  unähnlich.  Benois  liebte  die 
zeichnerische  Schönheit  des  Vergangenen;  Somov 
auch  die  malerische,  wenn  auch  in  einer  alther¬ 
gebrachten,  altmodischen  Form.  Die  Sprache  dieser 
beiden  ist  älter  als  Monet;  Mussatovs  Ausdrucksweise 
ist  nur  nach  den  Impressionisten  möglich.  Die  letzten 
Jahre  suchte  er  eine  Synthese  der  koloristischen  Ent¬ 
deckungen  des  Impressionismus  uud  seiner  eigenen 
schlaftrunkenen  Schwärmereien  und  duftigen  Visionen. 
Der  Tod  überraschte  ihn  inmitten  dieses  qualvoll 
grübelnden  Suchens.  Kusnezov  verband  das  orna¬ 
mentale  Erbe  Wrubels  mit  den  Traumbildern  Mussatovs 
und  es  gelang  ihm  etwas  vollkommen  Eigenes,  oft 
sehr  Reizvolles  zu  schaffen.  Leider  nur  zu  oft  ist  es 
die  grausame  finstere  Grimasse  Wrubels  und  die 
Krüppeligkeit  Mussatovs,  welche  bei  Kusnezov  zu 
einer  so  hilflosen  Zerbrochenheit  und  einem  so 
greisenhaften  Ramolisement  bei  dem  noch  ganz 
jungen  Geschöpf  wird,  daß  dies  zurückstößt  und 

1)  iSÖQ— 1905, 


ZWEI  JAHRHUNDERTE  RUSSISCHER  KUNST 


77 


den  Genuß  stört.  Wenn  es  ihm  gelingen  sollte, 
seines  Talentes  Herr  zu  werden,  so  wird  Rußland  in 
ihm  eine  der  schönsten  dekorativ -koloristischen  Be¬ 
gabungen  erhalten,  die  je  existierten.  Von  seinen 
Gesinnungsgenossen  ist  der  stärkste  wohl  Sergei 
Sudejkin,  ferner  Tatiana  Lugovskoi,  mit  ihren  schön- 
tonigen  Gouachen  und  der  Graphiker  Nikolai  Feofi- 
laktov. 

Außer  den  genannten  Künstlern  arbeiteten  noch 
mehrere  seit  Jahren  im  Auslande:  in  Wien  ein  großes 
männliches  Talent  Helene  Liiksch-Makowski,  in  Paris 
der  etwas  indolente,  doch  zäh  suchende  Alexander 


ein  kleiner  Trubezkoi  sein  darf.  Sie  gingen  zu  Rodin 
nach  Paris.  So  arbeitete  bei  ihm  die  begabte  Anna 
Oolubkin. 

In  der  dekorativen  Kunst  hat  Moskai?  eine  be¬ 
deutende  Rolle  gespielt.  Gleichzeitig  mit  der  Ru߬ 
landsucherei  der  Landschafter  war  es  e’n  Kreis  be¬ 
gabter  Leute,  die  unter  dem  Einflüsse  russischer 
Märchen  und  der  dekorativen  Arbeiten  VKtor  Vas- 
nezovs  begannen,  seine  Ideen  zu  entwickeln.  Hier 
war  vor  allem  Helene  Polenov\  ein  starkes,  durch¬ 
aus  unweibliches  Talent  mit  ihren  entzückenden 
Märchenillustrationen  und  ornamentalen  Komposi- 


I..  BAKST.  ILLUSTRATION  ZU  DER  NOVELLE  GOGOLS  DIE  NASE  . 
Im  Besitze  des  Herrn  W.  Hirschmann,  Moskau 


Scherwaschidze,  und  andererseits  die  fleißige  und 
auch  begabte,  doch  zu  flüchtige  Zeichnerin  Elisabeth 
Kraglikov,  in  München  der  hoffnungslos  schwarze, 
wenn  auch  farbengierige  Wassilij  Kandinski. 

Mit  der  Skulptur  stand  es  in  Rußland  sehr  schlecht. 
Zwar  flackerte  dann  und  wann  ein  lebendiges  Flämm- 
chen  auf;  so  in  den  Pferden  des  Baron  Klodts  und 
in  einigen  Skulpturen  des  oft  überschätzten  Antokolski. 
Doch  blieben  sie  einsam  und  verlöschten  bald.  Erst 
als  Paul  Trubezkoi  nach  Rußland  kam,  schien  auch 
unter  den  jungen  Kräften  sich  etwas  zu  regen;  bald 
aber  verstanden  die  gesundesten  von  ihnen,  daß  der 
sogenannte  Impressionismus  in  der  Skulptur  ein  zu 
individualistisches  Ding  sei  und  man  nicht  ungestraft 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XVIII.  H.  3 


tionen  zu  nennen.  Ihr  Schüler  Alexander  GolowiiE), 
der  sich  allmählich  zu  einem  hervorragenden  Deko¬ 
rateur  entwickelte,  konkurrierte  hierin  erfolgreich  mit 
Korowin.  Helene  Polenov  inspirierte  auch  den  geist¬ 
reichen  Sergej  Maliutin,  welcher  einige  reizvolle 
Aquarelle  in  russischem  Stil  gab,  und  endlich  die 
eigenartige  Stickerin  Natalja  Dawydov.  Ohne  Zweifel 
ist  auch  Maria Jakuntschikov^)  zeitweise  unter  ihrem 
Einfluß  gewesen.  Ein  übrigens  sehr  selbständiges 
Talent,  welches  in  einigen  originellen  Werken  einzig 


1)  1850—  i8g8. 

2)  Geb.  1860. 

3)  1870—1902. 


ys 


ZWEI  JAHRHUNDERTE  RUSSISCHER  KUNST 


dasteht.  Ihre  mit  harmonischen  Farben  illuminierten 
Holzbrandpanneaux  machen  trotz  ihrem  offenen  Kon- 
ventionalismus  einen  überraschend  '  frischen  Natur¬ 
eindruck. 

* 

Teilt  man  die  Ausstellung  in  drei  Gruppen,  die 
alte  Kunst,  die  Übergangsperiode  der  sechziger  bis 
achtziger  Jahre  und  die  Moderne,  so  kommt  man  zur 
Einsicht,  daß  die  erste  und  die  letzte,  wenn  auch 
mit  einigen  Lücken,  doch  erschöpfend  dargestellt, 
dagegen  von  der  zweiten  von  den  »Wanderern«  so 
viel  wie  nichts  zu  sehen  ist.  Da  die  meisten  der 
alten  Heiligenbilder  und  Wandmalereien  teils  in 
Kirchen,  teils  im  Besitz  von  Museen  sind,  war  es 
ausgeschlossen,  ein  richtiges  Bild  dieser  Periode 
russischer  Kunst  zu  geben.  Dafür  ist  das  i8.  Jahr¬ 
hundert  glänzend  vertreten,  fast  jeder  von  den  großen 
Malern  und  Bildhauern  mit  seinen  schönsten  Werken. 
So  Nikitin  mit  seinem  »Hetman«,  Matwejev  mit  dem 
Selbstporträt,  Rokotov  mit  »Katharina  11.«  und  den 
beiden  Porträts  des  jungen  Paul;  auch  der  andere 
Paul  von  Stschukin  ist  hier,  sowie  auch  die  eminente 
Marmorbüste  von  Stschedrin.  Ferner  die  ganze  Serie 
von  Lewizkis  »Stiftsfräulein«,  der  Kuschnikov  von 
Borowikovski,  sowie  auch  die  Alexejevschen  Neva- 
landschaften  und  die  Fontäne  vom  älteren  Stschedrin. 
Leider  ist  der  junge  Stschedrin  schlecht  dargestellt; 
ihn  kann  man  nur  in  Moskau  kennen  lernen.  Die 
größte  Lücke  ist  das  vollkommene  Fehlen  Alexander 


Iwanovs,  dessen  Werke  unmöglich  zu  bekommen 
waren.  Brüllov  ist  genügend  vertreten:  eins  von  den 
großen  Bildnissen  der  Gräfin  Samoilov  ziert  die 
Ausstellung;  auch  das  Ehepaar  Olenin,  das  ent¬ 
zückende  Aquarell.  Von  Kiprenski  sind  nicht  die 
besten  Werke  ausgestellt,  sein  feines  Selbstporträt 
ausgenommen.  So  gut  wie  alles,  was  die  »Wanderer« 
brachten,  befindet  sich  in  der  Tretiakovschen  Galerie 
und  man  konnte  diese  ehrlichen  Barbaren  nicht  dem 
Auslande  zeigen.  Auch  von  Repin  sind  nur  einige 
unbedeutende  Porträts  und  eine  minderwertige  Skizze 
zu  seinen  »Kosaken«  zu  sehen. 

Die  moderne  Abteilung  setzt  mit  Lewithan  ein. 
Er  selbst  und  sein  Gefährte  Serov  sind  in  zahlreichen 
Arbeiten  vorhanden,  dagegen  stellte  Korowin  außer 
einem  größeren  Panneau  nur  einige  nicht  gerade  ge¬ 
lungene  Studien  aus.  Ein  klares  Bild  gewinnt  man 
von  dem  Schaffen  der  verstorbenen  Maria  Jakun- 
tschikov.  Wrubel  ist  ein  ganzer  Saal  gewidmet,  wo 
man  die  köstlichen  religiösen  Skizzen,  das  wunder¬ 
bare  Bild  »33  Seeritter«  und  ein  riesiges  Panneau 
sehen  kann.  Das  letztere  gehört  nicht  zu  seinen 
besten  Werken,  ebenso  wie  auch  verschiedene  im  Ton 
schwere  Wandmalereien.  Der  »Dämon«  ist  nur  durch 
eine  kleine  Variante  vertreten. 

Die  Petersburger  Graphiker  haben  auch  ihren 
Saal;  außer  Somov,  dem  ein  eigener  zur  Verfügung 
gestellt  ist.  Ein  anderer  Saal  vereinigt  die  Werke 
von  Mussatov  und  der  jüngsten  Moskauer.  Stark 
sind  auch  die  Farbensucher  vertreten. 


FÜRST  PAUL  TRUBEZKOI.  MÄDCHEN  MIT  HUND 


BUCHERSCHAU 


Frühholiänder  IIL  —  Frühholländer  in  Italien.  Heraus¬ 
gegeben  von  Dr.  Franz  Diitberg.  Druck  und  Verlag  von 
H.  Kleinmann  &  Co.,  Haarlem. 

Mit  den  vorliegenden  Heften  setzt  Dülberg  ein  Unter¬ 
nehmen  fort,  das  hier  schon  einmal  freudig  begrüßt 
worden  ist.  Dank  seiner  Bemühung  besitzen  wir  gute 
Lichtdrucke  von  den  Altären  Engelbrechtsens  und  Lucas 
van  Leydens  im  städtischen  Museum  zu  Leiden,  ferner 
eine  kunstgeschichtlich  wertvolle  Ergänzung  dazu  in  den 
Abbildungen  der  altholländischen  Gemälde  im  erzbischöf¬ 
lichen  Museum  zu  Utrecht.  Und  jetzt:  zwei  Umschläge 
mit  45  Tafeln,  die  »Frühholländer«  in  italienischen  Samm¬ 
lungen.  Eine  große  Zahl,  eine  überraschende  Bereicherung! 
Ist  doch  in  den  Handbüchern  zu  lesen,  daß  die  Monumente 
der  altholländischen  Malerei  in  den  Bilderstürmen  fast  ganz 
zugrunde  gegangen  seien. 

Allerdings  stammen  die  meisten  Bilder,  die  D.  publi¬ 
ziert,  nicht  aus  dem  15.  Jahrhundert,  sondern  aus  den  ersten 
Jahrzehnten  des  16.,  aus  einer  Periode  also,  die  uns,  was 
die  holländische  Malerei  angeht,  schon  weniger  interessiert. 
Die  holländische  Kunst  der  älteren  Zeit  läßt  sich  nach  dem 
heutigen  Stande  der  Kenntnis  nicht  fest  umschreiben,  nicht 
genau  trennen  von  der  südniederländischen.  Holländisch 
erscheint  uns,  was  an  einen  der  nachweislich  in  Holland 
tätigen  Meister,  wie  Oeertgen,  Jacob  van  Amsterdam,  Engel- 
brechtsen,  erinnert.  D.  hat,  wie  ich  glaube  und  vor  den 
einzelnen  Tafeln  bemerken  werde,  den  Kreis  zu  weit  ge¬ 
zogen  und  allerlei  Werke  aufgenommen,  deren  holländische 
Herkunft  zweifelhaft  und  selbst  einige,  deren  nichthollän¬ 
dische  Herkunft  sicher  ist. 

Die  drei  ersten  Blätter  bringen  den  öfters  besprochenen 
Triumph  des  Todes  aus  dem  Palazzo  Sclavani  zu  Palermo. 
Die  im  Text  als  Hypothese  vorgetragene  Bestimmung,  daß 
die  —  am  stärksten  an  Pisanello  erinnernden  --  Malereien  von 
einem  Holländer  in  der  ersten  Hälfte  des  15.  Jahrhunderts 
geschaffen  seien,  halte  ich  für  unzutreffend,  zum  mindesten 
ist  die  Stilähnlichkeit  mit  den  —  von  Vogelsang  publizierten 
—  holländischen  Apokalypse-Miniaturen  keineswegs  über¬ 
zeugend. 

Auf  der  vierten  Tafel  ist  die  miniaturartig  kleine 
Madonna  aus  der  Ambrosiana  abgebildet,  auf  die  ich  im 
Repertorium  f.  Kunstw.  (XXII,  S.  331)  hingewiesen  habe. 
D.  beschriftet  die  Abbildung  »dem  Geertgen  van  St.  Jans 
nahestehend«.  Ich  habe  das  Täfelchen  stets  für  ein 
charakteristisches  Original  des  Holländers  gehalten  und 
halte  es  noch  dafür.  Die  Wurzel  Jesse,  im  Besitze  des  in 
Rom  lebenden  Grafen  Stroganoff  (früher  Sammlung  Meazza) 
ist  auf  Tafel  5  abgebildet  und  mit  Recht  als  »Schule 
Geertgens«  bestimmt.  Das  interessante,  um  1500  ent¬ 
standene  Bild  ist,  wie  ich  vermute,  eine  Jugendarbeit  Jan 
Mostaerts,  dessen  Abstammung  von  Geertgen  auch  sonst 
bemerkbar  ist.  Die  Faltenlinien,  der  Ausdruck,  die  Hand¬ 
form,  die  etwas  geckenhafte  Kostümierung  führen  zu  dieser 
Vermutung.  Die  sechste  Tafel  bringt  die  Kreuzigung  in 
den  Uffizien,  von  der  neuerdings  mehrmals  die  Rede  war. 
Von  dem  um  1510  wahrscheinlich  in  Holland  tätigen 
Schöpfer  dieser  Kreuzigung,  dem  Meister  der  Amster¬ 
damer  Virgo  inter  virgines,  sind  etwa  zwölf  andere  Ar¬ 
beiten  nachweisbar,  die  man  am  vollständigsten  in  der 
Zeitschrift  Onze  Kunst  (August  igo6,  S.  39)  aufgezählt 
findet.  Das  größte  Werk  des  Malers  wird  im  Bowes- 
Museum  in  Nordengland  bewahrt,  das  feinste  im  Salz¬ 
burger  Museum.  D.  nennt  aus  der  Reihe  nur  zwei,  nämlich 


die  Beweinung  Christi  in  der  Sammlung  Le  Roy  in  F'aris 
und  die  Kreuzigung  ln  der  Sammlung  Glitza  zu  Hamburg. 

Auf  Tafel  7  findet  man  Gerard  Davids  Frühwerk,  die 
Kreuznagelung,  die  der  Lady  Layard  gehört.  D.  setzt  hinter 
die  von  v.  Bodenhausen  und  sonst,  soweit  ich  sehe,  aner¬ 
kannte  Bestimmung  ein  Fragezeichen  und  betont  richtig 
den  holländischen  Charakter  der  Tafel. 

Die  beiden  Flügel  mit  Paradiesdarstellungen  aus  der 
venezianischen  Akademie,  die  auf  den  Blättern  8  und  9 
mit  der  Bezeichnung  »Schule  des  Hieronymus  Bosch 
erscheinen,  möchte  ich  für  Originale  von  der  Hand  des 
großen  Träumers  halten.  Allerdings  mit  Vorbehalt.  Ich 
entsinne  mich  der  Bilder  nicht  genau  und  urteile  haupt¬ 
sächlich  nach  den  Abbildungen.  Diese  Flügel  scheinen 
doch  den  ähnlichen  Stücken  im  Escurial  an  Qualität  gleich 
zu  stehen.  Von  Jan  Mandyn  bringt  die  zehnte  Tafel  eine 
signierte,  übrigens  recht  schwache  Bosch-Nachahmung,  die 
Dollmayr  1898  im  österreichischen  Jahrbuch  schon  ver¬ 
öffentlicht  hat.  Dollmayr  hat  diesem  Gemälde  aus  Palazzo 
Corsini  zu  Florenz  schon  mehrere  stilverwandte  Stücke 
angereiht. 

Die  Legendenszenen  aus  der  Geschichte  der  hl.  Agnes 
und  der  hl.  Katharina,  im  Palazzo  reale  in  Genua  (Taf.  11,12), 
gehören  mit  zwei  Tafeln  in  der  Straßburger  Galerie,  die 
Dülberg  irrtümlich  als  Kopien  nach  den  Genueser  Stücken 
bezeichnet,  zu  einem  großen  Altar.  Den  Meister  setzt  D. 
etwas  zu  früh  an  (um  1480).  Um  1500  wäre  richtiger.  Ob 
dieser  Maler  ein  Holländer  war,  lasse  ich  dahingestellt. 
Wahrscheinlich  hat  er  in  Oberitalien  gearbeitet,  weil  alles, 
was  ich  von  ihm  kenne,  aus  Italien  kommt  oder  noch  ln 
Italien  sich  befindet.  Seine  Hauptwerke  sind  eine  stattliche 
Kreuztragung,  die  aus  Florenz  vor  einem  Jahr  in  den  Lon¬ 
doner  Kunsthandel  gelangte,  und  die  Anbetung  der  Könige, 
die  als  »Girolamo  v.  Aeken  in  der  Turiner  Galerie  aus¬ 
gestellt  ist  (Alinari  P  2,  14804a).  Da  die  Legendenszenen 
in  Straßburg  und  Genua,  von  denen  je  zwei  übereinander 
einen  Flügel  bilden,  eine  Höhe  von  158  cm  etwa  erreichen, 
eine  Breite  aber  von  101  cm,  die  Tafel  in  Turin,  nach  dem 
Katalog,  212  cm  breit  und  155  cm  hoch  ist,  so  wäre  die 
Möglichkeit  zu  erwägen,  ob  nicht  diese  Anbetung  der 
Könige  das  Mittelbild  zu  den  Legendenszenen  ist. 

Die  mittelmäßigen  Leinwandbilder  im  Museo  civico 
von  Cremona  (Taf.  13,  14)  mit  Szenen  aus  der  Hiobs¬ 
geschichte  sind  vielleicht  holländisch.  Sicher  ist  das  nicht. 
Die  anscheinend  bedeutende  Beweinung  Christi  aus  dem 
Museo  nazionale  zu  Palermo  (Taf.  15)  kann  nach  der  wenig 
gelungenen  Abbildung  nicht  recht  beurteilt  werden. 

Die  nun  folgenden  Bilder  sind  in  die  holländische 
Schule  eingereiht,  weil  ihr  Stil  den  Herausgeber  mehr 
oder  minder  stark  an  die  Kunst  des  Cornelis  Engel- 
brechtsen  erinnerte,  ln  allen  Fällen  begnügt  sich  Dülberg 
mit  der  vorsichtigen  Unterschrift  »dem  C.  Engelbrechtsen 
verwandt«  oder  ähnlich.  Die  elegant  und  schwungvoll 
komponierte  Beweinung  Christi  in  der  Galerie  von  Turin 
(Taf.  16)  steht  freilich  anderen  niederländischen  Werken 
aus  der  Zeit  um  1510  weit  näher  als  den  beglaubigten 
Schöpfungen  des  Leidener  Meisters.  Denselben  Stil  zeigen, 
um  nur  einige  Hauptwerke  zu  nennen,  zwei  Kreuzigungs¬ 
darstellungen  in  der  Münchener  Pinakothek  und  im  erz- 
bischöflichen  Museum  zu  Köln,  sowie  ein  prächtiger  Altar 
mit  der  Anbetung  der  Könige  in  der  Brera  zu  Mailand. 
Die  Arbeiten  dieses  wohl  südniederländischen  Malers  sind 
aus  dem  großen  Werk  des  Herr!  met  de  Bles  herauszu- 


11 


8o 


BÜCHERSCHAU 


lösen.  »Verwandt  dem  Hieronimus  Bosch  würde  ich  die 
Vermutung  des  hl.  Antonius  in  der  Galerie  Borromeo 
nennen  (Taf.  17).  Uber  den  in  der  Abbildung  ziemlich 
undeutlichen  hl.  Christoph  aus  der  Sammlung  Chiaramonte 
Bordonaro  (Taf.  18)  wage  ich  nicht  bestimmt  zu  urteilen. 
Dem  Engelbrechtsen  nahe,  wie  Diilberg,  finde  ich  die 
kleinen  Tondi  —  David  und  Abigail,  Gideon  —  in  der 
Carrand-Sammlung  zu  Florenz  (Taf.  ig,  20'.  Keinerlei  Zu¬ 
sammenhang  mit  dem  Leidener  Meister  zeigen  mir  der 
Ölberg,  der  dem  Grafen  Stroganoff  gehört,  stimmungsvoll 
in  der  Landschaft,  aber  schwach  in  der  Zeichnung  der 
Figuren  (Taf.  21),  ferner  die  nnbedei.iende,  wohl  noch  dem 
15.  Jahrhundert  angehörige  Kreuzigung  in  der  Corsiniana 
zu  Rom  (Taf.  22),  endlich  die  beiden  Flügel  mit  weiblichen 
Heiligen  in  Pisa  (Taf.  24,  25). 

Das  Werk  eines  Brügger  Meisters,  nämlich  des  Jan 
Provost,  ist  die  in  einer  Kirche  auf  dem  Altar  stehende 
Madonna,  ein  Bild,  das  durch  sein  ungewöhnliches  Motiv 
und  die  Anmut  der  Marienfigur  fesselt  (Cremona,  Taf.  23), 

Das  Triptychon  mit  der  Kreuzigung  im  Mittelfelde,  der 
Ausstellung  und  Dornenkrönung  Christi  auf  den  Flügeln, 
in  Turin  (Taf.  26,  27)  ist  öfters  in  der  Literatur  erwähnt 
worden,  stets  im  Zusammenhänge  mit  einer  Kreuzigung 
im  Staedelschen  Institute  zu  Frankfurt.  Mit  schwach  be¬ 
gründeter  Hypothese  nennt  Dülberg  diesen  Maler,  der 
wirklich  ein  Holländer  zu  sein  scheint,  Hughe  Jacopszoon 
und  reiht  irrtümlich  andere  Bilder  hier  an,  dabei,  was  ganz 
unverständlich  ist,  das  berühmte  Hauptwerk  des  kölnischen 
Meisters  der  hl.  Sippe,  die  figurenreiche  Kreuzigung  in 
Brüssel. 

Herr  Baron  Tücher  (jetzt  in  Wien,  vorher  in  Rom) 
besitzt  drei  interessante  Passionstafeln,  die  Geißelung 
Christi,  Beweinung  und  Kreuzigung,  die  von  der  Münchener 
Renaissanceausstellung  her  weiteren  Kreisen  bekannt  sind. 
Dülberg  veröffentlicht  diese  Bilder  mit  der  fragwürdigen 
Bestimmung  Leidener  (?)  Arbeit  gegen  1505«  (Taf.  28,29,30). 

Von  den  vier  Zeichnungen,  die  wir  unter  dem  be¬ 
rühmten  Namen  des  Lucas  van  Leyden  finden,  hat  der 
aufwärts  blickende  Männerkopf  aus  den  Uffizien  nicht  das 
geringste  mit  dem  holländischen  Meister  zu  tun,  ist  viel¬ 
mehr  italienisch  (Taf.  31),  dagegen  scheint  mir  das  eben 
dort  bewahrte  Brustbild  eines  Mannes,  Nr.  1325  (Taf.  32), 
ein  charakteristisches,  vielleicht  nicht  tadellos  erhaltenes 
Original  von  Lucas  zu  sein,  wie  die  ganz  einwandfreie 
und  sehr  schöne  Studie  zu  dem  Kupferstiche  B.  10,  eben¬ 
falls  in  den  Uffizien  (Taf.  33).  Das  weichliche  Porträt 
eines  Jünglings  in  Seitenansicht  (Museo  Correr  zu  Venedig, 
Taf.  34)  halte  ich  für  eine  Nachahmung  aus  der  Zeit  um 
1600.  Fine  dankenswerte  Beigabe  ist  ein  unbeschriebener 
Ornamentstich  des  Lucas  aus  derselben  Sammlung  (Taf.  35). 


Die  Kreuzigung  aus  dem  Museo  civico  von' Verona, 
mit  effektvollen  Kontrasten  groß  angelegt,  aber  nichts 
weniger  als  sorgfältig  durchgebildet,  steht  in  der  Tat  der 
Kunst  des  Lucas  van  Leyden  sehr  nahe  (Taf.  36).  Meine 
Bestimmung  eines  harten  Triptychons  im  Palazzo  Durazzo- 
Pallavicini  zu  Genua  anerkennend,  publiziert  D.  die  Ma¬ 
donna  mit  dem  hl.  Franz  und  Stiftern  auf  den  Flügeln 
unter  dem  Namen  des  Meisters  der  Magdalenen-Legende 
(Taf.  41)  und  versetzt  diesen  Maler  irrtümlich  unter  die 
Holländer.  Die  Komposition  des  Mittelfeldes  ist  entlehnt, 
sie  kommt  öfters  vor  und  geht,  wie  ich  glaube,  auf  Bernaert 
van  Orley  zurück.  Zu  vergleichen  für  die  Komposition 
wären  das  Triptychon  vom  Meister  der  Magdalenen- 
Legende  in  der  Sammlung  des  Chev.  Mayer  zu  Antwerpen, 
die  Madonna  in  der  versteigerten  Sammlung  Rinecker 
(Auktion  Köln  1888,  Nr.  8),  eine  Bildweberei  in  der  Pariser 
Sammlung  Le  Roy  (abg.  Les  Arts  November  IQ02),  ein 
Flügelaltärchen  in  der  Sammlung  Beurnonville  (Auktion, 
Paris  1883),  die  Tafel  mit  den  Freuden  Mariä  in  der 
Galerie  Colonna  zu  Rom  und  eine  Madonna  aus  der 
Sammlung  Breuken  zu  Wewer,  die  sich  zurzeit  im  Münchener 
Kunsthandel  befindet.  Wenn  D.  die  Komposition  in  der 
hier  angedeuteten  Art  verfolgt  hätte,  wäre  er  wahrscheinlich 
nicht  auf  den  Gedanken  gekommen,  den  Maler  des  Genueser 
Triptychons  für  einen  Holländer  zu  erklären. 

Auf  Tafel  42  ist  eine  Anbetung  der  Könige  aus  dem 
Museum  zu  Verona  publiziert,  deren  Replik  im  Kaiser- 
Friedrich-Museum  zu  Berlin  bekannter  ist.  Den  Stil¬ 
zusammenhang  mit  dem  Meister  von  Flemalle  hat  schon 
V.  Tschudi  in  seinem  Aufsatz  im  Jahrb.  d.  preuß.  Ksts. 
erkannt.  Fin  schwacher  Anklang  an  Jacob  van  Amsterdam 
gibt  dem  Herausgeber  ein  gewisses  Recht,  das  Bild  an 
dieser  Stelle  vorzuführen.  Mit  vielen  stark  bewegten 
Figuren  gefüllt,  etwa  in  der  Art  des  Braunschweiger 
Monogrammisten  komponiert,  ist  die  Darstellung  des 
Turmbaues  von  Babel  aus  der  Akademie  zu  Venedig,  die 
—  schwerlich  richtig  —  Jan  Swart  van  Groningen  zu¬ 
geschrieben  ist  (Taf.  43). 

Festeren  Boden  unter  den  Füßen  haben  wir  bei  Be¬ 
urteilung  der  beiden  Bildnisse  von  Jan  van  Scorel  in  der 
Doria-Galerie  zu  Rom  —  Agathe  van  Schoenhoven  —  und 
in  der  Lochis-Galerie  zu  Bergamo  —  des  schönen  Knaben¬ 
bildnisses.  Fben  so  wohlgesichert  und  allgemein  an¬ 
erkannt  ist  das  Hauptwerk  des  Jacob  Cornelisz  auf  italieni¬ 
schem  Boden,  das  Neapolitaner  Triptychon  von  1512,  das 
hier  vortrefflich,  mit  drei  Teilstücken  auf  besonderen 
Blättern,  abgebildet  ist  (Taf.  37—40). 

Der  Text  Dülbergs  entschädigt  reichlich  für  kleine 
Lücken  in  der  Monumentenkenntnis  durch  anschauliche  Dar¬ 
stellung  und  feinfühlige  Würdigung  der  Kunstwerke. 

Friedländer. 


Herausgeber  und  verantwortliche  Redaktion:  F.  A.  Seemann,  Leipzig,  Querstraße  13 
Druck  von  Frnst  Hedrich  Nachf.,  a.  m.  b.  h.,  Leipzig 


f'M.  MALJAW):» 


BOJARIN  IM-  rESTSCttMüCK 


^EJfTSCH'RirT  FÜR  BILOE'NÜE  KUKST  W{S% 


»II 


DAS  KAISER-FRIEDRICH-MUSEUM  DER  STADT  MAGDEBURG 

Von  Alfred  Haoelstanoe 


ES  ist  kein  schlechtes  Zeichen  der  Zeit,  wenn 
eine  Provinzialstadt  wie  Magdeburg  ein  muster¬ 
gültiges  Museum  sozusagen  aus  dem  Boden 
stampft.  Nicht  viel  mehr  als  zwölf  Jahre  liegen  die 
bescheidenen  Anfänge  der  Magdeburger  Kunstsamm¬ 
lung  zurück,  und  heute  macht  sie  bereits  in  Fachkreisen 
ernstlich  von  sich  reden,  so  daß  manchem  Leiter  alt¬ 
ehrwürdiger  und  weit  größerer  Schwesterinstitute  beim 
Anblicke  des  Neugeborenen  ein  ebenso  erstauntes 
wie  anerkennendes  »Donnerwetter«  über  die  Lippen 
gleitet.  Und  wie  schafft  man  so  etwas?  werden  aus¬ 
wärtige  Gemeindeverwaltungen  nun  fragen.  Ganz 
einfach  auf  dem  Wege,  daß  man  sich  zunächst  einmal 
einen  fähigen  Museumsdirektor  verschafft.  Der  wird 
dann  auch  schon  ein  gutes  Museum  schaffen,  voraus¬ 
gesetzt,  daß  er  bei  denen,  die  in  der  Wahl  ihrer 
Eltern  vorsichtig  waren,  offene  Türen  und  vor  allem 
offene  Beutel  findet.  Aber  zu  einem  tüchtigen  Mu¬ 
seumsdirektor  gehört  auch  weit  mehr,  als  sich  der 
Durchschnitts-Gebildete  vielleicht  darunter  vorstellen 
kann.  Da  heißt  es  zunächst  ein  kenntnisreicher 
Kunstgelehrter  sein;  ferner  bedarf  es  allgemein  kultur¬ 
historischer  undspezieller Antiquitätenkennerschaft;  man 
muß  ein  praktischer  Verwaltungsbeamter,  geschickter 
Kaufmann  und  geschmackvoller  Dekorateur  sein;  man 
muß  als  feinfühliger  Ästhet  ebenso  seinen  Mann 
stehen  wie  als  praktischer  Beurteiler  der  verschieden¬ 
sten  gewerblichen  Techniken.  Daß  derartig  vielseitige 
Naturen  nicht  rudelweise  anzutreffen  sind,  kann  man 
sich  leicht  denken.  Um  so  glücklicher  darf  sich 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XVIII.  U.  4 


Magdeburg  schätzen,  daß  es  in  der  Person  Theodor 
Volbehrs  einen  Museumsleiter  besitzt,  der  sein  ganzes 
vielseitiges  Wissen  und  Können  daran  gesetzt  hat, 
um  der  Stadt  ein  Museum  zu  sichern,  das,  wenn  es 
auch  mit  alten  staatlichen  und  fürstlichen  Sammlungen 
nicht  konkurrieren  kann,  so  doch  wenigstens  unter 
den  städtischen  Schwesteranstalten  augenblicklich  in 
Deutschland  obenan  steht.  Wenn  das  Magdeburger 
Kaiser-Friedrich-Museum  nicht  nur  inhaltlich,  sondern 
auch  rein  museologisch  so  viel  des  Interessanten  bietet, 
so  ist  das  zweifellos  in  erster  Linie  seinem  tüchtigen 
Direktor  zu  verdanken,  der  Hand  in  Hand  mit  einer 
einsichtsvollen  Bauleitung  bemüht  gewesen  ist,  aus 
dem  Bestehenden  das  Beste  zu  machen. 

Was  aber  bestand,  das  war  ein  Bauprojekt  des 
Wiener  Architekten  Ohmann,  das  im  Laufe  der  Aus¬ 
führung  mancherlei  Abänderungen  erfuhr,  die  sich  aus 
dem  Anpassen  an  verschiedene  neue  museologische 
Bedürfnisse  und  Anforderungen  ergaben.  Diesen  An¬ 
forderungen  gerecht  geworden  zn  sein,  ist  das  Ver¬ 
dienst  des  Stadtbaurates  Peters  sowie  des  Stadtbau¬ 
meisters  Weiß.  Wie  man  dazu  gekommen  ist,  einem 
Wiener  Künstler  den  Bau  in  Auftrag  zu  geben,  ist 
eine  merkwürdige  und  zugleich  lustige  Sache.  Als 
man  nämlich  die  Konkurrenz  ausgeschrieben  hatte, 
gefiel  unter  den  eingelieferten  Projekten  besonders 
eines  recht  gut,  bei  dessen  näherer  Würdigung  aber 
eine  Stimme  laut  wurde  >Das  kommt  mir  so  bekannt 
vor«.  Und  wirklich,  wer  die  Anlage  und  Disponie- 
rung  des  Reichenberger  Museums  kannte,  für  den 


12 


DAS  KAISER-FRIEDRICH-MUSEUM  DER  STADT  MAGDEBURG 


■'  'erlag  es  keinem  Zweifel,  aus  welchen  Quellen  der 
;  ■  a'cffende  Architekt  getrunken  hatte.  Also  wurde 
"..  n  der  Nachempfinder  ausgeschaltet,  und  man 
••^andte  sich  nunmehr  direkt  an  den  Schöpfer  des 
ikeichenberger  Museums  selbst,  air  Friedrich  Ohmann. 

So  nahe  die  Verwandtschaft  mit  dem  Reichenberger 
Museum  in  bezug  auf  die  Grundrißlösung  ist,  so 
wesentlich  verschieden  sind  die  beiden  von  ein  und 
demselben  Künstler  geschaffenen  Sammlungsgebäude 
in  bezug  auf  ihr  äußeres  Kleid.  Beim  Magdeburger 
Kaiser-Friedrich-Museum  merkt  man  so  recht,  dal3 
der  Künstler  jetzt  in  einer  Übergangszeit  angelangt 
ist,  wo  er  zögernd  nach  Neuem  tastet,  während  er 
sich  dabei,  um  den  Halt  nicht  zu  verlieren,  fester 
denn  je  an  den  Stützen,  die  ihm  unserer  Väter 
Werke«  liehen,  anklammert.  Und  so  sagt  er  ja  auch 
von  sich  selbst,  daß  er  am  Ausgangspunkte  einer 
neuen  Epoche  stehend,  rekapitulierend  noch  die  schönen 
Seiten  älterer  Epochen  möglichst  stark  zu  erfassen 
bestrebt  war«.  Der  Hauptton  liegt  bei  der  ganzen 
malerischen  Architektur  zweifellos  auf  dem  die  Ge¬ 
samtanlage  sehr  stark  zusammenhaltenden  Eckturme, 
der  in  einer  entzückenden  Silhouette  in  die  Höhe 
gluckst,  wie  die  aufschießenden  feuchten  Massen  einer 
Wasserkunst.  Nach  zwei  Seiten  hin  lehnen  sich  dann 
die  beiden  Haupttrakte  der  Anlage  an  den  Turm  an; 
nach  der  Oranienstraße  zu  ein  symmetrisch  angeord¬ 
neter  Flügel  mit  vielen  und  großen  Lichtquellen,  die 
sich  sogar  bis  in  das  schräg  abfallende  Dach  hinein 
verlieren.  Daß  die  Bedachung  hierdurch  in  nicht 
sehr  günstiger  Weise  aufgelockert  wird,  kann  nicht 
bestritten  werden.  Allein  diese  Fenster  waren  beim 
ursprünglichen  Entwürfe  auch  nicht  vorgesehen  ge¬ 
wesen;  und  ihre  Notwendigkeit  stellte  sich  erst  heraus, 
als  der  Architekt  zu  seinem  nicht  geringen  Staunen 
bemerkt  hatte,  daß  das  Magdeburger  Museum  doch 
Bilder  besitzt,  die  es  nicht  nötig  haben,  in  dämmern¬ 
dem  Halbdunkel  ihre  Existenz  zu  fristen.  Bei  dem 
anderen,  nach  der  Kaiserstraße  zu  gelegenen  Flügel 
hat  der  Künstler  keine  einheitliche  Fassadengliederung 
gewählt;  und  das  mit  Recht.  Denn  während  die 
Nordfront  des  Gebäudes  für  die  Werke  der  Malerei 
und  Plastik  reserviert  ist,  sind  hier  im  Westflügel  die 
kunstgewerblichen  Sammlungen  untergebracht.  Und 
da  wäre  es  doch  wahrhaftig  töricht  gewesen,  wenn 
der  Architekt  die  Fassade  nicht  sozusagen  von  innen 
heraus  entwickelt  haben  würde.  Er  mußte  also,  wenn 
er  nicht  widersinnig  schaffen  wollte,  das  jeweilige 
äußere  Gewand  immer  mit  dem  Stil  der  Epoche  in 
Einklang  bringen,  die  im  Inneren  der  betreffenden 
Räumlichkeiten  vorgeführt  wird.  Der  scheinbare  Stil¬ 
wechsel  beruht  somit  in  diesem  Falle  einmal  aus¬ 
nahmsweise  auf  wirklichem  Stilgefühl,  was  man  ja 
allerdings  bei  den  meisten  eklektischen  Arbeiten  dieser 
Art  sonst  nicht  sagen  kann. 

Doch  wozu  sich  so  lange  beim  äußeren  Bau  auf¬ 
halten.  Suchen  wir  doch  lieber  erst  eine  Vorstellung 
des  Innenraumes  zu  gewinnen;  dann  werden  wir  die 
Form  des  Außenkleides  erst  völlig  begreiflich  finden. 
Wir  steigen  also  die  wenigen  Stufen,  die  von  der 
Straße  her  zu  der  vor  dem  Haupttore  vorgelagerten 


Plattform  führen,  hinan,  grüßen  im  Vorübergehen 
das  von  Hans  v.  Glümer  geschaffene  Kaiser-Friedrich- 
Denkmal  und  treten  durch  ein  Renaissance-Portal  in 
das  Vestibül  ein,  das  im  ersten  Augenblicke  einen 
etwas  beengenden  Eindruck  auf  einen  macht,  und 
zwar  in  um  so  höherem  Grade,  je  mehr  man  sich 
in  diesem  Augenblicke  an  die  prunkvollen,  raum¬ 
vergeudenden  Treppenanlagen  älterer  und  sogar  auch 
noch  neuerer  Museen  vgl.  das  Kaiser-Friedrich- 
Museum  in  Berlin  —  erinnert.  Den  ersten  Gruß  in 
diesem  Vorraume  entbietet  uns  »Die  Kunst«  von  Hugo 
Kaufmann,  dessen  Originalmodell  zu  der  bekannten 
Münchener  Brückenfigur  hier  eine  sinngemäße  Auf¬ 
stellung  gefunden  hat.  Dann  nimmt  uns  sofort  der 
Genius  loci  gefangen  in  einem  dem  Vestibül  ange¬ 
gliederten  Raume,  der  den  Manen  Otto  von  Guerickes 
geweiht  ist.  Magdeburgs  gelehrten  Bürgermeister, 
der  in  den  schweren  Prüfungstagen  des  Jahres  1631 
die  schwankenden  Geschicke  der  todgeweihten  Stadt 
leitete,  kann  man  mit  Fug  und  Recht  den  ersten 
deutschen  Ingenieur  nennen.  Grund  genug,  um  einem 
solchen  Manne  in  einem  städtischen  Museum  einen 
Ehrenplatz  der  Erinnerung  zu  weihen ;  und  das  ist 
hier  geschehen,  soweit  es  sich  irgend  machen  ließ. 
Was  an  originalen  Dokumenten  im  städtischen  Archiv 
vorhanden  war,  hat  hier  Aufnahme  gefunden.  Eine 
Nachbildung  der  Guerickeschen  Luftpumpe  interessiert 
uns  ganz  besonders;  ferner  eine  Wanduhr,  die  wahr¬ 
scheinlich  auch  von  dem  erfindungsreichen  Bürger¬ 
meister  konstruiert  worden  ist,  Möbel  aus  seiner  Um¬ 
gebung  oder  des  weiteren  dann  aus  seiner  Zeit. 

Stärker  noch  als  in  diesem  Raume  klingen  die 
alten  heimischen  Weisen  wieder  in  dem  Zentralpunkt 
des  nach  der  Kaiserstraße  zu  gelegenen  westlichen 
Flügels,  in  der  Magdeburger  Halle,  in  die  wir  nun¬ 
mehr  durch  einen  mit  altem  Zunftgerät  ausgeschmück¬ 
ten  Vorraum  eintreten.  Die  große  Halle  zieht  sich 
durch  zwei  Stockwerke  hindurch,  öffnet  sich  nach 
der  Westseite  zu  in  einer  Doppelreihe  übereinander¬ 
liegender  Arkaden  und  schließt  nach  oben  in  einem 
tonnenartig  gewölbten  Dache  ab,  das  mit  Emaille-, 
Kathedral-  und  Wellglas  ausgelegt  ist.  Nach  der 
Südseite  hin  klingt  der  prachtvolle  Raum  in  zwei 
übereinander  angeordneten  kapellenartigen  Apsiden 
aus,  die  für  die  kirchliche  Kunst  reserviert  worden 
sind.  Die  ganze  Ostwand  ist  in  ihrer  gesamten  Länge 
mit  einem  höchst  eindrucksvollen  und  weit  über  den 
Durchschnitt  aller  derartigen  Geschichtsmalereien  hin¬ 
ausragenden  Triptychon  Arthur  Kampfs  bedeckt,  der 
hier  in  Freskotechnik  Szenen  aus  dem  Leben  Ottos 
des  Großen  vorgeführt  hat.  In  rhythmischem  Zu¬ 
sammenklang  der  linearen  Elemente  sowie  in  feinen 
farbigen  Stimmungen  bieten  diese  Wandbilder  Kampfs 
ebensoviel  Bewundernswürdiges  wie  in  der  kraftvollen 
Einzelzeichnung,  aus  der  sich  die  Gesamtkomposition 
zusammensetzt.  Diese  Fresken  geben  den  farbigen 
Grundakkord  ab  für  den  ganzen  großen  Raum,  dessen 
sonst  sehr  sparsam  gehaltene  Bemalung  in  Decke  und 
Apsiden  sich  der  Farbenskala  dieser  Wandbilder  völlig 
anpaßt  resp.  gänzlich  unterordnet.  Mitten  in  der 
Halle  steht,  in  den  Größenverhältnissen  prächtig  mit 


GOTISCHES  ZIMMER  AUS  SÜDTIROL.  KAISER-FRIEDRICH-MUSEUM  DER  STADT  MAGDEBURG 


ZIMMER  DER  DEUTSCHEN  RENAISSANCE.  KAISER-FRIEDRICH-MUSEUM  DER  STADT  MAGDEBURG 


12 


DAS  KAISER-FRIEDRICH-MUSEUM  DER  STADT  AlAGDEBURG 


.  i"i  Griindriß  des  Raumes  harmonierend,  ein  in  Ori- 
^lahönung  gefaßter  Abguß  des  Erzbischof-Ernst-Denk- 
i-^ais  von  Peter  Vischer,  das  hier  eine  weit  glücklicliere 
o’.fstellung  gefunden  hat,  als  sie  dem  Originale  im 
Magdeburger  Dome  zuteil  geworden  ist.  Besonders 
günstig  wirkt  dabei  noch,  daß  man  vom  Obergeschoß 
auch  die  liegende  Figur  des  Kirchenfürsten  so  bequem 


iu  gleicher  Weise,  so  daß  hier  in  Siegelabdrücken, 
Münzen,  Urkunden,  Bildnissen  und  Prospekten  ein 
übersichtliches  Bild  der  wechselvollen  Geschichte 
Magdeburgs  gegeben  werden  konnte. 

Um  diesen  der  engsten  Heimat  gewidmeten  Raum 
gruppieren  sich  nun  die  kunstgewerblichen  Samm¬ 
lungen,  deren  Anordnung  dem  Museum  wohl  den  Ruf 


ZIMMER  IM  BAROCKSTIL.  KAISER-FRIEDRICH-MUSEUM  DER  STADT  MAGDERURG 


und  leicht  zu  übersehen  imstande  ist.  Mit  diesem 
Abguß  sowie  mit  dem  am  Kopfende  der  Magdeburger 
Halle  aufgestellten  Nachgusse  der  »Trauernden  Mag¬ 
deburg  des  Wormser  Lutherdenkmales  hat  sich  Kom¬ 
merzienrat  Polte  ein  bleibendes  Denkmal  von  Heimat¬ 
freude  und  Kunstsinn  gesetzt.  Für  die  Füllung  der 
Pultschränke,  die  sich  an  den  Wänden  entlang  ziehen, 
sorgten  Stadtarchiv,  Stadtbibliothek  und  Münzkabinett 


eines  neuen  Sammlungstypus  eintragen  dürfte.  Es  ist 
nämlich  hier  nicht  die  in  den  meisten  Kunstgewerbe¬ 
museen  übliche  Aufstellung  nach  Material  und  Technik, 
noch  auch  die  in  sogenannten  Altertumsmuseen  sich 
mehr  und  mehr  einbürgende  Anordnung  nach  Zweck 
und  Bestimmung  des  Gerätes  gewählt  worden,  sondern 
Direktor  Volbehr  hat  hier  in  chronologischer  Reihen¬ 
folge  eine  stilistische  Entwicklung  des  deutschen  Heims 


ZUNFTHALLE  KUPFERSTICHSAMMLUNG  UND  BÜCHEREI  DETA'L  AUS  DEM  EMPIRERAUM 


DAS  KAISER-FRIEDRICH-MUSEUM  DER  STADT  MAGDEBURG 


,'Tcii  seinen  mannigfachen  Ausstattiingsgegenständen 
_  ;eben,  wie  sie  sich  logischer,  konsequenter  iiml 
Ci  nni  trefflicher  kaum  vorführen  Iaht.  Die  so  höchst 
■  •  ressante  Kultur  des  Hauses  tut  sich  hier  in  ge¬ 
schlossenen  Einzelbildern  vor  uns  auf,  aus  denen  wil¬ 
den  Charakter  der  jeweiligen  Zeit,  die  vielseitigen 
sich  in  ihr  kreuzenden  Interessen  und  Bestrebungen 
wie  im  Spiegel  schauen  und  studieren  können.  Die 
Kunst  aus  der  sie  gebärenden  Zeitei^che  heraus  ver¬ 
stehen,  und  aus  der  Kunst  wieder  auf  den  geistigen 
Gehalt  der  Zeit 
schließen,  das  ist  bei 
einem  derartigen  Ar¬ 
rangement  ebenso 
leicht  wie  amüsant. 

Man  wird  nicht  mü¬ 
de  und  gelangweilt 
durch  ein  sich  stets 
gleich  bleibendes 
Sujet,  durch  eine  bis 
in  die  letzten  Spiel¬ 
arten  hinein  verfolg¬ 
te  und  durchge¬ 
peitschte  Technik, 
durch  das  ewige 
Einerlei  einer  ganz 
bestimmten  Zweck¬ 
gestaltung,  sondern 
man  entdeckt  hier 
eine  neue  Beziehung 
zwischen  dieser  und 
jener  Kunsttechnik, 
da  eine  interessante 
gegenseitige  Beein¬ 
flussung  der  Natio¬ 
nalitäten,  dort  einen 
noch  wenig  beach¬ 
teten  Zusammen- 
hang  gewisser  poli¬ 
tisch  historischer 
Vorgänge  mit  ganz 
bestimmten  neu  in 
die  Erscheinung  tre¬ 
tenden  Gebrauchs¬ 
gegenständen. 

Schon  das  erste 
Zimmer,  eine  goti¬ 
sche  Stube  aus  Süd¬ 
tirol,  atmet  so  völlig 
den  Charakter  seiner  , 

Entstehnngszeit,  daß  man  sich  mit  Leichtigkeit  ein 
Bild  von  der  Kultur  jener  Tage  zu  machen  imstande 
ist.  Da  haben  wir  im  profanen  Mobiliar  die  Ab¬ 
hängigkeit  von  der  so  stark  dominierenden  kirchlichen 
Kunst  festzustellen;  wir  sehen  im  Wandteppich  mit 
seinen  eingewebten  wunderlichen  Tierfiguren  sich  das 
merkwürdige  Interesse  widerspiegeln,  das  die  Zeit  an 
der  ihr  noch  unbekannten  Tierwelt  ferner  Zonen  nahm, 
von  der  kühne  Seefahrer  den  verwundert  zuhorchen¬ 
den  Landratten  erzählten.  Dürers  ^Nashorn-q  das  an 
der  Wand  hängt,  ist  uns  ein  weiteres  Bindeglied  in 


dieser  Gedankenkette;  ebenso  wie  sein  Holzschnitt 
ans  der  Apokalypse,  der  die  gegenüberliegende  Wand 
schmückt,  uns  von  der  schweren  Seelenangst  erzählt, 
die  sich  um  die  Wende  des  15.  und  1 6.  Jahrhunderts 
wie  ein  Alpdruck  auf  die  Gemüter  gelegt  hatte.  Doch 
wozu  diese  Gedankenkette  hier  Glied  für  Glied  vor¬ 
überlaufen  lassen.  Das  hieße  ja  dem  bereits  erschie¬ 
nenen  Führer  Konkurrenz  machen  wollen.  Doch 
sei  diese  inhaltlich  wie  typographisch  mustergültige 
Publikation  gleich  an  dieser  Stelle  rühmend  genannt. 

Dr.  Volbehr  hat  auch 
hier  etwas  geradezu 
Vorbildliches  ge¬ 
schaffen,  an  dem  sich 
weit  ältere  und  be¬ 
rühmtere  Sammlun¬ 
gen  ein  Beispiel 
nehmen  können. 

Doch  nehmen 
wir  unseren  Rund¬ 
gang  wieder  auf.  Wir 
betreten,  nachdem 
wir  das  gotische 
Zimmer  verlassen 
haben,  eine  Anzahl 
von  Kojen,  in  denen 
die  Gegenstände 
Aufstellung  gefun¬ 
den  haben,  die  ihre 
EntstehungderÜber- 
gangszeit  zwischen 
Gotik  und  Renais¬ 
sance  verdanken. 
Möbel,  Eisenarbei  teil 
und  Beleuchtungs¬ 
körper  ,  Glasmale¬ 
reien,  Gewebe  und 
Spitzen,  Leinenqua¬ 
sten,  Bucheinbände, 
Plaketten  und  Siegel¬ 
abdrücke,  Tonkrüge, 
Lederarbeiten  und 
Schmuckgegenstän¬ 
de,  Miniaturen, 
Schlüssel, Tischgerät, 
Gläser  und  Orna¬ 
mentstiche:  das  alles 
spricht  unsan  in  einer 
höchst  geschickten, 
aber  doch  nicht  im 
geringsten  aufdringlich  dekorativen  Aufstellung.  Von 
Raum  zu  Raum  wächst  das  Interesse  mit  der  Vielgestaltig¬ 
keit  der  Erscheinungen;  man  ermüdet  nicht,  weil  man 
stets  zu  neuen  Vergleichen  zwischen  den  sich  neben 
einander  darbietenden  verschiedensten  Techniken  an¬ 
geregt  wird;  man  ist  erfreut  und  ergötzt  durch  die 
Geschlossenheit  der  Kulturbilder,  die  sich  vor  dem 
Auge  des  Beschauers  von  Fall  zu  Fall  auftun.  Will 
man  sich  eingehender  über  die  betreffende  Epoche, 
deren  Leistungen  man  grade  besichtigt,  orientieren,  so 
greift  man  zum  Führer,  der  in  praktischer  Anord- 


ZIMMER  IM  STIL  DER  MARIE  ANTOINETTE 
KAISER-FRIEDRICH-MUSEUM  DER  STADT  MAGDEBURG 


DAS  KAISER-FRIEDRICH-MUSEUM  DER  STADT  MAGDEBURG 


87 


BIEDERMEIERZIMMER.  KAISER-FRIEDRICH-MUSEUM  DER  STADT  MAGDEBURG 


nung  immer  mit  einer  bestimmten  Ziffer  auf  den 
Standort  hinweist.  Diese  Ziffer  des  Standortkataloges 
kehrt  natürlich  auf  den  Etiketten  wieder,  so  daß  das 
Auffinden  der  im  Führer  genannten  Gegenstände 
kaum  irgendwelche  Schwierigkeiten  bietet.  Die  Eti¬ 
ketten  selbst  sind,  damit  sie  nicht  beleidigend  ins 
Auge  fallen,  in  einem  beigefarbigen  Ton  gehalten, 
während  der  Aufdruck  je  nach  der  größeren  oder 
geringeren  Belichtung  des  jeweiligen  Sammlungsob¬ 
jektes  in  brauner  oder  schwarzer  Farbe  gewählt  ist. 
Im  Charakter  der  Typen 
hat  man  sich  dem  jedes¬ 
maligen  Zeitstile  anbe- 
quemt,  so  daß  für  die 
Räume,  die  die  Periode 
der  Gotik  repräsentieren, 
eine  Schwabacher  Schrift 
gewählt  ist,  für  die  Etiket¬ 
ten  der  Renaissanceepoche 
die  Antiqua  usw. 

Aus  der  Zeit  der  Hoch¬ 
renaissance  ist  im  weiteren 
Verlauf  der  Entwickelungs¬ 
reihe  wieder  ein  vollstän¬ 
diges  Zimmer  zu  sehen  mit 
reicher  Wandvertäfelung 
und  prächtig  geschnitzter 
Decke,  die  laut  Inschrift 
auf  das  Jahr  1590  zu  da¬ 


tieren  ist.  Die  Holzverkleidung  stammt  ebenso  wie  die  des 
gotischen  Zimmers  aus  Südtirol  und  wurde  gleich  dieser 
von  Frau  GeheimratPoetsch-Porse  gestiftet.  Teller,  Zinn- 
und  Messinggefäße  bekrönen  die  Gesimse.  Für  das  17. 
Jahrhundert  konnte  kein  Beispiel  eines  geschlossenen 
Wohnraumes  geboten  werden,  doch  gibt  hier  eines 
der  seltenen  Puppenhäuser  jener  Zeit  gewissermaßen 
in  Form  eines  bis  in  alle  Einzelheiten  durchgearbei¬ 
teten  Modells  einen  sehr  bequemen  Überblick  über 
die  Stilwandlungen,  die  das  Mobiliar  wie  die  Gerät¬ 
schaften  während  und 
nach  der  Zeit  des  dreißig¬ 
jährigen  Krieges  durch¬ 
machten.  Daß  wir  uns 
in  einer  unruhvollen  Epo¬ 
che  befinden,  in  der  Säbel 
und  Flinte  das  Machtwort 
sprachen,  künden  uns  die 
in  der  Entwicklungsreihe 
hier  zum  erstenmale  auf¬ 
tretenden  Feuer-  und  Hieb¬ 
waffen,  von  denen  etliche 
kunstgewerblich  bedeut¬ 
same  Exemplare  hier 
Aufstellung  gefunden  ha¬ 
ben.  Was  sonst  an  Mo¬ 
biliar  in  diesem  Raume 
des  1 7. Jahrhunderts  unter 
gebracht  ist,  mutet  uns  wie 


GEMÄLDESAAL  MIT  BOCKLINS  TRITONENFAMILIE 
IM  KAISER-FRIEDRICH-MUSEUM  DER  STADT  MAGDEBURG 


DAS  KAISER-FRIEDRICH-MUSEUM  DER  STADT  MAGDEBURG 


;  I  Hjgelbild  der  gleiclizeitigeii  Architektur  an: 
behäbig  und  bedächtig,  mit  überwuchernder 
.•eKoradou  und  einer  Vorliebe  für  massig  wirkenden 
imk. 

Aber  dann  kommt  die  glänzend  heitere  Zeit  des 
Sonnenkönigs  Ludwig  XIV.  Ein  Spiegelsaal  mit 
reicher,  geschnitzter  und  vergoldeter  Wanddekoration 
nimmt  uns  auf.  Dekorative  Malereien  über  Türen 
lind  Fenstern,  ein  in  allen  Farben  des  Sonnenspektrnms 
schillernder  Kristallkronlenchter,  prächtig  geschnitzte, 
über  und  über  vergoldete  Konsoltische,  rotseidene 
Fenstervorhänge:  das  alles 
gibt  uns  einen  Begriff  von 
der  strahlenden  Herrlich¬ 
keit,  mit  der  die  Fürsten 
jener  Tage  sich  zu  um¬ 
geben  wußten.  Und  wenn 
wir  uns  nun  an  den  Kost¬ 
barkeiten  dieses  Raumes 
übrigens  ebenfalls  wie¬ 
der  eine  Stiftung  der  Frau 
Geheimrat  Poetsch  -  Porse 
—  satt  gesehen  haben, 
dann  umfängt  uns  im 
Weiterschreiten  der  pi¬ 
kante,  graziöse  und  schel¬ 
mische  Geist  des  leichten, 
tänzelnden  Rokoko.  Ga¬ 
lanteriedegen  stehen  in 
einer  Ecke,  mul  man  sieht 
es  ihnen  an,  dalt  sie  ihre 
menschenmordenden  Ge¬ 
lüste  abgelegt  haben  und 
nur  noch  den  Anspruch 
machen,  als  dekorative 
Ausrüstnngsgegenstände 
des  salonfähigen  Kavaliers 
zu  gelten.  Gebrechliches 
Porzellan  blinkt  durch 
die  Scheiben  der  Glas¬ 
schränke;  silberne  Taba- 
tieren  und  vergoldete 
Kammerherrnschlüssel 
zaubern  uns  die  Porträts 
ihrer  ehemaligen  Träger 
vor  das  Auge  des  Geistes 
und  geschwätzige  Fächer  flüstern  von  liebelüsterner 
Koketterie  pikanter  Damen. 

Und  als  man  sich  ansgeschnörkelt  und  ausgetor¬ 
kelt  hatte,  da  erscholl  wie  so  oft  vordem  und  noch 
so  oft  nachdem  mal  wieder  der  Ruf  »Zurück  zur 
Natur< ,  und  man  nahm  nun  im  Louis  seize-Stil  wieder 
ausgesprochen  naturalistische  Motive  auf,  die  in  ihrer 
klassisch-symmetrischen  Anordnung  uns  wie  Spätlinge 
der  Dekorationsknnst  des  alten  Rom  anmuten.  Eine 
ausgezeichnete  Probe  ans  dieser  Stilperiode  bietet  uns 
das  nun  folgende  Zimmer,  das  einem  süditalienischen 
Palazzo  entstammt.  Kostbare  Schnitzarbeit  in  mehr¬ 
facher  Vergoldung  auf  weißem  Grund  zieht  sich  um 
die  hohen  Spiegel  herum,  bedeckt  die  Füllungen  der 
Türen  und  rahmt  die  gemalten  Supraporten  ein.  Gold¬ 


gelbe  Wandbespannung  mit  eingewebtem  Ornament 
gibt  den  Grund  dazu  ab  und  klingt  mit  der  Farbe 
der  Holzvertäfelung  zu  einem  festlich  heiteren  Akkord 
zusammen.  Das  Museum  kann  sich  wirklich  glück¬ 
lich  schätzen,  eine  so  vornehme  und  selten  schöne 
Zimmerausrüstung  aus  der  Zeit  der  gekrönten  Dul¬ 
derin  Marie  Antoinette  zu  besitzen.  Der  Dank  dafür 
gebührt  dem  bereits  verstorbenen  Kommerzienrat 
Hubbe,  der  die  nicht  unbeträchtliche  Kaufsumme  für 
dieses  kostbare  Gemach  erledigte. 

Auch  im  nächsten  Raume,  der  dieTage  der  Empirezeit 
wieder  vor  uns  erstehen 
läitt,  haben  wir  einer  hoch¬ 
herzigen  Stifterin  zu  ge¬ 
denken,  nämlich  der  Frau 
Geheimen  Kommerzienrat 
Krupp,  die  dem  Museum 
15000  M.  zur  Verfügung 
stellte  zum  Ankauf  von 
Miniaturporträts.  Von  die¬ 
sen  entzückenden  Klein¬ 
malereien  sehen  wir  hier 
eine  ganze  Anzahl  präch¬ 
tigster  Exemplare  ausge¬ 
legt.  ln  den  Nachbar¬ 
vitrinen  stoßen  wir  dann 
auf  verschiedene  Proben 
von  Eisenschmuck,  und 
wir  erinnern  uns  dabei 
der  Tage  der  Not  und  Ent¬ 
behrung,  die  infolge  der 
Schreckensherrschaft  des 
ländergierigen  Korsen  über 
unser  Vaterland  dahin¬ 
brausten.  Wie  sehr  dieser 
Ich-Mensch  übrigens  auch 
nach  Seiten  des  Schmuck¬ 
stiles  hin  seiner  ganzen 
Mitwelt  den  Stempel  seines 
eigenen  Geschmackes  auf¬ 
zudrücken  gewußt  hat,  das 
sagen  uns  die  Möbel  dieses 
Raumes  deutlich  genug. 
Schade,  daß  der  Raum 
als  solcher  sich  dem 
Empirecharakter  so  ganz 
und  gar  nicht  anpaßt;  allein  der  Architekt  war  trotz 
eindringlichster  Vorstellungen  der  Museumsverwaltung 
nicht  dazu  zu  bewegen,  diesen  eingewölbten,  durch 
Säulen  gestützten  Raum  anders  zu  gestalten. 

Das  nun  folgende  Biedermeierzimmer  ist  dafür  in 
der  Raumwirkung  um  so  glücklicher;  und  die  Zeit, 
»da  der  Großvater  die  Großmutter  nahm«,  lebt  mit 
all  ihrer  Stille,  Biederkeit  und  Bedürfnislosigkeit  wieder 
vor  uns  auf,  wenn  wir  in  diesem  förmlich  nach 
Lawendel  und  Tymian  duftenden  Zimmer  Umschau 
halten,  in  dem  der  philiströse  Bürger  der  vierziger 
Jahre  seine  Pfeife  rauchte  und  seinen  Tee  trank.  Hast 
und  Unruh,  das  waren  damals  wohl  unbekannte  Worte; 
wenigstens  ist  man  versucht,  das  zu  glauben,  wenn 
man  die  ellenlangen  Briefe  liest,  die  in  jener  Zeit 


MADONNA.  TERRAKOTTARELIEF  DES  17.  JAHRHUNDERTS 
Kaiser-Friedrich-Museum  der  Stadt  Magdeburg 


DAS  KAISER-FRIEDRICH-MUSEUM  DER  STADT  MAGDEBURG 


89 


geschrieben  wurden.  Auch  die  sogenannte  »Mikro- 
graphie«,  die  an  einer  Wand  des  Zimmers  hängt,  be¬ 
stärkt  uns  in  dieser  Ansicht.  Denn  es  gehörte  doch  eine 
gute  Portion  Stumpfsinn  und  Langeweile  dazu,  ganze 
Druckseiten  in  diesem  minutiösen,  von  einem  unbe¬ 
brillten  Auge  kaum  zu  entziffernden  Maßstabe  mit 
Feder  und  Tusche  nachzuzeichnen.  Und  wie  brav 
war  man  und  wie  zahm!  »Binde  dieses  Bändchen 
alle  Morgen  früh  mit  dem  zarten  Händchen  um  das 
runde  Knie«,  heißt  es  auf  einem  in  der  Vitrine  hier 
ausliegenden  Strumpfbandpaare.  Das  klingt  anders 
als  der  Fragesatz, 
den  ich  einmal  auf 
einem  dieser  im  18. 

Jahrhundert  vielbe¬ 
sungenen  Gardero¬ 
bestücke  vorfand. 

Der  lautete;  »Que 
veux-tu  lä-bas,  petit 
fripon?'  Aber,  das 
war  auch  Rokoko! 

Ehe  man  das  Bie¬ 
dermeierzimmerver¬ 
läßt,  schreitet  man 
aneinemOfenschirm 
vorüber,  der  in  Stra¬ 
minstickerei  die  Fi¬ 
guren  Egmonts  und 
Klärchens  vorführt. 

Wir  sehen,  es  ist 
die  Zeit,  die  sich  an 
romantischen  Ritter¬ 
geschichten  ergötzte 
und  mit  diesem  an¬ 
fänglich  wohl  etwas 
dilettantisch  betrie¬ 
benen  Studium  der 
deutschen  Vorzeit 
den  Grundstock  für 
das  nun  heraufzie¬ 
hende  Zeitalter  des 
historischen  Sinnes 
legte.  Und  mit  dem 
Interesse  an  der  Ver¬ 
gangenheit  wuchs 
auch  das  Verlangen 
nach  allen  noch 
existierenden  künst¬ 
lerischen  und  kunstgewerblichen  Zeugen  der  ver¬ 
flossenen  Jahrhunderte.  Daher  das  rapide  Anwachsen 
einer  fieberhaften  Sammlertätigkeit.  Und  auch  von 
dieser  charakteristischen  Neigung  der  Zeit  können 
wir  uns  ein  Bild  machen  an  der  Hand  der  hier  ein¬ 
geschalteten  Duvigneau- Stiftung,  die  uns  den  Ent¬ 
wicklungsgang  der  keramischen  Technik  von  den 
ältesten  griechischen  Vasen  an  bis  auf  die  neuesten 
Erzeugnisse  der  Kopenhagener  Manufaktur  klarlegt. 
Aber  man  begnügte  sich  nicht  damit,  die  Werke  der 
Vergangenheit  zu  sammeln,  nein  man  ging  in  der 
Bewunderung  sogar  so  weit,  sie  bis  ins  kleinste  nach¬ 
zubilden  und  umgab  sich  nun  mit  einem  Hausgerät, 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XVIH  H.  4 


das  alle  Motive  der  Renaissancezeit  in  getreuer  Schüler¬ 
manier  widerspiegelte.  Der  silberne  Kaiserpokal,  der 
in  einer  Koje  des  folgenden  Raumes  Aufstellung  ge¬ 
funden  hat,  ist  ein  kaum  zu  überbietendes  Beispiel 
dieser  mit  alten  Motiven  so  geschickt  operierenden 
Epoche.  Und  ähnlich  wie  dieser  Pokal  sich  aus  Re¬ 
naissance-Elementen  seine  Formensprache  bildet,  so 
lehnt  sich  der  schmiedeeiserne  Kronleuchtei’,  der  dar¬ 
über  hängt,  an  die  Formenwelt  des  Rokoko  an.  Er 
steht  also,  so  verschiedenartig  er  uns  in  der  Ge¬ 
staltungsweise  anmutet,  zu  jenem  Pokale  doch  in  sehr 

enger  stilistischer 
Verwandtschaft,  in¬ 
sofern  er  gleich  je¬ 
nem  einen  historisch 
reproduzierenden 
Stil  aufweist. 

Aber  es  schlug, 
von  vielen  mit  Sehn¬ 
sucht  erwartet  und 
mit  Jubel  begrüßt, 
endlich  doch  die 
Stunde  der  Befreiung 
aus  den  selbstge¬ 
schmiedeten  Ketten 
der  Nachahmung.  An 
verschiedenen  Orten 
regten  sich  zur  glei¬ 
chen  Zeit  künstle¬ 
rische  Kräfte,  die 
neue  gangbare  Pfade 
suchten  und  auch 
fanden.  Daß  es  noch 
nicht  ganz  einwand¬ 
freie  Leistungen  wa¬ 
ren ,  die  uns  die 
Windelzeit  unseres 
neuzeitlichen  Stiles 
bescherte,  sehen  wir 
ja  jetzt,  wo  wir  schon 
etwas  Abstand  ge¬ 
wonnen  haben, selbst 
ein.  Man  braucht 
nur  einen  Blick  auf 
den  Scherrebecker 
Wandteppich  Otto 
Eckmannszu  werfen, 
um  die  Überzeugung 
zu  gewinnen,  daß  die  »Führer«  am  Aufkommen  des  jetzt 
in  Grund  und  Boden  verurteilten  »Jugendstiles  denn 
doch  nicht  so  ganz  unschuldig  sind,  als  man  das  in 
der  Regel  meint.  Aber  »Jugendstil«  und  Sezessions- 
stiL ,  ja  das  sind  ja  auch  schon  längst  verstorbene 
Tote;  und  in  einem  Zeiträume  von  sechs  Jahren 
machen  wir  heutzutage  Stilwandhmgen  durch,  wie 
früher  nicht  in  sechzig  oder  gar  dreimal  sechzig. 
Welch  ein  klafterweiter  Unterschied  zwischen  den 
kunstgewerblichen  Schöpfungen  eines  Albin  Müller  und 
denen  eines  Otto  Eckmann !  Man  betrete  das  vom 
ersteren  geschaffene  Wohnzimmer,  das  in  der  Ent¬ 
wicklungsreihe  der  Kultur  des  Hauses  hier  das  Schhiß- 


TONRELIEF  DER  VERKÜNDIGUNG.  15.  JAHRHUNDERT 
Kaiser-Friedrich-Museum  der  Stadt  Magdeburg 


■3 


DAS  KAISER-FRIEDRICH-MUSEUM  DER  STADT  MAGDEBURG 


d  bildet,  und  man  wird  erstaunt  sein,  wie  der 
'•.luiHclie  Ingenieur  dem  dekorativen  Maler  auf  der 
..‘iizen  Linie  den  Rang  abgelaufen  hat.  Es  ist  über- 
liüssig,  ein  Wort  zum  Lobe  dieses  auf  der  Dresdener 
Kunstgewerbeausstellung  so  viel  bewunderten  Zimmers 
hier  anzufügen.  Freuen  wir  uns,  daß  Frau  Geheim¬ 
rat  Poetsch-Porse  dem  Museum  diesen  prächtigen 
von  Magdeburger  Kunsthandwerkern  ausgeführten 
Raum  gestiftet  hat,  der  ebenso  laut  und  deutlich  vom 
Charakter  unserer  Zeit  re¬ 
det,  als  es  die  Zimmer  der 
früheren  Stilperioden  vom 
Wesen  der  ihren  tun. 

Es  ist  ein  sehr  instruk¬ 
tiver  Gang,  den  wir  hier¬ 
mit  beenden;  ein  Gang, 
der  uns  durch  vier  Jahr¬ 
hunderte  hindurchgeführt 
und  uns  gelehrt  hat,  mit 
wieviel  tausend  Fäden  un¬ 
sere  gegenwärtige  Kultur 
verknüpft  ist  mit  dem  gei¬ 
stigen  Gehalt  vorausgegan¬ 
gener  Jahrhunderte.  Und 
wenn  wir  nun  die  Kunst 
unserer  Tage  richtig  ver¬ 
stehen  und  würdigen  wol¬ 
len,  so  bleibt  uns  auch 
hier  nichts  weiter  übrig, 
als  rückschauend  die  Be¬ 
dingungen  zu  erforschen, 
die  für  ihr  Entstehen  wich¬ 
tig  und  wesentlich  waren. 

Und  deshalb  schließt  sich 
hier  als  zweiter  konzen¬ 
trischer  Kreis  zunächst  ein 
Entwicklungsgang  der  Pla¬ 
stik  an,  der  naturgemäß 
nur  in  Nachbildungen  ge¬ 
geben  werden  konnte. 

Daß  es  möglich  war,  die 
hauptsächlichsten  Meister¬ 
werke  der  Bildhauerkunst 
von  Myron  bis  auf  Schlü¬ 
ter  hier  in  getreuen,  durch 
glückliche  Tönung  den 
(Originalen  recht  nahe  kom¬ 
menden  Abgüssen  vorzu¬ 
führen,  das  verdankt  das 
Museum  dem  schätzens¬ 
werten  Kunstsinn  der  Herren  Kommerzienräte  Zuck¬ 
schwert  und  Hennige,  sowie  des  Geheimrats  Dr.  Wolf 
und  Otto  Gruson,  die  sich  in  die  Kosten  dieser  reich¬ 
haltigen  Sammlung  geteilt  haben.  Die  Aufstellung 
muß  eine  außerordentlich  glückliche  genannt  werden, 
und  auch  die  Räume  als  solche  sind  von  günstigster 
Abmessung,  insofern  als  sie  infolge  einer  verhältnis- 
tnäßig  geringen  Höhenentwickelung  die  Figuren  größer 
und  imposanter  erscheinen  lassen.  Nur  in  einem 
Saale  wünscht  man  die  Decke  etwas  weiter  in  die 
Höhe  geschoben  zu  sehen,  nämlich  im  Michelangelo- 


Raume,  der  die  Hauptwerke  des  Titanen  in  sehr  ge¬ 
schickter  Zusammenstellung  bietet.  Daß  hier  die  beiden 
Helden  der  Mcdicäer-Gräber  etwas  eingekerkert  er¬ 
scheinen,  ließ  sich  bei  den  einmal  gegebenen  Höhen¬ 
maßen  leider  nicht  ändern.  Sehr  gut  in  der  Auf¬ 
stellung  sind  die  der  Abgußsammlung  angegliederten 
älteren  Originalarbeiten,  die  sich  in  der  Hauptsache 
in  zwei  Abteilungen  gliedern,  nämlich  einmal  in  die  von 
Kommerzienrat  Arnold  gestiftete  Terrakottensammlung 

und  daun  in  die  Gruppe 
älterer  Bronzearbeiten,  die 
Kommerzienrat  Polte  dem 
Museum  überwiesen  hat. 
Diese  feinen  Proben  der 
alten  Kleinplastik  stehen 
auf  schlichten,  schwarzen 
Sockeln  vor  einer  in  vio¬ 
lettem  Rot  getönten  Wand, 
deren  warme  Farbenfläche 
mit  den  dunklen  Bronze¬ 
tönen  prächtig  zusammeu- 
geht.  Auch  die  Medaillen- 
und  Plakettensammlung, 
die  in  der  Hauptsache 
ebenfalls  von  Kommerzien¬ 
rat  Arnold  gestiftet  wor¬ 
den  ist,  hat  hier  eine  sinn¬ 
gemäße  Aufstellung  und 
eine  den  Verhältnissen  ent¬ 
sprechende  Aufmachung 
gefunden. 

Haben  wir  diese  Räume 
abgeschritteu  und  somit 
alle  Sammlungen  des  Erd¬ 
geschosses  besichtigd,  so 
steigen  wir  die  breite  Mar¬ 
mortreppe  hinan,  werfen 
im  Vorübergehen  einen 
Blick  auf  die  herrlichen 
im  Treppenhause  auf- 
gehängten  alten  Gobelins, 
die  Frau  Selma  Rudolph 
dem  Museum  geschenkt 
hat,  und  gelangen  zum 
oberen  Stockwerk ,  aus 
dem  uns  von  dem  ab¬ 
schließenden  Pfeiler  der 
Treppenbalustrade  herab 
der  herausfordernd  und 
spreizbeinig  dastehende 
Lastträger  Constantin  Meuniers  den  ersten  Gruß  ent¬ 
bietet.  Dieser  von  Rentier  Hermann  Goedeeke  ge¬ 
stifteten  Probe  der  sprachgewaltigen  Kunst  des  ver¬ 
storbenen  Belgiers  schließen  sich  in  diesem  Vorraume 
des  Oberstocks  noch  drei  weitere  an,  so  daß  der  erste 
Eindruck,  den  man  hier  oben  empfängt,  von  nach¬ 
haltigster  Wirkung  ist.  Auch  die  im  Hintergründe  auf¬ 
leuchtenden  dekorativen  Wandbilder  von  Rudolf  Kohtz, 
eine  Stiftung  des  Vereins  »Athene«,  tragen  das  ihre 
zur  künstlerischen  Ausschmückung  des  oberen  Vesti¬ 
büls  bei,  von  dem  aus  wir  uns  nun  gleich  nach  links 


MADONNA.  TERRAKOTTA.  BOLOGNESER  SCHULE  DES  17.  JAHRH. 
Kaiser-Friedricli-Museiim  der  Stadt  Magdeburg 


DAS  KAISER-FRIEDRICH  MUSEUM  DER  STADT  MAGDEBURG 


wenden,  uni  hier  durch  eine  Tür  einzutreten,  die  auf 
ihrer  Supraporte  die  Aufschrift  vKupferstichsauuuIung 
und  Bücherei«  trägt.  Ein  kleinerer  und  ein  größerer 
Raum,  beide  durch  einen  offenen  Durchgang  mit¬ 
einander  verbunden,  dienen  hier  den  Zwecken  der 
Belehrung  und  künstlerischen  Unterhaltung.  Das  erste 
der  beiden  Zimmer,  ein  polygonaler  Raum  mit  doppeltem 
Seitenlicht,  ist  im  Turme  gelegen,  dessen  obere  Stock¬ 
werke  den  eigentlichen  Bücherspeicher  bilden,  in  dem 
die  kunstwissen¬ 
schaftliche  Fachbi¬ 
bliothek  des  Muse¬ 
ums  untergebraclit 
ist.  Die  Aufstellung 
erfolgte  hier  wie  in 
den  meisten  neuzeit¬ 
lichen  Büchereien 
vermittels  der  be¬ 
quem  zu  handhaben¬ 
den  und  leicht  regu¬ 
lierbaren  Lippman- 
schen  Eisenregale. 

Die  Ausnutzung  des 
Turmes  dürfte  kaum 
praktischer  denkbar 
sein,  denn  die  Büche¬ 
rei  kann  sich  dankder 
großen  Höhenent¬ 
wickelung  des  Rau¬ 
mes  in  überreichem 
Maße  ausdehnen,  ohne 
irgendwelche  Verschie¬ 
bungen  nötig  zu  machen. 

Auch  die  Ausstattung  der 
beiden  Benutzerräume,  die 
ein  sehr  lobenswertes  Werk 
des  Stadtbaumeisters  Weiß 
ist,  zeugt  von  einer  glück¬ 
lichen  Betonung  prak¬ 
tischer  Gesichtspunkte.  Bei¬ 
de  Räume  sind  mit  Holz¬ 
paneelen  verkleidet,  in  die 
herausnehmbare  Wechsel¬ 
rahmen  für  auszustellende 
graphische  Kunstblätter 
eingelassen  sind.  Selbst 
die  Türen  der  in  dem 
größeren  Raume  unterge¬ 
brachten  Schränke  sind 
in  ähnlicher  Weise  aus¬ 
gerüstet,  so  daß  der  Besucher  sich  auf  allen  Seiten 
von  Werken  der  graphischen  Kunst  umgeben  sieht. 
Schlicht  geformte  Etikettenhalter  aus  verniertem  Messing 
sind  unterhalb  eines  jeden  Rahmens  auf  der  Holz¬ 
verkleidung  angebracht  und  vereinen  in  sich  nicht 
nur  den  Vorteil  praktischer  Verwendbarkeit,  sondern 
auch  den  Vorzug  diskret  wirkenden  Schmuckes.  Farbig 
wirken  die  Räume  außerordentlich  günstig,  denn  das 
geräucherte  helle  Eichenholz  verbindet  sich  mit  dem 
dunkelgrünen  Linoleumbelag  der  Tische  und  den  in 
gleicher  Farbe  gehaltenen  Passepartouts  der  in  die 


Rahmen  eingelassenen  Kunstblätter  zu  einem  sehr 
vornehmen  Zusauimenklang.  Ihrer  Verwendung  nach 
unterscheiden  sich  die  beiden  Zimmer  insofern  etwas 
von  einander,  als  im  größeren  die  gev/ünschten  Werke 
vorgelegt  werden,  während  das  kleinere  als  Zeitschriften¬ 
zimmer  gedacht  ist.  Auf  einem  achteckigen  Tische, 
der  dem  polygonalen  Grundrisse  des  Raumes  ent¬ 
spricht,  liegen  hier  die  letzten  Nummern  ;ler  vciu 
Museum  gehaltenen  Kunstzeitschriften  aus,  wäln  end  die 

übrigen  Hefte  des 
laufenden  Jahrgangs 
einerjedenZeitschrift 
in  einem  dem  Pu¬ 
blikum  ebenfalls  zu¬ 
gänglichen  Regale 
verteilt  sind,  dessen 
gläserne  Schiebe¬ 
türen  den  Vorzug 
haben,  gegen  Staub 
zu  schützen,  ohne 
den  Inhalt  des  Behäl¬ 
ters  unsichtbar  zu 
machen.  Schlichte, 
aber  geschmackvolle 
Pnltschränke,  in  de¬ 
nen  eine  kurze  Über¬ 
sicht  über  die  Ent¬ 
wickelung  derBuch- 
ausstattung  sowie 
der  Schrift  gegeben 
ist,  vervollständigen  die 
Ausstattung  des  einladen¬ 
den  Raumes. 

Treten  wir  nun  durch 
die  Tür  des  größeren  Zim¬ 
mers  hinaus,  so  befinden 
wir  uns  auf  der  Empore 
der  großen  Magdeburger 
Halle,  woselbst  wir  in 
freistehenden  Schaukästen 
einersehr  instruktiven  Vor¬ 
führung  der  verschiedenen 
graphischen  Techniken  be¬ 
gegnen.  Für  Holzschnitt, 
Kupferstich,  Radierung, 
Lithographie  und  photo¬ 
mechanische  Reproduktion 
sind  je  zwei  aneinander  ge¬ 
schobene  Pultvitrinen  be¬ 
stimmt,  die  jedesmal  das 
für  die  einzelne  Technik  nötige  Werkzeug,  sowie 
Druckplatten  und  möglichst  charakteristische  Druck¬ 
abzüge  aufweisen.  Auf  diesem  Wege  wird  dem  Laien 
nicht  nur  das  Verständnis  des  technischen  Vorganges 
beim  Entstehen  eines  graphischen  Kunstblattes  wesent¬ 
lich  erleichtert,  sondern  auch  das  Gefühl  für  den 
Qualitätsunterschied  der  einzelnen  Abdrucksgattungen 
anerzogen,  so  daß  auch  hier  wieder  nach  seiten  der 
Knnstpädagogik  hin  alles  geschehen  ist,  was  man  von 
einem  modernen  Museum,  das  als  kulturfördernder  Faktor 
angesehen  werden  will,  wünschen  und  verlangen  kann. 


AUS  DEN  FRESKEN  VON  ARTUR  KAMPF  (MITTELBIl.D)  IM  KAISER¬ 
FRIEDRICH-MUSEUM  DER  STADT  MAGDEBURG 


DAS  TREPPENHAUS  IM  KAISER-FRIEDRICH-MUSEUM  DER  STADT 
MAGDEBURG 


3 


DAS  KAISER-FRIEDRICH-MUSEUM  DER  STADT  MAGDEBURG 


2 


Das  Ideal  wäre  es  nun  für  die  Musennisverwal- 
ding  gewesen,  wenn  sie  auch  einen  geschlossenen 
Entwicklungsgang  der  Malerei  -  etwa  in  Bruckmann- 
schen  Pigmentdrucken  -  hätte  vorführen  können, 
doch  mußte  sie  dieses  ihr  sehr  am  Herzen  liegende 
Projekt  vorläufig  noch  zurückstellen,  bis  der  zu 
seiner  Durchführung  nötige  Raum  verfügbar  wird. 
An  der  Hand  der  vorhandenen  Originale  sich  das 
von  dieser  Entwicklung  wünschenswerte  Bild  zu 
machen,  ist  bei  dem  geringen  Be¬ 
stand  an  älteren  Werken  naturgemäß 
unmöglich.  Ein  paar  Cranach  und 
etwa  hundert  Niederländer,  die  Ge¬ 
heimer  Kommerzienrat  Gruson  und 
Maler  Ohnesorge  dem  Museum  ge¬ 
stiftet  haben,  das  ist  der  ganze  ältere 
Bestand  der  Galerie,  deren  Schwer¬ 
gewicht  naturgemäß  auf  der  Seite 
der  modernen  Malerei  liegt.  Hier 
aber  weist  sie  dank  dem  feinen 
Empfinden  und  großen  Verständnis 
Dr.  Volbehrs  soviel  erstklassige  Werke 
auf,  daß  manche  große  Staatsgalerie 
in  dieser  Beziehnng  hinter  ihr  zurück¬ 
steht.  Es  würde  natürlich  viel  zu 
weit  führen,  wenn  man  hier  auch 
noch  auf  die  einzelnen  Bilder  ein- 
gehen  wollte,  doch  sei  wenigstens 
eine  Reihe  von  Künstlernamen  ge¬ 
nannt,  die  mit  besonders  guten  Wer¬ 
ken  vertreten  sind,  nämlich:  Lenbach, 

Bracht,  Corinth,  Kallmorgen,  Böcklin, 

L.  V.  Hof  mann,  Thoma,  Volkmann, 

Zügel,  Uhde,  Jernberg,  Leistikow, 

Dettmann,  Albers,  Dill,  Gebhardt, 

Schramm-Zittau,  Höcker,  Rieh.  Kaiser, 

Unger,  Sascha  Schneider,  Leibi. 

Über  die  Aufmachung  der  Bilder¬ 
säle  kann  man  nur  Lobenswertes 
sagen.  Jedes  Bild  kommt  gut  zur  Gel¬ 
tung,  denn  es  ist  durchweg  locker  ge¬ 
hängt  worden, so  daß  kein  Raum  über¬ 
mäßig  gefüllt  erscheint.  Als  Wand¬ 
bespannung  hat  man  das  dauerhafte 
sog.  Kochelleinen  genommen,  zu  dem 
dann  jedesmal  ein  in  der  Farbe  har¬ 
monierender  Fußbelag  gewählt  ist,  der 
hierwieüberall  imOberstockausLino- 
leum  besteht,  das  auf  Korkunterlage 
liegt.  Die  eigentliche  Behangfläche 
ist  nicht  zu  hoch  genommen  worden, 
so  daß  man  nie  in  Versuchung  kommen  kann,  auch 
nur  drei  mittelgroße  Bilder  übereinander  zu  hängen. 
In  den  abgeschrägten  Ecken  eines  jeden  Saales  liegen 
Heizung  und  Ventilation.  Die  Aufhängung  der  Bilder 
geschah  mittels  dünner  Drahtseile,  die  mit  einem  ab¬ 
schließenden  Haken  an  der  Eisenschiene  eingehängt 
werden,  die  über  der  oberen  Holzverschalung  hinläuft. 
Diese  Drahtseile  werden  durch  die  Aufhängeösen 
des  Bildes  hindurchgezogen  und  tragen  unten  federnde 
Laschen,  auf  denen  die  Unterkante  des  Bildes  aufsitzt. 


Im  Tone  der  jeweiligen  Wandbespannung  gestrichen 
treten  diese  an  und  für  sich  schon  diskreten  Träger 
ganz  zurück,  so  daß  sie  fast  unsichtbar  sind.  Die 
Etikettierung  geschah  in  den  Oberlichtsälen  mittels 
mäßig  großer  olivgrauer  Lederschildchen,  die  in  gol¬ 
dener  Aufschrift  Künstlernamen,  Lebensdaten  und 
Gegenstandbezeichnung  aufweisen.  Sie  sind  diskret 
unterhalb  der  Bilder  direkt  auf  der  Wand  befestigt, 
weil  sie  in  dieser  Aufmachung  nicht  den  unangenehm 
blitzenden  und  bei  der  Bildbetrach¬ 
tung  so  störend  wirkenden  Ober¬ 
lichtreflex  aufweisen,  wie  ihn  gold¬ 
gedruckte  Etiketten  immer  haben, 
wenn  sie  auf  den  meist  schräg  ab- 
lanfenden  Rahmenprofilen  angebracht 
sind. 

In  den  Seitenlichtkabinetten,  in 
denen  kleine  Gemälde,  Aquarelle  und 
Handzeichnungen  hängen,  hat  man 
Etiketten  aus  dunkelgrünem  Karton 
mit  weißgrauem  Aufdruck  gewählt, 
die  dem  Beschauer  nicht  gleich  auf 
Meterweite  ins  Gesicht  springen, 
sondern  ebenso  gesucht  sein  wollen, 
wie  es  die  intimen  hier  zur  Ausstel¬ 
lung  gelangten  Kunstwerke  auch  von 
sich  verlangen.  Die  gleiche  Etiket¬ 
tierung  ist  auch  durchgeführt  bei 
einer  der  bemerkenswertesten  Stif¬ 
tungen,  die  noch  genannt  werden 
muß:  bei  der  Heini  Strauß-Stiftung, 
einer  äußerst  interessanten  Kollektion 
von  etwa  180  Handzeichnungen  der 
bekanntesten  Künstler  des  ig.  Jahr- 
hnnderts.  Stadtrat  Strauß  nebst  Frau 
Gemahlin  haben  dem  Museum  diese 
sehr  schätzenswerte,  hocherfreuliche 
Gabe  als  bleibendes  Erinnerungs¬ 
zeichen  ihres  früh  verstorbenen  Soh¬ 
nes  vermacht.  Sie  füllt  allein  sechs 
Seitenlichtkojen,  die  ihren  Abschluß 
finden  in  einem  kleinen  von  Fried¬ 
rich  Stapff  und  Heinrich  Geiling  ent¬ 
worfenen  behaglichen  Lesezimmer- 
chen,  in  dem  eine  ganze  Anzahl 
der  besten  modernen  Illustrations¬ 
werke,  darunter  Sattlers  Nibelungen 
und  und  ähnliche  Kostbarkeiten, 
zur  Durchsicht  aufliegen.  Wenn 
wir  diese  reiche  Sammlung  mo¬ 
derner  Graphik,  in  der  Künstler 
wie  Thoma,  Böcklin,  Menzel,  Klinger,  Leibi,  Feuer¬ 
bach  usw.,  überraschend  gut  vertreten  sind,  ein¬ 
gehend  besichtigt  haben,  dann  erübrigt  es  sich  nur 
noch,  einen  Blick  in  das  vom  verstorbenen  Stadtrat 
Fischer  begründete  Münzkabinett  zu  werfen,  um  dann 
schließlich  noch  der  sehr  instruktiven  von  Frau  Kom¬ 
merzienrat  Arnold  gestifteten  und  von  ihr  selbst  mit 
aufopferungsfreudiger  Mühe  und  Geduld  zusammen¬ 
gestellten  Trachtensammlung  einen  kurzen  Besuch  ab¬ 
zustatten,  deren  Modellfiguren  von  der  freundlichen 


VOLTAIRE.  VERGOLDETE  BRONZE 
DES  18.  JAHRHUNDERTS 
Kaiser-Friedricli-Museum  der  Stadt  Magdeburg 


DAS  KAISER-FRIEDRICH-MUSEUM  DER  STADT  MAGDEBURG 


93 


Stifterin  durchweg  selbst  gearbeitet  worden  sind.  — 
Man  sieht,  es  hat  nicht  an  kunstfrohen  Gönnern  ge¬ 
fehlt,  die  Zeit  und  Geld  in  Fülle  daran  gesetzt  haben, 
um  ihrer  Vaterstadt  zu  einem  unter  den  städtischen 
Sammlungen  mustergültig  dastehenden  Museum  zu 
verhelfen.  Rechnet  man  zu  den  vielen  schon  erwähn¬ 
ten  reichen  Stiftungen  noch  die  erst  in  jüngster  Zeit 
überwiesenen  und  noch  nicht  in  Sammlungsobjekte 
umgesetzten  lOOOoM.  von  Rittmeister  Wernecke,  die 
25000  Mark-Spende  des  Geheimrats  Dr.  Wolff  und 
das  20000  Mark-Vermächtnis  des  Kaufmanns  Matthaei 
hinzu;  und  erwägt  man  ferner,  daß  es  nur  mittels 
der  freundlichen  finanziellen  Beihilfe  Dr.  Fabers  ge¬ 
lungen  ist,  die  Etikettierungsfrage  in  so  vornehmer 
Weise  zu  lösen,  daß  es  nur  dank  dem  selbstlosen 
Entgegenkommen  der  A.  Wohlfeldschen  Druckerei 


möglich  war,  einen  typographisch  musterhaften,  mit 
ausgezeichneten  Abbildungen  geschmückten  Führer 
zum  Preise  von  50  Pfg.  abgeben  zu  können,  so  muß 
man  wirklich  sagen;  das  Museum  ist  ein  ragendes 
Denkmal  freudiger  Kunstbegeiste»  ung  und  idealer 
Opferwilligkeit  der  Magdeburger  Bürgerschaft.  Aber 
es  ist  auch  ein  für  alle  Zeiten  sichtbares  Ehrengedächt¬ 
nis  einer  Stadtgemeinde,  die  mit  offenen  Augen  die 
neuen  Aufgaben  einer  neuen  Zeit  erblickt  hat  und 
eifrig  bemüht  gewesen  ist,  diesen  im  vollsten  Umfange 
gerecht  zu  werden;  und  nicht  in  letzter  Linie  ist  es 
ein  monumentaler  Ruhmestempel  für  die  energievolle 
Tatkraft,  das  eindringende  Verständnis  und  den  fein¬ 
fühligen  Geschmack  eines  Museumsleiters,  der  sich 
den  vielfältigen  Aufgaben,  die  ihm  gestellt  sind,  nach 
jeder  Richtung  hin  gewachsen  gezeigt  hat. 


AUS  DEN  FRESKEN  VON  ARTUR  KAMPF.  OTTOS  DES  GROSSEN  BEZIEHUNGEN  ZU  MAGDEBURG 

(RECHTES  SEITENBILD) 

Kaiser-Friedrich-Museum  der  Stadt  Magdeburg 


DIE  ATZEL,  DIE  VON  DEM  AAL  SCHWATZT« 

Von  Konrad  Lange 


Dürers  Kupferstich  Bartsch  84  »Der  Koch 
und  sein  Weib«  oder  »Die  Wirtin  und  der 
Koch  ,  wie  er  gewöhnlich  genannt  wird, 
präsentiert  sich  hier  unter  einem  neuen  Titel,  der 
im  folgenden  begründet  werden  soll.  Die  Abbildung 
ist  nach  dem  Exemplar  des  Berliner  Kupferstich¬ 
kabinetts  gemacht,  dessen  Aufnahme  ich  Max  Lehrs 
verdanke.  Das  Blatt  gehört  zu  denen,  die  in  der 
kunsthistorischen  Literatur  nur  selten  erwähnt  werden. 
Es  scheint  die  Dürer -Eorscher  bisher  wenig  gereizt 
zu  haben.  Eleller,  der  die  ältere  Literatur  zitiert, 
wußte  über  seine  Deutung  nur  zu  sagen:  »Dieses  Blatt 
benennen  einige  ,Mahomed  und  seine  Frau’,  welches 
wahrscheinlich  daher  kommen  mag,  daß  die  Taube 
auf  dem  Rücken  des  Kochs  sitzt,  denn  man  gibt 
von  Mahomed  vor,  daß  häufig  eine  göttliche  Taube 
auf  seine  Schultern  sich  setzte  und  ihm  das  Religions¬ 
system  eingab«*).  Das  braucht  natürlich  nicht  wider¬ 
legt  zu  werden.  Auch  von  Eye  (Dürer,  S.  17g)  hält 
den  Vogel  für  eine  zahme  Taube  und  meint,  das 
Behagen  an  der  einfachen  Szene  werde  durch  sie 

1)  J.  Heller,  Das  Leben  und  die  Werke  Albrecht 
Dürers  11  (1827)  S.  494. 


vermehrt.  Thausing*)  und  Springer  2)  erwähnen 
den  Kupferstich  nur  ganz  kurz,  jener  beschreibt 
die  Darstellung  als  einen  »dicken  Mann  mit  einem 
Kochgerät  und  einem  Vogel  auf  der  Schulter  neben 
einer  pathetisch  auftretenden  Bürgersfrau«.  Kaufmann, 
Singer,  Cust,  Wölfflin,  Weisbach  und  Suida  erwähnen 
ihn  überhaupt  nicht.  Da  Suidas  Buch  über  »die 
Genredarstelhmgen  Albrecht  Dürers«  handelt  und  vieles 
darin  steht,  was  mit  dem  Thema  keinen  erkennbaren 
Zusammenhang  hat,  ist  seine  Übergehung  des  Blattes 
doppelt  auffällig.  Eine  gewisse  Rolle  hat  der  Kupfer¬ 
stich  eigentlich  nur  bei  den  Diskussionen  über  die 
Meister  W- Frage  gespielt,  da  er  zu  den  Blättern  ge¬ 
hört,  von  denen  Kopien  des  Wenzel  von  Olmütz 
existieren’*). 

Über  die  Zeit  seiner  Entstehung  gehen  die  Mei¬ 
nungen  auseinander.  In  Scherers  Publikation  von 

1)  Thausing,  Dürer.  2.  Aufl.  1.  S.  230. 

2)  Springer,  Zeitschr.  f.  b.  K.  XII.  1877,  S.  5.  In  der 
Dürerbiographie  und  den  Aufsätzen  über  den  altdeutschen 
Holzschnitt  und  Kupferstich  und  Dürers  Entwickelungsgang, 
Bilder  aus  der  neueren  Kunstgeschichte,  2.  Aufl.,  II,  S.  20 
und  62,  wird  das  Blatt  übergangen. 

3)  Vgl.  Lehrs,  Wenzel  von  Olmütz,  S.  27. 


DIE  ATZEL,  DIE  VON  DEM  AAL  SCHWÄTZT^ 


95 


Dürers  Gemälden,  Kupferstichen  und  Holzschnitten 
wird  er,  jedenfalls  unrichtig,  vor  1495  gesetzt,  während 
Hausmann  (A.  Dürers  Kupferstiche  usw.  S.  32)  ihn, 
ebenfalls  ohne  Grund,  erst  nach  1506  entstanden  sein 
läßt.  Seine  Entstehung  fällt,  der  Technik  nach  zu 
schließen,  wahrscheinlich  zwischen  die  vier  Hexen 
von  1 497  und  die  Madonna  auf  der  Rasenbank  von  1 503. 
Man  wird  ihn  am  besten  um  1500  1502  datieren. 

Mich  hat  das  Blatt  seit  Jahren  interessiert,  da  ich 
darin  etwas  eigentümlich  Pointiertes  zu  erkennen 
glaubte,  was  mich  an  die  Illustration  eines  Schwankes 
oder  Eastnachtsspiels  denken  ließ.  Ich  erinnere  mich 
auch,  daß  ich  vor  etwa  zwölf  Jahren  auf  Grund  einer 
Anfrage  von  Lehrs  die  Schwankliteratur  des  1  6.  Jahr¬ 
hunderts  daraufliin  durchsah,  unter  anderem  Paulis 
Schimpf  und  Ernst  und  manches  von  Hans  Sachs  las, 
ohne  daß  es  mir  aber  gelungen  wäre,  etwas  Entspre¬ 
chendes  zu  finden.  Ich  muß  damals  mit  Blindheit 
geschlagen  gewesen  sein.  Denn  das  Gesuchte  lag 
groß  und  breit  da,  und  die  Darstellung  bot  wahr¬ 
haftig  genug  Anhaltspunkte  zu  einer  novellistischen 
Deutung. 

Ein  dickwanstiger  ärmlich  gekleideter  Mann,  dessen 
geflickter  Rock  und  reparierte  Beinkleider  jedenfalls 
nicht  auf  Reichtum  oder  vornehme  Herkunft  schließen 
lassen,  schreitet  nach  vorn  und  wendet  dabei  sein 
Gesicht  mit  äußerst  lebhaftem  und  wie  es  scheint 
erzürntem  Ausdruck  einer  einfach  bürgerlich  gekleide¬ 
ten  Frau  zu,  welche,  den  Kopf  mit  einer  großen  Haube 
bedeckt  und  den  linken  Arm  in  den  Mantel  einge¬ 
wickelt,  ruhig,  die  Hände  über  dem  Leib  gekreuzt, 
neben  ihm  einhergeht  oder  dasteht.  Sein  dickes,  nach 
unten  breiter  werdendes  Gesicht  mit  der  niedrigen 
Stirn  und  dem  schwammigen  Unterkinn  läßt  nicht 
gerade  auf  besondere  Intelligenz,  wohl  aber  auf  eine 
gewisse  Freude  am  Wohlleben  schließen,  die  in  einem 
auffallenden  Gegensatz  zu  der  ärmlichen  Kleidung 
steht.  Dieser  Eindruck  wird  durch  die  Bratpfanne 
und  den  Kochlöffel  verstärkt,  die  er  in  der  Hand 
hält.  Offenbar  sind  es  diese  Geräte,  welche,  zusammen 
mit  den  beiden  Messern,  die  ihm  im  Gürtel  stecken’), 
zu  seiner  Benennung  als  Koch  Veranlassung  gegeben 
haben.  In  der  Tat  hat  Dürer  ihn  wahrscheinlich  als 
solchen  charakterisieren  wollen.  Denn  daß  ein  Mann, 
noch  dazu  in  Gegenwart  seiner  Frau,  mit  Küchen¬ 
gerätschaften  hantiert,  ist  jedenfalls  ein  seltener  Fall, 
und  die  Verbindung  einer  gewissen  materiellen  Be¬ 
häbigkeit  mit  der  unverkennbaren  Ärmlichkeit  der 
äußeren  Erscheinung  würde  sich  so  am  einfachsten 
erklären. 

Auch  bei  der  Frau  weisen  die  vollen  Gesichts¬ 
züge  und  das  Behäbige  des  ganzen  Wesens,  z.  B.  der 
etwas  dicke  Leib,  darauf  hin,  daß  es  den  beiden 
Leuten  nicht  gerade  schlecht  geht.  Sie  trägt  an  der 
Seite  die  Tasche  und  die  Schlüssel,  die  bekannten 
Attribute  der  Hausfrau.  Der  Stiel,  der  unter  der 
Tasche  sichtbar  wird,  scheint  auch  von  einem  Koch¬ 
löffel  herzurühren.  Eine  Tasche  hat  übrigens  auch 
der  Mann  an  seiner  Seite  hängen. 

1)  Oder  ist  es  ein  Messer  und  ein  Schleifstein? 


Die  besondere  Situation  ergibt  sich  daraus,  daß 
die  Frau  den  Mann  nicht  iinsieht,  sondern  den  Be¬ 
schauer  in  eigentümlich  gespannter  Weise  fixiert,  wo¬ 
bei  sie  —  was  besonders  zu  beachten  ist  —  den 
Daumen  der  linken  Hand  einkneift.  Dies  im  Zu¬ 
sammenhang  mit  dem  anscheinem]  sehr  erregten  Aus¬ 
druck  des  Mannes  scheint  darauf  hsnzuweisen,  daß 
hier  ein  ehelicher  Zwist  vorliegi.  Offenbar  tritt  der 
Mann  an  seine  Frau  heran  und  r- einet  in  lebhafter 
Weise  eine  Frage  an  sie,  oder  macht  ihr  wegen  irgend 
etwas  Vorwürfe.  Sie  tut  darauf  ganz  unschuidig, 
wobei  sie  aber  doch  verlegen  erscheint.  Denn  sie 
wendet  sich  ihm  nicht  zu,  hält  vielleicht  sogar  mit 
Gewalt  an  sich,  um  nicht  heftig  zu  antworten. 

Worauf  sich  der  Zwist  bezieht,  deuten  die  Küchen¬ 
gerätschaften  an.  Ein  Mann,  der  mit  einer  Pfanne  und 
einem  Kochlöffel  in  der  Hand  auftritt,  kann,  mag  er 
nun  Koch  sein  oder  nicht,  nur  aus  der  Küche  kommen. 
Er  hat  offenbar  irgend  etwas  in  der  Pfanne  braten 
wollen,  ist  aber  durch  ein  unerwartetes  Ereignis  daran 
gehindert  worden.  An  diesem  Ereignis  muß  die  Frau 
schuld  sein,  sonst  würde  er  nicht  so  erregt  an  sie 
herantreten. 

ln  diesem  Zusammenhang  ist  der  Vogel  von 
Wichtigkeit.  Er  sitzt  auf  der  Schulter  seines  Herrn, 
flattert  mit  den  Flügeln  und  öffnet  gegen  ihn  den 
Schnabel.  Durch  die  Wendung  des  Mannes  kommen 
Mund  und  Schnabel  einander  ziemlich  nahe.  Es 
könnte  fast  scheinen,  als  ob  der  Vogel  dem  Manne 
in  den  Mund  picken,  ihm  etwa  einen  Bissen  aus  dem 
Munde  heraus  holen  wollte.  Allein  der  Mann  öffnet 
nur  den  Mund,  ohne  daß  ein  Bissen  darin  sichtbar 
würde.  Was  aber  macht  der  Vogel  sonst?  Das  wird  da¬ 
von  abhängen,  was  es  für  ein  Vogel  ist.  Die  Deutung 
auf  eine  Taube,  die  früher  gebräuchlich  war,  ist 
durchaus  nicht  überzeugend.  Schon  die  Form  des 
Halses  und  die  eigentümliche  Art  zu  flattern,  ver¬ 
tragen  sich  damit  nicht. 

Der  Vogel  ist  vielmehr  eine  Elster.  Davon  kann 
man  sich  durch  einen  Blick  in  das  erste  beste  illu¬ 
strierte  Vogelbuch  überzeugen.  Wenn  eine  »schwatz¬ 
hafte  Elster«  auf  der  Schulter  eines  Mannes  sitzt  und 
den  Schnabel  gegen  ihn  öffnet,  wobei  sich  außerdem 
ihr  Kehlkopf  lebhaft  zu  bewegen  scheint,  so  schwatzt 
sie  natürlich.  Worauf  sich  ihr  Schwatzen  bezieht, 
ist  klar:  es  kann  nur  die  Frau  sein,  zu  welcher  sich 
der  Mann  wendet.  Daß  es  nichts  Angenehmes  ist, 
was  sie  ihm  mitzuteilen  hat,  ergibt  sich  aus  seinem 
bösen  Gesicht.  Natürlich  kann  sich  die  Nachricht 
nur  auf  die  Küche  beziehen ,  sonst  hätten  die 
Küchengerätschaften  keinen  Sinn.  Der  Frau  ist 
offenbar  irgend  etwas  passiert  oder  sie  hat  irgend 
etwas  verbrochen,  was  den  Mann  verhindert,  seine 
Absicht  in  der  Küche  auszuführen,  das  heißt  das  in 
der  Pfanne  zu  braten,  was  er  braten  wollte.  Die  Elster, 
die  es  gesehen  hat,  verrät  es  dem  Manne.  Dieser 
braust,  wie  er  es  hört,  auf  und  fährt  mit  scheltenden 
Worten  über  seine  Frau  her.  Sie  aber  kann  nichts 
Rechtes  erwidern.  Sie  fühlt  sich  zwar  schuldig,  will 
es  aber  doch  nicht  gestehen.  Deshalb  tut  sie  gar 
nicht  so  und  schweigt  sich  aus. 


»DIE  ATZEL,  DIE  VON  DEM  AAL  SCHWATZT 


'ch  weiß  nicht,  ob  der  Leser,  der  die  richtige 
.■J^.I^g  noch  nicht  kennt,  alles  dies  aus  dem  Blatte 
.icrauslcscn  wird.  Jedenfalls  läßt  sich  nicht  leugnen, 
daß  wian  es  ohne  Schwierigkeit  in  dasselbe  hinein¬ 
lesen  kann. 

Geschichten  von  geschwätzigen  Elstern  erzählte 
man  sich  im  1 6.  Jahrhundert  mehrere.  Sie  haben 
alle  eine  ähnliche  Pointe.  Einmal  betrügt  eine  Ehe¬ 
frau  ihren  Mann  mit  einem  Buhler.  Die  Elster  sieht 
es  und  klatscht  es  dem  Ehemann.  Um  sich  an  ihr 
zu  rächen,  schlägt  die  Frau  mit  ihrer  Magd  ein  Loch 
in  die  Decke  über  dem  Elsterkäfig  und  schüttet 
nachts  Sand  und  Wasser  auf  den  Vogel  herab.  Dieser 
beklagt  sich  bei  dem  Herrn,  es  habe  die  ganze  Nacht 
auf  ihn  gehagelt  und  geregnet.  Da  nun  leicht  fest¬ 
zustellen  ist,  daß  es  die  Nacht  über  gutes  Wetter 
war,  benutzt  die  Frau  die  falsche  Aussage  der  Elster, 
um  deren  Unzuverlässigkeit  zu  beweisein  und  sich 
selbst  von  der  Schuld  reinzuwaschen.  Der  Mann 
läßt  sich  auch  eine  Zeitlang  überzeugen,  reißt  der 
Elster  aus  Wut  den  Kopf  ab  -  und  bemerkt  erst 
zu  spät  das  Loch  in  der  Decke,  das  den  Irrtum  auf¬ 
klärt  und  seine  Schande  enthüllt. 

Diese  Geschichte  kann  offenbar  in  dem  Stiche 
nicht  gemeint  sein,  denn  damit  wären  die  Koch¬ 
gerätschaften  nicht  erklärt. 

Ein  andermal  wird  von  einer  Elster  erzählt,  die  in 
einem  Wirtshaus  gehalten  wurde  und  gewöhnt  war,  den 
Preis  des  Weines  auszurufen.  Einmal  habe  sie  auch 
dann  noch  den  niedrigeren  Preis  genannt,  nachdem  der 
Wirt  schon  aufgeschlagen  hatte.  Dadurch  seien  viele 
Gäste  angelockt  worden,  die  sich  dann  aber  bitter  be¬ 
schwert  hätten,  daß  sie  mehr  bezahlen  müßten,  als  man 
ihnen  vorausgesagt  habe.  Der  Wirt  ist  wütend  über 
die  Elster  und  wirft  sie  auf  die  Straße  in  den  Dreck. 
Mühsam  klaubt  sie  sich  wieder  heraus.  Als  sie  dann 
bald  darauf  ein  Schwein  sieht,  das  sich  im  Kot  ge¬ 
wälzt  hat,  sagt  sie  zu  ihm:  Du  hast  gewiß  auch  den 
Wein  zu  billig  ausgerufen.  Auch  diese  Geschichte 
kann  nicht  gemeint  sein.  Denn  es  fehlt  in  dem 
Kupferstiche  jeder  Hinweis  auf  den  Wein,  ohne  den 
doch  kein  Beschauer  auf  die  richtige  Deutung  ver¬ 
fallen  konnte.  In  allen  diesen  Geschichten  kommt  es 
offenbar  auf  die  Schlußpointe  an.  Die  Elster  ist  ein 
Beispiel  für  unbedachte  Schlußfolgerungen  auf  Grund 
ungenügender  Induktion.  Sie  ist  zwar  sehr  klug, 
kann  sprechen  wie  ein  Mensch  und  auch  ganz  gut 
beobachten.  Aber  sie  kombiniert  falsch,  zieht  aus 
dem  Beobachteten  falsche  Schlüsse. 

Derartige  Geschichten  finden  sich  in  vielen  Fabel¬ 
büchern,  moralischen  Volksbüchern  und  Schwank¬ 
sammlungen  des  15.  und  16.  Jahrhunderts,  z.  B.  im 
Ritter  vom  Turn,  Bebels  Facetien,  in  »Scherz  mit 
der  Wahrheit«,  Paulis  Schimpf  und  Ernst,  Kirchhofs 
Wendunmut,  ja  sogar  noch  in  Abraham  a  Santa  Claras 
Judas  dem  Erzschelm^).  Sie  scheinen,  teilweise  auch 

1)  Vgl.  die  Zitate  von  Oesterley  in  den  Ausgaben  von 
Pauli  und  Kirchhof  (Stuttgarter  Literarischer  Verein,  Bd.  85 
und  95 — g8)  und  die  Zusammenstellung  von  J.  Bolte,  Zeit¬ 
schrift  des  Vereins  für  Volkskunde  XIII,  1903,  S.  94  An¬ 
merkung. 


in  Übertragung  auf  andere  Tiere,  noch  jetzt  hie  und 
da  im  Volksmunde  zu  leben. 

Darunter  ist  nun  auch  eine  Geschichte,  die  be¬ 
sonders  beliebt  gewesen  zu  sein  scheint  und  in  ihrer 
ältesten  bekannten  Form  genau  zu  dem  Kupfer¬ 
stiche  paßt.  Ich  gebe  sie  zunächst  in  der  Fassung 
eines  Schwankes  von  Hans  Sachs: 

Der  edelman  mit  dem  al. 

In  dem  hofton  Danhawser. 

1. 

In  Meichsen  sas  ein  edelman, 

Gastfrey  zw  aller  zeitte. 

Er  fisch  vnd  guet  wiltpret  pehielt 
Auf  zwkuenftige  geste. 

Ains  mals  het  er  ein  grosen  al 
In  einem  fischdrog  weite. 

Den  er  pehielt  auf  einen  hoff, 

Faist  auf  das  allerpeste. 

Eins  tages  muest  er  reiten  aus 
Zum  fuersten,  als  er  jaget. 

Die  edel  fraw  perueft  zw  haus 
Ir  hawsfögtin  vnd  saget. 

Wie  sie  hett  einen  grosen  luest. 

Den  grossen  al  zw  essen. 

Gar  pald  peraiten  sie  den  al  vermessen, 

Süden  yn  und  prieten  in  halb. 

Und  darnach  zamen  sasen, 

Hetten  darmit  einen  gueten  schlamp, 

Frölich  truncken  und  assen. 

2. 

Frue  der  junckher  geriten  kom 
Und  vom  gaul  wart  gesessen. 

Da  het  er  hencken  in  eini  kar 
Ein  alster,  die  kunt  schwaczen. 

Die  sprach:  »Junckher,  den  grossen  al 
Hat  vnser  fraw  gefressen 
Wechten  mit  irer  hawsfocktin«. 

Er  glaubet  nit  der  haczen, 

Gieng  nab  und  schawt  zw  dem  fischdrog: 
Der  al  war  nimer  drinen. 

Die  frawen  er  mit  red  anzog; 

Die  war  listig  von  sinnen 

Vnd  sprach:  »Der  otter  hat  in  weck 

Oder  vileicht  ein  bieber.« 

Der  edelman  sprach  zw  der  frawen:  »Lieber, 
Dw  vnd  auch  des  hawsfocktes  weib 
Seit  der  pieber  vnd  otter; 

Den  al  ir  mir  gefressen  habt«. 

Sie  sprach:  »Dw  lewgst,  dw  lotter!« 

3- 

Da  schlueg  er  ir  die  fawst  an  köpf 
Vnd  sie  peim  har  umb  zuege, 

Schlueg  sie  darzw  ein  guete  nuet, 

Weil  sie  rett  so  vermessen. 

Als  der  junckher  rait  wider  aus. 

Da  clagt  sie  den  getruege. 

Der  heczen  irer  hausfogtin. 

Die  ir  den  al  halff  fressen. 

Die  haczen  namen  sie  alpaid. 

Die  fedren  ir  außzuepften 
Vmb  iren  kopff,  ir  zw  herzlaid 
Sis  gancz  glaczet  peruepften. 


DIE  ATZEL,  DIE  VON  DEM  AAL  SCHWÄTZT 


97 


Nach  dem,  wen  die  hacz  sach  ein  man 
Am  köpf  glaczet  vnd  kale, 

Sprach  sie:  »Der  hat  geschweczet  von  dem  ale«. — 
Zwo  ler  aus  diesem  possen  merck: 

Neschlein  zalt  man  mit  schiegen; 

Zum  andren  ein  geschweczig  maul, 

Wirt  oft  gerupft  dargegen. 

Anno  salutis  1541,  am  8.  tag  Julii. 

Dürer  kann  die  Geschichte  natürlich  schon  aus 
chronologischen  Gründen  nicht  aus  Hans  Sachs  haben. 
Außerdem  paßt  ein  Punkt  gar  nicht,  nämlich  daß  der 
Mann  ein  Edelmann  ist.  Hätte  dies  in  der  literarischen 
Quelle  gestanden,  die  Dürern  vorlag,  so  hätte  er 
den  Mann  wohl  nicht  in  dürftiger  Kleidung  darge¬ 
stellt,  überhaupt  das  Ganze  vermutlich  anders  formu¬ 
liert.  Auch  die  Schläge,  die  die  Frau  bekommt,  sind 
in  dem  Kupferstich  nicht  angedeutet.  Sonst  aber 
paßt  alles  so  gut,  daß  es  sich  schon  lohnt,  der 
Sache  nachzugehen  und  zu  fragen,  ob  nicht  die  Er¬ 
zählung  des  Hans  Sachs  auf  eine  Quelle  zurückgeht, 
die  in  dieser  Beziehung  dem  Kupferstich  besser  ent¬ 
spricht.  Zunächst  scheint  das  nicht  der  Fall  zu  sein. 
Die  Quelle  ist  uns  nämlich  bekannt.  Es  ist  der 
Schwank  in  Paulis  Schimpf  und  Ernst,  dessen  Lek¬ 
türe  mich  zuerst  auf  den  Gedanken  brachte,  daß 
Dürer  eine  ähnliche  Geschichte  gemeint  haben  könnte. 
Der  Barfüßermönch  Johannes  Pauli  erzählt  in  seiner 
1518  zu  Thann  im  Elsaß  geschriebenen  Sammlung 
von  593  Schwänken  folgendes: 

»Von  schimpff  das  sechst. 

(Ein  atzel  schwetzt  von  dem  al.) 

Es  war  ein  edelman  ein  eren  man,  der  het  allen 
mal  gest,  darumb  so  behielt  er  alwegen  etwas  be- 
sunders,  es  weren  junge  hüner,  oder  wer  wiltbret  in 
dem  saltz,  oder  weren  fisch  in  dem  trog,  wa  er 
uberfallen  würd  von  ersamen  gesten,  das  er  auch 
etwas  het  inen  für  zusetzen,  wan  das  ist  einem  eren 
man  gnug,  der  da  gest  hot,  wan  er  einer  trachten 
me  hat,  dan  so  er  allein  ist  und  kein  gest  hat.  Uff 
ein  mal  het  er  ein  guten  al  in  dem  fischtrog  lauffen, 
und  es  begab  sich  das  er  müsz  hinweg  reiten,  und 
da  er  hinweg  kam,  da  gieng  sein  hauszfraw  zu  irer 
nachbaurin  zü  irer  gespil,  und  sprach  zu  ir.  Ach 
liebe  nachbaurin  ich  hab  den  grösten  lüsten  ein  al 
zü  essen,  mein  Juncker  hat  ein  al  in  dem  fischtrog 
lauffen,  wöllen  ir  mir  helffen,  so  wöllen  wir  in 
schlemmen,  und  wöllen  darnach  sprechen,  der  otter 
hab  in  fressen.  Die  nachbürin  sprach  ia.  Sie  be¬ 
reiteten  den  al  nach  irem  willen,  und  sutten  ein  theil 
und  brieten  ein  theil.  Indem  der  iuncker  widerumb 
kam  reiten,  und  sich  widerumb  ab  zog.  Nun  het 
der  iuncker  ein  atzel  in  einer  keffin,  die  kunt 
schwetzen.  Und  die  atzel  sprach  zu  dem  iunckern: 
Juncker  die  fraw  hat  den  al  gesotten  und  gebraten, 
und  hat  in  fressen.  Da  sich  nun  der  juncker  ab 
gezohe,  da  gieng  er  über  den  trog,  wan  er  wolt  der 
atzlen  nit  glauben,  da  was  er  hinweg  da  ward  er 


1)  Vgl.  Sämtliche  Fabeln  und  Schwänke  von  Hans 
Sachs,  herausgegeben  von  Ooetze  und  Drescher,  3.Bd.,  Neu¬ 
drucke  deutscher  Literaturwerke  164—169,  S.  269. 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XVIII.  H.  4 


zornig  und  sprach  zü  der  fratiwen:  Fraw  wie  sein 
ir  so  schleckerhafftig,  warumb  haben  ir  mir  den 
al  fressen,  den  ich  uff  gest  behalten  hab.  Sie  sprach, 
ich  hab  es  nit  gethon,  ist  er  nicht  noch  da,  so  müssen 
in  die  otter  haben  fressen,  wan  sy  haben  euch  vor 
me  fressen.  Der  iuncker  sprach:  ia  es  ist  war,  ir  haben 
es  gethon,  ir  sein  der  otter  und  der  marder  der  in 
fressen  hat,  der  fogel  hat  mir  es  gesagt.  Da  die  fraw 
hört  das  es  im  der  fogel  hat  gesagt,  ward  sie  zornig 
über  den  fogel.  Da  nun  der  iuncker  uff  ein  mal 
widerumb  hinweg  geriten  was,  da  nam  sie  ire  nach- 
burin  zü  ir,  die  den  al  het  helffen  fressen,  und  be- 
rupfften  der  artzlen  den  kopff  und  machten  im  ein 
blatten,  sie  hetten  in  lieber  gar  zü  dot  geschlagen. 
Wan  dan  der  fogel  einen  man  sähe,  der  ein  kaien 
kopff  oder  blatten  het,  so  sprach  er  zü  dem  selbigen 
man:  du  hast  freilich  auch  von  dem  al  gesch wetzt').« 

Die  Geschichte  ist  zwar  noch  zu  Lebzeiten  Dürers 
geschrieben  und  das  Volksbuch  Paulis  hat  schon 
1522  bei  Grieninger  in  Straßburg  seine  erste  Auflage 
erlebt.  Dennoch  kann  Dürer  dieses  Buch  nicht  als 
Quelle  benutzt  haben,  da  sein  Kupferstich  wie  gesagt 
schon  um  1500  1502  entstanden  ist.  Dies  und  die 

Tatsache,  daß  der  Stand  des  Mannes  in  dem  Stich  und 
in  der  Geschichte  nicht  übereinstimmt,  veranlaßte 
mich,  Herrn  Prof.  Joh.  Bolte  in  Berlin  zu  fragen,  ob 
ihm  eine  ältere  Quelle  bekannt  wäre.  Er  verwies 
mich  außer  den  oben  S.  94  Anm.  1  zitierten  Stellen 
auf  den  Ritter  vom  Turn.  Ich  hatte  diesen  seit  Jahren 
nicht  in  der  Hand  gehabt  und  auch  die  Neuausgabe 
von  Kautzsch  (1 903)  noch  nicht  zu  Gesicht  bekommen. 
Deshalb  war  mir  diese  Quelle  entgangen.  Hier 
fand  ich  nun  genau,  was  ich  suchte. 

Der  Ritter  vom  Turn,  dessen  Beziehungen  zum 
jungen  Dürer  jedem  Kunsthistoriker  bekannt  sind,  ist 
in  deutscher  Übersetzung  zuerst  1493  bei  Furter  in 
Basel  erschienen,  und  zwar  mit  den  interessanten 
Illustrationen,  die  Daniel  Burckhardt  auf  Dürer  zu¬ 
rückgeführt  hat.  Das  Buch  geht  auf  eine  französische 
Quelle  vom  Jahre  1371/72,  den  Chevalier  de  la  Tour 
Landry  zurück,  den  Montaiglon  1854  neu  heraus¬ 
gegeben  hat.  Der  Verfasser  trägt  unter  dem  Vor¬ 
wände,  seinen  Töchtern  weise  Lehren  über  Liebe  und 
Ehe  zu  geben,  eine  Anzahl  weltlicher  Anekdoten  und 
biblischer  Geschichten  zusammen,  die  sowohl  von 
braven,  züchtigen  und  frommen,  als  auch  von  eitlen, 
geschwätzigen,  schleckrigen  und  unzüchtigen  Weibern 
handeln,  wobei  natürlich  die  Tugend  immer  belohnt 
und  das  Laster  immer  bestraft  wird.  Die  dick  auf¬ 
getragene  Moral  ist  oft  recht  an  den  Haaren  herbei¬ 
gezogen  und  die  Pointen  häufig  sehr  schwach.  Die 
Übersetzung  stammt  von  Marquart  vom  Steyn,  Ritter 
und  Landvogt  zu  Montpellicart,  und  führt  den  Titel: 
Der  Ritter  vom  Turn  von  den  Exempeln  der  gots- 
forcht  ufi  erbarkeit.  Die  Geschichte  von  der  ge¬ 
schwätzigen  Atzel  steht  auf  Fol.  Biij  und  lautet; 

»Ich  will  üch  ouch  eyn  exepel  sagn  vö  den  frowc 
die  hynder  jre  manne  heymlich  schleck  essen.  Es 

1)  J.  Pauli,  Schimpf  und  Ernst,  Bibliothek  des  Literari¬ 
schen  Vereins  in  Stuttgart  1866,  LXXXV,  18. 


14 


gS 


DIE  ATZEL,  DIE  VON  DEM  AAL  SCHWÄTZT 


WZ  eyn  frow  die  hatt  eyn  atzeln  jn  eyner  kefygen, 
die  redt  unnd  sagt  alles  dz  das  sy  sach  das  man 
liietl.  Als  begab  sich,  das  jr  hußwürt  eyn  guten 
grossen  ol  jn  eynem  trog  an  eyn  heymlich  end  be¬ 
halten  hatt,  uff  das  ob  jm  yendert  eyn  herr  oder  guter 
fründ  zu  huß  keme,  jn  zu  besehen,  das  er  jin  dar 
mit  ere  thun  unnd  eyn  gut  essen  haben  möchte. 
Also  gieng  die  frow  zu  jrer  gefatter,  jr  von  dem 
ole  sagend,  un  wie  gut  er  zu  essen  were,  ye  das  sy 
ein  anschlag  thetten  den  zu  essen,  ufi  dem  hußwürt 
zu  verston  zu  geben,  das  jn  eyn  otter  genomen  unnd 
gessen  hette.  Da  nun  der  herr  zu  huße  kam,  hub 
die  atzel  an  und  sagt:  herr  myn  frow  het  den  ol  gessen, 
da  gieng  der  herr  über  synen  vischtrog,  und  wolt 
besehe  ob  es  war  wer  oder  nit.  Als  er  nun  den 
nit  fand,  fragt  er  sin  husfrow  wohin  der  körnen 
were.  Vermeynt  sy  sich  gar  wol  zu  entschuldigen. 
Sprach  aber  der  herr:  gewyslich  hast  du  jn  gessen, 
dafi  die  atzel  mir  das  geseit  hat,  unnd  schalt  un  strafft 
sy  darumb  mit  gar  zornmütigen  worte.  Darumb  so 
bald  der  herr  ußhin  reit  kam  die  frow  mit  jrer  ge¬ 
fatter  zu  der  atzeln  und  nomen  unnd  berofften  sy 
das  yr  dhein  feder  bleib  uff  jrem  houpt,  unnd  spra- 
chent:  das  ist  darumb  das  du  deß  oles  halb  unß  hast 
verraten.  Dannanthyn  wo  die  atzel  eyn  mensche 
sach  der  da  kal  oder  glatzköpfig  was,  Schrey  sy  über¬ 
lut:  du  hast  ouch  von  dem  ol  gesagt.  Darumb  sich 
vor  söllichem  schlecken  wol  zu  hütten  ist.« 

Eür  unseren  Kupferstich  ist  das  Wichtige  an  dieser 
Fassung,  daß  der  Mann  nicht  als  Edelmann  bezeichnet, 
überhaupt  von  seinem  Berufe  nichts  gesagt  wird.  Ein 
Künstler,  der  sie  illustrieren  wollte,  hatte  also  in  bezug 
auf  seine  Kennzeichnung  freie  Hand.  Daß  Dürer 
ihn  als  Koch  charakterisierte,  ergab  sich  einfach 
daraus,  daß  er  den  Inhalt  anders  überhaupt  nicht 
hätte  klar  machen  können.  Man  muß  auch  zugeben, 
daß  er  alles  getan  hat,  um  seiner  Quelle  gerecht  zu 
werden.  Was  der  Erzähler  nach  den  Regeln  seiner 
Kunst  auseinanderreißen  mußte,  drängte  der  Maler 
nach  den  Gesetzen  der  seinigen  räumlich  zusammen. 
Der  Mann  schilt  schon  die  Frau,  während  ihm  die 
Elster  noch  das  Geheimnis  verrät.  Das  Suchen  im 
Fischtrog  und  die  Bestrafung  der  Elster  konnte  nicht 
in  derselben  Komposition  dargestellt  werden.  Statt  des 
ersteren  sehen  wir  eine  Anspielung  auf  den  vergeb¬ 
lichen  Versuch  des  Mannes  in  der  Küche,  den  Aal  zu 
braten.  Denn  nur  dies  konnte  durch  das  Koch¬ 
gerät  einigermaßen  verständlich  angedeutet  werden. 
Trotzdem  könnte  man  sagen,  daß  die  Illustration 
gerade  dieser  Geschichte  in  einem  selbständigen  Kupfer¬ 
stich  ein  Mißgriff  war.  Denn  ohne  Kenntnis  der 
Geschichte  konnte  kein  Mensch  auf  die  richtige 
Deutung  verfallen.  Das  gilt  freilich  nur  von  uns, 
nicht  von  den  Zeitgenossen  Dürers.  Vielleicht  war 
der  Schwank  im  i6.  Jahrhundert  so  bekannt,  daß 
jeder  Beschauer  beim  Anblick  der  Elster  und  des 
Kochgeräts  sofort  wußte,  was  gemeint  war. 

Am  verständlichsten  wäre  aber  die  Szene  ge¬ 
wesen,  wenn  der  junge  Künstler  sie  von  Anfang  an 
nicht  als  selbständigen  Kupferstich  gedacht,  sondern 
als  Holzschnittillustration  zum  Ritter  vom  Turn  ge¬ 


plant  hätte.  Dieser  Gedanke  liegt  aber  besonders  des¬ 
halb  sehr  nahe,  weil  der  Ritter  vom  Turn  bekannt¬ 
lich  der  erste  von  den  Baseler  Drucken  der  Jahre 
1493 — 1498  ist,  deren  Illustrationen  anerkannter¬ 
maßen  eine  enge  Verwandtschaft  mit  den  Jugend¬ 
werken  Dürers  haben.  Sind  sie  doch  von  Daniel 
Burckhardt  geradezu  Dürer  selbst  zugeschrieben  wor¬ 
den.  Allerdings  haben  Werner  Weisbach  in  seiner 
Schrift  über  den  Meister  der  Bergmannschen  Offi¬ 
zin  und  Albrecht  Dürers  Beziehungen  zur  Baseler 
Bücherillustration  (Straßburg  1896),  und  R.  Kautzsch 
in  seiner  Neuausgabe  des  Ritters  vom  Turn  (1903) 
den  Illustrator  der  Baseler  Drucke  und  den  jungen 
Dürer  wieder  auseinandergerissen,  so  daß  Wölfflin  sich 
bei  der  Besprechung  dieser  Frage  auf  die  Annahme 
beschränken  zu  müssen  glaubte,  der  junge  Dürer  habe 
jenem  Illustrator  bei  seiner  Arbeit  nur  ȟber  die 
Schulter  gesehen.«  Dem  gegenüber  halten  Peartree, 
Alfr.  Schmidt,  Friedländer,  Justi  und,  wie  es  scheint, 
auch  noch  andere  an  Burckhardts  Hypothese  fest. 

Ich  widerstehe  der  Versuchung,  die  Frage  hier 
auf  Grund  meiner  kleinen  Entdeckung  von  neuem 
zu  erörtern.  Denn  da  allgemein  anerkannt  ist,  daß 
der  Illustrator  der  Bergmannschen  Offizin  einer  der 
bedeutendsten,  vielleicht  sogar  der  bedeutendste  Holz¬ 
schnittzeichner  des  1  5.  Jahrhunderts  war,  und  daß  Dürer 
die  Illustrationen  seines  Meisterwerkes,  des  Ritters  vom 
Turn,  wenn  nicht  selbst  gezeichnet,  doch  zum  mindesten 
gekannt,  das  heißt  also  auch  bewundert  hat,  so  möchte 
ich  mich  nicht  durch  Leugnung  ihres  Dürerschen 
Ursprungs  der  Gefahr  aussetzen,  später  einmal  durch 
den  Nachweis  in  Verlegenheit  gebracht  zu  werden, 
daß  Dürer  sich  selbst  sehr  bewundert  oder  gar 
sich  selbst  bei  der  Arbeit  über  die  Schulter  geguckt 
hätte. 

Tatsache  ist  jedenfalls,  daß  der  Koch  und  sein 
Weib  unter  den  Holzschnitten  des  Ritters  vom  Turn 
nicht  vorkommt  und  auch  durch  seine  Komposition 
einigermaßen  von  ihnen  abweicht.  Das  gilt  schon 
von  der  Beschränkung  auf  zwei  Figuren,  sowie  der 
Unterdrückung  jeder  Andeutung  des  Raumes,  in  dem 
die  Szene  vor  sich  geht.  Doch  würde  sich  dies  — 
den  Dürerschen  Ursprung  der  Illustrationen  voraus¬ 
gesetzt  —  auch  daraus  erklären,  daß  er  einer  um 
mehrere  Jahre  entwickelteren  Stufe  seiner  Kunst  ent¬ 
spricht. 

Mag  nun  die  »Atzel,  die  von  dem  Aal  schwätzt«, 
einen  bei  der  Illustration  des  Ritters  vom  Turn  unbe¬ 
nutzt  gebliebenen  und  später  wieder  aufgegriffenen 
und  in  entwickelteren  Formen  durchgeführten  Kom¬ 
positionsgedanken  repräsentieren,  oder  mag  Dürer 
hier  mit  seinem  großen  uns  immer  noch  unbekannten 
Vorgänger  in  erfolgreicher  Weise  wetteifern,  jedenfalls 
war  der  Text  des  Ritters  vom  Turn  seine  Quelle.  Denn 
das  Buch  erschien  in  derselben  Zeit,  in  der  sich 
Dürer  auf  seiner  Wanderschaft  im  Elsaß,  wahrschein¬ 
lich  sogar  in  Basel  aufgehalten  hat.  Wenn  er  es  auch 
nicht  selbst  illustriert  haben  sollte,  so  hat  er  es  jeden¬ 
falls  mit  Interesse  gelesen. 

So  wird  durch  die  neue  Deutung  wieder  einmal 


UNBEACHTETE  MALEREIEN  DES  15.  JAHRHUNDERTS 


99 


der  Satz  bestätigt,  daß  Dürer  den  Inhalt  seiner  Kupfer¬ 
stiche,  auch  da,  wo  er  auf  den  ersten  Blick  fremd¬ 
artig  oder  besonders  geistreich  erscheint,  nicht  selbst 
erfunden  hat.  Ebenso  wie  beim  Meerwunder^),  der 


Nemesis,  der  Melancholie,  dem  Ritter,  Tod  und  Teufel, 
hat  er  sich  auch  hier  damit  begnügt,  einen  Gedanken, 
der  in  der  Luft  lag,  eine  Geschichte,  die  schon 
literarisch  fixiert  war,  künstlerisch  zu  verkörpern. 


UNBEACHTETE  MALEREIEN  DES  15.  JAHRHUNDERTS 
IN  FLORENTINER  KIRCHEN  UND  GALERIEN 

Von  O.  Wulff  in  Berlin 

II. 


Durch  das  rein  künstlerische,  schon  naturalistisch 
gefärbte  Interesse  für  eine  bewegte  Einzel¬ 
gestalt  in  ihrer  plastischen  Entfaltung,  die 
noch  dazu  als  Rückenfigur  das  Auge  durch  keinen 
anderen  Reiz  zu  fesseln  vermag,  kündigt  sich  in  den 
besprochenen  Fresken  von  S.  Maria  Maggiore  (siehe 
Artikel  1)  noch  entschiedener  als  in  anderen  Werken 
Spinello  Aretinos  die  neue  quattrocentistische  Kunst¬ 
anschauung  an,  mögen  sie  nun  diesseits  oder  noch 
jenseits  der  Jahrhundertwende  entstanden  sein.  Im 
trecentistischen  Gesamteindruck  der  Bilder  freilich 
bleibt  ein  solcher  Zug  leicht  unbemerkt  und  die  bis¬ 
herige  Nichtbeachtung  der  sichtlich  aufgefrischten  Dar¬ 
stellungen  daher  erklärlich.  Anders  verhält  es  sich 
mit  ein  paar  Stücken,  auf  die  ich  im  folgenden  auf¬ 
merksam  machen  möchte.  Sie  sind  unantastbare 
Arbeiten  des  1 5.  Jahrhunderts,  denen  abgesehen  von 
ihrem  Eigenwerte  vielleicht  auch  eine  gewisse  Be¬ 
deutung  für  die  Klärung  einer  noch  nicht  geschlichteten 
Kontroverse  zukommt. 

Ein  wichtigerer  Überrest  früher  quattrocentistischer 
Malerei  hat  an  allgemein  zugänglicher,  ja  an  viel¬ 
besuchter  Stelle  seit  mehr  denn  anderthalb  Jahrzehnten 
noch  so  gut  wie  gar  keine  Berücksichtigung  erfahren. 
Die  mißlichen  äußeren  Umstände  tragen  wohl  daran 
die  Hauptschuld.  Die  Freske,  um  die  es  sich  hier 
handelt,  ist  durch  die  gegen  Ende  der  achtziger  Jahre 
in  Angriff  genommenen  Restaurationsarbeiten  in  S. 
Trinitä,  denen  unsere  Kenntnis  der  Kunst  der  ersten 
Hälfte  des  1 5.  Jahrhunderts  so  manche  Bereicherung 
verdankt,  schon  bei  deren  Beginn  zutage  gekommen. 
Zur  Zeit  ihrer  Auffindung  war  die  Forschung  leider 
für  den  Fund  noch  nicht  reif.  Inzwischen  wurde 
nicht  nur  die  freigelegte  Freskenfolge  des  Lorenzo 
Monaco  in  der  Kapelle  Bartolini-Salimbeni  ihrer  hohen 
Bedeutung  entsprechend  gewürdigt^),  sondern  auch 
die  umfänglichen  Bruchstücke  zweier  Martyrienszenen 
in  der  dem  hl.  Bartholomäus  geweihten  Cappella  Scali, 
der  zweiten  links  vom  Chor,  und  die  Darstellung 

1)  Vgl.  K.  Lange,  Zeitschrift  für  bild.  Kunst  XI  1900, 
S.  195—204.  Was  Werner  Weisbach,  der  junge  Dürer 
1906,  S.  51,  gegen  meine  Deutung  eingewendet  hat,  über¬ 
zeugt  mich  nicht. 

2)  A.  Schmarsow,  Masaccio  V,  S.  125;  O.  Siren,  Lorenzo 
Monaco.  Straßburg  1905,  S.  113. 


dieses  Apostels  am  Frontispiz  derselben  erhielten  neuer¬ 
dings  ihren  festen  Platz  in  der  Kunstentwickelung  des 
zweiten  Viertels  des  Quattrocento  als  Arbeiten  eines 
mit  dem  Autor  der  Krönung  Marias  in  den  Uffizien, 
die  dort  irrtümlich  dem  Jacopo  da  Casenlino  zuge¬ 
schrieben  war,  identischen  Übergangsmeisters').  Haben 
wir  es  da  mit  einem  aus  der  archaischen  Richtung 
eines  Bicci  di  Lorenzo  und  seiner  Compagni  hervor¬ 
gegangenen  Künstler  zu  tun,  der  sich  mit  mehr  Ent¬ 
schiedenheit  als  sie  die  Errungenschaften  des  neuen 
Stils  der  jüngeren  Generation  anzueignen  strebt,  so 
ist  der  Meister  jener  wieder  vergessenen  Freske  — 
sie  befindet  sich  in  der  gegenüberliegenden,  nach 
dem  Haupt-  und  Querschiff  geöffneten  ersten  Kapelle 
der  Südseite  —  sicher  in  nächster  Nähe  der  eigent¬ 
lichen  Bahnbrecher  der  Renaissance,  wenn  nicht  in 
ihrer  Mitte  zu  suchen  (s.  Abb.  1).  Die  ungünstige 
Stelle,  die  das  Bild  an  der  hinteren  Wand  des  däm¬ 
merigen  Raumes  einnimmt,  wo  es  selbst  in  der  besten 
Morgenstunde  nur  von  schwachem  Reflexlicht  getroffen 
wird,  und  der  heutige  Erhaltungszustand  erklären  es, 
daß  so  viele  achtlos  daran  vorüber  gegangen  sind. 
Während  eines  früheren  Aufenthaltes  in  Florenz  ist 
mir  dasselbe  widerfahren.  Der  Besucher,  der  sein 
Augenmerk  hauptsächlich  auf  die  bekannten  Denk¬ 
mäler  der  Kirche  richtet,  wird  durch  den  Anblick  der 
Magdalenenstatue  Desiderios  (bezw.  des  Benedetto 
da  Majano)  abgezogen,  die  seit  der  Restauration  an 
der  Südwand  der  Kapelle  vor  ihrem  hierher  versetzten 
Barockaltar  steht,  und  sieht  über  die  Gestalt  des  Bischofs 
in  der  flachen  Nische  zu  seiner  Linken  um  so  eher 
hinweg,  als  sie  in  die  ödeste  moderne  Dekoration 
pseudogotischen  Stils  eingeschlossen  ist.  Aber  hat 
man  einmal  einen  aufmerksam  prüfenden  Blick  darauf 
geworfen,  so  wird  man  sie  trotz  der  augenfälligen 
Verderbnis  nicht  leicht  vergessen.  Es  ist  eine  jener 
charaktervollen  Figuren,  wie  sie  eine  jugendfrische 
Kunst  aus  einheitlichem  Wurfe  schafft,  die  sich  dem 
Gedächtnis  so  stark  einprägen.  Die  Nachhaltigkeit 
dieses  Gesamteindrucks  wird  nicht  einmal  durch  den 
Umstand  allzusehr  beeinträchtigt,  daß  nur  die  obere 
Hälfte  der  Figur  erhalten  und  auch  diese  durch  Über¬ 
malung  stark  mitgenommen,  die  untere  Hälfte  aber 


1)  P.  Toesca,  Arte  1904.  Vll,  p.  56. 


4* 


UNBEACHTETE  MALEREIEN  DES  1 5.  JAHRHUNDERTS 


c  '-euem  Bewurf  in 
,  !os;  r  blaßbräunlicher 
1  ’iierei  frei  ergänzt  ist. 

)er  Gegensatz  zwischen 
Altem  und  Neuem  ist 
auch  in  der  Abbildung 
am  verschiedenen  Ton 
wie  im  künstlerischen 
Charakter  auf  den  ersten 
Blick  erkennbar.  Das 
Ungeschick,  das  der  Re¬ 
staurator  in  seiner  selb¬ 
ständigen  Arbeit  bewiesen 
hat,  bürgt  für  die  im  we¬ 
sentlichen  unverfälschte 
Erhaltung  des  wichtige¬ 
ren  Teils.  .Allerdings  ist 
auch  da  jede  Form  durch 
die  Auffrischung  mit 
Temperafarbe,  die  heute 
wieder  trübe  geworden 
ist,  verflaut,  aber  an  der 
zeichnerischen  Grund¬ 
lage  ist  sicher  nichts  ver¬ 
ändert.  Denn  wer  die 
Stellung  der  Füße  so 
wenig  zu  erfassen  ver¬ 
mochte  und  nicht  im¬ 
stande  war,  den  Griff 
der  rechten  Hand  leben¬ 
diger  zu  gestalten,  der 
hätte  nie  und  nimmer 
die  eigenartige  Haltung 
der  Arme  erfinden  oder 
in  das  Gewand  so  viel 
bewegte  Form  hineinlegen  können.  Er  hat  man¬ 
ches  abgeschwächt  und  vor  allem  den  Gesichts¬ 
zügen  und  dem  Bart  verschwommene  moderne  Details 
aufgesetzt,  aber  er  hat  schwerlich  auch  nur  eine 
neue  Linie  hinzugefügt.  Durch  die  ganze  Ober¬ 
hälfte  der  Gestalt  blickt  trotz  seiner  Bemühungen,  die 
vermeintlichen  Härten  zu  vertuschen,  noch  deutlich 
das  echt  quattrocentistische  Disegno  hindurch,  und  da 
in  ihr  die  Hauptmotive  beschlossen  sind,  dürfen  wir 
wohl  mit  einiger  Vorsicht  die  charakteristischen  Merk¬ 
male  der  Darstellung  zu  stilkritischer  Betrachtung  ver¬ 
werten.  Wenn  dabei  auch  nichts  weiter  gewonnen 
werden  kann,  als  eine  überzeugende  Zuschreibung  des 
verunstalteten  Werkes  an  eine  der  bekannten  Künstler¬ 
individualitäten,  so  scheint  das  Ergebnis  doch  nicht 
ohne  Bedeutung  für  die  Beantwortung  der  Frage  nach 
der  Persönlichkeit  eben  dieses  Meisters  zu  sein. 

Die  Standweise  der  Figur  läßt  sich  zunächst  nicht 
näher  bestimmen,  aber  die  ganze  Haltung  des  Ober¬ 
körpers  und  der  Ablauf  der  Steilfalten  unterhalb  des 
Gürtels  lassen  doch  keinen  Zweifel,  daß  die  Stellung 
eine  klar  und  sicher  abgewogene  war.  Hoch  auf¬ 
gerichtet  mit  etwas  erhobenem  Haupt  steht  der  Kirchen¬ 
fürst  vor  uns,  den  Blick  fest  auf  den  Beschauer  ge¬ 
richtet.  Durch  die  leise  Kopfwendung  und  durch  die 
Armhaltung  kommt  freie  Entfaltung  und  momentanes 


Leben  in  die  Gestalt.  Der 
dicht  unterdem  schmalen 
Kragen  zusammengehef¬ 
tete  braunrote  Mantel  ist 
über  beide  Arme  zurück¬ 
geschlagen,  so  daß  sein 
gelbes  Futter  sichtbar 
wird.  Besonders  über 
der  halbbedeckten  Lin¬ 
ken,  die  ein  kleines  in 
sehr  wirksamer  Verkür¬ 
zung  gezeichnetes  Buch 
gegen  den  Leib  stützt, 
liegt  es  fast  bis  zur  Schul¬ 
terhöhe  auf.  ln  der  ruhig 
herabgelassenen  Rechten 
lehnte  der  Krummstab. 

Die  einzige  Erwäh¬ 
nung  dieser  Freske  findet 
sich,  soweit  ich  sehe,  in 
einer  nach  Beendigung 
der  Restaurationsarbeiten 
in  S.Trinitä  erschienenen 
kleinen  Schrift  eines  ano¬ 
nymen  Verfassers  über 
die  Geschichte  und  die 
Denkmäler  der  Kirche^). 
Die  darin  enthaltenen 
Angaben  stützen  sich 
augenscheinlich  nicht  auf 
spezielle  archivalische 
Studien,  sondern  schei¬ 
nen  insgesamt  aus  nahe 
liegenden  Quellen  ge¬ 
schöpft.  Sie  decken  sich 
zum  Teil  mit  der  im  Jahre  i888  am  Sockelstreifen 
der  gemalten  Umrahmung  des  Bildes  angebrachten 
modernen  Inschrift,  die  uns  milteilt,  daß  die  vor¬ 
mals  dem  Geschlecht  der  Spini  gehörige  Kapelle  da¬ 
mals  im  Aufträge  der  Gräfin  Carlotta  und  des  Grafen 
Pier  Pompeo  Dainelli  da  Bagnano  (giä  Masetti)  neu 
ausgeschmückt  worden  sei.  Die  Spini  übten,  wie  wir 
durch  Richa  wissen-^),  das  Patronat  bis  zu  ihrem  Aus¬ 
sterben  im  Jahre  1710  aus,  —  seit  wann,  wissen  wir 
nicht.  Für  die  Behauptung  des  anonymen  Autors, 
daß  die  Kapelle  erst  im  Anfang  des  1 5.  Jahrhunderts 
von  ihnen  gegründet  worden  sei,  fehlt  ein  Beleg.  Sie 
beruht  anscheinend  auf  einem  bloßen  Rückschluß  aus 


1)  Cenni  storici  e  artistici  della  chiesa  di  S.  Trinitä 
e  suo  ristauro.  Firenze  1897,  p.  53,  nach  dessen  Angabe 
die  neuere  Dekoration  von  Professor  A.  Burchi  herrührt. 
Der  Künstler  bestätigte  auf  persönliche  Anfrage,  für  die 
ich  Herrn  Dr.  W.  Bombe  zu  Dank  verpflichtet  bin,  die  Er¬ 
gänzungen  und  die  Auffrischung  der  Figur  auf  Grundlage 
des  Erhaltenen.  Uber  die  Einwirkungen  derselben  auf  den 
heutigen  technischen  Zustand  habe  ich  durch  ihn  ein  Gut¬ 
achten  des  langjährigen  früheren  Restaurators  der  Galerien 
Herrn  O.  Verniehrens  mit  gleichem  Danke  erhalten. 

2)  Richa,  Notizie  delle  chiese  fiorentine.  Firenze  1755. 
111,  p.  160.  Vgl.  G.  Castellazzi,  La  basilica  di  S.  Trinitä  i 
suoi  tempi  ed  il  progetto  del  suo  ristauro.  Firenze  1887,  p.  57. 


ABB.  1.  BISCHOFSPORTRÄT.  FLORENZ,  S.  TRINITÄ  (CAP.  SPINI) 


UNBEACHTETE  MALEREIEN  DES  15.  JAHRHUNDERTS 


101 


ABB.  2.  FLÜGELBILDER  DES  TRIPTYCHONS  DER  COLLEZIONE  CARRAND.  FLORENZ,  MUSEO  NAZIONALE 


der  Tatsache,  daß  dieselbe  im  Jahre  1453  durch  Neri 
di  Bicci  ausgemalt  wurde,  nach  dessen  eigener  Notiz 
in  seinen  Ricordi*).  Damit  könnte  freilich  die  Frage 
nach  dem  Künstler  unserer  Freske  auch  für  uns  schon 
erledigt  scheinen.  Doch  da  wir  glücklicherweise  bei 
Vasari  (a.  a.  O.  II,  p.  60)  die  weitere  Mitteilung  be¬ 
sitzen,  daß  Neri  di  Bicci  in  S.  Trinitä  für  Giovanni 
und  Silvestro  Spini  in  dessen  Familienkapelle  das 
Leben  des  Giovanni  Gualberto  dargestellt  habe,  so 
werden  wir,  ohne  mit  überlieferten  Daten  in  Wider¬ 
spruch  zu  geraten,  von  vornherein  mit  einer  Beziehung 
jener  Angabe  Neri  di  Biccis  auf  die  erhaltene  Figur 
zurückzuhalten  haben.  Von  der  Historie  des  Vallom- 
brosaner  Heiligen  ist  nichts  erhalten  und  demnach 
offenbar  auch  nichts  von  Neris  Malereien.  Denn  die 
im  Bogenfeld  des  Seitenschiffs  über  dem  Eingänge 
in  die  Kapelle  dargestellte  Verkündigung  läßt  sich 
ebensowenig  als  sein  Werk  ansprechen,  während  sie 
allerdings  der  Art  seines  Vaters  Bicci  di  Lorenzo  nicht 
fern  steht,  der  (nach  Richa,  a.  a.  O.  p.  161)  im  Jahre 
1428  zusammen  mit  einem  Gefährten  namens  Stefano 
d’Antonio  die  anstoßende  Kapelle  der  Compagni  mit 
Fresken  ausgeschmückt  hat,  von  denen  wiederum  nichts 
als  das  Lünettenbild  erhalten  ist.  Spinello  Aretino  gehört 
dieVerkündigung  ebenfalls  nicht  an,  und  für  eine  solche 


1)  Vgl.  Milanesi  zu  Vasari,  Le  Vite,  11,  p.  60,  Ed.  Sansoni. 


Zuschreibung  bietet  der  anonyme  Autor  (a.  a.  O.  p.  55) 
auch  keinen  Nachweis.  Aber  wichtig  bleibt  es,  daß 
wir  in  ihr  einen  sicheren  Rest  älterer  Malerei,  als  sich 
mit  Neris  Stil  vereinigen  läßt,  besitzen,  die  auch  schon 
unter  dem  Patronat  der  Spini  entstanden  sein  muß, 
ist  doch  darunter  an  der  Umrahmung  ihr  Wappen 
angebracht.  So  hindert  uns  nichts  in  der  Annahme, 
daß  auch  das  Bischofsporträt  im  Innern  der  Kapelle 
bereits  vollendet  war,  bevor  Neri  di  Bicci  hier  malte. 
Es  ist,  wie  schon  die  umrahmende  Nische  beweist, 
ein  Stück  für  sich,  das  innerhalb  des  übrigen  Wand¬ 
schmucks  ausgespart  blieb,  und  befand  sich  vielleicht 
über  dem  Grabe  eines  aus  dem  alten  Florentiner 
Adelsgeschlecht  entsprossenen  Kirchenfürsten.  Richa, 
zu  dessen  Zeit  die  Freske  jedenfalls  verdeckt  war, 
erwähnt  (a.  a.  O.  p.  160)  in  der  Kapelle  ein  Grabmal, 
doch  ist  seine  Angabe  über  den  Platz  desselben  ganz 
allgemein  gehalten  (dalla  parte  del  Vangelo).  Auf 
alle  Fälle  haben  wir  aber  ein  Porträt  vor  uns,  das 
beweist  der  fehlende  Nimbus.  Der  mehrfach  zitierte 
moderne  Anonymus  erkennt  in  der  Gestalt  den  Vallom- 
brosaner  Mönch  Gregor,  versäumt  jedoch,  einen  Ge¬ 
währsmann  anzuführen,  oder  ihre  Beziehung  auf 
diese  Persönlichkeit  näher  zu  begründen').  Da 

1)  a.  a.  O.  p.  53  »Nulla  pero  rimane  del  lavoro  di  tpiesto 
operoso  artista  (Neri  di  Bicci),  se  non  si  viiol  ritenere 


lO'-i 


UNBEACHTETE  MALEREIEN  DES  15.  JAHRHUNDERTS 


regt  sich  der  Verdacht,  daß  ein  bloßes  Mißverständnis 
an  dieser  ganzen  Taufe  schuld  sei,  die  er  mehr  im 
Tone  des  »on  dit«  zum  besten  gibt.  Nach  Richa 
(a.  a.  O.  p.  155)  waren  nämlich  an  den  Pfeilern  der 
Kirche  die  Bildnisse  von  heilig  gesprochenen  Mönchen 
und  kirchlichen  Berühmtheiten,  welche  aus  dem  Con¬ 
vent  von  Vallombroso  hervorgegangen  waren,  dar¬ 
gestellt,  unter  ihnen  aber  auch  Gregor  Vll.  Hier  liegt 
also  wohl  nur  eine  leichtfertige  Identifizierung  vor, 
da  Richa  sein  Bildnis  offenbar  an  ganz  anderer  Stelle 
sah,  während  die  Capelia  Spini  zu  seiner  Zeit  zweifel¬ 
los  vollkommen  im  Barockstil  umgestaltet  und  unsere 
Bischofsgestalt  dort  schwerlich  zu  sehen  war.  Im 
übrigen  können  wir  somit  die  Frage  nach  der  Per¬ 
sönlichkeit  des  Dargestellten  aus  dem  Spiele  lassen, 
um  der  sehr  viel  wichtigeren  nach  dem  Meister  der 
Freske  endlich  näher  zu  treten. 

In  der  Bestimmung  des  Künstlers  hat  die  Stil¬ 
kritik  nun  völlig  freie  Hand.  Niemand  wird  wohl  eine 
Ähnlichkeit  zwischen  dieser  wohlgebauten,  schlanken 
Gestalt  mit  den  großköpfigen  hölzernen  oder  karikiert 
bewegten  Heiligenfiguren  eines  Neri  di  Bicci  heraus¬ 
finden.  Eine  solche  Energie  des  Ausdrucks  geht  erst 
recht  diesem  Maler  simpler  Männerköpfe  oder  an¬ 
mutig  blöder  Madonnen  und  Engelkinder  über  die 
Kräfte.  Was  in  unserer  Freske  unvollkommen  er¬ 
scheint,  entspringt  altertümlicher  Gebundenheit,  nicht 
individuellem  Ungeschick.  Keinen  Augenblick  kann 
man  bezweifeln,  daß  der  Meister  auf  einem  Boden 
mit  Uccello  und  Castagno  steht.  Er  erreicht  freilich 
keinen  von  diesen  Beiden  in  der  Klarheit  und  Wucht 
der  Erscheinung').  Die  ganze  Figur  hat  etwas  viel 
Schmächtigeres  als  ihre  Typen.  Die  Genannten  selbst 
sind  überdies  schon  durch  gewisse  zeichnerische 
Mängel,  welche  für  die  Entscheidung  besonders  ins 
Gewicht  fallen  (s.  u.),  ausgeschlossen.  Die  gotische 
Nische,  der  eine  perspektivische  Konstruktion  fehlt 
und  deren  flache  Wölbung  einen  einfachen  bläulich¬ 
grauen  Hintergrund  abgibt,  verbietet  andererseits,  an 
einen  jüngeren  Nachfolger  dieser  Größten  zu  denken. 
Ihre  Umrahmung  mit  buntem  Marmor,  Blattwelle  und 
Astragal,  die  zwar  kräftig  und  offenbar  sehr  schematisch 
erneuert,  aber  vom  Restaurator  schwerlich  ganz  und  gar 
aus  der  Luft  gegriffen  ist,  beweist  freilich,  daß  der  Künst¬ 
ler  sich  auch  gegen  die  neuen  ornamentalen  Motive 
keineswegs  ablehnend  verhielt.  Immerhin  ist  sie  selbst 
für  Domenico  Veneziano  oder  Baldovinetti,  deren  Art 
die  Figur  näher  verwandt  erscheint,  schon  zu  primitiv. 
So  kann  man  sich  bei  der  Erwägung  der  Möglich¬ 
keiten  auch  kaum  einen  Augenblick  mit  dem  Gedanken 
an  einen  von  den  Genannten  befreunden.  Die  Be¬ 
stimmung  einer  Künstlerpersönlichkeit  entspringt  wohl 
zunächst  immer  der  Intuition,  durch  die  im  Bewußtsein 
eine  den  neuen  Eindruck  völlig  deckende  Gesamt¬ 
opera  sua  la  figura  ritrovata  nel  vano  della  parete  laterale 
e  che  credesi,  rappresenti  il  venerabile  Gregorio  Vallombro- 
sano,  vescovo  di  Bergamo«.  An  sich  klingt  das  plausibel. 

1)  Castagnos  Art  stehen  drei  Heiligengestalten  an  der 
nördlichen  Langwand  von  S.  Croce  dicht  neben  dem  Ein¬ 
gänge  ungleich  näher,  aber  sie  haben  nicht  die  Qualität 
seiner  eigenen  Hand. 


Vorstellung  hervorgerufen  wird.  Soll  dieses  Aufblitzen 
aber  zur  sicheren  Überzeugung  werden,  aus  der  allein 
ein  äußerer  Beweis  zu  führen  ist,  so  muß  die  Nach¬ 
prüfung  greifbare  Einzelheiten  ergeben,  die  vor  der 
Stilkritik  bestehen  können.  Und  es  finden  sich,  von 
Imponderabilien  abgesehen,  in  unserem  Falle  Anhalts¬ 
punkte  genug,  um  die  Erkenntnis  zu  befestigen,  daß 
wir  in  der  Capelia  Spini  den  sogenannten  Carrand¬ 
meister')  vor  uns  haben.  Zum  Vergleich  sind  von 
seinen  Werken  vor  allem  die  Nikolauspredella  der 
Casa  Buonarotti  und  die  Heiligengestalten  des  Tri¬ 
ptychons  der  Sammlung  Carrand  im  Bargello  heran¬ 
zuziehen  (s.  Abb.  2).  Fast  an  ihnen  allen  läßt  sich, 
um  mit  dem  Allgemeinen  zu  beginnen,  eine  ähnlich 
geringe  seitliche  Verschiebung  des  Kopfes  gegen  die 
Medianebene  beobachten,  und  meist  eine  ungleich  stär¬ 
kere  gegensätzliche  Verrückung  des  Augapfels,  dessen 
fixierender  Blick  fast  etwas  Stechendes  hat.  Der  Stand 
der  Figuren  ist  freilich  durchweg  mehr  oder  weniger 
differenziert,  und  durch  eine  unruhige  Faltengebung 
wird  die  verschiedene  Funktion  der  Beine  bald  hervor¬ 
gehoben,  bald  — ,  nämlich  bei  dem  Bischofsheiligen,  — 
auch  verschleiert.  Beim  Franziskus  aber  und  in 
noch  höherem  Grade  beim  taufenden  Nikolaus  der 
Buonarottipredella  (s.  Abb.  3)  —  herrschen  trotz  der 
Biegung  des  Knies  gleiche  Steilfalten  vor.  Ebenso  gilt  das 
von  der  Einzelgestalt  des  hl.  Antonius  in  der  Berliner 
Galerie  (Abb.  a.  a.  O.  S.  39).  Wenn  man  ferner  be¬ 
achtet,  daß  unter  der  linken  Hand  unserer  Porträtfigur 
ein  paar  Faltenansätze  eine  Biegung  zeigen,  die  der 
Restaurator  unberücksichtigt  ließ,  so  bleibt  kein  Zweifel, 
daß  auch  ihr  die  Unterscheidung  in  der  Stellung  beider 
Füße  nicht  ganz  fehlte.  Die  Hauptlast  trug  das  rechte 
Bein,  das  linke  war  ein  wenig  verschoben,  entweder 
seitlich  wie  bei  der  Figur  in  Berlin,  wahrscheinlich 
aber  mehr  nach  vorn  mit  verkürztem  Fuß  wie  beim 
Täufer  des  Triptychons,  da  die  Haltung  des  Ober¬ 
körpers  und  des  Kopfes  auf  ein  festes  Ruhen  und 
nicht  auf  bewegliches  Lehnen  hinweist.  Daß  der 
hagere  Körperbau  unserer  Figur  mit  dem  der  Heiligen¬ 
gestalten  des  Triptychons  durchaus  zusammenstimmt, 
wird  man  nicht  leugnen  können,  nur  besitzt  sie  eine 
noch  größere  Schlankheit,  wie  sie  wieder  manchen 
Figuren  der  Buonarottipredella  eignet  und  in  älteren 
Arbeiten  des  Künstlers,  wie  dem  Kruzifix  in  Brozzi 
(S.  Donino),  noch  stärker  durchschlägt  (s.  Abb.  7). 
Gleichartig  ist  auch  das  Verhältnis  der  Gestalt  zum 
kleinen  Kopfe,  dessen  Form  und  Gesichtstypus  mit 
den  tiefliegenden  Augen  besonders  mit  dem  Petrus 
des  Triptychons  Ähnlichkeit  hat.  Wenn  die  charak¬ 
teristische  gerade  Linie  des  Unterlids  zu  fehlen  scheint, 
so  ist  das  an  einem  Porträt  nicht  allzu  befremdlich,  und 
überdies  hat  der  Pinsel  des  Restaurators  die  Augen¬ 
lider  sichtlich  überarbeitet.  Das  Entscheidende  liegt 
jedoch  in  der  Behandlung  der  Arme  und  Hände. 
Bezeichnend  ist  für  den  Künstler  zunächst  die  Unbe- 
holfenheit  in  der  Wiedergabe  des  zurückliegenden 
Armes,  wo  dieser  unter  dem  Mantel  hervorkommt. 


1)  Vgl.  W.  Weisbach,  Jahrbuch  d.  Kgl.  Preuß.  Kunst- 
samml.  iQOi,  S.  35  ff. 


UNBEACHTETE  MALEREIEN  DES  15.  JAHRHUNDERTS 


103 


ABB.  3.  AUS  DER  LEGENDE  DES  HL.  NICOLAUS.  PREDELLENSTÜCK.  FLORENZ,  CASA  BUONAROTTI 


Wie  der  Bischofsheilige  des  Triptychons  den  viel  zu 
tief  liegenden  rechten  Ellenbogen  in  gezwungener 
Weise  an  den  Körper  anzieht,  um  den  Unterarm  dann 
ebenso  gewaltsam  aufwärts  zu  biegen,  das  findet  sein 
Widerspiel  in  der  mißglückten  Drehung  und  eckigen 
Biegung  des  rechten  Armes  unserer  Eigur.  Hier  wie 
dort  haben  wir  den  Eindruck,  als  werde  die  Rechte 
in  ihrer  Bewegung  durch  den  knappen  Ärmel  beengt. 
Und  daß  dieser  nicht  ganz  so  glatt  anlag,  sondern 
wie  dort  Querfalten  hatte,  verraten  ein  paar  Spuren 
von  solchen  am  Ellenbogen.  Der  Artikulation  der 
Fingerbewegungen  wendet  der  Carrandmeister  seine 
besondere  Aufmerksamkeit  zu.  Sie  bekommt  dadurch 
immer  etwas  Individuelles,  oft  aber,  so  z.  B.  im  An¬ 
tonius  des  Berliner  Museums,  zugleich  etwas  krampf¬ 
haft  Geziertes.  Besonders  gelungen  und  sehr  fein 
und  natürlich  ist  die  Fingerhaltung  der  erhaltenen  Linken 
in  der  Freske,  während  die  sich  vor  allem  zum  Ver¬ 
gleich  darbietenden  behandschuhten  Hände  des  Bi¬ 


schofs  auf  dem  Altarblatt  in  der  steifen  Streckung 
der  Finger  an  der  rechten  und  der  gespreizten 
Stellung  an  der  linken  von  jenen  Mängeln  nicht  frei 
sind.  Trotzdem  fällt  besonders  an  der  letzteren  die 
völlig  übereinstimmende  Bildung  der  Hand  mit  dem 
breiten  gewölbten  Rücken,  dem  geschwungenen  äußeren 
Kontur  und  den  kurzen  etwas  krummen  Fingern  auf). 
Diese  Ähnlichkeit  dürfte  auch  den  strengsten  Stil¬ 
kritiker  befriedigen.  Ein  vergleichender  Blick  auf 
Domenico  Venezianos  Madonnenbild  in  den  Uffizien 
zeigt  ganz  abweichende  Handformen,  von  den  anderen 
Naturalisten  des  Quattrocento  ganz  zu  schweigen. 
Ein  letztes  wichtiges  Kennzeichen  des  Carrandmeisters 
bildet  endlich  die  Faltengebung  des  Untergewandes. 
Ganz  ebenso  ist  die  schlichte  Stoffmasse  desselben 
beim  hl.  Nikolaus  der  Predella  in  der  Casa  Buonarotti 


1)  Vgl.  Weisbach  a.  a.  O.  S.  38  über  die  charakte¬ 
ristische  Bildung  der  Hände  beim  Carrandmeister. 


ABB.  4.  AUS  DER  LEGENDE  DES  111  .  NICOLAUS.  PREDELLENSTÜCK.  I  LORENZ,  CASA  BUONAROTTI 


04 


UNBEACHTETE  MALEREIEN  DES  15.  JAHRHUNDERTS 


ABB.  5.  SCHULE  DES  FRA  ANGELICO 
CHRISTUS  IM  GRABE.  ALTARTAFEL 
FLORENZ,  ACADEMIA  DELLE  BELLE  ARTl 


klären,  wenn  es  auch  zweifellos 
seinen  reifsten  Arbeiten  zu¬ 
zuzählen  ist  und  wohl  die  mo¬ 
numentalste  von  ihm  erhaltene 
Schöpfung  darstellt,  die  uns 
zugleich  vor  seinem  Können 
als  Bildnismaler  Achtung  ein¬ 
flößt.  Der  hier  verfügbare 
Raum  und  das  Eehlen  neuen 
Quellenmaterials  erlauben  mir 
nicht,  die  Erage  nach  dem  Na¬ 
men  des  Künstlers  aufzurollen. 
Vielleicht  hätte  gerade  diese 
seinen  Werken  zugefügte  neue 
Nummer  eine  Handhabe  dazu 
bieten  können.  Doch  die  Sache 
archivalisch  weiter  zu  verfolgen, 
muß  denen  überlassen  bleiben, 
die  Muße  haben,  das  Staatsarchiv 
von  Elorenz  zu  durchstöbern. 
Bedeutsam  genug  erscheint 
schon  die  bloße  Tatsache,  daß 
wir  dem  Carrandmeister  nun 
auch  als  Ereskomaler  an  einer 
Stelle  begegnen,  wo  gewiß  nur 
ein  Mann  von  Namen  und  Ruf 
herangezogen  wurde,  und  daß 
nunmehr  seine  Tätigkeit  da¬ 
durch  endgültig  mit  der  ersten 
Hälfte  des  Quattrocento  begrenzt 
wird.  Denn  schwerlich  wäre 
die  Nische  für  spätere  Zwecke 
aufgespart  geblieben,  wenn  Neri 
di  Bicci  vor  ihm  mit  der  Aus¬ 
schmückung 
der  Kapelle 
beauftragt 
worden  wäre. 
Ebensowenig 
aber  hätte  man 
dessen  Fres¬ 
ken  so  bald 
darnach,  als 
der  Stil  der 
Figur  es  noch 
zuließe,  rück¬ 
sichtslos  ver¬ 
stümmelt.  Die 
Bedenken  ge¬ 
gen  die  von 
Weisbach 
vorgeschlage¬ 
ne  Identifizie¬ 
rung  des  Mei¬ 
sters  mit  Pe- 
sello  dürften 
dadurch  we¬ 
nigstens  er¬ 
heblich  her¬ 
abgemindert 
werden.  So 


Jurch  hohe  Gürtung  in  zwei 
■  tiiirastierende  Abschnitte  zer- 
eg;  (s.  Abb.  311.4),  von  denen  der 
Längere  untere  ganz  vorwiegend 
jene  Langfalten  bildet,  der 
kurze  obere  hingegen  weit  ge¬ 
bauscht  und  in  eine  Faltenmasse 
voll  unruhiger  Windungen  und 
Knicke  gegliedert  ist,  —  wirrer 
in  den  Predellenszenen,  ma߬ 
voller  und  natürlicher  wieder 
in  der  Freske.  Diese  Überein¬ 
stimmung  erstreckt  sich  aber 
sogar  auf  die  Farbenzusammen¬ 
stellung.  Zwischen  das  Rot  des 
Mantels,  das  aus  technischen 
Gründen  in  der  Freske  einen 
dunkleren,  mehr  braunroten  Ton 
hat  und  überdies  durch  die 
Übermalung  getrübt  ist,  und  das 
Weiß  des  Unterkleides  schiebt 
sich  vermittelnd  das  gelbe  Man¬ 
telfutter  ein.  In  der  Gewand¬ 
behandlung  tritt  auch  die  gleich¬ 
artige  Formauffassung  am  augen¬ 
fälligsten  hervor,  jene  zeichne¬ 
risch  plastische  Klarheit,  die 
treffend  als  ein  Grundzug  der 
künstlerischen  Individualität  des 
("arrandmeisters  erkannt  worden 
ist*),  mit  der  sich  eine  Vorliebe 
für  die  scharfe  Lichtung  der 
hohen  Faltenkämme“)  verbindet. 
Wenn  im  Wandgemälde  alles 
viel  unbe¬ 
stimmter  und 
weicher  aus¬ 
sieht,  so  trägt 
daran  einzig 
und  allein  die 
Restauration 
Schuld. 

Wir  dürfen 
das  Bischofs¬ 
porträt  in  S. 

Trinitä  nicht 
vorschnell  für 
das  späteste 
Werk  des 
Künstlers  er- 


1)  Schmar- 
sow,  Kunst- 
hist.  Ges.  für 
photogr.  Publ., 
Jahrgang  VI 
(Text);  Weis¬ 
bach,  a.  a.  O. 
S.  36. 

2)  Weisbach, 
Pesellino,  S.  6. 


ABB.  f).  SCHULE  DES  FRA  ANGELICO.  I’RFDFLLA  DER  ALTARTAI TL  OBEN 


UNBEACHTETE  MALEREIEN  DES  1 5.  JAHRHUNDERTS 


1  05 


ABB.  7.  KRUZIFIX.  AUS  S.  DONINO  IN  BROZZI 


weit  stimme  ich  ihm  unbedingt  zu,  daß  der  Künstler 
unter  den  Naturalisten  der  älteren  Generation  zu 
suchen  ist. 

Noch  einen  feinen  und  verschlungenen  Verbin¬ 
dungsfaden  zu  verfolgen,  der  vom  Carrandmeister  auf 
weitem  Umweg  zu  Pesello  hinzuleiten  scheint,  ist 
ein  Hauptgrund,  der  mich  bestimmt,  eine  letzte  Frage 
im  Hinblick  auf  ein  rätselhaftes  Bild  der  Akademie 
von  Florenz  aufzuwerfen.  Die  Antwort  darauf  läßt 
sich  nicht  mit  der  gleichen  Zuversicht  geben,  aber 
nach  längerer  Erwägung  hat  meine  Vermutung  für 
mich  doch  einen  hohen  Grad  von  Wahrscheinlichkeit 
gewonnen.  Es  handelt  sich  um  Nr.  24g  des  Kata¬ 
logs,  bezeichnet  als  Fra  Angelico  da  Fiesoie  und 
darstellend  die  Anbetung  der  Könige  unter  der 
stehenden  Halbfigur  des  toten  Christus,  den  die  üb¬ 
lichen  abgekürzten  Andeutungen  der  Passionsszenen 
umgeben:  die  durch  den  Kuß  vereinigten  Köpfe 
Christi  und  des  Judas,  der  erstere  mit  den  Händen 
der  spottenden  Kriegsknechte,  die  Hände  des  Pilatus 
über  der  Wasserschale  und  anderes  mehr  (s.  Abb.  5). 
Daß  dieses  Bild  nicht  von  Fra  Angelico  gemalt  ist, 
wird  sich  vor  dem  Original  jeder  sogleich  sagen,  der 
mit  seiner  Art  etwas  vertraut  ist.  Schon  der  kolori¬ 
stische  Charakter  schließt  das  von  vornherein  aus,  so 
stark  die  untere  Darstellung  auch  an  die  gleichartigen 
Kompositionen  des  Frate  anklingt.  Die  Betrachtung 
des  Schmerzensmannes  aber  dürfte  auch  in  der  Photo- 

Zeitsdirift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XVIII.  H.  4 


graphie  jeden  schnell  davon  überzeugen.  So  herb  ist 
sein  Christus  nie,  nicht  einmal  in  den  frühesten  Fresken 
der  Klosterzellen  von  S.  Marco.  Eine  nähere  Betrachtung 
der  Anbetung  der  Könige  läßt  weitere  starke  Unter¬ 
schiede  hervortreten  (s.  Abb.  6).  Wodurch  die  Szene 
auf  den  ersten  Blick  ganz  in  Fiesoles  Art  zu  fallen 
scheint,  das  ist  vor  allem  der  Bau  der  hoch  getürmten 
aber  sanft  geschwellten  Berglandschaft,  dazu  die  Stroh¬ 
hütte.  Auch  die  Figurenverteilung  hat  nichts  Fremd¬ 
artiges,  und  bis  zu  einem  gewissen  Grade  sind  sogar 
die  figürlichen  Typen  samt  ihren  Trachten  die  seinen. 
Und  doch  sind  sie  es  wieder  nicht.  Kein  einziger 
Kopf  zeigt  seine  fromme  Lieblichkeit,  selbst  die  An¬ 
mut  des  schlanken  Jünglings  mit  dem  Pudelhaar  in 
der  hinteren  Reihe  ist  eine  irdischere.  Die  übrigen 
zeigen  vollends  derbere,  zum  Teil  häßliche  Gesichter, 
und  allen,  Joseph  und  Maria  nicht  einmal  ausgenommen, 
ist  eine  realistischere  Individualisierung  der  Züge  ge¬ 
mein.  Das  sind  nun  gerade  Eigenschaften,  die  den 
jungen  Pesellino  in  seinen  in  der  Werkstatt  Fra  An- 
gelicos  entstandenen  Frühwerken  von  seinem  Lehrer 
unterscheiden,  so  noch  in  der  Geschichte  des  Cos- 
mas  und  Damian,  die  in  der  Akademie  gleich  da¬ 
neben  an  der  Vorderseite  desselben  Wandpfeilers 
hängt'),  —  dessen  wohl  selten  einer  größeren  Aufmerk- 

i)  W.  Weisbacli,  Francesco  Pesellino  und  die  Romantik 
der  Renaissance.  Berlin  1901.  Taf.  IV,  1  und  V,  2,  S.  34 
u.  42  ff. 


15 


UNBEACHTETE  MALEREIEN  DES  15.  JAHRHUNDERTS 


:  o6 

samkeit  gewürdigte  Nebenseite  unser  Bild  trägt,  — 
so  auch  die  Bestattung  des  hl.  Nikolaus  in  Perugia 
(a.  a.  O.  Taf.  V,  i).  ln  beiden  Werken  freilich 
findet  sich  kein  einziger  genauer  entsprechender  Kopf 
wieder,  allein  gerade  die  individualisierende  Tendenz 
Pesellinos  erzeugt  in  diesen  Arbeiten  noch  eine 
stärkere  Mannigfaltigkeit  der  Typen,  als  in  den  von 
Fra  Filippo  beeinflußten  späteren  Werken.  Von  den 
letzteren  haben  aber  die  noch  immer  an  Fiesoie  er¬ 
innernden  Jünglingsfiguren  der  Sylvestergeschichte  im 
Pal.  Doria  (a.  a.  O.  Taf.  VI)  in  den  Stellungen  und 
dem  feinen  Gliederbau  auch  eine  deutliche  Verwandt¬ 
schaft  mit  denen  der  Anbetung  in  der  Akademie. 
Und  jener  modische  junge  Gefolgsmann  des  Akade- 
miebildes  im  Hintergründe  erscheint  sogar  wie  eine 
romantische  Vorahnung  der  graziösen  Jünglings¬ 
gestalten  der  Cassonebilder  (a.  a.  O.  Taf.  Xlll — XVI). 
Auffallenderweise  zeigt  auch  Marias  Profil  Verhältnisse 
von  Stirn,  Nase  und  Kinn,  wie  die  späteren  Madonnen 
Pesellinos  in  Dorchesterhouse  und  namentlich  die  der 
Uffizienzeichnung  (a.  a.  O.  Taf.  XI  und  Xll).  Wäre 
es  denn  aber  im  Grunde  so  sonderbar,  daß  nach  der 
Anlehnung  an  Fra  Filippo,  die  noch  im  ersteren 
Mutter  und  Kind  verraten,  die  eigene  Anschauungs¬ 
weise  des  jungen  Künstlers  mit  zunehmender  Selb¬ 
ständigkeit  wieder  ähnlich  durchschlägt,  wie  sie  sich 
in  ihren  ersten  Regungen  offenbart?  Denn  nur  eine 
Jugendarbeit,  und  zwar  die  früheste  uns  erhaltene, 
der  geradezu  eine  Komposition  Fra  Angelicos  zu¬ 
grunde  liegt,  können  wir  auf  alle  Fälle  vor  uns 
haben.  Das  Bild  stammt  nach  der  Angabe  des  Ka¬ 
talogs  aus  S.  Domenico  in  Fiesoie,  also  gerade  aus 
der  Zeit,  in  der  Pesellino  bei  dem  älteren  Meister 
gearbeitet  haben  muß.  Die  Stadt  auf  der  Bergeshöhe 
links  mag  Fiesoie  und  die  Kirche,  der  ein  Mönch, 
gefolgt  von  einem  roten  Engel,  zustrebt,  S.  Domenico 
mit  den  danebenliegenden  Klostergebäuden  darstellen. 
Noch  einige  andere  Züge  fallen  durchaus  in  die 
Richtung  Pesellinos.  Wie  Ochs  und  Esel  schnobern 
und  wie  die  beiden  Pferde  die  Mäuler  aneinander¬ 
reiben,  das  verrät  ganz  sein  Interesse  am  Eigenleben 
der  Tiere.  Die  langgestreckte  Form  der  Pferdeköpfe 
mit  stark  gebogener  Schnauze  ist  zugleich  den  Pferde¬ 
typen  der  Truhenmalereien  verwandt.  Ebenso  be¬ 
merkenswert  ist  die  außerordentliche  Lebendigkeit  des 
Blickes,  die  der  Meister  auch  sonst  seinen  Köpfen 
durch  das  schimmernde  Weiß  des  Auges  zu  verleihen 
versteht,  wie  überhaupt  ihr  starkes  physiognomisches 
Leben.  Daraus  entsteht  eine  individuelle  Gesamtstim¬ 
mung,  wie  sie  wieder  das  Bild  in  Perugia  in  gleichem 
Maße  durchströmt.  Ein  Verschieben  der  Augensterne, 
wie  es  der  Christus  beim  Judaskuß  zeigt,  wird  man  auf 
so  früher  Stufe  kaum  bei  einem  anderen  Quattrocentisten 
erwarten  können  (s.  Abb.  5).  Und  schließlich  ent¬ 
sprechen  vor  allem  die  Farben  und  die  Lichtgebung 
Pesellinos  innerster  Neigung.  Jene  haben  nicht  die  reine 
Sättigung  wie  bei  Fra  Angelico,  sondern  sind  alle  mehr 
oder  weniger  gebrochen,  das  lichte  Rosa  der  oben 


erwähnten  Jünglingsgestalt  und  das  helle  Spangrün  des 
danebenstehenden  mit  dem  kurzen  Mäntelchen  kaum 
ausgenommen.  Der  ihn  anblickende  Greis  bringt 
durch  ein  tiefes  Olivbraun  einen  eigenartigen  Kontrast 
dazu.  Das  Blau  der  Mäntel  und  Gewänder  ist 
schmutziger,  das  Rot  am  knieenden  König  stumpfer. 
Die  stark  belichteten  Faltenkämme  stechen  von  den 
Lokalfarben  viel  stärker  ab,  namentlich  am  gelben 
Mantel  Josephs,  aber  auch  am  blauen  Marias  und  am 
Oberkleid  des  mit  gefalteten  Händen  dastehenden 
Königs  sowie  am  dunklen  Wams  jenes  Greises  unter 
dem  Gefolge.  Über  die  Bergkuppen  flutet  dasselbe 
intensive  Licht.  Wie  sehr  Pesellino  solche  Wirkun¬ 
gen  zu  berücksichtigen  strebt,  lehrt  bekanntlich  seine 
ganze  Entwickelung'). 

An  dem  Kontrast  der  belichteten  Formen  zu 
den  im  Schatten  liegenden  haben  die  Figuren 
größeren  Maßstabes  der  Pieta  entsprechend  noch 
stärkeren  Anteil.  Das  Inkarnat  fällt  namentlich  hier 
durch  seinen  schmutzigbräunlichen  Ton  auf,  und  die 
Halbschatten  — ,  denn  um  solche  handelt  es  sich  ja 
eigentlich  nur,  —  haben  nichts  von  der  rötlichen 
Durchsichtigkeit  wie  bei  Fra  Angelico,  vielmehr  über¬ 
wiegt  ein  dunkler  klebriger  Bronzeton,  der  vielleicht 
auf  starke  Beimischung  eines  zähen  Bindemittels 
schließen  läßt.  Folgt  der  Künstler  darin  dem  eigenen 
Instinkt,  so  ist  andererseits  die  Modellierung  voll¬ 
kommen  in  der  weichen  Manier  seines  Meisters  gehalten. 
Das  begründet  einen  unleugbaren  Gegensatz  zu  einem 
älteren  Kunstwerk,  mit  dem  sich  der  Christustypus 
in  eigenartiger  Weise  berührt.  Ich  wüßte  keinen  ihm 
näher  verwandten  Kopf  des  Gekreuzigten  zu  nennen, 
als  den  des  altertümlichen  Kruzifixes  in  Brozzi,  das 
eine  unzweifelhafte  ziemlich  frühe  Arbeit  des  Carrand¬ 
meisters  ist  (neuerdings  von  Alinari  als  Nr.  20326 
aufgenommen).  Nicht  nur  die  Neigung  und  Wen¬ 
dung  der  Köpfe  und  die  mäßige  Fülle  des  dunkel¬ 
blonden  Haares,  sondern  auch  die  Formen  der  Nase 
mit  breitem  Rücken  und  kräftig  modelliertem  Flügel 
und  der  schmerzlich  zusammengepreßle  Mund  haben 
trotz  der  völlig  verschiedenen  Modellierung  wenig 
von  der  Formenbildung  verloren,  die  der  ältere  Meister 
noch  in  ungemilderter  Linienschärfe  wiedergibt.  Wenn 
aber  wirklich  ein  solcher  Zusammenhang  besteht,  so 
würde  er  sich  leicht  unter  der  Voraussetzung  erklären, 
daß  Pesellino  in  frühester  Jugend  außer  von  Fra  An¬ 
gelico  auch  von  der  Kunst  seines  mit  dem  Carrand¬ 
meister  identischen  Großvaters  Pesello  Anregungen 
empfangen  hat").  So  scheinen  sich  seine  Beziehun¬ 
gen  zum  Carrandmeister  an  diesem  neuen  Beispiel 
zu  bestätigen.  Mögen  Spezialkenner  der  quattrocen- 
tistischen  Malerei  vor  dem  Original  entscheiden,  ob 
die  Zuschreibung  des  Akademiebildes  an  Pesellino 
der  Nachprüfung  Stand  hält  oder  ob  wir  es  mit  einem 
geringeren  Werkstattgenossen  Fiesoles  zu  tun  haben. 


1)  Weisbacli,  a.  a.  O.  S.  35  u.  102. 

2)  Weisbach,  a.  a.  O.  S.  99. 


BUCHERSCHAU 


Max  Sditnid,  Kunstgeschichte  des  ig.  Jahrhunderts.  Zweiter 
Band.  Mit  376  Abbildungen  im  Text  und  17  Farben¬ 
drucktafeln.  Leipzig,  E.  A.  Seemann,  igo6.  Geb.  11  M. 

Mit  zwei  der  Kunstgeschichte  des  ig.  Jahrhunderts 
geltenden,  reich  und  gut  illustrierten  Publikationen  ist  der 
rührige  Seemannsche  Verlag  auf  den  letztjährigen  Weih¬ 
nachtsmarkt  getreten,  ln  Max  Osborns  »Kunst  des  ig. 
Jahrhunderts«  hat  das  Springersche  »Handbuch  der  Kunst¬ 
geschichte«  einen  recht  ansprechenden,  auch  nach  dem 
Umfange  sich  den  vorangehenden  Bänden  geschickt  an¬ 
passenden  Abschluß  gefunden.  Dieser  sehr  anerkennens¬ 
werten  Arbeit,  die  überall  eindringliche  Beschäftigung  mit 
der  schier  unübersehbaren  Menge  moderner  Kunstschöp¬ 
fungen  fesistellen  läßt,  gesellt  sich  der  zweite  Band  von 
Max  Schmids  groß  angelegter  »Kunstgeschichte  des  ig.  Jahr¬ 
hunderts«  bei,  dessen  Vorgänger  vor  zwei  Jahren  sich  einer 
im  allgemeinen  sehr  sympathischen  Aufnahme  zu  erfreuen 
hatte.  Sie  wird  zweifellos  auch  der  vorliegenden  Fort¬ 
führung  dieses  kunstpublizistischen  Unternehmens  treu 
bleiben,  dessen  Arbeitsgang  und  Durchführung  wirklich 
bedeutende  Gesichtspunkte  beherrschen. 

Die  Behandlung  der  französischen  Kunst  unter  dem 
zweiten  Kaiserreiche  und  der  Republik  ist  an  die  Spitze 
der  Arbeit  gestellt.  Trotz  der  hohen  Bewertung  tritt  nir¬ 
gends  Überschätzung  dieser  so  einflußreichen  Richtung 
zutage.  Von  der  Fülle  großer  Bauaufgaben  unter  Napo¬ 
leon  111.  ausgehend,  weiß  Schmid  knapp  darzulegen,  wie 
der  zunächst  von  der  Romantik  beherrschten  Bauweise 
sich  mit  gleichzeitiger  Heranziehung  einer  auf  gründlichen 
wissenschaftlichen  Studien  fußenden  Architektengeneration 
der  Kreis  historischer  Bauformen  erschließt,  die  niemand 
als  einen  Zwang,  als  eine  Hemmung  empfand.  Im  allge¬ 
meinen  muß  man  beipflichten,  daß  die  vereinzelten  Ver¬ 
suche  der  Einführung  neuzeitlicher  Formen  in  Frankreich, 
dessen  Architektur  als  »getreues  Spiegelbild  eines  vor¬ 
nehmen  geistigen  Stillebens«  bezeichnet  wird,  mit  unbe¬ 
streitbarem  Mißtrauen  zu  kämpfen  haben.  Bei  der  Würdi¬ 
gung  der  Malerei  rückt  nach  einer  sehr  sachgemäßen  Her¬ 
vorhebung  der  Bedeutung  der  Zeichner  und  Illustratoren 
für  die  Heranziehung  des  gesamten  modernen  Lebens  in 
das  künstlerische  Darstellungsgebiet  die  »Schule  von  Bar¬ 
bizon«  mit  Recht  in  den  Vordergrund,  welche  die  Vertiefung 
des  Naturempfindens  so  außerordentlich  belebte.  Von  dem 
dieselbe  nach  einer  anderen  Seite  malerischer  Darstellung 
ergänzenden  Realismus  eines  Millet  und  Courbet  führt 
Schmid  über  mehrere  interessante  Zwischenstationen,  auf 
denen  ihn  namentlich  die  Porträt-  und  Militärmaler  be¬ 
schäftigen,  und  die  Empfindung  für  die  Farbe  als  Trägerin 
aller  räumlichen  Darstellung  immer  stärker  wird,  allmäh¬ 
lich  zu  der  von  pseudorealistischen  Ausschreitungen  nicht 
freibleibenden  Plastik  hinüber.  Manches  von  dem  Wesen 
der  belgischen  Kunst,  deren  Entwickelung  seit  1848  jener 
Frankreichs  angereiht  ist,  wurzelt  in  französischen  Anschau¬ 
ungen,  besonders  die  von  starken  Einflüssen  Viollet-le- 
Ducs  berührte  belgische  Architektur,  die  erst  unter  Horta 
und  van  de  Velde  von  der  über  ein  Jahrhundert  währenden 
Vorherrschaft  Frankreichs  befreit  wird.  Von  letzterer  sind 
ja  auch  Malerei  und  Plastik  Belgiens,  so  viel  Züge  selb¬ 
ständiger  Auffassung  und  Behandlung  der  Anschluß  an 
das  Bodenständige  vermitteln  mag,  keineswegs  frei  geblieben. 
Die  Stoffgliederung  hat  daher  mit  richtiger  Empfindung 
die  belgische  Kunst  gerade  an  diese  Stelle  gesetzt. 


Wie  Schmid  allgemeiner  Zustimmung  sicher  .^ein  kann, 
daß  er  der  französischen  Kunst  mit  ihrem  belgischen  Seiten¬ 
zweige  gewissermaßen  die  Führung  der  Bcvregung  über¬ 
ließ,  ebensowenig  dürfte  diese  Anerkennung  eine  Ein¬ 
schränkung  erfahren  angesichts  der  Tatsache,  daß  nahezu  die 
Hälfte  dieses  für  deutsche  Leser  bestimmten  Werkes  der 
Behandlung  der  deutschen  Kunst  seit  1850  gewidmet  ist. 
Das  Interesse  des  kunstliebenden  deutschen  Publikums  an 
der  Entwickelung  der  heimatlichen  Kunstbestrebungen  ist 
unstreitig  im  Wachsen  und  verlangt  von  einer  Darstellung 
des  Kunstlebens  im  ig.  Jahrhundert  mit  einem  nicht  ab¬ 
zuleugnenden  Rechte  eine  breitere  Entfaltung  des  deutschen 
Anteiles  im  Rahmen  des  Ganzen;  französische  und  eng¬ 
lische  Autoren  dürften  unter  gleichen  Voraussetzungen 
für  ihre  Nationen  kaum  einen  anderen  Standpunkt  ein¬ 
nehmen,  dessen  Hervorkehrung  dem  deutschen  Leserkreise 
nur  sympathisch  sein  wird.  Die  Baubewegung  knüpft  an 
Berlin,  München,  Dresden,  Wien,  Stuttgart,  Hannover  an, 
findet  in  Semper,  Hansen,  Ferstel,  Schmidt,  Fr.  Thiersch,  Ga¬ 
briel  Seidl,  Hase  und  anderen  führende  Meister  und  Meisterer 
abwechslungsvollster  Ausdrucksformen  und  in  Kirchenbauten 
sowie  Profanwerken  der  verschiedenartigsten  Bestimmung 
Gelegenheit  zur  Lösung  monumentaler  Aufgaben,  an  weichen 
Geschmack,  Können  und  Anordnungsgeschick  ausreifen. 
Mit  besonderem  Danke  sei  es  hier  verzeichnet,  daß  Schmid 
der  meist  ungebührlich  vernachlässigten  modernen  Archi¬ 
tektur  sich  überaus  umsichtig  annimmt  und  wie  für  Deutsch¬ 
land  so  später  auch  für  England  mit  sicheren  Strichen  das 
abwechslungsreiche  Bild  des  Bauschaffens  seit  1850  zu 
zeichnen  versteht.  Diese  Versuche  einer  übersichtlichen 
Zusammenfassung  eines  ob  seiner  Sprödigkeit  nicht  leicht 
zu  bewältigenden  Stoffes  dürfen  als  recht  glücklich  und 
gelungen  bezeichnet  werden.  Mit  gleicher  Umsicht  ist 
aber  auch  der  Entwickelung  der  deutschen  Malerei  nach¬ 
gegangen,  für  welche  Berlin,  Düsseldorf,  München  und 
Wien  eine  besondere  Bedeutung  erlangten  und  Meister 
wie  Feuerbach,  Menzel,  Lenbach,  v.  Gebhardt,  Defregger, 
Makart  und  andere  bis  auf  die  rassentypischen  Sonderindivi¬ 
dualitäten  derTschechen,  Ungarn  und  Polen  sachverständige 
Einschätzung  erfahren.  Letztere  weiß  in  München,  Berlin, 
Düsseldorf,  Dresden  und  Wien  die  zumeist  in  der  Auf¬ 
fassung  des  barocken  Realismus  sich  bewegenden  Schöp¬ 
fungen  deutscher  Plastik  mit  entsprechender  Betonung  der 
für  die  einzelnen  Orte  und  Künstler  beachtenswerten  Eigen¬ 
art  zutreffend  zu  charakterisieren. 

Die  Zwecksicherheit  der  Darstellungsweise  Schmids 
erhellt  auch  aus  der  den  Abschnitt  über  die  englische  Kunst 
seit  1850  einleitenden  Würdigung  Ruskins,  dessen  einzig¬ 
artiger  Persönlichkeit  hauptsächlich  die  Führung  des  ganzen 
Aufschwunges  zufällt,  obzwar  letzteren  ja  noch  andere 
Umstände  und  Künstler  beeinflußten.  Seit  Muthesius’  vor¬ 
trefflicher  Abhandlung  über  die  neuere  kirchliche  Baukunst 
in  England  ist  auf  dem  Kontinente  Verständnis  und  Inter¬ 
esse  an  den  Bauschöpfungen  Großbritanniens  gewachsen, 
die  Schmid  über  den  Eisenbau  und  die  Neurenaissance 
bis  zu  den  oft  so  anziehenden  Abwandlungen  des  bürger¬ 
lichen  Wohnhauses  verfolgt.  Haben  auch  die  Publikationen 
von  Muthesius  über  »englische  Baukunst  der  Gegenwart« 
und  »das  englische  Haus«  einer  allgemeiner  gewordenen 
Empfänglichkeit  für  diese  Fragen  vorgearbeitet,  so  wird 
sich  doch  neben  ihnen  die  von  Schmid  gebotene  Zusammen¬ 
fassung  mit  Glück  behaupten.  Dieselbe  bietet  so  viel. 


15 


io8  BUCHERSCHAU  NEUE  WERKE  VON  B.  HEROUX  UND  P.  BUERCK 


was  noch  mit  aktuellen  Bedürfnisfragen  und  mit  Forde- 
1-ungen  des  praktischen  Lebens  zusammenhängt.  Gleiche 
Abrundung  wie  bei  der  englischen  Architektur  ist  bei  dem 
hochwichtigen  Abschnitte  der  englischen  Malerei  erzielt, 
der  mit  einer  guten  Darstellung  des  Präraffaelismus  ein¬ 
setzt  und  überzeugend  darzutun  weiß,  wie  eine  glückliche 
Anpassung  der  Maler  an  die  heimische  Eigenart  den  Eng¬ 
länder  ein  gewisses  Minus  an  künstlerischer  Potenz  im 
Vergleiche  zu  kontinentalen  Schulen,  besonders  zu  Frank¬ 
reich  nicht  gerade  stark  fühlen  läßt.  Gegen  die  großartige 
Leistungsfähigkeit  der  nach  allen  Richtungen  sich  glänzend 
entwickelnden  englischen  Malerei  blieb  die  im  ganzen  von 
kontinentalen  Anregungen  lebende  englische  Plastik  des 
Zeitraumes,  mit  welcher  der  zweite  Band  abschließt,  gar 
beträchtlich  zurück. 

Schniids  Kunstgeschichte  ist  mit  dem  zweiten  Bande 
um  ein  gut  Stück  der  Vollendung  näher  gerückt,  gut  in 
mehr  als  einer  Beziehung.  Nirgends  drängt  sich  eine 
Effekthascherei  oder  Kampfesstimmung  auf,  die  in  Muthers 
Geschichte  der  Malerei  an  gar  mancher  Stelle  etwas  pein¬ 
lich  berührt.  Wie  Schmid  ein  ganz  außerordentlich  reiches 


Material  fein  abwägend  beherrscht,  so  beherrscht  er  in 
maßvoll  abgeklärtem  Urteile  auch  sich  selbst,  ohne  zum 
Geiste  zu  werden,  der  stets  verneint  oder  in  kritikloser 
Verhimmelung  sich  verliert.  Wohl  allen  die  moderne  Kunst 
bestimmenden  Strömungen  folgend,  aber  nicht  von  ihnen 
hingerissen,  geschweige  denn  des  Rechtes  unparteiischer 
Auseinandertialtung  der  Erscheinungsformen  sich  begebend, 
wird  Schmid  zu  einem  höchst  kenntnisreichen  und  ver¬ 
ständnisvollen  Berater  über  den  Entwickelungsgang  jener 
Kunst,  deren  lebenskräftige  Pulsschläge  wir  noch  alltäglich 
fühlen  können.  Die  vorliegende  Fortführung  seines  Werkes 
wird  viele  Freunde  finden,  die  nun  mit  doppelter  Spannung 
dem  Abschlüsse  des  Ganzen  entgegensehen  dürften.  Der 
höchst  geschmackvollen  Auswahl  des  auch  in  der  Wieder¬ 
gabe  der  Farbenwerte  Großartiges  erzielenden  Abbildungs¬ 
materiales  hält  die  Ausführung  der  Illustrationen,  auf  deren 
möglichste  Einwandfreiheit  der  Verleger  offenbar  viel  Auf¬ 
merksamkeit  verwendet  hat,  in  jeder  Hinsicht  das  Gleich¬ 
gewicht.  Das  Verständnis  der  Gegenwartskunst  wird  auf 
dieser  Grundlage  in  weiten  Kreisen  erstarken. 

Joseph  Neuwirf/t. 


NEUE  WERKE  VON  B.  HEROUX  UND  P.  BUERCK 


Wenn  ein  Künstler  eine  Reise  tut,  so  läßt  er  seinen 
Zeichenstift  was  erzählen.  Das  ist  von  alters  so  der 
Brauch.  Viele  malerische  Reisetagebücher  sind  auch 
der  Öffentlichkeit  übergeben  worden;  gewöhnlich 
derart,  daß  der  Künstler  seine  ursprünglichen  flüch¬ 
tigen  Improvisationen  zu  Hause  kombiniert,  durch¬ 
arbeitet  und  für  das  Publikum  abrundet.  Der  Leipziger 
Bruno  Heroux  hat  sich  diesen  Umweg  erspart,  indem  er 
seine  Eindrücke  während  einer  kürzlich  unternommenen 
Reise  nach  Oberitalien  direkt  auf  besonders  präpa¬ 
riertes  lithographisches  Papier  gezeichnet  hat  und  da¬ 
durch  in  den  Stand  gesetzt  war,  nach  seiner  Rück¬ 
kehr  durch  Umdruck  auf  den  Stein  dieses  Skizzen¬ 
buch  ohne  die  mindeste  Veränderung  oder  den  ge¬ 
ringsten  Verlust  an  Ursprünglichkeit  zu  vervielfältigen. 
So  ist  eine  geschmackvolle  Mappe  von  36  Blättern 
entstanden,  auf  denen  wir  den  Künstler  von  seiner 
Heimatstadt  Leipzig  über  Wien,  Preßburg,  Miramare, 
den  Karst  nach  Triest  und  von  dort  nach  Venedig, 
Padua,  Verona  und  an  den  Gardasee  begleiten.  Eine 
wesentlichere  Anschauung  von  den  guten  und  feinen 
Eigenschaften  dieses  Skizzenbuches  als  eine  Beschrei¬ 
bung  mit  Worten  gibt  das  Blatt,  welches  wir  hier 


im  Originaldruck  unseren  Lesern  bieten.  Da  wir 
Heroux  von  seinen  ersten  Anfängen  in  öfteren  Proben 
in  unserem  Kreise  auftreten  sahen,  so  vermögen  wir 
auch  an  der  Zeichnung  dieses  Amphitheaters  einen 
erfreulichen  Aufstieg  des  Künstlers  zu  leichter  und 
freier  Erfassung  einer  großen  Szene  zu  konstatieren. 
Die  Mappe  ist  im  Selbstverläge  des  Künstlers  erschienen. 

Der  Zufall  will  es,  daß  uns  gleichzeitig  mit  dem 
Werke  von  Heroux  noch  ein  zweites,  sehr  ähnliches 
zu  Händen  kommt,  nämlich  »Eine  Reise  nach  Rom. 
50  Federzeichnungen  von  Paul  Buerck«.  (Verlag  von 
G.  Grote,  Berlin.)  In  der  künstlerischen  Auffassung 
ist  Buercks  Arbeit  von  der  eben  besprochenen  weit 
verschieden.  Unter  der  Sonne  Roms  reifen  seine 
Zeichnungen  zu  einer  gewissen  Feierlichkeit.  Sie 
haben  in  der  Ausführung  etwas  Trockenes,  Kupferstich¬ 
artiges.  Was  ihnen  dadurch  an  Lebendigkeit  abgeht, 
haben  sie  aber  an  Charakter  und  Stil  gewonnen. 
Jedenfalls  sind  gerade  die  Blätter  des  Albums,  in 
denen  diese  Eigentümlichkeiten  am  stärksten  aus¬ 
geprägt  sind,  die  besten,  während  andere,  wo  Buerck 
weichere,  mehr  malerische  Wirkungen  erstrebt,  weniger 
gelungen  scheinen.  G.  K. 


Herausgeber  und  verantwortliche  Redaktion:  E.  A.  Seemann,  Leipzig,  Querstraße  13 
Druck  von  Ernst  Hedrich  Nachf.,  o.  m.  b.  h.,  Leipzig 


ZEITSCHRIFT  FÜR  BILDENDE  KUNST  1907  ORIGINALLITHOGRAPHIE  VON  BRUNO  HEROUX 


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Marmorbildwerk  von  Max  Klinger 


Verlag  von  E.  A.  Seemann  in  Leipzig.  1907 


AUS  KLINOERS  NEUEM  WERK  EPITHALAMIA 
Mit  Genehmigung  der  Verlagskunslliandlung  Amsler  &  Rulhardt.  Berlin  W.  64 


MAX  KLINGER 

EIN  GRUSS  ZU  SEINEM  FÜNFZIGSTEN  GEBURTSTAGE 
Von  Felix  Becker 


WENN  ich  an  Klinger  zurückdenke,  kommt 
etwas  Feiertägliches  über  meine  Seele,  und 
ich  bin  stolz  darauf,  diesem  Großen  in 
trauter  Rede  nahe  gewesen  zu  sein«.  So  sagt  Franz 
Servaes  in  seiner  kleinen  und  so  feinen  Klingerbio- 
graphie  und  hat  damit  wohl  allen  aus  der  Seele  ge¬ 
sprochen,  die  das  Glück  hatten,  von  des  Künstlers 
genialen  Schöpfungen  wie  vom  Zauber  seiner  Per¬ 
sönlichkeit  im  Innersten  erwärmt  zu  werden. 

Fleute  zu  seinem  fünfzigsten  Geburtstage  mag 
der  Meister  gestatten,  daß  wir  einmal  das  Mensch¬ 
liche  und  Persönliche  an  ihm  berühren,  indem  wir 
rückschauend  charakteristische  Züge,  auch  kleine,  bis¬ 
her  noch  nicht  bekannte,  aus  seinem  äußeren  und 
inneren  Entwickelungsgange  uns  vergegenwärtigen. 

Das  alte  geschäftige  und  gelehrte  Leipzig  hat 
den  Vorzug,  vierzig  Jahre  nach  Richard  Wagners 
Geburt  auch  Max  Klingers  Geburtsstadt  zu  werden. 
Am  i8.  Februar  1857  erblickte  er  hier  das  Licht 
der  Welt  als  Sproß  einer  angesehenen  Bürger¬ 
familie.  Sein  Vater,  ein  Seifenfabrikant,  liebte  die 
Musik  und  war  ein  geschickter  Dilettant  im  Zeich¬ 
nen;  wenigstens  ist  von  ihm  eine  Bleifederzeich¬ 
nung  aus  dem  Ende  der  dreißiger  Jahre  des  vorigen 
Jahrhunderts  erhalten,  in  der  er  mit  gutem  Effekt 
das  Stadtbild  von  Leipzig  von  der  Höhe  des  Conne- 
witzer  Kreuzes  aus  darstellte.  Und  nun  Klingers 
Mütterchen!  Ein  Musterbeispiel  zum  Thema:  Künstler¬ 
mütter!  Noch  bei  der  achtzigjährigen  Greisin  ließen 
die  seltsam  klaren,  hellblauen  Augen  mit  ihrem  festen, 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XVIII.  11.  5 


freundlich-ernsten  Blick  in  dem  von  schneeweißem 
Haar  umrahmten,  vielrunzeligen  Antlitz  einen  Charakter 
von  besonderer  Klugheit  und  Herzensstärke  ahnen. 
Sie  hatte  das  Genialische  in  des  Kindes  Wesen  am 
ehesten  und  feinsten  erkannt  und  hatte  interessante 
lind  jetzt  erst  recht  verständliche  Einzelzüge  aus 
der  frühen  Knabenzeit  des  Künstlers  in  treuem, 
auch  von  der  Schwäche  des  Alters  nicht  verlöschtem 
Erinnern  bewahrt.  So  folgendes:  »Mutter,  ich  gehe 
jetzt  in  den  Garten  zu  meinen  Freunden«.  —  »Aber 
Kind,  es  ist  ja  gar  kein  Freund  von  dir  dort.«  — 
»Doch  Mutter,  die  Schmetterlinge  und  Käfer  sind 
meine  Freunde.«  —  Klingt  das  wie  das  frühe  Be¬ 
kenntnis  des  intimen  Naturgefühls  und  des  tiefen 
Interesses  an  jeglicher  Kreatur,  das  Klingers  Wesen 
und  Schaffen  später  offenbart,  so  zeigte  sich  auch 
sehr  früh  das  Regen  und  Bilden  seiner  starken 
Illusionskraft.  Er  sah  z.  B.  und  beschrieb  aufs  ge¬ 
naueste  eine  Eule  im  Baume,  wo  keine  war, 
und  erblickte  mit  Entzücken  in  blauer  Luft  einen 
Hafen  mit  Schiffen  und  hundertfältigem  Leben  und 
war  verwundert,  daß  seine  Mutter  von  alledem,  was 
er  ihr  mit  dem  Finger  doch  deutlich  zeigte,  auch 
nicht  die  Spur  erblicken  konnte.  Sie  hat  auch  die 
ersten  Skizzenbücher  des  eifrig  zeichnenden  Knaben 
aufbewahrt.  Es  sind  zwei  einfache  Kinderalbums  mit 
vielen  Bleifeder-,  Feder-  und  einigen  farbigen  Zeich¬ 
nungen,  etwa  ans  seinem  zehnten  bis  vierzehnten 
Jahre.  Auch  in  diesen  Blättern  verrät  sich  ohne 
weiteres  das  junge  Genie  durch  den  überraschenden 

16 


1 1  ü 


MAX  KLINOER 


Fortschritt  in  der  Sicherheit  der  Ausdriicksfähigkeit  und 
ebenso  in  der  Originalität  der  Erfindung.  Er  kopiert 
nicht,  wie  Knaben  seines  Alters  gern  tun,  sondern 
zeichnete  Beobachtetes  oder  in  der  Phantasie  Erbautes 
aus  dem  Gedächtnis,  z.  B.  den  Angler  in  dem  span¬ 
nenden  Momente,  wo  »es  nippelt«,  oder  die  Götter 
des  Olymp  einzeln  in  Charakterfiguren  aus  dem  Leip¬ 
ziger  Volksleben  übersetzt  oder  höchst  lebhafte  und 
überzeugend  wirkende  Kampfszenen  aus  dem  Kriege 
1870 '71.  Zuletzt  als  Vierzehnjähriger  gibt  er  Männer¬ 
köpfe  in  feiner  Eederzeichnung  von  frühreifer  Meister¬ 
schaft.  In  all  den  Blättern,  von  den  ersten  an,  scheint 
es  keine  Rasur  und  keinen  Eehlstrich  zu  geben;  äußerst 
klar  muß  jeder  Vorgang  vor  der  kindlichen  Vor¬ 
stellung  gestanden  haben  und  willig  die  bildende 
Hand  dem  Impulse  gefolgt  sein. 

Inzwischen  war  er  Schüler  des  Leipziger  Real¬ 
gymnasiums  geworden  und  es  ist  wohl  nur  zu  be¬ 
greiflich,  daß  er  sich  zu  ein  paar  Lehrern  hingezogen 
fühlte,  die  von  dem  Gros  der  Schüler  geärgert  und 
vielleicht  erst  nach  der  Schulzeit  oder  nie  verstanden 
worden  sind.  Auch  in  der  späteren  Schulzeit  war 
seine  größte  Freude  in  die  freie  Natur  zu  gehen  und 
zu  zeichnen,  was  das  Auge  sah  oder  die  Phantasie 
ihm  vorzauberte.  Einiges  aus  dieser  Zeit  ist  ebenfalls 
durch  der  Mutter  Sorgfalt  erhalten,  so  z.  B.  eine 
ziemlich  große,  vielfigurige  Theaterszene,  die,  wenn 
ich  mich  recht  entsinne,  den  Titel;  Tulifäntchens  Hoch¬ 
zeit  führt,  ln  all  den  Schulstunden  mag  er  wohl 
nie  so  andächtig  gelauscht  haben,  als  wenn  aus 
Mythe  und  Sage  der  Antike  erzählt  wurde.  Da  muß 
seine  junge  geniale  Phantasie  den  Olympos  offen 
gesehen  und  sich  die  antike  Götterwelt  so  greif¬ 
bar  und  herrlich  auferbaut  haben,  daß  er  bei  den 
schönsten  Werken  der  Folgezeit  nur  liebtraute  Ge¬ 
stalten  aus  diesem  Reiche  zu  geben  scheint. 

Sein  Künstlerberuf  stand  also  frühzeitig  fest,  bei 
ihm  wie  bei  seinen  Eltern,  und  mit  »dem  Einjährigen« 
in  der  Tasche  verließ  er  die  Schule,  um  sich  danach 
sechzehnjährig  an  der  Karlsruher  Akademie  und  als 
Karl  Gussows  Schüler  anzumelden.  Es  ist  bekannt, 
daß  er  dann  nach  zwei  Jahren,  1875,  dem  verehrten 
Lehrer  und  damals  hochgefeierten  Porträtmaler  nach 
Berlin  folgte.  Wohl  zeigen  seine  frühen  Malereien, 
z.  B.  der  Überfall,  zwei  lebensgroße  Studienköpfe 
alter  Männer  (1877)  und  eine  Skizze,  Mann  im 
Boot  (im  Leipziger  Museum)  jenes  frische,  kecke  Frei¬ 
licht,  das  Gussow  damals  als  etwas  Neues  meisterte, 
aber  die  Nuance  ist  bei  Klinger  anders,  und  hin¬ 
sichtlich  der  Stoffwelt  verfügte  der  junge  Künstler 
über  eine  unbegreiflich  reiche  und  produktive  Phan¬ 
tasie.  In  dieser  Hinsicht  konnte  auch  ein  so  hervor¬ 
ragender  Lehrer  wie  Gussow  dem  Schüler  keine 
wesentlichen  Anregungen  mehr  bieten  und  nur  ein 
ganz  großer  Phantasiekünstler  wie  Arnold  Böcklin 
vermochte  durch  seine  Werke  die  Begeisterung  des 
jungen  Klinger  für  die  antikische  Fabelwelt  zu  ent¬ 
flammen,  die  ihm,  wie  wir  gesehen,  von  Jugend  an 
nahe  lag.  Aber  auch  Böcklin  gegenüber  bewahrte 
Klinger  seine  Selbständigkeit  bei  diesem  Ritt  ins  ro¬ 
mantische  Land  und  hat  sie  später  immer  wieder  zu 


wahren  gewußt,  wenn  geniale  und  ihm  in  einzelnen 
Zügen  verwandte  Künstlernaturen  wie  Goya,  Rops, 
Menzel  und  Rodin  ihm  Anregung  boten. 

Im  Sturm  und  Drang  der  Berliner  Jahre,  1875 — 83, 
wandte  sich  Klinger  bekanntlich  mit  leidenschaftlichem 
Eifer  der  Originalradierung  zu  und  wußte  diesem  bei 
uns  der  Reizlosigkeit  verfallenen  Kunstzweige  neues 
Leben  und  hinreißende  Wirkungen  zu  verleihen.  Die 
ersten  Zyklen  entstanden  damals;  Radierte  Skizzen, 
Rettungen  ovidischer  Ojrfer,  Eva  und  die  Zukunft, 
die  Intermezzi,  Amor  und  Psyche,  Paraphrase  über 
den  Fund  eines  Handschuhs,  Vier  Landschaften,  ein 
Leben,  Dramen  und  der  Anfang  von  Eine  Liebe. 
Und  zu  der  Fülle  an  geistvoll  pointiertem  Inhalt,  an 
tiefen  Herzenserfahrungen,  an  Kraft  und  Schönheit 
der  Erfindungen  in  diesen  auch  technisch  immer  kunst¬ 
voller  werdenden  Blättern  kommt  eine  kaum  zu  über¬ 
sehende  Zahl  von  reizvollen  Einzeldrucken.  Wenn 
Adolf  Menzel  es  verstand,  Illustrationen  und  festlichen 
Widmungsblättern  einen  höheren  künstlerischen  Wert 
zu  geben,  so  kam  ihm  darin  niemand  gleich  als  der 
junge  Klinger.  Seine  Illustrationen  in  der  Festschrift 
des  Berliner  Kunstgewerbemuseums  (1881)  und  die 
Zierleisten  in  dem  witzigen  Büchlein:  Blüten  aus  dem 
Treibhause  der  Lyrik,  seine  Notentitel  (für  Simrock), 
seine  Allegorien  und  Embleme  (für  Gerlach  &  Schenk), 
seine  Exlibris  und  Diplome  sind  wahre  Perlen  ihrer 
Art.  Und  welche  Fülle  von  Zeichnungen  in  feinster 
Ausführung  und  immer  fesselnd  im  Inhalt  hat  man 
schon  aus  dieser  Zeit  von  ihm.  Man  kann  sagen,  daß 
er  als  Zeichner  gerade  in  seinem  zwanzigsten  Jahre 
seinen  so  charakteristischen,  persönlichen  Stil  aus¬ 
bildete;  man  denke  an  die  acht  Zeichnungen:  Rat¬ 
schläge  zu  einer  Konkurrenz  über  das  Thema  Christus, 
die  1877  entstanden  und  die  jubelnde  Bewunderung 
seines  Freundeskreises  hervorriefen.  Vor  mir  liegt 
aus  demselben  Jahre  eine  nicht  weiter  bekannte  Feder- 
und  Sepiazeichnung,  die  in  seltsamer  Verschmelzung 
von  Phantastik  und  Realismus  die  Verurteilung  einer 
Kindesmörderin  darstellt.  In  der  Mitte  sitzen  feierlich 
zwei  stabbrechende  Richter,  links  von  ihnen  steht 
eine  kummervoll  blickende  Dienerin  mit  dem  toten 
Kinde  auf  dem  Arme,  rechts  hinter  der  Schranke 
dicht  gedrängt  die  unglückliche  Mutter  mit  den 
Ihrigen,  den  alten  tiefbekümmerten  Eltern,  der  Schwester 
und  dem  träumerisch  die  Szene  verfolgenden  Brüder¬ 
chen.  Ein  erbarmungsloser  Scherge  drängt  die  An¬ 
geklagte  vorwärts  und  von  links  blickt  der  Ankläger 
mit  einem  Raubvogelgesicht  auf  sein  Opfer.  Wenn 
auch  die  ganze  Komposition  noch  etwas  Naives  hat, 
so  ist  doch  die  Charakteristik  der  einzelnen  Personen 
und  die  Feinheit  der  Zeichnung  ich  möchte  sagen  von 
einer  Van  Eyckschen  Gründlichkeit  und  durch  die  Weg¬ 
lassung  alles  Beiwerks  eine  intensive  Wirkung  gewonnen. 
So  arbeitet  der  zwanzigjährige  Jüngling  und  wagte  es 
im  nächsten  Jahre  (1878)  zum  erstenmal  in  Berlin  öffent¬ 
lich  auszustellen,  allerdings  mit  dem  Erfolge,  für  seine 
Arbeiten  allgemeiner  Entrüstung  beim  Publikum  zu 
begegnen.  Aber  die  spätere  Zeit  hat  ihni  Recht  ge¬ 
geben;  das  eine  Ausstellungsstück,  Der  Überfall,  ist 
in  den  letzten  Jahren,  auch  noch  auf  der  Jahrhundert- 


MAX  KLINGER 


1 1 1 


ausstellung  viel  bewundert  worden  und  hat  durch 
mehrere  Besitzerhände  gehend  seinen  ursprünglichen 
Preis  schon  verfünfundzwanzigfacht,  während  die  da¬ 
mals  verhöhnten  Zeichnungen  zum  Thema  Christus 
ein  bekannter  Schatz  der  Nationalgalerie  geworden 
sind.  —  Ein  Studienaufenthalt  in  Brüssel  1879  endete 
leider  für  ihn  mit  einem  schweren  Krankenlager,  von 
dem  er  sich  erst  im  nächsten  Jahre  in  Karlsbad  er¬ 
holte.  Dort  entstanden  während  seiner  Rekonvales¬ 
zenz  die  berückend  lieblichen  Illustrationen  zu  Amor 
und  Psyche.  —  Nach  Berlin  zurückgekehrt,  muß  er 
in  den  nächsten  Jahren  mit  einem  wahren  Feuereifer 
geschaffen  haben,  denn  außer  den  erwähnten  Ra¬ 
dierungen  und  Zeichnungen  entstanden  auch  Gemälde 
wie  der  Abend  (1882),  die  Gesandtschaft  (1882)  und 
die  Malereien  für  die  Villa  Albers.  ln  dieser  reichen 
und  sonnigen  Schöpfung  Klingerscher  Phantasie  können 
wir  auch  die  erste  große  Huldigung  an  Böcklin  er¬ 
kennen.  Leider  hat  ein  Unstern  über  diesem  Bei¬ 
spiel  Klingerscher  Raumkunst  gewaltet  und  man  muß 
sich  den  Gesamteindruck  aus  den  erhaltenen  Haupt¬ 
stücken  der  Dekoration  rekonstruieren  (vergl.  diese 
Zeitschrift  vom  Oktober  1904). 

An  die  Berliner  Zeit  reihen  sich  die  Wander¬ 
jahre  und  der  Radierer  Klinger  wird  zum  Maler. 
Sein  Aufenthalt  in  Paris  von  1884 — 86  vergeht  ihm 
in  aufreibender  Tätigkeit  an  seinem  ersten  großen 
Gemälde,  dem  wundervollen  Parisurteil,  das  jetzt  die 
moderne  Galerie  in  Wien  ziert.  An  dem  Gemälde 
ist  im  Charakter  nichts  von  französischem  Einfluß  zu 
spüren;  Klingers  Selbständigkeit  bewährt  sich  auch 
gegenüber  den  großen  Franzosen,  wenn  man  nicht 
die  hohe  Vervollkommnung  der  malerischen  Aus¬ 
drucksmittel  auf  die  Errungenschaften  der  Franzosen 
zurückführen  will.  1886  kehrte  Klinger  nach  Berlin 
zurück  und  zog  dann  im  März  1889  auf  fast  vier  Jahre 
nach  Rom.  ln  unablässigem  Schaffensdrange  entstanden 
dann  in  den  Jahren  1888  93  andere  Meisterwerke: 

die  Kreuzigung,  die  Pieta,  die  blaue  Stunde,  Pleinair- 
Porträts,  die  Strandwelle  und  die  Sirene;  auch  die  ge¬ 
waltige  Folge  der  Radierungen:  Vom  Tode  1  wurde 
damals  (1889)  vollendet  und  die  II.  Folge  begonnen. 
Eine  große  Überraschung  brachte  das  Jahr  1893,  als 
Klinger  damals  mit  der  Salome  als  Bildhauer  auftrat, 
ebenso  unvermittelt,  wie  es  schien,  als  verblüffend 
durch  die  fundamentale  Neuheit  seiner  bemalten 
Skulptur.  Wohl  in  besonders  heftiger  Form  hatte 
der  Meister  das  Unterfangen  einer  genialen,  dem 
Verständnis  der  übrigen  Welt  um  Jahre  voraus¬ 
liegenden  Künstlertat  mit  Hohn  und  Spott  zu  büßen. 
Schon  im  nächsten  Jahre  folgte  die  künstlerisch  freiere 
Kassandra,  die  auch  des  Künstlers  Streben  nach 
farbiger  Wirkung  durch  naturfarbenes  Material  besser 
zum  Ausdruck  brachte.  Übrigens  gehen  Klingers 
Versuche  auf  dem  Gebiete  der  Plastik  weiter  zurück, 
als  man  glaubt.  Schon  in  der  Jugend  hat  er  ein 
interessantes  Schillerporträt  modelliert,  von  dem  der 
Gipsabguß  erhalten  ist,  und  ferner  zeigt  ihn  der  um 
1886  entstandene  plastisch  geschmückte  Rahmen  des 
Parisurteils  mit  den  originellen  Masken  schon  als  ge¬ 
schickten  Modelleur.  Von  Rom  zurückkehrend,  nahm 


er  seinen  dauernden  Aufenthalt  in  Leipzig;  er  brauchte 
nicht  die  Anregungen  einer  Kunststadt,  sondern  die 
Ruhe  der  Arbeit  für  seine  Ideen.  Die  Jahre  1894—97 
fanden  ihn  auf  allen  seinen  Gebieten  eifrig  tätig.  Zu¬ 
erst  erschien  damals  die  herrliche  Brahmsphantasie,  das 
schönste  Radierwerk,  das  die  moderne  Kunst  über¬ 
haupt  hervorgebracht  hat.  Zugleich  arbeitete  der 
Meister  an  seinem  Hauptwerke  Christus  im  Olymp 
bis  1897  und  vollendete  im  selben  Jahre  das  originelle 
plastische  Zierstück  der  drei  tanzenden  Frauen  auf 
Onyxsockel.  Nun  folgten  rasch  aufeinander  die 
weiten  Kreisen  durch  Abbildungen  bekannt  gewor¬ 
denen  Marmorwerke:  Badendes  Mädchen  (Leipzig  1898), 
Amphitrite  (Berlin  1898),  das  Ledarelief  (in  zwei  Va¬ 
rianten,  eine  in  Privatbesitz  in  Leipzig,  1899),  die 
polylithe  Büste  von  Elsa  Asenijeff  (Leipziger  Privat¬ 
besitz  1900),  die  Kauernde  (Wien,  Privatbesitz  1900), 
die  Bronzestatuette  des  Athleten  (1901,  in  mehreren 
Exemplaren),  die  Marmorbüsten  von  Franz  Liszt  und 
von  Richard  Wagner,  Mädchenkopf  mit  Hand  (Wien, 
Privatbesitz,  1901)  und  1902,  nach  fünfzehnjähriger 
Arbeit,  des  großen  Künstlers  unvergängliches  Haupt¬ 
werk:  Der  thronende  Beethoven.  Im  selben  Jahre 
noch  folgte  die  Marmorbüste  Nietzsches  (Weimar), 
zu  der  er  bald  darauf  ein  interessantes  Gegenstück 
in  Bronze  schuf  (Berlin,  Privatbesitz).  1904  vollendete 
er  die  vielbesprochene  Marmorgruppe:  Das  Drama 
(Dresden,  Albertinum)  und  arbeitete  zugleich  an  einer 
gigantischen  Gruppe:  Der  Triumph  des  Weibes  (vor¬ 
läufig  Entwurf),  und  begann  das  Hamburger  Brahms¬ 
denkmal,  an  das  er  jetzt  gerade  die  letzte  Hand  legt. 
Zu  gleicher  Zeit  begann  er  die  Vorbereitungen  zu 
einem  Kolossaldenkmal  Richard  Wagners  für  Leipzig, 
und  schon  lassen  herrliche  Kartons  in  Originalgröße 
und  ein  Gipsmodell  in  halber  Größe  die  monumen¬ 
tale  Wucht  dieses  Werkes  ahnen.  Wie  zur  Erholung 
von  den  Anstrengungen  dieser  großen  plastischen 
Aufgaben  greift  er  immer  wieder  einmal  zum  Pinsel 
oder  zur  Radiernadel,  und  so  entstanden  in  den 
letzten  Jahren  einige  nicht  weiter  bekannt  gewordene 
Porträts  und  auch  bedeutende  Radierungen  wie  die 
letzten  Blätter  für  Vom  Tode  II  und  die  Vollendung 
der  wundervollen  Textumrahmungen,  die  1889  wohl 
für  eine  zweite  Ausgabe  von  Amor  und  Psyche  ge¬ 
plant  waren,  aber  nun  vervollständigt  mit  neuem  Text 
unter  dem  Titel  Epithalamia  in  Heliogravüren  bei  Amsler 
&  Ruthardt  erscheinen  werden.  In  das  Jahr  1 905  fällt  der 
prächtige  silberne  Tafelaufsatz  für  das  neue  Leipziger 
Rathaus,  der  noch  durch  zwei  Fruchtschalen  tragende 
Putten  vervollständigt  werden  soll.  Die  selbe  Technik 
des  Silbergusses  wiederholte  er  bei  einer  schlichten 
Gruppe:  Galathee,  die  in  Weimar  im  vorigen  Jahre 
ausgestellt  war.  Vor  wenigen  Wochen  erst  beendigte 
er  wieder  eine  fast  lebensgroße  weibliche  Marmor¬ 
figur  von  berückendem  Reize.  Es  ist  nicht  leicht  zu 
sagen,  worin  das  ungewöhnlich  Suggestive  dieser  Figur 
liegt.  Ist  es  die  wundervoll  weiche  und  zartgefühlte 
Wiedergabe  des  Körpers  oder  wirkt  so  mächtig  die 
seltsame  Drehung  und  Verschränkung  der  Glieder, 
besonders  die  ganz  aparte  Geste  der  vorgestreckten, 
verschränkten  Arme.  Der  Künstler  hat  die  Figur  Diana 

ifV 


I  12 


MAX  KLINGER 


genannt,  indes  glaube  ich  nicht,  daß  uns  dieser  Name 
zum  Schlüssel  des  Verständnisses  dienen  kann.  Auf 
den  ersten  Blick  wirkt  sie  wie  eine  Niobidin,  aber 
diese  Deutung  befriedigt  nicht  voll.  Diese  Geste  der 
Arme  kann  ja  gar  nicht  Überraschung  oder  Schutz 
andeuten,  sondern  scheint  mir  vielmehr  der  Ausdruck 
der  Sehnsucht  zu  sein,  wozu  auch  das  spannende 
erwartungsvolle  Antlitz  passen  würde.  Der  Künstler 
selbst  pflegt  eigentlich  nie  irgend  welche  Aufklärungen 
und  Deutungen  seiner  Arbeiten  zu  geben,  und  einer 
solchen  plastischen  Figur,  deren  Reiz  vor  allem  in 
der  schönen  Silhouette,  in  der  Vollkommenheit  der 
Formen,  im  Schimmer  des  transparenten  Materials 
liegt,  sollte  man  auf  Deutungen  novellistischer  Art 
gern  verzichten,  weil  sie  wohl  den  Verstand,  aber 
nicht  das  künstlerische  Empfinden  befriedigen  könnten. 
Wie  schon  beim  Drama  hat  der  Künstler  auch  bei 
dieser  Figur  zwischen  den  Armen  eine  papierstarke 
Scheibe  des  Marmors  stehen  lassen,  vermutlich  aus 
Gründen  der  Stabilität,  noch  mehr  aber  vielleicht 
wegen  des  schönen  Effektes  des  in  so  dünner  Schicht 
wunderbar  feurig  durchleuchteten  Marmors.  —  ln  aller 
Kürze  wird  das  Brahmsdenkmal,  ein  Kolossal porträt- 
kopf  auf  figurenumraukter  Stele,  die  Werkstätte  ver¬ 
lassen  und  neue  große  malerische  Aufgaben  sind  schon 
wieder  in  Angriff  genommen.  Es  handelt  sich  um 
eine  monumentale  Wandmalerei  in  der  Aula  der  Leip¬ 


ziger  Universität  im  Aufträge  des  sächsischen  Staates. 
Näher  darüber  zu  sprechen,  ist  noch  nicht  an  der 
Zeit,  aber  man  darf  nach  den  Entwürfen  und  Kartons 
die  höchsten  Erwartungen  hegen.  Was  Klinger  in 
seiner  vortrefflichen  Schrift:  Malerei  und  Zeichnung 
über  Raumkunst  ausgesprochen  hat,  scheint  er  jetzt 
auf  der  Höhe  seiner  Schaffenskraft  mit  einem  bedeu¬ 
tenden  Beispiele  belegen  zu  wollen. 

So  zeigt  uns  schon  dieser  summarische  Überblick 
ein  Künstlerschaffen  so  reich  und  weit  umfassend  als 
tief  und  genial.  Von  einem  Kunstzweige  zum  anderen 
übergehend,  hat  Klinger  in  jedem  die  Grenzen  er¬ 
weitert,  die  Ausdrucksmittel  vervollkommnet,  kurz, 
endlich  einmal  unter  Hunderttausenden  etwas  für  die 
Kunst  selbst  getan.  Das  Äußerste  für  das  Höchste 
scheint  auch  seine  Richtschnur  zu  sein,  denn  mit 
heißer  Anstrengung  aller  seelischen  und  körperlichen 
Kräfte  hat  der  blonde  Riese  unermüdlich  gewirkt  und 
die  Welt  überreich  beschenkt  und  nie  den  geringsten 
Dank  auch  nur  erwartet.  Zwingen  seine  Kunstwerke 
zur  Bewunderung,  so  lockt  der  Zauber  seiner  Per¬ 
sönlichkeit,  seine  Humanität  im  höchsten  Sinne  des 
Wortes,  zu  vollkommener  Verehrung. 

Auf  ein  unvergleichlich  reiches,  der  höchsten  Kunst 
gewidmetes  halbes  Jahrhundert  kann  Max  Klinger  heute 
zurückblicken,  und  wir  dürfen  ihm  aus  dankbarstem 
Herzen  ein  Macte  virtute  zurufen. 


SOCKELRtLlEF  VON  KLINGERS  PARISURTEIL 


ERGÄNZTE  ANTIKEN 


Von  Ad.  Michaelis 


ABB.  1.  DIE  NIKE  VON  SAMOTHRAKE  NACH  DER  ER¬ 
GÄNZUNG  IM  STRASSBURGER  UNIVERSITÄTSGEBÄUDE 


VOR  ein  paar  Jahren  wies  W.  Amelung  in  dieser 
Zeitschrift  (XIII,  i5off.,  171  ff.)  durch  passend 
gewählte  Beispiele  auf  die  Aufgabe  der  Abgu߬ 
museen  hin,  mangelhaft  erhaltene  oder  schlecht  er¬ 
gänzte  Antiken  in  angemessener  Weise  wiederherzu¬ 
stellen.  Wenn  auch  unsere  Universitätsmuseen  meistens 
wegen  beschränkter  Mittel  und  aus  Mangel  geeigneter 
künstlerischer  Hilfskräfte  nicht  in  der  Lage  sind,  der¬ 
gleichen  Arbeiten  in  größerem  Maßstabe  zu  unter¬ 
nehmen,  so  erweist  sich  doch  eine  richtigere  Ergänzung 
in  manchen  Fällen  als  für  den  Hauptzweck  dieser 
Museen,  den  archäologischen  Unterricht,  so  notwendig, 
daß  man,  so  gut  es  eben  gehen  will,  Hand  ans 
Werk  legen  muß.  Ich  habe  schon  vor  Jahren  im 
Straßburger  Museum  die  Gruppe  der  Tyrannenmörder, 
den  myronischen  Diskoboi,  die  knidische  Aphrodite, 
den  Alexander  Rondanini  der  Münchener  Glyptothek 
in  solcher  Weise  wiederhergestellt ^);  über  ein  paar 
jüngst  angestellte  Versuche  möchte  ich  hier  berichten. 

Wer  das  Museum  des  Louvre  kennt,  dem  hat  sich 
das  Bild  der  Nike  von  Samothrake  eingeprägt,  wie 

1)  Ad.  Michaelis,  Straßburger  Antiken,  Festgabe  für 
die  46.  Versammlung  deutscher  Philologen  und  Schul¬ 
männer.  Straßburg  igoi. 


sie  auf  der  Höhe  der  großen  Eingangstreppe  von 
ihrem  Schiffe  aus  den  Ankommenden  begrüßt.  So 
überaus  wirkungsvoll  auch  der  dekorative  Eindruck 
ist,  so  bleiben  bei  näherer  Betrachtung  doch  einige 
Mängel  unleugbar,  ln  der  Vorderansicht,  von  der 
Treppe  aus,  durchschneidet  der  schmale  und  hoch- 
aufragende  Bug  der  Galeere  die  Figur  in  der  Mitte 
und  stört  den  Überblick  des  Bewegungsmotivs;  die 
Statue  war  eben  auf  eine  solche  Ansicht  von  vorn 
und  aus  der  Tiefe  nicht  berechnet.  Und  ferner:  wenn 
irgendwo,  so  bedarf  hier  die  mächtig  bewegte  Gestalt 
eines  vollen  Ausklingens  in  Kopf  und  Armen;  man 
hat  sich  aber  im  Louvre  mit  der  Ergänzung  der  linken 
Brust  und  Schulter  begnügt,  um  nur  dem  Oberkörper 
den  notwendigsten  Zusammenhang  zu  geben.  So 
kommt  die  Prachtgestalt  nicht  zu  voller  Wirkung. 
Eine  Andeutung,  die  ich  in  einer  Vorlesung  machte, 
daß  wir  in  unserem  Straßburger  Universitätsgebäude 
oberhalb  der  Treppe,  die  zum 
Museum  führt,  eine  Stelle  hätten, 
an  welcher  die  Kolossalstatue,  er¬ 
gänzt,  ihres  mächtigen  Eindrucks 
sicher  sein  würde,  bot  den  Anlaß 
mir  zu  solchem  Zweck  eine  ansehn- 
licheSumme  zurVerfügung  zu  stel¬ 
len.  Diese  ließ  sich  anderweitig 
so  weit  ergänzen,  daß  ans  Werk  ge¬ 
gangen  werden  kon  nte ;  d  i  e  A  usfüh  - 
rung  ward  dem  hiesigen  Bildhauer 
Joh.  Riegger  übertragen  (Abb.  1). 

Benndorf  hat  in  seiner  grundlegenden  Unter¬ 
suchung  über  die  Nike^)  die  Münzen  des  Demetrios 
Poliorketes  herangezogen,  die  dessen  entscheidenden 
Seesieg  von  306  beim  kyprischen  Salamis  verherr¬ 
lichen  (Abb.  2).  Der  Vorderteil  des  Kriegsschiffes 
und  die  darauf  vorwärts  schreitende  Nike  stimmen 
mit  den  erhaltenen  Resten  der  samothrakischen  Statue 
so  völlig  überein,  daß  Benndorfs  Beziehung  der  Statue 
auf  jenen  Sieg,  der  die  Annahme  des  Königstitels  bei 
den  Nachfolgern  Alexanders  zur  Folge  hatte,  fast  all¬ 
gemeine  Billigung  gefunden  hat.  Demgemäß  ist  unter 
Zumbuschs  Leitung  ein  kleines  ergänztes  Modell  des 
ganzen  Denkmals-)  angefertigt  worden,  das  sich  in 
manchen  Museen  findet;  der  Trompetenstoß  und  das 
kreuzförmige  Tropäon  (für  den  Griechen  ein  ebenso 
verständliches  wie  für  uns  befremdliches  Siegeszeichen)'’) 


1)  Neue  arcliäolog.  Untersuchungen  auf  Samothrake, 
1880.  S.  47  ff.,  besonders  S.  79  ff. 

2)  Springer-Michaelis,  Qesch.  der  Kunst  des  Altertums, 
7.  Aufl.,  Fig.  501.  Vgl.  Neue  Unters.  S.  58  ff.  Studniczka, 
Die  Siegesgöttin  Taf.  11. 

3)  Stiidniczkas  Zweifel  an  dieser  Deutung  (a.  O.  S.  25) 
scheinen  mir  unberechtigt;  das  Tropäon  in  dieser  Kreuz¬ 
form  ist  die  Grundlage  des  konstantinischen  Labarum.  Für 


ABB.  2.  MÜNZE  DES 
DEMETRIOS  POLIOR¬ 
KETES 


114 


ERGÄNZTE  ANTIKEN 


wurden  von  der  Münze  entnommen.  Indessen  sind 
docli  nicht  alle  Zweifel  verstummt.  Sie  gründen  sich, 
soviel  ich  weiß,  auf  zwei  Erwägungen. 

Das  eine  Bedenken  ist  dem  Standorte  der  Nike 
entnommen^).  Während  die  Ptolemäerbauten  aus 
der  ersten  Hälfte  des  3.  Jahrhunderts  (Arsinoes  Rund¬ 
bau,  Ptolemäos’  11.  Torgebäude  und  der  neue  Tempel) 
sich  dicht  um  den  älteren  Tempel  gruppieren,  der 
aus  der  Milte  des  4.  Jahrhunderts  stammt,  liegt  das 
Nikedenkmal  weiter  gegen  Süden,  hinter  der  Rück¬ 
seite  des  neuen  Tempels.  Eine  solche  e.xzentrische 
Lage,  so  meint  man,  sei  schwer  erklärlich  bei  einem 
Monumente,  das  den  Hauptbauten  um  mehrere  Jahr¬ 
zehnte  vorausgegangen  sei;  sie  setze  diese  als  schon 
vorhanden  voraus,  daher  die  Nike 
nicht  die  des  Jahres  306  sein  könne. 

Allein  denken  wir  uns  einmal  die 
Ptolemäerbauten  ganz  fort  und  allein 
den  alten  Tempel«  an  seinem 
Platze,  so  ist  die  Nike  genau  auf 
den  Vorplatz  dieses  Tempels  ge¬ 
richtet,  in  einer  Entfernung  von  etwa 
100  Metern.  Ja,  man  darf  sagen, 
daß  sie  mit  Rücksicht  auf  den  alten 
Tempel  diesen  Platz  und  diese  Rich¬ 
tung  erhalten  hat,  während  der  pto- 
lemäische  neue  Tempel  mit  seiner 
schmucklosen  Rückseite  ihr  bis  auf 
36  Meter  nahe  rückt  und  von  hier 
aus  die  Statue  ihre  minder  günstige 
rechte  Seite  darbietet.  Am  besten 
präsentiert  sie  sich  von  der  langen 
Wandelhalle,  die  sich  östlich,  jen¬ 
seitsdestief  eingerissenen  Bachbettes, 
von  Norden  nach  Süden  etwa  95 
Meter  lang  erstreckt;  je  näher  man 
hier  der  Statue  kam,  desto  reicher 
entfaltete  sie  ihre  Reize.  Vielleicht 
ist  diese  Halle  gleichzeitig  mit  der 
Nike  entstanden-).  Wenn  nicht,  so 
war  doch  der  flache  Hügel  schon 
vor  der  Halle  da,  und  bot  jenen 
Vorzug.  Jedenfalls  läßt  sich  anneh¬ 
men,  daß  bei  der  Wahl  eben  dieses 
Platzes  für  die  Halle  der  Blick  auf 
die  Nike  ein  Wort  mitgesprochen 
habe.  Also  nichts  steht  der  Annahme  entgegen,  daß 
die  Nike  nächst  dem  alten  Tempel  das  älteste  Stück 
der  ganzen  Baugruppe  gewesen  sei. 

Das  zweite  Bedenken  gegen  die  Beweiskraft  der 
Demetriosmünze  beruht  auf  einem  Stücke  Haarschopf, 
das  sich  im  Nacken  der  hier  nur  sehr  bruchstück- 


die  Griechen  konnte  es  kein  schärferes  Zeichen  des  er¬ 
rungenen  Sieges  geben  als  das  Tropäon,  das,  auf  der 
Siegesstätte  errichtet,  den  Sieg  verewigte  und  auch  vom 
Feinde  nicht  angetastet  werden  durfte. 

1)  Vgl.  die  Karte  in  den  Neuen  Unters.  Taf.  1.  Nie¬ 
manns  Ansicht  ebenda  Taf.  76  läßt  die  Entfernungen  wohl 
etwas  zu  groß  erscheinen. 

2)  O.  Rubensohn,  Die  Mysterienheiligtiimer  in  Eleusis 
und  Samothrake,  1892,  S.  148  ff. 


weise  auf  uns  gekommenen  Statue  erhalten  haU).  Die 
Restauratoren  des  Berliner  Museums,  die  Italiener 
Freres  und  Possenti,  glaubten  danach  annehmen  zu 
müssen,  daß  der  Kopf  nicht  so  stark  gegen  die  rechte 
Schulter  gewendet  werden  dürfe,  wie  es  der  Trom¬ 
petenstoß  der  Münze  verlangt.  Allein  entscheidend 
ist  die  erhaltene  Halsgrube,  die  deutlich  die  Wen¬ 
dung  des  Halses  nach  rechts  erkennen  läßt.  Es  be¬ 
darf  nur  der  Annahme,  daß  der  Haarschopf,  von  dem 
bloß  ein  abgebrochenes  Randstück  erhalten  ist,  etwas 
breiter  gewesen  sei,  um  auch  ihn  mit  jener  Bewegung 
in  Einklang  zu  bringen:  eine  Tatsache,  von  deren 
Richtigkeit  sich  auch  Possenti  nachträglich  überzeugt 
hat-).  Man  betrachte  nur  einmal  die  von  Reinach  ') 
veröffentlichte  Ergänzung  von  Cor- 
donnier  und  Falize  (Abb.  3):  wie 
lahm  ist  die  Bewegung,  wie  seltsam 
dies  Vorwärtslaufen  ins  Blaue  hinein, 
mit  einwärts  gesetztem  rechten  Fuß! 
Das  wird  besonders  klar,  wenn  man 
die  Gestalt,  von  hinten  beginnend, 
auf  ihrer  linken,  also  der  allein  ganz 
durchgeführten  Seite,  umschreitet 
(Abb.  4).  Alles  an  der  Gestalt  ist 
in  Bewegung  und  flattert  in  dem 
frischen  Seewinde,  sie  dreht  sich  wie 
eine  Schraube  von  links  nach  rechts. 
Wie  die  Stellung  der  Füße  zeigt, 
war  sie  eben  noch  mehr  nach  ihrer 
Rechten  gewandt;  jetzt  ist  der  Sieg 
entschieden,  da  dreht  sie  sich  leb¬ 
haft  gegen  den  Bug  des  Schiffes, 
aber  während  der  rechte  Fuß  in 
seiner  Stellung  verharrt,  setzt  sich 
die  Drehung  im  Oberkörper  fort 
bis  in  die  zurücktretende  Schulter 
(Abb.  5)  es  ist  unmöglich,  diesen 
mächtigen  momentanen  Zug,  der 
den  ganzen  Körper  gleichmäßig  be¬ 
herrscht  und  in  dem  Rauschen  der 
Flügel  Halt  und  Ergänzung  findet, 
zu  hemmen  oder  gar  durch  eine 
Wendung  des  Kopfes  nach  links  zu 
zerbrechen;  der  Kopf  und  der  rechte 
Arm  müssen  dem  Gesamtzuge  fol¬ 
gen  und  sich  gegen  ihre  Rechte 
wenden,  wo  dann  die  ganze  Bewegung  im  Trom¬ 
petenstoß  ausklingt. 

Ich  habe  daher  der  Ergänzung  mit  voller  Über¬ 
zeugung  Zumbuschs  Modell  zugrunde  gelegt  und  bin 
nur  in  Einzelheiten,  wie  der  Anordnung  des  Ge¬ 
wandes  unter  dem  linken  Arm,  davon  abgewichen. 
Der  Kopf  hat,  unter  Benutzung  des  berühmten  Kopfes 
von  Pergamon,  etwas  größere  Züge  erhalten.  Einige 
der  köstlichen  flatternden  Gewandstücke^),  die  den 
Effekt  noch  bedeutend  gesteigert  haben  müssen,  habe 

1)  Neue  Unters.  S.  61  f.  Fig.  26  f. 

2)  Rubensohn  S.  149.  Studniczka,  Die  Siegesgöttin 
S.  25,  Anni.  3. 

3)  Oaz.  des  Beaux  Arls,  3.  per.,  V  (1891),  zu  S.  99. 

4)  Neue  Unters.  S.  63  f.  Fig.  33-  35. 


ABB.  3.  DIE  NIKE  VON  SAMOTHRAKE 
ERGÄNZT  VON  CORDONNIER  UND  FALIZE 


ERGÄNZTE  ANTIKEN 


115 


ABB.  4. 


DIE  NIKE  VON  SAMOTHRAKE,  ERGÄNZT 


ABB.  5. 


ich  SO  wenig-  wie  Zumbusch  anzubringen 
gewagt.  Leider  habe  ich  eine  Bemerkung 
Studniczkas’)  übersehen,  daß  auf  der 
Münze,  wie  überhaupt  nach  antikem  Brauch, 
der  die  Trompete  haltende  Arm  immer 
ganz  gerade  ausgestreckt  sei,  mit  der 
Handfläche,  auf  der  die  Trompete  ruht, 
nach  oben.  Ohne  Frage  wird  bei  sol¬ 
cher  Streckung  des  Armes  das  Ziel  der 
Bewegung  noch  bedeutend  energischer 
erscheinen.  Die  Wirkung  der  ergänzten 
Statue  an  ihrer  jetzigen  Stelle  ist  aber 
auch  so,  obschon  der  Anblick  von  vorn 
etwas  zu  steil  ist  und  der  Pfeiler  rechts 
ein  zusammenhängendes  Verfolgen  dieser 
Hauptseite  hindert,  höchst  bedeutend  und 
überzeugend-).  — 

Die  zweite  Ergänzung  betrifft  die  lem- 
nische  Athena  des  Phidias.  Amelung  hat 
in  dem  oben  angeführten  Aufsatze  (S.  1 74  ff.) 
berichtet,  wie  in  einzelnen  Stadien  der  Er¬ 
kenntnis  und  des  Experiments  dieses 
Werk  wiedergewonnen  worden  ist;  eine 
genaue  Prüfung  der  Bruch-  und  Ansatz¬ 
flächen  hat  die  Zugehörigkeit  des  Bolo¬ 
gneser  Kopfes  (Abb.  1 5  bei  Amelung)  zu  dem  Dres- 


1)  Studniczka,  Die  Siegesgöttin  S.  25. 

2)  Abgüsse  des  Kopfes  und  der  Arme  können  durch 
das  Kunstarchäologische  Institut  der  Universität  Straßburg 
für  100  M.  bezogen  werden. 


dener  Torso  (ebenda  Abb.  14)  so  sicher 
erwiesen  ’),  daß  für  jeden  Unbefangenen 
ein  Zweifel  unmöglich  ist  (Abb.  6).  Immer 
aber  blieb  noch  die  Aufgabe  übrig,  die 
so  wiedergefundene  Gestalt  angemessen 
zu  ergänzen.  Daß  der  linke  Arm  gehoben, 
der  rechte  gesenkt  war,  ergab  der  Torso 
selbst.  An  dem  Speer  in  der  Linken  ließ 
sich  also  nicht  zweifeln,  für  die  Rechte  ließ 
sich  der  abgenommene  Helm  vermuten. 
So  ist  die  Ergänzung  von  Gerber  im 
Kölner  Museum  entstanden-),  die  aller¬ 
dings  wenig  geeignet  war,  der  neuen 
Komposition  Freunde  zu  werben,  weder 
durch  die  lange  schräggesfellte  Lanze, 
noch  durch  den  wie  auf  dem  Präsentier¬ 
teller  dargebotenen  Helm. 

Bessere  Anhaltspunkte  zur  Ergänzung 
des  rechten  Armes  verdanken  wir  Furt- 
wängler.  Zuerst  wies  er  geschnittene 
Steine  nach,  die  das  Brustbild  der  Lem- 
nierin  mit  einem  Helme  neben  ihrer 
rechten  Schulter  darstelleir’).  Ließ  sich 
schon  hiernach  vermuten,  daß  der  Unterarm 
emporgerichtet  war  und  so  den  Helm 

1)  Studniczka  im  Archäolog.  Anzeiger  1899  S.  134. 

2)  Luckenbach,  Die  Akropolis  von  Athen,  2.  Aufl., 
S.  39,  Fig.  60. 

3)  Revue  archeol.  1896,  I  Taf.  1.  Jahn-Michaelis,  Arx 
Athenarum  Taf.  35,  15.  Furtwängler,  Die  ant.  Gemmen 
Taf.  50,  29. 


ABB.  6.  DIE  LEMNISCHE 
ATHENA  DES  PHIDIAS 


ERGÄNZTE  ANTIKEN 


5  1  .) 


ilielt,  so  ward  diese  Vermutung  zur  Gewißheit  durch 
ein  im  epidaurischeu  Asklepiosheiligtum  gefundenes 
Weihrelief (Abb.  7).  Dieses  stellt  nicht,  wie  man 
gewöhnlich  erklärt,  Hephästos,  sondern  den  epidau- 
rischen  Heilgott,  bequem  auf  seinen  Stab  gestützt,  im 
Vereine  mit  der  athenischen  Göttin  dar,  die  hier  in 
der  Gestalt  der  Lemnierin  auftritt.  Alles  stimmt  mit 
der  Statue  soweit  überein,  wie  es  bei  einem  solchen 
Wcihrelief  zu  erwarten  ist.  Als  Zutaten  des  Relief¬ 
bildners  dürfen  der  angelehnte  Schild  und  das  ärmel¬ 
artige  Gewandstück  am  rechten  Oberarm  gelten;  auch 
ilie  Haltung  ist  ungünstig  verweichlicht.  Um  so 
wertvoller  ist  die  Wiedergabe  des  rechten  Armes  und 
die  Form  des  von  der  Hand  gehaltenen  Helmes. 
Nach  diesen  Anhaltspunkten  habe  ich  die  Lemnierin 
schon  vor  fünf  Jahren  in  Zeichnung'-),  jetzt  im  Ab¬ 
guß  ergänzen  lassen  (Abb.  8).  Den  nächsten  Anstoß 
hierzu  gab  eine  in  großem  Maßstabe  durchgeführte 
Bronzierung  von  Abgüssen  des  Straßburger  Museums. 
Als  die  Helmform  wird  durch  das  Relief  nicht  die 
attische«  der  Kölner  Nachbildung,  sondern  die  des 
sogenannten  korinthischen  Visierhehnes  erwiesen. 
Demgemäß  ward  von  einem  guterhaltcnen  Exemplare 
der  Lipperheideschen  Sammlung-")  (jetzt  im  Berliner 
Museum)  ein  Abdruck  in  Papiermache  hergestellt  und 
mit  einem  Busche  versehen;  die  Art,  wie  der  Helm 

1)  Sitziingsber.  d.  Münchner  Akademie  1897,  1  S.  290. 
()sterreich.  Jahresliefte  1898  S.  79.  Svoronos,  Das  Athener 
Nationalmnsenm  Taf.  68  no.  1423. 

2)  Arx  Athenarnni  Taf.  37,  11. 

3)  Archäol.  Anzeiger  1905  S.  17  Nr.  23. 


ABB.  7.  ASKLEPIOS  UND  ATHENA 
WEIHREl  lEE  AUS  DEM  EPIDAURISCHEN  ASKLEPIEION 


ABB.  8.  DIE  LEMNIERIN  NACH  DEM  ERGÄNZTEN  UND 
BRONZIERTEN  ABGUSS  IM  STRASSBURGER  MUSEUM 

gehalten  wird,  ist  ebenfalls  dem  f^elief  entnommen. 
Die  Lanze  hat  eine  so  steile  Stellung  erhalten,  wie 
eine  natürliche  Haltung  des  Armes,  von  dem  nur  der 
Ansatz  antik  ist  (vergl.  Abb.  6),  zu  gestatten  schien. 

Ich  wage  zu  hoffen,  daß  diese  Ergänzung  der  Leni- 
nierin  neue  Freunde  erwerben  wird.  Der  scharf  seitwärts 
gerichtete  Blick  ist  nicht  mehr  als  bloßes  Belebungs¬ 
mittel  der  gerade  stehenden  Gestalt  aufzufassen,  son¬ 
dern  er  hat  mit  dem  Helme  seinen  natürlichen  Ziel¬ 
punkt  erhalten.  Der  aufgebogene  rechte  Arm  mit 
dem  Helm  und  der  linke  Arm  mit  dem  Speer  um¬ 
geben  symmetrisch  gleich  zwei  Flügeln  den  auf¬ 
rechten  Körper  der  Göttin.  Und  die  so  fest  ge¬ 
schlossene  Komposition  gipfelt  in  dem  bewegten  herr¬ 
lichen  Kopfe,  dessen  hervorragende  Schönheit  schon 
Lucian  preist  und  der  wesentlich  bewirkt  haben  wird, 
daß  die  Lemnierin  für  Phidias  schönstes  Werk  galt. 


ERGÄNZTE  ANTIKEN 


117 


Ein  Hauptbedenken,  das  der  Zusammenfügiing 
des  Kopfes  mit  dem  Körper  entgegengelialten  wird, 
ist  die  Kleinheit  des  Kopfes.  Während  man  etwa 
ein  Achtel  der  Körperlänge  als  Kopflänge  erwarten 
sollte,  mißt  der  Kopf,  in  der  gewöhnlichen  Weise 
gemessen,  nur  ein  Neuntel  der  Gesamtgestalt.  Aber 
die  Sache  stellt  sich  anders,  sobald  man  die  Neigung 
des  Kopfes  in  Betracht  zieht.  Der  Beschauer  sieht  den 
Kopf  eben  nicht  in  seiner  normalen  Stellung,  sondern 
durch  die  Neigung  wirkt  der  obere  Teil  des  Schädels 
mit  und  verleiht  dem  Kopfe  den  Eindruck  einer  viel 
bedeutenderen  Höhe,  ln  der  Seitenansicht  (Abb.  6) 
beträgt  der  Kopf  genau  ein  Siebentel  der  Gesamtlänge, 
in  der  Vorderansicht  (Abb.  8)  etwas  mehr  (7^3)- 


Optikers  und  Geometers« i).  Man  sieht  aus  unserer 
Statue,  was  dieser  Anekdote  zugrunde  liegt.  Übrigens 
erschien  auch  bei  der  Nike  von  Samothrake,  so  lange 
sie  im  Atelier  auf  dem  Boden  stand,  der  Kopf,  ob¬ 
schon  genau  in  normaler  Größe  gebildet,  zu  groß; 
bei  der  Aufstellung  in  der  Höhe  schwand  dieser 
Eindruck. 

Die  erwähnte  Bronzierung  gab  auch  Anlaß  zur 
Neugestaltung  zweier  Amazonensiaixxtn,  über  die 
wenige  Worte  genügen.  Man  hat  längst  erkannt, 
daß  die  kapitolinische  verwundete  Amazone,  statt  die 
fünf  Finger  der  rechten  Hand  gen  Himmel  zu  strecken, 
sich  auf  einen  Speer  gestützt  habe;  eine  von  Klüg- 
mann^)  herangezogene  Pariser  Gemme  (Abb.  9)  er- 


ABB.  10.  KAPITOLINISCHE  AMAZONE 
ERGÄNZT  IM  STRASSBURGER  MUSEUM 


ABB.  11.  MATTEISCHE  AMAZONE 
OHNE  DIE  ERGÄNZUNGEN 


Das  ist  also  mehr  als  zu  erwarten  wäre.  Es  scheint 
mir  daraus  hervorzugehen,  daß  Phidias  seiner  Gestalt 
nicht,  wie  Polyklet  es  sicher  getan  haben  würde,  ein 
Normalmaß  zugrunde  gelegt,  sondern  daß  er  die 
Maße  mit  Rücksicht  auf  die  Kopfhaltung  und  auf  die 
Wirkung  auf  den  Beschauer  bestimmt  hat.  Wem  fiele 
dabei  nicht  eine  späte  Anekdote  ein  von  zwei  Athena- 
statuen,  mit  denen  Phidias  und  Alkamenes  in  Kon¬ 
kurrenz  getreten  sein  sollten?  Niedrig  aufgestellt  er¬ 
hielt  Alkamenes  Statue  den  Vorzug,  als  aber  beide 
Statuen  ihrer  Bestimmung  gemäß  auf  Säulen  gestellt 
wurden,  erschien  Phidias  Statue,  weil  sie  eben  von 
vornherein  hierfür  berechnet  worden  war,  richtiger 
und  schöner.  So  erhielt  Phidias  das  Lob  des  besseren 

Zeitsdirift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XVIII.  H.  5 


brachte  den  urkundlichen  Beweis.  Demgemäß  ist  der 
Abguß  ergänzt  worden  (Abb.  lo).  Das  linke  Standbein 
erhält  erst  jetzt  seinen  Mithelfer  in  der  Lanze  zur 
Rechten,  und  zwischen  beiden  Stützen  wird  die  ver¬ 
wundete  Seite  entlastet.  Die  geschlossene,  ganz  aus 
der  Wunde  heraus  entwickelte  Komposition  tritt  so 
noch  klarer  hervor.  Die  matteische  Amazone  habe 
ich  dagegen  aller  fremden  Zusätze  entkleiden  lassen, 
vor  allem  des  geneigten,  schmerzbedrückten  Kopfes, 
der,  vom  kapitolinischen  Typus  entlehnt,  den  Eindruck 

1)  Tzetzes  in  den  Chiliaden  8,  353 ff.  (Overbeck,  Sclirift- 
qnellen  772.) 

2)  Kliigmann  im  Rliein.  Miis.  XXI,  S.  322  f.  und  Die 
Amazonen  S.  1.  Fmtwängler,  Meisterwerke  S.  2gi  f. 

'7 


n8 


ERGÄNZTE  ANTIKEN 


fälschte^)  (Abb.  ii).  Erst  jetzt  erscheint  die  schlanke 
kräftige  Jungdrau  in  der  blühenden  Frische  und  der 
straffen,  emporstrebenden  Haltung,  die  gerade  diesen 
T3’pus  von  den  anderen  unterscheidet  und  jeden  Ge¬ 
danken  an  eine  Verwundung’)  abweist.  Bekanntlich 
zeigi  auch  hier  eine  in  England  verschollene  Gemme 
(Abb.  12)  das  ursprüngliche  Motiv  mit  der  Spring¬ 
stange-’);  da  aber  der  zu  diesem  Typus  gehörige  Kopf 

1)  Michaelis  im  Archäol.  Jahrbuch  1886  S.  19  ff.  34  ff. 

2)  Wolters  bei  Friederichs-Wolters,  Die  Abgüsse  antiker 
Bildwerke  S.  237. 

3)  Göpels  Bedenken  gegen  die  Springstange  (Archäol. 
Jahrb.  1905  S.  110  ff.)  nehmen  von  der  Gemme,  einer  völlig 
gesicherten  authentischen  Wiedergabe  der  Gesamtstatue 
(s.  Furtwängler,  Meisterwerke  S.  297  Anm.  1),  gar  keine 
Notiz. 


noch  nicht  mit  Sicherheit  aufgefnnden  worden  isF), 
so  habe  ich  darauf  verzichtet  eine  Ergänzung  vor¬ 
nehmen  zu  lassen  und  mich  mit  dem  großen  Ge¬ 
winne  begniigi,  den  die  Entfernung  jener  störenden 
älteren  Zusätze  bringt’). 


1)  Furtwänglers  und  Löschckes  Einspruch  (Archäol. 
Anzeiger  1890  S.  164)  gegen  meine  Behauptung,  daß  der 
Kopf  der  Amazone  in  Petworth  zu  diesem  Typus  gehöre, 
muß  ich  natürlich  so  lange  gelten  lassen,  bis  mir  etwa  eine 
erneute  Untersuchung  der  Statue  vergönnt  sein  wird. 

2)  Die  Abbildungen  2,  4,  5,  8 — 12  sind  für  die  achte 
Auflage  von  Springer- Michaelis’  Handbuch  der  Kunst¬ 
geschichte  des  Altertums  gemacht  worden;  die  Aufnahmen 
für  Abb.  8,  10,  11  rühren  von  Herrn  cand.  phil.  Fritz  Töbel- 
mann  in  Straßburg  her. 


ABB.  1.  TELLER  MIT  TIEFEM  MITTELSTÜCK,  MUSTER  GRÜN  MIT  MANGANFARBIGEN  RÄNDERN 

Dm.  19,5  cm.  Sammlung  Beit 


DIE  SPANISCH -MAURISCHEN  EAYENCEN 
DER  SAMMLUNG  BEIT  IN  LONDON 


Von  Wilhelm  R.  Valentiner 


Die  Sammlung  spanisch-maurischer  Fayencen  des 
kürzlich  verstorbenen  Londoner  Kunstfreundes 
Alfred  Beit,  die  durch  Vermittelung  W.  Bodes 
von  Messrs.  Durlacher  erworben  wurde  und  sich  jetzt 
im  Besitz  des  Herrn  Otto  Beit  befindet,  ist  eine  der 
umfangreichsten  und  bedeutendsten.  Unter  den  Privat¬ 
sammlungen  kommen  ihr  nur  die  Godmans  und 
Saltings  in  London,  die  de  Osmas  in  Madrid  gleich, 
unter  den  öffentlichen  kaum  eine,  am  ehesten  die  des 
Victoria-  und  Albertmuseums. 

Die  Auswahl  ist  der  Art,  daß  sich  ein  Überblick 
über  die  ganze  Entwickelung  der  Valencianer  Industrie 
gewinnen  läßt.  Die  Mehrzahl  —  27  Fayencen  — 
stammen  aus  der  Blütezeit,  aus  dem  1 5.  Jahrhundert. 
Nur  wenige  Teller  sind  Beispiele  der  Kunst  des  folgen¬ 
den  Jahrhunderts,  in  dem  derVerfall  derTechnik  beginnt. 
Ein  Gefäß  und  ein  Albarello  sind  noch  später,  im  17. 
oder  18.  Jahrhundert  entstanden  und  geben  eine  leere 
und  flüchtige  Imitation  früherer  Ornamente.  Zwei 
kleine  Schüsseln,  die  ein  grünes,  mangan-umrissenes 
Muster  auf  weißem  Grund  haben,  lassen  die  spanische 
Fayencekunst  vordem  1 5.  Jahrhundert  kennen  lernen. 
Schließlich  fehlt  es  nicht  an  zwei  Exemplaren  einer 
Grenzkunst  der  Valencianer  Fayenceindustrie,  an  jenen 
gold  auf  blau  ausgeführten  Albarelli,  die  in  öffent¬ 
lichen  Sammlungen  öfters  mit  Unrecht  als  sizilianisch 
bezeichnet  werden,  tatsächlich  in  Spanien  —  wo,  läßt 
sich  einstweilen  nicht  angeben  —  im  1 7.  Jahrhundert, 


wahrscheinlich  unter  Einfluß  einer  Gruppe  ähnlich 
bemalter  persischer  Weichporzellane  gefertigt  sind. 

Die  Anfänge  (14.  Jahrhundert) 

Die  zwei  grünbemalten  Schüsseln  des  14.  Jahr¬ 
hunderts  gehören  zu  einer  Gruppe  von  Fayencen,  die 
erst  seit  kurzem  von  W.  Bode,  A.  Pit  und  anderen 
als  spanisch  erkannt  wurden  und  noch  von  einigen 
Forschern  für  italienisch  angesehen  werden.  Die 
kleine  Gruppe  besteht  aus  zwei  kleinen  Fayencen 
gleicher  Form  in  Amsterdam  und  auf  der  Versteige¬ 
rung  Boy  in  Paris  und  einem  größeren  Teller  auf 
derselben  Auktion');  dazu  kommt  ein  großes  Gefäß, 
jetzt  bei  Durlacher,  auf  das  mich  W.  Bode  auf¬ 
merksam  machte,  und  einzelne  Scherben  im  Briti¬ 
schen  Museum  und  angeblich  bei  de  Osma.  Der 
Wichtigkeit  wegen  bilde  ich  die  vier  kleinen  Schüs¬ 
seln  samt  dem  großen  Gefäß  nebeneinander  ab  2) 
(Abb.  1 — 3).  In  der  Farben-  und  Formengebung 
stehen  sie  den  italienischen  grünen  Majoliken  der¬ 
selben  Zeit  sehr  nahe.  Fast  jedes  einzelne  Ornament 
läßt  sich  auf  italienischen  Stücken  nachweisen,  das 
Zickzackmuster,  das  fortlaufende  S,  die  Spirale,  das 

1)  Vergl.  A.  Pit,  Bulletin  uitg.  door  den  Nederl.  Oud- 
heidh.  Bond,  Juli  1905. 

2)  Die  Photographien  der  Schüsselchen  verdanke  ich 
Dr.  A.  Pit,  die  des  großen  Gefäßes  Dr.  W.  Bode,  der 
auch  die  Aufnahmen  der  Beitschen  Fayencen  vermittelt  hat. 


17 


I  20 


DIE  SPANISCH-MAURISCHEN  FAYENCEN  DER  SAMMLUNG  BEIT  IN  LONDON 


Emblem  der  Hand,  vor  allem  auch  das  Schuppen¬ 
muster,  das  auf  dem  einen  Beitschen  Exemplar  vor¬ 
kommt.  Ebenso  ist  das  Prinzip  der  Farbenverteilung: 
Weiß,  Grün  und  Mangan  im  ganzen  das  nämliche. 
Ein  Einfluß  der  Künstler  des  einen  Landes  auf  das 
andere  muß  daher  angenommen  werden.  Wahr¬ 
scheinlicher  ist  der  Einfluß  von  seiten  Spaniens;  denn 
die  Farben  der  spanischen  Fayencen  sind  reiner  und 
technisch  besser  ausgeführt,  das  Grün  ist  stärker,  das 
Weiß  heller.  Zudem  steht  die  italienische  Majoliken¬ 
kunst  der  zweiten  Hälfte  des  15.  Jahrhunderts  unter 
spanischem  Einfluß  —  fast  alle  der  im  folgenden  ge¬ 
nannten  Muster  finden  sich  in  ungeschickterer  Form 
in  Italien  wieder  —  so  daß  anzunehmen  ist,  das 
Übergewicht  der  spanischen  Kunst  reiche  noch  weiter 
hinauf. 

Trotz  dieser  Verwandtschaft  in  der  Farbe  ist 
der  spanisch -maurische  Charakter  in  der  strengen 
geometrischen  Ornamentik  deutlich  genug.  Nament¬ 
lich  bei  dem  Stück  der  Versteigerung  Boy  erweist 
sich  der  zeitliche  und  stilistische  Zusammenhang 
mit  den  Alhambravasen  und  der  Schale  aus  Ma¬ 
laga  im  Besitz  Fr.  Sarres.  Auch  kehren  die  mei¬ 
sten  Muster  noch  auf  den  Valencianer  Fayencen 
vom  Anfang  des  15.  Jahrhunderts  wieder.  Gleich¬ 
wohl  dürfen  sie  nicht  als  die  Vorläufer  dieser 
lüstrierten  Stücke  angesehen  werden,  die,  wie  Sarre 
nachgewiesen  haU),  durch  vermittelnde  Stücke  des 
14.  Jahrhunderts  hindurch  von  der  Alhambrakunst 
herkommen.  Die  grünen  Fayencen  dienten,  wie  es 
scheint,  weniger  dem  Luxus  der  Innenräume,  wie  jene 
kostbaren  Lüsterfayencen,  als  vielmehr  der  Dekorie¬ 
rung  der  Außenarchitektur,  besonders  der  Kirchen. 
Jene  vier  Schüsselchen  befanden  sich,  wie  viele  der 
frühesten  italienischen  Majoliken,  an  Kirchenfassaden 
und  waren,  wie  ihre  Form 
lehrt,  von  vornherein  zur 
Einmauerung  bestimmt.  Da¬ 
her  ist  das  Dekor  stärker 
in  Umriß  und  Farbe,  die 
Ausführung  primitiver  und 
handwerklicher.  Die  Kunst 
scheint  neben  der  Industrie 
der  Lüsterfayencen  herzu¬ 
gehen  bis  ins  15.  Jahrhun¬ 
dert  hinein.  Denn  jenes 
große  Gefäß  im  Besitz 
Durlachers  ist  mit  einem 
Muster  dekoriert,  das  auf 
den  Lüsterfayencen  um  die 
Mitte  des  Quattrocento  vor¬ 
kommt,  und  selbst  wenn  es 
diesen  zeitlich  voranginge, 
was  bei  der  Flüchtigkeit  der 
Ausführung  nicht  eben  wahr¬ 
scheinlich  ist,  dürfte  es 
nicht  vor  Beginn  dieses  Jahr¬ 
hunderts  entstanden  sein. 

i)  Jahrbuch  der  kgl.  preuß. 

Kunstsamml.  1903.  S.  103  ff. 


Die  erste  Phase  des  75.  Jahrhunderts  (erste  Hälfte). 

Eine  nähere  Datierung  der  Valencianer  Lüster¬ 
fayencen  des  15.  Jahrhunderts  ist  erst  in  jüngster  Zeit 
ermöglicht  worden  durch  die  Arbeit  van  de  Puts: 
Hispano-moresque  wäre  of  the  XV.  Century  (1904), 
in  der  durch  Bestimmung  der  Wappen  auf  einer  An¬ 
zahl  von  Tellern  eine  zeitliche  Umgrenzung  einzelner 
Gruppen  gegeben  ist.  Bisher  zog  man  die  Zeiträume 
der  Entstehung  zu  weit  auseinander.  Man  gab  häufig 
für  das  1 4.  Jahrhundert,  was  im  Anfang  des  Quattro¬ 
cento,  für  das  16.  oder  gar  1 7.  Jahrhundert  aus,  was 
an  dessen  Ende  entstanden  ist.  In  diesem  Jahr¬ 
hundert  drängt  sich  ein  für  spanische  Kunst  außer¬ 
gewöhnlicher  Reichtum  von  Dekorationsformen  zu¬ 
sammen,  deren  stilistische  Entwickelung  im  einzelnen 
nun  erst  auf  Grund  fester  Daten  verfolgt  werden  kann. 

Das  Material  läßt  sich  etwa  in  drei  Gruppen 
gliedern.  Der  ersten  Hälfte,  namentlich  dem  ersten 
Drittel  des  Jahrhunderts  gehören  die  Fayencen  mit 
einer  strengen,  geometrischen  Ornamentik  in  schweren 
Formen  und  breiten  Linien  an.  Sie  zeigen  meist  in 
einzelnen  Feldern  Imitation  arabischer  Schrift,  deren 
Bedeutung  de  Osma  kürzlich  erklärt  hat-),  in  den 
Zwischenräumen  zugespitzte  Ovale  mit  linearen  Ver¬ 
schlingungen  und  als  Füllmuster  kleine  Spiralen  und 
Schnörkel.  Die  Einteilung  in  Felder  fällt  sofort  ins 
Auge,  da  die  zwei  angewandten  Farben  Blau  und 
Gold,  in  starken  Gegensätzen  angewandt,  in  breiten 
Flächen  nebeneinander  gestellt  sind.  Der  Schwere 
und  Strenge  der  Ornamentik  entspricht  Schlichtheit 
der  Form  des  Tellers  oder  der  Gefäße.  Die  Teller 
sind  einfach  schräg  mit  einer  leichten  Wölbung  nach 
außen  vertieft  bis  zu  einem  kleinen  flachen  Boden, 
an  dessen  Stelle  aber  auch  häufig  die  durchlaufende 

Rundung  tritt:  ein  Rand 
ist  kaum  markiert.  Die  Al- 
barelli  machen  einen  brei¬ 
ten,  etwas  plumpen  Ein¬ 
druck,  da  der  Leib  nicht 
eingezogen,  eher  etwas  aus¬ 
gebogen  ist,  Hals  und  Fuß 
geradlinig  verlaufen  und 
die  Schrägung  zwischen 
diesem  und  jenem  deutlich 
ausgeprägt  ist.  Der  Ge¬ 
samteindruck  dieser  Fayen¬ 
cen  ist  bei  einiger  Entfer¬ 
nung  kräftig  dekorativ.  Die 
besten  Exemplare  gehören 
zu  dem  schönsten,  was 
überhaupt  von  der  Valen¬ 
cianer  Kunstindustrie  her¬ 
vorgebracht  worden  ist. 
Die  Sammlung  Beit  besitzt 

1)  Es  ist  meist  das  Wort 
»alafia«  = ,  Wohlergehen“,  wie¬ 
derholt.  O.  J.  de  Osma:  Los 
letreros  ornamentales  en  la 
cerämica  morisca  del  siglo  XV 
in  »Cultura  Espagnola«  1906. 


ABB.  2A.  KLEINER  TELLER.  14.  JAHRHUNDERT 
MUSTER  GRÜN  MIT  MANOANFARBIGEN  RÄNDERN 
Amsterdam,  Ryksmuseum 


ABB.  2B.  KLEINER  TELLER.  14.  JAHRHUNDERT 
MUSTER  GRÜN  MIT  MANGANFARBIGEN  RÄNDERN 
Versteigerung  Boy  in  Paris 


ABB.  3.  GROSSES  GEEASS.  MUSTER  GRÜN  MIT  MANGAN 
Im  Besitz  von  Durlacher  Bros.,  London 


J  22 


DIE  SPANISCH-MAURISCHEN  FAYENCEN  DER  SAMMLUNG  BEIT  IN  LONDON 


einen  besonders  guten  mittelgroßen  Teller,  weiter  vier 
Albareili  und  ein  vierhenkeiiges  Gefäß  (Abb.  4 — 6). 

Die  Albareili  sind  nicht  ganz  so  sorgfältig  aus¬ 
geführt  wie  der  Teller.  Die  Gefäßform  bot  dem  Be¬ 
malen  wie  dem  Brennen 
größere  Schwierigkeiten.  In 
dieser  Zeit  namentlich,  wo 
man  in  der  Technik  noch 
nicht  die  Virtuosität  wie  in 
der  folgenden  Periode  er¬ 
reicht  hatte,  finden  sich  bei 
den  Töpfen  oft  Ungleich¬ 
mäßigkeiten  der  Glasur  und 
Ungeschicklichkeiten  der 
Zeichnung.  Zwei  der  Al- 
barelli  sind  zu  blaß  im  Ton 
und  Lüster  ausgefallen;  der 
dritte  von  gleicher  Größe 
und  das  niedrige  Gefäß 
(Abb.  4)  haben  durch  zu 
starkes  Brennen  einen  dun¬ 
kelbraunen  Ton  erhalten,  der 
an  viel  spätere  Fayencen  er¬ 
innert.  Der  vierte  kleine 
Albarello  (Abb.  5)  ist  da¬ 
gegen  in  Form  wie  in  Far¬ 
bengebung  vollkommen 
harmonisch. 

Übergangsgmppe 

Gleichzeitig  mit  dieser 
ersten  Gruppe  überwiegend 
geometrischer  Ornamentik 
bilden  sich  die  Anfänge 
einer  zweiten  Gattung  mit 
mehr  naturalistischer  Deko¬ 
ration  aus,  die  ihren  Höhe¬ 
punkt  in  den  technisch  aufs 
feinste  entwickelten  Fayen¬ 
cen  mit  Dreiblatt-  und  Blü¬ 
tenmuster  um  die  Mitte  des 
Jahrhunderts  und  in  dessen 
zweiter  Hälfte  erreicht. 

Die  Fayencen  dieser 
Übergangsphase  (Abb.  7) 
gruppieren  sich  um  den 
Teller  des  Wallacemuseums 
mit  dem  burgundischen 
Wappen(i404 — 1 430 1)  und 
zeigen  meist  an  Stelle  des 
Wappens  ein  das  ganze 
Mittelstück  überdeckendes 
Tier:  einen  Vogel,  einen 
Löwen,  gelegentlich  auch 
eine  Hindin  oder  einen 
Stier  in  gleichmäßig  füllendem  Blau.  Der  Charakter 
der  Ornamentik  ist  leichter  und  gefälliger  als  früher. 
Man  nähert  sich  wirklichen  Naturformen:  bei  den 
Tieren,  unter  denen  die  Vögel  (Kranich,  Dohle  und 


1)  Abgebildet  bei  v.  d.  Put  a.  a.  O.,  Tafel  10. 


andere)  mit  guter  Beobachtung  des  Umrisses  wieder¬ 
gegeben  sind,  und  in  den  Mustern,  die  den  Grund 
füllen:  zarte  Ranken  mit  Blüten  oder  Beerengruppen 
in  der  Mitte.  Diese  Blüten  und  die  Blattform  mit 

langem  mittleren  Ausläufer 
werden  für  die  Folgezeit 
bedeutungsvoll,  da  sie  die 
wesentlichen  Elemente  für 
die  Dekorierung  der  Fayen¬ 
cen  mit  Dreiblatt-  und  Blü¬ 
tenmuster  ausmachen. 

Zwar  ist  das  Gerippe 
des  Musters  noch  streng 
ornamental  und  fast  geome¬ 
trischen  Charakters  —  die 
Einteilung  bilden  neben¬ 
einandergelegte  Kreise,  die 
ganze  Fläche  ist  mit  Punk¬ 
ten  bedeckt  —  aber  dieser 
Grundton  ist  so  zart  an¬ 
geschlagen,  daß  er  nahezu 
verschwindet  vor  den  dar¬ 
übergelegten  blauen  Ranken, 
den  gotischen  Schriftzeichen 
oder  Tieren,  die  im  Gegen¬ 
satz  zu  der  zurückhalten¬ 
den,  klar  gesonderten  De¬ 
koration  der  vorigen  Periode 
die  Grundlinien  fast  will¬ 
kürlich  und  unsymmetrisch 
durchschneiden.  Bei  dem 
Verhältnis  von  Blau  und 
Gold  ist  in  der  Art,  wie 
breite  Flächen  überwiegend 
mit  Blau  gefüllt  werden, 
andere  dessen  ganz  ent¬ 
behren,  noch  ein  Anklang 
an  das  Prinzip  der  vorigen 
Gruppe  deutlich;  doch  sind 
in  einzelnen  Exemplaren, 
wo  Tiere  und  Schrift  nur 
untergeordnet  angebracht 
sind,  die  beiden  Farbtöne 
schon  in  feinem,  gleichen 
Wechsel  angewandt. 

Von  den  Werken  dieser 
Übergangsgruppe  besitzt 
Herr  Beit  ein  gutes  Exem¬ 
plar,  das  ganz  mit  dem 
genannten  Teller  der  Wal- 
lace  Collection  zusammen¬ 
gehört,  aber  kein  Wappen 
in  der  Mitte  zeigt.  Ein 
etwa  gleich  großes  Stück 
mit  Turm  im  Wappen  zeigt 
ein  ähnliches  Verhältnis  der  beiden  Farbtöne,  weicht 
aber  in  der  Dekoration  etwas  ab  —  große  geometrisch 
stilisierte  Blüten  sind  von  blauen  Kreisen  umzogen. 
Die  Einordnung  in  diese  Gruppe  ist  daher  nicht  über 
allen  Zweifel  erhaben,  obgleich  ein  übereinstimmen¬ 
des  Schüsselchen  im  Victoria-  und  Albert -Museum, 


ABB.  5.  ALBARELLO,  BLAU  UND  GOLDLÜSTRIERT, 
MIT  ARABISCHEN  SCHRIFTZEICHEN 
Höhe  27,5  cm.  Sammlung  Beit 


DIE  SPANISCH-MAURISCHEN  FAYENCEN  DER  SAMMLUNG  BEIT  IN  LONDON 


123 


das  deutlich  mit  den  Stücken  der  ersten  Periode 
zusammenhängt,  die  frühe  zeitliche  Ansetzung  recht- 
fertigen  kann.  —  Dagegen  fügen  sich  die  beiden 
Vogelteller  (der  eine  mit  der  Inschrift:  senora ;  der 
andere  mit:  ave  maria  gracia  plena)  gut  an  dieser 
Stelle  ein  (Abb.  7).  Die  Form,  eine  gleichmäßig  flache 
Einsenkung  mit  horizontalem  Rand,  ist  für  die  Teller 
mit  Tieren  in  der  Mitte  typisch. 

Die  zweite  Phase  (um  die  Mitte  des  15.  Jahrhunderts). 

Die  sich  unmittelbar  an  diese  Übergangsphase 
anschließende  Periode  bedeutet  den  zweiten  Höhe¬ 
punkt  der  Valencianer  Fayenceindustrie.  ln  tech¬ 
nischer  Hinsicht  sind  die  Produkte  dieses  Zeitraums 
(Abb.  8 — 10)  sogar  unübertroffen.  Die  Ornamentik 
besteht  fast  ausschließlich  im  Dreiblatt-  und  Blüten¬ 
muster  (Abb.  8  u.  9),  da¬ 
neben  kommt,  vielleicht 
zeitlich  wenig  später,  eine 
Dekoration  mit  großen 
(Abb.  10)  und  kleinen 
Weinblättern  vor.  Die 
Elemente  sind  also  natu¬ 
ralistischer,  und  zwar  vege¬ 
tabiler  Art,  freilich  natura¬ 
listisch  nur  insoweit  dies 
innerhalb  eines  strengen, 
rein  ornamentalen  Stiles 
möglich  ist.  Das  Muster 
ist  klein  und  fein  und  in 
gefälligerweise  ohne  stark 
markierte  Einteilung  in 
Felder  über  die  Fläche 
verteilt.  An  Stelle  der  Kraft 
und  Schlichtheit  der  Fayen¬ 
cen  der  ersten  Zeit  ist 
Anmut  und  Grazie  ge¬ 
treten.  Die  Kunst  hat  eine 
ähnliche  Entwickelung 
von  großen,  wuchtigen 
und  streng  stilisierten  For¬ 
men  zu  natürlichen  und 
eleganten  durchgemacht 
wie  die  Malerei  und  Pla¬ 
stik  in  der  zweiten  Hälfte  des  Quattrocento  in  Italien 
und  den  nordischen  Ländern. 

Dieses  neue  Empfinden  durchdringt  die  Form  in 
gleicher  Weise  wie  die  Farbe  und  die  Linie.  Die 
Albarelli  werden  graziöser  und  feiner  im  Umriß.  Der 
Leib  ist  eingezogen,  Hals  und  Fuß  sind  geschwungen. 
Die  Teller  werden  mannigfaltiger  gebildet.  Bisher 
kannte  man  fast  nur  eine  Form,  die  einfachste,  bei 
der  die  Schrägung  ohne  Rand  gleichmäßig  bis  zur 
Mitte  verläuft.  Diese  Bildung  findet  sich  auch  jetzt 
noch ,  aber  das  Format  ist  meist  größer,  die  Masse 
ist  dünner.  Man  fertigte  zwar  zuvor  schon  gelegent¬ 
lich  Teller  bedeutenden  Umfanges,  aber  es  waren 
Ausnahmen.  Die  meisten  jener  ersten  Gruppen  sind 
mittelgroß  (ca.  35  cm)  und  von  beträchtlicher  Schwere. 
Jetzt  dagegen  mißt  die  Mehrzahl  nahezu  50  cm  im 
Durchmesser;  diese  Größe  behielt  man  im  allgemeinen 


bei.  Der  Formenreichtum  ist  nicht  erschöpft.  Meist 
sind  die  Teller  mit  Rand  und  mit  kleinem  flachen 
Boden,  der  ein  Wappen  oder  Monogramm  Christi 
enthält,  versehen.  Oder  auch  der  Boden  ist  sehr 
groß  und  flach,  die  Wandung  setzt  vertikal,  der  Rand 
wieder  horizontal  an.  Auch  für  diese  Formen  gibt 
es  Vorstufen  in  der  vorhergehenden  Zeii,  aber  das 
Verhältnis  vom  Rand  zum  Mittelstück  ist  dort  primi¬ 
tiver  und  plumper,  die  Linie  des  Querschnittes  ist 
einfacher.  Man  vergleiche  beispielsweise  den  Teiler 
von  Beit  (Abb.  q)  mit  dem  für  Maria  von  Aragon ien 
gefertigten  im  Victoria-  und  Albert-Museum  ^),  beides 
Stücke  mit  steiler  Wandung.  Jener  ist  übertrieben 
tief,  der  Kragen  sehr  schmal;  bei  dem  anderen  ist 
das  Verhältnis  umgekehrt,  so  daß  der  Eindruck  von 
größerer  Gefälligkeit  entsteht.  Auch  wagte  man  bis¬ 
her  nicht,  den  Rand  leicht 
geschweift,  das  Mittelstück 
nur  am  oberen  Teil  nach 
außen  gebogen  zu  bilden 
oder  auch  bei  den  Tellern 
ohne  Rand  die  Schrägung 
in  einem  freien  Schwung 
konvex  verlaufen  zu  lassen. 

Wie  im  Ornament  ist 
in  der  Farbe  ein  feiner 
Ausgleich  der  beiden  Töne, 
blau  und  grünlich-golden 
erreicht.  Keiner  der  bei¬ 
den  Töne  beherrscht  dau¬ 
ernd  den  anderen,  weder 
an  einzelnen  Stellen  noch 
im  ganzen.  Sie  schlingen 
sich  in  reichem  Wechsel 
durcheinander  und  die 
Farbfleckchen  decken  je¬ 
weils  nicht  mehr  ais  wenige 
Quadratmillimeter.  Der 
Auftrag  ist  sorgfältig,  der 
Farbton  von  außerordent¬ 
licher  Schönheit.  Das  Blau 
tief  und  leuchtend,  und 
durch  Verwertung  von 
Kupferoxyd  bisweilen  an 
den  Rändern  der  Blüten  zum  Ausfließen  gebracht,  daß 
ein  schillernder  grünblauer  Nimbus  entsteht.  Das  Gold 
nimmt  fast  niemals  einen  kupferigen  branstigen  Ton 
an.  Die  starken  Unregelmäßigkeiten  der  ersten  Zeit, 
die  durch  ungleichen  Brand  entstanden,  weiß  man  zu 
vermeiden.  Kaum  ein  Stück  dieser  Gruppe  ist  zu 
blaß  oder  dunkel  im  Ton  ausgefallen  oder  gar  im 
Brand  mißglückt ;  jedes  kann  als  ein  Meisterwerk 
gelten. 

Fayencen  dieser  Gattung  machen  einen  guten  Teil 
der  Sammlung  Beit  aus:  sie  enthält  fünf  große  Teller 
und  einen  Albarello;  unter  diesen  einen  besonders 
interessanten  mit  dem  Wappen  der  Tondi  in  Siena-), 
und  ein  auch  aus  dieser  Gruppe,  noch  durch  Schön- 


1)  Abgebildet  bei  v.  d.  Put  a.  a.  O.,  Tafel  8. 

2)  Abgebildet  bei  v.  d.  Put  a.  a.  O.,  Tafel  22. 


ABB.  6.  TELLER  MIT  ARABISCHEN  SCHRIFTZEICHEN,  BLAU 
UND  GOLDLÜSTRIERT 
Dm.  37  cm.  Sammlung  Beit 


124 


DIE  SPANISCH-MAURISCHEN  FAYENCEN  DER  SAMMLUNG  BEIT  IN  LONDON 


heit  liervortretendes  Stück  ohne  Wappen,  bei  dem 
das  Muster  bis  zur  Mitte  durchgeführt  ist  (Abb.  8). 

Etwa  gleichzeitig  mit  dem  Dreiblatt-  und  Blüten¬ 
muster  wandte  man  das  Weinblattornament  in  seiner 
doppelten  Fassung  an;  klein  und  nur  in  Goldaus¬ 
führung  und  größer  mit  abwechselnd  blauen  und 
goldenen  Blättern.  Teller  der  ersten  Gattung  stehen 
meist  noch  auf  der  Höhe  der  eben  besprochenen 
Gruppe;  unter  denen  der  zweiten  finden  sich  häufig 
schon  gröbere  Exemplare’).  Eins  der  schönsten 
Stücke  mit  kleinem  Weinblattmuster,  das  van  de  Put“) 
noch  im  Besitz  von  Durlacher  beschrieb  und  bestimmte, 
hat  Herr  Beit  erworben:  den  Crevecoeurteller,  der 
eine  historische  Bedeutung  hat.  Er  war  einst  im 


nicht  leicht  zugängliche  Luxuskunst  geweckt  zu  haben. 
—  Der  weniger  bedeutende  Teller  mit  dem  großen 
Weinblattmuster  (Abb.  lo)  gehört  mit  der  gravierten 
Äderung  der  Blätter  und  der  flüchtigeren  Ausführung 
schon  einer  weiter  vorgerückten  Stilstufe  an.  Ein 
Albarello ,  bei  dem  die  goldenen  Weinblätter  mit 
manganfarbigen  und  blauen  wechseln,  hat  nur  inso¬ 
fern  Interesse,  als  er  zeigt,  wie  ungeschickt  spätere 
Imitationen  eines  an  sich  feinen  Musters  ausfallen 
können. 

Die  letzte  Phase  (Ausgang  des  15.  Jahrhunderts). 

Die  Blüte  der  Valencianer  Fayenceindustrie  dauerte 
nicht  lange.  Schon  im  letzten  Viertel  des  15.  Jahr- 


ABB.  7A.  TIEFER  TELLER,  BLAU  UND  QOLDLÜSTRIERT  MIT  DER  INSCHRIFT  SENORA 

Dm.  36  cm.  Sammlung  Beit 


Besitze  des  großen  französischen  Heerführers  Philippe 
de  Crevecoeur  zur  Zeit,  als  dieser  noch  unter  bur- 
gundischer  Herrschaft  diente.  Die  kunstsinnigen  bur- 
gundischen  Herzöge,  für  die  zahlreiche  Valencianer 
Fayencen  gefertigt  wurden ,  scheinen  auch  in  den 
Edlen  am  Hof  das  Interesse  für  diese  dem  Laien 

1)  Einen  schönen  Albarello  mit  dem  großen  Weinblatt¬ 
muster  hat  van  der  Goes  auf  dem  Portinarialtar  wieder¬ 
gegeben.  Der  terminus  ante  quem,  der  dadurch  für  dieses 
Muster  gewonnen  wird  (1476),  stimmt  mit  den  Angaben 
van  de  Puts  überein. 

2)  Von  ihm  abgebildet  Tafel  23  u.  24. 


hunderts  setzt  ein  Rückgang  ein,  der  sich  in  einer 
Vergröberung  der  Muster,  in  fast  ausschließlicher 
Anwendung  des  Goldes,  und  zwar  meist  eines  rot¬ 
bräunlichen  Goldtones  bemerkbar  macht.  Freilich  ist 
auch  in  dieser  Zeit  die  Erfindungskraft  noch  stark 
genug,  um  neue  Formen  zu  schaffen,  so  daß  der 
Gruppe  aus  der  Spätzeit  des  Jahrhunderts  noch  eine 
selbständige  Bedeutung  zukommt;  und  bei  einem 
Vergleiche  mit  den  Werken  des  späteren  16.  Jahr¬ 
hunderts,  —  denen  immer  noch  künstlerischer  Wert 
zu  eigen  ist,  vergleicht  man  diese  wieder  mit  Stücken 
des  17.  oder  gar  des  ig.  Jahrhunderts  —  scheinen  die 


DIE  SPANISCH-MAURISCHEN  FAYENCEN  DER  SAMMLUNG  BEIT  IN  LONDON 


1^5 


besten  noch  nahe  der  absoluten  künstlerischen  Höhe 
der  Fayencen  der  vorigen  Periode  zu  stehen. 

Die  Ornamentik  dieser  um  1 500  entstandenen 
Werke  kann  weder  mit  dem  Wort  geometrisch« 
noch  mit  dem  »naturalistisch«  bezeichnet  werden.  Bei 
den  beiden  vorkommenden  Formen,  die  unter  sich 
wieder  sehr  verschieden  sind,  finden  wir  einmal  eine 
Imitation  von  Flechtwerk,  und  zwar  wie  es  scheint 
von  Stricknetzen  mit  eng  verknoteten,  länglichen 
Maschen.  Fayencen  mit  diesem  Ornament,  die  häufig 
genug  Vorkommen,  besitzt  die  Sammlung  Beit  nicht. 
Das  andere  Mal  bestimmt  ein  geometrisch  umgeformtes 
Blattwerk  den  Eindruck,  bei  dem  die  Enden  in  breiten 
Bändern  gegeneinander  gerichtet  sind  (Abb.  13  u.  14). 


und  einem  Teller  mit  Adler  im  Wappen  Abb.  11) 
auch  noch  einen  hellen  gelblichen  Goldton.  Daß 
sie  früher  als  die  besonders  zahlreich  vertretenen 
Fayencen  mit  Rollblattmuster  entstanden  sind  (erste 
Hälfte  des  Jahrhunderts),  ist  deshalb  wohl  möglich, 
bei  dem  Teller,  der  mit  einigen  frühen  Fayencen  bei 
Godman  verwandt  ist,  selbst  wahrscheinlich. 

Während  in  der  ersten  Periode  rein  geometrische 
Formen  oder  Bandverschlingungen,  in  der  zv/eiten 
naturähnliche  Blatt-  und  Blütengebilde  die  Grundlage 
der  Ornamentik  bildeten,  besteht  jetzt  die  Dekorierung 
fast  nur  in  Blätterwerk,  und  zwar  in  einem  unwirk¬ 
lichen,  phantastisch  umgebildeten.  Diese  Blätter  zeigen 
große  schwere  Formen,  ähnlich  den  Mustern  der 


ABB.  7  B.  .TIEFER  TELLER,  BLAU  UND  GOLDLÜSTRIERT,  MIT  DER  INSCHRIFT:  AVE  MARIA  OCA  (=  ORACIA)  PLENA 

Dm.  33,5  cm.  Sammlung  Beit 


In  der  etwas  weichlichen  üppigen  Blattbildung  er¬ 
innert  dieses  Muster  merkwürdig  an  persische  Fayencen 
des  13.  und  14.  Jahrhunderts. —  Neben  diesen  Roll¬ 
blättern  kommt  eine  andere  Blatlform  vor,  die  kraut¬ 
ähnlich  gebildet  ist  und  eine  dritte,  die  dem  Löwen¬ 
zahn  gleicht.  Die  Stücke  mit  den  zwei  zuletzt  ge¬ 
nannten  Ornamentformen,  bei  denen  die  Blattform 
noch  deutlicher  den  Zusammenhang  mit  einer  Vor¬ 
lage  der  Natur  verrät  und  doch  das  Muster  strenger 
stilisiert  ist  als  bei  der  Rollblattdekoration,  sind  noch 
sehr  sorgfältig  ausgeführt  und  haben  in  den  beiden 
Exemplaren  der  Sammlung  (einem  Albarello  Abb.  12 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XVIII.  FI.  5 


ersten  Zeit.  Dünner  in  der  Form,  aber  gleichfalls 
stark  stilisiert  erscheint  die  Ornamentik  dann,  wenn 
sie  als  Strickmotiv  die  Fläche  wie  ein  Netz  überzieht. 
Hier  läßt  sich  eine  Blattform  kaum  mehr  erkennen, 
obgleich  doch  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  eine 
Umbildung  des  kleinen  Weinblattornamentes  vorliegt: 
Die  Ranken  sind  zu  Fäden,  die  Blättchen  zu  Knoten 
geworden. 

Das  Überwiegen  des  Blattwerkes  gegenüber  den 
Blüten  und  eine  größere  Einförmigkeit  ließ  sich  schon 
am  Ende  der  zweiten  Phase  beobachten,  bei  der 
großen  wie  bei  der  kleinen  Weinblattdekoration.  Indem 

iS 


DIE  SPANISCH-MAURISCHEN  FAYENCEN  DER  SAMMLUNG  BEIT  IN  LONDON 


1  26 


ABB.  8.  TELLER  MIT  DREIBLATT-  UND  BLÜTENMUSTER,  BLAU  UND  GOLDLUSTRIERT 

Din.  47  cm.  Sammlung  Beit 


nun  das  Blatt  stärker  in  den  Vordergrund  trat,  suchte 
man  diesem  eine  reichere  Ausbildung  zu  geben.  Man 
zeichnete  die  Äderung  mit  einem  spitzen  Instrument 
in  den  weichen  Farbenauftrag  ein,  so  daß  der  weiße 
Grund  zum  Vorschein  kam.  Diese  Gravierung  findet 
sich  zuerst  bei  den  Tellern  mit  kleinem  Weinblatt- 
muster  —  in  der  ersten  und  der  zweiten  Periode 
kommt  sie  nicht  vor  —  und  ist  dann  für  diese  ganze 
Gruppe  mit  großem  Blattwerk  charakteristisch.  Am 
Anfang  des  16.  Jahrhunderts  scheint  sie  wieder  zu 
verschwinden. 

In  gleichem  Verhältnis,  wie  das  Blattwerk  mehr 
und  mehr  in  den  Vordergrund  tritt,  verschwindet  die 
blaue  Farbe  und  macht  der  Herrschaft  eines  rötlichen 


Goldtones  Platz.  Das  Blau  wird  nun  nur  noch  im 
Wappen,  als  trennende  Linie  an  den  Biegungen  der 
Schüssel,  und  für  einen  viergeteilten  Stern  verwandt, 
der  vermutlich  als  Blüte  gedacht  das  Blattwerk  an 
wenigen  Stellen  unterbricht  (Abb.  12  u.  14).  Der  Ton 
selbst  hat  auch  seine  Tiefe  und  Wärme  verloren  und 
einen  kühlen  grünlichen  Schimmer  angenommen. 

Wie  das  Feingefühl  für  die  Farbe,  verliert  sich, 
wenn  auch  noch  kaum  empfindbar,  das  für  die  Form 
und  für  die  Verhältnismäßigkeit  der  Ornamentik.  Im 
ganzen  sind  die  Formen  der  Teller  und  Albarelli  die 
gleichen  wie  in  der  vorigen  Periode,  aber  der  Quer¬ 
schnitt  hat  an  Leichtigkeit  und  Biegsamkeit  der  Linie 
verloren.  In  einer  Nebensächlichkeit  wie  der  Ein- 


DIE  SPANISCH-MAURISCHEN  FAYENCEN  DER  SAMMLUNG  BEIT  IN  LONDON 


127 


ABB.  9.  TELLER  MIT  DREIBLATT-  UND  BLÜTENMUSTER,  BLAU  UND  OOLDLÜSTRIERT 

Dm.  42  cm.  Sammlung  Beit 


fügung  des  Wappens  läßt  sich  beobachten,  wie  das 
Gefühl  für  gute  Raumeinteilung  schwindet:  bald  über¬ 
schneidet  das  Wappen  in  unschöner  Weise  den  Rand 
des  flachen  Bodens  und  dehnt  sich  nach  den  schrägen 
Wandungen  zu  aus;  bald  ist  es  unverhältnismäßig  klein. 

So  deutlich  die  drei  besprochenen  Stilphasen  im 
15.  Jahrhundert  ausgeprägt  sind,  so  gegensätzlich 
die  Dekorationsformen  der  einzelnen  Gruppen  ge¬ 
wählt  scheinen,  so  wenig  scharf  darf  die  zeitliche 
Grenze  zwischen  ihnen  gezogen  werden ,  so  leicht 
sind  die  Übergangsstufen,  die  zwischen  ihnen  ver¬ 
mitteln,  zu  erkennen.  Das  kleine  Weinblattmuster  ist 
vergröbert  in  der  großen  Weinblattdekoration,  und 
dieses  leitet  wieder  zu  dem  Rollblattmuster  über,  wie 


das  Gefäß  mit  vier  Öffnungen  (Abb.  14)  beweist,  auf 
dem  zwischen  das  Hauptornament  blaue  Blätter  ein¬ 
gefügt  sind,  die  ganz  die  Form  des  Weinblattes,  nur 
in  vereinfachtem  Umriß,  haben.  Den  Zusammenhang 
der  einen  Periode  mit  der  anderen  vermitteln  vor 
allem  auch  die  Dekorierungen  der  Rückseiten,  in  denen 
man  sich  langsamer  von  der  Überlieferung  befreit. 
So  kommt  die  Verzierung  mit  großen  gefiederten 
Blättern  schon  in  der  ersten  Hälfte  des  15.  Jahrhun¬ 
derts  vor,  am  besten  entspricht  sie  dann  dem  Drei¬ 
blatt-  und  Blütenmuster,  aber  noch  während  der 
ganzen  Folgezeit  wird  sie  immer  flüchtiger  angewandt. 
Auch  die  geometrische  Einteilung  der  Rückseiten  mit 
konzentrischen  Kreisen  zieht  sich  durch  alle  Phasen 


18 


DIE  SPANISCH-MAURISCHEN  EAYENCEN  DER  SAMMLUNG  BEIT  IN  LONDON 


1 28 


ABB.  10.  TELLER  MIT  DEM  GROSSEN  WEINBLATTMUSTER,  BLAU  UND  GOLDLÜSTRIERT 

Dm.  44,5  cm.  Sammlung  Beit 


hindurch,  nur  daß  man  gegen  Ende  des  Jahrhunderts 
den  Wechsel  zwischen  feineren  und  breiten  Linien 
aufgibt  und  eine  große  Spirale,  welche  die  ganze 
Fläche  bedeckt,  wählt. 

Rückgang. 

In  Zeiten  des  Niedergangs  macht  die  Kunst  An¬ 
leihen  bei  anderen  Kunstgebieten  oder  bei  den  Pro¬ 
dukten  anderer  Völker.  Von  der  Berührung  mit  dem 
Kunstgewerbe  der  anderen  europäischen  Länder  scheint 
sich  die  spanisch  -  maurische  Fayenceindustrie  zwar 
stolz  ferngehalten  zu  haben.  Als  es  ihr  an  der  Ge¬ 
staltung  neuer  Ornamente  gebrach,  wiederholte  sie 
endlos  ihre  alten  Muster  mit  einem  der  spanischen 


Dekorationskunst  eigenem  Hang,  vor  dem  Herkömm¬ 
lichen,  vor  dem  festgewordenen  Schema  neue  per¬ 
sönliche  Gedanken  zurücktreten  zu  lassen.  Für  das 
Formen  der  Fayencen  aber  macht  man  jetzt  bei  der 
orientalischen  Gold-  und  Metallschmiedekunst,  welche 
schon  lange  vor  Beginn  der  Valencianer  Industrie 
Teller  aus  Kupferblech  von  gleicher  Größe  und  Form 
geistreich  mit  feinem  Zierornament  zu  überdecken 
verstand,  Anleihen. 

Die  Beziehungen  zu  dieser  Kunst  waren  nahe¬ 
liegend.  Denn  der  Lüster  will  mit  den  schillernden 
Reflexen  der  Metallgefäße  wetteifern^).  Auch  dürften 

1)  Er  sollte  ursprünglich  die  Wirkung  der  Gold-  und 
Silbergefäße  ersetzen.  Vgl.  Fr.  Sarre,  a.  a.  O.  S.  103. 


DIE  SPANISCH-MAURISCHEN  FAYENCEN  DER  SAMMLUNG  BEIT  IN  LONDON 


12g 


ABB.  n.  TELLER  MIT  KRAUTÄHNLICHEM  BLATTWERK,  OOLDLÜSTRIERT,  DAS  WAPPEN  BLAU 

Dm.  45  cm.  Sammlung  Beit 


einzelne  Tellerformen,  wie  die  mit  großem  flachen 
Boden,  vertikaler  Wandung  und  horizontalem  Kragen, 
welche  wir  in  Valencia  schon  im  Anfang  des  15.  Jahr¬ 
hunderts  in  Gebrauch  fanden,  ihren  Ursprung  eher 
in  der  Metalltechnik  als  in  der  des  Formens  in  Ton 
haben.  Jetzt  aber  geht  man  weiter  und  bildet  das 
getriebene  Ornament  der  Metallteller  plastisch  in  einer 
dem  Material  wenig  entsprechenden  Weise  nach 
(Abb.  15).  Schon  in  der  letzten  Stilphase  des  15.  Jahr¬ 
hunderts  fing  man  an,  reliefierte  Teile  an  den  Tellern 
anzubringen.  Bei  einzelnen,  welche  mit  dem  Strick¬ 
motiv  ornamentiert  sind,  ist  die  Schrägung  durch 
erhabene  Stäbe  und  durch  Knoten  gegliedert.  Nun 
in  der  ersten  Hälfte  des  16.  Jahrhunderts  belebt  man 


die  Wandungen  eines  erhöhten  Mittelteiles  und  den 
Kragen  des  Tellers  fast  durchweg  mit  Buckeln  in 
Fischblasenform.  Noch  später,  als  man  als  Haupt¬ 
ornament  ein  Tier  wählt,  welches  die  ganze  Fläche, 
nicht  nur  das  Mittelstück,  wie  bei  den  früheren  Tier¬ 
tellern,  überdeckt,  drückt  man  die  Umrisse  in  breiten 
Linien  in  die  noch  weiche  Masse. 

So  bemüht  man  sich,  mit  einer  reicheren,  aber 
wenig  organischen  Modellierung  der  Fayencen  die 
Langweiligkeit  des  Musters  zu  verbergen.  Das  Orna¬ 
ment  macht  zwar  beim  ersten  Anblick  einen  recht 
mannigfaltigen  Eindruck.  Es  wechselt  ein  Schuppen¬ 
motiv  mit  Streublumen,  mit  Schnörkeln,  Sternchen 
und  gleichmäßig  mit  der  Farbe  überdeckten  Flächen 


130 


DIE  SPANISCH-MAURISCHEN  FAYENCEN  DER  SAMMLUNG  BEIT  IN  LONDON 


(Abb.  1 5).  Sieht  man  näher 
zu,  so  erscheint  alles  flüch¬ 
tig  und  unklar  ausgeführt, 
und  man  ist  nicht  ver¬ 
wundert  beim  Vergleich 
der  zahlreichen  Stücke  die¬ 
ser  Gruppe  zu  finden,  daß 
die  Muster  schablonen- 
mäßig  übertragen  wurden. 

—  Der  verweichlichten 
Formensprache  entspricht 
die  charakterlose  Profilie¬ 
rung.  Sie  entbehrt,  ver¬ 
glichen  mit  der  Biegung 
der  Fayencen  mit  dem  Drei¬ 
blatt-  und  Blütenmuster, 
jeder  Schärfe.  Der  äußerste 
Rand  der  Teller  ist  leicht 
nach  außen  gedrückt  und 
verläuft  ohne  Kanten  in 
einer  weichen  Kurve;  zwi¬ 
schen  Rand  und  Mittelstück 
ist  gewöhnlich  an  Stelle 
desGrates  ein  runderWulst 
angebracht.  Bei  den  Alba- 
relli  ist  die  Schrägung  am 
Hals  und  Fuß  in  den  Über¬ 
gängen  abgeschliffen,  ln 
der  Farbengebung  endlich 
ist  das  Blau  verschwunden. 

Von  dem  Charakter 
dieser  Kunst  geben  zwei 
Teller,  ein  großer  (Abb.  1 5) 
und  ein  kleinerer  mit  ge¬ 
buckelten  Rändern,  sowie 
einer  mit  einem  großen 
Hirsch  mit  eingepreßten 
Konturen  eine  genügende 
Vorstellung.  Da  sie  gute 
Exemplare  ihrer  Gattung 
sind,  so  bilden  sie  immer 
noch  künstlerisch  wert¬ 
volle  Abschlußstücke  einer 
Sammlung,  deren  Haupt¬ 
bestandteil  erfreulicher¬ 
weise  und  im  Gegensatz 
zu  einigen  öffentlichen 
Sammlungen  in  Fayencen 
des  15.  Jahrhunderts,  nicht 
in  solchen  der  Renaissance 
oder  Barockzeit,  besteht. 

Die  spanisch-maurische  Fayencekunst  ist  von  den 
Kunstfreunden  noch  wenig  beachtet,  noch  weniger 
gewürdigt.  Vielleicht  läßt  sich  eine  Erklärung  finden. 
Sie  kennt  nicht  die  bunte  heitere  Farbenpracht  ita¬ 
lienischer  Majoliken,  noch  die  Reinheit  und  das  Feuer 
der  Töne  türkischer  Halbfayencen,  noch  endlich  die 
gesättigten  warmen  Farben  des  bunten  und  blauen 
Delft.  Rechnet  man  die  selten  vorkommenden  grünen 
Majoliken  ab,  so  ist  ihr  nur  eine  Farbe,  ein  tiefes 
Blau,  und  auch  das  nur  in  einem  beschränkten  Zeit¬ 


raum,  zu  eigen.  Nur  eine 
Farbe.  Denn  der  Gold- 
lüster,  dessen  Grundton  ein 
helles  Zitrongelb,  die  Kom¬ 
plementärfarbe  zu  Blau,  ist, 
wie  im  Feuer  mißglückte 
Exemplare  (ein  solches  im 
Victoria-  und  Albertmuse- 
um)  beweisen,  ist  mehr 
Glanz  und  Licht  als  Farbe. 

Auch  die  Ornamentik 
hat  nichts,  das  in  die 
Augen  fällt.  Sie  hebt  sich 
nicht  mit  solcher  Intensität 
vom  Grund  ab,  wie  das 
charakteristische  Blattwerk 
der  sogenannten  rhodi- 
schen  Waren  von  dem 
schimmernden  Milchweiß. 
Der  Goldton  steht  auf 
gelblichem  oder  rötlichem 
Grund.  Ihr  ist  jegliches 
figürliches  Element  fremd, 
ohne  welches  die  italieni¬ 
sche  wie  die  holländische 
Keramik  undenkbar  ist. 
Endlich  sind  auch  die  Mu¬ 
ster  unendlich  einfach  und 
fast  einförmig  gegenüber 
denen,  welche  die  italieni¬ 
sche  Kunst  in  erstaunlicher 
FüllezugleicherZeit  erfand, 
Ebenso  einfach  sind  die 
Formen  der  Majoliken.  Es 
gibt  fast  nur  große  Teller 
und  Albarelli;  hie  und  da 
kommen  noch  Vasen  mit 
zwei  Henkeln,  Kannen, 
kleine  Schüsselchen,Tazzas 
und  Gefäße  mit  vier  Hen¬ 
keln  oder  vier  Öffnungen 
vor.  Die  zahlreichen  Krug¬ 
formen,  die  dickbauchigen 
Gefäße,  die  vielerlei  Ab¬ 
stufungen  der  Teller  und 
Albarelli  nach  Größe  wie 
nach  Bildung,  die  Schalen, 
figürlichen  Reliefs  usw., 
welche  die  italienische 
Kunst  hervorbrachte,  ka¬ 
men  nicht  in  Aufnahme. 
So  hat  die  Kunst  etwas  Zurückhaltendes,  schwer 
Zugängliches;  sie  ist  kühl  aristokratisch,  temperament¬ 
los  und  arm  an  Phantasie.  Auf  einem  kleinen  Ge¬ 
biet  nur  leistet  sie  Vollkommenes,  ohne  auf  Effekte 
oder  auch  nur  auf  gewinnende  Reize  auszugehen. 
Man  denkt  an  die  Malerei  Spaniens,  die  auch  im 
Gegenständlichen  so  arm  wie  keine  andere  der  euro¬ 
päischen  Länder  ist,  an  Velazquez  mit  seinen  Porträten 
Philipps,  an  Murillo  mit  seinen  Madonnen,  und  denkt 
an  die  Entwickelung  der  spanischen  Geschichte,  die 


ABB.  12.  ALBARELLO  MIT  GEZACKTEM  BLATTWERK, 
GOLDLÜSTRIERT,  DIE  STERNE  BLAU 
Höhe  29  cm.  Sammlung  Beit 


ABB.  13.  TELLER  MIT  DOPPELTEM  RAND  MIT  ROLLBLATTMUSTER,  GOLDLÜSTRIERT,  DAS  WAPPEN  TEILWEISE  BLAU 

Dm.  41,5  cm.  Sammlung  Beit 


einförmig  und  abgeschlossen,  kaum  in  Berührung 
mit  dem  übrigen  Europa,  ihren  eigenen  Gang  geht. 

Der  Reiz  liegt  in  dieser  strengen  inneren  Konse¬ 
quenz,  mit  der  die  Kunst  entwickelt  wird,  ln  der 
besten  Zeit  sind  Werke  geschaffen,  man  denke  vor 
allem  an  die  Fayencen  mit  Dreiblatt-  und  Blüten¬ 
muster,  an  denen  geradezu  die  Gesetze  für  das,  was 
dekorativ  in  reinem  künstlerischen  Sinn  ist,  abgeleitet 
werden  könnten:  Das  Ornament  überzieht  die  Fläche 
mit  einem  Netz  reicher,  gefälliger  Formen,  zwischen 
dem  stets  die  Bildung  des  Gefäßes  sichtbar  bleibt. 
Es  entfernt  sich  insoweit  von  den  natürlichen  Vor¬ 
lagen,  vegetabilischen  oder  tierischen  Elementen,  als 
es  deren  plastische  Formen  in  flächenhafte  umsetzt 
und  auch  dann  noch  auf  allzu  große  Illusion  etwa 


des  Umrisses  verzichtet.  Und  doch  wird  es  nicht  so 
abstrakt,  daß  die  Erinnerung  an  wirkliche  Natur¬ 
gebilde  nicht  geweckt  würde,  ln  die  Irrtümer,  zu 
denen  man  bisweilen  in  der  italienischen  und  hollän¬ 
dischen  Fayencekunst  kam,  dadurch,  daß  man  eine 
übertriebene  Raumillusion  weckte,  verfiel  man  nicht, 
da  man  auf  szenische  Darstellungen  von  vornherein 
verzichtete.  —  Die  Dekoration  ist  jedoch  nicht  nur 
ein  leichtes  gefälliges  Spiel.  Sie  hat  auch  den  Zweck, 
der  Form  zur  Deutlichkeit  zu  verhelfen.  Dies  ge¬ 
schieht  auf  die  Weise,  daß  Linien  oder  Streifen  ge¬ 
zogen  sind,  welche  die  Rundung  der  Fayence  nach 
einer  Seite,  und  zwar  nach  der  der  stärksten  Rundung 
hin,  betonen;  so  treten  bei  Tellern  am  meisten  die 
radialen  Linien,  nicht  konzentrische  Kreise,  bei  Alba- 


ABB.  14.  GEFÄSS  MIT  VIER  ÖFFNUNGEN  (BLUMENSTÄNDER?)  MIT  ROLLBLATEMUSTER,  GOLDLÜSTRIERT,  DIE  STERNE  BLAU 

Höhe  26  cm.  Sammlung  Beit 


DIE  SPANISCH-MAURISCHEN  FAYENCEN  DER  SAMMLUNG  BEIT  IN  LONDON 


133 


relli  die  Quer-,  nicht  die  Längsstreifen  hervor.  Denn 
die  Formen  eines  Gefäßes  werden  augenfälliger,  wenn 
man  ihre  stärksten  Biegungen  durch  Linien  angibt, 
als  wenn  man  jene  Richtungen  des  Gefäßes  linear 
betont,  die  sich  stark  einer  Geraden  nähern.  —  Die 
Farbenreize  aber  enthüllen  sich  erst,  wenn  man  den 
Gegenstand  genau  und  von  verschiedenen  Seiten  be¬ 
trachtet,  so  daß  das  Licht  die  reichen  Nuancen  des 
Lüsters  zum  Leuchten  bringt.  Die  Koloristik  läuft 
damit  nicht  Gefahr,  durch  Intensität  oder  dauernd 
gleichmäßige  Wirkung  zu  ermüden. 

Ein  Stil,  der  so  harmonisch,  rein  und  geläutert 
von  allen  persönlichen  und  gedanklichen  Zutaten  er¬ 
scheint,  konnte  freilich  nicht  lange  gewahrt  werden. 


Denn  nur  die  Kunst,  die  weniger  abstrakt  ist,  die 
in  das  bunte  Leben  des  Tages  greift  und  von  allen 
Seiten  Anregungen  aufnimmt,  kann  sich  verjüngen. 
Die  abgeschlossene  Lage  Spaniens  und  der  unzugäng¬ 
liche  Charakter  des  Volkes  brachten  don  Vorteil,  daß 
man  sich  frei  von  fremden  Einflüssen  erhieL  und  das 
Eigne  zu  einer  unerreichten  Voliendung  -  ntwickelte, 
doch  hemmten  sie  eine  lebendige  Entwickeliuig,  so 
daß  die  Produkte  der  Kunst  bald  nach  einem,  starren 
Schema  gebildet  wurden.  Die  Geschichte  der  iangrn 
Jahrhunderte  aber,  in  welchen  die  Fayencei'-dnstde 
noch  ein  eintöniges  Leben  fristete,  bezeugt,  wie  star|- 
die  formenschaffende  Kraft  in  der  kurzen  Spanne  Zeit 
ihres  Glanzes  war. 


ABB.  15.  TELLER  MIT  GEBUCKELTEM  RAND  UND  ERHÖHTEM  MITTELSTÜCK,  GOLDLÜSTRIERT 

Dm.  47  cm.  Sammlung  Beit 


Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XVI II.  H.  5 


19 


BÜCHERSCHAU 


Selected  drawings  front  old  ntasftrs  in  the  University 
Galeries  and  in  the  Library  at  Christ  Church  Oxford. 
Part.  IV.  Chosen  and  described  bySidney  Colvin.  Oxford 
and  London.  1905. 

Das  vierte  Portfolio  der  von  Sidney  Colvin  herausge¬ 
gebenen  Zeichnungen  in  Oxford  wird  eröffnet  durch  drei 
Kartons,  die  schon  wegen  der  relativen  Seltenheit  solcher 
in  großem  Maßstab  vorbereitenden  Studien,  dann,  weil  sie 
demselben  Kunstkreis  angehören,  besonderes  Interesse  be¬ 
anspruchen  müssen. 

PI.  I  reproduziert  den  Kopf  des  schreienden  Kriegers, 
der,  im  erhobenen  Arm  das  Schwert,  mit  der  anderen 
Hand  die  Standarte  gepackt  hielt  —  im  Zentrum  des  be¬ 
rühmten  Schlachtkartons  von  Leonardo,  aus  der  Gruppe 
des  »Kampfes  um  die  Standarte«.  Dieses  Stück  eines 
Kartons  ist  bisher  so  gut  wie  unbekannt  geblieben.  Es 
ergreift  einen  etwas  wie  ein  Schauer  bei  dem  Gedanken, 
es  möchte  ein  Fragment  des  Originalkartons  sein.  Doch 
der  Herausgeber  selbst,  vorsichtig,  wie  stets  in  seinem 
Urteil,  äußert  jene  Bedenken,  die  sich  bei  sorgfältigem 
Studium  aufdrängen:  es  fehle  der  spontane  Eindruck 
des  Meisterwerkes.  Er  schließt  daher,  daß  wir  hier  eine 
gleichzeitige  Kopie  vor  uns  haben,  deren  Wert  darin  be¬ 
steht,  daß  sie  ein  Stück  des  Kartons  in  Originalgröße  wieder¬ 
gibt.  Diesem  Urteil  wird  man  durchaus  beipflichten.  Aber 
selbst  hier  kann  man  etwas  von  der  gewaltigen  Größe  des 
verlorenen  Werkes  ahnend  empfinden;  es  ist  das,  was  man 
»terribile«  nennt. 

PI.  11.  Karton  für  Madonna  und  Kind,  richtig  als 
Giampetrino  bestimmt.  Leonardeskes  »Sfumato«,  bei  großer 
Schwäche  der  Form.  Gesicherte  Zeichnungen  aus  dem 
Kreise  der  Mailänder  Nachahmer  Leonardos  sind  äußerst 
selten. 

PI.  111.  Sodoma.  Madonna  mit  zwei  Heiligen.  Neben 
Reminiszenzen  an  seine  lombardische  Vergangenheit  schon 
die  von  Rom  her  stammende  Maria.  Raffaelisches  Motiv 
des  Kindes. 

PI.  IV  und  V.  Zwei  schöne  Studienblätter  Filippinos, 
Akt-  und  Gewandstudien  nach  dem  Modell.  Silberstift  auf 
bläulichem  Papier  mit  Weißhöhung.  Beide  aus  Vasaris 
Sammlung  von  Zeichnungen.  Noch  aus  der  frühen,  guten 
Zeit  Filippinos. 

PI.  VI  und  VIl.  Michelangelo.  Das  erste  Blatt  charakte¬ 
ristische  Federzeichnung  aus  den  ersten  Jahren  des  16. 
Jahrhunderts,  um  1504:  darauf  führt  auch  die  flüchtige 
Skizze  des  Kampfes  eines  Reiters  mit  Fußsoldaten,  offen¬ 
bar  im  Zusammenhang  mit  den  Arbeiten  für  den  Schlacht¬ 
karton.  Zwei  große  Pferdestudien.  Das  zweite  Blatt  mit 
verschiedenen  Entwürfen  für  »Samson  schlägt  den  Phi¬ 
lister«  etwa  vierzig  Jahre  später  enstanden  —  zwischen 
den  Cavalierizeichnungen  und  den  Studien  für  das  Jüngste 
Gericht  stehend.  Die  eine,  flüchtige  Figur  Samsons  (allein) 
erinnert  bereits  an  den  »Christus«  der  Sixtina-Komposition. 

PI.  VlII.  Raffael  oder  Timoteo  Viti.  Knabenkopf.  Den 
berühmten  Kopf  in  der  besten  Reproduktion  studieren  zu 
dürfen,  ist  gewiß  für  jeden  von  Wert,  den  die  noch  lange 
nicht  endgültig  gelöste  Autorfrage  interessiert. 

PI.  IX.  Raffael.  Sieben  sitzende  Figuren,  Entwurf 
für  die  linke  Hälfte  eines  Abendmahls.  Silberstift,  weiß 
gehöht,  auf  gelblich-violettem  Papier.  Aus  der  Antaldi- 


Sammlung.  Dieses  so  gut  wie  unbekannte  Blatt  setzt 
Herausgeber  ums  Jahr  1505  —  die  einzig  dafür  mögliche 
Epoche  in  seiner  Laufbahn.  Ich  kann  trotz  der  hohen  An¬ 
mut  und  Feinheit  leise  Bedenken  nicht  verhehlen:  schon 
spielen  Züge  des  späteren  Raffael  hinein  und  die  Formen 
(die  Hände!)  scheinen  mir,  obschon  raffaelisch,  doch  un¬ 
freier,  wie  von  einem  Schüler  in  seinem  Sinne  konzipiert. 

PI.  X.  Raffael.  Kämpfende  Männer,  Entwurf  für  die 
Grisaille  in  der  »Schule  von  Athen«.  Rötel.  Vielleicht  die 
schönste  erhaltene  Zeichnung  des  Meisters.  Unbegreiflich, 
daß  Morelli  es  hat  anzweifeln  können. 

PI.  XI.  Correggio.  Entwurf  für  Madonna  mit  Hei¬ 
ligen.  Ursprünglich  Rötelzeichnung,  dann  in  den  Konturen 
grob  mit  Bister  übergangen.  Ein  ganz  seltenes  Blatt,  bei 
dem  man  meinen  möchte,  der  Meister  habe  den  Stift  fast 
ohne  Willensakt  über  das  Papier  gleiten  lassen,  also  sollte 
sich  aus  einem  Gewirr  von  Linien  seine  Phantasie  be¬ 
fruchten  lassen.  In  einzelnen  Zügen  erkennt  man,  daß 
wir  unzweifelhaft  einen  frühen  Entwurf  der  Madonna  mit 
dem  hl.  Georg  in  Dresden  vor  uns  haben  (man  vergl. 
besonders  die  bei  Ricci,  Correggio  S.  315  abgebildete  Feder¬ 
zeichnung  der  Uffizien  mit  dem  Putto  des  Oxforder  Blattes). 
Zugleich  aber  gewahrt  man  ganz  rechts  eine  dem  großen 
Hieronymus  des  Bildes  in  Parma  eng  verwandte  Gestalt 
(im  Gegensinn).  So  gibt  uns  diese  Zeichnung  eine  Vor¬ 
stellung  davon,  wie  jene  zwei  Hauptbilder  einmal  als  Ein¬ 
heit  in  der  Phantasie  Correggios  schlummerten  und  sich 
erst  später  in  getrennte  Schöpfungen  wandelten. 

PI.  Xll.  Tizian,  Zwei  Federzeichnungen.  Die  Ma¬ 
donnenkomposition  in  Landschaft  scheint  mir  in  dem  flüch¬ 
tigen  Duktus  einen  späteren  Meister,  Nachahmer  des  Vene¬ 
zianers,  Agostino  Carracci,  zu  verraten. 

PI.  Xlll.  Zwei  Studienblätter  mit  36  Groteskfiguren 
von  Hieronymus  Bosch.  Feine,  geistvolle  Federstudien. 

PI.  XIV — XVl.  Zeichnungen  Rembrandts:  Knieender 
Johannes,  Christus  und  die  Samariterin,  allegorische  (?  oder 
biblische)  Szene  und  Landschaft. 

PI.  XVll.  Spagnoletto.  Eigenhändig  signierte,  sorg¬ 
fältig  durchgeführte  Studie  einer  alten  Frau. 

PI.  XVIII.  Poussin.  Römische  Vedute:  Blick  auf 
Sta.  Maria  in  Cosmedin  und  das  Kapitol,  vom  Vestatempel 
aufgenommen.  Wunderbar  malerisches  Blatt,  Sepia,  laviert, 
auf  grünlichem  Papier. 

P.  XIX  und  XX.  Watteau.  Das  erstere  Blatt,  mehr 
kurios  als  schön,  stellt  eine  allegorische  Komposition  vor: 
einige  Kavaliere  retten  sich  im  Nachen,  aus  stürmisch  be¬ 
wegter  See,  vor  Neptun  ans  Land,  eine  Anspielung  auf 
Watteaus  Rückkehr  aus  England  im  Jahre  1720  und  seinen 
Empfang  durch  Julienne.  Dagegen  entbehrt  das  zweite 
Blatt  —  Figurenstudien  —  für  mich  der  genialen  Grazie  des 
Meisters;  ich  möchte  hier  eher  an  Pater  denken. 

Mit  diesem  vierten  Heft  ist  die  Publikation  der  Oxford- 
Zeichnungen  nach  dem  ursprünglichen  Plan  abgeschlossen. 
Hoffentlich  entschließen  sich  die  Herausgeber  zu  weiteren 
Mappen^):  bergen  doch  die  Sammlungen  in  Oxford  noch 
so  viele,  nicht  genügend  reproduzierte  Schätze  —  allein 
von  Raffael  und  Michelangelo.  Des  Dankes  aller  Kunst¬ 
freunde  dürfen  sie  für  ihre  Gaben  gewiß  sein.  g.  Qr. 


i)  Inzwischen  ist  ein  neuer  Band  bereits  erschienen. 


[^ÜCHERSCHAU 


135 


Die  holländische  Landschaftsmalerei.  Ihre  Entstehung 
und  Entwickelung.  Von  Dr.  Johanna  de  longh,  Berlin, 
Bruno  Cassirer,  1905. 

Eine  frauenhafte  Sicherheit  und  Schlankheit  des  Vor¬ 
trages  ist  der  Hauptvorzug  dieses  Buches  der  Utrechter 
Privatdozentin.  Die  dem  Gegenstände,  über  den  sich  recht 
lange  reden  ließe,  gegebene  Vereinfachung  wird  zunächst 
nicht  unangenehm  empfunden.  Die  Atmosphäre  ist  das 
Bedingende  in  der  holländischen  Landschaft  —  »Flandern 
ist  auf  Blau,  Holland  auf  Rot  gestimmt«.  Die  »Heures 
de  Turin«,  deren  Untergang  wir  beklagen,  werden  für 
Holland  in  Anspruch  genommen,  in  der  weit  aufrollenden, 
schimmernden  Seefläche  der  Miniatur  der  »Landung«  wird 
eine  Vordeutung  auf  die  Kunst  des  Jan  Porcellis  und 
Adriaen  van  de  Velde  erblickt,  in  dem  Querstreifen  der 
»Gasse«  schon  der  Lichtschlag  des  Jan  Vermeer  gespürt. 
Der  erhöhte  Horizont  der  Altarbilder  des  15,  Jahrhunderts 
wird  aus  der  Architektonik  der  Kirche  abgeleitet,  ebenso 
die  Dreiteilung  des  Landschaftsgrundes  in  braun,  grün  und 
blau.  Eine  zureichende  Erklärung  für  die  merkwürdige 
Gebirgs-  und  Ruinenromantik  in  der  altniederländischen 
Malerei  weiß  auch  die  Verfasserin  nicht  zu  geben  —  viel¬ 
leicht  muß  man  einen  Einfluß  vom  italienischen  Trecento 
her  annehmen  —  die  paar  barocken  Felsen  des  Maas¬ 
tales  können  unmöglich  für  alles  herhalten!  Überschätzt 
wird  die  Bedeutung,  die  Jan  van  Eycks  Aufenthalt  im 
Haag  für  seine  Entwickelung  hatte.  Holländische  Land¬ 
schafts-  und  Interieurelemente  werden  im  Genter  Altar 
und  im  Arnolfinibild  entdeckt;  leider  wird,  um  festzustellen, 
was  daran  holländisch  ist,  die  holländische  Malerei  des 
17.  Jahrhunderts  herangezogen,  die  doch  wahrscheinlicher 
ihre  Qualitäten  und  Fertigkeiten  eben  den  großen  Er¬ 
oberungen  der  van  Eyck  verdankt,  so  daß  wir  uns  hier 
in  einem  Zirkel  bewegen.  —  Zur  Veranschaulichung  des 
landschaftlichen  Stiles  der  Ouwaterschule  einen  Mischling 
wie  die  »Auferweckung  des  Lazarus«  der  Sammlung  R.  v. 
Kaufmann  heranzuziehen,  ein  Bild,  das  von  der  Kritik  ab¬ 
wechselnd  als  französisch,  als  holländisch  und  gar  als 
franco-holländisch  (!)  angesprochen  wird,  dürfte  voreilig 
sein.  Feinsinnig  spricht  die  Verfasserin  über  Dirk  Bouts, 
seinen  »Elias  in  der  Wüste«  deutet  sie  als  Morgen-,  die 
»Mannalese«  als  Abendstimmung.  —  Eine  bedenkliche 
Neigung  zu  nicht  genügend  gestützten  kulturhistorischen 
Verbindungen  tritt  bisweilen  auf:  die  Erfindung  des  Härings¬ 
salzens  (S.  16)  und  die  unruhige  Politik  Karls  des  Kühnen 
(S.  43)  werden  nicht  gerade  glücklich  zur  Erklärung  kunst- 
geschichtlicher  Vorgänge  herbeigeholt.  Der  Dresdener 
Altar  Nr.  841  mit  der  Gefangennahme  Christi  und  das 
Bild  des  gleichen  Gegenstandes  von  Bouts  in  der  Münchener 
Pinakothek  sind  für  die  Verfasserin  Werke  gleicher  Hand, 
und  zwar  wahrscheinlich  des  Gerard  Horenbout,  von  dem 
wir  nicht  allzuviel  wissen:  tatsächlich  gehört  das  Dresdener 
Bild  sehr  nahe  mit  der  Sigmaringer  Verkündigung  des 
Gerard  David  und  seiner  Rouener  Heiligenversammlung, 
besonders  auch  mit  dem  frühen  Mabuse  zusammen,  während 
die  Münchener  Gefangennahme  noch  fast  alle  Eigenschaften 
Ouwaters  aufweist,  dem  Voll  neuerdings  das  Bild  direkt 
zuschreibt.  Unhaltbar  ist  die  Behauptung,  die  holländische 
Malerei  hätte  zu  Anfang  des  16.  Jahrhunderts  unterdeutschem 
Einfluß  ihr  feines  Farbengefühl  verloren;  schließlich  sind 
die  Landschaftszeichnungen  Dürers,  Holbein,  Burckmair, 
Grünewald,  der  junge  Cranach  und  Altdorfer  auch  kolo¬ 
ristisch  nicht  zu  verachten !  Hätte  die  Verfasserin  sich 
etwas  mit  dem  Glückschen  Mostaert  beschäftigt,  der  gerade 
durch  den  duftigen  »vaporösen«  Ton  seiner  Landschaften 
für  ihre  These  so  wichtig  gewesen  wäre  und  den  sie  mit 
keiner  Silbe  erwähnt  (!),  hätte  sie  bei  Engelbrechtszoon  die 
seit  1899  publizierte  Verstoßung  der  Hagar  in  der  Samm¬ 


lung  Lippmann  berücksichtigt,  so  wäre  ihr  Urteil  wohl 
anders  ausgefallen.  Daß  man  das  Petersburger  Bild  des 
Lucas  van  Leyden  als  »Jericho  die  Bürden  heilend«  be¬ 
zeichnet,  sollte  in  einem  ernsthaften  Buche  nicht  Vorkommen. 
Auch  scheint  der  Verfasserin  (S.  63)  die  schon  von  Bartsch 
festgestellte  Tatsache  unbekannt  gebliebc::  zu  sein,  daß 
Marc  Anton  in  seinem  Stich  der  »Kietterer  (B.  487)  den 
Hintergrund  des  Mahometstiches  von  Lucas  van  Leyden 
(B.  126)  kopiert  hat.  Mit  Recht  aber  wird  die  sonnige 
Farbe  der  nackten  Figuren  im  Leydener  jüngsten  Gericht 
dieses  Meisters  hervorgehoben.  Gut  wird  der  moderne 
Zug  bei  Pieter  Aertsen  betont,  vom  alten  Brueghel,  der 
sich  zum  erstenmal  zur  Flachlandschaft  bekennt,  sollte 
eingehender  die  Rede  sein.  —  Über  die  Meister  des  be¬ 
ginnenden  17.  Jahrhunderts,  wie  aus  der  lebhaften  jahres- 
zeitendarstellung  sich  die  Winter-  und  Sommerlandschaft, 
aus  der  Schilderung  der  Fischerei  das  Seestück  entwickelte, 
endlich  über  die  großartige  Verherrlichung  des  holländischen 
Himmels  bei  Hercules  Seghers  wird  manches  kluge  und 
feine  Wort  gesagt;  doch  kann  hierdurch  der  Eindruck  der 
gefährlichen  Risse  und  Lücken  des  vorhergehenden  Unter¬ 
baues  nicht  aufgehoben  werden,  und  man  wird  der  Ver¬ 
fasserin,  der  geschickte  Übersicht  und  gewinnende  Dar¬ 
stellung  gewiß  nicht  abzusprechen  sind,  für  ihr  nächstes 
Werk  mehr  Gründlichkeit  anempfehlen  müssen. 

Der  Übersetzung  merkt  man  es  stark  an,  daß  sie  von 
einem  Holländer  besorgt  wurde.  Einige  Leser  werden 
vielleicht  erst  aus  dieser  Besprechung  erfahren,  daß  mit 
dem  »Letzten  Urteil  im  Museum  zu  Ryssel«  (S.  40)  ein 
Jüngstes  Gericht  im  Museum  zu  Lille  gemeint  ist.  Druck 
und  Papier  sind,  wie  immer  bei  diesem  Verlage,  geschmack¬ 
voll  und  gediegen;  die  beigegebenen  44  Abbildungen  sind 
mit  wenigen  Ausnahmen,  zu  denen  leider  gerade  die 
Proben  aus  den  »Heures  de  Turin«  gehören,  klar  heraus¬ 
gekommen  und  erhöhen  den  Wert  des  Buches. 

Franz  Diilbcrg. 

CI.  Brentano,  Chronika  eines  fahrenden  Schülers.  Mit 
Mon  Franz  Hein.  8  **.  Heidelberg,  Winter,  1906. 

M.  6.—. 

Die  berühmte  romantische  Erzählung  besitzen  wir  in 
illustrierten  Ausgaben  bereits  von  Ed.  Steinle,  1883  er¬ 
schienen,  und  Wilhelm  Steinhausen,  schon  Ende  der  70er 
Jahre  geschaffen,  aber  erst  1898  als  »Randzeichnungen« 
herausgegeben.  Steinles  edler  Strich  hält  sich  im  allge¬ 
meinen  an  den  vornehmen,  idealen  Stil,  den  Schnorr  durch 
seine  Bibel  als  Muster  in  die  Welt  setzte.  Steinhausens 
Bilder,  namentlich  entzückendindenlandschaftlichenSkizzen, 
leiden  darunter,  daß  sie  nicht  eigentlich  als  Illustrationen 
entstanden,  sondern  lediglich  als  Tonzeichnungen,  die  auf 
photomechanischem  Wege  wiedergegeben  sind.  Beide 
Bücher  zudem  haben  ein  wenig  das  Fröstelnde  des  »Pracht¬ 
werkes«  an  sich.  Ein  intimeres  Verhältnis  zwischen  Leser 
und  Buch  wird  sich  leicht  bei  der  vorliegenden  neuen 
Ausgabe  einstellen  können.  Das  gleiche,  eine  intimere 
Beziehung,  zwischen  Bild  und  Text  hat  ja  hier  schon  statt¬ 
gefunden.  Dies  ist  der  eine  große  Hauptvorzug  Heinscher 
Illustrationskunst,  daß  er  das  Bild  so  genau  an  den  Satz, 
an  die  Type  anzupassen  weiß,  daß  beide  auf  das  engste 
miteinander  verwachsen  erscheinen,  und  unser  Auge  von 
einem  zum  anderen  gleitet,  ohne  das  Bild  als  eine  Unter¬ 
brechung  zu  empfinden.  Aber  auch  sonst  war  Hein 
unter  unseren  heutigen  Illustratoren  der  berufenste,  wenn 
nicht  gar  der  einzige,  diese  Aufgabe  gut  zu  lösen.  Oft 
genug  hat  er  bewunderungswürdige  Proben  abgegeben, 
wie  seine  Kunst  den  Geist  der  Romantik  wirklich  atmet 
und  nicht  bloß  allerlei  äußerlichen  Schnick-Schnack  und 
sentimental  verbrämte  Reminiszensen  auftischt.  Die  präch¬ 
tigen  Zeichnungen  auf  Seite  228  und  175  nebst  dem 

19* 


136 


BÜCHERSCHAU 


Frontispiz,  auch  die  auf  Seite  210  und  194  kommen  den 
schönsten  Illustrationen,  die  er  geschaffen  hat,  gleich.  Sie 
allein  machen  aus  dem  Band  schon  einen  wertvollen  Besitz. 

Piof.  Dr.  Hans  U".  Singer. 

L.  V.  Sybel,  Christliche  Antike.  Einführung  in  die  alt¬ 
christliche  Kunst.  1.  Band,  Einleitendes.  Katakomben. 
308  S.  gr.  8°  mit  4  Farbtafeln  und  55  Textbildern.  Mar¬ 
burg,  Eiwert,  1906. 

V.  Sybel  kann  das  Verdienst  beanspruchen,  die  alt¬ 
christliche  Kunst  in  den  Kreis  der  klassischen  Altertums¬ 
kunde  eingeführt  zu  haben.  Sehr  zum  Vorteil  einer  besseren, 
freieren  Erkenntnis.  Denn  wenn  auch  die  Theologen,  die 
bisher  die  Hauptarbeit  geleistet  haben,  über  die  formale 
Ausprägung  der  frühchristlichen  Kunst  durch  die  Antike 
ziemlich  einig  waren,  so  konnte  doch  von  ihrer  Seite  den 
zahllosen,  feinen  Verbindungsfäden  nicht  weiter  nachge¬ 
gangen  werden.  Ja  man  wich  offen  gestanden  diesen  Er¬ 
örterungen  vorsichtig  aus,  seitdem  die  Versuche  Raoul- 
Rochettes  und  Hasenclevers,  die  christliche  Antike  auch 
sachlich  als  »Mythologie«  zu  erweisen,  überall  abgelehnt 
waren.  Hiervon  ist  v.  Sybel  weit  entfernt.  Er  hat  das 
vollste  Verständnis  für  die  Eigenart  und  Ursprünglichkeit 
christlicher  Gedanken.  Aber  sie  erscheinen  doch  sofort 
in  einem  anderen  Lichte,  wenn  sie  in  ihre  weltgeschicht¬ 
liche  Umgebung,  in  den  lebendigen  Fluß  der  hellenistischen 
Kultur  versetzt,  ja  als  das  letzte  Ziel  und  Ergebnis  der 
gesamten  Antike  gewürdigt  werden. 

Da  das  Buch  in  erster  Linie  für  Archäologen  berechnet 
ist,  so  versteht  man  die  zuerst  befremdliche  Einleitung 
über  Glauben  und  Forschen  und  über  die  biblische  Litera¬ 
tur.  Obwohl  diese  Seiten  vom  Standpunkt  des  fortge¬ 
schrittensten  Protestantismus  geschrieben  sind,  werden  sie 
auf  die  absolute  Unkenntnis  oder  die  dumme  Skepsis  der 
Betroffenen  als  prächtige  Apologie  wirken.  Umgekehrt 
bieten  die  höchst  anschaulich  entwickelten  »jenseitsge- 
danken  des  Altertums«  (S.  38—80)  den  Theologen  viel 
Stoff  zum  Nachdenken  und  Besinnen.  Die  folgenden  Ka¬ 
pitel  über  den  Bestand  der  Denkmäler,  den  Bau  und  die 
Ausstattung  der  Katakomben  leiten  dann  zum  Kern  des 
Buches,  der  Erklärung  des  Bilderkreises  über,  der  in  drei 
Rubriken,  das  Mahl  der  Seligen,  die  Erlösung,  die  Seligen 
im  Himmel,  aufgearbeitet  wird.  Hier  werden  nun  für 
viele  der  christlichen  Typen  die  reichsten  Vorbildungen 
und  Parallelen  der  antiken  Kunst  herbeigezogen,  nicht  um 
jene  herabzusetzen,  sondern  um  die  ganze  Stimmung  und 
Weltanschauung  zu  kennzeichnen,  auf  welcher  sie  wurzelten. 
Es  ist  begreiflich,  daß  hierbei  die  konfessionell  orientierte 
Auslegung  Wilperts  in  entscheidenden  Punkten  widerlegt 
wird.  Aber  auch  evangelische  Forscher  können  aus  der 
Diskussion  lernen,  daß  die  von  ihnen  gern  gesuchte  ur- 
christliche  Reinheit  der  religiösen  Vorstellungen  keineswegs 
in  der  volkstümlich  entwickelten  Kunst  der  ersten  Jahr¬ 
hunderte  zu  behaupten  ist.  Die  Darstellung  des  Verfassers 
ist  etwas  breit  und  umständlich.  Beim  Paradies  werden 


wir  gleich  über  die  Park-  und  Gartenbaukunst  der  Alten, 
beim  Mahl  der  Seligen  über  die  Geschichte  und  Technik 
desSpeisens  unterrichtet.  Um  in  einem  Gleichnis  zu  reden, 
das  den  Sybelschen  ebenbürtig  ist:  Ehe  er  die  Pfeife  stopft, 
erzählt  er  behaglich  vom  Bau  und  der  Zubereitung  des 
Tabaks.  Die  Bilder  sind  ungleichartig  und  jedenfalls  zu 
sparsam,  die  Farbentafeln  ausgezeichnet.  Bergner. 

Studien  aus  Kunst  und  Geschichte.  Friedrich  Schneider 
zum  siebzigsten  Geburtstage  gewidmet  von  seinen 
Freunden  und  Verehrern.  Freiburg  im  Breisgau  1906, 
Herdersche  Verlagshandlung. 

In  unserer  von  scheinbar  so  unversöhnlichen  Gegen¬ 
sätzen  zerrissenen  Zeit  bedeutet  diese  glänzende  Festschrift 
ein  besonders  erfreuliches  Ereignis.  Um  einen  Domherrn 
von  Mainz  haben  sich  zur  Feier  seines  siebzigsten  Geburts¬ 
tages  mehr  als  ein  halbes  Hundert  wissenschaftlich 
arbeitender  Männer  geschart  und  der  Verehrung  für  den 
Jubilar  in  einer  literarischen  Gabe  Ausdruck  verliehen. 
In  dem  vornehm  ausgestatteten  Bande  von  fast  sechs¬ 
hundert  Seiten  werden  fast  alle  Gebiete  der  historischen 
Wissenschaften  gestreift,  aber  die  Beiträge  aus  der  Kunst¬ 
wissenschaft  sind  bei  weitem  die  zahlreichsten.  Schneider 
selbst  ist  ja  als  Forscher  auf  den  verschiedensten  Gebieten 
zu  Hause,  aber  von  jeher  hat  er  doch  der  Kunstgeschichte 
sein  vornehmstes  Interesse  geschenkt.  Er  hat  auch  praktisch 
immer  wieder  mit  Erfolg  in  schwebende  Kunstfragen  ein¬ 
gegriffen  und  manches  Denkmal  seiner  Vaterstadt  Mainz 
vor  sinnloser  Restauration  bewahrt.  So  hätte  man  die 
wissenschaftliche  Bedeutung  und  die  stark  ausgeprägte 
Persönlichkeit  dieses  Forschers  mit  dem  freien  Blick  und 
den  allseitigen  Interessen  nicht  besser  ehren  können,  als 
durch  eine  Gabe,  die  es  gleichsam  dokumentiert,  daß  man 
stets  bei  ihm  für  alle  Fragen  aus  Leben,  Kunst  und  Wissen¬ 
schaft  Verständnis  und  Förderung  gefunden  hat. 

Auch  die  für  deutsche  Verhältnisse  mehr  als  glänzende 
Ausstattung  dieses  Buches  bezeugt,  daß  Redaktion  und 
Verlag  wohl  erkannt  haben,  welche  bewußten  oder  un¬ 
bewußten  Ansprüche  ein  so  leidenschaftlicher  Bibliophile, 
ein  so  fein  organisierter  Geist,  wie  Schneider,  an  eine  ihm 
gewidmete  literarische  Gabe  machen  mußte.  Indem  man 
die  Abbildungen  auf  Tafeln  zusammenstellte,  gewann  man 
die  Möglichkeit,  für  den  Text  ein  besonders  starkes  Papier 
wählen  zu  können.  Druck,  Typen  und  Buchschmuck  sind 
so  vornehm  und  stilgerecht,  daß  das  Auge  sich  stets  von 
neuem  daran  freut.  Der  Einband  ist  nicht  zu  schwer  und 
augenscheinlich  nach  englischen  Mustern  hergestellt. 

Von  allen  denen,  die  sich  so  erfolgreich  bemüht 
haben,  diese  Festgabe  würdig  auszustatten,  möchte  ich 
nur  den  Namen  Joseph  Sauers  nennen.  Er  durfte  mit  be¬ 
rechtigtem  Stolz  diese  Gabe  in  die  Hände  des  allverehrten 
Mannes  legen,  denn  seiner  Beharrlichkeit  und  Treue  vor 
allem  gelang  die  schöne  Tat.  Ernst  steinmann. 


Herausgeber  und  verantwortliche  Redaktion:  E.  A.  Seemann,  Leipzig,  Querstraße  13 
Druck  von  Ernst  Hedrich  Nachf.,  a.  m.  b.  h.,  Leipzig 


ZEITSCHRIFT  FÜR  BILDENDE  KUNST  IQOy 


MENZEL.  ORIOINALRADIERUNO  VON  E.  BISCHOFF-CULM 


•  \ 


•i 


ORIOINALRADIERUNO  VON  FRANZ  MUTZENBECHER 


NACH  EINEM  HOLZSCHNITT  VON  EMIL  NOLDE  IN  SOEST 


DIE  ERSTE  GRAPHISCHE  AUSSTELLUNG 
DES  DEUTSCHEN  KÜNSTLERBUNDES  IM  DEUTSCHEN 
BUCHGEWERBEMUSEUM  ZU  LEIPZIG 


Die  Ausstellungen  des  deutschen  Künstlerbundes 
stehen  in  dem  Rufe  strenger  Jurierung  und 
daher  einer  weitgehenden  Freiheit  in  der 
Geltendmachung  künstlerischer  Eigenart.  Der  An¬ 
drang  zu  der  Ausstellung  war  enorm,  die  Künstler¬ 
jury  hatte  harte  Arbeit.  Was  dann  in  den  neu  her¬ 
gerichteten  Räumen  des  Deutschen  Buchgewerbe¬ 
museums  in  Leipzig  dank  dem  Eifer  des  Direktors 
Dr.  Erich  Willrich  in  geschmackvoller  Anordnung 
zur  Schau  geboten  ist,  gibt  ein  besseres  Bild  von 
den  künstlerischen  Zielen  der  modernen  graphischen 
Kunst  in  den  Landen  deutscher  Zunge,  als  uns  auf 
den  mannigfachen  ähnlichen  Darbietungen  der  letzten 
Jahre  gezeigt  worden  ist.  Handzeichnungen  und  die 
verschiedenen  Verfahren  vervielfältigender  Kunst  er¬ 
scheinen  in  engem  Bunde;  und  vom  vorlauten  Plakat 
bis  zum  heimlichen  Exlibris,  von  dem  sich  gern 
impressionistisch  gebenden  blockbuchmäßigen  Ge¬ 
stammel  des  modernen  Holzschnitts  bis  zur  gedul¬ 
digsten  Kupferstechermühe,  von  den  Freizügigkeiten 
der  Radierung  bis  zu  den  subtilen  Harmonien 
farbiger  Stein-  und  Holzdrucke  kann  die  ganze 
weite  Welt  der  graphischen  Künste  überblickt  werden. 
Auch  die  Karikatur  hat  auf  der  Ausstellung  ihr  Kon¬ 
tingent,  Zille  in  Charlottenburg  pflegt  sie  mit  Vorliebe 
und  satirischem  Bewußtsein,  andere  wieder  tragen  un¬ 
bewußt  ihr  Scherflein  zur  Belustigung  des  Publi¬ 
kums  bei. 

Nicht  nur  das  Neueste,  Allerneueste  ist  da  zu  sehen, 
auch  recht  ehrwürdig  alte  Versuche  graphischer  Kunst 
wie  die  Radierungen  Stucks,  ältere  Zeichnungen  des 
Grafen  von  Kalckreuth,  Leistikows,  feine  Schabkunst¬ 
blätter  Pankoks  grüßen  wie  gute  alte  Bekannte  in¬ 
mitten  einer  tumultuarischen  Menge  junger  undjüngster. 
Es  ist  nicht  ganz  leicht,  sich  in  den  Richtungen,  lo¬ 
kalen  Gruppen  und  Sezessiönchen  all  der  Neuen  aus- 

Zeitsclirift  für  biklende  Kunst.  N.  F.  XVUI.  H.  fi 


zukennen,  es  sind  ihrer  so  viele,  und  sie  »ziehen  so 
viel  um  ,  daß  der  Versuch,  sie  auseinander  zu  halten, 
zuschanden  wird. 

Bei  den  meisten,  die  Originalgraphik  treiben,  ist 
die  Farbigkeit  das  zeitgemäß  Neue  und  das  Streben 
nach  flächiger  Wirkung  nach  Art  der  Japaner  oder 
unserer  deutschen  Holzschnittinkunabeln  Trumpf. 
Die  von  Eckmann  und  Behrens  schon  vor  einem 
Jahrzehnt  begonnene  japanisierende  Richtung  hat  es 
künstlerisch  wohl  am  weitesten  gebracht,  sie  bewegt 
sich  in  den  Grenzen  einer  gewissen  bildmäßigen  Inti¬ 
mität.  Orlik  gehört  zu  den  überzeugtesten  deutschen 
Japanisierern;  er  weiß  auch  die  fremde  Weise  mit 
gescheitem  Witz  und  feinem  Farbengeschmack  vorzu¬ 
tragen.  Noch  lieber  als  in  diesen  Geschmacksspitz¬ 
findigkeiten  erscheint  er  uns  in  einigen  breit  vor¬ 
getragenen  Bildnissen,  wie  im  Porträt  Hodlers  oder 
wie  in  seinen  Landschaften  und  Studien  slawischen 
Volkslebens.  Zuweilen  greift  Orlik  zur  Handkolorierung 
allen  Stils,  ein  Verfahren,  das  auch  der  Wiener  Franz 
von  Zülow  in  seinen  Schablonenblättern  anwendet. 
Sehr  vornehmes  Kolorit  zeichnet  die  Holzschnitte  von 
C.  A.  Reichel  in  Großgmain  aus,  seine  blaue  Dame 
auf  grauem  Boden  ist  ein  meisterhaftes  Blatt.  Karl 
O.  Petersen  in  Dachau  verrät  in  seinen  Holzschnitten, 
deren  Stoff  der  Tierwelt  entnommen  ist,  das  Studium 
der  geistreichen  Skizzen  Hokusais,  nur  scheint  er  sie 
zu  sehr  mit  Zufallswirkungen  des  Druckes  aufzu- 
putzen.  Siegfried  Berndt  in  Dresden  gibt  in  der 
Finesse  der  Tönung  den  besten  Japanisierern  nichts 
nach,  sein  Blick  auf  Loschwitz  und  die  Elbe  z.  B.  ist 
ein  entzückendes  Winterbild.  Auch  derMünchener  Daniel 
Staschus  ist  ein  Kolorist  von  wohltuender  Noblesse, 
sein  »einsames  Haus<'  gehört  zu  den  besten  Farben¬ 
holzschnitten  der  Ausstellung.  Daneben  wirken  Karl 
Thiemanns  effektvolle  Farbenblätter  fast  grell.  Dieses 


20 


13S 


GRAPHISCHE  AUSSTELLUNG  DES  DEUTSCHEN  KÜNSTLERBUNDES 


ganze  Heer  neuartiger  Sachen  eröffnet  dem  künstlerischen 
Wandschmuck  weite  Bahnen,  pflanzt  ein  neues  Reis  auf 
den  altgewordenen  Stamm.  Ünd  hier,  wo  der  Holz¬ 
schnitt  mit  der  Lithographie  um  die  Probe  kämpft, 
erscheint  er  als  der  stärkere. 

Farben-  und  Flächenwir¬ 
kung  predigt  auch  das  Plakat. 

Aber  hat  es  nicht  auf  seinem 
eigensten  Felde  die  schöne 
Lehre  vergessen  und  lehrniei- 
stert  dort,  wo  keine  Fernwir¬ 
kung,  sondern  die  Wirkung 
aus  der  Nahsicht  das  natürliche 
ist?  Ich  fürchte,  das  schöne 
Dogma  von  der  großen  Linie, 
dem  breiten  Farbenfleck,  hat 
uns  um  eine  Menge  feine  Kunst¬ 
blätter  und  viel  edlen  Buch¬ 
schmuckgebracht.  Alles  scheint 
nur  für  die  Wand  oder  die 
Anschlagsäule  gedacht,  nichts 
mehr  will  mit  jener  Liebe  in 
der  Nähe  betrachtet  sein,  die 
ein  hoher  Gennß  der  alten 
Liebhaber  gewesen  ist.  Dabei 
schreien  die  Bibliophilen  und 
Verleger  nach  dem  Buchlieb¬ 
haber,  nach  dem  Schätzer  des 
gut  gedruckten  Kunstblattes 
und  Buches!  Fast  will  es 
scheinen,  als  beschränkte  sich 
die  Allerweltbibliophilie  auf 
kluge  Exlibris  und  die  präziöse 
Ausgabe  von  Übersetzungen 
aus  fremden  Literaturen.  Ist 
das  Überhandnehmen  dieser 
kostbar  ausstaffierten  Über¬ 
setzungsliteratur  wirklich  ein 
Zeichen  zunehmender  Ge¬ 
schmackskultur  in  Sachen  der 
Bücherliebhaberei?  Ist  die 
Freude  an  den  derben  Illustra¬ 
tionen  ä  la  Valotton,  an  den 
Schnörkelphantasien  älaBeards- 
ley  wirklich  echt  und  mehr 
als  der  alte  Hang  zur  Nach¬ 
ahmung  welscher  oder  eng¬ 
lischer  Art? 

Seit  mehr  als  zehn  Jahren 
sind  bei  uns  die  Sezession isten 
als  die  Erzfortschrittlichen  am 
Werke  und  immer  noch  kommt 
uns  eine  Mehrheit  der  jüng¬ 
sten  gerade  mit  Manieren  und 
Moden  fremder  Art.  Da  macht 
sich  der  eine  den  Witz,  ä  la  Raffaelli  zu  kommen, 
der  andere  tüpfelt  wie  Pissarro,  der  dritte  imitiert 
Toulouse-Lautrec  —  gewiß  ist  das  alles  recht  ge¬ 
schickt  gemacht  und  amüsant  zu  konstatieren,  aber  es 
ist  doch  recht  viel  eitle  Manieristenkunst  dabei.  Damit 
möchte  ich  mich  aber  nicht  dem  lauernden  Vorwurf 


aussetzen,  als  wäre  ich  einer  absonderlichen  Deutsch¬ 
tümelei  verfallen.  Ich  weiß  wohl,  daß  »deutsche  Art« 
nicht  in  dieser  oder  jener  technischen  Form  oder  Manier 
steckt,  aber  ich  weiß  auch,  daß  solche  aus  fremder  An¬ 
regung  quellende  Weise  ganz 
anders  durchgefühlt  werden 
muß,  um  nicht  bloß  fremd¬ 
artig  zu  wirken,  wie  das  an 
den  meistenBIättern  dieser  hoch¬ 
modernen  Art  zu  sehen  ist. 
Wie  ganz  anders  haben  andere, 
die  zu  unseren  Besten  gehören, 
wie  Max  Klinger,  wie  Uhde, 
Max  Liebermann,  sich  mit  den 
fremden  Anregungen  abge¬ 
funden,  als  die  neueren,  deren 
Variationen  fremder  Manieren 
nicht  selten  wie  die  Ergebnisse 
mehr  oder  weniger  glücklicher 
Wetten  anmuten.  Aber  lassen 
wir  uns  durch  solche  kritische 
Bemerkungen  nicht  in  dem 
Genuß  des  vielen  Guten,  das 
die  Bundesausstellung  bietet, 
stören. 

Im  ganzen  genommen  ma¬ 
chen  die  Wiener,  die  Öster¬ 
reicher  überhaupt  einen  vor¬ 
züglichen  Eindruck.  Da  ist 
Klimt  mit  seinen  fein  umris- 
senen  Akten,  die  voller  Frei¬ 
heit  und  Raffinement  stecken 
und  doch  an  die  strengen  Sub- 
tilitäten  Ingres’  erinnern,  da 
sind  Franz  von  Zülow  und 
Reichel,  der  erste  mit  Hand¬ 
zeichnungen,  der  andere  mit 
Farbenholzschnitlen,  die,  wo 
sie  nicht  glasfenstermäßige 
Effekte  anstreben  —  wie  bei 
dem  bereits  erwähnten  Mäd¬ 
chen  mit  zwei  Doggen  —  viel 
farbige  Finesse  verraten.  Otto 
Czeschka  in  Wien  zeigt  die 
kunsttechnischen  Ateliers  der 
Hof-  und  Sfaatsdruckerei  in 
Holzschnitten,  die  mit  derben 
schwarz  und  weißen  Effekten 
eine  gewisse  Intimität  nicht 
ausschließen.  .  .  Vor  mir  liegt 
ein  alter  Holzstich  nach  Menzel, 
ein  alter  Gelehrter  blickt  aus 
seiner  schmalen  Bibliothek 
sehnsüchtig  zum  Fenster  hin¬ 
aus;  es  ist  eine  Lust,  die  Fein¬ 
arbeit  dieser  Illustration  zu  studieren,  und  ich  kann 
nicht  finden,  daß  diese  alte  zeichnerische  Manier  der 
Bücherillustration,  die  wir  durch  die  Hilfsmittel  mo¬ 
derner  Reproduktionskunst  nahezu  vollkommen  ver¬ 
drängt  haben,  wirklich  gar  nichts  mehr  taugte.  In 
der  Richtung  auf  einläßlichere  Zeichnung  scheint  sich 


NACH  EINEM  KARTON  FÜR  GLASFENSTER  VON 
KOLO  MOSER  IN  WIEN 


GRAPHISCHE  AUSSTELLUNG  DES  DEUTSCHEN  KÜNSTLERBUNDES 


NACH  EINEM  HOLZSCHNITT  VON  KARL  WEIDEMEYER  IN  WORPSWEDE 


NACH  EINER  FARBIGEN  LITHOGRAPHIE  VON  ROBERT  LEONARD  IN  BERLIN 


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GRAPHISCHE  AUSSTELLUNG  DES  DEUTSCHEN  KÜNSTLERBUNDES 


nur  Steiner-Prag  in  Barmen  mit  seinen  Illustrationen 
zu  Hoffmanns  Elixieren  des  Teufels  zu  bewegen. 
Dringend  wäre  es  zu  wünschen,  daß  die  Buch¬ 
illustration  mehr  mit  der  Detaillierung,  die  die 
Nähe  des  prüfenden  Auges  verlangt,  behandelt  würde. 
Ein  starkes  Talent  freilich  wie  Albert  Haueisen  hat 
ein  paar  höchst  wirkungsvolle  Holzschnitte  in  der 
derben  Schwarzweißmanier  gebracht,  seine  Studie 
Aus  Bernau  ist  ein  kapitales  Blatt.  Den  Soester 
Emil  Nolde  reitet  der  urwüchsige  Humor  und  die 
drollige  Satire  seiner  die  Phantasie  derb  aufrütteln¬ 
den  Holzschnitte.  Max  Pechstein  in  Dresden  sucht 
ähnliche  Effekte  in  nicht  niirulcr  klotziger  Manier. 


aucli  noch,  was  E.  R.  Weiß  in  Friedenau  ausge¬ 
stellt  hat. 

Die  Radierung  hat  es  in  dem  Streben  nach 
buntfarbiger  Wirkung  nicht  leicht  im  Wettbewerb 
mit  Holzschnitt  und  Lithographie.  Olaf  Lange  in 
Dachau  hat  ohne  Zweifel  den  Preis  harmonischer 
Farbigkeit  verdient,  seine  orientalischen  Phantasien 
sind  koloristisch  von  außergewöhnlichem  Geschmack, 
es  steckt  in  diesen  farbigen  Symphonien  etwas  wie 
eine  schwüle,  die  Sinne  betörende  Verführung.  Herr¬ 
lich  ist  die  aus  grau,  rot,  gelb  und  schwarz  zusammen¬ 
fließende  Vision  von  weiblichen  Gestalten,  die  auf 
Schmetterlingen  ruhen,  prachtvoll  der  Pfauenaugen- 


NACII  EINEM  HOLZSCHNITTE  VON  ALBERT  HAUEISEN  IN  JOCKGRIM 


Eleganter  geben  sich  die  Worpsweder  Weidemeyer 
(Tänzerinnen)  und  Tappert,  und  Kirchner  in  Dresden 
verfügt  bald  über  impressionistische  Derbheit  (Lehm¬ 
grube),  bald  über  die  Suggestionskraft  der  keuschen 
Linie. 

Im  Rufe  besonders  ausgeprägter  Farbigkeit  stehen 
die  Karlsruher  und  Stuttgarter.  Volkmann  ist  mit 
einer  ganzen  Folge  seiner  wirkungsvollen  lithogra¬ 
phischen  Wandbilder  aufgefahren,  Carlos  Grethe 
bringt  in  Handzeichnungen,  Lithographien  stimmungs¬ 
volle  Impressionen  aus  dem  Hamburger  Hafen,  ein 
Schüler  Haugs,  Georg  Lebrecht  in  Stuttgart,  ein 
höchst  geschmackvolles,  farbiges  Blatt  »Die  Post¬ 
kutsche«.  Aus  seiner  Karlsruher  Zeit  stammt 


teppich,  vor  dem  die  Schlange  Salambo  umwindet. 
Die  Königin  von  Saba,  die  bei  sternenfunkelnder 
Nacht  dahingetragen  wird,  und  das  Blatt  mit  dem 
Meerweib  sind  voll  köstlicher  Farbenreize.  Die  far¬ 
bige  Radierung  leistet  hier  Dinge,  farbige  Orchestra- 
tionen,  die  ihr  früher  unerreichbar  waren. 

Wo  die  Radierung  allein  mit  ihren  natürlichen  Mitteln 
wirkt,  erscheint  sie,  allgemein  gesprochen,  nicht  son¬ 
derlich  im  Fortschritt;  doch  macht  sich  bei  ihren  An¬ 
hängern  —  deren  Kreis  erfreulicherweise  wieder 
zuzunehmen  scheint  —  ein  befruchtendes  Studium 
namentlich  Goyas,  Rembrandts,  Whistlers  und  Leperes 
bemerkbar.  Eduard  Munch  in  Kösen  hat  in  seinen 
alten  Improvisationen  doch  mehr  versprochen  als  ge- 


NACH  EINEM 
FARBIGEN  SCHA¬ 
BLONENBLATTE 


VON  FRANZ 
V.  ZÜLOW 
IN  WIEN 


NACH  EINER  STUDIE  IN  SCHABLONENSPRITZVERFAHREN 
VON  L.  H.  JUNGNICKEL  IN  WIEN 


NACH  EINEM  FARBIGEN  HOLZSCHNITTE  VON  MARTHA  WENZEL 
IN  MÜNCHEN 


GRAPHISCHE  AUSSTELLUNG  DES  DEUTSCHEN  KUNSTLERBUNDES 


;  ■  ir  von  älteren  und  neueren  Blättern 

—  sC-.c;-  (auch  Lithographien),  sind  oft  geniale 
"L  —  aber  leider  nichts  als  Ansätze. 

;  ';nr  angeregt  durch  die  zyklischen  Radierungs- 
fri  ::  Kiingers,  haben  eine  ganze  Anzahl  neuer  Ra- 
■  ^  r  r  sich  bewogen  gefühlt,  in  mehrteiligen  Blatt¬ 
folgen  als  Satiriker,  Humanitätsapostel  oder  Rüttler 
an  der  Tradition  aufzutreten.  Louis  Corinth  hat  Tragi¬ 
komödien  radiert,  interessante,  aber  wenig  befriedigende 
Versuche  in  einem  obsolet  scheinenden  historisieren¬ 
den  Genre  (allerdings  eine  alte  Arbeit  des  Künstlers 
aus  der  Mitte  der  neunziger  Jahre).  Dem  Wiener 
Rudolf  Jettmar  fließt  die  Phantasie  leichter,  und  da 
er  schon  den  Betrachter  zum  Nachdenken  anregen 
will,  denkt  er  tiefer  als  der  Berliner  Naturalist  und 
steckt  in  seine  Komposition  einen  Fleiß  und  eine 
Sorgsamkeit,  die  in  den  Zeiten  flüchtiger  Impressionen 
doppelt  anerkannt  werden  muß. 

Käthe  Kollwitz  in  Berlin  hat  mit  energischer 
Hand  und  lebhaftem  Temperament  Szenen  aus  dem 
Bauernkrieg  und  dem  Weberelend  radiert,  und  in  einer 
Art  Triptychon  schildert  sie  mit  eindringlicher  Herb¬ 
heit  das  Los  der  Zertretenen«.  In  dieser  Künstlerin 
steckt  eine  ungewöhnliche  phantastische  Vorstellungs¬ 
kraft  und  sie  trägt  ihren  Trotz  gegen  die  Gewalt  und 
ihr  Mitleid  mit  dem  Los  der  Armen  mit  schier  männ¬ 
licher  Festigkeit  vor.  Wie  frei  und  lebendig  ist  ihr 
Strich,  der  immer  nach  Ausdruck  strebt  und  den 
Künsteleien  alter  Kupferstecherhexenmeister,  in  denen 
sich  der  Dresdener  Georg  Jahn  gefällt,  aus  dem  Wege 
geht.  Lieber  derb,  grob  im  Ausdruck  als  gelehrt 
oder  geziert.  Käthe  Kollwitz  hat  für  ihre  robusten 
Werke  die  höchste  Auszeichnung  erlangt,  die  der 
deutsche  Künstlerbund  seinen  Ausstellern  als  Preis 
zu  verleihen  vermag;  den  Villa-Romana-Preis.  Auch 


Franz  Mutzenbecher  in  Stuttgart  verrät  die  Tendenz  auf 
den  Zyklus;  mit  milde  flimmernden  Lichteffekten  erzählt 
er  von  dem  weißen  Raben  —  einem  Mädchen,  das  die 
Tanten  lästern,  und  andere  in  phantastischem  Licht  ge¬ 
sehene  Szenen,  über  die  es  mitunter  wie  eine  flüch¬ 
tige  Erinnerung  an  Goya  irrt.  Selbst  bei  einem  Eigen¬ 
sinn  wie  Max  Slevogt  denkt  man,  wenn  man  das  Duell 
sieht,  an  Goya  und  gewisse  frühe  Blätter  von  Klinger, 
und  seine  Phantasie  schwelgt  in  der  Vorstellung 
schrecklicher  Geschehnisse.  Unter  den  Einzelblättern 
fallen  auf  ein  paar  breit,  flächig  behandelte  Radierungen 
von  Richard  Winckel  in  Magdeburg,  ferner  Arbeiten 
des  Karlsruhers  Hans  Brasch  jun.,  dessen  radierte  Bild¬ 
nisse  an  strenge  Altmeisterweise,  an  einen  Lukas  van 
Leiden  etwa  erinnern.  Solchen  vereinzelten  Arbeiten 
gegenüber  —  die  das  Ideal  Stauffer-Berns  waren  — 
empfindet  man  doppelt  den  Verlust  einer  in  ihrer 
strengen  Sachlichkeit  und  diskreten  Wirkung  großen 
Kunst.  Sehr  erfreuliche  Leistungen  sind  dann  die 
locker  und  geistreich  gezeichneten  Blätter  von  Walter 
Zeising  in  Dresden,  von  Harald  Tillberg  in  München, 
von  Wilhelm  Giese  in  Magdeburg  und  eine  Anzahl 
Blätter  von  Adolf  Schinnerer,  in  dem  eine  dem 
Schweizer  Welti  verwandte  Phantastik  zu  leben  scheint, 
ln  seiner  Reise  des  Tobias  (ein  Zyklus  von  i6  Blät¬ 
tern)  weiß  seine  einläßlich  konturierende  und  zart 
tönende  Manier  ansprechende  Wirkungen  zu  erreichen. 

Was  wir  hier  in  flüchtiger  Schau  hervorgehoben 
haben,  ist  eine  Auswahl,  neben  der  indessen  noch 
viel  des  Vorzüglichen  zu  sehen  ist.  Die  graphische 
Ausstellung  des  Deutschen  Künstlerbundes  beweist, 
daß  die  vervielfältigenden  Künste,  solange  sie  original 
bleiben,  um  ihre  Zukunft  nicht  zu  bangen  brauchen, 
und  sie  wird  zu  den  alten  Freunden  graphischer 
Kunst  neue  werben.  fi.  g. 


NACH  EINEM  HOLZSCHNITTE  VON  E.  NOLDE  IN  SOEST 


GRAPHISCHE  AUSSTELLUNG  DES  DEUTSCHEN  KUNSTLERBUNDES 


NACH  EINER  RADIERUNG  VON  W.  ZEISING  IN  DRESDEN  NACH  EINER  RADIERUNG  VON  .VI.  SLEVOGT  IN  BERLIN 


GRAPHISCHE  AUSSTELLUNG  DES  DEUTSCHEN  KUNSTLERBUNDES 


NACH  EINER  FARBIGEN  HANDZEICHNUNG  VON  H.  SCHLITTGEN  IN  MÜNCHEN 


NACH  EINER  FEDERZEICHNUNG  VON  FRANZ  MUTZENBECIIER  IN  STUTTGART 


GRAPHISCHE  AUSSTELLUNG  DES  DEUTSCHEN  KÜNSTLERBUNDES 


NACH  EINER  HAND- 
ZEICilNUNO  VON 


L.  V.  KALCKREUTH 
IN  STUTTGART 


NACH  EINER  BLEISTIFTSTUDIE  VON  F’AUI,  BACH  IN  BERLIN 
Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XVIII  H.  6 


AHH.  1.  ÜRCIN/FI  inUR  FINFS  SITZFNDFN  MANNFS,  FFORFNTINIS('l  I  UM  M8(l 

Samiiiluiig  Clemens 


AUSSTELLUNG  PLASTISCHER  BILDWERKE  DES  15.  UND  16.  JAHRLL 

IN  MÜNCHEN 


Von  Fritz  Buroer 


WENN  iiiclit  alle  Zeichen  trügen,  so  beginnt 
das  Münchener  Kindl  ans  dem  betäubenden 
Weihrauchsgeruch,  der  ihm  namentlich  zu 
Hause  so  überreich  bereitet  wird,  zu  erwachen  und, 
was  das  wichtigste  ist,  ohne  die  staatliche  Fuchtel  aus 
eigener  Erkenntnis  einzusehen,  daß  in  gewisser  Hinsicht 
der  Lorbeer  auf  dem  Köpfchen  doch  eigentlich  bedenk¬ 
lich  wenig  junge  Triebe  aufzuweisen  hat  und  daß  er  im 
Verhältnis  zu  dem  Kranze,  den  der  Brandenburger  Baer 
mit  erstaunlichem  Geschick  in  so  kurzer  Zeit  sich  um 
die  tatenlustige  Brust  gewunden  hat,  für  seinen  alten 
Ruhm  doch  zu  dürftig  erscheinen  möchte.  Dies  nm  so 
mehr,  als  das  unerschöpfliche  Sammelbecken  heimischer 
Landeskunst  und  der  reichen  Privatsammlungen  auch 
für  den  mächtigen  Rivalen  im  Norden  eine  ergiebige 
Quelle  zu  werden  beginnt.  Wie  sich  die  Zeiten 
ändern!  Preußische  Offiziere  gehen  nach  Japan  in 
die  Lehre  und  die  alte  bayrische  Kunststadt  muß  nach 
Berliner  Muster  ihre  Hilfstruppen  organisieren.  Eine 
dieser  Organisationen  ist  die  Gründung  des  bayerischen 
Museumsvereins,  der  mit  einer  Ausstellung  plastischer 
Kunstwerke  des  15.  und  t  6.  Jahrhunderts  in  zwei 
Räumen  des  Kunstansstellungsgebäudes  am  Königs¬ 
platz  zum  erstenmal  in  dieser  Weise  in  die  Öffent¬ 
lichkeit  getreten  ist,  um  das  zu  erstreben,  was  man 
in  Berlin  längst  erreicht  hat.  Wenn  man  an  dem 
ersten  glänzenden  Erfolge  des  Vereins  nun  etwas  aus- 
znsetzen  hat,  so  ist  es  höchstens  das,  daß  das  schöne 
Spiel  des  Debntanten  so  kurz  nur  gedauert  hat  und 


daß  Klingel  und  Trommel  erst  gerührt  wurden,  als 
man  im  Begriff  war,  die  Pforten  des  Tempels  am 
Königsplatze  schon  wieder  zu  schließen.  Ausstellungen 
mit  solch  feinsinnigem  Geschmack  und  doch  in  so 
anspruchsloser  Weise  arrangiert  wie  diese,  lassen  er¬ 
kennen,  daß  neben  dem  erwachenden  opferwilligen 
Mut  und  frischer  Initiative  noch  die  alte  künstlerische 
Tradition  in  München  wirksam  ist,  die  zu  schönen 
Hoffnungen  auch  für  die  Zukunft  berechtigt.  Und 
dabei  handelt  es  sich  durchaus  nicht  um  eine  General¬ 
revue  der  Münchener  Kunstschätze  im  Privatbesitz, 
keine  groß  angelegte  Ausstellung,  wie  sie  etwa  vor 
fünf  Jahren  am  selben  Ort  von  der  Sezession«  ver¬ 
anstaltet  wurde,  bei  der  die  Räume  des  Gebäudes 
kaum  ausreichten,  nm  die  Schätze  alle  zu  fassen,  son¬ 
dern  nur  um  einige  wenige  Münchener  Sammlungen, 
die  hier  beschränkt  auf  die  Plastik  des  15.  und  16. 
Jahrhunderts,  ihre  Kunstwerke  für  kurze  Zeit  vor 
weiteren  Kreisen  ausbreiteten,  darunter  aber  kaum 
ein  Stück  von  denen,  die  vor  fünf  Jahren  zu  sehen 
waren.  Das,  was  hier  geboten  war,  konnte  auch 
das  verwöhnte  Auge  eines  regelmäßigen  Besuchers 
ähnlicher  Ansstellungen  in  London  oder  Paris  ent¬ 
zücken.  Im  folgenden  kann  natürlich  nur  eine  Aus¬ 
lese  der  bedeutendsten  Stücke  gegeben  werden,  die 
aber  namentlich  mit  Rücksicht  auf  die  reichen  Schätze 
der  deutschen  Holz-  und  Elfenbeinplastik  sowie  der 
kunstgewerblichen  Arbeiten  bei  weitem  nicht  alles 
LIervorragende  umfaßt. 


AUSSTELLUNG  PLASTISCHER  BILDWERKE  IN  MÜNCHEN 


147 


/.  Italienische  Renaissancewerke. 

Die  Kunst  der  Arnostadt  ist  mit  einigen  besonders 
wertvollen  und  interessanten  Bronzen  vertreten,  voran 
die  Figur  eines  sitzenden,  nackten  Mannes  der  Samm¬ 
lung  Clemens  (Abb.  1)  aus  schwärzlicher,  glänzend 
ziselierter  Bronze.  Der  Sockel  ist  ergänzt,  so  daß 
die  gegenständliche  Bedeutung  der  Figur,  sofern  sie 
überhaupt  eine  solche  besitzt,  unklar  bleibt.  Die  Art 
des  Sitzens  ruft  sofort  das  bekannte  Tonmodell  eines 
schlafenden  Jünglings,  des  sogenannten  Adams  des 
Verrocchio  im  Raiser-Friedrich- Museum  in  Berlin,  in 
Erinnerung,  von  dem  sich  die  Bronze  durch  die  auf¬ 
rechte  Haltung  des  Oberkörpers  und  des  träumerisch 
das  Weite  suchenden  Kopfes,  sowie  den  stützend  aus¬ 
gestreckten  linken  und  den  gebogenen,  sich  auflehnenden 
rechten  Arm  unterscheidet.  Die  Haltung  der  Beine  ist 
dagegen  in  beiden  Figuren  annähernd  dieselbe,  und  das 
gilt  auch  für  die  künstlerische  Auffassung  und  Durch¬ 
arbeitung  des  Körpers.  Zunächst  fällt  die  echt  quattro- 
centistische,  etwas  krampfhafte  Aktion  dieser  ruhend 
gedachten  Glieder  auf.  Auch  im  Körper  drückt  sich  der 
Gegensatz  des  tätigen  Stützens  und  ruhenden  Fastens 
nur  unvollkommen  aus,  ist  das  ganze  Augenmerk  des 
Künstlers  mehr  auf  die  elegante  Durchbildung  der 
Form  als  auf  die  realistische  Differenzierung  der  Kör¬ 
perteile  gerichtet.  Die  Gruppierung  der  Extremitäten 
vollzieht  sich  noch  ganz  auf  quattrocentistische 
Weise  ohne  das  Kontrapostum  des  16.  Jahrhunderts. 

Wie  die  Anordnung  des  Ganzen,  so  führen 
auch  eine  Reihe  von  stilistischen  Einzelheiten 
von  selbst  zu  einem  Vergleich  der  Figur  mit 
den  beglaubigten  Originalwerken  Verrocchios. 

Die  scharfe  Markierung  des  Schienbeins  ist 
ebenso  wie  die  klare  Gliederung  des  anato¬ 
mischen  Organismus  besonders  an  den 
Kniegelenken  und  den  muskulösen  Waden 
eine  Eigenart  Verrocchios,  wie  sie  etwa  an 
der  Figur  des  Henkers  in  der  Enthauptung 
Johannis  am  Silberschrein  des  Museo  na- 
zionale  in  Florenz^)  oder  dem  Tonmodell 
der  Berliner  Grablegung  Christi  zu  finden 
ist.  Mit  letzterem  Werke  geht  auch  die 
anatomisch  getreue  Durcharbeitung  des 
straffen,  jugendlich  schönen  Körpers  aus¬ 
gezeichnet  zusammen,  der  so  energisch  in 
den  schmalen  Hüften  durch  die  Muskeln 
zusammengezogen  erscheint,  und  oben, 
über  den  tiefsitzenden  Brüsten  aus  den 
mageren  Fleischpartien  das  Knochengerüst 
der  Rippen  und  des  Schlüsselbeines  deut¬ 
lich  hervortreten  läßt.  Dieser  klare  ana¬ 
tomische  Aufbau,  der  der  Figur  einen 
ausgezeichneten  lebendigen  Wechsel  von 
Licht  und  Schatten  verleiht  und  die  auf¬ 
fällige  Betonung  des  Knochengerüstes 
wäre  des  wissenschaftlich  experimentieren- 


1)  Siehe  Bode,  Florentiner  Bildhauer  der 
Renaissance,  Taf.  446,  u.  Marcel  Reymond,  La 
sculpture  florentine,  S.  m.  d.  XV.  S.  216. 


ABR.  2.  FRANCESCO  DA 
SANT’  AOATA.  BRONZE¬ 
STATUETTE 
Sammlung  Pringsheim 


den  Meisters  durchaus  würdig.  Der  bäuerische  Kopf 
erinnert  etwas  an  Antonio  Pollajuolo,  ebenso  auch 
die  gezierte  Haltung  der  Hand;  übrigens  finden  sich 
auf  neuerdings  von  Bode  mit  Recht  Verrocchio  ge¬ 
gebenen  Reliefs  mit  der  Darstellung  der  Wirkung  der 
Eifersucht  im  South -Kensington- Museum  \r  London 
ganz  ähnliche  sitzende  Gestalten  wie  diese.  Zur  Vor¬ 
sicht  gemahnen  nur  die  auffällig  plumpen  Gelenke  der 
Füße,  von  denen  der  rechte  überhaupt  merkwürd.g 
von  der  übrigen  gewissenhaften  Durchbildung  des 
Körpers  absticht,  der  zu  starke,  unschöne  Hals  und 
die  klobigen  Oberschenkel,  deren  rechter  zu  kurz  ge¬ 
raten  zu  sein  scheint.  Über  den  Zweck  der  Figur 
ist  schwer  etwas  zu  vermuten.  Vielleicht  gehörte  sie 
ehemals  einem  kunstgewerblichen  Gegenstände  an, 
wogegen  freilich  die  Ziselierung  der  Bronze  spricht^). 

Ein  nicht  minder  wertvolles  Stück  (Abb.  2)  ist 
eine  köstliche  florentinische  Kleinbronze  (Sammlung 
Pringsheim),  eine  Jünglingsfigur  darstellend,  die  in 
graziöser,  traumhafter  Bewegung  die  Arme  über  den 
Kopf  gelegt  hat,  um  die  wundervolle  Silhouette  des 
jugendlich  -  schmächtigen  Körpers  mit  einer  praxi- 
telischen  Anmut  und  Weichheit  ungeschmälert  dem 
Beschauer  darzubieten.  Die  zierliche  Pose,  besonders 
die  Haltung  der  Arme  ist  wohl  zweifellos  einer  an¬ 
tiken  Hypnosfigur  nachgebildet,  aber  der  Künstler 
hat  doch  mit  feinsinnigem  Takt  einem  gelinden  Natu¬ 
ralismus  in  der  Behandlung  der  präziösen  Körper¬ 
formen  gehuldigt,  wie  er  für  Francesco  da  Sant' 
Agata  charakteristisch  ist,  dem  Schöpfer 
jener  reizvollen  bezeichneten  Buchsstatuette 
eines  Herkules  in  der  Wallace-Collektion  in 
London,  auf  Grund  deren  Bode  dem  Meister 
das  allerdings  erheblich  geringere  Duplikat 
der  Statuette  im  Berliner  Museum  zuge¬ 
schrieben  hat").  Unsere  Figur  gibt  einem 
der  schönsten  Werke  des  Meisters,  der  wun¬ 
dervollen  bronzenen  Ringergruppe  im  Pariser 
Privatbesitz,  nichts  nach. 

Ein  ganz  entzückendes,  leider  vergoldetes 
Bronzefigiirclien  derselben  Sammlung  (Abb. 
3)  ist  namentlich  in  der  Haltung  und  den 
Proportionen  der  Beine  dem  genannten 
Meister  verwandt.  In  seiner  anmutigen  Positur 
gehört  es  wohl  zum  schönsten,  was  uns  an 
florentinischen  Kleinbronzen  aus  dem  1 6. 
Jahrhundert  bekannt  ist.  Die  Haltung,  die 
kleinen,  spitzen  Brüste,  die  überfeinen 
Arm-  und  Fußgelenke,  sowie  der  zierliche 
Hals  erinnern  ganz  an  Francesco  da  Sant’ 
Agata.  Aber  trotz  des  fast  raffinierten, 
blendenden  Linienreizes  des  vollen  jugend¬ 
lichen  Körpers,  steht  das  Figürchen  doch 


1)  An  den  Pfeilern  des  Sebaldusgrabes  von 
Vischer  in  Nürnberg  sind  verwandte  Figuren 
nackter  sitzender  Jünglingsgestalten  angebracht. 

2)  Ein  anderes  Exemplar  befindet  sich  in 
der  Sammlung  Newal;  siehe  Bode,  Italienische 
Bronzen  (Bd.  111  aus  »Beschr.  der  Bildw.  der 
Christi.  Epoche«),  S.  22,  Nr.  388.  Taf.  VIII. 


21 ' 


AUSSTELLUNG  PLASTISCHER  BILDWERKE  IN  MÜNCHEN 


ii8 


ii'  der  lebendigen  Durchbildung  des  nackten  Körpers 
den  oben  genannten  Statuetten  nacli  L) 

Auffallend  schwach  ist  der  bei  Sant’  Agata  trefflich 
durchgebildete  Ansatz  des  erhobenen  Armes,  ebenso 
ist  die  Ziselierung  der  Gesichtszüge  verhältnismäßig 
derb,  und  etwas  befremdend  wirkt 
das  genrehafte  Motiv,  das  der  Bewe¬ 
gung  zugrunde  liegt.  Das  Eigürchen 
ist  jedenfalls  eine  freie  Nachbildung 
einer  antiken  Aphroditestatuette,  deren 
im  Vorbilde  wohl  abgebrochene  Ober¬ 
arme  nun  in  dieser  Weise  hier  er¬ 
gänzt  wurden'-). 

Neben  diesen  kleinen  Bronzen 
sind  zwei  schöne  Terrakottamadonnen¬ 
reliefs  zu  nennen.  Das  eine,  ein  sehr 
gut  erhaltenes  Werk,  aus  dem  Besitze 
des  Prinzen  Rnpprecht  von  Bayern, 
ist  wohl  zweifellos  von  der  Hand 
Antonio  Rossellinos  und  kommt  in 
mehreren  Exemplaren  vor. 

Das  andere  aus  dem  Besitze  Dr. 

Berolzheimers  (Abb.  5,  S.  150)  bereitet 
einer  engeren  stilistischen  Umschrei¬ 
bung  Schwierigkeiten.  Die  Relieftech¬ 
nik  erinnert  zwar  ganz  an  Desiderio  da 
Settignanos  Art,  aber  die  Körperformen 
wie  die  Gewanddetails  haben  nichts 
mit  den  uns  bekannten  Schöpfungen 
des  Meisters  gemein,  viel  eher  ähnelt 
die  Ealtengebung  des  über  die  stark 
abfallenden  Schultern  niedergleitenden 
Gewandes  Bernardo  Rossellinos  Ju¬ 
gendwerken,  wie  etwa  der  Verkün¬ 
digung  im  Dom  von  Arrezzo  und 
auch  der  Typus  des  Christuskindes 
würde  nicht  übel  mit  den  Engels¬ 
köpfen  am  Grabmal  des  Lorenzo  da 
Ripafratta  Zusammengehen.  Doch  er¬ 
scheint  für  ein  Frühwerk  Rossellinos 
der  Kopf  der  Madonna  zn  reif,  abge¬ 
sehen  von  der  Relieftechnik,  und  an¬ 
dererseits  ist  die  unglückliche  Über¬ 
schneidung  des  rechten  erhobenen 
Armes  des  Christkindes  weder  Desi- 
derios  noch  Rossellinos  würdig.  Mög¬ 
licherweise  haben  wir  hier  die  Arbeit 
einer  Lokalschule  vor  uns,  in  der  sich 
die  ältere  und  jüngere  Richtung  kreuzt. 

Ein  weiteres  Relief  aus  Marmor 
(Abb.  6,  S.  150),  ein  Frauenporträt  dar¬ 
stellend,  gehört  der  Sammlung  Prings- 
heim  an.  Der  Reliefstil  entspricht  dem 
florentinischen  Quattrocento.  Manches,  wie  die  harte. 


ABI!.  3.  BRONZESTATUETTE 
FLORENTINISCH  UM  1550 
Sammlung  l’riiigsheim 


eckige  Silhouette  des  Kopfes,  so,  wie  die  archaisierende 
Haarbehandhmg  über  dem  Nacken  könnte  an  Mino  er¬ 
innern.  Doch  hat  das  Relief  schon  mit  Rücksicht  auf 
die  Weichheit  und  Glätte  der  Gesichtszüge  nichts  mit 
seiner  Kunst  zu  tun.  Vieles  spricht  dagegen  für 
Matteo  Civitali,  dessen  Art  mir  das 
Relief  am  nächsten  zu  stehen  scheint. 
Die  derbe  Form  des  oberen  Augen¬ 
lides  unter  anderem  findet  sich  an 
dem  Reliefporträt  der  SammlungBecke- 
rath,  während  die  weiche,  malerische 
Gewandbehandlung  sowie  der  cha¬ 
rakteristische  Ausdruck  des  Gesichtes 
mit  dem  seltsamen,  arroganten  Zug 
an  Matteos  Werke  erinnert,  wie  etwa 
die  Relieffigur  des  Glaubens  im  Mu¬ 
seo  nazionalc  in  Florenz,  die  auch 
in  der  Silhouette  vielfache  Analogien 
zu  unserem  Porträt  aufzuweisen  scheint. 
Das  gilt  übrigens  auch  für  die  charak¬ 
teristische,  gerade  in  die  Nase  verlau¬ 
fende,  schräg  zurückspringende  Stirne^). 
Etwas  seltsam  ist  die  Frisur,  die  auf 
venezianische  Herkunft  des  Werkes  zu 
weisen  scheint. 

Nicht  florentinischen,  sondern  wohl 
padiianischen  Ursprungs  ist  ein  kleines 
wunderhübsches  Bronzerelief,Madonna 
mit  Kind  (Abb.  7,  S.  1 50)  aus  der  Samm¬ 
lung  Pourtales,  das  in  vielem  an  Bartolo- 
meo  Bellanos  Werke  erinnert.  Das  Aka¬ 
demisch-Weiche,  das  in  Widerspruch 
mit  der  energisch  gedachten  Bewegung 
wie  der  Härte  der  Gewandung  tritt, 
entspricht  ganz  dieses  Künstlers  Art*), 
jedenfalls  gibt  sich  der  Schöpfer  des 
Reliefs  als  ein  Schüler  Donatellos 
unzweideutig  zu  erkennen.  In  der 
Silhouettierung  der  Gestalt  wie  all¬ 
gemein  der  Stilisierung  der  Gewan¬ 
dung  wird  man  natürlich  zuerst  an 
Donatellos  dramatisch  aufgefaßtes 
Bronzerelief  mit  der  Beweinung  Christi 
imSouth-Kensington-Museum  erinnert. 
Der  Mangel  jener  stofflichen,  faserig 
weichlichen  Behandlung  des  Gewandes 
schließt  jedenfalls  aus,  daß  es  sich 
hier  um  ein  Originalwerk  des  großen 
Altmeisters  florentinischer  Plastik  han¬ 
delt.  Außerordentlich  interessant  ist 
die  Bewegung  der  Figur,  in  der  die 


1)  Am  meisten  wird  man  an  die  Statuette  einer  »Schutz¬ 
flehenden«  erinnert  (Bode,  Italienische  Bronzen,  S.  18, 
Nr.  386,  Taf.  VlI),  die  Bode  als  dem  Francesco  da  Sant’ 
Agata  verwandt  bezeichnet,  doch  gilt  hier  ähnliches  wie 
für  das  männliche  Eigürchen  bezgl.  der  naturalistischen 
Modellierung  des  Körpers. 

2)  Siehe  G.  Hirth,  »Der  schöne  Mensch«,  Taf.  183. 


der  Madonna  Michelangelos  in  der 
Mediceerkapelle  vorgebildet  erscheint. 

Eine  der  größten  Sehenswürdigkeiten  der  Aus¬ 
stellung  sind  die  beiden  berühmten  Bronzestatuetten 
in  Zweidrittellebensgröße  aus  derselben  Sammlung, 
von  denen  die  eine  »Meleager«  in  eleganter  Pose 
auf  den  Speer  gestützt  darstellt,  und  schon  früher  von 
Bode  glänzend  publiziert  wurde*^).  ln  der  anderen 

1)  Verw.  Werke  im  Louvre.  Bode,  a.  a.  O.  Taf.  97  u.  178. 

2)  Jahrbuch  der  preuß.  Kunsts. ,  Bd.  IV.  S.  142  ff. 


AUSSTELLUNG  PLASTISCHER  BILDWERKE  IN  MÜNCHEN 


i4y 


wurden  die  hier  behandelten  plastischen  Werke  der  Samm¬ 
lung  Pourtales  bereits  besprochen. 

i)  Vergl. Schönfeld,  Andrea  Sansovino  und  seine  Schule. 
Stuttgart  j88i,  Fig.  26,  und  Bode,  Jahrb.  d.  pr.  Kunst.  Bd.  4. 
S.  140. 


stalten  Sansovinos  fehlt  der  weiche,  trcäunierische  Aus¬ 
druck,  sie  lieben  mehr  eine  momentane  Aktion,  gebärden 
sich  geräuschvoller.  Dazu  erscheinen  die  Proportionen 
untersetzter,  die  Fleischpartien  weicher,  weniger  mus¬ 
kulös.  Auch  fällt  bei  Sansovino  das  -ängstliche  Be¬ 
streben,  eine  geschlossene 
Silhouette  zu  erzielen,  auf, 
wogegen  der  Schöpfer  dieser 
Gestalten  sie  aufzulösen 
trachtet.  An  dem  hohen 
künstlerischen  Wert  dieser 
herrlichen  Figuren  würde 
aber  dadurch  nicht  das  min¬ 
deste  geändert  werden.  Man¬ 
ches  erinnert  an  Alfonso 
Lombardos  Gestalten,  wie 
etwa  den  auferstehenden 
Christus  in  Bologna’). 

Ein  hervorragend  schönes 
Stück  besitzt  dieselbe  Samm¬ 
lung  in  einem  lebensgroßen 
Bronzekopf  mit  schwärz¬ 
licher  Patina  (Abb.  g),  der 
im  Hinblick  auf  die  charak¬ 
teristische  Verwertung  an¬ 
tiker  Formen,  wiestilistischer 
Einzelheiten  ein  Werk  des 
Tommaso  Lombardi  sein 
dürfte“’).  Der  schöne  Kraus¬ 
kopf,  in  den  Detailpartien 
ein  wenig  akademisch  kühl 
behandelt,  ist  nach  Art  rö¬ 
mischer  Büsten  leicht  vor¬ 
geneigt  und  läßt  auch  in 
den  edel  drapierten  Gewand¬ 
teilen,  die  sich  um  den 
Schulteransatz  legen,  den 
Stil  dieses  Künstlers  erken¬ 
nen.  Durch  die  Schönheit 
und  Einfachheit  der  Auffas¬ 
sung,  den  schmerzlich  träu¬ 
merischen  Ernst  ist  die  Büste 
eine  der  vortrefflichsten 
Schöpfungen  Tommasos. 


1)  Schönfelda. a.O.  Fig. 30. 

2)  Am  nächsten  liegt  ein 
Vergleich  mit  Tommasos 
Madonnengruppe  in  San  Se- 
bastiano  in  Venedig,  in  der 
neben  dem  charakteristischen 
Sentiment  sich  auch  genau 
dieselbe  hier  auffallende  Flaar- 
behandlung  an  dem  Johan¬ 
neskinde  findet.  Die  edlen  Proportionen  des  Kopfes  mit 
der  breit  ausladenden  Stirne  und  den  spitz  zulaufenden 
Kinnpartien  gestalten  nicht  an  Tullio  Lombardi  zu  denken. 
Mein  Bericht  in  der  Frankfurter  Zeitung  ist  dahin  zu  korri¬ 
gieren.  —  Um  eine  Kopie  nach  der  Antike  handelt  es  sich 
hier  jedenfalls  nicht,  doch  wird  ein  Kopf  des  Lucius  Verus 
(Bernoulli  Taf.  LVII)  aus  d.  Ende  des  2.  Jahrb.  n.  Chr.  als 
Vorbild  verwertet  worden  sind.  Siehe  auch  Bode,  a.  a.  O., 
S.  140. 


erscheint  Neptun  (Abb.  4)  als  eine  außerordentlich 
schöne,  kräftige,  nicht  zu  schlanke  Gestalt,  über  deren 
straff  um  die  Muskeln  gezogene  Haut  gar  prächtig 
das  Licht  in  der  Bronze  spielt.  In  freiem  pathetischem 
Schwünge  entfalten  sich  die  schlanken,  leicht  kontra¬ 
postierten  Glieder  und  unter 
Vermeidung  jeglichen  Kraft¬ 
aufwandes  ist  diesem  schö¬ 
nen  Akte  eine  träumerisch 
sentimentale,  echt  veneziani¬ 
sche  Note  gegeben,  die  auch 
in  dem  Ausdruck  des  welt¬ 
schmerzlich  geneigten  Ko¬ 
pfes  reflektiert.  In  dem 
Sentiment,  wie  auch  der 
feinen,  der  Bronze  vorzüg¬ 
lich  angepaßten  Modellie¬ 
rung  des  Körpers  wird 
man  an  Lysippische  Figuren 
erinnert.  Der  Gott  des 
Meeres  scheint  in  seiner 
etwas  theatralischen,  und 
doch  so  eleganten  Attitüde 
den  Wellen  entstiegen  und 
mit  göttlicher  Sicherheit 
traumverloren  über  die  un¬ 
endliche  Weite  seines  Rei¬ 
ches  rauschend  einherzu¬ 
ziehen.  In  der  Art,  wie  das 
reiche,  kurze  Löwenfell  ko¬ 
kett  um  die  Schultern  gebun¬ 
den  ist,  macht  sich  aller¬ 
dings  schon  ein  etwas  klein¬ 
lich  tüftelnder  Atelierge¬ 
schmack  geltend,  und  der 
zierliche,  überlangeDreizack, 
sofern  er  überhaupt  zuge¬ 
hörig  ist,  verliert  nicht  nur 
durch  die  Form,  sondern 
auch  durch  diewenig  zweck¬ 
entsprechende  Haltung  seine 
kriegerische  Bedeutung,  die 
ohnedies  schwer  zu  der  Ge¬ 
samtwirkung  der  Figur  pas¬ 
sen  würde. 

Die  Gestalten  wurden 
früher  von  Bode  dem  Jacopo 
Sansovino  zugeschrieben 
und  sicherlich  hat  besonders 
ihre  Geste  außerordentlich 
viel  Verwandtes  mit  den 
freilich  stärker  kontrapo¬ 
stierten  Figuren  Jacopos  an 
der  Loggetta.  Namentlich  der  »Merkur-  weist  manche 
Analogien  zum  »Meleager«,  besonders  in  der  Haltung 
des  herabhängenden  Armes  auf’).  Aber  diesen  Ge- 


AUB.  4.  VENEZIANISCHE  BRONZESTATUE 
JACOPO  SANSOVINO  NAHESTEHEND 
Sammlung  Pourtales 


Abb.  f).  Marmorrelicfporträt.  Florenliniscli  uni  14QO.  Saniniliuig;  I’ringslieiin 


Abb.  7.  Madonnenrelief  von  Bellano  (?).  Sainnilung  Pourtales 


ABR.  8.  BRONZnBÜSTF.  OFS  ArFSSANDRO  VITTORIA 
Saimnliing  Poiirlale"; 


ABB.  i). 


TOMMASO  lOMBARDI  (?) 

Saniniliing 


BRON/'F.KOPI' 

Roiirtali's 


ABB.  10.  ANDRFA  RICCIO.  ANBETÜNO  DER  KÖNIOE.  Saniniliing  PonitaKs 


AUSSTELLUNG  PLASTISCHER  BILDWERKE  IN  MÜNCHEN 


153 


ABB.  1!.  BÜSTE  DER  CATARINA  CORNARO 
Sammlung  Pourtales 


Eine  monumental  gewaltige,  lebensgroße  Büste 
(Abb.  8)  gehört  ebenfalls  der  Sammlung  Pourtales  an, 
und  läßt  neben  dem  Stile  auch  das  charakteristische 
Sentiment  Alessandro  Vittorias  erkennen,  wie  es  etwa 
die  Marmorbüste  Pietro  Zenos  im  erzbischöflichen 
Seminar  in  Venedig  und  ähnliche  Werke  des  Meisters 
auszeichnet').  In  all  diesen  venezianischen  Skulpturen 
des  ausgehenden  15.  bezw.  16.  Jahrhunderts  fällt 
derselbe  feine  Sinn  für  edle  Formen  auf,  der  mit 
verhängnisvollem  historischem  Verständnis  für  das 
antike  Schönheitsideal  in  den  Werken  jenen  welt¬ 
schmerzlich  träumerischen  Zug  zum  Ausdruck  bringt, 
analog  den  Gemälden,  wie  etwa  denen  Lorenzo  Lottos, 
und  hier,  wie  ehemals  in  der  spätrömischen  Kaiserzeit 
als  Mene  Tekel  das  Dahinscheiden  frischer,  sich  stets 
verjüngender  künstlerischer  Kraft  verkündet. 

Ein  verwandter  Geist  spricht  auch  aus  einem  sehr 
hübschen,  die  Anbetung  der  Könige  darstellenden 
Bronzerelief  (Abb.  10)  aus  der  Sammlung  Pourtales 
mit  allen  Stileigentümlichkeiten  Riccios,  der  den  geistig 
vertieften  sprudelnden  Naturalismus  Donatellos  in  ein 
ruhigeres  aber  auch  seichteres  akademisches  Fahrwasser 
leitet,  ln  der  Gewandform  fällt  eine  antikisierende 
Manier  auf;  alles  wird  weich,  butterig,  besonders  die 
Köpfe,  in  denen  die  »schönen  Jünglinge  den  Vorzug 
haben.  Die  herben  Linien  verschwinden.  Der  Natura- 


1)  Die  Büste  ist  wohl  in  Anlehnung  an  Porträts  des 
Kaisers  Decius  geschaffen,  nur  das  Haar  scheint  moderni¬ 
siert  (Bernoulli,  Taf.  XLVI). 

Zeifsclirift  für  bildende  Kunst.  N.  F  XVIII.  H.  6 


lismus  Donatellos  konnte  auf  diesem  Boden  keine 
Regeneration  von  innen  heraus,  wie  in  Florenz,  er¬ 
fahren  und  dies  trotz  Mantegna,  dessen  Kunst  die 
Bellinis  im  gewissen  Sinne  etwas  ähnliches  antun, 
wie  Riccio  der  Donatellos.  Die  mantegneske  Terrain¬ 
bildung  im  Hintergrund  des  Reliefs  steht  nur  in 
lockerem  Zusammenhang  mit  dem  figürlichen  Teil, 
dieser  aber  zeigt  doch  mit  bemerkenswerter  Klarheit 
die  Hauptpersonen  durch  die  Gruppenbildung  heraus¬ 
gearbeitet.  Der  repräsentative  Charakter  des  Reliefs, 
wie  die  kokette  Zierlichkeit  der  Figuren  macht  es 
begreiflich,  daß  derartige  Stücke  dem  Empire  zur  Zeit 
des  Napoleonischen  Regimes  so  begehrenswert  er¬ 
schienen. 

Besonderes  Interesse  für  München  hat  auch  die 
hier  zum  erstenmal  ausgestellte,  dem  Berliner  Museum 
wohlbekannte  Büste  der  Catarina  Cornaro  (Sammlung 
Pourtales)  (Abb.  ii),  die  aus  Asolo  stammt  und  am 
Sockel  die  Jahreszahl  MDV  trägt.  Die  unglückliche 
Königin  von  Cypern  zeigt  hier  nahezu  genau  die¬ 
selben  Gesichtszüge,  die  uns  in  dem  Berliner  Barbari¬ 
bildnisse  überliefert  sind,  wo  die  Königin,  von  Jo¬ 
hannes  empfohlen,  zu  Füßen  der  Madonna  kniet:  Das 
dicke,  schwammige,  energielose  Gesicht  von  spär¬ 
lichem,  glattgescheiteltem  Haare  umrahmt,  und  den 
üppigen,  durch  ein  viereckig  ausgeschnittenes  Mieder 
gehaltenen  Busen.  Die  etwas  klobigen,  leblosen  Kör¬ 
performen,  die  leeren,  den  Marmor  wenig  berück¬ 
sichtigenden  Flächen  des  Gesichtes  mit  den  zierlich 
gedrehten  Löckchen,  die  kleinen  Augen  mit  dem 


154 


AUSSTELLUNG  PLASTISCHER  BILDWERKE  IN  MÜNCHEN 


ABB.  12.  AGOSTINO  BUSH  (?).  MADONNENRELIEF 
Sammlung  Pringsheim 

grob  eingeschlagenen  oberen  Augenlide,  sowie  die 
Art  der  Ärmelfalten  erinnert  an  Christoforo  Solaris 
Grabmal  des  Ludovico  Moro,  vor  allem  aber  an  die 
wohl  eng  damit  zusammenhängenden  Reliefporträts 
am  Portal  der  alten  Sakristei  in  der  Certosa  von 
Pavia.  Nur  ist  der  Ausdruck  hier  etwas  weicher  .  .  . 
venezianischer! 

Schwerer  fällt  die  Entscheidung  bei  einem  zierlichen, 
sehr  reizvollen  Madonnentabernakel  (Sammlung  Prings¬ 
heim),  (Abb.  12),  das  ich  mit  Rücksicht  auf  die  kleinen 
Verkündigungsfiguren  in  den  Bogenzwickeln  wie 
einige  Stileigentümlichkeiten  der  Madonna,  dem  Anto- 
nello  da  Gagini  zuzuschreiben  geneigt  war.  Die  Me¬ 
daillons  der  Nischenlaibung  weisen  aber  doch  auf 
einen  oberitalienischen  Künstler  hin  und  wird  man 
daher,  namentlich  im  Hinblick  auf  die  weiche  Be¬ 
handlung  der  Fleischteile  des  Kindes  wie  des  um  die 
Brust  der  Mutter  sich  legenden  Gewandteiles  sowie 
besonders  die  Verwandtschaft  der  Ärmelfalten  mit  ana¬ 
logen  Partien  der  Altarreliefs  mit  der  Darstellung  von 
Marias  Tempelgang  im  Dom  zu  Mailand,  an  Agos- 
tino  Basti  zu  denken  haben,  mit  dessen  Kunst  auch 
der  reife,  hübsche  Aufbau  der  Gruppe  und  ihre 
lineare  Geschlossenheit  gut  zusammengeht. 

Aus  der  reichen  Zahl  der  übrigen  schönen  Bronzen 
wären  hier  noch  zn  erwähnen  eine  prächtige,  sich  in 
den  Spiegel  sehende  Mohrin  von  Giovanni  da  Bo¬ 
logna  (Sammlung  Drey)  und  eine  interessante  kleine 
paduanische  Bronze  (Sammlung  Clemens)  aus  dem 
Ende  des  i  5.  Jahrhunderts,  im  Bewegungsschema  dem 
Apoll  von  Belvedere  verwandt,  einige  gute  Repliken 


der  Medaillen  Matteo  de  Pastis,  sowie  ein  Bronzeguß 
der  1494  datierten  Medaille  der  Anna  von  Bretagne, 
im  Stile  Laurana  verwandt;  ferner  zwei  wundervolle 
Türklopfer  (Sammlung  Pourtales),  einer  paduanischen 
Ursprungs  aus  dem  1 5.,  der  andere  venezianische 
Arbeit  des  1 6.  Jahrhunderts,  zwei  in  der  Ornamentik 
etwas  überladene,  aber  in  den  figürlichen  Teilen  vor¬ 
züglich  modellierte,  große  venezianische  Kaminkande¬ 
laber  und  last  not  least,  die  wundervolle  Bronzekopie 
des  kapitolinischen  Dornausziehers  aus  der  Renaissance¬ 
zeit  in  Originalgröße  (Sammlung  Pourtales)  (Abb.  13). 
Die  Bronze  zeigt  eine  braunschwärzliche  Patina  und 
ist  möglicherweise  in  der  ersten  Hälfte  des  16.  Jahr¬ 
hunderts  entstanden.  Die  herben,  jugendlichen  For¬ 
men  sind  mit  einer  seltenen  historischen  Treue  wieder¬ 
gegeben.  Die  genaue  Übereinstimmung  der  beiden 
Werke  läßt  einen  Nachguß  nach  dem  antiken  Original 
nicht  unmöglich  erscheinen i). 


1)  Das  Bildnis  eines  Mannes  in  der  Gallerie  Corsini 
in  Rom  zeigt,  auf  einem  Tisch  stehend,  ebenfalls  eine 
Kopie  des  Dornausziehers. 


ABB.  13.  BRONZESTATUETTE  DES  DORNAUSZIEHERS 
ERSTE  HÄLFTE  DES  16.  JAHRHUNDERTS 
Saninilung;  Pourlales 


AUSSTELLUNG  PLASTISCHER  BILDWERKE  IN  MÜNCHEN 


ABB.  14.  PIETA.  NÜRNBERGER  MEISTER  UM  1430 
Sammlung  Böhler 


II. 

Die  deutsche  Renaissanceplastik. 

Es  ist  ein  glücklicher  Zufall  gewesen,  daß  in  diese 
Ausstellung  von  Werken  der  Renaissanceplastik  die 
Schöpfung  eines  Meisters  gelangte,  der,  an  der  klassi¬ 
schen  Stätte  deutscher  Renaissance  tätig,  das  an¬ 
brechende  neue  künstlerische  Zeitalter  einleitete.  Es 
ist  eine  etwa  30  cm  hohe  Kalksteinpietä  aus  dem  Be¬ 
sitze  des  Kunsthändlers  Böhler  (Abb.  14),  die  in 
technischer  wie  künstlerischer  Hinsicht  das  allergrößte 
Interesse  verdient  und  in  fachwissenschaftlichen  Kreisen 
wohl  kein  geringes  Aufsehen  erregen  wird.  Die  Kom¬ 
position  hängt  augenscheinlich  aufs  engste  zusammen 
mit  einer  Unmenge  gleichartiger  Gruppen  in  Bayern, 
Franken  und  Böhmen,  von  denen  sich  Exemplare  so¬ 
wohl  im  Münchener  Nationalmuseum  als  auch  in  der 
Berliner  Galerie  befinden.  Nun  bestand  schon  mit 
Rücksicht  auf  diese  Tatsache  die  Wahrscheinlichkeit, 
daß  es  sich  bei  jenen  unter  sich  mehr  oder  minder 
zusammen  hängenden  Gruppen  um  ein  altberühmtes 
Gnadenbild  handelte,  auf  das  sie  alle  zurückgehen, 
sonst  würde  sich  wohl  die  enge  Verwandtschaft  der 
zeitlich  wie  örtlich  auseinanderliegenden  Gruppen  nicht 
erklären  lassen.  Mein  erster  Eindruck,  den  ich  von 
der  Pieta  empfing,  war  nun  der,  daß  es  sich  hier  um 
ein  Bildwerk  von  der  Hand  des  Meisters  der  berühmten 
Tonapostel  im  Germanischen  Museum  in  Nürnberg 
handelt.  Doch  gewinnt  man  bei  näherem  Vergleich 


der  Gruppe  mit  den  Werken  dieses  bedeutsamen  Nürn¬ 
berger  Plastikers  den  Eindruck,  als  ob  die  Münchener 
Pieta  doch  etwas  jünger  und  reifer  sei.  Dabei  ist 
nicht  zu  übersehen,  daß  in  der  damaligen  Zeit  die 
Stilformen  noch  stark  kosmopolitischen  Tendenzen 
huldigten  und  lokale  Differenzierungen  nur  langsam 
sich  einschlichen.  Deshalb  stößt  eine  sichere  Pla¬ 
cierung  unserer  Gruppe  auf  Schwierigkeiten.  Für  den 
Meister  der  Tonapostel  ist,  abgesehen  von  der  ja 
auch  sonst  nachweisbaren  interessanten  Übertragung 
der  Holztechnik  in  die  Steinplastik,  das  gewaltsame 
Streben  charakteristisch,  in  das  kleinliche  Gefältel  der 
noch  mittelalterlichen  Gewandung  ordnend  einzu¬ 
greifen  und  es  in  den  Dienst  der  Bewegung  des  Kör¬ 
pers  und  seiner  Formen  zu  stellen,  wobei  er  nicht 
selten  in  pathetischer  Weise,  wie  etwa  bei  dem  heiligen 
Bartolomäus,  den  Mantel  in  mächtigem  Schwünge  um 
die  Glieder  wirft  und  als  Kleinplastiker  Michelangeleske 
Anwandlungen  erhält.  Die  Gewandbehandlung  des 
hl.  Bartolomäus'-)  ist  der  unserer  Madonna  in  den 

])  Siehe  Riehl,  »Die  Münchener  Plastik  in  der  Wende 
vom  Mittelalter  zur  Renaissance«  in  d.  Abh.  d.  K.  hayr. 
Akad.  d.  Wiss.  III.  Kl..  XXXIII.  Bd.  11.  Abt.  1Q04. 
Taf.  V.  Diese  Bilder  scheinen  das  Vorbild  im  Sinne  der 
Zeit  zu  korrigieren;  ferner  Katalog  des  Bayr.  Nat.-Mus. 
Bd.  VI.  i8q6.  Taf.  IX.  Nr.  337,  553  und  Taf.  VIII,  Nr.  340 
und  338. 

2)  Pückler  -  Limburg  »Die  Nürnberger  Bildniskunst«. 
Straßburg  1904,  Taf.  IV. 


22 


156 


AUSSTELLUNG  PLASTISCHER  BILDWERKE  IN  MÜNCHEN 


Partien  des  linken  Armes  und  den  am  Boden  auf¬ 
fallenden  Teilen  sehr  verwandt.  Eerner  ist  an  beiden 
Werken  die  feine  Nachzeichnung  der  Haare,  die  an 
die  Handhabung  des  Ziselierstiftes  erinnert,  zu  ge¬ 
wahren,  so  daß  man  die  Pieta  doch  wohl  in  die  Nähe 
des  Nürnberger  Meisters  wird  rücken  müssen.  Nun 
findet  sich,  daß  keines  der  uns  bekannten  Gnadenbilder 
nur  annähernd  in  der  künstlerischen  Auffassung  und 
Durchbildung  der  Details  sich  mit  unserem  Bilde 
messen  könnte,  ja  man  gewinnt  bei  einem  eingehen¬ 
deren  Vergleich  durchaus  den  Eindruck,  daß  unsere 
Pieta  dem  berühmten  Gnadenbild,  auf  das  all  die 
übrigen  Darstellungen  zurückgehen,  zum  mindesten 
am  nächsten  kommt.  Eine  indirekte  Bestätigung  dieser 
meiner  Vermutung  fand  ich  nun  in  dem  Buche  des 
jüngsten  Biographen  der  Nürnberger  Plastiker.  Pückler- 
Limburg ')  schreibt,  er  vermute,  daß  die  obengenannten 
Pietägruppen  in  Bayern,  Franken  und  Böhmen  auf 
ein  verloren  gegangenes  Originalwerk  des  Meisters 
der  Tonapostel  zurückgehen.  Mit  Rücksicht  auf  eine 
Reihe  bei  allen  Werken  auffallender  Eigentümlichkeiten 
der  Gewanddrapierung  ist  hier  wohl  kaum  die  Frage 
zu  stellen,  ob  nicht  derartige  Kompositionen  von 
selbst,  als  durch  die  traditionelle  Darstellungsform 
bedingt,  sich  ergeben.  Augenscheinlich  handelt  es  sich 
in  unserer  Pieta  um  einen  jüngeren  Künstler  als  den 
Meister  der  Tonapostel  oder  den  Schöpfer  des  Deocarus- 
altars,  der  ihm  an  Können  nicht  das  Wasser  reichP). 

Das  neben  dieser  Gruppe  wichtigste  und  inter¬ 
essanteste  Stück  der  Ausstellung,  noch  dem  15.  Jahr¬ 
hundert  angehörend,  ist  das  berühmte  Ulrichskreiiz 
(Abb.  1  5),  das  Augsburg  bei  vorliegendem  Anlaß  dem 
Verein  als  Leihgabe  zur  Verfügung  gestellt  hat,  da 
es  sonst  nicht  leicht  zu  sehen  ist.  Das  Werk  ist  so 
wundervoll  erhalten,  daß  man  glauben  könnte,  es 
hätte  soeben  die  Werkstätte  des  Nicolaus  Seid  ver¬ 
lassen,  der,  wie  wir  wissen,  im  Jahre  1494  im  Auf¬ 
träge  des  kunstliebenden  Abtes  Johann  von  Giltingen 
aus  Hirschau  damit  betraut  wurde,  diesen  kostbaren 
Sarg  für  die  berühmte  Kreuzesreliquie  anzufertigen, 
die  der  Sage  nach  im  Jahre  955  dem  die  Stadt  Augs¬ 
burg  gegen  die  Hunnen  verteidigenden  Bischof  Ulrich 
durch  einen  siegverheißenden  Sendboten  des  Himmels 
am  Tage  der  Entscheidungsschlacht  überreicht  wurde ^). 
Die  Vorderseite  ziert  auf  einer  goldenen  vielgestaltigen 
gotischen  Blattornamentik  von  entzückender  Feinheit 
und  mit  staunenswertem  Fleiße  gedreht,  ein  Strahlen¬ 
kranz  von  Tafeldiamanten,  der,  umgeben  von  orien¬ 
talischen  Perlen,  durch  Saphire  mit  der  analogen 
Dekoration  der  Kreuzesvierpässe  verbunden  erscheint. 
Auf  der  platten  Rückseite  ist  unter  feinsinniger  Ver¬ 
wendung  der  Kreuzesform  auf  dem  durch  geschwärzte 
Querstriche  getönten  Grunde  die  das  Wunder  er- 

1)  A.  a.  O.  S.  72. 

2)  Thode  hat  in  seiner  grundlegenden  Arbeit  über 
die  Nürnberger  Malerschule  den  Meister  Berthold  als  den 
Schöpfer  der  Tonapostel  bezeichnet.  Siehe  dagegen  Bode, 
Deutsche  Plastik,  S.  93.  Pückler-Limburg  a.  a.  O.  S.  74. 

3)  Siehe  M.  Friesenegger,  »Die  Ulrichskreuze«,  1895, 
und  Mitteilungen  der  bayrischen  Numismatischen  Gesell¬ 
schaft.  XV.  7  1896.  S.  115. 


zählende  figürliche  Szene  dargestellt,  wobei  die  Zeich¬ 
nung  sich  auf  die  Wiedergabe  der  Silhouette  der 
Gestalten  beschränkt:  in  der  Mitte  ist  der  Bischof  zu 
Pferd  sichtbar,  über  ihm  der  Engel  mit  dem  Kreuze, 
dessen  göttlicher  Gebieter  in  dem  Dreipaß  darüber 
von  Wolken  getragen,  in  sonnigem  Glanze  erscheint, 
während  vor  und  hinter  dem  Bischof  in  den  seit¬ 
lichen  Dreipaßflächen  das  leidenschaftliche  Gewoge 
des  Kampfes  tobt  und  unten  das  von  Engeln  ge¬ 
haltene  bischöfliche  Wappen  erscheint.  Die  miniatur¬ 
artige  Feinheit  der  Gravierung,  die  einfach  geschickte 
und  außerordentlich  lebendige  Komposition  ist  ein 
würdiges  Gegenstück  zu  der  kostbaren  Vorderseite. 
Das  Kreuz  ist  in  kunstgewerblicher  Hinsicht  ein 
Unikum,  das  für  die  spätere  Form  der  Ulrichskreuze, 
die  man  als  Reliquie  oder  Amulette  von  der  Wall¬ 
fahrtsstätte  mit  sich  nahm,  vorbildlich  gewesen  ist. 

Eine  Perle  deutscher  Renaissanceschnitzkunst  ist 
das  Holzrelief  einer  Madonna  mit  Kiad  von  Veit  Stoß 
(Sammlung  Böhler,  Abb.  16).  ln  koketter  Anmut  präsen¬ 
tiert  sich  die  Madonna  in  reich  gebauschter  Gewandung 
unter  einem  von  leidenschaftlich  bewegten  Engeln  ge¬ 
tragenen  Stoffbaldachin.  Von  dem  in  humorvollem 
Realismus  leicht  geneigten  bäuerlichen  Kopfe  fallen 
über  die  Schultern  in  reichen  Wellen  die  langen  Haare 
herab,  an  denen  nun  der  Meister  mit  unermüdlichem 
Fleiße  die  hervorragende  Geschicklichkeit  seiner  Hand 
zu  zeigen  versteht,  das  Ganze  ein  würdiges  Gegenstück 
im  Kleinen  zu  dem  großen  bezeichneten  Altar  Veits 
in  der  Obernpfarrkirche  zu  Bamberg,  von  dem  es 
stilistisch  gar  nicht  zu  trennen  ist.  Der  Schelm,  das 
fröhliche,  lustige  Leben,  der  weltfreudige,  burschikose 
Sinn  guckt  hinter  jeder  Falte  hervor  und  die  tausenderlei 
Lichtreflexe  der  glänzend  braunen  Patina  des  Holzes 
lassen  nirgends  eine  ruhige  Linie,  eine  glatte  Fläche 
aufkommen.  Der  Mephistopheles  in  der  Pose  reli¬ 
giöser  Andacht  ist  ein  köstliches  Schauspiel,  man  lacht 
aus  vollem  Herzen  mit  und  muß  doch  respektvollst 
den  Hut  vor  diesem  Können  ziehen,  zugleich  mit  der 
Anerkennung,  daß  in  dieser  rücksichtslosen  Über¬ 
tragung  persönlichen  Lebens  eine  ganze  Künstlerseele 
steckt! 

Vom  Scherz  zum  Ernst  führt  uns  die  knieende 
Holzfigur  eines  Christus  aus  der  Sammlung  Clemens, 
eine  Gestalt  von  ergreifendem,  schlichtem  Ernste  und 
Tiefe  der  Empfindung,  wie  sie  nur  einem  bedeutenden 
Künstler  zu  eigen  sein  kann  (Abb.  17).  Die  etwa 
20  cm  hohe  Figur  stammt  aus  der  Ulmer  Gegend 
und  liegt  deshalb  der  Gedanke  nahe,  an  den  Meister 
des  Ulmer  Chorgestühls  zu  denken,  an  den  sowohl 
die  tief  ausgearbeiteten  Gewandfalten,  sowie  auch 
manche  Teile  des  Gesichtes,  die  vorstehenden  Backen¬ 
knochen,  und  die  fein  gedrechselten  Haare  erinnern, 
doch  finden  sich  die  Eigentümlichkeiten  Syrlins  nicht 
mit  der  Schärfe  ausgesprochen,  die  eine  sichere  Zu¬ 
schreibung  ermöglichten.  Manches  erinnert  an  die 
Nürnbergische  oder  besser  die  Dürersche  Kunstweise. 
Die  Silhouette  der  Figur  und  ihre  Haltung  gemahnt 
an  die  Stifterfigur  des  Jacob  Heller  und  verwandte 
Gestalten  der  Holzschnitte.  Leider  fehlen  die  Hände 
und  Füße,  die  uns  genauere  Anhaltspunkte  für  eine 


158 


AUSSTELLUNG  PLASTISCHER  BILDWERKE  IN  MÜNCHEN 


eingehende  Stilanalyse  dieser  eindrucksvollen  Figur 
zu  geben  vermöchten. 

Ein  majestätischer  Ernst  und  architektonischer 
■-e'.' ’nauf  bau  zeichnet  eine  wundervolle  Holzgruppe 
{Se^'.uülung  Heß,  Abb.  18)  aus,  die  von  der  Chiem- 
s -egegend  stammt  und  vielleicht  noch  dem  15.  Jahr¬ 
hundert  angehört.  Wuchtig,  fast  pathetisch  ist  die 
Gewandung  um  die  energisch-kontrapostierten  Beine 
der  Maria  gelegt,  die  den  schmächtigen,  im  Stile  noch 
gotisierenden  Körper  Christi  tragen,  dessen  schmerzens¬ 
reiches  Antlitz,  so  liebevoll 
durchgearbeitet,  nicht  wie 
bei  Michelangelos  Pieta  in 
St.  Peter  an  der  Schulter  der 
Mutter  hintüberhängt,  um 
sich  dem  Beschauer  zu  ver¬ 
bergen,  sondern  fast  ganz  en 
face  sich  darbietet.  Es  ist  für 
die  Gruppe  kein  geringes 
Lob,  daß  man  unwillkürlich 
mit  ihrem  berühmteren 
Schwesterbilde  Vergleiche 
zieht.  Bei  Michelangelo  ruht 
der  Leichnam  wie  ein  Kind, 
weich  gebettet  in  der  Mutter 
Schoß;  hier  liegt  über  ihm 
die  Starre  des  Todes.  Aber 
nun  hat  die  Mutter  den  linken, 
bei  Michelangelo  wenig  glück¬ 
lich  placierten  Arm ,  in 
schmerzlicher  Gebärde  erfaßt, 
um  ihn  liebend  zum  Munde 
zu  führen,  ein  menschlich 
sicher  ergreifenderes  Motiv 
als  die  ergebungsvolle  Geste 
der  linken  von  Michelangelos 
Maria.  Die  Linien  des  an 
sich  viel  monumentaler  grup¬ 
pierten  unteren  Gewandes  der 
deutschen  Madonna  folgen 
hier  der  Richtung  des  herab¬ 
hängenden  Armes,  bei  Michel¬ 
angelo  dagegen  denen  des 
ruhenden  Körpers.  Das  un¬ 
vermittelte  Auflaufen  der  stark 
schattierten  Gewandlinien  auf 
die  Horizontale  des  Körpers 
ging  Michelangelo  wider  den 
Strich  und  er  hat  das  deshalb 
auch  ängstlich  in  seiner  Pieta  vermieden.  Die  Gruppe 
des  nordischen  Holzschnitzers  bleibt  aber  doch  ein 
stolzes  Werk  voll  von  Schönheit  und  Kraft  und  läßt 
ein  seltenes  Gleichmaß  von  feinausgeprägtem  Stil¬ 
gefühl  und  tiefgehendem  Ernst  der  Empfindung  er¬ 
kennen. 

Überhaupt  nötigen  uns  die  wenigen,  aber  vorzüg¬ 
lichen  Werke  bayerischer  Plastik  aus  dem  15.  und 
16.  Jahrhundert  einen  unbedingten  Respekt  vor  ihrem 
Können  auf.  Da  ist  gleich  eine  aus  Inzing  bei  Ebers¬ 
berg  stammende,  nahezu  lebensgroße  Holzfigar  des 
heiligen  Georg {khh.  19)  (Sammlung  des  Prinzen  Rupp- 


recht),  aus  der  der  kecke,  frische,  jugendliche  Quattro¬ 
centogeist  spricht.  Was  die  Figur  künstlerisch  be¬ 
deutet,  lehrt  ein  Vergleich  mit  dem  Grabstein  des 
Johann  Stauf  zu  Ehrenfels  (f  1478)  in  der  Pfarrkirche 
zu  Beratzhausen.  Dazu  ist  die  Gestalt  aufs  innigste 
verwandt  mit  der  einen  Ritterfigur  auf  der  Grabplatte 
Kaiser  Ludwigs  des  Bayern  in  der  Frauenkirche,  und 
zwar  nicht  nur  in  der  Haltung  und  den  Proportionen, 
sondern  auch  in  stilistischen  Einzelheiten  wie  den 
Gewandfalten  der  Ärmelpartien.  Da  dieser  Grabstein 

dem  Erasmus  Grasser,  dem 
berühmten  Bildschnitzer  der 
Maruscatänzer  im  Rathaus,  zu¬ 
geschrieben  war,  komme  ich 
hier  zu  einem  ähnlichen  Re¬ 
sultat  wie  Habich,  der  die 
Figur  allgemeinhin  alsGrasser 
sehr  nahestehend  jüngst  be- 
zeichnete.  Jedenfalls  handelt 
es  sich  hier  um  ein  ganz 
bedeutendes  Werk  bayrischer 
Quattrocentoplastik ! 

Ein  rechtes  Kind  der  Re¬ 
naissance  ist  die  stolze  Figur 
eines  heiligen  Georg  (Samm¬ 
lung  Heß)  (Abb.  20),  der  nun 
mit  der  ganzen  Schwere 
seines  wuchigen  Körpers  auf 
dem  sich  windenden  Drachen 
stellt^).  Die  Darstellung  des 
Stützens  und  Fastens,  die 
Schwere  der  Glieder  sind 
Prinzipien,  die  mit  der  Ar¬ 
chitektur  nun  als  tonangebend 
auch  in  die  Plastik  eingezo¬ 
gen  sind.  Prächtig  rundet 
sich  der  volle  Körper  und 
die  mächtigen  Beine  tragen 
eine  fast  zu  zierliche  Brust, 
auf  der  ein  kleiner,  anmutig 
geneigter  Kopf  sitzt,  der  ein 
wenig  weltschmerzlich -sin¬ 
nend  in  die  Ferne  blickt. 
Der  Wind  scheint  brau¬ 
send  in  die  Gewandung  zu 
fahren,  die  sich  am  rechten 
Schenkel  so  leidenschaftlich 
kräuselt  und  die  weiten 
Ärmel  lebendig  bauscht. 
Das  Barock  wurde  von  der  sterbenden  Gotik  der 
jugendlichen  Renaissance  in  Deutschland  mit  in  die 
Wiege  gelegt.  Davon  weiß  auch  der  stilistisch  eng 
mit  unserer  Figur  zusammenhängende  heilige  Georg 
in  der  Preysingkapelle  der  Frauenkirche  in  München 
beredsam  zu  erzählen  (Abb.  22).  Die  Silhouette  der 
Figur  entfaltet  sich  in  freiem,  pathetischem  Schwünge 


1)  Die  von  derselben  Sammlung  ausgestellte  Figur 
des  hl.  Petrus  bildet  das  Pendant  zum  Georg  und  rührt 
von  derselben  Hand  her.  Beide  mit  schwarzem  Bronzelack 
überzogene  Gestalten  stammen  aus  Schäftlarn. 


ABR.  17.  JÖRG  SYRLIN  D.  Ä.  (?).  KNIENDER  CHRISTUS 
Holzfigur  aus  der  Sammlung  Böhler 


ABB.  18.  PIETA.  BAYRISCH  (?)  UM  1500 
Sammlung  HeB 


i6o 


AUSSTELLUNG  PLASTISCHER  BILDWERKE  IN  MÜNCHEN 


AB[?.  10.  ERASMUS  GRASSER  (?).  HL.  GEORG. 

Sammlung  des  Prinzen  Rupprecht 

Schwünge  und  der  leidenschaftliche,  gewaltsame 
Sinn,  der  sich  in  den  erregten  Falten  der  Gewan¬ 
dung  bemerkbar  macht,  weiß  sich  nun  auch  im 
Körper  selbst  durch  ein  flüssig  durchgeführtes  Kontra¬ 
postum  und  eine  dramatisch-theatralische  Pose  aus¬ 
zudrücken.  Es  kommt  Berninischer  Geist  in  diese 
Figuren,  die  wie  eine  Ahnung  seiner  Kunst  anmuten. 
Man  beachte,  wie  bei  beiden  Figuren  das  vom  Winde 
bewegte  Haar  nach  vorne  dem  Gesichte  zu  treibt. 
Wer  der  Künstler  gewesen  ist,  wissen  wir  nicht. 
Jedenfalls  aber  ein  in  Bayern  vielbeschäftigter  Meister, 
der  als  Bildhauer  den  bekannten  Künstlern  deutscher 
Renaissancekunst  wie  Cranach  und  anderen  minde¬ 
stens  ebenbürtig  ist  und  dessen  Namen  zu  eruieren 
eine  dringend  notwendige  Aufgabe  der  Kunstwissen¬ 
schaft  ist,  die  über  die  Lokalgeschichte  hinaus  großes 
Interesse  verdient^).  Auffallend  ist  die  Verwandtschaft 
mit  dem  von  Habich  Hans  Leinberger  zugeschriebenen 
Christophorus  in  Trausnitz”). 

Ein  bescheidener,  liebenswürdiger  Meister  stellt 
sich  uns  in  dem  ganz  entzückenden  kleinen  Holzrelief 
der  heiligen  Dorothea  (Abb.  20)  aus  der  Sammlung 
Clemens  vor,  von  dessen  Hand  das  Nationalmuseum 


1)  Von  demselben  Meister  stammen  —  worauf  mich 
Dr.  Halm  aufmerksam  machte  —  noch  zwei  weitere  Heiligen¬ 
gestalten  in  derselben  Kapelle  und  eine  Madonna  in  Unter¬ 
eberfing  (Bez.  Weichen). 

2)  Münchener  Jahrbuch  der  bildenden  Kunst,  Bd.  I. 
S.  124,  Abb.  7. 


noch  zwei  weitere  Figuren  besitzt^).  Höchst  niedlich 
ist  die  Legende  in  einer  feinempfundenen  Genreszene 
dargestellt:  Das  Christkind  bringt  die  von  den  Henkern 
geforderten  Rosen,  die  die  kleine  Jungfrau  mit  dank¬ 
bar  verschämter  Gebärde  in  Empfang  nimmt.  Das 
in  feinen  Strähnen  sich  um  das  vollwangige  Gesicht 
legende  Haar,  die  tief  ausgearbeiteten  Wulste  der  Ge¬ 
wandung,  die  die  Körperformen  leicht  modellieren, 
wie  allgemein  das  sehr  flache  Relief,  sind  die  stili¬ 
stischen  Merkmale,  die  das  kleine  Werk  mit  den  beiden 
Figuren  des  Nationalmuseums  verbinden. 

Eine  kleine  stehende  Holzmadonna  (Abb.  23, 
Sammlung  Böhler),  gleichfalls  aus  dem  15.  Jahr¬ 
hundert,  erinnert  in  ihrer  koketten  Zierlichkeit  an 
kölnische  Künstler,  wie  etwa  den  Meister  des  Bar¬ 
tholomäus-Altars,  besonders  im  Hinblick  auf  die  etwas 
prätentiöse  Art,  wie  die  niedliche  Jungfrau  mit  dem 
verschmitzten  Gesichtchen  dem  wenig  feierlich  sich 
gebärdenden  Christkind  die  Weintraube  hinhält. 

Die  Haute-volee  deutscher  Künstler  des  16.  Jahr¬ 
hunderts  ist  noch  in  einigen  weiteren  Figuren  ver¬ 
treten,  so  Peter  Vischer  in  einem  kleinen  bronzenen 
Brunnenfigürchen  (Abb.  24)  (Sammlung  Clemens),  das 
nicht  nur  im  Stile,  sondern  auch  der  rauhen  Ober¬ 
fläche  des  silbergrauen  Erzes  ganz  zu  den  Schöpfungen 
des  Meisters  des  Sebaldusgrabes  paßt,  wo  derartige 

1)  Nr.  2836  u.  37,  Saal  24.  Dr.  Halm  verdanke  ich  den 
Hinweis  darauf,  der  Meister  mag  wohl  aus  der  Gegend 
von  Ingolstadt  oder  Eichstädt  stammen. 


ABB.  20.  HL.  DOROTHEA.  BAYRISCHE  ARBEIT 
DES  15.  JAHRHUNDERTS 
Samiiiliing  Clemens 


AUSSTELLUNG  PLASTISCHER  BILDWERKE  IN  MÜNCHEN 


Typen  ja  in  reicher  Zahl  zu  finden  sind.  Meister 
Vischer  gehört  wohl  noch  ein  bronzener  Dudelsack¬ 
pfeifer  aus  derselben  Sammlung  an. 

Sodann  sind  zwei,  Riemenschneider  sehr  nahe¬ 
stehende  Werke  zu  nennen,  deren  eines,  eine  Ma¬ 
donna  aus  der  Sammlung  Greb,  schon  früher  von 
dem  Bayrischen  Altertumsverein  veröffentlicht  wurde. 
Das  andere  stellt  einen  Bischof  dar  (Sammlung  Böhler), 
mit  asketischem  Ernst  und  sittsamer  klösterlicher 


i6i 

lieh  den  Körperpartien  prächtig  durchgearbeitetes  Werk, 
in  dessen  allgemeinem  Sentiment  aber  jener  äußerlich 
pathetisch -dramatische  Zug  sich  geltend  macht,  wie 
er  an  manchen  Werken  nürnbergischer  Hochren-aissance 
zu  finden  ist.  Über  eine  Reihe  tüchhger  bayrischer 
und  schwäbischer  Arbeiten^),  so  ein  kleines,  leinberger 
nahestehendes  Holzrelief  mit  der  Darstellung  i  be¬ 
kannten  Szene  aus  dem  Leben  des  heiligen  AnC;?ans 
aus  dem  1 5.  Jahrhundert  und  eine  schwäbische  ■ 


ABB.  21. 

HL.  GEORG.  BAYRISCHE  ARBEIT. 
Sammlung  Professor  Heß 


ABB.  22. 

1.  HÄLFTE  DES  16.  JAHRHUNDERTS 
Frauenkirche  zu  München 


Befangenheit  in  der  Bewegung,  wie  er  für  diesen 
Meister  charakteristisch  ist. 

Besondere  Erwägung  verdient  noch  ein  echtes 
Werk  des  Stanislaus  Stoß  mit  der  Darstellung  des 
Martyriums  Johannes,  dessen  Relieftechnik  wie  Stil¬ 
charakter  dem  Johannesaltar  in  der  Florianskirche  zu 
Krakau  oder  dem  Triptychon  in  der  Czartoryski-Kapelle 
auf  dem  Wawel  am  nächsten  steht. 

Weiterhin  ist  eine  aus  Nürnberg  stammende  be¬ 
kannte  holzgeschnitzte  Kreuzigung  zu  nennen,  von 
der  einige  Figuren  in  der  Sammlung  Oppenheim 
nach  Berlin  gelangt  sind,  ein  im  einzelnen,  nament- 

Zeitschrift  füi'  bildende  Kunst.  N.  F.  XVIII.  H,  6 


madonna,  die,  von  Engeln  getragen,  durch  den  lebens¬ 
vollen  Ernst  imponiert,  ist  bereits  von  anderer  Seite 
berichtet  worden. 

Von  den  niederländischen  Plastikern  am  Ende 
des  1 6.  Jahrhunderts  wies  die  Ausstellung  zwei  ganz 
hervorragende  Stücke  auf:  Einen  Wettläufer  des  Adriaen 
de  Vries  (Sammlung  Clemens),  ein  Werk  des  Meisters 


i)  Siehe  den  die  hierher  gehörigen  Bildwerke  etwas 
eingehender  behandelnden  Aufsatz  Habichs  in  der  Beilage 
zur  Allgemeinen  Zeitung  Nr.  41  S.  395  »Bayrische  Plastik 
auf  der  Renaissanceausstellung  . 


23 


1  62 


AUSSTELLUNG  PLASTISCHER  BILDWERKE  IN  MÜNCHEN 


des  Merkur-  und  Herkulesbrunnens  in 
Augsburg,  das  unter  Anlehnung  an  den 
■  Icrkur  des  Giovanni  da  Bologna  in  der 
B  cgung  wie  der  Durchbildung  des 
Ak  mit  zum  besten  gehört,  was  wir  von 
em  Meister  kennen  (Abb.  25).  Bei  allem 
'  erständnis  für  die  südliche  Grazie  und 
Würde  und  trotz  der  akademischen  Kor¬ 
rektheit  des  wohlproportionierten  Körpers 
trägt  die  Gestalt  in  ihrer  gesunden,  fleisch¬ 
lichen  Lebensfülle  eine  spezifisch  nieder¬ 
ländische  Pointe  an  sich,  die  sie  sogleicli 
von  den  vorbildlichen  italienischen  Wer¬ 
ken  unterscheidet.  Die  prächtige  Aktion 
der  Figur  ist  doch  mehr  als  eine  schöne 
Pose  und  die  atemlose  Eile  und  Er¬ 
schöpfung  des  Mannes  ist  nicht  nur  im 
Gesicht,  sondern  auch  im  Körper  an¬ 
gedeutet.  Von  jeder  Seite  weiß  die  Ge¬ 
stalt  einen  angenehmen  Linienreiz  von 
sehr  erfreulicher  Lebendigkeit  hervorzu- 
rnfen. 

Mit  der  statuarischen  Ruhe  einer  stehen¬ 
den  Figur  sucht  sich  in  einer  als  Mele- 
ager  charakterisierten  Jünglingsgestalt 
Elia  de  Witte  gen.  Candida  (Sammlung 
Clemens)  abzufinden,  indem  er  nach 
Muster  des  Giovanni  da  Bologna,  dessen  Einwirkung 
sich  auch  in  einzelnen  Details  wie  namentlich  dem 
charakteristischen  Verlauf  des  Darmbeinfortsatzes  be¬ 
merkbar  macht,  die  überzarten,  wenig  eindrucks¬ 
vollen  Körperformen  durch  harte  Linien  der  Sil¬ 
houette  zu  paralysieren  sucht.  Die  Statuette  ist  aufs 
innigste  einem  Cupido  des  Berliner  Museums  ver¬ 
wandt’).  Ein  Meleager  derselben  Sammlung  zeigt 
eine  ganz  verwandte  Sil¬ 
houette  2). 

Zum  Schlüsse  ist  hier 
nur  noch  auf  einige  her¬ 
vorragende  Stücke  kunst¬ 
gewerblicher  Art  hinzuwei¬ 
sen,  an  denen  trotz  ihrer 
sekundären  Bedeutung  die 
Ausstellung  besonders  reich 
war. 

Aufsehen  machte  ein 
kleiner,  aus  vergoldetem 
Kupfer  getriebener  Becher, 
der,  der  Haartracht  nach 
zu  schließen,  wohl  im  14. 

Jahrhundert  entstanden  ist. 

Die  Außenseite  stellt  auf 
leicht  schraffiertem  Grunde 
augenscheinlich  eine  Jagd¬ 
szene  dar:  Eine  im  Her¬ 
rensitz  und  Reithose  ein- 


ABH.  23.  NIEDER¬ 
RHEINISCHE  HOLZ¬ 
MADONNA.  15.  JAHRH. 
Sammlung  Böhler 


1)  Italienische  Bronzen, 
S.  8  u.  9,  Taf.X,  Nr.  275  u.  276. 

2)  A.  a.  O.  Taf.  X,  Nr. 

277- 


hergaloppierende  Jungfrau,  umgeben  von 
einer  den  Eber  jagenden  Meute,  ein  Mo¬ 
tiv,  das  in  einer  noch  etwas  grob  heral¬ 
dischen  Stilisierung  sich  um  den  Leib 
des  Bechers  wiederholt.  Das  Stück,  augen¬ 
scheinlich  profanen  Zwecken  dienlich,  ist 
einzig  in  seiner  Art  und  wird  wohl  bald 
nach  der  gegenständlichen  Bedeutung  des 
Dargestellten  eine  wissenschaftliche  Unter¬ 
suchung  erfahren. 

Ein  prächtiges  Kreuz  aus  Bergkristall 
der  Sammlung  Griitzner  fiel  unter  den 
kunstgewerblichen  Arbeiten  noch  auf,  be¬ 
sonders  auch  mit  Rücksicht  auf  die  feinen 
Malereien  in  der  Mitte,  die  ebenso  wie 
das  Ganze  wohl  eine  italienische  Arbeit 
des  14.  Jahrhunderts  sind.  Der  Sockel 
wie  Teile  des  Lendentuches  Christi  und 
die  Malereien  der  Rückseite  scheinen  er¬ 
gänzt  zu  sein  und  auch  die  Zusammen¬ 
gehörigkeit  von  Kreuz  und  Figur  ist  nicht 
ganz  gesichert. 

Mit  das  köstlichste  Werk  der  Klein¬ 
kunst’)  war  ein  Reliquar  aus  dem  Be¬ 
sitze  des  Grafen  Arco-Zinneberg,  dessen 
zierliches  architektonisches  Gerüst  aus  ver¬ 
goldetem  Silber  Szenen  aus  dem  alten 
und  neuen  Testament  in  wundervollem  translucidem 
Email,  in  blauen,  grünen  und  weinroten  Tönen  schil¬ 
lernd,  einschloß.  Eine  Speyrer  Benediktinerin  hat  das 
Reliquar  etwa  um  1430  in  Auftrag  gegeben. 

Das  Regensburger  Domkapitel  hatte  eine  Reihe 
höchst  interessanter  Teppiche  des  14.  Jahrhunderts 
als  Leihgabe  ausgestellt,  deren  rätselhafte  Szenen 
Bassermann-Jordan  zu  deuten  versucht  hat^).  Darnach 

ist  in  der  mittleren,  auf  Un¬ 
geheuern  sitzenden  Figur 
das  große  Babylon  darge¬ 
stellt,  zu  dem  Liebespaare 
auch  der  Farbe  nach  in 
symbolische  Beziehung  ge¬ 
setzt  sind.  Die  übrigen 
Reste  illustrieren  Szenen 
ausaltdeutschenDichtungen, 
darunter  eine  reizende  Dar¬ 
stellung  aus  dem  Ekkehard. 

Zuletzt  sei  hier  auf  einen 
sehr  interessanten  kleinen 
Teppich  hingewiesen,  der, 
wohl  oberrheinische  Arbeit, 
etwa  um  1470  entstanden 
sein  mag.  Der  Teppich¬ 
weber  arbeitet  aber  noch 
ganz  in  dem  altertümlichen 
Stil,  wie  er  sich  in  der 
Malerei  um  etwa  1 400  findet. 


ABB.  24.  PETER  VISCHER  (?)  BRUNNENEIGÜRCHEN 
Sammlung  Clemens 


1)  S.  Bassermann-Jordan, 
Formenschatz,  1907,  Taf.  38, 
39  u-  40. 

2)  A.  a.  O.  Taf.  41. 


AUSSTELLUNG  PLASTISCHER  BILDWERKE  IN  MÜNCHEN 


163 


und  auch  mit  dem  Latein  scheint  er  mit  Rücksicht 
auf  das  noli  me  tangere«  noch  etwas  auf  ge¬ 
spanntem  Fuße  zu  stehen.  In  reizvollster  heraldischer 
Stilisierung  ist  der  Grund  mit  gotisierendem  Ranken¬ 
werk  gefüllt,  das  oben  eine  köstlich  stilisierte  Wolken¬ 
partie  mit  Sternen  abschließt.  Die  Webtechnik  ist 
noch  maßgebend  für  die  zeichnerische  Behandlung 
der  Körperformen  und  die  streifenartige  Earbenver- 
teilung.  Aus  demselben  Grund  bleibt  auch  das  tek¬ 
tonische  Element  in  Form  und  Anordnung  der  Orna¬ 
mentik  wirksam.  Man  hatte  in  der  Ausstellung  Ge¬ 
legenheit,  an  einem  späteren,  ebenfalls  wohl  ober¬ 
rheinischen  Teppich  einer  unter  einem  Baldachin  thro¬ 
nenden  Madonna,  von  Blumen  umgeben,  den  Wandel 
zu  studieren,  den  der  eindringende  Naturalismus  auch 
auf  diesen  Gebieten  nach  sich  zog:  die  Technik  ver¬ 
liert  ihre  stilbildende  Kraft  und  der  Teppich  konkurriert 


mit  der  Malerei.  Zur  Entwickelung  geschichtlicher 
Vergleiche  und  prinzipieller  Kunstfragen  forderte  die 
geschickte  Gruppierung  der  Ausstellung  überhaupt  auf. 
Solch  zwanglose  Anordnung  hat  besonders  für  den 
einen  Reiz,  der  gewohnt  ist,  Kunstwerke  nach  der  alt¬ 
hergebrachten  Schablone  der  Zeitenfolge  in  nationaler 
Abgeschiedenheit  zu  betrachten.  Das  stille  Neben¬ 
einander  der  nach  wissenschaftlichen  Begriffen  hete¬ 
rogenen  Dinge  löst  von  selber  ein  kritisches  Abwägen 
nach  ganz  allgemeinen  Gesichtspunkten  aus  und  über 
dem  engen  Dunstkreis  stilkritischer  Analysen  lichten 
sich  leicht  die  weiteren  Sphären,  in  denen  die  Kunst 
als  fürsprechender  Engel  der  Völker  erscheint.  Man 
hat  hier  dafür  gesorgt,  daß  dem  immer  glänzend  ge¬ 
fiederten  Sendboten  Italiens  gar  beredte  Verkünder 
deutscher,  speziell  süddeutscher  Art  gegenüberstehen. 


ABB.  25.  ADKIAEN  DE  VRIES.  STATUETTE  EINES  WETTLÄUFERS 
Sammlung  Clemens 


23 


DANIEL  STASCHUS 


Der  Farbenliolzsclinitt  erfreut  sicli  in  München, 
unter  der  immer  noch  fortdauernden  Ein¬ 
wirkung  der  von  Ernst  Neumann  gegebenen 
Anregungen,  einer  besonderen  Pflege.  Unter  den 
jüngeren  Kräften,  die  sich  ihm  zugewandt  haben, 
nimmt  der  Ostpreuße  Daniel  Staschus  auf  dem  Ge¬ 
biete  der  Landschaft  einen  der  ersten  Plätze  ein.  Er 
hat  es  vortrefflich  verstanden,  die  Errungenscliaften 
der  modernen  Malerei  dem  Farbenholzschnitt  dienstbar 
zu  machen,  ohne  dabei  im  mindesten  die  der  Graphik 
gezogenen  Grenzen  zu  überschreiten.  Seine  Arbeiten 
sind  geradezu  vorbildliche  Lösungen  für  das  Problem 
der  modernen  Graphik,  möglichst  reiche  Wirkungen 
mit  dem  geringsten  Aufwand  an  Mitteln  zu  erzielen. 
Diesem  Ziel  geht  er  auf  völlig  eigenen  Wegen  nach; 
indem  er  das,  was  schon  vorher  die  Eigenart  seiner 
Landschaftsmalerei  ausmachte,  in  angemessener  Weise 
auf  die  Graphik  übertrug,  gelangte  er  zu  den 
wundervollsten,  von  reinstem  Wohllaut  gesättigten 
Farbenwirkimgen,  die  seine  Holzschnitte  auszeichnen. 
Sein  fein  entwickeltes  Tongefühl  schreckt  vor  allen 
ungebrochenen  Farben,  vor  jeder  zeichnerischen  oder 
koloristischen  Härte  zurück.  Aus  der  Stimmung 
des  gewählten  Landschaftsausschnittes  entwickeln  sich 
seine  Akkorde  so  gesetzmäßig,  daß  kein  Ton  eine 
Veränderung  erleiden  könnte,  ohne  daß  zugleich  der 
ganze  angeschlagene  Akkord  zusammenfiele. 

Es  versteht  sich  von  selbst,  daß  bei  solchen  künst¬ 
lerischen  Voraussetzungen  nur  gebrochene  Farben 
verwendet  werden  können.  Sie  haben  an  sich  keinen 
hohen  koloristischen  Wert,  aber  sie  werden  durch  die 
geschwisterliche  Unterstützung  der  anderen  Farben 
wunderbar  geklärt  und  gehoben. 

Diese  starke  Vorliebe  für  tonige  Gebundenheit,  die 
wohl  aus  des  Künstlers  littauischer  Abstammung  er¬ 
klärt  werden  muß,  gibt  seinen  Arbeiten  das  Gepräge 
liedhafter  Weichheit  und  Innigkeit.  Und  da  alle 
Harmonie  eine  gewisse  Verwandtschaft  mit  Schwer¬ 
mut  hat,  sind  auch  die  Arbeiten  von  Staschus  fast 


durchgehends  von  Akzenten  einer  liebenswürdigen 
Melancholie  betont. 

Bei  dem  reichen,  vollen  Effekt  dieser  Holzschnitte 
darf  nicht  vergessen  werden,  daß  er  stets  mit  höchst 
ökonomischen  Mitteln  herbeigeführt  wird.  Staschus 
verwendet  in  der  Regel  nur  drei  Platten,  niemals  aber 
mehr  als  vier.  Daraus  geht  hervor,  daß  die  Wirkung 
seiner  Drucke  nur  die  Folge  einer  sehr  sicher  arbeiten¬ 
den,  peniblen  Disposition  ist.  Die  Technik,  deren  sich 
Staschus  bedient,  ist  fein  und  differenziert  und  unter¬ 
scheidet  sich  grundsätzlich  von  den  oft  plumpen  und 
ungewählten  Verfahren,  die  viele  moderne  Holzschnitt¬ 
künstler  zur  Anwendung  bringen. 

Der  Holzschnitt  »Vor  Anker«,  von  dem  ein  mit 
der  Buchdruckpresse  hergestellter  Originalabzug  von 
den  Holzstöcken  diesem  Hefte  beiliegt,  ist  mit  drei 
Tönen  (ein  warmes  und  ein  kälteres  Gelb,  dazu  ein 
dunkles  Braun)  gedruckt.  Es  ist  klar,  daß  der  Ma¬ 
schinendruck  nicht  alle  Reize  des  Handdruckes  liefern 
kann.  Immerhin  kommt  er  diesem  nahe. 

W.  MICHEL. 

*  4: 

* 

An  diese  Besprechung  des  einen  der  dem  heutigen 
Hefte  beigegebenen  Kunstblätter  sei  hier  auch  des 
Künstlers  gedacht,  dem  wir  die  merkwürdige  und 
schöne  Radierung  »Der  weiße  Rabe«  verdanken.  Franz 
Mutzenbecher  steht  noch  am  Anfänge  seiner  Laufbahn. 
Er  ist  erst  26  Jahre  alt.  Ein  geborener  Hamburger, 
studierte  er  in  Karlsruhe  und  Stuttgart,  wo  er  auch 
sich  vor  der  Hand  niedergelassen  hat.  Unser  Blatt 
stellt  das  Glied  einer  Serie  dar,  an  deren  Vollendung 
der  Künstler  jetzt  arbeitet.  Diese  Talentprobe  wird 
genügen,  um  der  weiteren  Entwickelung  Franz  Mutzen¬ 
bechers  alles  Interesse  entgegenzubringen.  Auch  die 
anderen  Radierungen,  die  er  jetzt  auf  der  Graphischen 
Ausstellung  des  Deutschen  Künstlerbundes  zeigt,  er¬ 
wecken  schöne  Hoffnungen. 


Herausgeber  und  verantwortliche  Redaktion:  E.  A.  Seemann,  Leipzig,  Querstrabe  13 
Druck  von  Ernst  Hedrich  Nachf.,  q.  m.  b.  h.,  Leipzig 


VOR  ANKER 


ORIOINALHOLZSCHNITT  VON  DANIEL  STASCHUS 


ZEITSCHRIFT  FÜR  BILDENDE  KUNST  IQOy 


EINE  SAMMLUNG  VON  HANDZEICHNUNGEN 
DES  FRANCISCO  GOYA 


Von  Aureliano  de  Beruete  in  Madrid 


Das  Lebenswerk  des  Francisco  Goya,  das  in 
seinem  überragenden  künstlerischen  Werte  und 
in  seiner  außerordentlichen  kunstgeschichtlichen 
Bedeutung  seit  einigen  Jahren  den  Gegenstand  einer 
ungemein  regen  Spezialforschung  bildet,  verdient  in 
der  Tat  das  höchste  Interesse  der  heutigen  Kunstwelt. 
Außerhalb  Spaniens  sind  es  mehr  noch  als  die  Ge¬ 
mälde  dieses  Meisters,  hauptsächlich  seine  großen 
Radierungszyklen  —  die  Caprichos«,  die  »Tauro- 
maquia«,  die  »Desastres  de  la  Guerra«,  die  »Pro- 
vertjios«  — ,  die  neben  einigen  selteneren  Einzel¬ 
radierungen  in  Kennerkreisen  heutzutage  endlich  die 
ihnen  gebührende  Bewunderung  und  Wertschätzung 
erlangt  haben.  Die  Steinzeichnungen  des  Meisters 
mit  Darstellungen  von  Stierkampfszenen  und  anderem 
mehr  waren  dagegen  infolge  ihrer  großen  Seltenheit 
bis  vor  kurzem  so  gut  wie  unbekannt  geblieben,  und 
fast  noch  weniger  wußte  man  von  den  reichen 
Schätzen  Goyascher  Originalzeichnungen,  die  sich  im 
Pradomuseum  und  in  der  Biblioteca  Nacional  zu 
Madrid  befinden.  Einige  Reproduktionen  solcher 
Zeichnungen,  wie  sie  dem  im  Jahre  1903  in  Berlin 
erschienenen  trefflichen  Goyawerke  V.  von  Logas 
beigegeben  waren  —  das  außerdem  ebenso  wie 
P.  Lafonds  Goya-Monographie  i)  ein  umfangreiches 
Gesamtverzeichnis  der  Goyaschen  Handzeichnungen 
enthielt  —  haben  nun  neuerdings  auch  diesem  wich¬ 
tigen  Schaffensgebiete  des  Meisters  einen  weiten  Inter¬ 
essentenkreis  gewonnen.  Von  älteren  Goya-Publi¬ 
kationen  hat  namentlich  diejenige  des  Don  Ceferino 
Araujo  Sanchez  (in  Madrid  erschienen)  die  Goya¬ 
zeichnungen  des  Pradomuseums,  sowie  diejenigen 
aus  dem  Besitze  des  Don  Valentin  Carderera  aus¬ 
führlich  behandelt.  Endlich  hat  auch  der  Conde  de 
la  Vinaza  in  seinem  1887  in  Madrid  herausgegebenen 
Buche  »Goya,  su  tiempo,  su  vida,  sus  obras«  bei 
Erörterung  der  wunderbaren  Fruchtbarkeit  und  Viel¬ 
seitigkeit  unseres  Meisters  wenigstens  dessen  Entwurf¬ 
zeichnungen  zu  den  »Caprichos«  erwähnt,  von  denen 
vier  Blatt  zu  der  hier  zu  besprechenden  Sammlung 
gehören,  während  eine  Anzahl  weiterer  Blätter  einen 
Teil  der  soeben  genannten  Colecciön  Carderera 
bildeten. 

In  den  Handzeichnungen  Goyas  findet  sich  das 
ganze  menschliche  Leben  wiedergespiegelt  in  seinen 


1)  Erschienen  in  Paris  in  der  bekannten  Monographien- 
sammlung  »Les  artistes  de  tous  les  temps«. 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XVIIl.  H.  7 


mannigfaltigen  Erscheinungen  und  Betätigungen, 
denen  die  gewaltige  Phantasie  des  Künstlers  einen 
so  reichen,  ins  Zauberhafte  erhöhten  Glanz  zu  ver¬ 
leihen  verstand.  Da  wechseln  zärtlich-süße  oder  ver¬ 
wegen-galante  Liebesszenen,  Darstellungen  ländlicher 
Belustigungen  von  Alt  und  Jung,  Groß  und  Klein, 
oder  allerlei  sonstiger  heiteren  Vorkommnisse  aus 
dem  Alltagsleben  in  bunter  Folge  mit  rapid  skizzier¬ 
ten  Raufszenen  und  Duellen,  Bildern  des  Elends  oder 
des  Verbrechens,  Kerkerinterieurs  und  Feuersbrünsten, 
Schreckensvisionen  und  Monstrositäten  jeglicher  Art, 
—  wahnwitzigen  Anomalien  des  Erdendaseins,  wie 
sie  abscheulicher  kaum  gedacht  werden  können.  Aber 
nicht  zufrieden  mit  den  zahllosen  Wirklichkeits¬ 
eindrücken,  die  sein  nimmersattes  Künstlerauge  und 
sein  rastlos  tätiges  Vorstellungsvermögen  jederzeit  und 
allerorten  immer  von  neuem  reizten  und  seine  un¬ 
ermüdliche  Künstlerhand  immer  von  neuem  zu  macht¬ 
voll  akzentuierter,  in  Farbe,  Form  und  Ausdruck  ge¬ 
steigerter  Bildwiedergabe  drängten,  —  nicht  zufrieden 
damit,  gefiel  sich  Goya  gleichzeitig  in  der  bestän¬ 
digen  Neuerfindung  der  unwahrscheinlichsten  Schreck¬ 
gespenster,  mißgestalteter  Phantasiewesen,  Traum¬ 
gestalten  und  Albvisionen.  ln  wahrhaft  unheimlichen 
Phantasiedelirien  schuf  er  eine  Unzahl  von  Gespenster¬ 
sabbaten,  die  er  mit  den  sonderbarsten  Spukgestalten, 
Dämonen,  Hexen  und  Teufeln  in  den  denkbar 
originellsten  Stellungen  und  Gruppierungen  bevölkerte. 
Mit  gleicher  Vorliebe  zeichnete  er  sodann  religiöse 
Vorwürfe,  wie  Prozessionen  und  Kirchenfeste,  und 
insbesondere  Mönche  und  Nonnen,  wobei  er  fast 
immer  auf  gewisse  komische  und  sarkastisch-satirische 
Wirkungen  ausging;  hierher  gehören  auch  seine  zahl¬ 
reichen  Darstellungen  von  Wundertaten,  von  fana¬ 
tischer  Heiligenverehrung  und  Idolatrie,  von  Inqui- 
sitions-  und  Folterszenen.  -  In  der  Regel  gab  Goya 
diesen  so  mannigfaltigen  Erzeugnissen  seiner  un¬ 
erschöpflichen  Zeichnerphantasie  eine  eigenhändige, 
die  betreffende  Darstellung  in  knappen  Worten  er¬ 
läuternde  Unterschrift  mit  auf  den  Weg.  Bei  der 
Mehrzahl  seiner  Radierungen  wie  auch  seiner  Hand¬ 
zeichnungen  sind  derartige  Kommentare  übrigens  so 
gut  wie  entbehrlich,  da  der  Darstellungsinhalt  dieser 
Blätter  dem  Beschauer  ganz  von  selbst  klar  wird. 
Andere  hinwiederum  sind  nicht  einmal  mit  Hilfe  der 
beigegebenen  Textunterschriften  zu  verstehen;  sie  sind 
daher  bereits  mehrfach  zum  Gegenstände  spitzfindiger 
Interpretierungsversuche  gemacht  worden,  und  man 


24 


i66 


EINE  SAMMLUNG  VON  HANDZEICHNUNGEN  DES  FRANCISCO  GOYA 


ist  dabei  zu  der  Überzeugung  gelangt,  daß  Goya  in 
vielen  seiner  Kompositionen  über  das  wirkliche  End¬ 
ziel  seiner  graphischen  Arbeiten,  die  Kritik  der  Sitten, 
der  Laster  und  des  religiösen  Fanatismus  seiner  Zeit, 
häufig  gar  weit  hinausgeschossen  ist. 

In  dem  Radierungenzyklus  »Los  Desastres  de  la 
Guerra«  sieht  man  neben  heroischen  Darstellungen 
eines  bis  ins  Fanatische  gesteigerten  Patriotismus  die 
Tragödie  des  Elends,  der  Hungersnot  und  der  Plün¬ 
derungsgräuel  in  allen  ihren  Schreckensphasen  mit 
rücksichtslosestem  Realismus  verbildlicht.  Einige  dieser 
Blätter  reflektieren  bereits  das  volle  Maß  jenes  skep¬ 
tischen  Pessimismus,  von  dem  der  Meister  in  seinen 
letzten  Lebensjahren  mehr  und  mehr  beherrscht  wurde, 
und  wie  er  namentlich  in  der  reichen  Handzeich¬ 
nungensammlung  des  Madrider  Pradomuseums  so 
augenfällig  in  Erscheinung  tritt. 

Die  hier  zu  besprechende  Sammlung  Goyascher 
Originalzeichnungen  entstammt  mit  vielen  anderen 
Blättern  dem  Besitze  eines  Enkels  unseres  Meisters 
und  gelangte  seinerzeit  durch  einen  Zwischenbesitzer 
in  die  Hände  des  bekannten  Malers  und  Prado- 
galeriedirektors  Don  Federico  de  Madrazo.  Dieser 
schenkte  einen  Teil  der  Sammlung  seinem  Schwieger¬ 
söhne,  dem  berühmten  Meister  der  Malkunst  Mariano 
Fortuny  (dessen  gleichnamiger  Sohn  die  Blätter  noch 
heute  in  Verwahrung  hält),  einen  anderen  Teil  da¬ 
gegen  —  nämlich  die  hier  zu  besprechende  Samm¬ 
lung  —  dem  Direktor  der  Escuela  de  Bellas  Artes 
zu  Zaragoza,  Don  Bernardino  Montanez,  aus  dessen 
Nachlaß  dieser  Teil  der  Sammlung  einer  testamen¬ 
tarischen  Bestimmung  gemäß  schließlich  in  meinen 
eigenen  Besitz  überging.  Der  großen  Madrazoschen 
Goya-Sammlung  gehörten  ehedem  auch  jene  beiden 
Zeichnungen  mit  Darstellungen  aus  dem  Mönchs¬ 
leben  an  (die  eine  mit  chinesischer  Tusche,  die  andere 
mit  schwarzer  Kreide  ausgeführt),  die  kürzlich  für 
die  königlichen  Kunstsammlungen  in  Berlin  angekauft 
worden  sind. 

Meine  eigene  Sammlung  besteht  aus  38  Zeich¬ 
nungen.  Hiervon  ist  eine  einzige  in  Sepia  mit  dem 
Pinsel  ausgeführt,  sechs  weitere  sind  in  chinesischer 
Tusche  teils  mit  dem  Pinsel,  teils  mit  Pinsel  und  Feder, 
teils  mit  der  Feder  allein  gezeichnet,  und  die  übrigen 
31  Blatt  sind  Zeichnungen  in  schwarzer  Kreide,  aus¬ 
geführt  auf  feinfaseriges  Papier  (sämtliche  Bogen 
19X14  bezw.  19X15  cm  groß).  Die  31  Kreide¬ 
zeichnungen  entstammen  der  letzten  Lebenszeit  des 
Meisters,  die  dieser  von  1824  an  bis  zu  seinem  am 
16.  April  des  Jahres  1628  eintretenden  Tode  in 
Bordeaux  verbrachte,  abgesehen  von  zwei  kürzeren 
Reisen,  von  denen  die  eine  1824  nach  Paris,  die 
andere  1826  nach  Madrid  unternommen  wurde. 
Wunderbarerweise  hatte  Goya  trotz  seines  hohen 
Alters  (er  war  1746  geboren)  und  trotz  seiner  fort¬ 
dauernden  Kränklichkeit  als  Künstler  damals  noch 
immer  an  Originalität  und  Kraft  der  Darstellung  zu¬ 
genommen,  während  allerdings  die  Grazie  und  Frische 
der  Zeichnung,  wie  sie  den  früheren  Schöpfungen 
des  Meisters  eigen  gewesen  war,  zuletzt  mehr  und 


mehr  versagte,  jedenfalls  aber  tritt  die  gewaltige  Per¬ 
sönlichkeit  des  Künstlers  in  den  letzten  Zeichnungen 
des  Achtzigjährigen  noch  einmal  in  ihrer  vollen  Wucht 
zutage.  Was  Goya  mit  der  Ausführung  dieser  seiner 
letzten  Zeichnungen  bezweckte,  geht  deutlich  genug 
aus  einem  vom  20.  Dezember  des  Jahres  1825  da¬ 
tierten  Briefe  hervor,  den  er  selbst  an  seinen  Freund 
Don  Jose  Maria  Ferrer  gerichtet  hat.  Dort  heißt  es 
nämlich  unter  anderem:  »Was  Sie  mir  bezüglich  der 
,Caprichos‘  mitleilen,  kann  nicht  geschehen,  da  ich 
die  Druckplatten  derselben  vor  mehr  als  zwanzig 
Jahren  dem  Könige  überlassen  habe;  wie  alle  übrigen 
Platten,  die  ich  gestochen  habe,  befinden  sie  sich 
jetzt  in  der  Verwahrung  der  Kupferdruckerei  Seiner 
Majestät.  Und  bei  alledem  hat  man  mich  auch  noch 
bei  der  Santa«  —  dem  Tribunal  der  Inquisition  — 
verklagt!  Ich  habe  sie  nicht  kopiert,  weil  ich  noch 
bessere  Einfälle  (,mejores  ocurrencias*)  für  mich  zurück¬ 
behalten  habe,  die  ich  später  einmal  mit  größerem 
Vorteile  zu  verkaufen  hoffe.«  —  Unter  den  »mejores 
ocurrencias«,  auf  die  Goya  in  diesem  Briefe  anspielt, 
sind  mehrere  der  in  Bordeaux  entstandenen  Hand¬ 
zeichnungen  des  Madrider  Pradomuseums  zu  verstehen, 
fernerhin  die  in  meinem  Besitze  befindlichen  Blätter, 
sowie  endlich  einige  Einzelblätter,  wie  z.  B.  die  beiden 
obengenannten  Neuerwerbungen  des  Berliner  Kupfer¬ 
stichkabinetts. 

Trotz  seiner  80  Jahre  dachte  Goya  damals,  als  er 
den  soeben  zitierten  Brief  schrieb,  offenbar  noch 
keineswegs  ans  Sterben.  Wie  so  viele  Greise,  hoffte 
auch  er  in  der  Tat,  ein  noch  weit  höheres  Alter  er¬ 
reichen  zu  können.  Mit  klaren  Worten  gab  er  dieser 
Hoffnung  Ausdruck  in  einem  an  seinen  Sohn  ge¬ 
richteten  Briefe  vom  24.  Dezember  des  Jahres  1824, 
indem  er  schrieb:  » —  denn  möglicherweise  wird  es 
mir  beschieden  sein,  gleich  Tizian  99  Jahre  alt  zu 
werden«.  —  Jedenfalls  blieb  er  noch  bis  in  sein  letztes 
Lebensjahr  hinein  von  einem  unermüdlichen  Schaffens¬ 
drange  beseelt.  Der  Dichter  Moratin,  ein  Freund 
Goyas,  der  gleich  diesem  selbst  zur  Zeit  der  spanischen 
Reaktionswirtschaft  nach  Bordeaux  ausgewandert  war, 
schreibt  noch  in  einem  vom  28.  Juni  des  Jahres  1825 
datierten  Briefe  an  Melon:  » —  Goya  ist  noch  immer 
der  alte  Hitzkopf  und  malt,  daß  ihm  die  Haare  zu 
Berge  stehen  (,estä  muy  arrogantillo  y  pinta  que  se 
las  pela‘),  und  für  etwaige  Korrekturen  an  dem  ein¬ 
mal  Gemalten  ist  er  natürlich  beileibe  nicht  zu  haben«. 

—  Goya  selbst  berichtet  in  einem  Briefe  an  Ferrer 
vom  20.  Dezember  desselben  Jahres  über  seine  körper¬ 
liche  und  geistige  Verfassung  mit  den  charakteristischen 
Worten:  —  Verzeihen  Sie  vielmals  diese  schlechte 
Schrift,  aber  Auge  und  Hand,  Tinte  und  Feder,  alles 
versagt,  —  nur  der  Wille  ist  mir  noch  geblieben!« 

—  Diese  riesenhafte  Willenskraft  also  ist  es,  der  wir 
noch  so  zahlreiche  geistvolle  Zeichnungen  des  greisen 
Goya  zu  verdanken  haben;  die  Bildnisse  Moralins, 
Silvelas,  Muguiros  und  anderer  Persönlichkeiten  und 
dazu  noch  eine  ganze  Reihe  von  Gemälden,  sie  alle 
sind  ebenfalls  erst  in  Bordeaux  entstanden.  Sogar 
eine  Anzahl  von  Miniaturmalereien  hat  der  Meister 
in  diesen  letzten  Lebensjahren  noch  auszuführen  ver- 


ZEICHNUNGEN  VON  GOYA  AUS  DER  SAMMLUNG  A.  DE  BERUETE  IN  MADRID 


i68 


EINE  SAMMLUNG  VON  HANDZEICHNUNGEN  DES  FRANCISCO  GOYA 


mocht,  wie  aus  einem  seiner  Briefe  an  Ferrer  (vom 
20.  Dezember  1825)  zu  ersehen  ist. 

Den  Handzeichnungen  aus  Goyas  letzten  Jahren 
eignet  ein  so  charakteristisches  Gepräge,  daß  sie  auf 
den  ersten  Blick  wiederzuerkennen  sind.  Wie  schon 
früher  erwähnt  wurde,  vermißt  man  an  ihnen  die 
frühere  Grazie  der  Strichführung,  die  der  Meister  in 
seinen  Zeichnungen,  sowohl  wie  in  seinen  Gemälden 
im  Laufe  der  Jahre  in  der  Tat  eingebüßt  hatte;  dagegen 
zeigen  sie  noch  dieselbe  Entschiedenheit  der  Clairobscur- 
Wirkung,  dieselbe  malerisch  empfundene  Licht-  und 
Schattengebung,  wie  alle  übrigen  Schöpfungen  von 
Goyas  Meisterhand.  Die  Akzentuierung  der  Haupt¬ 
konturen  ist  hier  sogar  noch  wuchtiger  und  noch 
fester  geworden,  als  in  den  Blättern  aus  Goyas  jüngeren 
Jahren,  während  alle  übrigen  Bildpartien  bei  diesen 
letzten  Zeichnungen  in  der  Weise  ausgeführt  wurden, 
daß  der  Künstler  zur  Andeutung  der  Mitteltöne  und 
der  Formenmodellierung  den  Kreidestift  nur  ganz 
leise  über  die  Bildfläche  dahingleiten  ließ. 

Das  bereits  von  mir  zitierte  Goyawerk  von  Loga 
enthält  im  ganzen  fünf  Reproduktionen  von  Zeich¬ 
nungen,  die  sicherlich  aus  den  letzten,  in  Bordeaux 
verbrachten  Lebensjahren  des  Meisters  stammen.  Der 
gleichen  Epoche  also  gehören  auch  die  hier  wieder¬ 
gegebenen  zehn  Goyaschen  Originalzeichnungen  an. 
Sie  sind  sämtlich  in  schwarzer  Kreide  ausgeführt,  und 
einigen  der  Blätter  sind  von  Goyas  eigener  Hand 
kurze  Erläuterungsunterschriften  beigegeben.  Ich  habe 
sie  aus  einer  Anzahl  ähnlicher  Darstellungen  aus¬ 
gewählt,  um  meinen  Lesern  einen  Begriff  zu  geben 
von  der  Art  der  Ausführung,  die  typisch  ist  für  diese 
ganze  Serie.  Meiner  Ansicht  nach  muß  die  Mehrzahl 
der  Blätter  wohl  aus  dem  Gedächtnis  gezeichnet  sein. 


Goya  besaß  die  Gabe,  die  flüchtigsten  Momentbilder 
des  Lebens  in  der  Erinnerung  festzuhalten,  und  be¬ 
durfte  zur  Niederschrift  solcher  Erinnerungen  fast  nie¬ 
mals  eines  Modells.  Nur  bei  einem  dieser  Blätter 
ist  mit  Sicherheit  anzunehmen,  daß  es  vor  dem  leben¬ 
den  Modell  gezeichnet  wurde.  Es  stellt  einen  am 
Boden  liegenden  Gefangenen  dar;  mit  den  Armen 
ist  er  hinterrücks  an  einen  Holzklotz  gefesselt,  sein 
Haupt  ist  gegen  die  Brust  herabgeneigt.  Daß  wir  es 
hier  in  der  Tat  mit  einer  exakten  Studie  nach  der 
Natur  zu  tun  haben,  geht  schon  aus  den  Verhältnissen 
der  einzelnen  Körperteile,  insbesondere  aber  aus  der 
meisterlichen  Behandlung  der  nackten  Füße  hervor. 
Eines  der  Blätter  hat  Goya  »Sucesos  campestres« 
(zu  deutsch  etwa  »Alltagsereignisse  aus  dem  Bauern¬ 
leben«)  betitelt;  man  erblickt  hier  einen  an  einem 
Baume  aufgehenkten  Mann  und  einen  zweiten,  der, 
einen  Wolf  auf  seinen  Schultern  tragend,  in  die  Be¬ 
trachtung  des  Kadavers  versunken  dasteht.  Die  übrigen 
Blätter  zeigen  zwei  Szenen  mit  Wahnsinnigen  oder 
Idioten;  zwei  Szenen  mit  Betenden;  einen  groben 
Arbeitertypus,  der  mit  höchster  Kraftanstrengung  an 
einem  Seile  zieht;  eine  Mutter,  die  lächelnden  Glückes 
ihr  in  ihrem  Schoße  ruhendes  Kindlein  betrachtet; 
eine  mit  der  spanischen  »Mantilla«  geschmückte  Dame 
mit  ihren  Hündchen;  endlich  eine  Duellszene,  auf  der 
die  Wut  der  Brust  an  Brust  ihre  Schußwaffen  gegen¬ 
einander  entladenden  Gegner  im  Beschauer  die  Be¬ 
fürchtung  erwecken  muß,  daß  keiner  der  beiden 
Duellanten  noch  einen  Moment  länger  am  Leben 
bleiben  wird.  Diese  Angaben  mögen  genügen,  um 
den  Darstellungsinhalt  der  hier  reproduzierten  Goya¬ 
zeichnungen  in  Kürze  zu  charakterisieren. 


Die  photographischen  Aufnahmen  für  diesen  Aufsatz 
fertigte  der  Photograph  Moreno  in  Madrid 


ZEICHNUNGEN  VON  GOYA  AUS  DER  SAMMLUNG  A.  DE  BERUETE  IN  MADRID 


ZEICHNUNGEN  VON  GOYA  AUS  DER  SAMMLUNG  A.  DE  BERUETE  IN  MADRID 


ZEICHNUNGEN  VON  GOYA  AUS  DER  SAMMLUNG  A.  DE  BERUETE  IN  MADRID 


ZWEI  POLYCHROME  TONQEFASSE 
AUS  DER  KAISERLICHEN  ERMITAGE  IN  ST.  PETERSBURG 

Von  Eugen  Pridik  in  St.  Petersburg 


Die  von  der  Kaiserlichen  Archäologischen  Kom¬ 
mission  in  Südrußland  und  im  nordwestlichen 
Kaukasien  unternommenen  Ausgrabungen  ha¬ 
ben  ganz  ungeahnt  reiche  Funde  ans  Licht  gebracht. 
Während  im  hellenischen  Mutterlande,  trotz  des  herr¬ 
schenden  Seelenkults,  Luxus  bei  der  Bestattung  der 
Toten  gesetzlich  direkt  verboten  war  und  der  prak¬ 
tische  Sinn  der  Griechen  sich  wohl  auch  selbst  gegen 
eine  Vergrabung  von  Kostbarkeiten  sträubte,  hat  sich 
hier  im  Norden,  vielleicht  mit  unter  dem  Einflüsse 
der  reichen,  prachtliebenden  skythischen  Nachbarn, 
die  alte,  patriarchalische  Sitte,  dem  Toten  alles,  was 
im  Leben  sein  größter  Stolz  und  seine  Freude  ge¬ 
wesen  war,  ins  Grab  mitzugeben,  erhalten.  Die  grie¬ 
chischen  Gräber  und  skythischen  Grabhügel  (die  so¬ 
genannten  Kurgäne)  in  diesen  Gegenden  sind  infolge¬ 
dessen  oft  wahre  Schatzkammern.  Herrlicher  Gold¬ 
schmuck  von  bewunderungswürdiger  Feinheit  der 
Ausführung  (Ohrgehänge,  Armbänder,  Halsgeschmeide, 
Diademe,  Hals-  und  Armringe,  Ringe  zum  Teil  mit 
prachtvollen  geschnittenen  Steinen,  Ketten  von  ver¬ 
schiedenartigen  Goldperlen  usw.),  goldene  Schwerter, 
Schwertscheiden,  Köcher  und  Bogenbehälter  (soge¬ 
nannte  Goryte),  goldene  und  silberne  Vasen  und 
Trinkbecher,  silberne  Trinkhörner  usw.  haben  sich  in 
solcher  Fülle  gefunden,  daß  die  Antikensammlung 
der  Kaiserlichen  Ermitage,  in  welcher  alle  diese 
Schätze  aufgehäuft  liegen,  in  dieser  Beziehung  von 
keiner  Sammlung  der  Welt  auch  nur  annähernd  er¬ 
reicht  wird:  ja,  der  französische  Archäologe  Rayet 
hat  es  einmal  ausgesprochen,  daß,  wenn  man  auch 
die  Bestände  des  British  Museum,  des  Louvre,  des 
Vatikans  und  des  Neapler  Museums  vereinigte,  doch 
die  Ermitagesammlung  sie  an  Reichtum  überträfe. 

Aber  nicht  bloß  herrlichen  Schmuck  haben  uns 
die  Gräber  geschenkt;  unter  den  gefundenen  Vasen 
gibt  es  gleichfalls  Prachtstücke  allerersten  Ranges  aus 
der  Blütezeit  der  attischen  Vasenmalerei.  Auch  die 
beiden  polychromen  Tongefäße,  die  hier  zum  ersten¬ 
mal  in  würdiger  Weise  publiziert  werden^),  gehören 
zu  dem  schönsten,  was  wir  von  dieser  seltenen  Vasen¬ 
gattung  haben;  sie  sind  sicher  attisches  Fabrikat,  wie 
denn  die  polychromen  Vasen  in  Statuetten-  und 


i)  Die  beiden  Vasen  waren  bisher  nur  in  Zeichnungen 
von  Jordan,  Laurent,  Walker  und  anderen  bekannt;  die 
einzige  photographische  Aufnahme  befindet  sich  in  der 
Jubiläumsausgabe  der  Kaiserlichen  Ermitage  zur  Feier  des 
fünfundzwanzigjährigen  Regierungsjubiläums  Kaiser  Alexan¬ 
ders  II.  (Die  Kaiserliche  Ermitage  1855  1880),  die  aber 


Büstenform  wohl  überhaupt  alle  in  Athen  gemacht 
zu  sein  scheinen.  Beide  Vasen  sind  zusammen  in 
einem  Grabe  auf  der  Kertsch  gegenüberliegenden 
Halbinsel  Taman,  an  der  Stelle  des  alten  Phanagoria, 
im  Jahre  1869  von  Baron  Tiesenhausen  gefunden 
worden.  Nach  langen  erfolglosen  Grabungen  stieß 
dieser  hochverdiente  Forscher  endlich  auf  ein  ganz 
unversehrtes,  von  großen  Ziegelplatten  umschlossenes 
Frauengrab,  in  dem  sich  sechs  polychrome  Vasen  in 
Statuetten-  und  Büstenform,  sechs  bemalte  Terra¬ 
kotten  und  sechs  kleine  rotfigurige  Gefäßchen  fanden, 
alles  Funde,  die  dem  Stil  und  der  Arbeit  nach  ins 
Ende  des  5.  Jahrhundert  oder  spätestens  in  den  An¬ 
fang  des  4.  Jahrhunderts  gehören;  an  Schmuck  fand 
sich  nur  ein  schöner  goldener  Ring  am  Finger  der 
Toten.  Die  schönsten  und  am  besten  erhaltenen 
Vasen  waren  die  beiden  hier  in  vier  Fünftel  der  wirk¬ 
lichen  Größe  publizierten  in  Form  einer  sitzenden 
Sphinx  und  der  aus  einer  Kammuschel  hervorkom¬ 
menden  Aphrodite  Anadyomene.  Die  Gravüre  in 
Verbindung  mit  den  Ac|uarellen  soll  gleichzeitig  eine 
Vorstellung  von  Form  und  Farbe  geben. 

Sehen  wir  uns  die  Vasen  etwas  näher  an,  zu¬ 
nächst  die  Sphinx.  Die  Sphinx  sitzt  ruhig  da,  den 
Körper  im  Profil  nach  rechts  gewendet;  der  herrliche 
Kopf  mit  den  schönen  klassischen  Zügen  ist  leicht 
zur  Seite  geneigt  und  dem  Beschauer  in  Dreiviertel¬ 
ansicht  zugekehrt.  Der  Körper,  die  Füße  und  der 
Schweif  sind  elfenbeinfarbig-weiß,  die  Brüste  haben 
einen  leichtrosa  Ton,  das  Gesicht  ist  ganz  fleisch¬ 
farben  und  die  zarten  Übergänge  der  verschiedenen 
Farbentöne,  besonders  auf  den  Wangen,  verleihen 
der  ganzen  Figur  einen  unsagbaren  Liebreiz.  Die 
Lippen  sind  purpurrot  gefärbt,  die  schöne  dunkel¬ 
blaue  Iris  ist  von  dem  Weißen  des  Auges,  das  bläu¬ 
lich  gefärbt  ist,  scharf  geschieden,  jedes  Härchen  der 
Wimpern  ist  wiedergegeben.  Die  Augen  haben 
einen  schmachtenden  Ausdruck,  der  Gesichtsausdruck 
ist  ernst.  Um  den  Hals  hat  die  Sphinx  drei  Reihen 
goldener  Perlenschnüre;  auf  dem  dicht  gelockten,  ganz 
vergoldeten  Haar,  welches  auf  beiden  Seilen  in  je 
zwei  Locken  auf  die  Schultern  herabfällt,  ruht  eine 
hohe  purpurrote  Stephane,  die  mit  sieben  goldenen 
Rosetten  geschmückt  ist;  der  Hinterkopf  ist  mit  einer 

meines  Wissens  überhaupt  nicht  in  den  Handel  gelangt 
ist;  Abzüge  von  der  Platte  sind  indessen  viel  verkauft 
worden.  Die  farbigen  Skizzen,  die  eine  ungefähre  Vor¬ 
stellung  von  der  Farbenpracht  geben  können,  sind  nach 
Aquarellen  des  Malers  Rajewski  gemacht. 


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ZWEI  POLYCHROME  GRIECHISCHE  TONGEFÄSSE 
IN  DER  KAISERL.  ERMITAGE  ZU  ST.  PETERSBURG 


ZWEI  GRIECHISCHE  TONGEEÄSSE 

AQUARELLE  ZUR  VERANSCHAULICHUNG  DER  FARBENWIRKUNG  OBIGER  STÜCKE 


ZWEI  POLYCHROME  TONOEFÄSSE  AUS  DER  KAISERL  ERMITAGE  IN  ST.  PETERSBURG  173 


weißen  Haube  bedeckt,  die  oben  mit  einer  gemalten 
Rosette  verziert  ist.  Die  Federn  der  Flügel  sind 
nicht  plastisch  modelliert,  sondern  durch  verschiedene 
Schattierungen  blau  wiedergegeben;  die  Schwanz¬ 
spitze  ist  auch  vergoldet.  Die  Basis  ist  unten  schwarz 
(die  Farbe  hat  durch  das  Brennen  einen  etwas  röt¬ 
lichen  Ton  bekommen),  darüber  sind  die  Seitenflächen 
der  Basis  mattrot,  oben  mit  lichtem  saftigen  Blau 
gefärbt,  der  Würfel  unter  dem  Körper  der  Sphinx 
und  der  schmale  Streifen  unter  den  Flügeln  sind 
gleichfalls  mattrot,  die  Arabesken  auf  allen  drei  Seiten 
des  Würfels  weiß  gemalt.  Nur  der  Hals  und  der 
Henkel  deuten  darauf  hin,  daß  wir  hier  eine  Lekythos 
vor  uns  haben;  sie  sind  aber  hinter  dem  Kopfe  der 
Sphinx  angebracht  und  stören  den  schönen  Qesamt- 
eindruck  keineswegs.  Am  Halse  der  Lekythos  ist 
das  übliche  Ornament  angebracht,  zwischen  den 
Flügeln  der  Sphinx  befindet  sich  ein  rotfiguriges 
Palmetten-  und  Rankenornament,  wie  es  für  das  5.  Jahr¬ 
hundert  charakteristisch  ist  (s.  Abb.  auf  der  nächsten 
Seite);  auch  der  Stil  weist  diese  Terrakottastatuette  durch¬ 
aus  in  das  5.  Jahrhundert.  Um  den  Hals  zieht  sich 
ein  Kranz  mit  vergoldeten  Früchten,  die  wie  spitze 
Zäpfchen  gebildet  sind.  Die  Vase  ist  mit  einer  dünnen 
Schicht  Pfeifenton  bedeckt,  der  bemalt  ist,  nicht  mit 
gewöhnlichen  Wasserfarben,  sondern  wohl  mit  Leim¬ 
wasserfarben,  wodurch  sich  auch  die  gute  Erhaltung 
erklärt.  Der  Körper  der  Sphinx  und  das  Gesicht 
haben  einen  glänzenden  Ton  wie  polierter,  gewachster 
Marmor  oder  Elfenbein,  die  übrigen  Farben  sind 
matt.  Die  ganze  Lekythos  ist  21  Zentimeter  hoch, 
die  Sphinx  allein  17  Zentimeter.  Bei  der  Auffindung 
soll  die  Statuette  tadellos  erhalten  gewesen  sein,  wie 
eben  gemacht:  das  kann  man  von  ihr  heute  nicht 
mehr  ganz  behaupten.  Auf  der  Hauptseite,  wo  der 
Körper  der  Sphinx  im  Profil  nach  rechts  gewendet 
ist,  ist  auf  dem  Bauche  der  Sphinx  die  Farbe  etwas 
abgebröckelt;  die  Schwanzspitze,  der  Hals  und  der 
Henkel  der  Lekythos,  sowie  ein  Stückchen  von  der 
Stephane  sind  abgebrochen  gewesen  und  wieder  an¬ 
geklebt.  Die  Rückseite  dagegen  und  der  Kopf,  die 
Brust  und  die  Vordertatzen  der  Sphinx  sind  tadellos 
erhalten;  die  Farben  sind  dort  von  einer  Frische, 
daß  man  staunen  muß.  Über  die  Bedeutung  der 
Sphinx  zu  reden,  würde  uns  hier  zu  weit  führen  i). 
Die  Sphinxe  sind  nach  hellenischem  Volksglauben 
Würgengel,  Todesgeister,  die  die  Lebendigen  hinweg¬ 
raffen.  »Aber  diese  Würgerinnen  sind  keine  hä߬ 
lichen  Dämonen;  sie  sind  schön,  berückend  durch 
Liebreiz,  bezaubernd  durch  Anmut.  Sie  singen 
wunderbar  und  haben  ihr  geheimnisvolles  Rätsel,  das 
sie  singen,  von  den  Musen  gelernt.  Der  Tod,  den 
sie  bringen,  ist  hinter  Schönheit  versteckt;  er  lauert 
unter  lachenden  Rosen.«  Diese  schönen  Worte  Furt- 
wänglers  passen  vorzüglich  auch  auf  unsere  ent¬ 
zückende  Statuette;  die  Sphinx  ist  hier  in  der  Tat 
verführerisch  durch  ihren  Liebreiz  und  gleichzeitig 
furchtbar;  sie  ist  wie  eine  Katzennatur,  sammetweich 


1)  Siehe  zuletzt  A.  Furtwängler,  die  Sphinx  von  Ägina 
in  dem  Münchener  Jahrbuch  für  bildende  Kunst  I,  S.  1  ff. 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XVIII.  H.  7 


und  anschmiegend,  bis  sie  zum  Sprunge  ausholt  und 
unentrinnbar  ihr  Opfer  faßt. 

Ebenso  herrlich,  nur  etwas  schlechter  erhalten  ist 
die  andere  Terrakotta vase  in  Gestalt  der  aus  dem 
Meere  in  einer  Kammuschel  hervorkommenden  Aphro¬ 
dite  Anadyomene.  Die  Statuette  Ist  15  Zentimeter 
hoch;  Hals  und  Henkel  sind  abgebrochen;  nur  die 
Ansatzstellen  sind  erhalten,  aber  die  Form  muß  genau 
dieselbe  gewesen  sein,  wie  bei  der  Sphinx,  Auch 
der  Kopf  der  Aphrodite  und  fünf  Stücke  von  der 
rechten  Muschelschale  waren  abgebrochen  und  sind 
mit  einer  mastikartigen  Masse  geklebt,  vielleicht  so¬ 
gar  im  Altertum:  am  Halse  hat  dieser  Klebstoff  eine 
etwas  bläuliche  Färbung  hervorgerufen.  Die  nackten 
Teile  der  Göttin  sind  entzückend,  die  ganze  Statuette 
ist  rosa  oder  eher  hellrot,  von  porzellanförmigem 
Glanz,  und  besonders  auf  Wangen  und  Lippen  ist 
der  Fleischton  vorzüglich  wiedergegeben.  Die  Augen 
sind  nicht  so  gut  erhalten  wie  bei  der  Sphinx.  Um 
den  Hals  hat  die  Göttin  ein  Geschmeide  von  Perlen 
und  21  Bommeln  oder  länglichen  Goldperlen;  besser 
erhalten  ist  die  Vergoldung  bei  den  Perlenschnüren, 
die  sich  auf  der  Brust  kreuzen  und  unter  den  Brüsten 
Anhängsel  von  je  drei  Perlen  haben,  die  in  Form 
von  Dreiecken  angeordnet  sind.  Das  dicht  gelockte 
Haar  über  der  Stirn,  das  auf  beiden  Seiten  in  je 
zwei  Locken  herabfällt,  ebenso  wie  der  Strahlen-  oder 
Blätterkranz  mit  elf  Rosetten  oder  Blüten  waren  auch 
ganz  vergoldet:  die  Vergoldung  hat  sehr  gelitten 
und  an  vielen  Stellen  sieht  man  nur  noch  die  rot¬ 
braune  Farbe,  die  die  Unterlage  für  die  Vergoldung 
gebildet  hat.  Von  den  dreizehn  Strahlen  oder  Blät¬ 
tern,  die  ursprünglich  gebildet  waren,  sind  mehrere 
abgebrochen;  einige  Härchen  sind  mit  ganz  feinen 
Pinselstrichen  auf  Stirn  und  Wangen  hineinhängend 
gemalt;  das  Haar  auf  dem  Kopfe  steckt  in  einer 
weißen  Haube.  Die  Wellen,  die  die  Muschel  um¬ 
spülen,  sind  in  lichtem  Blau  gemalt,  die  Wände  der 
Muschel  selbst  sind  außen  weiß,  innen  rosa  oder 
hellrot:  der  Rand  der  Muschel  und  der  innerste 
Zwickel  derselben  sind  dunkelrosa  bis  rot  gefärbt.  In 
der  linken  Muschel  ist  durch  Einwirkung  des  Lichts 
die  Farbe  ganz  verblaßt,  so  daß  nur  noch  Spuren 
davon  zu  sehen  sind;  in  der  rechten  Muschel  hat 
sich  die  Farbe  sehr  gut  erhalten.  Der  innere  Mantel 
der  Muschel  soll  nach  Stephani  bei  der  Auffindung 
der  Statuette  grellrot  gewesen  sein;  auch  da  ist  die 
Farbe  verblaßt.  Die  Aphroditestatuette  gehört  dem 
Stil  nach  gleichfalls  in  das  5.  Jahrhundert  und  stammt 
aus  derselben  attischen  Fabrik  wie  die  Sphinx,  ist 
wohl  auch  von  derselben  Künstlerhand  geformt  wie 
sie;  wie  Collignon  und  Rayet  sie  für  praxitelisch 
haben  halten  können  und  sie  an  das  Ende  des  4. 
oder  den  Anfang  des  3.  Jahrhunderts  haben  setzen 
können,  ist  für  mich  unerklärlich. 

Eine  Vermutung  mag  hier  kurz  ihren  Platz  fin¬ 
den.  Beide  Statuetten  sind  so  schön  und  form¬ 
vollendet,  daß  sie  auf  bedeutende  Vorbilder  zurück¬ 
gehen  müssen,  und  diese  haben  wir,  wenn  ich  nicht 
irre,  in  einem  Werke  des  Phidias,  dem  Throne  des 
Zeus  in  Olympia,  zu  suchen.  Als  Stützen  der  Arm- 


25 


174  ZWEI  POLYCHROME  TONOEEÄSSE  AUS  DER  KAISERL.  ERMITAGE  IN  ST.  PETERSBURG 


A.  DAS  ORNAMENT  ZWISCHEN  DEN 
FLÜGELN 


leimen  des  Thrones  waren  nach  Tansanias  (V,  ii,  2)  zwei 
Sphinxe  angebracht,  die  Jünglinge  zwischen  ihren  Klauen  hielten, 
als  Symbol  dafür,  daß  Zeus  Herr  sei  über  Leben  und  Tod,  und 
unsere  Statuette  erinnert  sehr  an  ein  Goldelfenbeinbild,  die 
sitzende  Stellung  der  Sphinx  eignet  sich  vorzüglich  als  Armstütze, 
nur  das  Motiv  ist  etwas,  dem  Charakter  des  Gefäßes  entspre¬ 
chend,  verändert:  der  tote  Jüngling  zwischen  den  Klauen  der 
Sphinx  ist  fortgelassen.  Eür  die  Aphrodite  hat  dasselbe  schon 
Stephani  vermutet.  Nach  Tansanias  (V,  11,  8)  war  an  der  Basis 
des  Thrones  die  Geburt  der  Aphrodite  dargestellt:  Eros  emp¬ 
fängt  die  aus  dem  Meere  auftauchende  Göttin,  Peitho  bekränzt 
sie,  alle  großen  Götter  sind  anwesend.  Die  Art,  wie  der  Vor¬ 
wurf,  die  Geburt  der  Aphrodite  darzustellen,  hier  in  unserer 
Statuette  gelöst  ist,  und  die  strahlende  majestätische  Schönheit 
der  Göttin  sind  eines  so  genialen  Künstlers  wie  Phidias  wohl 
würdig.  Doch  stelle  ich  das  hier  als  bloße  Vermutung  hin: 
vielleicht  findet  sich  noch  einmal  eine  Gelegenheit,  ausführlicher 
darauf  zurückzukommen. 

Unsere  beiden  Statuetten  sind  einzig  in  ihrer  Art  nicht  nur 
wegen  der  tadellosen  Arbeit  und  der  vorzüglichen  Erhaltung, 
sondern  ein  besonderer  Reiz  dieser  Eiguren  liegt  auch  gerade 
darin,  daß  uns  in  ihnen  die  Verbindung  der  Malerei  mit  der 
Plastik  so  anschaulich  entgegentritt,  wie  es  bei  den  übrigen  be¬ 
malten  Terrakotten  nicht  annähernd  der  Pall  ist.  Seit  den  Tagen 
von  Winckelmann  und  Goethe  haben  sich  die  Ansichten  über  die 
Polychromie  der  antiken  Skulpturen  sehr  geändert.  Damals  galt 
es  als  ausgemacht,  daß  die  antike  Plastik  Bemalung  und  Earbe 
ausschließe;  heutzutage  gibt  es  wohl  kaum  einen  Archäologen, 
der  diesen  Glaubenssatz  noch  nachsprechen  dürfte’).  Die  wenigen 
Angaben,  die  wir  in  unseren  antiken  Schriftquellen  haben,  stim¬ 
men  so  vorzüglich  zu  den  Ergebnissen  der  Ausgrabungen  der 
letzten  Jahrzehnte,  daß  über  die  Polychromie  der  antiken  Skul¬ 
pturen  heute  kein  Zweifel  mehr  bestehen  kann;  namentlich  die 
Punde  in  Olympia,  Delphi,  Delos,  auf  der  Akropolis  von  Athen, 
in  der  Nekropolis  von  Sidon,  um  nur  das  Wichtigste  zu  nennen, 
und  andere  haben  unsere  Kenntnisse  so  bereichert,  daß  wir  über 
diese  Frage  jetzt  ganz  anders  urteilen  können  wie  vor  dreißig 
Jahren.  Wir  können  jetzt  zu  Recht  behaupten,  daß  bis  weit  in 
die  Kaiserzeit  hinein  Bemalung  kaum  je  ganz  gefehlt  hat,  wenn 
sie  auch  zu  verschiedenen  Zeiten  verschieden  behandelt  worden 
ist.  Zur  Erläuterung  nur  einige  Beispiele.  Die  alten  Götterbilder 
waren  ursprünglich  holzgeschnitzt  und  natürlich  bunt  gemalt.  Auch 
die  früharchaischen  Porosskulpturen,  die  sich  auf  der  Akropolis 
von  Athen  gefunden  haben  (Hydragiebel,  Typhongiebel,  Stier- 


1)  Zuletzt  hat  über  diese  Frage  gehandelt  A.  Furtwängler,  Ägina, 
das  Heiligtum  der  Aphaia,  München  igo6,  S.  304  ff.  Vergl.  auch  M. 
Collignon,  la  polychromie  dans  la  sculpture  grecque,  Paris  1898,  wo 
S.  97  ff.  die  wichtigste  Literatur  zitiert  ist,  und  E.  Gardner,  a  handbook 
of  greek  sculpture,  London  1905,  S.  28  ff. 


FL  DIE  I’ALMETTE  AM 
HENKEL 


C.  DAS  ORNAMENT  VORN  AM 
HALSE 


EINZFLHFITEN  VON  DER  SITZENDEN  SI’HINX 
Naliirliclie  Grüße 


ZWEI  POLYCHROME  TONOEFÄSSE  AUS  DER  KAISERL  ERMITAGE  IN  ST.  PETERSBURG  175 


gruppe),  zeigen  noch  volle  Bemalung,  auch  der  nackten 
Fleischteile:  das  Material,  der  poröse  Muschelkalkstein, 
war  eben  so  minderwertig,  daß  es  verdeckt  werden 
mußte.  Die  Einführung  des  Marmors  in  die  Skul¬ 
ptur  bringt  einen  großen  Wandel  mit  sich:  man  will 
das  edle  Material  recht  zur  Geltung  kommen  lassen 
und  doch  auf  den  Reiz  der  Farbe  nicht  ganz  ver¬ 
zichten.  Die  Koren  von  der  Akropolis  in  Athen,  die 
Ägineten  und  die  sonstigen  archaischen  Marmor¬ 
skulpturen  lehren  uns,  wie  man  sich  dabei  geholfen 
hat:  die  nackten  Teile  werden  nicht  mehr  bemalt, 
auch  das  Gewand  wird  nicht  mehr  durchweg  gefärbt, 
sondern  nur  mit  farbigen  Säumen  und  Ornamenten 
geschmückt.  Die  antiken  Quellen  geben  uns  auch 
die  Bezeichnung  für  dieses  doppelte  Verfahren:  Gänosis 
und  circumlitio.  Die  Gänosis  bestand  in  einer  Ab¬ 
tönung,  Beizung,  Lasierung  des  Marmors  durch  Ein¬ 
reibung  mit  flüssigem,  mit  Öl  vermengten  punischem 
Wachs,  das  durch  nahe  daran  gehaltene  Kohlenbecken 
zur  gleichmäßigen  Verteilung  über  die  ganze  Fläche 
und  zum  Eindringen  in  die  Poren  des  Marmors  ge¬ 
bracht  wurde.  Vitruv  VII,  g,  der  uns  dieses  Verfahren 
beschreibt,  bemerkt  ausdrücklich,  daß  es  für  die 
nackten  Fleischteile  angewendet  worden  sei.  Dadurch 
wurde  der  grelle  Ton  des  Marmors  gemildert  und 
eine  gewisse  Weichheit  und  Ähnlichkeit  mit  der 
menschlichen  Epidermis  hervorgerufen,  ohne  daß  das 
feine  Korn  des  Marmors  darunter  litt.  Der  Ausdruck 
circumlitio  (Ummalung)  deutet  darauf  hin,  daß  hier 
nur  eine  Prozedur  gemeint  sein  kann,  bei  der  gewisse 
Teile,  Umrisse  größerer  Flächen  usw.  farbig  behandelt 
wurden.  Denn  sonst  hätte  auch  die  bekannte  Er¬ 
zählung,  daß  Praxiteles  diejenigen  seiner  Statuen  am 
meisten  geschätzt  habe,  an  welche  der  berühmte  Maler 
Nikias  Hand  angelegt  habe,  gar  keinen  Sinn;  zum 
Anstreichen  hätte  sich  Nikias  kaum  hergegeben,  und 
gerade  so  feine  Terrakotten,  wie  unsere  beiden  Vasen, 
zeigen  recht  deutlich,  was  für  Effekte,  welche  Leben¬ 
digkeit,  welcher  Liebreiz  durch  künstlerische  circum¬ 
litio  erreicht  werden  konnten.  Der  freie  große  Stil, 
der  sich  gleich  nach  den  Perserkriegen  zu  entfalten 
beginnt,  liebt  wieder  Bemalung  größerer  Flächen  und 
meidet  die  zierliche  Musterung,  wie  wir  sie  bei  den 
Koren  und  Ägineten  finden.  Unsere  beiden  Vasen 
gehören,  wie  wir  gesehen  haben,  an  das  Ende  des 
5.  Jahrhunderts:  da  wir  von  der  Bemalung  der  Par¬ 
thenonskulpturen  leider  nichts  Genaueres  wissen,  so 
können  wir  zum  Vergleich  nur  den  lycischen  Sarko¬ 
phag  aus  Sidon  heranziehen,  und  da  sehen  wir  auch, 
wie  sich  die  Sphinxe  vom  blauen  Hintergründe 
weiß  abheben  und  nur  Haar  und  Augen  bemalt  sind. 


Aus  dem  4.  Jahrhundert  haben  wir  einige  Hauptstücke 
für  antike  Polychromie,  den  Sarkophag  der  Klage¬ 
frauen  und  den  sogenannten  Alexandersarkophag  aus 
Sidon:  überall  sehen  wir  Bemalung,  nur  die  Farben¬ 
skala  ist  reicher  geworden:  statt  der  Beschränkung 
auf  Rot  und  Blau,  wie  wir  sie  bei  den  archaischen 
Skulpturen  finden,  werden  jetzt  auch  Gelb,  Rosa, 
Violett,  Braunrot  und  ähnliche  Farben  verwandt  und 
größere  Flächen,  wie  z.  B.  die  ganzen  Gewänder  usw. 
bemalt.  Beim  Hermes  des  Praxiteles  in  Olympia 
finden  sich  auch  sichere  Farbspuren  am  Haar  und 
an  den  Sandalen.  Aus  späterer  Zeit  erwähne  ich  nur 
eine  Aphroditestatue  aus  Pompeji,  wo  noch  das  ganze 
Gewand  rosa,  gelb  usw.  gefärbt  ist,  die  Augustus- 
statue  von  Prima  porta  usw.;  die  Anwendung  von 
verschiedenfarbigen  Steinen  in  der  späteren  Kaiserzeit 
ist  ja  auch  nur  ein  Ersatz  für  die  Bemalung.  So 
sehen  wir,  wie  sich  durch  die  ganze  Kunstgeschichte 
die  Bemalung  nachweisen  läßt.  Das  Nackte  ist  bei 
den  Marmorskulpturen  wohl  nie  bemalt  gewesen;  man 
begnügte  sich  mit  der  Gänosis.  Ob  darunter  bis¬ 
weilen  eine  farbige  Lasur,  die  den  Marmor  durch¬ 
schimmern  ließ,  z.  B.  auf  den  Wangen,  wie  bei 
unseren  Statuetten,  vor  der  Gänosis  angewendet  wor¬ 
den  ist,  ist  schwer  zu  sagen  und  wohl  kaum  je  die 
Regel  gewesen;  wir  können  sie  jedenfalls  an  keiner 
der  erhaltenen  Statuen  nachweisen.  Dagegen  die 
Haare,  der  Bart,  die  Augen,  wohl  auch  die  Brust¬ 
warzen  und  die  Lippen  sind  wohl  stets  bemalt  ge¬ 
wesen,  ebenso  wie  das  Gewand,  die  Sandalen  und 
sonstiges  Beiwerk  (Helme,  Waffen,  Schmuck  usw.), 
wenn  es  nicht  aus  Metall  eingesetzt  war.  Bestimmte 
Gesetze  können  dabei  natürlich  nicht  aufgestellt  wer¬ 
den,  jeder  Künstler  hatte  vollkommene  Freiheit,  wie 
weit  er  bei  der  Färbung  seines  Bildwerkes  gehen 
wollte.  Dabei  kam  es  wohl  auch  sehr  darauf  an,  ob 
das  Bild  allein  für  sich  zu  wirken  bestimmt  war, 
oder  ob  es  als  Teil  eines  größeren  Ganzen  z.  B.  als 
Schmuck  eines  Bauwerks  dienen  sollte.  Da  die  Ar¬ 
chitekturstücke  selbst  in  Farbenpracht  erstrahlten,  so 
mußte  auch  der  bildliche  Schmuck,  die  Giebel,  Metopen, 
Friese  bemalt  werden.  Jedenfalls  hielt  sich  die  Be¬ 
malung  stets  in  gewissen  künstlerischen  Grenzen  und 
die  griechischen  Marmorskulpturen  haben  nie  den 
Eindruck  von  bemalten  Wachsfiguren  hervorgerufen. 
Die  griechischen  Künstler  haben  sich  bemüht,  ihre 
lebenden  Modelle  soweit  als  möglich  in  Form  und 
Farbe  zu  kopieren,  haben  aber  stets  die  Grenzen 
ihres  Könnens  erkannt  und  sie  nie  überschritten;  die 
Bemalung  bleibt  stets  konventionell  und  die  Wahl 
der  Farben  beschränkt. 


■-25 


LANDHAUS.  ARCHITEKT  ARMAS  LINDOREN 


MODERNE  BAUKUNST  IN  FINNLAND 

Von  Alarik  Tavaststjerna  in  Helsingfors 


Man  wird  die  neuen  Strömungen  in  der  finn- 
ländischen  Baukunst  unserer  Tage  schwerlich 
richtig  charakterisieren  und  beurteilen  können, 
wenn  man  nicht  die  Art  der  Architektur  in  Betracht 
zieht,  die  der  modernen  zeitlich  voranging.  Verwandte 
Züge  verknüpfen  diese  Bauarten  nicht  miteinander, 
wohl  aber  die  schärfsten  Kontraste. 

Im  großen  und  ganzen  gesehen  trägt  die  Archi¬ 
tektur  des  verflossenen  Jahrhunderts  in  Finnland  durch¬ 
aus  ein  ausländisches  Gepräge.  Dieses  läßt  sich  aufs 
einfachste  erklären.  Noch  vor  hundert  Jahren  bildete 
Finnland  einen  unselbständigen  Teil  Schwedens.  Bei 
der  Vereinigung  mit  Rußland  —  1809  und  später 
—  wurde  der  Grundstein  zu  der  eigentümlichen 
Staatsform  des  Landes  gelegt.  Neue  Möglichkeiten 
für  ein  entwickeltes  Kulturleben  eröffneten  sich  hier¬ 
mit.  Selbstverständlich  sollten  hieraus  der  Baukunst 
Aufgaben  neuen,  monumentalen  Charakters  erstehen. 
Ein  Herrscherwort  —  und  die  Kleinstadt  Helsingfors 
verwandelte  sich  in  die  Hauptstadt  des  neuen  Gro߬ 
fürstentums.  Gewaltige  Bauprobleme  standen  jetzt 
vor  der  Tür.  Wo  aber  gediegene,  geschulte  Kräfte 
zu  deren  Lösung  finden?  Im  Lande  selbst  hatte  man 
solche  Kräfte  nicht  zur  Verfügung;  die  finnländische 
Kunst  —  besonders  die  Baukunst  —  führte  nämlich 
zu  jener  Zeit  ein  kaum  merkbares,  schwächliches 
Leben.  Man  maßte  sich  an  das  Ausland  wenden. 
Und  dies  wurde  für  Jahrzehnte  zur  Regel.  Entweder 
wurden  Ausländer  einberufen,  oder  es  waren  ein¬ 
heimische  Architekten  gezwungen,  ihre  Ausbildung 
im  Auslande  zu  erwerben.  Erst  1879  wurde  schlie߬ 
lich  durch  die  Einrichtung  des  Polytechnischen  In¬ 
stitutes  in  Helsingfors  die  Ausbildung  einheimischer 
Architekten  in  Finnland  ermöglicht.  Aber  noch  lange 


danach  vernahm  man  den  einmal  angeschlagenen 
fremden  Grundton. 

Von  den  Ausländern,  die  in  Finnland  gebaut 
haben,  wurde  der  zuerst  einberufene  ohne  Zweifel 
auch  der  bedeutendste;  Karl  Ludwig  Engel,  von  Ge¬ 
burt  ein  Deutscher.  Von  1816  an  in  unserem  Lande 
und  besonders  in  Helsingfors  tätig,  erhielt  er  die  be¬ 
deutungsvolle  Aufgabe,  die  politische  und  kulturelle 
Existenz  des  neugebildeten  Staates  in  architektonischen 
Formen  zu  verkörpern.  Engel  errichtete  Bauten  für 
den  finnländischen  Senat,  die  Universität  und  deren 
Bibliothek,  für  die  lutherische  Landeskirche,  von  vielen 
kleineren  Aufträgen  nicht  zu  reden.  Und  wie  scharf 
die  finnländische  Architektur  unserer  Tage  auch  von 
seiner  Baukunst  abweicht,  muß  doch  immer  zugegeben 
werden,  daß  Engel  nach  einem  groß  angelegten  Plan 
gearbeitet  und  unserem  Helsingfors  einen  lichten  und 
offenen,  freien,  monumentalen  Charakter  hat  verleihen 
wollen.  Den  Neoklassizismus,  der  die  Baukunst  im 
Auslande  beherrschte,  verpflanzte  er  mit  seinen  ein¬ 
fach-grandiosen  Schöpfungen  nach  Finnland.  Als 
dann,  nach  Engels  Tode  im  Jahre  1840,  die  Ent¬ 
wickelung  unserer  Baukunst  allmählich  andere  Bahnen 
einschlug,  bestand  ein  auffallender  verwandter  Zug 
zwischen  der  antikisierenden  Richtung  Engels  und 
der  darauffolgenden  sogenannten  »Renaissance«:  beide 
strebten  sie  bewußt  nach  einer  möglichst  solennen 
Gestaltung  nach  außen  und  nach  innen.  Hierbei 
wurde  aber  kein  Unterschied  gemacht  zwischen  der 
abweichenden  Art  der  entsprechenden  Aufgaben.  Das 
Feierliche,  durchaus  am  Platze  in  bezug  auf  Bau¬ 
fragen  öffentlichen  Charakters,  wurde  auch  auf  Privat¬ 
bauten  übertragen  —  niemand,  am  wenigsten  der 
Architekt  selbst,  sah  darin  etwas  den  Geschmack  ver- 


MODERNE  BAUKUNST  IN  FINNLAND 


177 


PARTIE  DES  GESCHÄFTS-  UND  WOHNHAUSES  »POHJOLA«  IN  HELSINGFORS 
ARCHITEKTEN :  GESELLIUS-LINDGREN-SAARINEN 


letzendes.  Herausgerissen  aus  der  warmen,  sonnigen 
Umwelt  des  Südens,  wurde  die  reich  und  mächtig 
geformte  Palastarchiteklur  der  Renaissance  zur  Ge¬ 
staltung  bürgerlicher  Häuser  im  trüben  Norden  redu¬ 
ziert.  Wie  verflachend  und  zur  Unwahrheit  verleitend 
dieses  natürlich  auf  den  schaffenden  Baukünstler 
wirken  mußte,  sah  man  nicht  ein,  ebensowenig  wie 
das  lächerlich  Aufgeblasene  in  dieser  Transformation. 
Dem  Ganzen  fehlte  es  an  Klangfülle:  es  war  entweder 
matt  oder  gespreizt.  Eine  volltönende,  breit  harmo¬ 
nisierte  Orchestersymphonie  wurde  auf  einer  Zither 
oder  Guitarre  gespielt. 

Alles  dieses  mußte  Opposition  hervorrufen.  Und 
alsbald  erklang  ein  neuer  Ton  in  der  Architektur  des 
Landes:  innig,  trotzig,  voller  jugendlicher  Begei¬ 
sterung. 

Was  bekämpfte  man?  Woran  glaubte  man;  wel¬ 
chem  Ideal  jubelte  man  zu? 

Es  war  die  mutige  Reaktion  junger,  reichbegabter 
Talente  gegen  fade  Schablone,  gegen  die  seelenlos 
spießbürgerliche  Behandlung  künstlerischer  Probleme, 
gegen  die  antiindividualistischen  und  antinationalen 
Tendenzen,  welche  im  Laufe  von  Jahrzehnten  die 
finnländische  Baukunst  durchsäuert  und  ihre  gesunde 
Entwickelung  verhindert  hatten.  Mit  der  Wärme  der 
Überzeugung  und  zugleich  der  Verachtung  glaubte 
man  an  eine  Baukunst,  die  frei  war  von  all  diesem 
Übel,  frei  von  jedem  leeren  Prunk,  jeder  aufge¬ 
schminkten  Lüge,  an  eine  eigene,  von  Grund  aus 
finnländische  Architektur.  Wahrheit  forderte  man 
und  über  den  Sieg  der  Wahrheit  jubelte  man. 

Um  die  Mitte  der  neunziger  Jahre  des  vorigen 
Jahrhunderts  begann  die  Revolte.  Die  Pioniere  waren 
die  jungen  Baukünstler  Eliel  Saarinen,  Armas  Lind- 
gren  und  Herman  OeselUus.  Noch  Schüler  der  Ar¬ 
chitekturabteilung  des  Polytechnikums,  erhielten  sie 
im  Jahre  1897  nach  einem  siegreich  bestandenen 


Wettbewerb  den  Auftrag  ein  vierstöcki¬ 
ges  Privathaus^)  in  Helsingfors  zu  bauen. 
Verhältnismäßig  unansehnlich,  ist  der 
Bau  doch  bemerkenswert  als  die  erste 
Schöpfung  der  Firma » Gesellius-Lindgren- 
Saarinen'<,  die  später  die  Führung  der 
neuen  Richtung  übernehmen  sollte.  Viele 
Ideen,  die  damals  neue  Bahnen  andeu¬ 
teten,  haben  hier  ihre  erste  Gestaltung 
gefunden  (obwohl  ihnen  freilich  noch 
manches  Tastende,  Ungefestigte  anhaftet), 
und  dieser  Bau  kann  also  gewissermaßen 
als  der  Ausgangspunkt  des  art  nouveau 
innerhalb  der  finnländischen  Architektur 
gelten. 

Um  stärker  die  Eigenart  des  neuen 
Stiles  hervorzuheben  wäre  es  verlockend, 
ausführlich  unsere  Renaissancearchitektur 
zu  charakterisieren.  Aber  es  ist  genügend, 
den  schon  erwähnten  typischen  Charak¬ 
terzug  derselben,  die  Feierlichkeit,  noch 
einmal  zu  unterstreichen.  Man  betrachte 
doch  die  Fassaden:  ein  militärisch 
strammes,  streng  symmetrisch  gebundenes 
Grundschema  mit  gleichen  Fenstern  in  gleichen  Grup¬ 
pen  oder  gleichen  Abständen  voneinander;  das  Dach 
möglichst  wenig  abschüssig,  oft  am  Gesims  mit  einer 
Balustrade  versehen,  deren  Aufgabe  es  unter  anderen 
ist,  die  nicht  beabsichtigte  unruhige  Wirkung  der  un¬ 
regelmäßig  über  die  Dachlinie  emporragenden  Schorn¬ 
steine  zu  benehmen;  die  Ornamentik  schließlich  ohne 
Individualität,  allgemeine  stereotype  Phrasen,  dem 


1)  Das  Tallbergsche  Haus  im  Stadtteil  »Skatudden 


»LÄKARENESHUS  (DAS  HAUS  DER  ÄRZTE)  IN  HELSINGFORS 
ARCHITEKTEN:  GESELLIUS-LINDGREN-SAARINEN 


178 


MODERNE  BAUKUNST  IN  EINNLAND 


fleißig  benutzten  Nachschlagebuch  der  Stilarten  ent¬ 
nommen  —  das  sind  die  typischen  Grundlinien  in 
der  ein  für  allemal  bestimmten  Paradeuniform.  Und 
das  Interieur:  die  Zimmer,  präzise  viereckige  Säle, 
Seite  an  Seite,  liegen  meistens  en  file-,  die  Türen 
sind  breit,  zweiflügelig  (die  einflügelige  Tür  wird  als 
zu  simpel«  nur  für  Küche,  Vorratskammer  und  der¬ 
gleichen  gebraucht)  und  dann  —  eine  scheinbare 
Kleinigkeit  —  in  jedem,  selbst  dem  kleinsten  Zimmer 
wird  die  Mitte  der  Decke  durch  eine  papierne  Rosette, 
Gips  imitierend  und  mit  einem  eisernen  Haken  darin, 
pointiert;  es  wird  gar  nicht  in  Betracht  genommen, 
ob  dieses  oder  jenes  Zimmer  seine  Hauptquelle  künst¬ 
lichen  Lichts  gerade  dort  haben  muß.  Das  Solenne 
ist  die  Seele  des  Renaissancehauses. 

Gerade  dieses  Solenne  war  aber  den  Männern 
der  neuen  Richtung  ein  Dorn  im  Auge.  Es  ver¬ 
giftete  ja  augenscheinlich  die  private  Architektur  und 
gab  der  öffentlichen  das  Gepräge  einer  kalten,  von 
außen  aufgezwimgenen,  schablonenhaften  Neutralität. 
Von  all  dem  Banalen,  in  ein  System  Gebannten  und 
kosmopolitisch  Gefärbten  wollte  man  los  kommen 
und  statt  dessen  intuitiv,  aus  dem  Geiste  der  eigenen 
Nation  schaffen.  Ein  bemerktes  Resultat  dieser  Be¬ 
strebungen  wurde  der  finnländische  Pavillon  auf  der 
Pariser  Ausstellung  iQoo,  eine  Schöpfung  der  Firma 
Gesellins  -  Lindgren  -  Saarinen.  Sie  wirkte  wie  eine 
Fanfare:  geh  in  dich!  Kehre  zurück  zu  der  guten 
alten  Kunst  deiner  Heimat!  Betrachte  diese  altertüm¬ 


sr~i 

iipl  1 

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büWiSrsssbbb  I  li  -‘3 

lichen,  stimmungsvollen  Dorfkirchen,  unsere  soliden 
Burgen  aus  dem  Mittelalter!  Laß  dich  von  diesem 
Anblick  begeistern  und  schmücke  dein  Werk  nicht 
mit  den  nichtssagenden  konventionellen  Gipsdekora¬ 
tionen,  sondern  mit  den  Formen  und  Farben,  welche 
dir  aus  der  Fauna  und  Flora  der  Heimat  entgegen¬ 
leuchten.  Wirf  die  Schablone  beiseite  und  folge 
deinem  Instinkt!  Laß  das  Lineal  und  halle  dir  stets 
den  Zweck  des  Hauses  vor  Angen!  So  und  nur  so 
wird  deine  Schöpfung  Leben  und  Wahrheit  gewinnen. 

Ein  Programm  wie  dieses  mußte  lebhaften  Ein¬ 
druck  machen  auf  junge,  warmblütige  Gemüter,  die 
das  lote  Kramen  in  Stilarten  herzlich  satt  hatten  und 
sich  nach  einer  neuen,  lebendigen  Parole  sehnten. 
Die  Renaissance  wurde  kühn  und  radikal  annulliert. 
Bauten,  welche  die  Richtung  in  dieser  Beziehung 
repräsentierten,  entstanden  bald  in  Menge.  Welches 
Aufsehen  erregte  nicht  das  igoi  erbaute  Geschäfts¬ 
und  Wohnhaus  Pohjola  und  das  für  einige  Ärzte 
erbaute  Privathaus,  Läkarcncs  liiis  (Haus  der  Ärzte) 
genannt,  beide  in  Helsingfors  und  Schöpfungen  der 
Firma  Gesellius-Lindgren-Saarinen:  »Pohjola«,  diese 
ungeheuerliche  architektonische  Phanlasmagorie,  wo 
ein  ganzer  Schwarm  absonderlicher  Gestalten  und 
Formen  der  Urzeit  in  dem  schweren,  düstern  Material 
des  Hauses  zu  leben  scheint  und  tatsächlich  auch 
hier  und  da  fratzenhaft  hervorwächst,  einen  Hauch 


1 

PORTAL  VORHALLE  UND  TREPPENHAUS 

IM  HAUSE  DES  POLYTECHNISCHEN  VEREINS  (  SAMPO  )  IN  HELSINGFORS.  ARCHITEKTEN:  LINDAHL  &  THOME 


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PARTIE  EINES  WOHNHAUSES  IN  HELSINGEORS  VORHALLE  EINES  GESCHÄFTSHAUSES  IN  WIBORG 

ARCHITEKT:  USKO  NYSTRÖM  ARCHITEKT;  ALLAN  SCHULMAN 


i8o 


MODERNE  BAUKUNST  IN  EINNLAND 


DIE  JOHANNESKIRCHE  IN  TAMMERFORS.  ARCH,:  LARS  SONCK 


sagenhafter  Mystik  über  das  Haus  verbreitend;  Das 
Haus  der  Ärzte«  wiederum  mit  seinen  glatten,  ge¬ 
tünchten  Fassaden  ohne  jede  Leiste  oder  Fenster¬ 
umrahmungen  und  allen  Dekor  reduziert  auf  die 
kleinen  symbolischen  Figuren  des  Eckenerkers  —  eine 
Apotheose  der  Einfachheit  ohnegleichen  bisher  hier 
in  Finnland. 

Man  kann  behaupten,  daß  diese  beiden  Häuser  je 
eine  Entwickelungslinie  der  finnländischen  Architektur 
eröffnet  haben.  »Das  Haus  der  Ärzte«  wurde  der 
Urtypus  aller  jener  hellgetünchten,  mehr 
oder  weniger  spärlich  dekorierten  Häuser 
unter  steilen  roten  Ziegeldächern,  die 
man  jetzt  allgemein  bei  uns  sieht.  »Poh- 
jola«  seinerseits  inaugurierte  bei  uns  eine 
Serie  Häuser  mit  Fassaden  aus  natürlichem 
Stein  und  mit  ausgeprägt  rustiken  Formen. 

Betrachtet  man  die  neue  Richtung  ge¬ 
nauer,  so  wird  man  auf  jedem  Schritt 
deren  Charakter  der  Opposition  gegen  die 
Renaissance  deutlich  gewahr. 

Von  innen  nach  außen  —  nicht  um¬ 
gekehrt —  soll  die  Komposition  geschehen. 

Der  in  allen  Beziehungen  zweckmäßigen 
Gestaltung  des  Zimmers  wird  darum  großes 
Interesse  zugewandt.  Für  die  öffentliche 
Architektur  ist  in  dieser  Beziehung  der  von 
Gesellius-Lindgren-Saarinen  ausgearbeitete 
Entwurf  zu  einem  Historisch-Ethnographi¬ 
schen  Museum  in  Helsingfors^)  in  hohem 


Grade  charakteristisch,  denn  dieser  Entwurf  beruht  auf 
modernen  Ideen,  die  zwar  im  Auslande  entstanden,  aber 
desselben  Geistes  Kinder  sind  wie  die  neue  Richtung  bei 
uns  und  bei  ihrerVerwirklichung  einen  stark  betonten  na¬ 
tionalen  Charakter  erhalten  haben.  Im  Privathause  wird  das 
Salongepräge  vermieden.  Die  Einzeltür  kommt  wieder 
zu  Ehren,  oft  kombiniert  mit  einem  schmäleren  Teil, 
der  gewöhnlich  zugeriegelt  ist  und  nur  bei  Bedarf 
geöffnet  wird.  Die  Wohnräume  sind  nur  mit  Rück¬ 
sicht  auf  wirkliche  Bewohnbarkeit  und  Möglichkeit 
gemütlicher  Einrichtung  entworfen,  Faktoren,  die  wäh¬ 
rend  der  Renaissance  -  Periode  kaum  in  Betracht 
kamen.  Die  Konsequenz  hiervon  ist,  daß  die  früher 
dominierende,  in  einem  Zuge  linierte  Mittelmauer  ihr 
»noli  me  tangere«  aufgeben  mußte  und  ebenso  die 
gerade  Außenmauer:  ein  oder  zwei  »Kniee«  in  der 
ersteren  kann  wunderbar  leicht  die  Entstehung  stören¬ 
den  Verkehrslinien  in  einer  Wohnung  verhindern, 
und  in  wie  hohem  Grade  eine  Erkerpartie  oder  sogar 
eine  schwache  Anschwellung  der  Fassade  nach  außen 
zur  Belebung  eines  Interieurs  beitragen,  ist  überflüssig 
zu  erläutern.  Und  in  der  Außenarchitektur  sind  diese 
Maueranschwellungen  für  die  neue  Kunst  ebenso 
charakteristisch  wie  unentbehrlich  geworden.  Sie  wer¬ 
den  fast  unglaublich  in  der  Form  variiert  —  oft  an 
ein  und  demselben  Hause  und  offenbaren  so  die 
starke  Neigung  für  das  Malerische,  die  die  Richtung 
auszeichnet.  Vor  allem  flieht  man  die  trockene  Regel, 
und  die  unerbittlichen  Imperative  der  Symmetrie  sind 
freieren  Gestaltungsprinzipien  zum  Opfer  gefallen. 

Es  lag  im  Wesen  der  Opposition,  nicht  nur 
die  Renaissance  zu  verleugnen,  sondern  auch  positiv 
zu  beweisen,  daß  man  die  Kraft  hatte  etwas  Neues 
zu  schaffen.  Die  Lust  neue  Formen  und  Kombina¬ 
tionen  zu  finden  macht  sich  daher  lebhaft  geltend. 
Das  steile,  gewöhnlich  rote  Dach,  das  recht  oft  über 
einige  Mauerpartien  hinabgleitend  sich  diesen  an¬ 
schmiegt,  damit  andere  um  so  schärfer  hervorgehoben 
werden,  trägt  mit  seinen  Schornsteinen  und  Mansarden- 


i)  Noch  im  Bau  begriffen. 


KLEINKINDERSCHULE  IN  HELSINOFORS.  ARCH.:  W.  |UNO  UND  FABRITIUS 


MODERNE  BAUKUNST  IN  FINNLAND 


WOHNHAUS  IN  HELSINGFORS.  ARCHITEKTEN:  B.  JUNO  UND  BOMANSON 


fenstern  dazu  bei,  der  äußeren  Physiogno¬ 
mie  des  Hauses  einen  neuen,  eigenartigen 
Zug  zu  verleihen.  Ebenso  verhält  es  sich 
mit  den  Fenstern.  Ihre  Größe,  Lage  und 
Form  variieren  sehr.  Und  das  nicht  nur 
der  Fassade  wegen.  Im  Gegenteil  ist 
hier  der  Wunsch,  jedem  Zimmer  eine  so¬ 
wohl  in  praktischer  wie  künstlerischer  Be¬ 
ziehung  möglichst  vorteilhafte  Beleuchtung 
zu  geben,  ein  mitbestimmender  Faktor. 

Der  Erker  ist  schon  erwähnt;  die  Loggia 
kommt  ab  und  zu  vor,  trotzdem  sie  für 
das  hiesige  Klima  ungeeignet  ist.  Zu 
diesen  die  Fassade  belebenden  Elementen 
gesellen  sich  der  Turm  oder  eigentlich 
der  Turmhelm  und  der  Spitzgiebel,  Mo¬ 
mente,  die  für  die  Silhouette  des  Hauses 
von  großer  Bedeutung  sind.  Alle  diese 
Architekturmotive  asymmetrisch  gegenein¬ 
ander  zu  balancieren  ist  durchaus  nicht 
leicht,  und  es  ist  nicht  jedem  beschert,  diese 
Aufgabe  in  künstlerischem  Geiste  zu  lösen. 

Das  merkt  man  leider  nur  zu  oft  in  un¬ 
serer  neuen  Architektur.  In  der  neuesten 
dagegen  merkt  man  recht  allgemein  ein  Streben 
nach  symmetrischer  Ausbildung  der  Fassade.  Es  ist 
augenscheinlich  schwer,  wenn  nicht  gar  unmöglich, 
in  solchen  Städten  wie  Helsingfors  das  malerische  Prin¬ 
zip  mit  Glück  durchzuführen;  dazu  sind  die  Straßen 
und  Plätze  hier  allzu  geradlinig  angelegt  worden. 
Nachdem  die  Renaissance  jetzt  bei  uns  definitiv  ent¬ 
thront  worden,  scheint  eine  unparteiische  Betrach- 


OESCHÄFTS-  UND  WOHNHAUS  PIRTTI  IN  HELSINGFORS 
ARCHITEKTEN :  GESELLIUS-LINDGREN-SAARINEN 
Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XVIII.  H.  7 


tung  außerdem  ergeben  zu  haben,  daß  die  äußere 
Symmetrie  an  sich  nicht  von  Übel  sei,  sondern  viel¬ 
mehr  in  gewissen  Fällen  gut  mit  den  Forderungen 
des  neuen  Ideals  in  bezug  auf  die  innere  Architektur 
vereinbar  ist.  Wo  also  Bedingungen  für  die  äußere 
Symmetrie  vorhanden  waren,  ist  diese  wieder  ange¬ 
wandt  worden.  Aber  daraus  folgt  nicht,  daß  ein  all¬ 
gemeiner  Rückzug  zum  statiis  qiio  ante  stattgefunden 
hätte.  Dieses  sei  erwähnt  als  ein  Beweis  für  die 
Lebenskraft  der  neuen  Richtung  und  zugleich  als  ein 
gutes  Omen  für  eine  zukünftige,  immer  scharfsichtigere 
Entwickelung  unserer  Baukunst. 

Oder:  sollte  mit  der  Symmetrie  wirklich  der  ein¬ 
mal  vollkommen  abgeschaffte  Dekor  der  Renaissance 
wieder  von  neuem  erstehen? 

Das  scheint  vollkommen  unmöglich.  Das  Detail 
der  Renaissance  mußte  verschwinden,  denn  es  besaß 
eine  Feinheit  und  Vollendung,  die  jeder  weiteren 
Entwickelung  trotzten.  Man  konnte  ja  nicht  hier 
stehen  bleiben,  wenn  man  in  allen  übrigen  Beziehungen 
vorwärts  strebte.  Das  meue«  Detail  zerschnitt  des¬ 
halb  kurzerhand  jedes  Band  mit  der  alten  Kunst.  Sein 
Wesen  ist  neu  in  der  Wahl  der  Motive:  die  ein¬ 
heimisch-nordische  Tier-  und  Pflanzenwelt  muß  immer¬ 
fort  neue  Motive  liefern  und  wird  mit  menschen¬ 
ähnlichen  mytischen  Gestalten  und  Formen  verknüpft, 
diese  oft  grausam  verzerrt  oder  hinterlistig  hervor¬ 
lugend.  Und  sehr  charakteristisch  für  das  Neue  ist, 
daß  dies  Dekor,  wo  es  im  Putz  oder  natürlichem 
Stein  gebildet  ist,  äußerst  intim  mit  seinem  Material 
zusammenhängt.  Diese  Fratzen  und  Gestalten  scheinen 
im  Stein  zu  wurzeln  und  zu  leben  und  nur  für  einen 
Augenblick  an  die  Oberfläche  desselben  geschlüpft 
zu  sein,  um  die  einfältige  Menschenwelt  zu  betrachten 
oder  zu  verhöhnen.  Alles  »Angeklebte«,  wie  die 
Renaissance  es  liebt,  wird  streng  vermieden.  Außer  die¬ 
sem  bildnerischen  Schmuck  macht  sich  letzter  Zeit  auch 

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MODERNE  BAUKUNST  IN  FINNLAND 


1 82 


INTERIEUR  DES  GEBETHAUSES  IN  BERGHALL  (H ELSINGFORS) 
ARCHITEKT:  V.  I’ENTTILÄ 


eine  Verzierung  mittels  direkt  im  Bewurf  angebrachter 
Steinmosaik  bemerkbar:  eine  einfache  Methode  von 
eigenartiger  Wirkung.  Selbstverständlich  hat  man  die 
Farbe  nicht  vergessen  sowohl  im  Ganzen  wie  im 
Detail,  besonders  was  die  Innenarchitektur  betrifft; 
der  Farbe  hat  die  moderne  Baukunst  in  Finnland 
manche  schöne  Effekte  zu  verdanken,  leider  trifft 
aber  auch  zuweilen  das  Gegenteil  ein.  Nunmehr 
macht  sich  aber  in  allem  Dekor  ein  Streben  nach 
größerer  Verfeinerung  und  Veredelung  des  Rohen 
und  Primitiven  geltend. 

Schließlich  sei  es  noch  erwähnt,  daß  der  neue 
Stil  dem  Material  und  dessen  naturgemäßer  Behand¬ 
lung  eine  große  Bedeutung  zumißt.  Die  harten,  sehr 
schönen  Granitsorten,  an  denen  das  Land  so  reich 
ist,  sind  immer  mehr  in  Anwendung  gekommen, 
sogar  bei  Bekleidung  ganzer  Fassaden,  und  ebenso 
der  sogenannte  Topfstein  (täljsten),  diese  grauschim¬ 
mernde,  weiche,  außerordentlich  bildbare,  aber  zu¬ 
gleich  kräftige  Steinart,  die  sehr  reichlich  im  östlichen 
Finnland  vorkommt.  Und  dem  Putz  wird  es  nicht 
mehr  gestattet,  natürlichen  Stein  vorzutäuschen.  Der 
Putz  wird  seinen  individuellen  Möglichkeiten  gemäß 
behandelt  und  auf  diese  Weise  sind  ihm  Eigenschaften 
abgewonnen  worden,  die  in  bemerkenswertem  Grade 
das  Aussehen  eines  Hauses  beleben  können. 

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Daß  die  baukünstlerische  Komposition  sich  all¬ 
mählich  aus  dem  Bann  des  »Stils«  befreit  hatte,  wurde 
als  ein  Segen  empfunden.  Und  es  war  ein  Segen, 
obwohl  diese  Befreiung  natürlich  den  Keim  zu  Gu¬ 
tem  wie  Bösem  in  sich  trug.  Auf  der  Grundlage 
der  Selbständigkeit  sollte  der  Architekt  arbeiten.  Die 
Hinweisung  auf  die  einheimische  Baukunst  ver¬ 
gangener  Jahrhunderte  bezweckte  nur  den  Blick  auf 
eigene  verschollene  Schätze  der  Nation  zu  lenken 
und  das  Gemüt  mit  jener  warmen  Stimmung  zu 
erfüllen,  die  allein  imstande  ist,  den  Gedanken  zu 
beflügeln  und  der  Hand  Festigkeit  zu  verleihen.  Das 
alles  wollte  man.  Aber  die  Hinweisung  barg  eine 
Gefahr  in  sich,  sogar  für  die  Führer  der  Bewegung. 
Die  Verwirklichung  des  nationalen  Gedankens  wurde 
nur  allzu  leicht  eine  Fessel  für  die  Selbständigkeit  und 
verleitete  zu  manchem  absurden  Anachronismus.  Wenn 
man  sich  begeistern  ließ  von  der  Stimmung,  die  über 
der  Architektur  des  Mittelalters  ruht  und  kraft  dieser 
Begeisterung  arbeitete,  so  war  es  ja  natürlich,  daß 
die  Formwelt  des  Mittelalters  wieder  hervortrat.  So 
vergaß  man,  daß  die  Gegenwart  unzählige  Möglich¬ 
keiten  geschmeidiger  und  eleganter  Baugestaltung 
darbietet,  und  begann  in  der  Komposition  auf  eine 
beinahe  unglaubliche  Art  mit  schweren  Massen, 
mit  dem  zyklopisch  Bastanten  und  roh  Behauenen 
zu  operieren. 

Jedoch:  die  neue  Richtung  war  eine  gewaltsame 
Opposition  gegen  die  Renaissance  und  so  versteht 
man  denn  psychologisch  diesen  Zug  zu  einer  Formen¬ 
welt,  die  nie  geschult,  nie  übermäßig  verfeinert,  nie 


GESCHÄFTSHAUS  »OTAVA«  IN  HELSINGFORS 
ARCHITEKT:  KARL  LINDAHL 


FENSTER  AUS 
DER  PRIVATBANK  IN 
HELSINOFORS 


ARCHITEKTEN; 
LARS  SONCK  UND 
WALTER  JUNG 


WOHNHAUS  OLOESBORG«  IN  HELSINOFORS 
ARCHITEKTEN ;  OESELLIUS-LINDOREN-SAARINEN 


WOHNHAUS  IN  HELSINOFORS 
ARCHITEKT:  GUSTAF  ESTLÄNDER 


KRANKENHAUS  »EIRA 
IN  HELSINOFORS 


ARCHITEKT: 
LARS  SONCK 


26 


MODERNE  BAUKUNST  IN  FINNLAND 


1 84 

kunstgemäß  ausgemeißelt  worden,  man  versteht  diese 
Sympathie  für  das  primitiv  Solide,  das  ursprünglich 
Wilde.  Ein  extremes  Beispiel  für  diese  Sympathie  ist 
das  Vereinshaus  »Sampo<  ,  erbaut  1903  in  Helsingfors. 
Man  sehe  nur  die  gewaltigen  rohen  Blöcke,  die  in 
der  Eintrittshalle  den  Gewölben  ihren  niedrig  ange¬ 
brachten  Anfang  verleihen,  man  sehe  den  roh  ge¬ 
zimmerten  Treppenpfosten,  die  mächtigen  Einfas¬ 
sungen  subtiler  elektrischer  Beleuchtungskörper,  man 
sehe  diese  ungeheueren  Beschläge  an  den  Türen  — 

und  der  Griff! - Ja,  das  Haus  existiert  wirklich: 

Es  ist  ein  wertvoller  Beleg  für  die  Übertreibungen 
der  neuen  Richtung. 

Die  Neigung  für  das  trotzig  Massive,  für  das  den 
Menschen  der  Gegenwart  Abschreckende,  ist  auch 
aus  einem  andern  Gesichtspunkte  erklärlich.  Man 
erinnere  sich,  daß  Bobrikoffs  Gendarmenfaust  gerade 
zur  Zeit  der  Entstehung  der  neuen  Richtung  Finn¬ 
land  derb  gepackt  hatte.  Und  mir  scheint,  daß  man 
kaum  fehlgreifen  dürfte,  wenn  man  behauptet,  daß 
der  politische  Druck,  die  Unsicherheit  an  Leib  und 
Gut,  in  bestimmter  Richtung  die  Architekten  —  be¬ 
wußt  oder  unbewußt  • —  in  der  Wahl  der  Formen 
beeinflußt  haben.  Diese  schwerfälligen,  geschlossenen, 
sozusagen  nach  innen  gekehrten  Kompositionen,  die 
man  jetzt  oft  bei  uns  sieht,  scheinen  gleichsam  alle 
Kraft  gesammelt  zu  haben  in  Erwartung  eines  drohen¬ 
den,  gefährlichen  Feindes.  Der  massige,  breite,  niedrige 
Turm,  einige  an  Schießscharten  erinnernde  Fenster, 
Scheiben  kleinsten  Formats,  niedrige,  in  Spitzbogen¬ 
form  gebaute  Tore,  sowie  in  Granitblöcke  gefaßte 
Eingänge,  deren  Türen  mit  tüchtigen  Beschlägen  ver¬ 
sehen  sind  —  alles  dieses,  so  charakteristisch  für  die 
moderne  Baukunst  in  Finnland,  hat  derselben  von 
Lästerzungen  den  Spottnamen  Gefängnisarchitektur« 
eingebracht,  obwohl  dessen  deutliche  Formensprache 
zu  sagen  scheint:  ich  will  meinen  Herrn  und  Ge¬ 
bieter  beschützen; 
haltet  Euch  fern  Ihr 
Räuber  und  schlei¬ 
chendes  Gesindel! 

Die  oben  ange¬ 
deuteten  Charakter¬ 
züge  offenbaren  die 
deutliche  Neigung, 
die  Bauart  längst  ver¬ 
gangener,  stark  er¬ 
regter  und  unsiche¬ 
rer  Zeiten  zu  attrap- 
pieren.  Das  Roman¬ 
tisch-Malerische  ist 
das  Ideal,  das  dem 
Architekten  vor¬ 
schwebt.  Aber  gar 
oft  hat  dieses  Ideal 
derart  den  Baukünst¬ 
ler  geblendet  und 
verwirrt ,  daß  er 
bei  der  Kompo¬ 
sition  die  sachlich 
eindringende  Ana¬ 


lyse  der  vorliegenden  modernen  Aufgabe  aus  den 
Augen  verloren  hat.  Um  den  bezweckten  Stimmungs¬ 
effekt  zu  erzielen,  wird  die  natürliche  und  zeitgemäße 
Aufgabe  auf  eine  unnatürliche  und  unzeitgemäße 
Weise  gelöst.  Hierin  liegt  die  Schwäche  der  Rich¬ 
tung,  die  zuerst  von  den  Architekten  Sigurd  Frosterns 
und  Gustaf  Strengeil  hervorgehoben  wurde  in  einer 
Serie  allgemein  bemerkter  Artikel,  die  im  Frühjahr 
1904  in  der  Tagespresse  erschienen.  Deren  Oppo¬ 
sition  gegen  die  Opposition  war,  im  großen  gesehen, 
ohne  Zweifel  ganz  am  Platze,  ein  Wort  für  die  Zeit 
und  vor  der  Zeit  gesprochen,  obgleich  die  meisten 
es  gar  nicht  verstanden,  ein  Blitz,  der  nicht  traf.  Sie 
verwarfen  die  Schwärmerei,  das  launische,  bizarr 
phantastische  Spiel  mit  Bauformen  und  Verzierungen 
und  forderten  einen  gesunden  Rationalismus  als  Aus¬ 
gangspunkt  für  das  baukünstlerische  Schaffen.  Die 
Phantasie  müsse  hervorquellen  aus  einem  überaus 
reichen  modernen  technischen  Wissen  und  sich  nicht 
dem  Gefühl  ergeben;  ein  Bauproblem  der  Gegen¬ 
wart  müsse  mit  den  Mitteln  der  Gegenwart  gelöst 
werden;  ein  kurzsichtiger  Nationalismus,  dessen  ein¬ 
zige  Gedankenquellen  dürftig  komponierte  Dorfkirchen 
und  einige  burgartige  Bauten,  sowie  vielleicht  noch 
Motive  der  finnisch-russischen  Bauernarchitektur  im 
östlichen  Finnland  seien,  müsse  gesprengt  werden, 
damit  eine  Baukunst  auf  der  Base  moderner  west¬ 
europäischer  Kultur  entstehen  könne.  Der  archäo¬ 
logische  und  archaisierende  Zug  der  Richtung  sei 
gar  nicht  national,  sondern  im  Gegenteil  eklektisch, 
in  deren  »schimmernder  Legierung  Reminiszenzen 
an  englische  Gotik  und  deutsches  Mittelalter,  an  den 
spanischen  Übergangsstil  und  maurisch-arabische  For¬ 
men  auftauchen«. 

Die  Aufforderung  der  jungen  Opponenten,  der 
Romantik  zu  entsagen,  scheint  vorläufig  wenig  Gehör 
gefunden  zu  haben.  Sie  wiesen  allerdings  in  die  Zu¬ 
kunft,  deuteten  neue 
Ideale  an.  Aber  ihre 
Kritik  der  bestehen¬ 
den  Richtung  war  in¬ 
sofern  einseitig,  als 
sie  nur  die  Mängel 
derselben  hervor¬ 
hoben.  Für  die 
Männer  dieser  Rich¬ 
tung  bedeutete  je¬ 
doch  die  Beseelung 
des  Problems  so  un¬ 
geheuer  viel  und  fand 
ihren  Ausdruck  unter 
anderem  in  dem  leb¬ 
haften  Interesse  für 
die  Planbildung. 
Daß  sie  in  dieser  Be¬ 
ziehung  unserer  Ar¬ 
chitektur  wertvolle 
Impulse  gegeben, 
muß  deshalb  hier 
ausdrücklich  hervor¬ 
gehoben  werden. 


VORHALLE  IM  HAUSE  DES  POLYTECHNISCHEN  VEREINS  (  SAMPO  ) 
IN  HELSINOFORS.  ARCHITEKTEN:  LINDAHL  UND  THOME 


EINE  NEUE  KOPIE  DES  MYRONISCHEN  DISKOBOLEN  IN  ROM 

Von  Walther  Amelung  in  Rom 


Kaum  ein  Kunstwerk  der  Welt  man  mag 
alle  Zeiten  durchdenken  —  hat  so  andauernd 
die  erstaunte  Bewunderung  wachgerufen,  wie 
der  Diskoswerfer  des  Myron,  eine  Statue,  in  der  der 
Künstler  mit  ungeheurem  Wagemut  einen  Höhepunkt 
äußerster  Spannung  und  Bewegung  am  jugendlich 
männlichen  Körper  dargestellt  hat,  den  Augenblick, 
in  dem,  wie  vor  einer  Explosion,  alle  Kräfte  sich  zur 
letzten  höchsten  Leistung  zusammenfassen  und  spannen, 
in  dem  der  ganze  Körper  in  äußerster  Bewegung  nur 
zwischen  zwei  festen  Punkten  im  Gleichgewicht  ge¬ 
halten  wird,  zwischen  dem  fest  in  den  Boden  ge¬ 
krallten  rechten  Fuße  und  der  mit  dem  schweren 
eisernen  Diskos  mächtig  nach  rückwärts  geschwungenen 
rechten  Hand.  Der  Körper  beugt  sich  wie  ein  ge¬ 
spannter  Bogen;  im  nächsten  Augenblick  prallt  er 
gestreckt  empor  und,  wie  vom  Bogen  der  Pfeil,  saust  der 
Diskos  aus  der  vorgeschwungenen  Rechten  zum  Ziele. 
Der  linke  Arm  hängt  nur  lose  gespannt  abwärts  und  der 
linke  Fuß  schleift  mit  umgeknickten  Zehen  auf  dem 
Boden.  Der  Kopf  (s.  die  3  Abbildungen)  ist  der  Ge¬ 
walt  des  Schwunges  gefolgt  und  blickt  rückwärts.  Nie 
im  Leben  konnte  Myron  diesen  flüchtigsten  Augen¬ 
blick  am  lebenden  Modell  festhalten  und  studieren. 
Ein  glücklicher  Blick  nur  konnte  ihm  blitzartig  offen¬ 
baren,  welch  eine  Fülle  von  Möglichkeiten  gerade 
dieser  Moment  barg,  von  dem  Reichtum  der  wun¬ 
derbaren  Kräfte,  die  in  einem  athletisch  vollkommen 
ausgebildeten  Körper  walten,  das  lebendigste  Bild  zu 


geben.  Aufbauen  mußte  er  seine  Figur  ganz  aus 
der  Erinnerung,  komponieren  mußte  er  sie  aus  der 
Idee  dieser  Aktion,  deren  einfachste  eindrucksvollste 
Formel  er  suchen  mußte  und  fand.  Dabei  verstand 
es  sich  für  ihn,  den  älteren  Zeitgenossen  des  Phidias, 
von  selbst,  daß  er  die  Figur  reliefartig  ausbreitete,  so 
daß  sie  in  der  Ansicht,  die  als  die  einzige  Haupt¬ 
ansicht  gelten  sollte,  dem  Beschauer  sofort  all  ihre 
Motive,  alle  Umrisse  in  voller  Klarheit  und  Schönheit 
entfaltet.  Dazu  kam  das  unerhörte  technische  Wagnis 
—  das  Original  war  aus  Bronze  —  eine  derartig 
reich  bewegte,  nach  beiden  Seiten  weit  ausragende 
Figur  fast  nur  auf  einen  Fuß  zu  stellen.  Aber  was 
wäre  all  das,  so  erstaunlich  es  in  jener  Zeit  des 
Ringens  und  Werdens  sein  mag,  wenn  nicht  die 
Linien  und  Formen  dieses  Diskobolen  eine  so  gran¬ 
diose,  ernste,  reiche  Sprache  redeten,  eine  Sprache, 
der  es  nicht  an  Härten  und  Gewaltsamkeiten  fehlt, 
die  sich  aber  in  dem  Kopf  und  seinem  stillen  Aus¬ 
druck  zu  einer  bestrickenden  Schönheit  und  Feinheit, 
zu  einer  Lebensfülle  steigert,  die  von  tief-innerem 
Feuer  genährt  wird.  Das  ist  Bachsche  Musik! 

Aber  wo  ist  das  Werk,  von  dem  ich  spreche,  als 
stände  es  vor  mir?  Feuer  hat  es  geschmolzen.  Nur 
Marmorkopien  der  römischen  Zeit  sind  uns  erhalten, 
und  langer  Arbeit  bedurfte  es,  ehe  es  gelingen  wollte, 
aus  diesen  ein  annähernd  getreues  Bild  der  einzigen 
Schöpfung  zu  gewinnen.  Zwar  gab  es  lange  eine 
gut  erhaltene  Wiederholung  der  ganzen  Figur  —  sie 


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EINE  NEUE  KOPIE  DES  MYRONISCHEN  DISKOBOLEN  IN  ROM 


ist  immer  noch  die  einzige,  an  der  der  Kopf  erhalten 
ist  —  aber  ihr  Besitzer,  der  römische  Fürst  Lancelolti, 
hält  seinen  Schatz  mit  kindischer  Eifersucht,  der  es 
nicht  ganz  an  Berechnung  fehlt,  vor  allen  Blicken 
verschlossen.  Zwei  schlechte  Photographien  aus  alter 
Zeit  gaben  die  einzige  Anschauung  von  ihr;  da  stellte 
sich  vor  einigen  Jahren  heraus,  der  Kopf,  der  wert¬ 
vollste  Teil,  sei  doch  einmal  vor  Zeiten  abgegossen 
worden;  ein  Abguß,  von  dem  seither  weitere  Exem¬ 
plare  abgeformt  wurden,  fand  sich  im  Louvre.  Nun 
konnte  man  daran  gehen,  den  Abguß  einer  der  son¬ 
stigen  Wiederholungen  mit  diesem  Kopfe  zu  ergänzen. 
Furtwängler  ließ  diesen  Versuch  in  München  mit  dem 
Abguß  der  vatikanischen  Kopie  unternehmen,  und 
das  Resultat  war  zwar  noch  nicht  durchaus  befrie¬ 
digend,  wirkte  aber  doch  wie  eine  Offenbarung,  be¬ 
sonders  als  man  einen  dieser  Abgüsse,  nachdem  der 
Stamm,  die  für  den  Mar¬ 
mor  notwendige  Stütze, 
entfernt  war,  bronzieren 
ließ,  um  auch  dadurch 
dem  Originale  näher  zu 
kommen.  Die  Figur  schien 
sich  vom  Boden  zu  lösen, 
und  dieser  Eindruck 
schwebender  Leichtigkeit 
wurde  noch  gehoben 
durch  die  verschmälernde 
dunkle  Farbe  und  das 
Spiegeln  der  Flächen  und 
Kanten.  Aber  man  hatte 
den  linken  Arm,  der  an 
keiner  der  öffentlich  aus¬ 
gestellten  Kopien  erhalten 
ist,  nach  den  Photogra¬ 
phien  des  Discobolo  Lan- 
celotti  und  nach  einer 
Statuette,  von  der  nur  Ab¬ 
güsse  bekannt  sind  und 
von  der  noch  nicht  ein¬ 
mal  feststeht,  ob  sie  antik 
ist,  ergänzen  müssen.  Dazu  ist  die  Wiederholung  im 
Vatikan  erbärmlich  flau,  durchweg  überarbeitet  und 
im  ganzen  etwas  kleiner,  als  die  im  Pal.  Lancelotti; 
Gründe  genug,  um  zu  erklären,  warum  diese  Zusam¬ 
mensetzung,  so  verdienstlich  sie  im  Augenblick  war, 
auf  die  Dauer  nicht  befriedigen  konnte. 

Da  wurden  im  April  des  verflossenen  Jahres  am 
Ufer  des  tyrrhenischen  Meeres  und  im  Gebiet  des 
alten  Laurentium  Reste  einer  römischen  Villenanlage 
gefunden  und  in  ihnen  Fragmente  einer  neuen  Wie¬ 
derholung  des  Diskobolen  (Abb.  i).  Die  Anlage  ist  auch 
an  sich  interessant:  das  Wohngebäude  lag  nicht  weit 
vom  Meeresstrande,  zu  dem  drei  Marmortreppen  ab¬ 
wärts  führten.  An  der  einen,  der  Südseite  des  Ge¬ 
bäudes,  dehnte  sich  ein  ummauerter  Garten  aus,  offen 
gegen  das  Meer.  Auch  zu  diesem  führte  eine  breite 
Marmortreppe  nieder,  und  nicht  weit  vor  ihr  fand 
sich  im  Garten  das  Postament  der  Statue,  die  so  auf¬ 
gestellt  war,  daß  sie  ihre  Hauptseite  dem  Meere  zu¬ 
wendete;  beachtenswert  ist,  daß  die  Basis  nur  etwa 


einen  halben  Meter  hoch  ist,  die  Figur  also  für  unsere 
Begriffe  sehr  niedrig  stand.  Wir  können  diese  Be¬ 
obachtung  öfter  machen;  Griechen  und  Römer  liebten 
es  in  den  besten  Zeiten,  den  Statuen  fast  Auge  in 
Auge  gegenüberzustehen;  sie  blieben  dadurch  in  in¬ 
timerer  Beziehung  mit  dem  Bildwerk  und  dessen 
obere  Teile  verschoben  sich  nicht  zu  stark.  Jeden¬ 
falls  sollten  wir  bei  der  Aufstellung  antiker  Statuen 
diesem  Geschmacke  Rechnung  tragen. 

Die  Ausgrabung  hatte  in  der  Nähe  eines  könig¬ 
lichen  Jagdschlosses,  Castel  Porziano,  stattgefunden 
auf  Befehl  des  Königs,  der  die  Fragmente  des  Dis¬ 
kobolen  dem  römischen  Museo  nazionale  delle  Terme 
überweisen  ließ;  alsbald  machte  sich  der  heutige 
Direktor  dieses  schönsten  Museums  der  Welt,  Giulio 
Emanuele  Rizzo,  mit  seltener  Energie  an  die  Arbeit, 
deren  Ergebnis  dem  Leser  auf  unserer  Tafel  vor  Augen 

steht.  Die  eine  dieser  Ab¬ 
bildungen  gibt  die  neue 
Wiederholung,  soweit  sie 
sich  aus  ihren  Fragmen¬ 
ten  zusammensetzen  ließ. 
Ein  Blick  zeigt  jedem  die 
hohe  Vollendung  der 
Ausführung,  und  näheres 
Studium  lehrt  bald,  wie 
wenig  hier  von  der  her¬ 
ben  Größe  der  originalen 
Formengebung  verloren 
ist.  Dadurch  überragt 
die  neue  Kopie  alle  an¬ 
deren  weit.  Dann  kommt 
hinzu,  daß  hier  vom  lin¬ 
ken  Arm  nur  einige 
Finger  fehlen,  deren  Lage 
sich  aber  auch  mit  Hilfe 
der  Stützen  bestimmen 
läßt;  und  vollständig  sind 
die  Schamteile  erhalten, 
die  denn  auch  in  dem 
staatlichen  Museum  nicht 
Gefahr  laufen,  von  einem  barbarischen  Feigenblatt 
überdeckt  zu  werden;  wie  in  allem  liegt  auch  hier 
in  dem  breiten  Halbmond  der  streng  stilisierten 
Haare  monumentale  Größe,  und  wie  in  allem,  ist 
auch  hier  lebendigstes  Gefühl  in  der  Art,  wie  das 
Glied  von  der  heftigen  Bewegung  emporgeworfen 
wird.  Die  Bewegung  des  Kopfes  läßt  sich  nach 
dem  erhaltenen  Halsansatze  mit  Sicherheit  erschließen, 
ebenso  die  Haltung  des  rechten  Armes  aus  dem 
Schulteransatz.  Von  den  Füßen  ist  nur  der  linke 
große  Zehen  gefunden  worden.  Noch  sei  erwähnt, 
daß  sich  aus  bestimmten  Anzeichen  eine  Ergänzung 
der  Statue  in  antiker  Zeit  erkennen  läßt;  von  ihr 
stammt  die  Plinthe  mit  dem  Unterteil  des  Stammes, 
der  übrigens  hier  so  diskret  wie  möglich  hinter  die 
Beine  gerückt  ist. 

Wäre  dieses  wundervolle  Fragment  vor  hundert 
Jahren  zutage  gekommen,  man  hätte  es  einem  Bild¬ 
hauer  zur  Ergänzung  überantwortet;  ja,  noch  vor 
weniger  als  einem  halben  Jahrhundert  wäre  im  Vater- 


ABIi.  1.  FRAGMENT  EINER  ANTIKEN  MARMORKOPIE  DES  ABB.  2.  DER  DISKOBOLOS  DES  MYRON 

MYRONISCHEN  DISKOBOLEN  ERGÄNZTER  GIPSABGUSS 


i88 


EINE  NEUE  KOPIE  DES  MYRONISCHEN  DISKOBOLEN  IN  ROM 


lande  der  Kunst  eine  derartige  Barbarei  nicht  unmög¬ 
lich  gewesen.  Inzwischen  hat  sich  durch  den  Vor¬ 
gang  eines  Mannes,  der  sich  dadurch  den  Dank  aller 
kommenden  Geschlechter  verdient  hat,  des  Professor 
Treu  in  Dresden,  ein  anderes  Prinzip  Bahn  gebrochen: 
fort  mit  allen  willkürlichen  Ergänzungen!  Wo  besser 
erhaltene  Wiederholungen  sich  finden,  suche  man  mit 
Abgüssen  der  ergänzenden  Teile  das  Fehlende  zu 
ersetzen!  Darnach  hat  denn  erfreulicherweise  auch 
Rizzo  gehandelt,  bisher  ein  einsamer  Stern  am  nächt¬ 
lichen  Himmel  italienischer  Museumsverwaltung.  Und 
gewiß  wird  man  ihm  auch  darin  Recht  geben,  daß 
er  den  Marmor  ganz  unberührt  ließ,  aber  einen  Ab¬ 
guß  der  neuen  Wiederholung  benutzte,  um  das  ganze 
Werk  vollständig  wiederherzustellen.  Auf  den  Hals 
fügte  sich  der  Kopf  nun  ohne  Schwierigkeit,  da  die 
neue  Kopie  in  ihren  Maßen  mit  der  im  Pal.  Lancelotti 
durchaus  übereinstimmt.  Zur  Ergänzung  des  rechten 
Armes  benutzte  Rizzo  den  Abguß  eines  vorzüglichen 
Fragmentes  in  der  Casa  Buonarotti  in  Florenz  —  die 
Übereinstimmung  in  der  Güte  der  Arbeit  zwischen 
diesem  Arm  und  dem  neuen  Funde  ist  so  groß,  daß 
sogar  der  Gedanke  auftauchen  konnte,  der  Arm  stamme 
von  der  Figur  und  sei  an  derselben  Stelle  vor  Jahr¬ 
hunderten  gefunden  worden  die  Füße  endlich 


lieferte  die  Wiederholung  der  Figur  im  British  Museum. 
So  steht  nun  das  ganze  Werk  in  gesicherter  Rekon¬ 
struktion  vor  uns  (Abb.  2),  wesentlich  besser,  schöner, 
überzeugender  als  vorher  in  München.  Ein  großer 
Schritt  vorwärts  ist  getan,  und  Dank  sei  dem  Manne 
gesagt,  der  zum  erstenmal  auf  italienischem  Boden 
und  gegen  den  Widerstand  der  rückständigen  Ele¬ 
mente  eine  derartige  Arbeit  geleistet  hat.  Marmor 
und  Abguß  stehen  jetzt,  wie  in  unseren  Abbildungen, 
in  einem  neu  eröffneten  Zimmer  des  Thermenmuseums 
nebeneinander^). 

Wer  einen  Schatz  besitzt,  soll  sich  nicht  damit 
genügen  lassen,  ihn  zu  erhalten;  nur  was  Frucht 
bringt,  lebt.  Eine  gelungene  Leistung  aber  birgt  in 
sich  die  Verpflichtung  zu  weiteren,  höheren  Taten. 
Möge  dieser  neue  Gewinn  des  römischen  Museums 
den  Beginn  eines  neuen  Lebens  in  allen  italienischen 
Antikengalerien  bedeuten! 


1)  Beide  sind  inzwischen  von  Rizzo  in  dem  neu  er¬ 
schienenen  »Bollettino  d’Arte«  del  Ministero  della  P.  Istru- 
zione  Anno  I  Num.  I  mit  drei  Tafeln  publiziert  worden. 
Vgl.  auch  Lanciani  in  den  Monumenti  antichi  della  R. 
Accademia  dei  Lincei  1906  S.  241  ff.,  wo  besonders  aus¬ 
führlicher  über  die  antike  Villenanlage  berichtet  wird. 


Herausgeber  und  verantwortliche  Redaktion:  E.  A.  Seemann,  Leipzig,  Querstraße  13 
Druck  von  Ernst  Hedrich  Nachf.  o.  m.  b.  h.  Leipzig 


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CONSTANTIN  GUYS 

Von  Karl  Eugen  Schmidt 


Die  Geschichte  dieses  Zeichners  gehört  mit  zu 
den  seltsamsten  Dingen  unserer  Zeit.  Kein 
Romandichter  könnte  sich  ein  Künstlerleben 
fremdartiger  ausdenken,  und  wenn  Guys  die  Idee  ge¬ 
habt  hätte,  seine  Lebenserinnerungen  niederzuschreiben, 
hätten  wir  ein  modernes  Seitenstück  zum  Gil  Blas, 
zum  Simplicius  Simplicissimus  und  zum  Lazarillo  de 
Tormes  erhalten.  Als  er  im  Jahre  1892  in  der  Maison 
Dubois  starb,  in  jenem  Krankenhause,  welches  seit 
einem  halben  Jahrhundert  die  letzte  irdische  Herberge 
der  in  der  Boheme  hängengebliebenen  Pariser  Künstler 
und  Dichter  ist,  erfuhr  man  mit  Staunen,  daß  Guys 
so  lange  noch  gelebt  hatte  —  soweit  man  wußte, 
daß  er  überhaupt  je  gelebt  hatte.  Dies  nicht  zu 
wissen,  bedurfte  keiner  Entschuldigung,  denn  Con- 
stantin  Guys  hat  von  den  vielen,  vielen  tausend 
Blättern,  die  er  geschaffen,  niemals  eins  mit  seinem 
Namen  unterzeichnet.  Und  daß  die  Wenigen,  die 
ihn  kannten,  ihn  für  längst  gestorben  hielten,  war 
ebenfalls  nicht  überraschend,  denn  seit  mehr  als 
zwanzig  Jahren  hatte  Guys  kein  Lebenszeichen  mehr 
gegeben,  war  keines  seiner  Blätter  mehr  in  einer 
illustrierten  Zeitung  oder  bei  einem  Kunsthändler  ge¬ 
sehen  worden. 

Guys  stand  bei  seinem  Tode  im  neunzigsten 
Lebensjahre.  Geboren  am  3.  Dezember  1802  in 
Vlissingen,  das  damals  französisch  war,  entlief  er  mit 
fünfzehn  Jahren  der  Schule  und  dem  Hause  und 
durchzog  die  von  Abenteuern  und  Wundern  angefüllte 
Welt.  Mit  dem  englischen  Dichter  Byron  kam  er 
nach  Griechenland,  um  die  vermeintlichen  Nach¬ 
kommen  von  Phidias,  Perikies  und  Aristides  aus  der 
türkischen  Knechtschaft  zu  erretten.  Nach  seiner 
Rückkehr  von  diesem  Kreuzzuge  ließ  er  sich  anwerben 
und  wurde  französischer  Dragoner,  als  welcher  er  es 
bis  zum  Wachtmeister  brachte.  Viel  später  erst,  als 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XVIII.  H.  8 


Vierziger,  versuchte  er  sich  zum  erstenmal  als  Zeichner, 
aber  es  ging  ihm  nicht  so  gut  wie  dem  Maler  Raf- 
faelli,  der  in  einer  Schilderung  seiner  Anfänge  be¬ 
richtet,  daß  er  gleich  im  ersten  Anlaufe,  ohne  jemals 
die  geringste  Anleitung  erhalten  oder  auch  nur  eigene 
Versuche  gemacht  zu  haben,  ein  Bild  malte,  das  von 
der  Jury  des  Salons  aufgenommen  wurde. 

Von  den  ersten  Versuchen  des  Wachtmeisters  a.  D. 
sagt  Charles  Baudelaire  in  seinen  unter  dem  Ge¬ 
samttitel  L'Art  romantique  herausgegebenen  Aufsätzen 
über  die  Kunst  seiner  Zeit:  »Um  die  Wahrheit  zu 
sagen,  zeichnete  er  wie  ein  Barbar,  wie  ein  Kind, 
das  sich  über  die  Ungeschicklichkeit  seiner  Einger 
und  über  den  Ungehorsam  seines  Werkzeugs  ärgert. 
Ich  habe  eine  große  Anzahl  dieser  primitiven  Kritze¬ 
leien  gesehen,  und  ich  gestehe,  daß  die  meisten  Leute, 
welche  sich  auf  Kunst  verstehen  oder  die  sich  für  Kenner 
halten,  ohne  Schande  das  in  diesen  dunkeln  Ver¬ 
suchen  versteckte  Genie  hätten  verkennen  können.« 

Guys  selbst  teilte  dieses  Urteil  Baudelaires,  und 
wenn  ihm  später  eines  seiner  frühem  Blätter  in  die 
Hände  fiel,  pflegte  er  in  ein  komisches  Gemisch  von 
Scham  und  Zorn  zu  geraten  und  die  mißratene  Früh¬ 
geburt  zu  vernichten. 

Ohne  also  jemals  den  geringsten  Unterricht  oder 
die  leiseste  Anleitung  erhalten  zu  haben,  wurde  Guys 
Zeichner,  weil  er  eben  dem  inneren  Drange  nicht 
widerstehen  konnte.  Dazu  war  er  geboren;  und  wie 
er  als  Vierziger  die  schweren  Soldatenfäuste  zum  Ge¬ 
horsam  unter  seine  künstlerischen  Absichten  zwang, 
so  wäre  es  ihm  —  um  paradox  zu  reden  —  auch 
ohne  Hände  gelungen,  das  Ziel  zu  erreichen,  dem 
seine  Natur  ihn  entgegendrängte.  So  wie  in  unseren 
Tagen  ein  anderer  großer  Zeichner,  der  mit  Guys 
eine  gewisse  Ähnlichkeit  hat,  Daniel  Vierge,  nach  der 
Lähmung  seines  rechten  Armes  die  Linke  genau  zum 

27 


ZEICHNUNGEN  VON  CONSTANTIN  GUYS 


ZEICHNUNGEN  VON  CONSTANTIN  OUVS 


CONSTANTIN  GUYS 


193 


gar  nicht  denkbar,  und  man  kann  nicht  begreifen, 
wie  der  Mann  mit  solchen  Mitteln  solche  Ziele  er¬ 
reichen  konnte. 

Das  ist  ja  gerade  das  Wunderbare  in  jedem  wirk¬ 
lichen  Kunstwerke,  daß  wir  vor  ihm  stehen  als  vor 
einem  Unverständlichen,  Unfaßbaren,  Übermenschlichen. 
Wenn  ein  Bild  so  verständlich  ist,  daß  man  die  Art 
seines  Entstehens  restlos  erklären  kann,  dann  handelt 
es  sich  sicher  um  ein  Bäckerdutzendstück,  wie  es  jeder 
mittelmäßige  Kunstgeselle  Zusammenzimmern  kann. 
Die  Technik  eines  Künstlers  läßt  sich  wohl  erklären, 
und  sie  wirft  gewöhnlich  schätzbares  Licht  auf  die 
Geheimnisse  seiner  Schaffensart,  für  das  übrige  aber 
ist  immer  nur  die  ganz  individuelle  Geistes-  und  Ge¬ 
mütsrichtung  des  Künstlers  verantwortlich,  die  sich 
nicht  nachahmen  und  auch  nicht  sezieren  läßt. 

Die  von  Constantin  Guys  angewandte  Technik 
unterscheidet  sich  so  sehr  von  der  in  den  Kunst¬ 
schulen  gelehrten,  daß  sie  wohl  ein  näheres  Eingehen 
verdient.  Wie  schon  gesagt,  halte  Guys  nicht  nur 
keinen  Kunstunterricht  empfangen,  sondern  er  halte 
sich  obendrein  der  Kunst  erst  in  einem  Alter  zu¬ 
gewandt,  wo  andere  Leute  schon  anfangen,  an  ein 
beschauliches  Rentnerleben  zu  denken.  Er  mußte 
sich  also  seine  Technik  selbst  erfinden,  und  zwar  in 
den  Jahren,  wo  die  Hand  vom  überlegenden  Ver¬ 
stände  geleitet  wird.  Sehen  wir  nun,  was  Guys  unter 
diesen  Verhältnissen  fand,  und  auf  welche  Art  er 
seine  Blätter  schuf.  Baudelaire  gibt  uns  den  ge¬ 
wünschten  Aufschluß. 

Abgesehen  von  den  Zeichnungen,  die  er  als  Kriegs¬ 
berichterstatter  anfertigte  und  wobei  er  das  unmittel¬ 
bar  Geschaute  direkt  zu  Papier  bringen  mußte,  hat 
Guys  niemals  direkt  vor  dem  Modell  gearbeitet.  Nach¬ 
dem  er  den  ganzen  Tag  herumgebummelt  war,  und 
alle  möglichen  Menschen  und  Dinge  angeschaut  hatte, 
setzte  er  sich  in  der  Nacht  an  den  Zeichentisch  und 
warf  in  wenigen  Stunden  zehn,  zwanzig,  dreißig  und 
mehr  der  beobachteten  Szenen  auf  das  Papier.  Sein 
Atelier  war  mit  riesenhohen  Stößen  von  Zeichnungen 
angefüllt,  die  er  nach  dem  Grade  ihrer  Vollendung 
zusammenpackte.  Er  begann  seine  Arbeit  mit  dem 
leisen  Aufzeichnen  der  Umrisse.  Dies  geschah  mit 
schwachen  Bleistiftstrichen,  die  weiter  keinen  Zweck 
hatten,  als  den  Dingen  ihren  Platz  im  Raum  zu  geben. 
Dann  bearbeitete  er  das  Blatt  mit  Deckfarbe  und 
hob  so  die  Massen  von  Licht  und  Schatten  heraus. 
War  er  damit  fertig,  so  vollendete  er  das  Blatt  durch 
kräftiges  Nachziehen  der  Konturen  mit  Tusche.  Sehr 
oft  begnügte  er  sich  beim  erstenmal  mit  der  Angabe 
der  Umrisse.  Bei  irgend  einer  späteren  Gelegenheit 
nahm  er  dann  seine  Blätter  wieder  vor  und  brachte 
sie  der  Vollendung  um  einen  oder  mehrere  Grade 
näher.  Bei  dieser  Technik  blieb  das  Ensemble  vom 
ersten  bis  zum  letzten  Augenblick  die  Hauptsache, 
das  einzige  Ziel  des  Künstlers.  Die  Nuancierung, 
die  Valeurs,  die  Stufenleiter  der  Lichter  und  Schatten 
blieben  sich  vom  ersten  bis  zum  letzten  Augenblicke 


gleich,  das  Blatt  war  eigentlich  immer  fertig,  denn 
die  Gesamttonalität,  der  Lichtfleck,  die  Melodie  von 
Hell  und  Dunkel  war  immer  da.  Aber  so  oft  der 
Künstler  sein  Blatt  wieder  zur  Hand  nahm,  wurde 
diese  Melodie  stärker  und  eindringlicher,  und  wenn 
er  die  letzten  schwarzen  Tuschstriche  aufsetzte,  er¬ 
scholl  die  Musik  zwar  nicht  harmonischer,  aber  mäch¬ 
tiger,  überzeugender,  gewaltiger  als  vorher. 

Diese  Technik,  die  wie  alles  Arbeiten  nach  dem 
Gedächtnis  jede  überflüssige  und  nebensächliche 
Einzelheit  ausscheidet  und  vom  Anfang  bis  zum  Ende 
auf  das  Ganze  losgeht,  erklärt  uns  vieles  von  der  ver¬ 
blüffenden  und  nachhaltigen  Wirkung  dieser  Blätter, 
Der  große  Rest,  der  noch  bleibt,  der  dämonische, 
tragische,  phantastische  Zug,  den  wir  bei  Goya  und 
Toulouse  de  Lautrec  wiederfinden,  und  der  in  seinem 
Wesen  etwas  mit  den  seltsamen  Phantasien  Edgar 
Allen  Poes  gemein  hat,  dieses  Gemisch  von  Mitleid 
und  Verachtung  für  die  Menschen,  von  menschlicher 
Schwäche  und  göttlicher  Schaffensfreude,  von  ver¬ 
nichtender  Selbsterkenntnis  und  künstlerischer  Begei¬ 
sterung,  dieses  Zusammentreffen  von  höchsten  und 
tiefsten  Neigungen  des  Geistes  und  des  Herzens  — 
wie  könnte  man  versuchen,  das  zu  schildern?  Das 
wahre  Kunstwerk  spricht  für  sich,  und  es  kann  keinen 
Dolmetscher  geben,  der  seine  Botschaft  restlos  ver¬ 
künden  könnte.  Man  muß  zu  Guys  selber  gehen, 
um  zu  verstehen,  wie  ein  handgroßes  Blättchen,  wor¬ 
auf  man  weiter  nichts  als  eine  Kutsche  und  zwei 
Pferde  erblickt,  die  vollständige  geistige  und  sittliche 
Synthese  einer  ganzen  Zeit  enthalten  und  aussprechen 
kann. 

Die  Brüder  Goncourt  entwerfen  nach  ihrem  ersten 
Zusammentreffen  mit  Guys  im  Jahre  1858  in  ihrem 
Tagebuche  ein  Bild  von  seiner  Persönlichkeit,  das  in 
manchen  Punkten  auch  auf  seine  Arbeiten  paßt:  »Aus 
dem  Munde  dieses  Teufelskerls  springen  soziale 
Schattenrisse,  Bemerkungen  über  den  französischen 
und  den  englischen  Nationalcharakter,  alles  neu  und 
noch  nicht  in  den  Büchern  verschimmelt,  Satiren, 
die  nur  zwei  Minuten  lang  sind,  Pamphlete  in  einem 
einzigen  Worte,  eine  vergleichende  Philosophie  des 
Nationalcharakters  der  Völker.« 

Abgesehen  von  den  vereinzelten  Stimmen,  die 
Guys  vor  fünfzig  Jahren  feierten,  ohne  ihn  jemals  so 
bekannt  und  geschätzt  machen  zu  können  wie  Dau- 
mier,  Gavarni  und  zehn  oder  zwanzig  andere  zeit¬ 
genössische  Zeichner,  die  es  nicht  verdienten,  in  einem 
Atem  mit  diesen  Dreien  genannt  zu  werden,  hat  Guys 
eigentlich  niemals  viel  Beachtung  von  seiten  des 
größeren  kunstliebenden  Publikums  gefunden.  Erst 
zehn  Jahre  nach  seinem  Tode  wurde  man  wieder  auf¬ 
merksam  auf  ihn,  und  jetzt  werden  die  einst  achtlos 
verschleuderten  Blätter  aus  ihren  Schlupfwinkeln  her¬ 
vorgezogen,  um  in  die  Mappen  der  Sammler  zu 
wandern,  wo  sie  neben  den  Blättern  Daumiers  und 
Gavarnis  die  Kunst  und  das  Leben  des  zweiten  Drittels 
des  19.  Jahrhunderts  wiederspiegeln. 


ZEICHNUNGEN  VON  CONSTANTIN  GUYS 


ZEICNUNG  VON  CONSTANTIN  GUYS 


ZEICHNUNGEN  VON  CONSTANTIN  GUYS 


DIE  BEWEINUNG  MIT  DEM  STIFTER 

Von  Otto  Seeck 


VOR  einigen  Jahren  bemerkte  ich  unter  den  Neu¬ 
ankäufen  der  Berliner  Galerie  ein  Bild  der  alt¬ 
niederländischen  Schule,  aus  dem  mir  trotz 
seines  geringen  Umfanges  alsbald  jener  eigentümliche 
Hauch  künstlerischer  Größe  entgegenwehte,  wie  er 
nur  den  Werken  der  allerersten  Meister  eigen  ist.  Im 
Einzelnen  fand  ich  darin  manche  wohlbekannten  Züge 
wieder,  im  Ganzen  erschien  es  mir  fremd  und  rätsel¬ 
haft,  und  wie  ich  später  hörte,  war  es  den  Leitern 
der  Museen  ebenso  gegangen.  Der  eine  hatte  darin 
anfangs  die  Hand  des  Roger  van  der  Weyden  er¬ 
kennen  wollen,  ein  anderer  auf  den  Meister  von  Fle- 
malle  geraten;  doch  bald  war  man  dahin  einig  ge¬ 
worden,  daß  der  Maler  des  Bildes  zwar  mit  beiden 
nahe  Verwandtschaft  zeige,  zugleich  aber  auch  eine 
kräftige  Eigenart,  die  ihn  ebenso  sehr  von  dem  einen 
wie  von  dem  anderen  unterscheide.  Manches,  wie  die 
eckige  Bewegung  der  Gestalten,  die  schematischen 
Hände  und  die  etwas  stilisierten  Pflänzchen  des  Vorder¬ 
grundes,  wies  auf  die  Frühzeit  des  15.  Jahrhunderts 
hin;  anderes,  namentlich  Himmel  und  Landschaft, 
zeigte  schon  eine  merkwürdig  hohe  Entwickelung, 
die  selbst  am  letzten  Ende  desselben  nicht  ihresgleichen 
fand.  Wahrscheinlich  wollte  man  diese  widersprechen¬ 
den  Momente  einigermaßen  versöhnen,  indem  man 
das  Bild  gerade  in  die  Mitte  des  Jahrhunderts  setzte. 
Demgemäß  trägt  es  im  Kataloge  die  Bezeichnung: 
»Niederländischer  Meister  um  1450«;  doch  wie  wir 
sehen  werden,  ist  es  dadurch  viel  zu  spät  datiert. 

Wenden  wir  uns  zunächst  der  Einzelbetrachtung 
zu,  so  fällt  vor  allem  die  Komposition  ins  Auge,  ln 
der  Verteilung  der  Massen  verrät  sie  ein  Raumemp¬ 
finden,  wie  es  selbst  bei  den  Italienern  dieser  Zeit  nicht 
gewöhnlich,  bei  den  Niederländern  beispiellos  ist. 
Wenn  es  auch,  wie  alles  echt  Künstlerische,  in  erster 
Linie  instinktiv  gewesen  sein  wird,  hat  es  doch  seinen 
Ausdruck  nur  durch  planmäßige,  höchst  bewußte  An¬ 
ordnung  finden  können. 

Die  Aufgabe,  der  Beweinung  Christi  das  Stifter¬ 
bildnis  hinzuzufügen,  hätten  die  meisten  so  gelöst, 
daß  sie  die  heilige  Geschichte  in  den  Mittelpunkt 
setzten  und  das  Porträt  bescheiden  auf  eine  der  beiden 
Seiten  rückten.  Doch  die  Asymmetrie,  die  auf  solche 
Weise  notwendig  entstehen  mußte,  hätte  das  Kompo¬ 
sitionsgefühl  unseres  Meisters  beleidigt.  Er  wählte  den 
kühnen  Ausweg,  Handlung  und  Bildnis,  Heiliges  und 
Profanes  als  gleichberechtigte  Gegenstücke  auf  die 
beiden  Seiten  der  Bildfläche  symmetrisch  zu  verteilen. 
Doch  volle  Gleichberechtigung  durften  sie  nicht  in 
Anspruch  nehmen;  trotz  der  Symmetrie,  die  der 
Künstler  forderte,  mußte  dem  eigentlichen  Gegenstände 
des  Bildes,  zu  dem  der  Stifter  doch  nur  Zusatz  war, 
auch  räumlich  ein  Vorrang  gewährt  werden.  Dies 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XVIII.  H.  8 


ist  erreicht,  indem  die  rundliche  gewellte  Linie,  die 
Haupt  und  Schulter  der  Gottesmutter  bilden,  durch 
den  Kreuzeshügel  fortgesetzt  und  bis  in  die  rechte 
Ecke  der  Bildfläche  herabgeführt  wird.  Da  der  Stifter 
hinter  diesem  Hügel  kniet,  gewinnt  so  das  Heilige 
eine  klare  Umrahmung,  die  es  scharf  von  dem  Profanen 
scheidet,  und  kann  sich  zugleich  ununterbrochen  über 
den  ganzen  unteren  Teil  des  Gemäldes  ausdehnen. 
Doch  was  in  die  Hälfte,  welche  dem  Bildnis  einge¬ 
räumt  ist,  hinüberragt,  sind  nur  Gewänder  und  die 
starr  ausgestreckten  Extremitäten  des  Leichnams;  die 
Köpfe  und  die  bewegten  Hände,  in  denen  sich  das 
Wesentliche  des  Vorgangs  ausprägt,  sind  alle  auf  die 
linke  Seite  hinübergedrängt,  so  daß  der  Eindruck  der 
Symmetrie  denn  doch  erhalten  bleibt.  Freilich  stand 
ihr  entgegen,  daß  eine  Gestalt  zu  dreien  als  Gegen¬ 
gewicht  dienen  sollte;  doch  auch  diese  Schwierigkeit 
hat  der  Künstler  glänzend  gelöst. 

Da  der  Stifter  sich  hinter  dem  Hügel  befindet, 
vor  dem  die  Szene  sich  abspielt,  müßte  er  kleiner 
erscheinen,  als  die  Personen  der  Handlung;  doch 
unser  Bild  gehört  noch  einer  Zeit  an,  die  sich  um 
die  Gesetze  perspektivischer  Verjüngung  nicht  kümmerte. 
Der  Maßstab  des  Bildnisses  ist  daher  sogar  noch  um 
eine  Kleinigkeit  größer  als  bei  den  heiligen  Gestalten; 
auch  ist  sein  Kopf  etwas  höher  gestellt  und  tritt  schon 
dadurch  kräftiger  hervor.  Und  während  sie  dicht 
aneinander  geschmiegt  und  seitlich  noch  etwas  in 
den  Rahmen  hineingedrängt  sind,  ist  er  auf  beiden 
Seiten  von  freiem  Luftraum  umgeben.  Auch  daß 
die  Füße  Christi  nicht  ganz  den  rechten  Bildrand 
erreichen,  wirkt  dahin,  daß  die  Gestalt  des  Stifters 
sich  breiter  zu  entfalten  scheint,  und  die  schräge  Linie 
des  Leichnams  drückt  für  das  Auge  die  Gruppe  kräftig 
nach  der  linken  Seite  hin.  Diese  Linie  wird  dann 
am  Himmel  durch  den  untersten  Wolkenzug  noch 
einmal  wiederholt,  und  um  sie  hier  dem  Auge  deut¬ 
licher  zu  machen,  geben  unter  ihr  zwei  feine  Strati 
die  Horizontale  an.  Doch  darüber  schneidet  das 
schräggestellte  Querholz  des  Kreuzes  mit  seinem 
dunkeln  Braun  kräftig  in  den  blauen  Himmel  hinein 
und  zieht  den  Blick  in  entgegengesetzter  Richtung 
nach  der  Seite  des  Stifters  hinüber.  Für  diese  fällt 
auch  der  Kreuzesstamm,  der  nicht  nach  der  üblichen 
Tradition  in  die  Mitte  gestellt  ist,  mit  seiner  ganzen 
dunklen  Schwere  in  die  Wagschale  und  bildet  so 
das  wichtigste  Mittel,  um  zwischen  den  beiden  Bild¬ 
hälften  trotz  der  Verschiedenheit  ihrer  Fignrenzahl  ein 
wohlabgewogenes  Gleichgewicht  herzustellen. 

Ein  ausgesprochener  Kolorist,  wie  die  Brüder  van 
Eyck,  ist  unser  Meister  nicht.  Seine  Farbe  wirkt 
nicht  unharmonisch,  aber  doch  ein  wenig  hart.  Auch 
ist  sie  ihm  nicht  Selbstzweck,  sondern  muß  vor  allem 

28 


ROFiERT  CAMPIN.  DIE  BEWEINUNG  MIT  DEM  STIFTER.  BERLIN 


ROGER  VAN  DER  WEYDEN.  BEWEINUNG.  LONDON,  EARL  OE  POWIS 


ROGER  VAN  DER  WEYDEN.  BEWEINUNG.  BRÜSSEL 


200 


DIE  BEWEINUNG  MIT  DEM  STIFTER 


der  Komposition  dienen.  Um  auch  in  dieser  Be- 
zielumg  die  Symmetrie  zu  betonen,  sind  die  kräftigsten 
Akzente  auf  die  Gestalten  des  Stifters  und  des  Jo¬ 
hannes  verteilt,  weil  sie  sich  auf  den  beiden  Bild¬ 
seiten  ungefähr  entsprechen.  Der  Schultradition  gemäß, 
welche  die  altniederländische  Kunst  schon  seit  Hubert 
van  Eyck  beherrschte,  ist  der  Himmel  in  seinem  unter¬ 
sten  Teile  weiß,  um  dann  erst  ganz  allmählich  in 
ein  immer  tiefer  werdendes  Blau  überzugehen;  das 
weiße  Kopftuch  der  Maria  hebt  sich  daher  nur  durch 
die  Goldstrahleu ,  die  es  umgeben,  bescheiden  von 
ihm  ab,  während  die  Köpfe  jener  beiden  mit  ihrem 
dunklen  Umriß  in  scharfem  Kontrast  zu  dem  hellen 
Grunde  stehen.  Rot  und  Blau  waren  nach  alter 
Überlieferung  die  Farben  der  Gottesmutter.  Doch 
ist  das  Blau  auf  das  Untergewaud  beschränkt,  von 
dem  nur  ein  kleines  Stück  des  Ärmels  sichtbar  wird, 
und  auch  hier  beinahe  zu  Schwarz  vertieft,  so  daß 
es  kaum  noch  farbig  wirkt.  Und  das  Rot  ist  zu  einem 
hellen  Rosa  geworden,  das  durch  eine  starke  Bei¬ 
mischung  von  Gelb  sich  der  Fleischfarbe  annähert. 
Dadurch  schließt  es  sich  dem  bräunlichen  Leichnam 
und  der  Sandfarbe  des  Hügels  im  Tone  so  an,  daß 
jeder  Kontrast  vermieden  wird  und  der  mittlere  Teil 
des  Bildes  in  der  Farbe  beinahe  neutral  erscheint. 
Bei  Johannes  dagegen  steht  das  helle  leuchtende  Braun 
des  Mantels  in  scharfem  Gegensätze  zu  dem  Blau  des 
Untergewaudes,  bei  dem  Stifter  das  kräftige  Rosa  des 
Kittels  zu  dem  Schwarz  des  Kragens.  So  fallen  sie 
dem  Beschauer  am  meisten  ins  Auge  als  die  beiden 
Säulen  der  Komposition. 

Ganz  eigentümlich  ist  die  Behandlung  des  land¬ 
schaftlichen  Hintergrundes.  Während  sonst  die  Maler 
dieser  Zeit  den  Horizont  fast  immer  so  hoch  hinauf¬ 
ziehen,  daß  er  die  Gestalten  weit  überragt,  ist  er  hier 
ganz  niedrig.  Links  ist  die  Landschaft  durch  die 
Gruppe  beinahe  vollständig  verdeckt,  so  daß  hier  das 
Auge  durch  keinerlei  gleichgültiges  Beiwerk  von  dem 
Ernste  des  heiligen  Vorganges  abgezogen  wird;  nur 
rechts  neben  dem  Stifter  breitet  sie  sich  freier  aus, 
um  diese  ärmere  Seite  des  Gemäldes  etwas  zu  be¬ 
reichern.  Der  Himmel  nimmt  mehr  als  die  Hälfte 
der  Bildfläche  ein,  ein  Verhältnis,  das  sich  meines 
Wissens  bei  keinem  anderen  Niederländer  des  15.  Jahr¬ 
hunderts  wiederholt;  doch  er  verdient  diesen  breiten 
Raum  durch  seine  außerordentliche  Schönheit.  Bis 
über  die  Köpfe  hinaus  bleibt  er  leer,  um  hier  das 
Auge  nicht  zu  verwirren  und  abzulenken;  doch  höher 
hinauf  bedecken  ihn  Wolken  von  so  mächtigem  Zuge 
der  Bewegung,  so  phantasievoller  und  zugleich  uatur- 
wahrer  Gestalt,  wie  sie  bis  auf  Ruisdael  herab  nicht 
wieder  gemalt  worden  sind.  Selbst  der  Genter  Altar 
steht  in  dieser  Beziehung  weit  hinter  unserem  Bild¬ 
chen  zurück.  Der  große  Himmel  läßt  für  die  Land¬ 
schaft  im  engeren  Sinne  nur  ein  kleines  Fleckchen 
übrig;  doch  genügt  es  dem  Künstler,  sie  in  drei  Gründe 
zu  gliedern.  Offenbar  ist  ihm  dies  eine  so  gewohnte 
Übung,  daß  er  auch  dort  nicht  auf  sie  verzichten 
mag,  wo  der  beschränkte  Raum  ihre  Anwendung 
kaum  noch  gestattet.  Der  Vordergrund  wirkt  etwas 
unnatürlich;  denn  der  Kreuzeshügel,  der  ihn  abschließt, 


entbehrt  der  raumfüllenden  Körperlichkeit,  weniger 
an  sich,  als  weil  der  Stifter,  der  hinter  ihm  kniet, 
nicht  perspektivisch  zurücktritt.  Der  Mittelgrund  be¬ 
steht  nur  aus  ein  paar  buschbedeckten  Höhen,  die 
einzig  dem  Zwecke  dienen,  die  blauen  Berge  und 
Türme  des  Llintergrundes  wirkungsvoll  in  die  Ferne 
zu  schieben.  Auch  diese  Landschaft  stände  in  ihrer 
Zeit  einzig  da,  wenn  nicht  der  Meister  von  Flemalle 
sie  in  seiner  Kreuzigung  nachgeahmt  hätte.  Sonst 
bemühen  sich  die  Niederländer  schon  seit  Hubert 
vau  Eyck,  so  viel  interessante  Einzelheiten  in  ihren 
Hintergründen  anzuhäufen,  wie  nur  irgend  darin 
Platz  finden.  Irn  geschlossenen  F^aum  erscheinen 
Baldachine  und  Teppiche,  Spiegel,  blanke  Leuchter, 
Möbel  und  hüLische  Kleinigkeiten  jeder  Art,  alle  mit 
liebevoller  Sorgfalt  ausgeführt,  in  der  Landschaft 
Wälder,  Felsen  und  Gebirgszüge,  Flußläufe  und  Seen, 
Burgen  und  Städte,  belebt  von  zahlreichen  kleinen 
Figürchen.  Hier  nur  ein  schlichtes  Hügelland,  an 
dem  dieblaue  Ferne  mit  ihren  in  Luft  verschwimmen¬ 
den  Umrissen  und  der  mächtige  Himmel  darüber  die 
Hauptsachen  sind,  keine  auffälligen  Einzelheiten,  nichts 
von  menschlicher  Staffage!  Unserem  Meister  ist  die 
Erkenntnis  schon  aufgegangen,  daß  ein  gar  zu  reicher 
Hintergrund  die  Handlung  drückt,  nicht  hebt.  Auch 
darin  zeigt  er  sich  als  großen  Komponisten,  daß  er 
durch  diese  FFescheidenheit  in  den  Nebendingen  das 
Figürliche  zu  um  so  mächtigerer  Geltung  bringt. 
Nach  seiner  Absicht  soll  die  Landschaft  dem  Ganzen 
nur  Stimmung  geben,  nicht  an  und  für  sich  etwas 
bedeuten.  Dem  flüchtigen  Blicke  verschwindet  sie 
fast;  doch  wer  sich  in  ihre  grandiose  Einfachheit  zu 
vertiefen  weiß,  der  empfindet  hier  eine  Vorahnung 
dessen,  was  erst  zwei  Jahrhunderte  später  die  hollän¬ 
dische  Kunst  in  ihrer  höchsten  Blüte  erstrebt  und 
erreicht  hat. 

Der  nackte  Körper,  der  die  ganze  Komposition 
beherrscht,  ist  häßlich,  aber  durchaus  naturwahr.  Der 
Knochenbau,  die  Muskeln,  selbst  die  Falten  der  Haut 
sind  mit  solcher  Treue  wiedergegeben,  daß  man  an¬ 
nehmen  muß,  der  Künstler  habe  eine  magere,  halb¬ 
verweste  Leiche  als  Modell  benutzt.  Denn  daß  seine 
anatomische  Kenntnis  sehr  gering  war,  zeigen  die 
Gewandfiguren,  bei  denen  namentlich  die  Arme  noch 
recht  mangelhaft  gebildet  sind.  Auch  der  nackte  Fuß 
des  Johannes  und  die  Hände  lassen  zu  wünschen 
übrig.  Außer  bei  dem  Leichnam,  wo  auch  sie  nach 
der  Natur  gezeichnet  sind,  wiederholen  sie  überall 
denselben  knochigen,  langfingerigen  Typus;  selbst  bei 
dem  Stifter  sind  sie  nicht  charakteristisch.  Desto  be¬ 
deutender  ist  sein  Kopf;  an  Feinheit  der  Einzelbe¬ 
obachtung  wie  an  Größe  der  Gesamtauffassung  steht 
er  kaum  hinter  den  Bildnissen  der  van  Eycks  zurück. 
Auch  der  starre  Schmerz  der  Maria,  das  weiche  Mit¬ 
leid  des  Johannes  sind  in  ihren  Gesichtern  meisterlich 
zum  Ausdruck  gebracht  und  stehen  im  wirksamsten 
Gegensätze  zu  der  schaurigen  Unbeweglichkeit  in  den 
Zügen  der  Leiche  mit  ihren  gebrochenen  Augen  und 
dem  halboffenen  Munde. 

Damit  sind  wir  von  dem  rein  Formalen  schon 
zu  dem  geistigen  Inhalt  gelangt,  der  in  diesem  Bilde 


DIE  BEWEINUNG  MIT  DEM  STIFTER 


20i 


gar  nicht  hoch  genug  einzuschätzen  ist.  Maria  ist 
am  Fuße  des  Kreuzes  auf  ein  Knie  gesunken  und 
stützt  den  Leichnam  ihres  Sohnes  an  das  andere:  wie 
einst  das  Kind  in  ihrem  Schoße  geruht  hat,  so  jetzt 
der  Mann  nach  der  schmerzlichen  Erfüllung  seines 
Erlösungswerkes.  Mit  dem  linken  Arm  hält  sie  ihn 
umfaßt;  mit  der  Rechten  hat  sie  sein  starres  Haupt 
gehoben,  um  ihre  Wange  noch  einmal  liebkosend  an 
die  seine  zu  drücken,  ln  dieser  Stellung  scheint  sie 
schon  lange  verweilt  zu  haben;  denn  Johannes,  der 
jetzt  nach  der  Bestimmung  des  Entschlafenen  an  seiner 
Statt  ihr  Sohn  geworden  ist,  erhebt  sich  eben  von  den 
Knien  und  sucht  ihren  Kopf  mit  sanftem,  mitleidigen 
Drucke  von  dem  des  Toten  zu  lösen,  während  er 
zugleich  dessen  herabgleitenden  Körper  unterstützt. 
Und  inmitten  dieser  bewegten  Gruppe  der  starre 
Leichnam  mit  seinen  eingedrückten  Knien  und  schlotte¬ 
rigen  Armen,  denen  nur  durch  den  Schmerz  der  Seinen 
eine  grause  Bewegung  zurückgegeben  ist.  Denn  un¬ 
heimlich  gespensterhaft  pendeln  sie  und  biegen  sich. 
So  ist  mit  schneidender  Kraft,  die  auch  vor  dem 
Häßlichen  als  Mittel  des  Ausdrucks  nicht  zurück¬ 
schreckt,  der  herbe  Empfindungsgehalt  dieser  Szene 
dem  Beschauer  nahe  gebracht;  und  welchen  mächtigen 
Eindruck  das  Gemälde  auf  die  Zeitgenossen  gemacht 
hat,  das  ergibt  sich  aus  den  zahlreichen  Nachbildungen, 
deren  es  Meister  wie  Roger  van  der  Weyden,  Hans 
Memling,  Gerhard  David,  Quentin  Matsys  gewürdigt 
haben,  von  zahllosen  Geringeren  ganz  zu  geschweigen. 
Von  fast  getreuer  Kopie  schreiten  sie  fort  zu  immer 
freierer  Umgestaltung,  die  zuletzt  das  Original  kaum 
noch  wiedererkennen  läßt;  doch  das  Hauptmotiv  wird 
beibehalten  bis  tief  ins  i6.  Jahrhundert  hinein. 

Die  Annahme,  daß  unser  Gemälde  für  alle  jene 
Wiederholungen  unmittelbar  oder  mittelbar  das  Vor¬ 
bild  gewesen  ist,  wird  zwar  nicht  von  allen  geteilt, 
scheint  mir  aber  schon  durch  die  Analyse,  die  v>fir 
von  seinem  Inhalt  gegeben  haben,  mit  Sicherheit  be¬ 
wiesen.  Denn  durch  die  Stifterfigur  ist  die  Gestaltung 
der  Gruppe  bedingt,  durch  diese  die  Landschaft  in 
ihrer  hoheitsvollen  Schlichtheit;  keine  Einzelheit,  selbst 
die  Stellung  des  Kreuzes  nicht,  dürfte  für  die  Ge¬ 
samtwirkung  des  Bildes  anders  sein,  als  sie  ist.  Wo 
alles  so  absichtsvoll  und  doch  zugleich  so  unge¬ 
zwungen  zueinander  paßt,  jeder  Teil  mit  Rücksicht 
auf  die  übrigen  gedacht  ist,  da  muß  das  Ganze  aus 
einheitlichem  Plan  hervorgegangen  sein;  Entlehnungen 
sind  höchstens  in  unbedeutenden  Kleinigkeiten  denk¬ 
bar.  Vor  allem  sei  auf  die  Stellung  des  Leichnams 
hingewiesen.  In  den  italienischen  Darstellungen  der 
Pieta  pflegt  er  ganz  oder  annähernd  wagerecht  auf 
den  Knieen  der  Maria  zu  liegen,  von  denen  seine 
Extremitäten  meist  herabhängen.  Ebenso  erschien  er 
in  der  Miniatur  des  Turiner  Gebetbuches,  welche  Graf 
Durrieu  mit  Recht  dem  Hubert  van  Eyck  zugewiesen 
hat.  Es  ist  dies  eben  die  natürliche  Lage,  und  wer 
von  ihr  abweicht,  muß  besondere  Gründe  dafür  ge¬ 
habt  haben.  Diese  lassen  sich  für  unsere  Beweinung 
deutlich  nachweisen.  Denn  um  zu  der  Figur  des 
Stifters  das  symmetrische  Gleichgewicht  herzustellen, 
mußte  die  Gruppe  ganz  auf  die  linke  Seite  hinüber¬ 


gedrängt  werden,  und  dies  geschah  am  augenfälligsten 
durch  die  schräge  Linie,  welche  der  Leichnam  bildet. 
In  unserem  Gemälde  war  sie  also  für  die  Komposi¬ 
tion  notwendig,  während  sie  überall  sonst,  wo  sie 
sich  wiederfindet,  überflüssig  oder  selbst  störend 
ist.  Gleichwohl  wollen  wir  uns  den  Beweis  nicht 
ersparen,  daß  der  älteste  bekannte  Meister,  bei  dem 
unsere  Gruppe  wiederkehrt,  sich  zu  dem  Berliner 
Gemälde  als  Nachahmer  verhält.  Dies  ist  für  uns 
um  so  wichtiger,  als  sich  daraus  für  den  Schöpfer 
desselben  eine  sichere  Datierung  ergibt. 

Roger  van  der  Weyden  hat  das  Motiv  unseres 
Bildes  nicht  weniger  als  dreimal  wiederholt,  immer¬ 
fort  daran  bessernd  und  umgestaltend.  Bei  einem 
Künstler  von  diesem  Range  werden  wir  im  allge¬ 
meinen  berechtigt  sein,  jede  vollkommenere  Lösung  für 
die  spätere  zu  halten,  um  so  mehr  wenn  sich  nachweisen 
läßt,  daß  die  Veränderungen  derselben  den  Zweck 
haben,  ganz  bestimmte  Fehler  der  früheren  zu  korri¬ 
gieren.  Nach  diesem  Prinzip  zeitlich  geordnet,  be¬ 
finden  sich  die  betreffenden  Bilder:  i.  in  London 
beim  Earl  of  Powis,  der  mir  freundlichst  gestattet  hat, 
das  Bild  photographieren  zu  lassen  und  zu  veröffent¬ 
lichen,  2.  im  Brüsseler  Museum,  3.  im  Kaiser-Friedrich- 
Museum  zu  Berlin. 

1.  Das  Londoner  Gemälde  ist  ein  Breitbild,  das 
unmittelbar  über  den  Köpfen  der  Gestalten  abschnei¬ 
det,  so  daß  von  dem  Kreuze  nur  der  unterste 
Teil  sichtbar  bleibt.  Offenbar  wagte  der  Künstler 
nicht,  in  der  Darstellung  der  Wolken  mit  seinem 
Vorbilde  zu  wetteifern,  und  verkleinerte  deshalb  den 
Himmel  bis  auf  das  unvermeidlichste  Maß.  So  brauchte 
er  nur  ein  paar  kleine,  wenig  auffallende  Ballenwolken 
anzubringen,  die  in  ihrer  Technik  denen  des  Berliner 
Bildes  sehr  ähnlich  sind,  aber  an  Schönheit  unend¬ 
lich  weit  hinter  ihnen  zurückstehen.  Die  Landschaft 
ist  auch  hier  in  drei  Gründe  geteilt,  nimmt  aber  einen 
größeren  Raum  ein;  doch  bleibt  der  Horizont  noch 
immer  so  niedrig,  daß  die  Köpfe  der  stehenden  Fi¬ 
guren  über  ihn  hinausragen.  Es  sind  dies  links  der 
heilige  Hieronymus  in  Kardinalstracht,  zn  seinen 
Füßen  ein  kniender  Stifter,  rechts  der  heilige  Domini¬ 
kus  in  einem  Buche  lesend.  Zwischen  ihnen  ist  die 
Hauptgruppe  des  Berliner  Gemäldes  wiederholt,  aber 
ohne  den  Johannes,  für  den  neben  den  beiden  neu- 
hinzugekommenen  Heiligen  kein  Platz  mehr  übrig 
blieb.  Doch  damit  verliert  der  Leichnam,  der  schon 
auf  dem  Original  nicht  ganz  fest  zu  liegen  scheint, 
eine  notwendige  Stütze.  Roger  selbst  hat  dies  emp¬ 
funden  und  läßt  deshalb  den  Hieronymus  sehr  ana¬ 
chronistisch  in  die  Handlung  eingreifen;  mit  der 
rechten  Hand  präsentiert  er  den  Stifter,  mit  der  linken 
stützt  er  den  Kopf  des  Christus.  Doch  behält  sein 
Gesicht  die  feierliche  Starrheit,  wie  sie  den  Figuren 
der  sante  conversazioni  eigen  zu  sein  pflegt,  und 
verrät  nichts  von  der  Teilnahme,  die  man  in  dieser 
schmerzlichen  Szene  bei  einem  so  tätig  Mitwirkenden 
voraussetzen  müßte.  Offenbar  ist  sein  Zugreifen  weiter 
nichts  als  ein  Notbehelf,  der  durch  die  Beseitigung 
des  Johannes  erforderlich  wurde. 

Zeigt  schon  diese  geschmacklose  Umgestaltung 


202 


DIE  BEWEINUNG  MIT  DEM  STIFTER 


der  Komposition,  daß  Roger  sie  nicht  erfunden,  sondern 
von  einem  Vorgänger  übernommen  hat,  so  tritt  dies 
noch  deutlicher  in  der  Stellung  des  anderen  Heiligen 
hervor.  Schon  bei  Hubert  van  Eyck  war  der  feine 
Gedanke  aufgetaucht,  das  profane  Stifterbildnis  durch 
einen  scharf  betonten  Trennungsstrich  von  den  gött¬ 
lichen  Personen  zu  scheiden.  Zu  diesem  Zwecke 
zieht  sich  sowohl  bei  der  Madonna  des  Louvre,  als 
auch  bei  der  Berliner  ein  Fußbodenstreifen  durch  die 
Mitte  des  Bildes  hin,  der  durch  besonders  reiche 
Ornamentation  ausgezeichnet  und  in  seiner  ganzen 
Länge  ohne  jede  Unterbrechung  sichtbar  ist.  Die 
gleiche  Scheidung  hat  unser  Anonymus  dadurch  her¬ 
beigeführt,  daß  die  Linie  des  Kreuzeshügels  die  gött¬ 
lichen  Gestalten  umrahmt  und  von  dem  dahinter 
knienden  Stifter  trennt.  Bei  Roger  kniet  dieser  dem 
Christusleichuam  so  nah,  daß  der  herabhängende  Arm 
desselben  sein  Gewand  zu  berühren  scheint,  und  hinter 
dem  Hügel  steht  Dominikus,  der  als  Heiliger  in  die 
engste  Gemeinschaft  der  göttlichen  Personen  gehört. 
Wenn  er  so  von  ihnen  geschieden  wird,  so  ist  dies 
nichts  als  gedankenlose  Wiederholung  eines  Motivs, 
welches  das  Original  in  ganz  anderem  Sinne  ver¬ 
wendet  hatte. 

Bei  der  Maria  stimmt  jede  Falte,  bei  dem  Leich¬ 
nam  jeder  Muskel  mit  dem  Berliner  Gemälde  überein; 
doch  verrät  sich  die  Kopie  in  einer  etwas  matteren 
Behandlung.  Außerdem  nimmt  das  Gesicht  der  Ma¬ 
donna  eine  eigentümliche  Mittelstellung  zwischen  dem 
Original  und  dem  späteren,  wohlbekannten  Typus 
Rogers  ein.  Endlich  sind  die  Farben  etwas  verändert. 
Das  Blau  des  Ärmels  ist  leuchtender,  das  Rosa  des 
Gewandes  tiefer  und  kräftiger  geworden,  so  daß  die 
Farbe  des  Leichnams  stärker  damit  kontrastiert.  Das 
weiße  Kopftuch  steht  nicht  mehr  gegen  den  gleich¬ 
falls  weißen  Himmel,  sondern  gegen  das  braune  Erd¬ 
reich,  von  dem  es  sich  energisch  abhebt.  Wie  die 
Hauptgruppe  von  der  linken  Seite  in  den  Mittelpunkt 
gerückt  ist,  so  soll  sie  auch  in  der  Färbung  kräftiger 
hervortreten.  Trotzdem  bleiben  die  stärksten  Akzente 
noch  immer  auf  die  beiden  Seiten  verteilt,  offenbar 
aus  keinem  anderen  Grunde,  als  weil  auch  in  dieser 
Beziehung  der  Künstler  noch  im  Banne  seines  Vor¬ 
bildes  stand.  Links  steht  das  Schwarz  des  Stifterge¬ 
wandes  in  äußerst  scharfem  Gegensätze  zu  dem  Weiß 
und  Scharlachrot,  in  das  der  Schutzheilige  gekleidet 
ist;  rechts  wiederholen  sich  Schwarz  und  Weiß  an 
der  Ordenstracht  des  Dominikus  und  verbinden  sich 
mit  leuchtendem  Ultramarin  an  der  Einbanddecke 
seines  Gebetbuches.  Diese  Kontraste  fallen  viel  mehr 
ins  Auge  als  die  milderen  der  Hauptgruppe,  und  dazu 
kommt,  daß  die  Silhouetten  der  beiden  Seitenfiguren 
sich  gegen  den  hellen  Himmel  abheben,  wieder  nach 
dem  Muster  des  Berliner  Gemäldes.  So  durchzieht 
das  Bild  auch  koloristisch  ein  Zwiespalt,  der  sich  aus 
dem  Widerstreit  der  eigenen  Absichten  des  Künstlers 
und  seiner  IJberlieferung  ergeben  hat.  Roger  will 
den  Mittelpunkt  auch  in  der  Farbe  mehr  hervortreten 
lassen,  hat  aber  noch  nicht  den  Mut,  von  seinem 
großen  Vorbilde  sich  völlig  loszusagen,  obgleich  dieses 
die  entgegengesetzte  Tendenz  verfolgte. 


ln  diesem  Falle  kann,  wie  mir  scheint,  kein  Zweifel 
sein,  was  Original,  was  Nachahmung  ist.  Schwieriger 
wäre  die  Entscheidung  bei  dem  Brüsseler  Gemälde, 
wenn  nicht  der  unverkennbare  Fortschritt,  den  es 
gegen  das  Londoner  zeigt,  seine  spätere  Entstehung 
bewiese. 

2.  ln  der  zweiten  Darstellung  desselben  Gegen¬ 
standes  hat  Roger  selbst  an  der  ersten  strenge  Kritik 
geübt,  indem  er  die  Fehler,  welche  hier  begangen 
waren,  sorgfältig  vermied.  Einerseits  geschieht  dies 
durch  engeres  Anlehnen  an  sein  Vorbild,  von  dem 
er  sich  andererseits  doch  kühner  zu  befreien  weiß. 
Dies  letztere  gilt  in  erster  Linie  vom  Kolorit.  Indem 
er  der  Maria  jetzt  einen  dunkelblauen  Mantel  gibt, 
zu  dem  das  gelbliche  Braun  des  Leichnams  beinahe 
als  Komplementärfarbe  wirkt,  ist  der  auffälligste  Kon¬ 
trast  iu  die  Hauptgruppe  verlegt.  Denn  das  Kirschrot 
des  Johannes  auf  der  einen  Seite,  das  Schwarz  und 
Weiß  der  Magdalena  auf  der  anderen  sind  derart  ab¬ 
getönt,  daß  sie  völlig  zurücktreten.  Der  Kopf  der  Maria 
zeigt  jetzt  ganz  den  charakteristischen  Typus  Rogers. 
Die  Heilige  rechts  steht  nicht  mehr,  wie  vorher  Do¬ 
minikus,  hinter  dem  Hügel,  sondern  ist  unmittelbar 
neben  den  Leichnam  getreten.  Doch  salbt  sie  diesem 
nicht  die  Füße,  wie  das  ihres  Amtes  ist,  oder  greift 
sonst  tätig  in  die  Handlung  ein,  sondern  ist  im  Be¬ 
griff,  mit  gefalteten  Händen  zum  Gebete  iiiederzu- 
knien.  Da  der  Künstler  die  Gruppe  in  ihrer  ursprüng¬ 
lichen  Dreiheit  hergestellt  und  wieder  mehr  nach 
links  gerückt  hat,  braucht  er  auf  der  rechten  Seite 
ein  Gegengewicht,  wie  es  im  Original  das  Stifterbildnis 
geboten  hatte.  Daher  darf  Magdalena  nicht  am  Boden 
liegen,  wie  das  Salben  der  Füße  es  nötig  machen 
würde,  sondern  muß  ihr  Haupt  ungefähr  zu  der 
gleichen  Höhe  erheben,  wie  die  Gestalten  der  anderen 
Seite.  Da  sie  den  Stifter  ersetzen  soll,  hat  die  Er¬ 
innerung  an  ihn  auf  ihre  Darstellung  eingewirkt  und 
auch  sie  zur  unbeteiligten  Beterin  gemacht.  Daß  die 
Schwere  des  Leichnams  es  verbot,  den  Johannes  zu 
entfernen,  ohne  für  ihn  irgend  einen  Ersatz  zu  schaffen, 
hatte  Roger  schon  bei  dem  Londoner  Bilde  empfunden. 
Jetzt  ist  jener  in  seine  Stelle  wieder  eingesetzt,  faßt 
aber  den  toten  Leib  nicht,  wie  im  Original,  nur 
leicht  von  der  Seite  an,  sondern  ergreift  ihn  kräftig 
hinter  dem  Rücken,  wodurch  er  ihm  eine  viel  festere 
Stütze  bietet.  Überhaupt  sind  dem  Meister  die  sta¬ 
tischen  Gesetze  deutlicher  zum  Bewußtsein  gekommen. 
Bei  dem  Berliner  Bilde  ist  am  Ärmel  der  Maria  gar 
nicht  bemerkbar,  daß  der  Ärm  des  toten  Christus  auf 
ihm  ruht,  und  dasselbe  wiederholt  sich  auch  bei  der 
Londoner  Kopie.  In  Brüssel  werden  durch  ihn  die 
Falten  kräftig  beiseite  gedrückt,  eine  unbedeutende 
Kleinigkeit,  die  gleichwohl  für  das  Zeitverhältnis  der 
drei  Gemälde  und  für  das  gereiftere  Nachdenken 
Rogers  sehr  bezeichnend  ist.  Derselbe  Fortschritt 
zeigt  sich  in  der  Behandlung  des  Hintergrundes.  Der 
Himmel  ist  auch  hier  über  den  Köpfen  abgeschnitten, 
aber  während  auf  dem  Londoner  Bilde  die  Landschaft 
reicher  gestaltet  war,  geht  der  Künstler  jetzt  in  ihrer 
Vereinfachung  noch  über  das  Berliner  hinaus.  Ob¬ 
gleich  die  drei  Gründe  festgehalten  sind,  zeigt  sie 


DIE  BEWEINUNG  MIT  DEM  STIFTER 


203 


doch  nicht  mehr  als  ein  paar  Erdwellen,  arif  denen 
wenige  Büsche  stehen;  doch  diese  bescheidenen  Mittel 
werden  geschickt  für  das  historische  Kolorit  benutzt. 
Schon  auf  dem  Londoner  Gemälde  hatte  Roger  vor 
den  Leichnam  einen  Schädel  hingelegt,  in  erster 
Linie  wohl,  weil  ihn  der  Gegenstand  als  solcher  inter¬ 
essierte.  Denn  er  ist  mit  großer  Liebe  nach  der 
Natur  gemalt  und  gehört  zu  den  besten  Teilen  des 
Bildes.  Doch  diente  er  zugleich  dazu,  die  Schädel¬ 
stätte  kenntlich  zu  machen,  ln  diesem  Sinne  ist  er 
auf  dem  Brüsseler  wiederholt,  in  der  Ausführung  viel 
gleichgültiger  und  geringer,  wodurch  sich  die  Selbst¬ 
kopie  kennzeichnet.  Zugleich  aber  sind  in  der  Land¬ 
schaft  auch  die  Zeiten  des 
Jahres  und  des  Tages  cha¬ 
rakterisiert,  indem  ein  paar 
entlaubte  Büsche  auf  den  Vor¬ 
frühling  hinweisen  und  der 
Horizont  das  Gelb  des  Son¬ 
nenunterganges  zeigt.  So 
finden  wir  hier  eine  Anzahl 
wirklicher  Verbesserungen, 
nicht  nur  des  Londoner  Früh¬ 
werks,  sondern  auch  seines 
Originals,  daneben  aber  auch 
neue  Schwächen.  Als  Kopie 
der  Kopie  ist  der  nackte  Kör¬ 
per  noch  matter  in  seinen 
Formen;  vielleicht  nicht  ohne 
Absicht  ist  seine  häßliche, 
aber  charaktervolle  Herbig¬ 
keit  gemildert,  doch  zugleich 
verflacht.  Um  den  Leichnam 
noch  deutlicher  als  den  alles 
beherrschenden  Mittelpunkt 
der  Handlung  zu  bezeichnen, 
läßt  Roger  aller  Augen,  auch 
die  des  Johannes,  sich  auf  ihn 
richten.  Aber  daß  dieser  auf 
dem  Berliner  Bilde  die  Maria 
ansieht,  bewirkt  eine  unge¬ 
mein  feine  Abstufung  zwi¬ 
schen  ihrem  Mutterschmerz 
und  seinem  Mitleid,  die  hier 
verloren  geht. 

3.  Das  dritte  Gemälde 
Rogers  bildet  das  Mittel¬ 
stück  des  Marienaltars,  der  sich  zuerst  in  der  Kar¬ 
thause  zu  Miraflores  nachweisen  läßt  und  jetzt  dem 
Kaiser-Friedrich-Museum  gehört.  Dies  größere  Ganze, 
in  das  es  sich  hier  einfügen  mußte,  bedingte  es,  daß 
der  Gegenstand  nicht  mehr  als  Breitbild  behandelt 
werden  konnte.  Um  die  hohe  Tafel  besser  zu  füllen, 
hat  Roger  sich  dem  Geschmacke  seiner  Zeit  gefügt 
und  den  Horizont  höher  hinaufgerückt,  was  eine 
reichere  Gestaltung  der  Landschaft  bedingte.  Auch 
sonst  hat  er  hier  viel  kühner  geändert,  doch  bleibt  das 
Vorbild  unseres  Anonymus  noch  immer  erkennbar, 
vor  allem  an  der  schrägen  Lage  und  den  gestreckten 
Beinen  des  Leichnams,  an  seinem  pendelnden  Arm 
und  an  dem  Hauptmotiv,  daß  Maria  ihre  Wange  an 


die  seine  drückt.  Selbst  derartige  Einzelheiten  kehren 
wieder,  wie  daß  der  Mutter  neben  den  Tränen,  die 
ihre  Wange  bedecken,  auch  eine  über  die  Nase  her¬ 
abrinnt.  Das  Original  war  von  dem  Fehler  nicht 
freizusprechen,  daß  Christus  auf  ihrem  Knie  sehr  un¬ 
sicher  ruhte;  denn  ihre  Hand  und  die  des  Jüngers 
berührten  ihn  mehr,  als  daß  sie  ihn  festhielten.  Daß 
dies  Roger  aufgefallen  war,  zeigte  schon  das  Brüsse¬ 
ler  Bild,  auf  dem  er  den  Johannes  fester  zugreifen 
ließ.  Doch  als  er  den  Marienaltar  schuf,  genügte  ihm 
dies  nicht  mehr,  und  die  gründliche  Korrektur  jenes 
Fehlers  wurde  zum  Ausgangspunkt  für  eine  Neuge¬ 
staltung  der  ganzen  Komposition.  Maria  kniet  nicht 

mehr,  sondern  sitzt  und  bietet 
so  dem  Leichnam  auf  ihrem 
Schoße  ein  breiteres  und  bes¬ 
ser  gestütztes  Lager.  Das 
würde  bedingen,  daß  er  wa¬ 
gerecht  zu  liegen  käme;  doch 
Roger  hält  seine  schräge  Rich¬ 
tung  fest,  indem  er  sie  das 
rechte  Bein  zurücknehmen 
läßt  und  so  noch  an  ihr 
früheres  Knien  erinnert.  Hatte 
sie  vorher  die  eine  Hand 
nur  lose  an  den  toten  Leib 
gelegt,  so  umschlingt  sie  ihn 
jetzt  mit  beiden  Armen  und 
faltet  zugleich  die  Finger  fest 
ineinander.  In  erster  Linie 
soll  dies  jede  Möglichkeit  des 
Herabgleitens  ausschließen; 
doch  steigert  es  zugleich  den 
Ausdruck  des  Mutterschmer¬ 
zes,  da  man  es  auch  als  ein 
krampfhaftes  Ringen  der  Hän¬ 
de  auffassen  kann.  Dadurch 
aber  ist  dem  Kopfe,  den  sie 
vorher  mit  ihrer  Rechten  sanft 
gehoben  hatte,  seine  frühere 
Stütze  entzogen;  er  muß  eine 
neue  durch  Joseph  von  Arima- 
thia  erhalten,  der  zugleich  mit 
der  anderen  Hand  ihr  Haupt 
von  dem  des  Leichnams  zu 
lösen  sucht,  wie  es  in  der 
ursprünglichen  Komposition 
Johannes  getan  hatte.  Daß  die  gleichgültigere  Person  hier 
an  die  Stelle  des  Lieblingsjüngers  gesetzt  wird,  ist  eine 
nicht  sehr  glückliche  Abschwächung  des  Motivs.  Aber 
da  Roger  jenen  als  eine  Hauptfigur  betrachtete,  mochte 
er  ihn  nicht  im  Rahmen  halb  verschwinden  lassen,  wie 
es  die  Stellung  der  Gruppe  für  denjenigen,  der  hinter 
Christi  Haupt  stand,  notwendig  machte.  Er  räumt 
dem  Johannes  den  breiten  Winkel  ein,  den  die 
Linie  des  Leichnams  mit  der  linken  Seitenwand  bil¬ 
det,  und  gibt  ihm  die  Stellung  des  Trösters  zurück, 
die  schon  der  Anonymus  ihm  zugeteilt  hatte,  indem 
er  ihn  beide  Arme  in  liebevollem  Mitleid  nach  Maria 
ausstrecken  läßt.  So  entstand  auch  hier,  wie  auf  dem 
Original,  das  Problem,  daß  ein  Kopf  zu  dreien  sym- 


204 


DIE  BEWEINUNG  MIT  DEM  STIFTER 


metrisch  das  Gleichgewicht  lialten  sollte,  und  auch 
hier  wurde  es  dadurch  gelöst,  daß  er  höher  gestellt 
und  so  kräftiger  hervorgehoben  wurde.  Der  Anony¬ 
mus  hatte  Maria  mit  der  Hand  in  das  widrige  Blut 
der  Seitenwunde  hineintappen  lassen;  dies  empfand 
Roger  als  unschön  undjegte  deshalb  den  Leichnam 
nach  rechts  hinüber,  so  daß  die  Wunde  nach  oben 
zu  liegen  kam  und  der  Blutstrom  der  uunüttelbareu 
Berührung  durch  die  Hände  der  Mutter  entzogen 
wurde.  Auch  das  Schlenkern  des  einen  Armes  schien 
ihm  nicht  ohne  Grund  häßlich;  er  ließ  ihn  daher  fest 
an  den  Leib  drücken;  doch  auf  das  Pendeln  des 
anderen,  das  so  schauerlich  wirkte,  mochte  er  nicht 
verzichten.  Die  herben  Formen  der  Leiche  hatte  er 
schon  auf  dem  Brüsseler  Gemälde  etwas  zu  verschönen 
gesucht;  auch  der  Marienaltar  zeigt  das  gleiche  Be¬ 
streben,  doch  wird  es  hier  nicht  durch  Mildern  und 
Verwaschen  erreicht,  sondern  dadurch,  daß  Roger  ein 
minder  abstoßendes  Modell  nach  der  Natur  studierte. 
So  zeigt  dies  schöne  Werk  nach  jeder  Richtung  hin 
ein  mächtiges  Wachsen  des  Meisters  über  sich  selbst 
und  über  sein  Vorbild  hinaus;  aber  daß  die  Be¬ 
weinung  mit  dem  Stifter  dies  Vorbild  war,  bleibt 
trotzdem  unverkennbar. 

Damit  ist  für  unsere  ganze  Gemäldegruppe  eine 
feste  Zeitgrenze  gewonnen,  und  zwar  eine  sehr  frühe. 
Denn  der  Marienaltar  wurde  1445  in  die  Karthause 
von  Miraflores  gestiftet  und  muß  schon  vor  1438  ge¬ 
malt  sein.  Die  eine  Hand  des  auferstandenen  Christus, 
der  auf  der  dritten  Tafel  unseres  Altarwerkes  darge¬ 
stellt  ist,  wiederholt  sich  nämlich  ganz  genau  bei  dem 
Johannes  des  Werlaltars  in  Madrid,  und  wie  schon 
Tschudi  bemerkt  hat,  kann  es  auch  in  diesem  Falle 
nicht  zweifelhaft  sein,  was  Original,  was  Kopie  ist. 
Denn  bei  jenem  Christus  ist  die  Handbewegung  durch 
den  Gegenstand  motiviert:  er  zeigt  der  Mutter  seine 
Wundenmale;  bei  dem  Täufer  dagegen  hat  sie  keinen 
anderen  Grund,  als  daß  die  ganz  eigentümliche  Ver¬ 
kürzung  und  Fingerstellung  den  Meister  von  Flemalle 
interessiert  hatte  und  deshalb  von  ihm  nachgebildet 
wurde.  Sein  Bild  aber  trägt  die  inschriftliche  Jahres¬ 
zahl  1438.  Nun  fanden  wir  Roger  in  den  Bewei¬ 
nungen  zu  London  und  Brüssel  noch  ganz  abhängig 
von  dem  Vorbilde  des  Anonymus;  nur  schüchtern 
erlaubte  er  sich  kleine  Änderungen,  die  zum  Teil 
durch  die  Aufträge  der  Besteller  hervorgerufen  und 
keineswegs  alle  Verbesserungen  waren.  Dagegen  zeigt 
ihn  der  Marienaltar  auch  in  der  Nachahmung  von 
einer  Selbständigkeit  und  künstlerischen  Reife,  die  zu 
dem  Schlüsse  zwingt,  daß  mehrere  Jahre  reichster 
Entwickelung  zwischen  ihm  und  jenen  früheren  Ver¬ 
suchen  liegen.  Ist  dieses  Werk  also  schon  vor 
1438  entstanden,  so  wird  man  jene  beiden  Bilder 
noch  in  die  allererste  Frühzeit  Rogers  setzen  müssen, 
das  heißt  in  das  Jahr  1432,  in  dem  er  selbständiger 
Meister  wurde,  oder  doch  sehr  wenig  später.  Daraus 
folgt  aber  weiter,  daß  ihr  gemeinsames  Vorbild,  die 
Berliner  Beweinung  mit  dem  Stifter,  kaum  nach  1432 
gemalt  sein  kann,  also  ebenso  alt  ist,  wie  der  Genter 
Altar,  wenn  nicht  noch  älter. 

Auf  eine  sehr  frühe  Zeit  weist  auch  die  Tracht  des 


Stifters  hin.  Er  ist  bekleidet  mit  einem  bis  auf  die  Füße 
herabreichenden  Obergewande,  aus  dem  der  Kragen  des 
Untergewandes  nur  wenig  hervorschaut.  Jenes  besteht 
aus  einfarbigem  Tuch,  ist  am  Halsausschnitt,  an  den 
Händen  und  am  unteren  Saume  mit  Pelzwerk  besetzt 
und  um  die  Hüften  gegürtet.  Charakteristisch  sind 
namentlich  die  Ärmel,  die  an  den  Handgelenken  ziem¬ 
lich  eng  sind,  um  sich  weiter  nach  oben  mächtig 
aufzubauschen.  Ganz  dieselbe  Tracht  finden  wir  aber 
auch  bei  dem  Jodocus  Vydt  des  Genter  Altars,  nur 
daß  bei  diesem  die  Bauschen  der  Ärmel  zu  ganz 
unförmlichen  Säcken  werden;  doch  dies  kann  indivi¬ 
duelle  Übertreibung  des  Modischen  sein.  Eigentüm¬ 
lich  ist  unserem  Stifter  nur  der  schwarze  Kragen  mit 
Pelzbesatz;  oder  soll  man  ihn  richtiger  Schärpe  nennen? 
Denn  er  schließt  sich  nicht,  wie  es  die  Art  eines  Kragens 
ist,  gleichmäßig  um  den  Flals  zusammen,  sondern 
liegt  der  rechten  Schulter  mir  mit  einem  kleinen  Ende 
auf,  während  er  über  die  linke  weit  herabhängl  Ein 
ähnliches  Kleidungsstück  habe  ich  nur  auf  dem  ersten 
Blatte  des  Gebetbuches  von  Chantilly  abgebildet  ge¬ 
funden,  wo  der  Herzog  von  Berri  an  der  Tafel  dar¬ 
gestellt  ist.  Hier  trägt  ein  Mann  des  Hofstaates,  der 
ganz  im  Vordergründe  steht  und  dem  Beschauer  den 
Rücken  zukehrt,  etwas  au  sich,  was  über  die  Schulter 
und  zwar  gleichfalls  über  die  linke  nach  hinten  nieder¬ 
hängt  und  der  Schärpe  unseres  Stifters  gleichartig  zu 
sein  scheint.  Das  Blatt  ist  dadurch  ganz  genau  datiert, 
daß  es  unvollendet  geblieben  ist;  offenbar  ist  seine 
Bemalung  durch  den  Tod  des  Bestellers,  der  1416 
eintrat,  unterbrochen  worden.  Viel  später  dürfte  man 
solche  Kragen  oder  Schärpen  kaum  getragen  haben. 
Denn  seit  den  zwanziger  Jahren  des  15.  Jahrhunderts 
ist  die  Zahl  der  erhaltenen  Bildnisse  so  groß,  daß 
wir  auch  andere  Beispiele  dieses  eigentümlichen 
Schmuckes  besitzen  müßten,  wenn  er  damals  noch 
üblich  gewesen  wäre. 

Noch  bezeichnender  ist  die  Haartracht  des  Stifters; 
doch  um  dies  zu  erklären,  wird  ein  weiteres  Ausholen 
erforderlich  sein. 

Die  Memoiren  des  Olivier  de  la  Marche,  die  um 
die  Wende  des  1  5.  Jahrhunderts  verfaßt  sind,  erzählen, 
um  das  Jahr  1461  sei  der  Herzog  von  Burgund  durch 
eine  Krankheit  seines  Haares  beraubt  worden  und 
habe  infolgedessen  die  Verfügung  erlassen,  daß  sein 
ganzer  Hof  sich  den  Kopf  rasieren  müsse.  Diese 
Nachricht  hat  man  zur  chronologischen  Bestimmung 
von  Bildern  benutzen  wollen;  doch  wie  mir  der  beste 
Kenner  der  belgischen  Geschichte,  Henri  Pirenne  in 
Gent,  versicherte,  ist  sie  erfunden.  Denn  weder  passe 
ein  solcher  Erlaß  zum  Charakter  Philipps  des  Guten, 
noch  finde  sich  in  irgend  einer  der  zeitgenössischen 
Quellen,  die  für  jene  Epoche  recht  zahlreich  sind, 
eine  Bestätigung  dafür.  Diesen  Gründen  kann  ich 
noch  die  folgenden  hinzufügen: 

1.  Auf  dem  Genter  Altar,  der  schon  1432  voll¬ 
endet  wurde,  erscheint  Jodocus  Vydt  mit  rasiertem 
Kopfe.  Denn  daß  es  sich  hier  nicht  um  eine  natür¬ 
liche  Glatze  handelt,  ergibt  sich  aus  den  Stoppeln, 
die  auf  dem  Schädel  ganz  ebenso  dargestellt  sind, 
wie  an  Kinn  und  Wange.  Jene  Mode  ist  also  schon 


DIE  BEWEINUNG  MIT  DEM  STIFTER 


205 


mindestens  drei  Jahrzehnte  früher  nachweisbar,  als 
Philipp  der  Gute  sie  eingeführt  haben  soll. 

2.  Auf  seinen  zahlreichen  Bildnissen  sehen  wir 
den  Herzog  meist  mit  bedecktem  Haupte;  da  aber 
unter  dem  Hute  nie  ein  einziges  Haar  sichtbar  wird, 
scheint  er  tatsächlich  kahlköpfig  gewesen  zu  sein.  Aber 
diese  Eigenschaft  kann  er  nicht  erst  als  Fünfundsech- 
zigjähriger  durch  eine  Krankheit  erworben  haben; 
denn  die  Gemälde,  welche  sie  erkennen  lassen,  zeigen 
ihn  teilweise  sehr  viel  jünger.  Aller  Wahrscheinlich¬ 
keit  nach  hat  er  sich  den  Kopf  ebenso  rasiert,  wie 
jodocus  Vydt,  aber  schon  lange  vor  1461. 

3.  Einzelne  Bildnisse  stellen  ihn  auch  barhaupt 
dar;  so  das  Gemälde  von  Roger  van  derWeyden  in 
Antwerpen  und  mehrere  Miniaturen  in  Bilderhand¬ 
schriften,  von  denen  ich  nur  die  datierten  nenne: 
Paris,  man.  franq.  gigg  vom  Jahre  1456,  Brüssel 
gog2  aus  demselben  Jahre,  g270  aus  dem  Jahre  1461. 
Hier  trägt  er  immer  eine  Perücke.  Wenn  er  aber 
bei  sich  selbst  durch  künstliches  Haar  die  Kahlköpfig¬ 
keit  verhüllte,  so  hatte  er  gar  keinen  Grund,  sie  von 
seinem  Hofe  zu  fordern. 

Zur  Büchersammlung  der  Herzoge  von  Burgund, 
die  jetzt  in  die  Brüsseler  Bibliothek  übergegangen  ist, 
gehört  auch  ein  Band,  der  kein  Datum  trägt,  aber 
in  den  Kostümen  der  Minialureii  genau  mit  den  Hand¬ 
schriften  von  1456  übereinstimmt,  also  wahrscheinlich 
um  dieselbe  Zeit  entstanden  ist  (Nr.  0231).  Es  ist 
La  fleiir  des  Iiistoires  von  Jean  Mansel,  eine  Samm¬ 
lung  historischer  Erzählungen,  die  mit  der  Schöpfung 
der  Welt  beginnt  und  bis  auf  die  eigene  Zeit  des 
Verfassers  herabreicht.  Hier  ist  (S.  154a)  auch  die 
Eroberung  Karthagos  im  Bilde  dargestellt.  Die  Schar 
gepanzerter  Ritter,  welche  das  römische  Heer  be¬ 
deuten  soll,  hält  zur  Seite,  und  aus  den  Toren  der 
Stadt  strömen  die  besiegten  Bürger  hervor,  alle  im 
bloßen  Hemde  und  mit  gebundenen  Händen.  Diese 
Illustration  dürfte  durch  eine  persönliche  Erinnerung 
des  unbekannten  Malers  beeinflußt  sein.  Denn  als 
das  aufrührerische  Gent  1453  in  der  Schlacht  bei 
Gavere  Philipp  dem  Guten  unterlegen  war,  da  mußten 
ihm  die  angesehensten  Bürger  im  Hemde  und  mit 
einem  Strick  um  den  Hals  entgegenziehen,  um  seine 
Füße  zu  küssen  und  seine  Gnade  zu  erflehen.  Es 
ist  also  sehr  bezeichnend,  daß  auf  unserer  Miniatur 
die  Karthager  alle  haarlos  sind;  und  um  das  Rasiert¬ 
sein  auszudrücken,  ist  über  ihre  Schädel  ein  leichter 
grauer  Ton  gelegt,  der  die  Stoppeln  oder  das  Durch¬ 
scheinen  der  Haarwurzeln  durch  die  Kopfhaut  wieder¬ 
geben  soll.  Ebenso  wird  im  Jahre  1453  die  Aristo¬ 
kratie  von  Gent  ausgesehen  haben,  als  sie  in  ihrem 
tiefen  Neglige  die  Perücken  zu  Hause  lassen  mußte. 
Darin  also  hat  Olivier  de  la  Marche  ganz  recht,  daß 
unter  Philipp  dem  Guten  die  vornehme  Welt  ihre 
Köpfe  zu  rasieren  pflegte.  Doch  als  er  schrieb,  war 
dieses  bereits  eine  verschollene  Mode,  die  ihm  so 
sonderbar  schien,  daß  er  eine  Erklärung  dafür  suchte. 
Er  fand  sie  in  jener  angeblichen  Krankheit  des  Her¬ 
zogs,  wie  man  im  jüngst  vergangenen  Jahrhundert 
das  Auftreten  der  Krinoline  aus  der  Schwangerschaft 
der  Kaiserin  Eugenie  erklären  zu  müssen  glaubte. 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XVIII.  H.  8 


Wir  werden  an  jener  Sitte  um  so  weniger  Anstoß 
nehmen  dürfen,  als  wir  wissen,  daß  sie  sich  im  i8. 
Jahrhundert  wiederholt  hat.  Denn  auch  die  Bilder 
Hogarths  zeigen  uns  ja  rasierte  Köpfe,  deren  Blöße 
mit  der  bekannten  Zopfperücke  bedeckt  ist. 

Im  Reiche  Philipps  des  Guten  hatten  die  Perücken 
eine  ganz  bestimmte  Form,  die  wir  in  zahllosen  Bildern 
wiederfinden.  Ohne  Scheitel  gehen  die  Haare  radien¬ 
förmig  vom  Wirbel  aus  und  sind  nach  allen  Seiten 
hin  gleich  lang,  so  daß  sie  einen  regelmäßigen  Kreis 
bilden.  Aufgesetzt  bedecken  sie  einen  Teil  der  Stirn, 
lassen  aber  den  Hinterkopf  bis  über  die  Höhe  der 
Ohren  bloß.  Die  Gemälde,  welche  uns  diesen  Kopf¬ 
putz  zeigen,  gestatten  nicht  immer  zu  erkennen,  ob 
natürliches  oder  künstliches  Haar  gemeint  ist.  Aber 
da  auf  jener  Miniatur  in  der  Bürgerschaft  von  Kar¬ 
thago  nicht  etwa  behaarte  und  unbehaarte  Köpfe  sich 
mischen,  sondern  die  ganze  Schar  rattenkahl  ist,  so 
wird  man  schließen  dürfen,  daß  zu  einer  gewissen 
Zeit  die  Perücke  in  den  höheren  Gesellschaftskreisen 
ganz  allgemein  verbreitet  war. 

Versuchen  wir  diese  Zeit  genauer  zu  umgrenzen. 
Was  jene  kleine  Rundperücke  ablöste,  ist  uns  aus 
den  Bildnissen  des  Bouts  und  Memling  genau  bekannt. 
Die  meisten  lassen  ihr  Haar  in  mächtigem  Schwall 
über  Ohren  und  Nacken  herabwallen;  andere,  wie  die 
Bildnisfiguren  des  Löwener  Abendmahls  (1467),  tragen 
es  kurz  geschnitten,  aber  nicht  mehr  rasiert.  Das 
Perückentragen  hört  nicht  ganz  auf,  wie  unter  ande¬ 
ren  die  Stifterbildnisse  zeigen,  die  Hugo  van  der 
Goes  dem  Hippolytusaltar  des  Dirk  Bouts  hinzuge¬ 
fügt  hat.  Denn  die  ungeheure  Haarmasse,  die  hier 
über  den  Rücken  des  Mannes  herabhängt,  ist  zweifel¬ 
los  Perücke.  Doch  diese  hat  eine  ganz  neue  Gestalt 
und  soll  nur  den  Mangel  eigenen  Haares  verbergen; 
man  schafft  nicht  mehr,  um  sie  bequemer  aufzusetzen, 
künstliche  Kahlköpfe.  Dieser  Wechsel  muß  um  die 
Mitte  der  fünfziger  Jahre  oder  wenig  früher  einge¬ 
treten  sein.  Denn  jene  Bilderhandschriften,  die  mit 
der  Jahreszahl  1456  datiert  sind,  zeigen  in  buntem 
Wechsel  teils  die  Rundperücke,  teils  das  lange  Haar; 
zu  der  Zeit,  wo  sie  entstanden,  stritt  also  die  neue 
Mode  noch  mit  der  alten  um  die  Vorherrschaft.  Um 
den  Anfang  der  sechziger  Jahre  scheint  sie  sich  dann 
vollständig  durchgesetzt  zu  haben.  Jedenfalls  ist  mir 
kein  Bildnis  bekannt,  das  erweislich  nach  1461  gemalt 
wäre  und  noch  die  Rundperücke  oder  den  rasierten 
Kopf  aufwiese. 

Fragen  wir  weiter,  wann  sie  zuerst  auftreten,  so 
sind  die  ältesten  datierten  Zeugnisse,  die  ich  dafür 
kenne,  die  folgenden.  Bei  jenem  Mahle  des  Herzogs 
von  Berri,  das,  wie  wir  (S.  204)  gesehen  haben,  dem 
Jahre  1416  angehört,  trägt  er  selbst  und  mit  ihm  die 
vornehmeren  Gäste  das  Haupt  bedeckt;  aber  daß  unter 
den  Hüten  gar  nichts  von  Haaren  bemerkbar  ist,  weist 
auf  Kahlköpfe  hin.  Demgemäß  zeigt  das  Hofgesinde, 
das  ihn  barhaupt  bedient,  mit  einer  einzigen  Ausnahme 
die  Rundperücke.  Ein  wenig  jüngeres  Beispiel  bietet 
eine  Madonna  mit  Stifterfamilie  in  Belle-Gasthuis  zu 
Ypern,  die  mit  der  Jahreszahl  1420  bezeichnet  ist. 
Hier  erscheint  dieselbe  Perücke  sowohl  bei  dem 


29 


2o6 


DIE  BEWEINUNG  MIT  DEM  STIFTER 


Manne  als  auch  bei  seinen  vier  Söhnen  bis  zum 
kleinsten  herab.  Die  Herrschaft  jener  Mode  läßt  sich 
also  von  1416  bis  1461  nachweisen,  obgleich  sie 
schon  um  1455  angefochten  wird. 

Natürlich  hat  sie  sich  auch  im  Anfang  dieses  Zeit¬ 
raumes  nicht  gleich  ausnahmslos  durchgesetzt,  sondern 
manche  haben  noch  lange  Jahre  ihr  eigenes  Haar  be¬ 
hauptet.  Am  deutlichsten  zeigt  sich  dies  in  den  Bild¬ 
nissen  der  Brüder  van  Eyck.  Soweit  sie  Laien  dar¬ 
stellen  -  denn  Geistliche  waren  schon  durch  ihre 
Regel  vom  Mitmachen  der  Mode  ausgeschlossen  — , 
tragen  sie  meist  irgend  eine  Ko|:)fbedeckung,  unter 
der,  wie  bei  den  Herzogen  von  Burgund  und  Berri, 
keine  Spur  von  Haar  sichtbar  wird;  so  das  Bildnis 
auf  der  Richtertafel,  in  dem  man  Jan  van  Eyck  zu 
erblicken  pflegt,  das 
aber  in  Wirklichkeit 
Hubert  darstellt,  fer¬ 
ner  der  Jüngling  in 
Hermannstadt,  die 
drei  Männerbildnisse 
in  London,  der  Ar- 
nolfini  und  der  Baul- 
douin  de  Lannoy  in 
Berlin.  Sind  sie  da¬ 
gegen  barhaupt,  so 
erblicken  wir  bei 
ihnen  entweder  den 
rasierten  Kopf  oder 
die  Rundperücke. 

Der  erstere  findet 
sich,  wie  schon  ge¬ 
sagt,  bei  Jodocus 
Vydt,  die  zweite  bei 
dem  Kanzler  Rolin 
des  Louvre,  bei  den 
Stiftern  in  Dresden 
und  Leipzig  und  bei 
dem  Bildnis  der  Pil¬ 
gertafel,  in  dem  ich 
Jan  van  Eyck  zu  er¬ 
kennen  meine.  Ne¬ 
ben  dieser  Mehrzahl 
erscheinen  aber  auch 
vereinzelte  Männer, 
die  der  Mode  zuwider  noch  ihr  eigenes  Haar 
tragen;  es  sind  der  berühmte  Mann  mit  den  Nelken 
in  Berlin,  der  Greis  bei  Baron  Oppenheim  in  Köln 
und  der  Jan  de  Leeuw  in  Wien  (1436).  Ihnen  stellt 
sich  das  Stifterbildnis  der  Londoner  Beweinung 
an  die  Seite,  das,  weil  von  Roger  van  der  Weyden 
gemalt,  nicht  älter  als  1432  sein  kann.  Die  Oppo¬ 
sition  gegen  das  allgemeine  Perückentragen  hat  also 
mindestens  bis  um  die  Mitte  der  dreißiger  Jahre  fort¬ 
gedauert;  doch  wie  man  leicht  begreift,  waren  die¬ 
jenigen,  welche  sich  ihm  widersetzten,  Leute  von 
gutem  Haarwuchs.  Die  Glatzköpfe  dagegen  werden 
zu  den  ersten  gehört  haben,  welche  eine  Mode  be¬ 
grüßten  und  annahmen,  die  ihnen  gestattete,  ihren 
natürlichen  Defekt  zu  verhüllen.  So  kenne  ich  denn 
auch  vom  Anfang  des  1 5.  Jahrhunderts  bis  zum  Jahre 


147g  nicht  mehr  als  drei  Bildnisse,  die  einen  echten, 
nicht  einen  rasierten  Kahlkopf  ohne  Bedeckung  zeigen. 
Es  sind  die  folgenden: 

1.  Der  Herzog  von  Berri  auf  dem  Titelblatte  des 
Brüsseler  Gebetbuches.  Es  ist  wahrscheinlich  schon 
vor  1402  ausgemalt,  da  es  in  einem  Inventar  dieses 
Jahres  erwähnt  zu  sein  scheint. 

2.  Der  Stifter  eines  Gemäldes,  das  sich  in  der 
Sakristei  von  St.  Sauveur  zu  Brügge  befindet.  Es 
stellt  einen  Gekreuzigten  zwischen  vier  Engeln  mit 
den  Marterwerkzeugen  dar,  zu  dessen  Füßen  links 
die  Madonna,  rechts  der  Stifter  knien.  Die  Engel 
zeigen  in  ihrer  Gewandung  noch  die  sanft  geschwunge¬ 
nen  Linien  der  Gotik  ohne  jede  scharfe  Brechung 
der  Falten.  Am  Fußboden  ist  das  Fliesenmuster  nach 

hinten  zu  noch  gar 
nicht  verjüngt,  so 
daß  er  senkrecht  zu 
stellen  scheint.  Das 
Bild  ist  also  entweder 
noch  voreyckisch 
oder  es  gehört  in 
die  erste  Frühzeit 
Huberts;  später  als 
in  das  erstejahrzehnt 
des  1  5.  Jahrhunderts 
wird  man  es  kaum 
setzen  können. 

3.  Der  Stifter 
unserer  Beweinung. 

Erst  als  man  in 
den  fünfziger  Jahren 
die  Perücke  abzu¬ 
legen  begann  und 
sich  daran  gewöhnte, 
wieder  das  eigene 
Haar  zu  tragen,  ge¬ 
langte  man  sehr 
allmählich  dazu,  sich 
auch  derGlatze  nicht 
zu  schämen.  Das 
älteste  Beispiel  dafür, 
das  mir  bekannt  ge¬ 
worden  ist,  findet 
sich  bei  einem  Stifter 
des  Memlingschen  Altars  von  1479,  der  im  Johannis¬ 
hospital  zu  Brügge  bewahrt  wird.  Aus  allem  diesen 
wird  man  sich  überzeugt  haben,  daß  unsere  Bewei¬ 
nung  eher  um  1420  oder  noch  früher,  als  um  1450 
anzusetzen  ist. 

Dem  entspricht  es,  daß  dieses  Bild  noch  gar  keinen 
Einfluß  des  Genfer  Altars  erkennen  läßt,  der  sich 
namentlich  in  der  Stifterfigur  zeigen  müßte.  Nicht 
nur  die  Belichtung  ihres  Kopfes  ist  ganz  anders  als 
bei  Jodocus  Vydt,  sondern  vor  allem  auch  die  Zeich¬ 
nung  der  Hände.  Diese  sind  nicht  der  Natur  nach¬ 
gebildet,  sondern  nach  einem  Schema  gemalt,  was 
ein  Meister  von  dieser  Befähigung  gewiß  nicht  getan 
hätte,  falls  ihm  ein  so  glänzendes  Beispiel  des  Gegen¬ 
teils  schon  bekannt  gewesen  wäre.  Und  wenn  doch, 
so  hätte  er  wahrscheinlich  die  Hände  des  Genfer 


UNBEKANNTER  MEISTER.  DER  GEKREUZIGTE.  BRÜGGE,  ST.  SAUVEUR 


DIE  BEWEINUNG  MIT  DEM  STIFTER 


207 


Stifters  nachgeahmt.  Statt  dessen  hat  er  sein  Vorbild 
jenem  alten  Gemälde  von  St.  Sauvenr  entlehnt.  Mit 
ihm  stimmt  er  in  dem  leicht  gekrümmten  kleinen 
Finger  überein,  in  dem  aufwärts  gebogenen  Daumen, 
in  der  Art,  wie  nur  die  Fingerspitzen  zusammenge¬ 
legt  und  die  Handballen  weit  voneinander  entfernt 
sind,  mit  den  Händen  der  Maria  auch  darin,  daß  der 
vierte  und  fünfte  Finger  durch  einen  breiteren  Zwischen¬ 
raum  voneinander  und  von  dem  zweiten  und  dritten 
getrennt  sind,  die  ihrerseits  dicht  zusammenliegen. 
Dies  sind  so  charakteristische  Ähnlichkeiten,  daß  sie 
unmöglich  Zufall  sein 
können. 

Berührungspunkte,  die 
über  den  allgemeinsten 
Schulzusammenhang  hin¬ 
ausgehen,  zeigt  unser  Mei¬ 
ster  nur  mit  einem  Ge¬ 
mälde  der  van  Eycks,  und 
dieses  gehört  zu  den  frühe¬ 
sten,  die  uns  von  den  gro¬ 
ßen  Brüdern  erhalten  sind ; 
ich  meine  die  kleine  Ma¬ 
donna  mit  dem  Karthäuser 
im  Kaiser- Friedrich -Mu¬ 
seum  zu  Berlin. 

Die  Wandlungen,  wel¬ 
che  dieses  Bildchen  im 
Urteil  der  Kunstgelehrten 
durchgemacht  hat,  sind  so 
charakteristisch  und  hän¬ 
gen  mit  unserem  Gegen¬ 
stände  so  eng  zusammen, 
daß  wir  sie  hier  nicht  über¬ 
gehen  dürfen.  So  lange 
es  in  dem  abgelegenen 
Burleigh  House  nur  we¬ 
nigen  Forschern  zugäng¬ 
lich  war,  galt  es  für  eins 
der  schönsten  Werke  des 
Jan  van  Eyck  und  genoß 
als  solches  ungeteilter  Be¬ 
wunderung.  Da  entdeckte 
Hymans,  daß  ein  Gemäl¬ 
de,  das  Blaise  Hutter  in 
einem  Inventar  vom  Jahre 
1595  dem  »Rupert  van 
Eyck«  zuschrieb,  mit  diesem  Bildchen  identisch  sein 
müsse.  Zwar  war  die  Beschreibung  desselben  falsch, 
stimmte  aber  besser  dazu,  als  wenn  sie  richtig  ge¬ 
wesen  wäre.  Denn  wenn  sie  von  einer  Madonna  mit 
dem  heiligen  Bernhard  und  einem  Engel  sprach,  so 
war  hier  der  Stifter  zwar  keineswegs  der  heilige 
Bernhard,  wohl  aber  ein  weißgekleideter  Mönch,  wie 
jener  es  gewesen  war.  Und  die  heilige  Barbara  hinter 
ihm  macht  mit  ihrem  kurzen  Lockenhaar  einen  so 
knabenhaften  Eindruck,  daß  ein  flüchtiger  Betrachter 
sie  leicht  für  einen  Engel  halten  konnte.  Zudem  ist 
ihr  Turm  durch  die  Gestalt  des  Mönches  von  ihr 
getrennt,  und  es  bedarf  eines  sehr  genauen  Zusehens, 
um  zu  erkennen,  daß  sie  ihn  anfaßt  und  dadurch  als 


ihr  Attribut  bezeichnet.  So  erklärten  sich  die  Irr- 
tümer  des  Blaise  Hutter  leicht  aus  der  Art  dieses 
Bildes,  und  es  blieb  kaum  ein  Zweifel  übrig,  daß 
er  es  gemeint  haben  müsse.  Nun  ist  es  zwar  zu 
allen  Zeiten  vorgekominen ,  daß  man  Kunstwerke 
fälschlich  auf  irgend  einen  berühmten  Namen  taufte. 
Aber  Hubert  van  Eyck  war  damals  kein  berühmter 
Name.  Im  16.  Jahrhundert  zollte  man  wohl  seinem 
jüngeren  Bruder,  den  man  aus  den  Signaturen  seiner 
Bilder  kannte,  die  verdiente  Anerkennung,  von  ihm 
selbst  aber  wußte  man  so  gut  wie  nichts,  und  daß 

Blaise  Hutter  nie  von  ihm 
gehört  hatte,  ergibt  sich 
am  deutlichsten  aus  der 
Verstümmelung  seines  Na¬ 
mens  in  »Rupert van  Eyck  . 
Mithin  lag  hier  ein  Zeugnis 
vor,  das  nicht  erfunden 
sein  konnte,  also  sicher 
aus  guter  alter  Überliefe¬ 
rung  geschöpft  war,  und 
es  auf  das  ähnliche  Bild 
bei  Gustav  Rothschild  in 
Paris  zu  beziehen,  wie  man 
neuerdings  versucht  hat, 
ist  ganz  unmöglich,  weil 
auf  dieses  die  Beschreibung 
in  keiner  Weise  paßt.  Denn 
hier  stehen  neben  dem 
weißgekleideten  Mönch 
nicht  r/«  Engel  ,  sondern 
zwei  heilige  Frauen,  von 
denen  keine  auch  nur  die 
allergeringste  Ähnlichkeit 
mit  einem  Engel  darbietet. 
Die  Beglaubigung  der  Bur- 
leigh-House-Madonna  ist 
also  eine  so  gute,  wie 
man  sie  für  ein  unbezeich- 
netes  Werk  jener  Frühzeit 
nur  verlangen  kann. 

Da  wurde  das  Bildchen 
für  das  Berliner  Museum 
erworben,  und  Tschudi, 
der  es  zum  erstenmal  ver¬ 
öffentlichte,  konstatierte 
aufs  neue,  daß  es  mit  den 
Gemälden  des  Jan  van  Eyck  große  Ähnlichkeit  habe. 
Dies  war  durchaus  kein  Grund,  es  dem  Hubert  abzuspre¬ 
chen.  Denn  daß  ein  guter  Schüler  seinem  Meister  bis  zum 
Verwechseln  ähnlich  werden  kann,  läßt  sich  durch  so 
manche  Beispiele  belegen.  Noch  heute  schwankt  die 
Forschung  bei  vielen  Bildern,  ob  sie  Perugino  oder  dem 
jungen  Raffael,  ob  Rubens  oder  dem  jungen  van  Dyck 
zuzuteilen  sind,  und  daß  Jan  seinen  Bruder  sehr  genau 
und  mit  großem  Geschick  nachgeahmt  hatte,  ergab 
sich  ja  aus  dem  Genter  Altar,  wo  die  Hände  der 
beiden  Meister  sich  kaum  scheiden  lassen.  Nichtsdesto¬ 
weniger  erklärte  Tschudi,  die  Karthäusermadonna  könne 
nur  von  Jan  van  Eyck  herrühren,  und  unter  diesem 
Namen  wurde  sic  im  Berliner  Museum  ausgestellt. 


HUBERT  VAN  EYCK.  DIE  MADONNA  MIT  DEM  KARTHÄUSER. 
BERLIN 


29 


208 


DIE  BEWEINUNG  MIT  DEM  STIFTER 


Hier  hatte  man  reiche  Gelegenlieit,  sie  mit  anderen 
Werken  des  Meisters  zu  vergleichen,  und  fand  bei 
stets  erneuter  Betrachtung,  daß  sie  von  ihnen  denn 
doch  recht  wesentlicli  verscliieden  sei.  Aber  statt 
dieses  als  willkommene  Bestätigung  des  Blaise  Hutter 
zu  begrüßen,  riet  man  jetzt  auf  Petrus  Cristus. 

Kaum  hatte  man  sich  auf  diesen  Namen  besonnen, 
so  gelang  es  James  Weale,  die  Person  jenes  wei߬ 
gekleideten  Mönches  festzustellen.  Es  war  ein  ge¬ 
wisser  Hermann  Steenken,  der  dem  Karthäuserkloster 
der  heiligen  Anna  ter  Woestire  angehört  hatte  und 
einmal  vor  einer  Statue  der  heiligen  Barbara  in  Ver¬ 
zückung  beobachtet  worden  war.  Daß  diese  Be¬ 
stimmung  richtig  war,  konnte  nicht  bezweifelt  werden. 
Denn  auf  dem  Rothschildschen  Bilde  erschien  ja  der¬ 
selbe  Mann  in  Verbindung  mit  Barbara  als  seiner 
persönlichen  Schutzheiligen  und  mit  Anna  als  der 
Herrin  seines  Klosters.  Da  dessen  Lage  in  der  Nähe 
von  Brügge  auf  Beziehungen  zu  den  Brüdern  van 
Eyck  hinwies,  gab  man  jetzt  zu,  daß  das  Pariser  Ge¬ 
mälde  von  Jan  oder  auch  von  Hubert  herrühren  könne, 
doch  für  das  Berliner  hielt  man  an  Petrus  Cristus 
fest.  Aber  Hermann  Steenken  war  schon  1428  ge¬ 
storben,  beinahe  zwei  Jahrzehnte  früher,  als  die  Tätig¬ 
keit  jenes  unbedeutenden  Malers  begann. 

Auch  für  diese  Verlegenheit  wußte  Dvorak  Rat. 
Der  biedere  Karthäuser  sollte  als  Heiliger  verehrt  und 
deshalb  noch  zwanzig  Jahre  nach  seinem  Tode  im 
Bilde  verewigi  worden  sein.  Doch  von  seiner  Heilig¬ 
sprechung  weiß  man  nichts,  und  gesetzt  sie  wäre 
erfolgt,  so  ist  er  hier  doch  nicht  als  Heiliger  darge¬ 
stellt.  Denn  er  steht  nicht  gleichberechtigt  neben 
seiner  Barbara,  sondern  wird  von  ihr  als  demütiger 
Beter  der  Madonna  empfohlen.  Nach  tausend  Ana¬ 
logien  kann  es  gar  nicht  zweifelhaft  sein,  daß  wir 
hier  keinen  Heiligen,  sondern  einen  ganz  gewöhnlichen 
Stifter  vor  uns  haben.  Das  Verhältnis  der  beiden 
Bilder  werden  wir  uns  so  zu  denken  haben,  daß  das 
größere  Pariser  für  die  Klosterkirche,  das  kleinere 
Berliner  für  die  eigene  Zelle  des  Mönches  bestimmt 
war;  zu  seinen  Lebzeiten  aber  müssen  beide  gemalt 
sein,  womit  die  Urheberschaft  des  Petrus  Cristus 
ausgeschlossen  ist. 

Der  Entdeckung  James  Weales  folgte  sehr  schnell 
eine  noch  wichtigere.  Der  Graf  Paul  Durrieu  erkannte, 
daß  mehrere  Blätter  des  Turiner  Gebetbuches,  das 
jetzt  leider  ein  Raub  der  Flammen  geworden  ist,  ans 
der  Werkstatt  der  van  Eycks  hervorgegangen  waren, 
und  führte  den  Beweis,  daß  sie  in  den  Jahren  1416 
und  1417  gemalt  sein  mußten.  Sie  lagen  also  nicht 
nur  der  Tätigkeit  des  Petrus  Cristus,  sondern  auch 
der  des  Jan  van  Eyck  voraus  und  konnten  folglich 
nur  von  Hubert  und  seinen  Gehilfen  herrühren.  Unter 
diesen  Miniaturen  befand  sich  aber  auch  eine  Ma¬ 
donna  mit  einer  Gruppe  weiblicher  Heiligen,  die  zu 
dem  Berliner  Bildchen  die  auffälligsten  Analogien 
zeigte. 

Zum  Überfluß  sei  noch  auf  ein  Merkmal  hinge¬ 
wiesen,  mit  dem  beide  van  Eycks  alle  ihre  Ölgemälde, 
soweit  sie  größere  Landschaften  enthielten,  bezeichnet 
zu  haben  scheinen,  den  Zug  wilder  Gänse  am  Himmel. 


Er  fehlt  nur  auf  der  Berliner  Kreuzigung  und  auf 
den  Petersburger  Altarflügeln.  Doch  bei  jener  ist  der 
obere  Teil  des  Bildes  so  schlecht  erhalten,  daß  diese 
gebrochene  Reihe  kleiner  schwarzer  Linien  leicht  zer¬ 
stört  sein  kann,  und  bei  diesen  ist  die  Vermutung 
gestattet,  daß  sie  auf  der  verlorenen  Mitteltafel  ge¬ 
standen  hat.  Denn  sie  findet  sich  auf  dem  Genter  Altar 
sowohl  auf  der  Innenseite  (Einsiedlertafel),  als  auch  auf 
der  Außenseite  (die  Stadtansicht  auf  der  Rückseite  des 
Brüsseler  Adam),  ferner  bei  den  drei  Marien  der  Samm¬ 
lung  Cook,  bei  den  Madonnen  des  Louvre  und  der 
Sammlung  f^othschild,  bei  dem  heiligen  Franz  in 
Turin  und  der  heiligen  Barbara  in  Antwerpen,  kurz 
auf  allen  Gemälden  der  Brüder,  die  einen  landschaft¬ 
lichen  Hintergrund  besitzen  und  vollständig  erhalten 
sind.  Ein  Zeichen,  das  bei  ihnen  mit  solcher  Regel¬ 
mäßigkeit  erscheint,  auch  wo  ihre  Himmel  nicht  von 
anderen  Vögeln  belebt  sind,  und  das  sich  meines 
Wissens  sonst  bei  keinem  Maler  wiederfindet,  darf 
man  wohl  als  ihre  gemeinsame  Künstlermarke  be¬ 
trachten.  Ein  Beispiel  ganz  ähnlicher  Art  bietet  ja 
die  Eule  des  Herri  met  de  Bles.  Ob  Hubert  durch 
jenen  Wanderzug  sich  als  weitgereisten  Mann  be¬ 
zeichnen,  ob  er  durch  die  eckige  Gestalt  desselben 
an  seinen  Namen  erinnern  wollte,  der  ja  dem  Worte 
»Eck'  ähnlich  ist,  lassen  wir  unentschieden.  Jeden¬ 
falls  weist  auch  das  Erscheinen  dieses  Vogelzeichens 
bei  der  Berliner  Madonna  darauf  hin,  daß  sie  von 
einem  der  beiden  Brüder  gemalt  ist. 

Daß  unser  Bild  hinter  dem  größeren  Pariser  an 
bestechender  Schönheit  zurücksteht,  ist  richtig;  doch 
hindert  dies  nicht,  in  ihnen  die  gleiche  Hand  zu 
erkennen.  Der  Wertunterschied  erklärt  sich  zum  Teil 
daraus,  daß  eine  Wiederholung,  auch  wenn  sie  noch 
so  frei  ist,  doch  selten  mit  der  gleichen  Frische  ge¬ 
malt  wird,  wie  das  erste  Bild.  Doch  kommen  noch 
andere,  bedeutsamere  Gründe  hinzu.  Hermann  Steenken 
wurde  schon  1402  Vikar  seines  Klosters,  eine  Würde, 
die  man  nicht  in  jungen  Jahren  erreichte.  Da  unsere 
Gemälde  ihn  zwar  grauhaarig,  aber  doch  noch  in 
voller  Blüte  der  Manneskraft  darstellen,  werden  sie 
nicht  viel  später  entstanden  sein;  sie  gehören  also 
noch  in  die  Frühzeit  des  Hubert  van  Eyck.  Dies 
erklärt  es,  warum  die  Köpfe  des  Pariser  Bildes,  auch 
das  Porträt  nicht  ausgenommen,  noch  sehr  mangel¬ 
haft  individualisiert  sind.  Der  Mönch  zeigt  das  Haar 
eines  Greises,  aber  das  glatte  Gesicht  eines  Jünglings, 
offenbar  aus  keinem  anderen  Grunde,  als  weil  der 
Künstler  noch  nicht  imstande  ist,  seine  Züge  mit  der 
scharfen  Beobachtung  aller  Einzelheiten  wiederzugeben, 
die  wir  an  seinen  späteren  Bildnissen  bewundern.  So 
haben  denn  auch  die  heiligen  Frauen  alle  drei  genau 
das  gleiche  Gesicht  und  selbst  die  gleiche  Dreiviertel¬ 
ansicht  desselben;  die  Hände  vollends  unterscheiden 
sich  so  wenig,  daß  selbst  die  männlichen  des  Stifters 
kaum  anders  behandelt  sind,  als  die  weiblichen.  Ganz 
anders  auf  dem  Berliner  Gemälde.  Wenn  hier  der 
Mönch  beträchtlich  älter  erscheint,  so  liegt  dies  wohl 
weniger  an  der  späteren  Entstehung  des  Bildnisses, 
als  daran,  daß  die  Falten  und  Unebenheiten  der  Haut 
trotz  des  kleineren  Formates  doch  deutlicher  ausge- 


DIE  BEWEINUNG  MIT  DEM  STIFTER 


209 


prägt  sind.  Jedenfalls  ist  dieser  Kopf  viel  individu¬ 
eller  als  der  Pariser.  Maria  und  Barbara  unterscheiden 
sich  sehr  auffällig  im  Oesichtstypus;  die  Hände  sind 
bei  der  einen  fein  und  langfingerig,  bei  der  anderen 
breit  und  kurz,  bei  dem  Stifter  höchst  charakteristisch 
der  Natur  nachgebildet.  Der  Maler  hat  die  Unvoll¬ 
kommenheiten  seines  früheren  Werkes  empfunden  und 
schlägt  ganz  neue  Wege  ein.  Auf  diesen  aber  geht 
er  nicht  mehr  so  sicher,  wie  auf  den  altgewohnten. 
Es  liegt  in  der  Natur  der  Dinge,  daß  erste  Versuche 
immer  etwas  Tastendes  an  sich  haben.  Weil  das 
Pariser  Bild  noch  bei  dem  eingeübten  Schema  bleibt, 
ist  es  ausgeglichener  und  deshalb  in  seiner  Gesamt¬ 
wirkung  befriedigender  als  das  Berliner,  obgleich 
dieses  in  der  künstlerischen  Entwickelung  des  Meisters 
eine  höhere  Stufe  bezeichnet. 

Noch  entschiedener  tritt  dies  in  der  Landschaft 
hervor,  die  am  unverkennbarsten  die  Hand  Huberts 
verrät  und  doch  zugleich  von  seiner  sonstigen  Art 
am  meisten  abweicht.  Die  zarte  Behandlung  des 
Laubwerks  an  Bäumen  und  Büschen,  der  feine  Farben¬ 
sinn,  mit  dem  an  den  Dächern  der  Stadt  der  bläu¬ 
liche  Schiefer  zu  dem  Rot  der  Ziegel  gestimmt  ist, 
der  Fluß,  der  in  leuchtender  Spiegelung  das  Ganze 
durchzieht,  die  überreiche  Staffage  in  winzigen  Figür- 
chen,  die  grell  weißen  Punkte,  die,  durch  einen  kleinen 
Schimmel,  durch  aufgehängte  Wäsche,  durch  die  Kopf¬ 
tücher  der  Frauen  motiviert,  überall  verstreut  sind 
und  über  das  Bildchen  ein  wunderbares  Flimmern 
des  Lichtes  verbreiten,  alles  dies  kehrt  bei  den 
Madonnen  des  Louvre  und  der  Sammlung  Rothschild 
wieder.  Wann  hat  Petrus  Cristus  oder  irgend  ein 
anderer  Meister,  selbst  Jan  van  Eyck  nicht  ausge¬ 
nommen,  ähnliches  erreicht  oder  auch  nur  erstrebt? 
Doch  während  in  diesen  Beziehungen  Hubert  ganz 
er  selbst  bleibt,  hat  er  in  anderen  das  Schema  be¬ 
wußt  durchbroehen ,  das  seine  eigenen  Bilder  vorher 
geschaffen  hatten. 

Für  das  älteste  von  denjenigen,  die  ich  früher 
kannte,  hatte  ich  schon  nach  der  Photographie  die 
drei  Marien  der  Sammlung  Cook  erklärt.  Die  Betraeh- 
tung  des  Originals,  die  mir  seitdem  möglich  geworden 
ist,  hat  mir  für  diese  Zeitbestimmung  eine  entschei¬ 
dende  Bestätigung  gewährt.  Denn  wie  ich  mich  über¬ 
zeugt  habe,  sind  die  Säume  der  Frauenkleider  hier 
noch  mit  Blattgold  aufgesetzt,  während  Hubert  in 
allen  späteren  Gemälden  das  Gold  nur  durch  schat¬ 
tiertes  Gelb  wiedergibt  und  damit  eine  viel  höhere 
Illusion  erreicht,  ln  diesem  Bilde  ist  auch  für  die 
Landschaft  das  Schema  aufgestellt,  das  Hubert  und 
seine  ganze  Schule  seitdem  beherrscht  hat. 

Früher  hatte  ich  die  Meinung  ausgesprochen,  daß 
erst  Jan  van  Eyck  der  Erfinder  der  drei  Gründe  ge¬ 
wesen  sei;  aber  durch  Hulin  aufmerksam  gemacht, 
habe  ich  mich  überzeugen  müssen,  daß  dies  ein 
Irrtum  war.  Schon  bei  den  drei  Marien  sind  sie 
durch  die  Linien  der  Landsehaft  klar  voneinander 
geschieden  und  in  ihren  Tonwerten  deutlich  abge¬ 
stuft,  und  diesem  Verfahren  ist  Hubert  dann  so  treu 
geblieben,  daß  es  in  seinen  spätesten  Werken  schon 
zur  Manier  ausartet.  So  ist  bei  der  Anbetung  des 


Lammes  mitten  durch  die  Wiese  ein  Strich  gezogen; 
vor  demselben  sind  alle  Pflanzen  mit  der  Treue  eines 
botanischen  Atlas  einzeln  dargestellt,  dahinter  folgt 
eine  grüne  Fläche,  auf  der  die  Blumen  nur  durch 
weiße  Punkte  angedeutet  werden.  Über  diesem  zweiten 
Grunde  erhebt  sich  das  Erdreich  zu  Hügeln,  hinter 
denen  als  dritter  die  blaue  Ferne  liegt.  Bei  dem 
Kanzler  Rolin  des  Louvre  wird  der  erste  Grund  durch 
die  Zinnen  des  Geländers  abgeschlossen,  der  zweite 
enthält,  schon  in  sanfter  abgetönten  Lokalfarben,  die 
Stadt  mit  den  sie  umgebenden  Hügeln,  der  dritte  den 
blauen  Alpenzug.  Diese  zwei  Beispiele  mögen  als 
Illustration  des  ganzen  Verfahrens  genügen.  Bei  der 
Karthäusermadonna  hat  Hubert  versucht,  ohne  diese 
schematische  Trennung  durch  ganz  allmähliche  Über¬ 
gänge  die  Ferne  in  den  Vordergrund  überzuleiten. 
Er  läßt  daher  nicht  einmal  das  Geländer  der  Loggia 
einen  durchgehenden  Scheidungsstrich  bilden,  sondern 
führt  auf  der  linken  Seite  das  Erdreich  darüber  hin¬ 
aus  bis  dicht  an  die  Figuren  heran.  Aber  dieses 
Experiment  ist  nicht  ganz  gelungen,  weil  das  per¬ 
spektivische  Wissen  des  Meisters  dafür  nicht  ausreichte. 
Denn  da  er  Landschaft  und  Architektur  von  verschie¬ 
denen  Augenpunkten  gesehen  hat,  entsteht  zwischen 
ihnen  ein  Zwiespalt,  den  sein  scharfer  Blick  hinterher 
wohl  bemerkte,  aber  seine  ungenügende  Kenntnis  nicht 
zu  lösen  vermoehte.  Er  ist  daher  in  seinen  späteren 
Bildern  zu  der  Scheidung  der  Gründe  zurüekgekehrt, 
die  jenen  Zwiespalt  zwar  nicht  aufhob,  wohl  aber 
einigermaßen  verhüllte. 

Diesem  mißglückten  Versuch  schloß  sich  ein  zweiter 
an.  Die  Schwierigkeit  jenes  allmählichen  Überganges 
hat  den  Meister  veranlaßt,  die  Landschaft  kleiner  zu 
machen  und  deshalb  den  Horizont  viel  weiter  herab¬ 
zurücken,  als  sonst  seine  Gewohnheit  war.  Dies 
aber  bedingte  auch  eine  ihm  ganz  neue  Farbenwirkung. 
Blieben  die  Köpfe  der  menschlichen  Gestalten  unter 
dem  Horizont,  so  ließ  sieh  die  bräunliche  Farbe  von 
Haar  und  Gesicht  leicht  zu  dem  Braun  und  Braun¬ 
grün  der  Landschaft  stimmen.  Hier  dagegen  kamen 
sie  gegen  den  blauen  Himmel  zu  stehen,  und  an  die 
Stelle  der  Tonharmonie  trat  ein  scharfer  Kontrast. 
Doch  ihn  koloristisch  auszugleichen,  war  nicht  leicht. 
Daher  ist  die  Rothschildsche  Madonna  auch  in  der 
Färbung  besser  gelungen  als  die  Berliner.  Hubert 
hatte  eben  auch  in  dieser  Beziehung  etwas  unter¬ 
nommen,  was  ihm  ungewohnt  und  seinem  Farben¬ 
empfinden,  das  sich  wesentlich  auf  Tonwirkung  richtete, 
auch  nicht  ganz  gemäß  war.  Er  ist  daher  auf  diesen 
Versuch  nur  noch  bei  den  singenden  und  spielenden 
Engeln  des  Genter  Altars  zurückgekommen;  doch  hier 
setzte  sich  nicht  mehr  der  einzelne  Kopf,  sondern  die 
ganze  Masse  gegen  das  Blau  des  Himmels  ab,  was 
ein  Zusammenhalten  der  Farben  sehr  erleichterte. 

Hiermit  kommen  wir  auf  den  Himmel  unseres 
Bildchens,  den  man  am  schärfsten  getadelt  hat.  Und 
doch  liefert  gerade  er  den  deutlichsten  Beweis,  daß 
es  nicht  von  Petrus  Cristus  herrühren,  sondern  mü¬ 
der  allerersten  Frühzeit  der  niederländischen  Kunst 
angehören  kann.  Denn  so  kindlich  stilisierte  Wölk¬ 
chen  hat  auch  der  ärgste  Stümper  nicht  mehr  gemalt. 


210 


DIE  BEWEINUNG  MIT  DEM  STIFTER 


nachdem  das  Beispiel  des  Genter  Altars  gegeben  war. 
Alle  Künstler  der  folgenden  Generation  ahmen  seine 
Wolken  entweder  nach,  oder  wenn  sie  sich  das  nicht 
Zutrauen,  lassen  sie  den  Himmel  einfach  unbewölkt. 
Dies  pflegd  auch  Petrus  Cristus  zu  tun;  wo  er 
sich  aber  doch  an  Wolken  heran  wagt,  wie  bei  der 
Wörlitzer  Kreuzigung,  da  zeigen  sie  keineswegs 
stilisierte  Ränder,  sondern  sind  charakterlose  weiße 
Klekse  ohne  eine  Spur  von  klargestalteter  Form. 
Wie  anders  die  Wolken  unserer  Madonna,  an  denen 
jeder  Strich  scharf  und  bestimmt  von  künstlerischer 
Absicht  zeugt,  mag  sie  auch  nicht  voll  erreicht  sein! 
Es  ist  immer  die  noch  ungeschulte  Naturbetrachtung, 
die  zum  Stilisieren  führt;  in  der  Regel  tritt  es  dort 
auf,  wo  ein  neues  Gebiet  der  Beobachtung  zuerst 
erschlossen  wird.  Ein  sehr  lehrreiches  Beispiel  bietet 
in  dieser  Beziehung  noch  Gerhard  David.  Ruhig 
spiegelndes  Wasser  und  der  Wellenschlag  des  Meeres 
waren  schon  vor  ihm  gemalt  worden ;  doch  die  leicht 
bewegte  Oberfläche  eines  Flusses  darzustellen,  hat  er 
in  der  Taufe  Christi,  die  sich  im  Museum  von  Brügge 
befindet,  zum  erstenmal  versucht.  Trotz  der  sehr 
hohen  Stufe  der  Entwickelung,  die  dieser  Künstler 
schon  erreicht  hat,  stilisiert  er  hier  so  arg,  dalf  das 
Wasser  aussieht,  als  wenn  ein  Netz  darüber  gebreitet 
wäre.  Und  man  wundert  sich,  wenn  ein  Hubert  van 
Eyck,  der  noch  auf  der  Schwelle  der  modernen  Kunst 
steht,  in  seiner  Frühzeit  analoge  Fehler  begeht! 

Den  Wolken  hat  der  große  Meister  ein  ganz  be¬ 
sonderes  Studium  gewidmet;  doch  ihre  stets  wech¬ 
selnde  Gestalt  bereitete  ihm  solche  Schwierigkeiten, 
daß  er  nie  damit  zum  Abschluß  gekommen  ist  und 
die  schon  eingeschlagenen  Wege  immer  wieder  ver¬ 
lassen  hat.  Das  glücklichste  Gelingen  zeigt  gleich 
der  erste  Versuch  bei  den  drei  Marien  zu  Richrnond, 
aber  nur  weil  er  hier  auf  ein  festes  Gestalten  ganz 
verzichtet  und  statt  klar  abgegrenzter  Wolken  einen 
grauen  Nebel  gibt,  der  in  unbestimmten  Umrissen 
den  Morgenhimmel  überzieht.  Die  gleiche  Ver¬ 
schwommenheit  beherrscht  auch  bei  der  Rothschild- 
Madonna  den  größeren  Teil  des  Himmels;  nur  ganz 
oben  dicht  unter  dem  linken  Rundbogen  versucht 
sich  der  Künstler  schüchtern  an  einer  fest  umschriebe¬ 
nen  Ballenwolke.  Ihre  Technik  ist  ganz  ähnlich  wie 
bei  der  Berliner  Madonna  und  dem  Genter  Altar: 
das  Weiß  wird  durchscheinend  über  das  Blau  des 
Himmels  gelegt,  so  daß  die  Schatten  durch  dünneren 
Auftrag  hervorgebracht  werden,  dem  nur  ein  ganz 
klein  wenig  Grau  nachhilft.  Doch  in  ihrer  Gestalt 
erscheint  sie  noch  plump  und  unschön,  wie  ein  rund¬ 
licher  Wattenkloß.  Ganz  ähnliche  Wolken  finden 
sich  dann  auch  auf  der  Berliner  Kreuzigung.  Doch 
der  Künstler  ist  sich  ihrer  Unvollkommenheit  bewußt 
und  beginnt  jetzt  ein  ganz  systematisches  Studium 
dieser  Naturerscheinung,  dessen  erstes  Resultat  die 
Berliner  Madonna  darstellt.  Cirri,  Strati  und  Cumuli 
sind  hier  scharf  unterschieden  und  die  beiden  ersteren 
auch  recht  gut  nachgebildet.  Bei  den  Ballenwolken 
dagegen,  die  er  bisher  mit  öden  Rundlinien  um¬ 
schrieben  hatte,  interessiert  ihn  jetzt  die  ewig  schwan¬ 
kende  Bewegung  der  Ränder,  die  ja  wunderschön. 


aber  unglaublich  schwer  wiederzugeben  ist.  Doch 
Hubert  ist  kühn  genug,  sich  auch  an  diesem  Problem 
zu  versuchen,  und  das  Ergebnis  sind  jene  stilisierten 
Zäckchen,  die  wohl  die  Absicht  erkennen  lassen,  aber 
von  ihrem  Erreichen  himmelweit  entfernt  sind.  Etwas 
besser  sind  die  Cumuli  auf  der  Petersburger  Kreuzigung 
gebildet,  am  besten  auf  dem  Genter  Altar;  aber  auch 
hier  bleiben  sie  unnatürlich  und  befriedigen  den 
Künstler  nicht.  Bei  dem  Kanzler  Rolin  ist  er  daher 
zu  den  unbestimmten  Wolkenbildungen  seiner  Früh¬ 
zeit  zurückgekehrt,  die  das  Problem  nicht  lösen,  aber 
geschickt  umgehen  und  wenigstens  alles  Störende 
vermeiden. 

Noch  Eins  ist  bei  dem  Himmel  der  Berliner  Ma¬ 
donna  sehr  zu  beachten.  Bei  den  drei  Marien  sollte 
die  früheste  Morgenstunde  dargestellt  werden;  der 
Horizont  ist  daher  noch  in  klares  Gelb  getaucht,  das 
ganz  allmählich  nach  oben  in  Blau  übergeht.  Diese 
Behandlung  entsprach  der  Zeit  des  Sonnenaufgangs 
oder  -Untergangs;  bei  vollem  Tage  war  sie  nicht  mehr 
richtig.  Denn  wenn  der  Horizont  auch  etwas  heller 
ist  als  der  Zenit,  so  bleibt  er  bei  hohem  Sonnen¬ 
stände  doch  immer  blau.  Doch  jener  zarte  Farben¬ 
übergang  war  so  schön,  daß  Hubert  ihn  auch  auf 
die  Mehrzahl  seiner  anderen  Bilder  übertragen  hat, 
und  die  ganze  Schule  ist  ihm  darin  gefolgt.  Bis  tief 
ins  i6.  Jahrhundert  hinein  gibt  es  keine  niederlän¬ 
dische  Landschaft,  deren  Himmel  nicht  am  Horizont 
gelb  oder  weiß  wäre.  Die  einzigen  Ausnahmen,  die 
ich  kenne,  sind  unsere  Madonna  und  die  Berliner 
Kreuzigung.  Darin  liegt,  wie  mir  scheint,  ein  weiterer 
Beweis,  daß  diese  beiden  Gemälde  entstanden  sind, 
ehe  jener  allmähliche  Wechsel  der  Farbe  zur  festen 
Schultradition  geworden  war,  das  heißt  in  der  ersten 
Frühzeit  des  15.  Jahrhunderts. 

Wenden  wir  uns  nun  zu  unserer  Beweinung  zu¬ 
rück  und  betrachten  wir  ihr  Verhältnis  zur  Karthäuser¬ 
madonna.  Während  Hubert  seine  späteren  Bildnis¬ 
köpfe  immer  im  vollen  Lichte  malt,  ist  der  Mönch  unse¬ 
res  Bildchens  nur  auf  der  dem  Beschauer  zugekehrten 
Seite  beleuchtet;  die  andere  liegt  in  tiefem  Schatten. 
Ganz  ebenso  bei  dem  Stifter  der  Beweinung.  Schon 
oben  (S.  202)  haben  wir  gesehen,  daß  das  profane 
Bildnis  von  der  Madonna  durch  einen  scharf  betonten 
Trennungsstrich  geschieden  ist  und  daß  unser  anonymer 
Meister  dieses  in  sehr  feiner  und  geistvoller  Weise 
nachgeahmt  hat.  Ferner  gehören  die  knochigen,  lang¬ 
fingerigen  Hände  der  Karthäusermadonna  ganz  dem 
gleichen  Typus  an,  den  wir  an  dem  Johannes  und 
der  Schmerzensmutter  der  Beweinung  beobachten 
können,  und  daß  sie  nicht  recht  zuzugreifen  imstande 
sind,  wiederholt  sich  gleichfalls  bei  dem  Bildchen 
Huberts,  wo  das  Kind  sehr  unsicher  auf  den  Händen 
der  Maria  ruht.  Auch  daß  die  Köpfe  sich  gegen  den 
Himmel  absetzen,  daß  die  Hauptfarbenakzente  auf 
die  beiden  Seiten  gelegt  sind  und  die  Mitte  heller 
bleibt,  daß  der  Horizont  niedrig  ist  und  in  blauer 
Ferne  verschwimmt,  kehrt  hier  wie  dort  wieder.  Hubert 
verleiht  seinen  Farben  ein  höchst  wirkungsvolles 
Flimmern,  indem  er  seine  Landschaft  mit  weißen 
Pünktchen  überstreut;  dasselbe  sucht  unser  Meister 


DIE  BEWEINUNG  MIT  DEM  STIFTER 


21  1 


durch  die  zahlreichen  weißen  Blümchen  des  Vorder¬ 
grundes  zu  erreichen,  freilich  nicht  ganz  mit  dem¬ 
selben  Erfolge.  Vor  allem  aber  zeigt  sich  seine  Ab¬ 
hängigkeit  von  dem  Berliner  Bildchen  in  den  Wolken, 
so  verschieden  sie  auf  den  ersten  Blick  auch  aus¬ 
seh  en.  Hubert  hatte  hier  Cirri,  Strati  und  Cumuli 
zum  erstenmal  beobachtet  und  sorgfältig  unterschieden; 
dieselben  drei  Arten  erscheinen  auch  auf  unserer  Be¬ 
weinung  und  das  nicht  zu  ihrem  Vorteil.  Denn  der 
große  Zug  der  Ballenwolken  wird  durch  die  kleinen 
Formen,  die  zwischen  sie  eingestreut  sind,  nur  unter¬ 
brochen  und  gehemmt.  Es  ist  dies  wieder  einer  der 
zahlreichen  Fälle,  wo  die  Überlieferung  eines  älteren 
Meisters  ebenso  stört,  wie  sie  gefördert  hat.  Hubert 
setzt  seine  Wolken  mit  durchsichtigem  Weiß  auf  das 
Blau  des  Himmels  und  bezeichnet  die  Lichter  durch 
dickeren,  die  Schatten  durch  dünneren  Auftrag;  ganz 
ebenso  unser  Meister,  nur  daß  er  die  hellsten  Teile 
viel  pastoser  malt.  Soweit  sein  Himmel  sich  über 
den  primitiven  Versuch  seines  Vorgängers  erhebt, 
knüpft  er  doch  unverkennbar  an  ihn  an. 

Daß  zwischen  den  Werken  des  Roger  van  der 
Weyden  und  unserer  Beweinung  ein  enger  Zusammen¬ 


hang  besteht,  hat  man  nie  verkannt;  man  hat  sie  daher 
sogar  der  Schule  Rogers  zugeschrieben.  Wir  haben 
gesehen,  daß  sie  gemalt  sein  muß,  lange  ehe  dieser 
seine  Künstlerlaufbahn  begann.  Doch  wenn  sie  keinem 
seiner  Nachfolger  angehören  kann,  muß  sie  von  seinem 
Vorläufer  herrühren.  Der  Meister,  welcher  die  Kunst 
des  Hubert  van  Eyck  dem  Roger  vermittelte,  den  dieser 
in  seiner  ersten  Frühzeit  sklavisch  nachahmte,  um  erst 
ganz  allmählich  zu  freierer  Selbständigkeit  durchzu¬ 
dringen,  kann  kein  anderer  gewesen  sein,  als  sein 
Lehrer,  Robert  Campin,  und  damit  hört  unser  Bild 
auf,  anonym  zu  sein. 

Andere  Werke  des  großen  Meisters  aufzufinden, 
wird  durch  den  Vergleich  mit  der  Berliner  Beweinung 
vielleicht  möglich  sein.  Mir  ist  es  trotz  eifrigen 
Suchens  nicht  gelungen,  und  auch  Bode  teilte  mir 
mit,  daß  ihm  kein  Gemälde  bekannt  sei,  in  dem  die 
gleiche  Hand  sich  erkennen  lasse.  Trotzdem  möchten 
wir  der  Hoffnung  nicht  entsagen,  daß  der  Bildersturm 
dem  Robert  Campin  nicht  ganz  so  übet  mitgespielt 
habe,  wie  dem  Albert  van  Ouwater,  dessen  Aufer¬ 
weckung  des  Lazarus  ja  leider  noch  bis  auf  den 
heutigen  Tag  ein  Unikum  geblieben  ist. 


BUCHERSCHAU 


Histoire  de  l’art,  publiee  sous  la  direction  de  Andre 

Michel.  Tom  I.  Livre  II.  L’art  roman.  Librairie  A.  Colin. 

1905. 

Bei  der  Besprechung  des  ersten  Buches  dieses  breit 
angelegten  Werkes  wurden  schon  die  allgemeinen  Vor¬ 
teile  und  Schwächen  des  Programms  angedeutet.  Das 
zweite  Buch  ist  eine  schöne  Ergänzung  des  ersten  und 
dürfte  im  allgemeinen  eine  Bestätigung  unserer  früheren 
Urteile  geben,  doch  ist  eine  größere  Einheitlichkeit  in  der 
Komposition  dieses  zweiten  Volums  zu  bemerken.  Aber 
wie  früher,  so  ist  es  auch  hier  in  erster  Linie  der  Inhalts¬ 
reichtum,  die  außerordentliche  Sachkenntnis  der  verschie¬ 
denen  mitarbeitenden  Spezialforscher,  die  dem  Buche  einen 
hohen  Wert  gibt.  Die  beiden  bis  jetzt  publizierten  Bücher 
werden  immer  zusammen  als  Kompendium  für  die  mittel¬ 
alterliche  Kunstgeschichte  einen  hervorragenden  Platz  be¬ 
halten,  denn  die  geben  an  tatsächlichem  Material  mehr 
als  wir  sonst  von  Handbüchern  der  Kunstgeschichte  zu 
erwarten  gewohnt  sind,  aber  wegen  ihrer  betonten  fran¬ 
zösischen  Sympathien  können  sie  nicht  die  besten  deut¬ 
schen  Kunstgeschichten  ersetzen.  Man  fragt  sich  unfrei¬ 
willig,  ob  das  nicht  richtiger  und  nützlicher  gewesen  wäre, 
wenn  die  gelehrten  Forscher  sich  auf  die  Geschichte  der 
französischen  Kunst  (nebst  orientierenden  Kapiteln  über 
die  gleichzeitige  ausländische  Kunst)  beschränkt  hätten. 
Das  Werk  würde  dadurch  jede  Schwäche  verloren  haben 
und  lesbarer  geworden  sein.  Besonders  dieses  zweite 
Buch  bekommt  seinen  Hauptwert  durch  die  Kapitel  über 
romanische  Kunst  in  Frankreich. 

Das  Buch  wird  mit  einer  Übersicht  der  romanischen 
Architektur  von  M.  Camille  Enlart  eingeleitet.  Das  Thema 
gehört  kaum  zu  den  fesselndsten  und  der  ungemeine 


Reichtum  an  Bauwerke,  die  Erwähnung  forderten,  machte 
es  nicht  leichter,  eine  unterhaltende  Darstellung  zu  schreiben. 
Besonders  zu  bedauern  ist  hier  die  Sparsamkeit  an  Ab¬ 
bildungen;  infolgedessen  verliert  das  sorgfältig  ausge¬ 
arbeitete  Kapitel  an  Interesse  für  alle  die  Leser,  die 
nicht  schon  früher  mit  den  zahlreichen  beschriebenen  Mo¬ 
numenten  bekannt  sind.  Die  allgemeinen  Charakteristiken 
der  romanischen  Architektur  in  den  verschiedenen  Ländern 
müssen  das  Interesse  an  den  einzelnen  Bauwerken  ersetzen. 

In  dem  folgenden  Kapitel  (VI),  »La  sculpture  romane«, 
werden  durch  M.  Andre  Michel  und  M.  Emile  Bertaux 
die  plastischen  Meisterwerke  Frankreichs  und  Italiens  aus 
den  10.  bis  12.  Jahrhunderten  vorgeführt.  Keine  anderen 
Länder  sind  erwähnt.  Ob  diese  Disposition  im  vollen 
Einklang  mit  dem  Titel  steht,  möchten  wir  hier  nicht  dis¬ 
kutieren,  lieber  betonen,  daß  das  innerhalb  der  Grenzen 
der  französischen  und  italienischen  Kunst  Gegebene  hohe 
Ansprüche  befriedigt.  M.  Andre  Michels  Abschnitt  über 
die  französische  Plastik  des  11.  und  12.  jahrhunders  ist 
vielleicht  die  interessanteste  Partie  des  ganzen  Buches. 
Die  lebhafte,  fesselnde  Darstellung  dürfte  wohl  in  manchen 
Punkten  Opposition  erwecken,  aber  gerade  diese  Eigen¬ 
schaft  ist  kein  Nachteil  für  die  wissenschaftliche  Forschung 
—  M.  Emile  Bertauxs’  Vorliebe  für  Süditalien  läßt  ihn  die 
Anfänge  der  toskanischen  Skulptur  etwas  stiefmütterlich 
betrachten,  was  wohl  kaum  auffallen  würde,  wenn  nicht 
seine  Kontributionen  sich  sonst  durch  einen  seltenen  Grad 
der  Vortrefflichkeit  auszeichneten. 

Kapitel  VII  ist  der  romanischen  Wandmalerei  in  Frank¬ 
reich  und  Italien,  den  othonischen  Miniaturen  und  den  fran- 
zösichen  Glasmalereien  gewidmet.  Hier  bringt  zuerst  ein 
deutscher  Forscher,  Dr.  A.  Haseloff,  eine  sehr  lehrreiche 


2  1  2 


BÜCHERSCHAU 


Schätzung  der  othonischen  Renaissance.  Die  verschiedenen 
deutschen  und  englischen  Miniaturistenschulen  werden  klar 
begrenzt  und  charakterisiert,  der  Leser  bekommt  eine 
distinkte  Vorstellung  der  Hauptströmungen  dieser  höchst 
bedeutenden  Buchmalerei,  die  in  germanischem  Boden 
wurzelte. 

In  dem. folgenden  Abschnitt  desselben  Kapitels  würdigt 
M.  Emile  Male  ausführlich  mehrere,  jetzt  fast  verlorene, 
in  Aquarellkopien  erhaltene  Fresken  in  proven^alischen 
Kirchen  und  schätzt  besonders  in  sehr  starken  Ausdrücken 
die  Fresken  aus  Saint  Savin,  die  sogar  mit  Werken  von 
Puvis  de  Chavannes  verglichen  werden.  Fein  und  treffend 
weiß  derselbe  Verfasser  die  dekorative  Schönheit  der  alt¬ 
französischen  Glasmalereien  zu  schildern. 

M.  Emile  Bertaux  endet  das  Kapitel  mit  einer 
systematischen  Beschreibung  der  wichtigsten  Monurnental- 
rnalereien  und  Miniaturen  aus  dem  ii.  bis  13.  Jahrhundert 
in  Süditalien  und  teilt  dabei  das  Material  in  folgenden 
Hauptgruppen:  Die  Basilicat-Schule,  Monte  Cassino,  Sant 
Angelo  in  Formis  und  die  Exultes  von  italo-byzantinischen 
Künstlern.  —  Die  Malerei  derselben  Zeit  in  nördlicheren 
Gegenden  von  Italien  wird  noch  nicht  besprochen. 

Kapitel  IX  enthält  eine  mustergültige  Darstellung  der 
»Evolution  des  arts  mineurs  du  Vlll  au  Xll  siede«  von 
dem  verstorbenen  Großmeister  auf  diesem  Gebiete,  Emile 
Molinien  Etwas  fremdartig  wirkt  es,  daß  in  demselben 
Kapitel  ein  Abschnitt  über  »Les  influens  orientales«  von 
M.  j.  J.  Marquet  de  Vasselot  eingeschlossen  ist,  über  dessen 
Notwendigkeit  wir  uns  schon  bei  der  Besprechung  des 
ersten  Buches  geäußert  haben. 

Dann  folgt  noch  im  IX.  Kapitel  »L’art  monetaire«  von 
M.  Maurice  Fron  und  schließlich  eine  »Conclusion  au 
tome  Premier«  von  dem  Directeur  de  l’ouvrage  M.  Andre 
Michel,  der  diese  sehr  schwierige  Aufgabe  in  glücklichster 
Weise  löst.  Klar  und  geistreich  zeichnet  er  die  großen 
Linien,  die  die  Entwickelung  der  christlichen  Kunst  seit 
ihrem  Anfang  bis  zum  13.  Jahrhundert  bestimmen,  und 
gibt  dadurch  dem  Leser  einen  wertvollen  Überblick,  den 
man  sonst  leicht  beim  Lesen  des  Werkes  von  nahe 
1000  Seiten  verhert.  Als  Ganzheit  wirkt  so  das  zweiteilige 
Tom  I,  imponierend  durch  seinen  Inhaltsreichtum,  zuver¬ 
lässig  durch  die  Mitarbeiterschaft  der  verschiedenen  Spe¬ 
zialisten  und  anziehend  durch  die  klare  Komposition. 

Oswald  Siren. 

Ausonia,  die  neue  Zeitschrift  der  Societä  italiana  di 
archeologia  e  storia  delV  arte  hi  in  Rom  erschienen  und  dieses 
erste  reich  illustrierte  Heft  entspricht  vollauf  den  Erwar¬ 
tungen  der  gelehrten  Welt.  Wie  die  Gesellschaft  aus 
Archäologen  und  Kunsthistorikern  besteht,  so  nimmt  die 
Zeitschrift  auch  archäologische  und  kunsthistorische  Be¬ 
sprechungen  auf.  Paolo  Orsi  beschreibt  interessante  vor¬ 
geschichtliche  Gräber  bei  Modica  in  Sizilien,  die  Cava 
Lazzaro  und  die  Grotta  Lazzaro.  Unter  den  Funden  lenkt 
er  besonders  die  Aufmerksamkeit  der  Gelehrten  auf  eine 
besondere  Art  bearbeiteter  Knochen,  die  man  schon  in  den 
Gräbern  von  Castelluccio  gefunden  hat  und  die  in  den 
einfachen  Ornamenten  Anlehnungen  an  den  ältesten  mike- 
neischen  Stil  zeigen.  An  der  Küste  bei  Girgenti  ist  statt 
dessen  ein  kleiner  Topf  mikeneischen  Stils  gefunden  worden 
und  Orsi  betont  die  Wichtigkeit  dieses  Fundes,  weil  er 
beweist,  daß  schon  in  den  uralten  Zeiten  die  griechischen 
Schiffer  es  wagten,  an  der  gefährlichen  Südküste  zu  landen. 
D.  Comparetti  xiuhWzhxi  eine  archaische  Inschrift  aus  Cuma, 
die  er  dem  5.  Jahrhundert  zuschreibt,  und  in  welcher  eine 
klare  Andeutung  des  bacchischen  Kultus  und  seiner  My¬ 
sterien  zu  lesen  ist. 


E.  Brizio  bespricht  die  Statue  des  Jünglings  von  Su- 
biaco  aus  dem  Museo  delle  Terme  Diocleziane.  Er  glaubt 
in  denr  Bildwerk  die  Darstellung  eines  sich  gegen  die  gött¬ 
lichen  Pfeile  schützenden  Niobiden  zu  sehen  und  meint, 
er  könne  wohl  zu  einer  Gruppe  mit  der  weiblichen  kopf¬ 
losen  Niobide  des  Museo  Chiaramonti  gehören.  Da  Pro¬ 
fessor  Brizio  es  für  wahrscheinlich  hält,  daß  auch  die  vati¬ 
kanische  Niobide  wie  der  Jüngling  aus  der  neronianischen 
Villa  von  Subiaco  stammen  müsse,  so  hätten  die  beiden 
Bildwerke  vielleicht  dort  eine  Gruppe  gebildet.  Er  meint, 
die  Statue  des  Jünglings  von  Subiaco  sei  ein  griechisches 
Originalwerk  des  4.  Jahrhunderts  vor  Christi  Geburt.  Aus 
allem  glaubt  er  schließen  zu  können,  daß  in  der  neronischen 
Villa  bei  Subiaco  eine  griechische  Originalgruppe  der  Nio¬ 
biden  von  einem  attischen  Künstler  des  4.  Jahrhunderts 
gewesen  sein  muß  und  daß  man  bei  regelrechten  Aus¬ 
grabungen  wohl  noch  mehr  Fragmente  finden  würde. 
G.  Patroni  beschreibt  eine  Hydria  mit  der  Darstellung  des 
mit  der  Harpe  gegen  die  Hydra  kämpfenden  Herakles. 
Athena  und  eine  fliehende  Jungfrau  wohnen  dem  Kampfe 
bei,  aber  das  Eigentümliche  der  Darstellung  ist,  daß  neben 
Herakles  eine  Ara  sich  befindet,  auf  welcher  eine  Phiale 
mit  dem  Kopf  eines  Jünglings  steht.  Die  Vase  ist  nach 
Patroni  wohl  aus  der  Hälfte  des  5.  Jahrhunderts.  Dr.  P. 
Diicati  publiziert  ein  Ariballum  des  Berliner  Museums  mit 
einer  interessanten  Szene  aus  den  Kentaurenkämpfen,  und 
B.  Nogara  die  Figur  der  Bybiis  aus  dem  Kreise  der  sechs 
Heldinnenmalereien,  welche  im  Jahre  1817  bei  den  Aus¬ 
grabungen  bei  Tor  Marancia  gefunden  wurden  und  jetzt 
im  Vatikanischen  Museum  aufbewahrt  werden.  F.  Grossi- 
Gondi  teilt  die  Forschungen  mit,  die  er  unternommen  hat, 
um  die  Villa  und  die  Grabstätte  der  Gens  Furia  wieder, 
zufinden,  welche  ungefähr  im  Jahre  1665  bei  Frascati,  wie  uns 
O.  Kircher  berichtet,  aufgefunden  wurden.  Er  meint,  daß 
die  alte  Villa  am  westlichen  Ende  des  Gartens  des  Klosters 
von  Camaldoli  gewesen  sein  muß. 

Der  kunsthistorische  Teil  der  Ausonia  enthält  einen 
grundlegenden  Artikel  von  Erl.  Dr.  Liseita  Ciaccio  über 
die  letzte  Periode  der  gotischen  Skulptur  in  Rom,  in  welchem 
nicht  nur  eine  Anzahl  von  Grabmälern  wie  das  vom  Kar¬ 
dinal  Vulcani  in  S.  Francesca  Romana ,  das  von  Riccardo 
Caracciolo  in  S.  Maria  del  Priorato,  besprochen  werden, 
sondern  auch  einige  interessante  gotische  Grabmäler,  wie 
das  vom  Kardinal  d’Alan^on  in  Santa  Maria  in  Trastevere, 
durch  Zusammenstellung  der  zerstreuten  Teile  richtig  er¬ 
gänzt  werden. 

Dr.  G.  Toesca  veröffentlicht  verschiedene  bronzene 
Gegenstände  aus  dem  Städtischen  Museum  von  Lucca,  die 
er  für  longobardisch  hält  und  dem  7.  Jahrhundert  zuschreibt. 
Lionello  Venturi  puhWzitxi  ein  kleines  Trecentobild  aus  dem 
Museum  von  Stuttgart,  auf  welchem  der  Maler  Paolo  da 
Venezia  Augustus  und  die  Sibylle  dargestellt  hat,  genau 
nach  der  Erzählung  des  Jacopo  da  Voragine. 

Rodolfo  Lanciani  gibt  uns  verschiedene  neue  Doku¬ 
mente,  welche  Künstler  des  16.  Jahrhunderts  betreffen. 
Darunter  finden  wir  eine  Nachricht  über  Alexandro  Cioli, 
den  florentiner  Bildhauer,  welcher  im  Jahre  1576  für  den 
Kardinal  Peretti  in  S.  Maria  Maggiore  arbeitete.  Von  Pirro 
Ligorio  erfahren  wir,  daß  er  1542  für  den  Erzbischof  von 
Benevent  Francesco  della  Rovere  eine  Loge  in  dessen  Palast 
in  via  Lata  alla  grottesca  ausmalte.  Einen  kleinen,  interessan¬ 
ten  Bericht  publiziertDr.iE.G///5/ff«zort/überdie  Art,  in  welcher 
die  aus  dem  Nemisee  gehobenen  Bronzeköpfe  an  das  Schiff, 
zu  dessen  Schmuck  sie  dienen  sollten,  befestigt  waren. 
Dr.  L.  Pernier  publiziert  einen  genauen  Bericht  über  die 
neusten  Ausgrabungen  in  Kreta.  pcd.  H. 


Herausgeber  und  verantwortliche  Redaktion:  E.  A.  Seemann,  Leipzig,  Querstraße  13 
Druck  von  Ernst  Hedrich  Nache.,  q.  m.  b.  h.,  Leipzig 


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212 


BÜCHEKSC;n.\l 


Schätzung  der  othonischen  Renaiss:<';ce.  Die  verschiedene;' 
deutschen  und  englischen  Miniaturi;.(enschulen  werden  et. 
begrenzt  und  charakterisier/,  lir'  Leser  bekomv 
distinkte  Vorstellung  de  H;M;;;t‘-t'’imiingen  dif:, 
bedeutenden  Buchmaic  r-,  i  c  in  germani'.' ' 
wurzelte. 

ln  dem'.foigende  ’  v  '  vtu  desselbc!'.  i- 
M.  Emile  Male  an-  .  i-  .nelirtie,  C  '' 
in  Aquarelikn;  .  ir  Fre-ike!,  ,  ü 

Kirchen  un.'  ’  in  :  ;;en 

die  Fr.  ^L.  :■  ,  ,  d,'.  •  von 

Ptivi.;  ■  .  . ■  vT-:' treffend 

V. CI  n  i  hcit  der  alt- 

'  ■  ■  .  ‘1;  ilc'--  ' 

<  i'i."///'.’..  ivapitel  mit  einer 

Be:-!,  •it'  ;'..'  ^  Jitigsten  Monumental- 

-  ,  !  vtiiji,''..  ■  :  11.  bis  13.  Jahrhundert 

nnü  ree  -i.is  Material  in  folgenden 

■  e:  >;!>j>en;  l.b'.-  -.'chiile,  Monte  Cassino,  Sant 

'  m  F<.iiriiis  r  '  «  Ites  von  italo  byzantinischen 

'  •'■•..■rij,  —  iXe  '  ;  .;':rselben  Zeit  in  nördlicheren 

.<■  ..enden  von  1;,  >•;  t  noch  nicht  bespr'-  <  ■ 

Kapitel  IX  .  -‘ne  mustergültige  Da  :  i  -  der 
?:vo!ation  des  '.nneurs  du  ,ViH  au  XiJ  r  ■  "n 

iciii  verstorbener  n. ' .ibrneister  aui  diesem  Qei;r 
Vvolinier.  Etv- -  .  ü'dartig  wirkt  c;  Jab  i. 

Kapitel  ein  rin  über  »Les  intiu-ms  ;  ,, 

M.  j.  j.  Marque  -  v'.asselot  eingesciilo:-.-../ n  !:i 
NoiwendigK-' :  n  uns  schon  bei  de;  'v.-o. ■; 
ersten  BnJi--'  ,■ -äußert  haben. 

Dann  r  .  •  :v..-ch  irn  !X.  Kapitel  L  ar»  moiu-.r:' 

M.  .Ma  i'^X'  '  'on  und  schließlich  eine  Conciu  '-  . ..  . 
tome  •  von  dem  Directeur  de  Fouvroge  M.  Andre 

.Michel.  '  .  lese  sehr  schwierige  Aufgabe  in  glücklichster 

Vv'eise  :  Klar  und  geistreich  zeichnet  er  die  großen 

Linifu,  .  die  Entwickelung  der  christlichen  K.nmii.  seit 
ihrem  .•''-s-  bis  zum  13.  Jahrhundert  beshnmn. ‘i,  und 
gib!  ; ;;;  dem  Leser  einen  -«.'ertvollen  t  Ar  i le/i 
mm!  ;  leicht  beim  Lesen  des  Werim-.  -  .m  nahe 

‘•j'.'-i  A:  verliert.  Als  Ganzheit  wirkt  sc  ölige 

•  ;ii  i,  -.'cierend  durch  seinen  InhnUsrcöciuuiVj.  zuver- 

A' .sig  '  -  l'  -lie  Mitarbeiterschatt  der  verschiedenen  Spe- 
■Aails'!,.'  -  anziehend  durch  die  klare  Komposition. 

Oswald  Siren. 

Ausor-ii.  ;.e  neue  Zeitschrift  der  Societä  italiana  di 
(ju  '  -  v.m  ■  .JeW  arte  ist  in  Rom  erschienen  und  dieses 

ers:'.  ■  Heft  entspricht  vollauf  den  Erwar- 

i::u  •  -  ■  Welt  Wie  die  Gesellschaft  aus 

.  vhisiorikern  besteht,  so  nimmt  die 

/t  '.  m  ,  :  ..mrche  und  kunsthistorische  Be- 

- ?rvi';.t.!;,  -T  beschreibt  interessante  vor- 

t! 'vCnitiv.A.,.  .'!ca  in  Sizilien,  die  Cava 

:■  -'wvmi-o  Ui',  i  ■■  i.’nter  den  Funden  lenkt 

.-r  l'C-sondci;  Gelehrten  auf  eine 

l'i  >  rndtre  An  -m  :  ‘  man  schon  in  den 

Giän--;’!)  von  CaSic;':.  .  md  die  in  den 

einfachen  Orname.uit;.'  '■  ■  ■  '  ■  ■■  m  -■'testen  mike- 

neischen  Stil  zeigen.  A  ■  ist  statt 

dessen  ein  kleiner  Topf  mir-  .;  worden 

und  Ofsi  betont  die  Wicbugx  '  weil  er 

beweist,  daß  schon  in  den  urai;  -  -..-/'  nhen 

Schiffer  es  wagten,  an  der  gefähAirhi  v  '  '•  m. 

D.  Comparetti  publiziert  eine  archassrfii 
die  er  dem  5.  Jahrhundert  zuschreibt,  uc 
klare  Andeutung  des  bacchischen  Kultu..! 
sterien  zu  lesen  ist. 


Herausgeber  und  verantwortiicf; 

Druck  von  ERNS'f  ■■ 


bes!  die  Statue  des  Jünglings  von  Su- 
•  lis  vii'i'i  .'•b;>eo  delle  Terme  Diocleziane.  Er  glaubt 
■ii  8i!.lv,>-T'  .v  ,  Dm-stellung  eines  sich  gegen  die  gött- 
v.  ii  Pic  •.i'ij:/'*"nden  Niobiden  zu  sehen  und  meint, 

'  konm-  \v.in  mer  Gruppe  mit  der  weiblichen  kopf- 
.'stn  N’i.  l  .a.  '  Museo  Chiaramonti  gehören.  Da  Pro- 
i'-issor  Bii/c  1  .rhrscheinlich  hält,,  daß  auch  die  vati¬ 
kanische  .N  b  iT  Jüngling  aus  der  neronianischen 

Villa  von  Sui  '-’  ■  cnen  müsse,  so  hätten  die  beiden 

Bildwerke  -  eine  Gruppe  gebildet.  Er  meint, 

die  Statue  de-  von  Subiaco  sei  ein  griechisches 

Originalwerk  a.;  -  ,  A-!  A'^nderts  vor  Christi  Geburt.  Aus 
allem  glaubt  er  sci.iicb-  .  1  können,  daß  in  der  neronischen 
Villa  bei  Subiaco  c'ine  g: '•.wiische  Originalgruppe  der  Nio¬ 
biden  von  einem  attischen  Künstler  des  4.  Jahrhunderts 
gewesen  sein  muß  iukI  daß  man  bei  regelrechten  Aus¬ 
grabungen  wohl  noch  dm'hr  Fiagmente  finden  würde. 
G.  Patron!  b-.schiT'hi  uinc  Hvß.'^ia  mit  der  Darstellung  des 
mit  der  Marpe  gegen  die  'i.'iia  '•  ;,tu,-,fcr(i.ien  Herakles. 
Athena  und  eine  fliehende  Jungfrau  iv  im.-tMi  (ii-.tii  Kampfe 
bei,  aber  das  Eigentümliche  der  Daostehu!;:;  “/i  d  iR  neben 
Herakles  eine  Ara  sich  befindet,  auf  welcher  eniv  Filiale 
mit  dem  Kopf  eines  Jünglings  steht.  Die  Vase  ist  nach 
Patroni  wohl  aus  der  Hälfte  des  5.  Jahrhunderts.  Dr.  P. 
Ih/cati  publiziert  ein  Ariballum  des  Berliner  Museums  mit 
ucr  interessanten  Szene  aus  den  Kentaurenkämpfen,  und 
!;'LOr/  die  Figur  der  Bybiis  aus  dem  Kreise  der  sechs 
..  •  .  v.  •,;  'c:n  ,  welche  im  Jahre  1817  bei  den  Aus- 

•  ■  '  -  ■•■  M.u -ncia  gefunden  wurden  und  jetzt 

V  -A.  !  .mV  M‘>be‘.v.ahrt  werden.  F.  Grossi- 

.  A  >  <  •  •.  '  •  j.-.nfernommen  hat, 

U  i-  Ai;':  u  '.'-i  -iMÖ-.i!  ■  u  wieder, 

■Oriindi:  n,  wci A. 'u  u.'-.g': -,0!!  ü!  | ,}■■-■  ;  ;  -  .i  -  -  .-m  ‘  ■■-  .-0.;  w*'!  uns 

O.  Ki'ciiei  beneblet,  aufgeiiiuami  n.  .  .,iu.  :>  -ucAu  -tÄli 

die  alte  Villa  am  westlichen  Ende  des  Gartens  des  K'osiei's 
von  Camaldoli  gewesen  sein  muß. 

Der  kunsthistorische  Teil  der  Ausonia  enthält  einen 
grncdlegendeu  Artikel  von  Erl.  Dr.  Liseltn  Ciaccio  über 
-;iiv  letzte  Periode  der  gotischen  Skulptur  in  Rom,  in  welchem 
nicht  nur  eine  Anzahl  von  Grabmälern  wie  das  vom  Kar¬ 
dinal  .Vulcani  in  S.  Francesca  Romana,  das  von  Riccardo 
Caracciolp  in  S.  Maria  del  Priorato,  besprochen  werden, 
sondern  auch  einige  interessante  gotische  Grabmäler,  wie 
das  vom  Kardinal  d’Alancon  in  SanG  Mrvui  in  Trastevere, 
durch  Zusammenstellung  der  zcrsn-cuS';/'-.  Feile  richtig  er¬ 
gänzt  werden. 

Dr.  G.  Toesca  veröffenvkA.n: .  veisdüedene  bronzene 
Gegenstände  aus  dem  Siudds-rivn  Museum  von  Lucca,  die 
er  für  longobardisch  häh  7.  Jahrhundert  zuschreibt. 

Lionello  Venturi  puhA;  Heiries  Trecentobild  aus  dem 

Aduseum  von  .StiiUgav:  v,  Gehern  der  Maler  Paolo  da 

Venezia  Augiivii:-;  -i  v’  .-  v  Sibylle  dargestellt  hat,  genau 
nach  der  Er.  ib'':;.:;  -i-  .wopo  da  Voragine. 

RochiJ'-'  ...  ■-  jAbt  -uns  verschiedene  neue  Doku¬ 
mente,  v.t--:.;:A  >.  >-  -;!!•!  des  16.  Jahrhunderts  betreffen. 

Darurtie'  i'v.ü  ■'  w  -  ■ne  Nachricht  über  Alexandro  CioH, 
den  (iorvi'r'-A,  ü'iohaiier,  v/elcher  irri  Jahre  1576  für  den 
Kardinal  (  t  :•<'  S  .Maria  Maggiore  arbeitete.  Von  Pirro 
Ligorio  ertahi  :;  •.•!<,  daß  er  1542  für  den  Erzbischof  von 
Benevent  rianceoro  deila  Rovere  eine  Loge  in  dessen  Palast 
in  via  Lata  a/'ia  prode-jca  ausiraite.  Einen  kleinen,  interessan¬ 
ten  Berich'  ;  w-!Ü  A'iert  Dr.E'.G/r/s/ßßZö/z/überdie  Art,  in  welcher 
die  aiis  dem  ’de/nisee  gehobenen  Bronzeköpfe  an  das  Schiff, 
zu  dessen  Schmuck  sie  dienen  sollten,  befestigt  waren. 

L.  Pernit'f  publiziert  einen  genauen  Bericht  über  die 
-■.  :."-A.en  Ausgrabungen  in  Kreta.  Fed.H. 


-mzv.ann,  Leipzig,  Querstraße  13 
w  s.  H.,.  Leipzig 


ZEITSCHRIFT  FÜR  BILDENDE  KUNST  IQO7  ORIGINALRADIERUNG  VON  FRITZ  LEDERER  -  KÖNIGSBERG  A.  D.  EGER 


AMRA  UND  SEINE  MALEREIEN 

Von  Josef  Strzygowski 


AMRA  ist  ein  kleines  Schlößchen  am  Rande  der 
großen  arabischen  Wüste,  ungefähr  in  der  Höhe, 
wo  der  Jordan  in  das  tote  Meer  mündet.  Die 
Gegend  ist  vor  einigen  Jahren,  als  man  in  Berlin 
die  mächtige  Prunkfassade  aus  Mschatta,  einem  Amra 
benachbarten  Schlosse  enthüllte,  in  aller  Leute  Mund 
gekommen.  Heute  legt  die  k.  k.  Hof-  und  Staats¬ 
druckerei  in  Wien  ein  Prachtwerk  vor  ‘),  das  nicht  ver¬ 
fehlen  wird,  dieses  hochgespannte  Interesse  aufs  äu¬ 
ßerste  zu  steigern.  Seit  Jahren  vorbereitet,  bedeutet  es 
nichts  anderes  als  ein  Einlösen  von  Verkündigungen, 
die  Vonseiten  der  Wiener  Akademie  der  Wissenschaften 
schon  weit  vor  der  Eröffnung  des  Kaiser-Friedrich- 
Museums  in  Berlin  gemacht  wurden.  Es  ist  bekannt, 
daß  ein  Priester  der  Olmützer  Diözese,  Alois  Musil, 
das  Verdienst  der  Entdeckung  von  Amra  hat.  Jetzt 
zeigt  sich,  daß  Musil  zugleich  der  Mann  war,  einen 
Schatz,  der  ihm  bei  seinen  philologisch-topographischen 
Studien  in  den  Schoß  fiel,  ganz  allein  auch  nach 
seiner  kulturellen  Bedeutung  zu  würdigen.  Aus  dem 
Kreise  derjenigen,  die  sich  in  Wien  an  die  Bearbeitung 
des  Fundes  machten,  hat  Musil  allein  den  richtigen 
Weg  genommen.  Man  muß  das  Schlußkapitel  seiner 
großen  Arbeit  lesen,  um  Zeit  und  Menschen,  die  Amra 
erbauten,  lebendig  vor  sich  zu  sehen.  Diese  Lektüre 
kann  sich  jeder  gönnen,  denn  Musil  schreibt  aus  der 
vollen  Kraft  und  Weitsichtigkeit  eines  modernen  Men¬ 
schen  heraus.  Erst  durch  die  zielbewußte,  großzügige 
Bearbeitung  seiner  Entdeckung  hat  er  diese  zu  einer 
wirklich  bedeutenden  Tat  ausgestaltet. 

Die  Hof-  und  Staatsdruckerei  bietet  nicht  nur  den 
Text  Musils.  In  einem  zweiten  Bande  gibt  sie  41 
farbige  Tafeln  nach  Aufnahmen  des  Wiener  Malers 
A.  L.  Mielich,  der  Musil  bei  einer  dritten  Expedition 
begleitete.  Wir  sehen  Amra  in  seiner  einsamen  Wüsten¬ 
lage,  bekommen  es  im  Grundriß,  in  der  Außenansicht 
und  in  Schnitten  vorgeführt,  wandern  dann  die  Wände 
entlang  durch  die  einzelnen  Säle  und  betrachten  neu¬ 
gierig  Gemälde,  die  trotz  ihrer  öfters  fast  vollständigen 
Zerstörung  deutlich  von  einer  Kultur  sprechen,  die 
sich  fürs  erste  fremdartig  genug  ausnimmt.  Mit  den 
gewöhnlichen  Schlagworten  »römisch«,  »byzantinisch«, 
»maurisch«  kommt  man  da  nicht  aus.  Auch  der 
Forscher  muß  zuerst  Musil  lesen,  um  klar  zu  er¬ 
kennen,  daß  die  Malereien  von  Amra  eine  Welt  vor 
uns  auftun,  in  die  bisher  nur  im  Wege  der  Poesie 
zu  gelangen  war.  Was  Musil  mit  Amra  und  den 
umliegenden  Schlössern  vor  uns  erstehen  läßt,  ist  mehr 
als  ein  halbes  Jahrtausend  älter  als  die  spanische 
Alhambra.  Wenn  Graf  Schack  in  seinem  Buche  über 
die  Poesie  und  Kunst  der  Araber  in  Spanien  und 
Sizilien  die  Abendröte  der  großen  islamischen  Kultur¬ 
blüte  besungen  hat,  so  führt  Musil  in  die  Anfänge 

i)  Kusejr  Amra,  Bd.  1:  Text;  Bd.  II:  41  farbige  Tafeln. 
Hgg.  von  der  Kais.  Akademie  der  Wissenschaften.  250  Kr. 
Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XVIII.  H.  g 


dieser  Strömung  zurück  und  seine  Vorführung  wirkt 
ungleich  lebendiger,  weil  sie  sich  abhebt  von  dem 
Leben  der  durch  alle  Vorstöße  und  Hemmungen 
bis  auf  unsere  Tage  unwandelbar  bodenständig  ge¬ 
bliebenen  Erreger  dieser  ganzen  Bewegung,  den  heute 
wie  vor  Muhammeds  Zeit  frei  in  der  Wüste  schwei¬ 
fenden  Beduinen.  Musil  selbst  ist  einer  der  ihren 
geworden,  als  Bruder  Musa  tritt  er  vor  uns  hin  und 
erzählt  von  heut  und  gestern,  von  vergessenen  Bauten 
und  ihrer  einstigen  Bestimmung. 

Wer  das  Werden  der  islamischen  Kultur  verstehen 
will,  muß  streng  auseinanderhalten  die  Zeit  bis  auf 
das  Jahr  750  n.  dir.  und  die  darauffolgende,  mit 
der  Begründung  Bagdads  einsetzende  Entwickelung 
jener  Formen  in  Leben  und  Kunst,  die  wir  heute  für 
Merkmale  des  muhammedanischen  Wesens  anzusehen 
gewohnt  sind.  Es  handelt  sich  dabei  vorwiegend  um 
die  äußere,  durch  Perser  und  Türken  vollzogene  Um¬ 
bildung  einer  Weltanschauung,  die  ursprünglich,  das 
heißt  vor  dem  Jahre  750,  im  Innern  Arabiens  ent¬ 
standen  und  von  Muhammed  dem  Monotheismus  der 
Juden  und  Christen  angenähert  worden  war.  Wie 
das  Christentum,  bevor  es  in  Konstantinopel  und  Rom 
zur  uniformen  Kirche  wurde,  sich  aus  dem  Judentum 
in  den  Köpfen  der  Höchstgebildeten  der  griechisch¬ 
orientalischen  Welt  zu  seiner  kulturellen  Höhe  ent¬ 
wickelt  hatte,  so  erhielt  auch  der  von  den  Arabern 
geschaffene  Islam  erst  in  den  Köpfen  der  Höchstge¬ 
bildeten  unter  den  übergetretenen  orientalischen  Christen 
seine  volle  Ausgestaltung.  Wieweit  die  bildende  Kunst 
Überlieferungen  aus  Südarabien  nach  Syrien  mitbrachte, 
das  wissen  wir  nicht.  Was  die  Araber  in  Jerusalem 
(Felsendom)  und  Damaskus  (Große  Moschee)  schufen, 
schließt  an  den  Vorgefundenen  christlichen  Bestand 
an;  Amra  ist  das  erste  Denkmal,  an  dem  wir  sehen 
können,  was  die  Omajjadenfürsten  ohne  solche  Vor¬ 
aussetzungen  eigentlich  künstlerisch  zu  schaffen  im¬ 
stande  waren.  Denn  Amra  ist  eine  einheitliche  Schöp¬ 
fung,  nicht  ein  Konglomerat  aus  mehreren  Jahrhun¬ 
derten.  Und  vor  allem  es  ist  unangetastet  durch  alle 
Jahrhunderte  auf  uns  gekommen. 

Da  ist  es  nun  höchst  interessant  zu  beobachten, 
daß  die  ganze  Bauart  nichts  neuartig  Arabisches  auf¬ 
weist,  sondern  syrisch  ist  auch  darin,  daß  auf  jedes 
reichere  plastische  Ornament  verzichtet  ist.  Man  be¬ 
tritt  den  Hauptsaal  durch  eine  schmucklose,  aus  Stein¬ 
balken  inmitten  der  Hausteinmauern  gebrochene  Tür 
und  befindet  sich  dann  im  Mittelschiff  einer  durch 
weitgespannte  Rundbogen  wie  in  Ruweha  und  Kalb- 
Luseh  gebildeten  dreischiffigen  Halle,  die  nach  der 
in  der  ganzen  Gegend  üblichen  Art  mit  Tonnenge¬ 
wölben  aus  Stein  überdeckt  ist.  Syrisch  ist  vor  allem 
der  Abschluß  des  Saales  dem  Eingang  gegenüber: 
an  eine  geradlinig  abschließende  Mitteltonne  legen 
sich  seitlich  Apsidenräume,  wie  man  sie  in  den  an- 


30 


214 


AMRA  UND  SEINE  MALEREIEN 


tiken  Bauten  Syriens  ebenso  typisch  wie  in  den  christ¬ 
lichen  Kirchen  sieht.  Überhaupt  könnte  der  Saal  von 
Amra  für  eine  christliche  Kirche  gelten,  wenn  nicht 
die  Malereien  den  muhammedanischen  Ursprung  sicher 
stellten.  Da  sieht  man  (Abb.  i)i)  an  der  vornehmsten 
Stelle,  dem  Eintretenden  gerade  gegenüber,  im  Halb¬ 
dunkel  der  tiefen  Mittelnische  eine  thronende  Gestalt 
unter  einem  Baldachin  mit  kufischer  Inschrift.  Leider 
ist  diese  so  verblaßt,  daß  vorläufig  nur  das  Ende 
feststeht!  Möge  ihm  Gott  Vergeltung  geben  und  sich 
seiner  erbarmen  .  Danach  wäre  der  rotbärtige  Mann, 
den  wir  wie  einen  Heiligen  mit  dem  Nimbus  um 
das  Haupt  dargestellt  sehen,  ein  Verstorbener,  also 
nicht,  was  anzunehmen  naheläge,  der  regierende  Khalife. 
Unter  diesen  Umständen  könnte  man  an  Muhammed 
selbst  oder  einen  seiner  Nachfolger  denken.  Er  würde 
Christus  ähnlich,  nach  der  Auffassung  der  Araber  auf 
dem  Minbar  sitzend  als  Richter,  Herrscher  oder  Pre¬ 
diger  gegeben  sein.  Vielleicht  bringt  die  Detailfor¬ 
schung  noch  Licht  in  diese  Deutung,  wobei  das  härene 
Gewand  und  die  Wahrscheinlichkeit,  daß  eine  Gestalt 
links  die  Lanze  hält,  eine  andere,  scheinbar  weibliche 
rechts  akklamierend  die  Hand  erhebt,  von  Bedeutung 
sein  dürfte''^),  ln  derselben  Art  sieht  man  in  abend¬ 
ländischen  Handschriften  Karl  den  Kahlen  und  Hein¬ 
rich  11.  dargestellt,  nur  trägt  die  eine  Begleitfigur  dann 
statt  der  Lanze  das  Schwert.  Daß  ich  mit  der  Deu¬ 
tung  nicht  ganz  fehlgehen  dürfte,  belegt  ein  anderes 
Gemälde  des  Saales,  worin  die  historischen  Bezieh¬ 
ungen  zum  Islam  unwiderlegbar  deutlich  sind.  An 
der  Westwand  sieht  man  (Abb.  2)  die  von  Muhammed 
und  seinen  Nachfolgern  unterworfenen  Reiche  in  ihren 
Vertretern  dargestellt:  den  Kaiser  (von  Byzanz),  Rode- 
rich  (von  Spanien),  Chosroes  (von  Persien)  und  den 
Negus  (von  Abessynien)  nebst  anderen,  deren  Bei¬ 
schriften  verloren  gegangen  sind.  Sie  mögen,  wie 
der  Negus,  dem  Islam  nicht  mit  ihrer  ganzen  Herr¬ 
schaft,  sondern  lediglich  mit  einem  kleinen  Teile  ver¬ 
fallen  sein.  Ein  Raum,  in  dem  solche  Dinge  dar¬ 
gestellt  sind,  wird  schwerlich,  wie  man  angenommen 
liat,  als  Teil  eines  Bades  zu  deuten  sein.  Vielmehr 
haben  wir  es  wahrscheinlich  mit  einem  Thronsaal  zu 
tun  und  das  ist  denn  auch  die  Meinung,  die  sich  dem 
unbefangenen  Leser  in  Musils  historischer  Einbeglei¬ 
tung  aufdrängt. 

An  diesen  Thronsaal  schließt  sich,  das  beweist 
Musil  durch  Analogien,  ein  Bad.  Es  besteht  aus  einer 
tonnengewölbten  Kammer  mit  umlaufenden  Wand¬ 
bänken  und  zwei  durch  Röhrenleitungen  aus  einem 
nahegelegenen  Brunnen  gespeisten  Baderäumen,  einem 
kreuzgewölbten  mit  tiefer  Fensternische  und  einem 
zweiten  mit  Kuppel  und  angebauten  Podien  in  Ap- 

1)  Unsere  Abbildungen  geben,  in  Schwarz-Weiß  aus¬ 
geführt,  nur  einige  wenige  Beispiele  und  ein  sehr  schwaches 
Abbild  der  zahlreichen  prächtigen  Farbendrucke  der  Wiener 
Hof-  und  Staatsdruckerei. 

2)  Für  die  Lesung  der  Inschriften  vgl.  Nöldeke  in  der 
»Neuen  freien  Presse«  vom  28.  März  1Q07.  Sollte  der 
Anfang  allähom  lauten,  so  spräche  das,  wie  mir  N.  Rhodo- 
kanakis  mitteilt,  nicht  gegen  meine  Auffassung  (vgl.  dazu 
die  Wiener  »Zeit«  vom  25.  Mai  1Q07). 


siden.  Die  Bilder  dieser  drei  Räume  könnten  den 
Verdacht  erwecken,  älter  zu  sein  als  der  Islam.  Ich 
will  sie  daher  zuerst  besprechen. 

Womit  wird  man  die  Kuppel  eines  Baderaumes 
schmücken?  Paßt  dahin  eine  Darstellung  des  nörd¬ 
lichen  Sternenhimmels?  Warum  nicht;  man  hat  den 
Zodiacus  in  Pavimentmosaiken  angebracht  und  Petron 
läßt  im  Gastmahl  des  Trimalchio  gar  ein  Speisebrett 
damit  geschmückt  sein,  als  Anregung  für  den  Koch, 
der  auf  jedes  Zeichen  eine  entsprechende  Speise  setzte, 
auf  den  Stier  z.  B.  ein  Stück  Rindfleisch.  Der  Ba¬ 
dende  sah  in  Amra  auf  weißem  Grunde  den  Schützen 
als  Kentauren  und  die  Wage  dargestellt,  getragen  von 
einem  nackten  Mann.  Ebenso  nackt  vom  Rücken 
gesehen  die  Zwillinge  und  den  Wassermann  mit  einem 
weißen  Schultermantel.  Andere  bekleidete  Figuren 
umgeben  die  beiden  im  Zenit  stehenden  Bären.  Die 
ganze  Darstellung  ist  rein  antik,  nichts  weist  auf  den 
Bilderhaß  der  Moslim.  Nur  Helios  scheint  zu  fehlen, 
den  man  gern  z.  B.  in  zwei  vatikanischen  Miniaturen 
der  Hemisphären  gemalt  sieht.  An  der  Datierung 
in  vorislamische  Zeit  hindert  lediglich  der  Zickzack¬ 
fries,  der  die  Kuppel  unten  abschließt:  ein  typisch 
altpersisches  Motiv,  das  in  Syrien  zuerst  monumental 
angewendet  an  Mschatta  vorkommt. 

In  den  anderen  Räumen  des  Bades  findet  man 
Ranken-  und  Rautenmuster  (Abb.  3,  S.  217),  die  schon 
durch  ihren  weißen  Grund  so  stark  an  berühmte  Mo¬ 
saiken  in  Rom,  diejenigen  aus  konstantinischer  Zeit  in 
dem  schweren  Rundbau  von  S.  Costanza  erinnern,  daß 
auch  hier  wieder  der  erste  Gedanke  für  den  in  der 
orientalischen  Kunst  Unerfahrenen  ist,  diese  Malereien 
müßten  dem  4.  oder  5.  Jahrhundert  angehören,  ln 
Wirklichkeit  liegt  der  interessante  Fall  so,  daß  wir 
es  mit  der  im  Orient  ungemein  langlebigen  letzten 
Schicht  der  Antike  zu  tun  haben,  die  im  8.  Jahrhun¬ 
dert  gerade  so  aussieht,  wie  im  4.  Jahrhundert,  wo  sie 
unter  anderem  von  Jerusalem  aus  auf  Rom  überge¬ 
griffen  hat.  Durchaus  antik  sind  denn  auch  die  figür¬ 
lichen  Darstellungen,  die  an  die  Wände  dieser  beiden 
Räume  gemalt  sind.  Im  kreuzgewölbten  Raume  Bade¬ 
szenen,  die  daran  erinnern,  daß  die  menschliche  Ge¬ 
stalt  auf  japanischem  Boden  von  Westasien  übernommen 
ist:  diese  Szenen  könnten  mit  einigen  Änderungen  in 
der  Qualität  ebensogut  von  einem  Ostasiaten  gemalt 
sein.  In  der  tonnengewölbten  Kammer  über  dem 
Eingang  ein  Traumbild  (Abb.  4),  das  ebenso  kompo¬ 
niert  auf  dem  bekannten  Elfenbeinthron  in  Ravenna 
im  Traum  Josefs  wiederkehrt.  Und  wenn  man  frägt, 
wie  es  möglich  sei,  daß  eine  Stadt  westlich  jenseits 
der  griechischen  Kulturwelt  und  ein  Schloß  diesseits 
am  Wüstenrande  sich  in  solchen  Zügen  treffen,  dann 
liegt  die  Erklärung  darin,  daß  die  italische  Residenz 
des  5.  Jahrhunderts  wie  Amra  aus  dem  8.  Jahrhundert 
abhängig  sind  von  demselben  Kunstzentrum,  der  Me¬ 
tropole  von  Syrien,  Antiochia.  Man  muß  freilich 
wissen,  daß  die  ersten  Bischöfe  von  Ravenna  An- 
tiochener  waren  und  die  syrische  Kolonie  daselbst 
die  hervorragendste  Rolle  spielte.  Christentum  und 
Antike  müssen  in  Antiochia  merkwürdig  unvermittelt 
in  der  bildenden  Kunst  nebeneinander  bestanden  haben. 


FÜNF  WANDMALEREIEN 
AUS  DEM  SCHLOSSE  AMRA 


NACH  AUFNAHMEN  VON 
A.  L.  MIELICH 


ABB.  1 


ABB.  2 


ABB.  5 


ABB.  4 


VERLAG  DER  K.  K.  HOF-  UND  STAATSDRUCKEREI  IN  WIEN 


2i6 


AMRA  UND  SEINE  MALEREIEN 


Nur  so  ist  es  verständlich,  wie  in  Amra  zwei  deko¬ 
rativ  zu  Seiten  eines  Fensters  in  Vorder-  und  Rücken- 
ansiclit  gelagerte  Franengestalten  (Abb.  5)  so  rein  antik 
ausfallen  konnten,  daß  man  ihren  Ursprung  lediglich  an 
der  typisch  syrischen  Zugabe  je  eines  Baumes  erkennt. 

Der  Hauptwert  von  Amra  liegt  in  den  Malereien 
des  Thronsaales.  Diese  sind  für  die  Kunstwissen¬ 
schaft  von  so  durchschlagender  Bedeutung,  daß  es 
wohl  selbst  im  Rahmen  einer  gemeinverständlichen 
Besprechung  gestattet  sein  dürfte,  zur  Herausarbeitung 
ihres  Wertes  etwas  weiter  auszuholen.  Gelehrte  und 
Laien  wachsen  heute  noch  in  der  schnhnäßigen  Über¬ 
zeugung  auf,  daß  die  Gemälde  der  Katakomben  von 
Rom  das  Um  und  Auf  der  ältesten  christlichen  Kunst 
seien.  Man  hat  neuerdings  für  sie  die  Bezeichnung 
christliche  Antike  geprägt,  ln  ihnen  herrscht  in  der 
Tat  durchaus,  wie  in  der  griechischen  Kunst  die 
menschliche  Gestalt  vor.  Daneben  aber  und  das 
wird  allgemein  übersehen  —  hat  es  eine  auf  das  ab¬ 
lehnende  Verhalten  der  eigentlichen  Semiten  gegen¬ 
über  der  Menschengestalt  znrückzuführende  orienta¬ 
lische  Strömung  gegeben,  die  dem  Ornament  den 
Vorzug  gab  und  figürliche  Darstellungen  repräsenta¬ 
tiven  Charakters  ausschließlich  auf  die  Sanktuarien 
beschränkte.  Ein  gutes  Beispiel  dafür  ist  das  bereits 
einmal  erwähnte  Mausoleum  S.  Costanza  bei  Rom. 
Dort  finden  sich  solche  Mosaiken,  in  denen  die  Wir¬ 
kung  ausschließlich  auf  biblische  Gestalten  gelegt  ist, 
nur  in  den  Apsiden;  in  der  Kuppel  dagegen  ver¬ 
schwanden  sie  ganz  klein  in  laubenartig  verschlunge¬ 
nen  r^ankenbäumen  über  einer  Flußlandschaft  mit 
jagenden  und  fischenden  Eroten  und  in  den  Mo¬ 
saiken  an  der  Decke  des  Umganges  sind  auf  dem 
weißen  Grund  ausschließlich  geometrische  Muster  und 
zweimal  Weinlanb  mit  der  Darstellung  der  Trauben¬ 
ernte  gegeben. 

Was  da  in  konstantinischer  Zeit  in  Mosaik  aus¬ 
geführt  worden  ist,  das  schlägt  ähnlich  im  5.  Jahr¬ 
hundert  ein  reicher  Mann  dem  Mönch  Nilus  vom  Sinai¬ 
kloster  vor.  Er  wollte  eine  Kirche  bauen,  an  deren 
Wänden  Jagden  gemalt  werden  sollten,  verschiedene 
Arten  von  Tieren  durch  Jäger  und  Hunde  verfolgt 
und  Fischzüge  mit  allerlei  im  Netz  oder  mit  der  Hand 
gefangenen  Fischen.  Für  das  Sanktuarium  waren 
Bilder  Christi  und  der  Märtyrer  bestimmt.  Nilus  ver¬ 
wirft  den  Plan  und  verlangt  aus  didaktischen  Gründen 
Szenen  des  Alten  und  Neuen  Testamentes.  Was 
der  reiche  Mann  wollte,  war  offenbar  hergebracht; 
Nilus  vertritt  der  Tradition  gegenüber  eine  Neuerung, 
die  sich  zu  seiner  Zeit  allgemein  durchsetzt.  Wir 
stehen  dem  Ringen  von  Antike  und  Mittelalter  gegen¬ 
über:  Die  Kunst,  am  Ausgang  der  Antike  und  im 
besonderen  von  Antiochia  aus  zur  reinen  Schmuck¬ 
form  geworden,  wird  von  der  Kirche  aus  ihrer  Bahn 
geworfen  und  dazu  ausersehen,  diejenigen  zu  be¬ 
lehren,  die  nicht  lesen  können.  Vor  diesem  Um¬ 
schwünge  konnte  man  in  monumentalen  Räumen 
Gemälde  ohne  Bezug  auf  den  Zweck  des  Gebäudes 
sehen,  etwa  wie  heute  Puvis  de  Chavannes  im  Hotel 
de  Ville  zu  Paris  Szenen  des  täglichen  Lebens,  dar¬ 
unter  Jagd  und  Fischfang  gemalt  hat.  Die  Nach¬ 


klänge  dieser  orientalischen,  auch  in  die  frühesten 
Kirchen  übergegangenen  Antike  findet  man  in  Rom 
sowohl  wie  in  Ravenna  einmal  in  den  Flußlandschaften 
unterhalb  der  großen  Gestalten  in  den  Apsiden,  dann 
in  den  mit  Rankenwerk  gefüllten  Gewölbeflächen. 
Daß  diese  Richtung  nicht  ganz  ansstarb,  bezeugt  die 
Nachricht,  in  der  Stephanskirche  von  Gaza  sei  ein 
Fluß  zwischen  Wiesen,  mit  von  Vögeln  belebtem 
Wasser  gemalt  gewesen.  Den  Hanptbeweis  aber  für 
das  Fortleben  dieser  Richtung  erbringt  jetzt  Amra. 
Die  volle  Bedeutung  dieser  Tatsache  ergibt  sich  erst, 
wenn  man  noch  eine  andere  Schlußkette  heranzieht. 

Es  wird  so  oft  von  einem  Bilderverbot  des  Islam 
gesprochen.  Wogegen  es  sich  genau  genommen  rich¬ 
tete,  läßt  sich  nach  den  Schriflquellen  nicht  sagen, 
daß  es  aber  von  allem  Anfang  an  bestand,  ja  älter 
als  der  Islam  ist,  steht  außer  Zweifel.  Seine  Wirkung 
zeigt  sich  schon  in  der  eben  geschilderten  dekorativen 
Richtung  der  antiken  Kunst,  die  sich  unter  dem  Ein¬ 
fluß  der  Serniteu  ausgebildet  haben  dürfte.  Und  seine 
zähe  Kraft  bewährt  sich  erst  recht,  als  die  Semiten 
mit  dem  Islam  zu  einer  Weltmacht  wurden.  Denn 
es  ist  u.  a.  das  sog.  »Bilderverbot  des  Islam,  was 
in  Byzanz  zum  Bildersturm  geführt  hat.  Ich  greife 
von  den  historischen  Tatsachen  nur  die  an  den  Rei¬ 
bungsflächen  zwischen  Islam  und  Byzanz  spielenden 
heraus.  Im  Jahre  724  schickt  Leo  der  Isaurier,  der 
Kaiser  von  Konstantinopel,  den  Bischof  Thcophilus 
von  Nikolia  in  Phrygien  und  Beser,  einen  bekehrten 
Muhammedaner,  aus,  die  Juden  und  Muslim  zum  Chri¬ 
stentum  zu  bringen.  Die  Bemühungen  scheiterten 
aber  an  der  abgöttischen  Verehrung,  die  man  den 
Bildern  bewies,  das  heißt  also  doch  wohl  den  Heiligen¬ 
bildern.  Der  Khalife  Jazid  IIL,  der  bei  Musil  im  Zu¬ 
sammenhänge  mit  Amra  wiederholt  genannt  wird, 
ließ  die  Bilder  aus  den  Kirchen  der  Christen  reißen, 
die  Wände  abkratzen  und  die  Malereien  auslöschen, 
das  heißt  wohl  wieder  nur  die  religiösen,  der  An¬ 
betung  ausgesetzten  Ikonen.  Man  darf  alle  diese  Nach¬ 
richten  eben  nicht  als  gegen  die  Bilder  im  allge¬ 
meinen  gerichtet  ansehen.  Es  ist  denn  auch  bezeichnend, 
daß  die  bilderstürmenden  Kaiser  sich  selbst  und  die 
Ihrigen  darstellen  ließen.  In  den  Kirchen  blieben 
nur  die  biblischen  Szenen  weg  und  man  griff  wieder, 
bezeichnend  genug,  auf  die  altchristliche  Dekoration 
der  Kirchen  des  Orients  zurück:  die  Szenen  des  Alten 
und  Neuen  Testamentes  verschwanden  und  es  er¬ 
schienen  dafür  wieder  wie  einst  Landschaften,  Tier¬ 
stücke  und  Jagden.  Dem  Kaiser  Konstantin  Kopro- 
nymos,  von  dem  die  Bilderfreunde  aussprengten,  er 
wolle  den  Lehren  Muhammeds  und  der  Juden  auf  den 
Trümmern  des  Christentums  eine  Stätte  bereiten,  wurde 
unter  anderem  auch  vorgeworfen,  daß  er  die  Bla- 
chernenkirche  in  einen  Obstgarten  und  ein  Vogelhaus 
verwandelt  habe. 

Das  sind  die  Voraussetzungen,  unter  denen  man 
Amra  betrachten  muß,  um  seiner  bahnbrechenden 
wissenschaftlichen  Bedeutung  gerecht  werden  zu  kön¬ 
nen.  Wird  erst  einmal  zugegeben,  daß  Amra  eine 
islamische  Schöpfung  der  letzten  Omajjadenzeit  ist, 
dann  fällt  seine  Ausschmückung  mit  der  ersten  Periode 


.  AMRA  UND  SEINE  MALEREIEN 


217 


des  Bildersturmes  zusammen  und  seine  Bilder  müßten 
dann  jene  Erwartungen  erfüllen,  die  auf  Grund  der 
orientalischen  Antike,  jener  im  Bildersturm  wieder 
lebendig  gewordenen  Tradition  gehegt  werden  dürfen. 
Ich  gehe  nunmehr  an  die  Betrachtung  der  Wandgemälde 
des  Thronsaales,  eines  Monumentalraumes,  der  wie 
gesagt,  schon  im  Grundriß  der  Art  christlicher  Kirchen 
Syriens  sehr  nahe  kommt 

Im  Sanktuarium,  das  ließ  die  antike  Tradition  zu, 
ist  Muhammed  oder  einer  seiner  Nachfolger  dargestellt 
Von  einer  Verehrung,  des  Bildes  konnte  keine  Rede 
sein,  weil  die  tiefe  Nische,  in  deren  Helldunkel  es 
erscheint,  obwohl  nach  Süden,  das  heißt  Mekka, 
gerichtet,  nicht  mit  dem  Mihrab,  der  Gebetnische,  ver¬ 
wechselt  werden  kann.  Dieser  der  Tür  gegenüber- 


Unter  dem  Thronenden  der  Hauptnische  ist  eine 
Szene  des  Fischfanges  dargestellt  Sie  mag  symbo¬ 
lische  Bedeutung  haben.  Dagegen  bedeuten  alle  übrigen 
Bilder  wohl  rein  jene  lebensvollen  Szenen,  die  sie  in 
Wirklichkeit  darstellen.  Neben  dem  Saaleingang  an 
der  Wand  rechts  sieht  man  den  Fischfang  »mit  dem 
Netz«  ausführlich  behandelt  (ich  möchte  glauben, 
daß  auch  oben  ein  Boot,  nicht  die  ausgestreckten 
Arme  einer  betenden  Gestalt  gegeben  sind).  Gegen¬ 
über,  an  der  Südwand  dieser  Tonne,  ist  eine  schön¬ 
gekleidete  Frau  unter  einem  Zelte  inmitten  von  Gerät 
und  Dienern  sitzend  dargestellt  Die  Längswand 
zwischen  diesen  Schmalbildern  füllt  eine  bunte  Aus¬ 
malung  von  Badeszenen  (?  Abb.  2),  durch  welche  die 
Gruppe  besiegter  Fürsten  völlig  in  die  Ecke  gedrückt 


ABB.  3.  DEKORATION  AUS  DEM  SCHLOSSE  AMRA.  NACH  AUFNAHME  VON  A.  L.  MIELICH. 
VERLAO  DER  K.  K.  HOF-  UND  STAATSDRUCKEREI  IN  WIEN 


liegende  Raum  kann  vielmehr  nur  der  Sitz  des  Herrn 
von  Amra  gewesen  sein  und  war  zumeist,  selbst  bei 
Empfängen,  wie  man  bei  Musil  nachlesen  kann,  durch 
Vorhänge  geschlossen.  Und  das  zweite  Bild,  von 
dem  die  Rede  war,  die  vom  Islam  besiegten  Fürsten, 
lief  gewiß  nicht  Gefahr,  Gegenstand  einer  abgöttischen 
Verehrung  werden  zu  können.  Was  sonst  noch  von 
den  Wandgemälden  des  »Thronsaales«  übrigbleibt,  das 
heißt  die  Masse  derselben,  erfüllt  überraschenderweise 
durchaus,  was  der  Kunsthistoriker  davon  erwartet,  das 
heißt  diese  Gemälde  bieten  den  vollen  Beweis  für 
das  Wiederdurchbrechen  alter  orientalischer  Traditionen 
im  Bildersturm,  sie  liefern  endlich  einmal  auch  einen 
anschaulichen  Beleg  inmitten  eines  Wirrsales  wider¬ 
sprechender  literarischer  Nachrichten  über  diese  Be¬ 
wegung  und  das  Bilderverbot  des  Islam.  Wir  sehen  uns 
zunächst  die  Wände,  dann  die  Gewölbe  des  Saales  an. 


erscheint.  Was  sonst  noch  an  den  Wänden  sichtbar 
wird,  bewegt  sich  ausschließlich  auf  dem  Gebiete  der 
Jagd:  »verschiedene  Arten  von  Tieren  durch  Jäger 
und  Hunde  verfolgt«.  Über  der  Badeszene  werden 
Wildesei  durch  Windhunde  gehetzt.  Männer  zu  Fuß 
und  zu  Pferd  suchen  sie  in  eine  aus  starken  Zweigen 
errichtete  Umzäunung  zu  treiben.  An  der  Längswand 
gegenüber  sieht  man  die  Meute  in  vollem  Lauf  hinter 
Gazellen,  die  in  einem  Bilde  der  Südwand  ausge¬ 
weidet  werden  (Abb.  6).  Gegenüber  das  Abfangen  von 
Wildeseln  im  Netz.  Die  Masse  der  Gemälde  des 
Thronsaales  von  Amra  liefert  also  jene  Szenen  von 
Jagd  und  Fischfang,  von  denen  Nilus  spricht  und  die 
von  den  Bilderstürmern  wieder  eingeführt  wurden. 

Wenn  ich  zum  Schluß  noch  mit  einem  Wort 
auf  die  Malereien  in  den  Gewölben  eingehe,  so  ist 
zunächst  die  merkwürdige  Tatsache  zu  erwähnen,  daß 


218 


AMRA  UND  SEINE  MALEREIEN 


alle  Bilder  der  Mitteltonne  Frauen  vorführen,  die  mehr 
oder  weniger  nackt  sind.  Sie  verbergen  sich  ent¬ 
weder  halb  hinter  Vorhängen  oder  treten  zwischen 
diesen  heraus,  halten  wie  Viktorien  Kreise  empor  oder 
sind  sitzend  gegeben,  fast  immer  in  roten  Rimd- 
oder  Giebelnischen  zwischen  Säulen  auf  blauem  Grund. 
Diese  Neigung  zur  Vorführung  der  Nacktheit  erinnert 
an  eine  aus  dem  Sande  Ägyptens  wiedererstandene 
Gruppe  von  kleinen  Bildwerken  in  Stein,  Holz,  Bein  und 
Bronze,  die  wie  der  Schmuck  gewisser  Seiden-  und 
Wollstoffe  bezeugt,  daß  man  in  Syrien  und  Ägypten 
schon  in  spätantiker  Zeit  mit  besonderer  Vorliebe  an 
der  Nudität  hing.  Wir  haben  es  also  nicht  mit  einer 
erst  aus  dem  Geschmack  der  Araber  geborenen 
Neuerung  zu  tun;  ebensowenig  sind  die  Darstellungen 
der  Handwerke  in  der  Osttonne  irgendwie  spezifisch 
islamischen  Ursprunges.  Was  die  Malereien  von  Amra 
bieten,  ist  aus  dem  Bestände  des  späteren  orientali¬ 
schen  Hellenismus  genommen,  in  dem  sich  neben 
griechischen  einheimisch  syrische  Elemente  melden 
und  nicht  zuletzt  auch  solche,  die  von  Mesopotamien 
und  dem  Iran  aus  schon  in  antiker  Zeit  nach  dem 
Westen  vorgedrungen  waren.  Es  kann  daher  nicht  ver¬ 
wundern,  an  einer  Stelle  des  Zyklus  von  Amra  (Abb.  6) 
Personifikationen  mit  griechischen  Beischriften  auf¬ 


tauchen  zu  sehen,  daneben  aber  eine  dekorative  Ein¬ 
ordnung  sämtlicher  Gemälde,  die,  von  Mesopotamien 
ausgehend,  sich  die  byzantinische  Kunst  ebensogut 
wie  die  abendländische  erobert  hat:  die  Verkleidung 
der  unteren  Wandflächen  durch  (gemalte)  Vorhänge, 
ln  Pompeji  wird  man  dieses  Motiv  vergebens  typisch 
nachzuweisen  suchen;  dort  herrscht  noch  durchaus 
der  architektonische  Sockel.  Und  schließlich  scheint 
auch  die  Vorliebe  für  Jagddarstellungen  mesopota- 
misch-persischen  Ursprung  zu  haben.  Man  halte  sich 
nur  die  assyrischen  Reliefs  neben  die  sassanidischen 
des  Tak-i-Bostan  und  weiter  neben  die  berühmten  alten 
Perserteppiche,  den  großen  Seidenteppich  im  Besitze  des 
habsburgischen  Kaiserhauses  obenan  und  wird  die  Ent¬ 
wickelungsreihe  in  ihren  Hauptvertretern  vor  sich  haben. 

Kuseir  Amra  füllt  eine  klaffende  Lücke  der  Kunst¬ 
geschichte.  Es  werden  noch  sehr  viele  Expeditionen 
dahin  gehen  und  den  wissenschaftlichen  und  künst¬ 
lerischen  Schatz  zu  heben  suchen,  der  dort  brachliegt, 
von  den  Beduinen  als  eine  Schöpfung  des  großen 
Zauberers  Salomon  gemieden.  Möchte  es  Professor 
Musil  gelingen,  für  weitere  Forschungsreisen  die  nö¬ 
tigen  Mittel  aufzutreiben.  Man  sollte  meinen,  daß 
dies  nach  den  großen  Erfolgen  für  den  Entdecker 
von  Amra  keine  Schwierigkeiten  mehr  hätte. 


ZUR  CRANACHFORSCHUNO 

Von  Julius  Vogel 

SEIT  der  Dresdner  Cranachausstellung  im  Sommer 
i8gg  ist  das  Interesse  an  dem  Leben  und  den 
Werken  des  sächsischen  Meisters  in  stark  auf- 
steigender  Linie  begriffen.  Die  Forschung  hat  auf 
Grund  der  gewonnenen  Anschauung  in  stattlichen 
Monographien,  von  denen  die  fleißigen  und  gewissen¬ 
haften  Untersuchungen  von  Eduard  Flechsig  in  erster 
Linie  auch  hier  genannt  sein  mögen,  wie  in  Einzel¬ 
untersuchungen  die  Geschichte  der  Kunst  des  Meisters 
auszubauen  gesucht,  eine  ganze  Anzahl  neuer  und 
bedeutsamer  Werke  ist  in  den  Bereich  unserer  Kenntnis 
gedrungen,  Cranach  ist  jetzt  mehr  als  je  in  der  langen 
Zeit,  in  der  er  als  Künstler  gefeiert  worden  ist,  »galerie¬ 
fähig  geworden,  für  einzelne  seiner  Werke  sind  im 
Laufe  der  letzten  Jahre  Preise  gezahlt  worden,  die 
wohl  mit  Recht  einen  Schluß  auf  die  Bewertung  seiner 
Persönlichkeit  als  Künstler  zulassen.  Daneben  sind 
selbstverständlich  die  alten  bekannten  Werke  etwas 
in  den  Hintergrund  der  Forschung  getreten.  Es  schien, 
als  ob  sie  uns  nichts  mehr  zu  sagen  hätten,  sie  galten 
als  die  konstanten  Faktoren,  um  die  sich  die  neuen 
Ergebnisse  der  Forschung  zu  gruppieren  hätten.  Ich 
hoffe  nachstehend  an  einem  der  bekanntesten  und 
früher  am  meisten  besprochenen  Werke  des  Künstlers, 
dem  berühmten  »Sterbenden «  des  Leipziger  Museums, 
zu  zeigen,  daß  unser  Wissen  bisher  auf  falscher  Grund¬ 
lage  beruhte.  Diese  Tatsache  halte  ich  für  wichtig 
genug,  um  für  sie  die  Aufmerksamkeit  der  Forscher 
zu  erbitten. 

Aus  der  Geschichte  des  Gemäldes  mag  zum  Ver¬ 
ständnis  der  folgenden  Untersuchung  soviel  wiederholt 
werden,  daß  der  Ort  seiner  ersten  Aufstellung,  so  viel 
wir  wissen,  die  Nikolaikirche  in  Leipzig  gewesen  ist. 
Bei  dem  mit  dem  Jahre  1785  beginnenden  großen 
Umbau  der  Kirche  wurde  es  mit  anderen  Gemälden 
dem  Geschmack  der  Zeit  entsprechend,  nach  dem 
»ein  ungesunder,  dunkler,  finsterer  und  mit  Leichen¬ 
steinen  ausgetafelter  Kerker,  dessen  Gemälde  widrige 
Ideen  erwecken,  zu  der  erfreuenden  Christusreligion 
nicht  passen«,  auf  den  Dachboden  der  Kirche  ver¬ 
bannt,  wo  man  in  den  ausrangierten  Kunstwerken  als 
Scheidewände  für  einen  Taubenschlag  passende  Ver¬ 
wendung  fand,  bis  sie  hier  im  Jahre  1815  die  Auf¬ 
merksamkeit  zweier  Kunstfreunde  auf  sich  lenkten, 
restauriert  und  der  Leipziger  Stadtbibliothek  über¬ 
wiesen  wurden.  Goethe  war  es  bekanntlich,  der  auf 
Grund  der  ihm  gewordenen  Mitteilungen  in  dem 
»Morgenblatt«  vom  22.  März  1815  die  erste  Mitteilung 
über  diese  Entdeckung  brachte.  Im  Jahre  1848  wurden 
diese  Epitaphien  -  denn  um  solche  handelt  es  sich  — 
dem  Museum  der  bildenden  Künste  überwiesen.  Die 


LUKAS  CRANACH  D.  Ä.  DER  STERBENDE 
LEIPZIG.  STÄDT.  MUSEUM 


220 


ZUR  CRANACHFORSCHUNQ 


Art  der  Verwendung  auf  dem  Boden  der  Nikolai¬ 
kirche  erklärt  es,  daß  sie  einer  Restaurierung  im 
Jahre  1815,  als  sie  wieder  salonfähig  gemacht  wurden, 
dringend  bedürftig  waren.  Goethe  bemerkt  auf  Grund 
seiner  Quellen:  Sie  befinden  sich  freilich  in  einem 
traurigen  Zustande,  doch  an  ihrer  Wiederherstellung  ist 
nicht  durchaus  zu  verzweifeln.«  Eine  solche  Restau¬ 
rierung  von  Cranachs  »Sterbenden  bezeugt  Sch uchardt 
(Cranachs  Leben  und  Werke  11,  S.  85),  der  das  Bild 
in  seinem  ursprünglichen  Zustande  gesehen  hat.  Doch 
scheint  die  Herstellung  der  Gemälde  sich  damals  in 
gegebenen  Grenzen  gehalten  zu  haben.  Viel  bedenk¬ 
licher  ist  vielmehr  eine  alte  Übermaluno  des  Gemäldes, 
die  sowohl  seinen  Charakter  entstellt  and  ihn  ten¬ 
denziös  gefälscht  als  seine  Entstehung  in  eine  falsche 
Zeit  gerächt  hat.  Es  handelt  sich  kurz  gesagt  darum, 
daß  das  Cranachsche  Gemälde  von  Haus  ebensowenig 
zum  Epitaphium  wie  seiner  Bestimmung  nach  für 
die  Nikolaikirche  bestimmt  war.  Die  in  dem  oberen 
Teil  in  einem  das  Gemälde  abschließenden  Halbkreis 
eingezeichnete  Inschrift,  deren  wichtigster  Teil  die 
Widmung  ist:  »Patri  optimo  Henricus  Schmitburg 
Lipsiensis  jurium  doctor  fieri  fecit  anno  ab  incarnatione 
domini  MDXVllI«  stammt  nicht  von  Cranach  her, 
sondern  ist  von  anderer  Hand  in  das  Gemälde  hinein¬ 
geschrieben  worden,  als  es  für  eine  neue  Bestimmung, 
nämlich  die  Aufstellung  in  der  Kirche,  hergerichtet 
wurde.  An  der  Stelle  nämlich,  wo  der  »Sterbende« 
in  der  Nikolaikirche  als  Teil  eines  Epitaphs  aufgestellt 
war,  befand  sich  das  Erbbegräbnis  der  Eamilie  Schmid- 
burg,  in  dem  (nach  Salomon  Stepners  Leipziger  In¬ 
schriften  vom  Jahre  1675  unter  Nr.  527)  bereits  1490 
Doktor  Valentin  Schmidburg  beigesetzt  worden  war. 
Als  im  Jahre  1518,  wahrscheinlich  im  Verlaufe  des 
großen  Umbaues,  dem  die  Kirche  damals  unterworfen 
wurde,  der  »Sterbende«  hierher  überführt  wurde, 
handelt  es  sich  um  die  Aufstellung  eines  der  Er¬ 
innerung  an  die  hier  Bestatteten  dienenden  Grabmals. 
Die  oben  mitgeteilte  lateinische  Inschrift  ist  also  nicht 
mit  Rücksicht  auf  das  Gemälde  hanc  tabulani,  sondern 
hoc  epitaphium  fieri  fecit  1518  zu  ergänzen.  Damit 
ist  der  »Sterbende  aus  der  Liste  der  Gemälde  des 
Jahres  1518  zu  streichen,  eine  Notwendigkeit,  die  von 
manchem  schon,  der  sich  mit  der  kunstgeschichtlichen 
Stellung  des  Bildes  eingehend  befaßt  hat,  im  stillen 
als  sehr  wünschenswert  empfunden  worden  ist. 

Das  Jahr  1518  ist  besonders  reich  an  datierten 
Gemälden  Cranachs.  Ich  nenne  hier  folgende: 

1.  Madonna  mit  dem  Kinde,  im  Besitze  des  Gro߬ 
herzogs  von  Sachsen. 

2.  Eine  ähnliche  Madonna  in  einer  Landschaft  im 
Dom  zu  Glogau. 

3.  Eine  Maria  am  Betpult  mit  Donator,  im  Gro߬ 
herzoglichen  Museum  zu  Weimar  (Nr.  23,  im 
Katalog  als  »Aus  Cranachs  oder  Grünewalds 
Schule«  bezeichnet,  vgl.  jedoch  Flechsig,  Cranach- 
studien  S.  103).  Wird  neuerdings  dem  Meister 
wieder  abgesprochen. 

4.  Das  umfangreiche  Altarwerk  in  der  Katharinen¬ 
kirche  zu  Zwickau,  nicht  durch  Signatur,  sondern 


durch  Urkunde  als  Werk  des  Jahres  1518  be¬ 
glaubigt. 

5.  Die  ruhende  Quellnymphe,  früher  in  der  Samm¬ 
lung  Schubart  in  München,  jetzt  im  Museum 
der  bildenden  Künste  in  Leipzig.  Vgl.  Wörmann 
in  dieser  Zeitschrift  igoo,  S.  57.  Die  Bedenken, 
die  Flechsig  gegen  die  Echtheit  des  Bildes  an¬ 
gedeutet  hat,  vermag  ich  nicht  zu  teilen.  Die 
Jahreszahl  1518  ist  jedenfalls  unverdächtig. 

6.  Das  Bildnis  des  Gerhard  Volk,  früher  auf  der 
Leipziger  Stadtbibliothek,  jetzt  ebenfalls  im 
Museum  der  bildenden  Künste.  Durch  eine 
gleichzeitige  Legende  auf  der  Rückseite  als  Werk 
von  1518  beglaubigt.’) 

Zwei  weitere  dem  Jahre  1518  angehörige  Bild¬ 
nisse  in  Privatbesitz  in  Sigmaringen  (oder  vielmehr 
in  Donaueschingen),  die  Elechsig  S.  103  anführt,  kenne 
ich  nicht.  Wenn  an  den  oben  genannten  Gemälden 
durch  r^estaurierung  manche  ursprüngliche  Feinheit 
verdorben  und  mancher  Ton  erst  durch  die  Hand 
des  Restaurators  in  das  Kolorit  hineingekommen  sein 
mag  und  das  unter  Nr.  4  genannte  Zwickauer  Altar¬ 
werk  nicht  nur  schlecht  erhalten,  sondern  teilweise 
auch  Gesellenarbeit  ist,  so  bilden  sie  doch  gegenüber 
dem  »Sterbenden«  eine  in  sich  geschlossene  Gruppe, 
in  die  man  das  letztere  Bild  als  gleichzeitig  einzufügen 
alle  Bedenken  tragen  muß.  Kein  Forscher  würde  schon 
aus  stilkritischen  Gründen  je  auf  den  Gedanken  ge¬ 
kommen  sein,  den  Sterbenden«,  trüge  er  nicht  als 
vermeintliche  Bezeichnung  des  Künstlers  die  Jahreszahl 
1518,  das  Bild  mit  den  übrigen,  die  gleiche  Jahres¬ 
zahl  tragenden  Werken  zeitlich  zusammenzustellen; 
die  Gesamthaltung  des  Bildes,  seine  eigentümliche 
Farbengebung,  bei  der  die  reichliche  Verwendung  des 
Kobaltblau  in  der  Wolkenbildung  des  mittleren  Teiles 
bezeichnend  ist,  das  schematische  in  der  Komposition, 
die  Häufung  der  kleinen  Figuren,  an  sich  eine  Eigen¬ 
tümlichkeit  vieler  Cranachscher  Gemälde,  aber  ent¬ 
weder  solcher,  die  undatiert  sind  oder  in  frühere  Jahre 
fallen,  alle  solche  Vergleichspunkte  müssen  uns  sagen, 
daß  der  »Sterbende«  die  Arbeit  einer  anderen  Zeit 
ist  als  der  er  anzugehören  jetzt  vorgibt.  Die  ange¬ 
deuteten  Bedenken  werden,  wenn  sie  einmal  aus¬ 
gesprochen  sind,  keinem  Beschauer  mehr  entgehen. 


1)  Stilistisch  und  zeitlich  stehen  diesem  Bildnis  zwei 
Porträts  sehr  nahe,  die  1900  aus  dem  Besitze  des  Leipziger 
Rathauses  in  das  Leipziger  Museum  gelangt  sind;  die  als 
Gegenstücke  bestimmten  feinen  und  liebenswürdigen  Por¬ 
träts  des  in  der  Leipziger  Stadtgeschichte  bekannten  Ehe¬ 
paares  Georg  und  Apollonia  von  Widebach,  auf  die  Hedwig 
Michaelson,  Lukas  Cranach,  S.  79  aufmerksam  gemacht 
hat.  Ich  halte  die  Bildnisse  für  Arbeiten  des  Jahres  1519. 
Sie  dürften  während  der  Disputation  auf  der  Pleißen- 
burg  entstanden  sein,  wenn  die  Annahme  zutrifft,  daß 
unter  dem  »höchst  vornehmen  Gefolge,  goldstrotzenden 
Rittern,  Gelehrten  und  Ungelehrten«,  die  Luther  damals 
aus  Wittenberg  nach  Leipzig  geleiteten,  auch  Meister  Lukas 
sich  befunden  habe.  Georg  von  Widebach  ,  der  der 
lutherischen  Lehre  zugetan  war,  befand  sich  unter  denen, 
die  von  Herzog  Georg  Karlstadt  und  den  Seinigen,  also 
auch  Luther,  zum  Schutze  beigegeben  waren. 


Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XVIII.  II.  g 


31 


222 


ZUR  CRANACHFORSCHUNG 


der  betreffs  der  eingemalten  Inschrift  die  hier  bei¬ 
gegebene  Abbildung  prüft.  Man  sieht,  daß  durch 
den  die  Inschrift  tragenden  schwarzen  Streifen  und 
die  darüber  liegende,  in  grauen  Tönen  gehaltene 
Wölbung  in  dem  oberen  Teile  des  Gemäldes  die 
Krone  der  Madonna  teilweise  und  ein  großes  Stück 
der  Engelsglorie,  endlich  auch  die  Spitze  vom  Turme 
der  Kapelle  übermalt  sind.  Dieser  Teil  des  Gemäldes 
zeigt  mit  hinreichender  Deutlichkeit  die  Spuren  der 
späteren  Überarbeitung.  Aber  auch  die  beiden  in  den 
Ecken  angebrachten  Köpfe  eines  Mohren  und  eines 
jungen  Mädchens,  Füllsel,  die  in  dieser  Art  öfter  bei 
Cranach  Vorkommen,  aber  soviel  ich  sehen  kann  nur 
in  Verbindung  mit  der  Architektur,  sind  Zutaten  der 
Übermalung.  Denn  der  ganze  obere  Teil  des  Ge¬ 
wölbes  ist  augenscheinlich  von  Haus  aus  durch 
einen  von  unten  nach  oben  sich  ins  Dunkle  ver¬ 
färbenden  Himmel,  der  sich  über  den  Andächtigen 
ausspannt,  gebildet  worden.  Durch  die  Anbringung 
der  Inschrift,  die  sich  nicht  mitten  in  den  Himmel 
hineinsetzen  ließ,  sondern  eines  Untergrundes  bedurfte, 
wäre  die  Gesamtwirkung  durch  die  Zerschneidung 
des  Himmels  dermaßen  verdorben  worden,  daß  sich 
der  Übermaler  entschließen  mußte,  auch  die  Ecken 
des  Bildes  und  zwar  mit  grauer  Farbe  zu  überziehen. 

Auch  in  seinen  übrigen  Teilen  weist  der  »Sterbende« 
unverkennbare  Spuren  einer  Übermalung  auf,  die  für 
jedes  empfindliche  Auge  unkünstlerisch  wirkt.  Man 
achte  einmal  auf  die  zahlreichen  Inschriften,  die  über 
die  ganze  Bildfläche  verstreut  sind.  Den  Schrift¬ 
charakteren  nach  haben  wir  hier  zwei  verschiedene 
Hände  vor  uns.  Von  Cranachs  Hand  stammen  un¬ 
zweifelhaft  die  Sentenzen,  die  in  die  untere  Hälfte  des 
Bildes  eingeschrieben  sind,  die  auf  einer  braunen 
Truhe  am  Fuße  des  Krankenbettes  stehenden  Worte 
des  Teufels:  Desperandum  tibi  prorsus  etc.,  sodann 
die  Worte,  die  der  Priester  spricht  und  die  auf  den 
Wolken  über  dem  Kopfe  des  Sterbenden  stehen: 
Peniteat  te  peccati,  veniam  pete  et  spera  misericordiam, 
und  endlich  die  Verzeihung  erflehenden  Worte  der 
abscheidenden  Seele:  Et  si  peccavi  tarnen  te  deus 
meus  nunquam  negavi.  Mit  feinem  künstlerischen 
Takt  hat  Cranach  die  beiden  letzteren  Inschriften  in 
die  hellblaugefärbten  Wolken  in  hellgelben  Buchstaben 
eingeschrieben,  so  daß  sie  dem  Auge  nur  in  nächster 
Nähe  sichtbar  werden,  in  einiger  Entfernung  aber  nur 
mit  Mühe  lesbar  sind.  Dem  Charakter  nach  aber  gänz¬ 
lich  verschieden  sind  die  Beischriften  in  der  oberen 
Hälfte  des  Bildes:  sie  rühren  den  Typen  nach,  die 
mit  viel  weniger  Sorgfalt  gezeichnet  sind,  von  einer 
anderen  Hand  her,  sie  erscheinen  —  die  griechische 
über  dem  Chor  der  Frauen  und  die  lateinische  über 
dem  Propheten  sind  teilweise  über  die  Flügel  der 
Cherubime  gemalt  -  -  dem  Auge  aufdringlich  und 
beeinträchtigen  in  hohem  Maße  die  Wirkung  des 
Bildes.  Endlich  achte  man  noch  auf  die  große,  die 
Dreifaltigkeit  umgebende  Glorie  in  der  Mitte  des  Ge¬ 
mäldes:  die  Ellipse,  die  sie  bildet,  steht  —  auch  auf 
der  Abbildung  erkenntlich  —  vollständig  schief  in 
den  sie  umgebenden  Wolken,  und  besteht  aus  einer 
roh  hingestrichenen,  von  ebenso  roh  gemalten  Regen¬ 


bogenfarben  umgebenen  gelben  Farbschicht  —  auch 
diese  eine  Übermalung  von  fremder  Hand,  die  als 
Untergrund  für  die  daraufzusehende  Doppelinschrift 
Sanctus  Dominus  Deus  Sabaot  dienen  sollte.  Ursprüng¬ 
lich  ist  unter  der  Übermalung  vielleicht  Goldgrund 
gewesen. 

Aus  den  vorstehenden  Erläuterungen  ergibt  sich 
als  Schlußfolgerung:  Der  Cranachsche  »Sterbende«, 
der  an  sich  schon  wegen  der  durchaus  in  das  Genre¬ 
hafte,  in  das  Alltägliche  gezogenen  Auffassung  der  eigent¬ 
lichen  Sterbeszene  absolut  keinen  kirchlichen  Charakter 
an  sich  hat  und  schon  wegen  der  Kleinheit  der  Fi¬ 
guren  nur  in  einem  kleinen  Raume  höchstwahr¬ 
scheinlich  im  Wohnhause  seines  Besitzers  —  bei 
günstiger  Beleuchtung  zur  Wirkung  gelangen  konnte, 
ist  überhaupt  kein  Epitaphium  und  vom  Künstler  nie 
als  solches  gedacht  worden.  Erst  der  Besitzer  des 
Gemäldes,  Dr.  Heinrich  Schmidburg  familiae  siiae 
finis  ,  hat  das  Gemälde  in  ein  Epitaph  einfügen 
und  durch  eine  Reihe  von  Inschriften  entsprechend 
dem  kirchlichen  Zwecke,  dem  es  nunmehr  dienen  sollte, 
vor  allem  aber  um  seine  Stiftungsurknnde  in  passen¬ 
der  Form  anzubringen,  angepaßt.  Das  ist  im  Jahre 
1518  geschehen.  So  erklären  sich  die  Übermalungen, 
so  die  Mehrzahl  der  Inschriften,  so  überhaupt  die 
Entstellung,  der  das  Gemälde  zum  Opfer  gefallen  ist. 
Daß  man  früher  solche  Übermalungen  unbedenklich 
vornahm,  namentlich  wenn  es  galt,  ein  Werk  in 
maiorem  Dei  gloriam  umzugestalten,  auch  mit  Werken 
bekannter  und  geachteter  Künstler  schonungslos  um¬ 
ging,  ist  eine  längst  bekannte  Tatsache,  die  keiner 
Analogien  bedarf. 

An  Stelle  der  Jahreszahl  1518  wäre  nun  das  eigent¬ 
liche  Datum  zu  suchen.  Ein  kurzer  Blick  auf  seinen 
eigentlichen  Inhalt  wird  uns  einige  wesentliche  An¬ 
haltspunkte  darbieten.  Es  ist  längst  schon  darauf 
hingewiesen  worden,  daß  die  Sterbeszene  des  Cranach- 
schen  Gemäldes  an  die  in  der  Ars  moriendi  darge¬ 
stellten  Kämpfe  anknüpft,  die  zwischen  den  himm¬ 
lischen  Mächten,  den  Engeln,  und  dem  Vertreter  des 
Teufels  in  der  Gestalt  des  Höllenrachens  um  die 
sterbende  Seele  entbrennen.  Die  volkstümliche  Auf¬ 
fassung  dieses  Kampfes  kommt  illustrativ  hier  ähnlich 
zum  Ausdruck  wie  in  dem  Cranachschen  Gemälde, 
doch  mit  der  Einschränkung,  daß  die  Darstellung  auf 
den  irdischen  Vorgang  beschränkt  bleibt,  aber  als 
Zeugen  des  himmlischen  Sieges  Gott-Vater,  Christus 
und  die  Madonna  in  der  Höhe  dienen.  Cranach  er¬ 
weitert  die  Darstellung  dadurch,  daß  er  das  Aufsteigen 
der  eben  den  irdischen  Leib  verlassenden  Seele  in 
Form  eines  schönen  Jünglings,  in  der  geläuterten 
Gestalt,  die  mit  der  Gottförmigkeit  verbunden  wurde, 
hinzufügt.  Nach  oben  wird  die  Darstellung  ferner 
durch  die  von  der  Glorie  umgebenen  Dreifaltigkeit, 
durch  den  Chor  der  Heiligen,  unter  denen  Johannes 
der  Täufer,  Petrus  und  Paulus  auch  äußerlich  er¬ 
kenntlich  sind,  durch  den  Chor  heiliger  Frauen  mit 
der  Madonna  an  der  Spitze,  durch  Cherubime  und 
Engel  abgeschlossen.  Diese  ganze  bildliche  Auffassung 
beruht  aber  weniger  in  der  volkstümlichen  Tradition, 
als  vielmehr  in  einem  kirchlich  fixierten  Glaubenssatz, 


ZUR  CRANACHFORSCHUNG 


223 


der  die  einzelnen  Elemente  unserer  Darstellung  in  sich 
trägt.  Er  ist  zu  finden  in  dem  Benedictionale  der 
alten  Diözese  Meißen,  die  1512  von  Melchior  Lotter 
in  Leipzig  gedruckt  wurde. 

Für  uns  kommt  in  Frage  der  Ordo  commen- 
dationis  anime  sive  morientis  conductus  ab  hoc  seculo. 
ln  dem  ziemlich  langen  Gebet  am  Sterbelager  des 
Menschen  heißt  es  da  unter  anderem: 

Commendo  te  omnipotenti  deo  charissime 
frater:  et  ei  cuius  es  creatura  committo  ut  humani- 
tatis  debitum  morte  interueniente  persolueris:  ad 
auctorem  tuum  qui  te  de  limo  terre  formauerat 
reuerteris.  Egredienti  itaqae  anime  tiio  de  corpore 
splendidus  angelorum  cetas  occurrat.  iudex  aposto- 
lorum  tibi  senatus  adueniat. 

Candidatorum  tibi  martirum 
triumphator  exercitus  obuiet. 

Liliata  rutilantium  te  confesso- 
rum  turma  circumdet.  lubilan- 
tium  te  virginum  chorus  ex- 
cipiat:  et  beate  quietis  in  sinus 
patriarcharum  te  complexus 
astringat.  Mitis  atque  festiiius 
Christi  ihesii  tibi  aspectus  ap- 
pareat:  qui  te  inter  assistentes 
sibi  iugiter  interesse  decernat. 

Ignores  omne  quod  harret  in 
tenebris:  quod  stridet  in  flam- 
mis:  quod  cruciatur  in  tor- 
mentis.  Cedat  tibi  deterrimus 
sathanas  cum  satellitibus  suis 
in  aduentu  tuo  te  comitantibus 
angelis  contremiscat  atque  in 
eterne  noctis  chaos  immane 
diffugiat.  Exurgat  deus  et  dissi- 
pantur  inimici  eius  et  fugiant 
qui  oderunt  eum  a  facie  eius 
etc. 

Dann  heißt  es  weiter: 

Delicta  iuventutis  et  igno- 
rancias  eius  quesumus  ne  me- 
mineris  dne:  sed  secundum 
magnam  misericordiam  tuam  memor  esto  illius  in 
gloria  chlaritatis  tue:  aperiantur  ei  celi  collectundur 
illi  angeli  in  regnum  tuum  dne  tuum  tecum  suscipe. 
Suscipiat  eum  sanctus  michael  archangeliis  dei  qui 
milicie  celestis  meruit  principatus.  Veniant  illi  obuiam 
sancti  angeli  dei:  et  perducant  eum  in  ciuitatem 
celestem  iherusalem.  Susipiat  eum  beatus  petrus 
apostolus  cui  a  deo  claues  regni  celestis  tradite 
sunt.  Adviet  eum  sanctus  paulus  apostolus  qui 
dignus  fuit  esse  vas  electionis.  Intercedat  pro  eo 
sanctus  iohannes  electus  dei  apostolus  ....  Prestante 
dno  nostro  ihesu  christo:  qui  cum  patre  et  spiritu 
sancto  vivit  et  regnat  in  secula  seculorum. 

1)  Wieder  abgedruckt  in  der  von  Pfarrer  Dr.  Albert 
Schönfelder  herausgegebenen  »Liturgischen  Bibliothek«, 
1.  Band:  Ritualbücher  (Paderborn  1904).  Ich  verdanke 
diesen  schätzbaren  Hinweis  der  freundlichen  Mitwirkung 
des  Herrn  Geheimen  Kirchenrates  Prof.  Albert  Hauck  in 
Leipzig. 


Die  Quelle  der  bildlichen  Darstellung  sind  die 
in  der  Agende  enthaltenen  Sterbegebete,  die  priester- 
liche  Funktion  am  Sterbebette,  die  Hoffnung,  die  hier 
unter  ausdrücklicher  Umgehung  der  üblichen  kirch¬ 
lichen  Vorstellung  vom  Fegefeuer  an  den  unmittel¬ 
baren  Eingang  der  Seele  zur  ewigen  Seligkeit  geknüpft 
werden.  Die  Mystik  der  damaligen  Zeit,  die  die 
Rückkehr  des  Menschen  zu  Gott  behandelt  und  ihre 
populärste  Gestalt  wohl  in  den  Lehren  des  1482 
von  Sixtus  IV.  kanonisierten  hl.  Bonaventura,  Schülers 
des  heiligen  Franz  von  Assisi,  erhalten  hat,  lehrte, 
daß  man  mit  Christus  sterben  müsse,  um  mit  ihm 
aus  dieser  Welt  zum  Vater  zu  gehen,  und  soweit  es 
dem  geschaffenen  Geiste  möglich  sei,  »gottförmig« 
zu  werden.  (Vgl.  Piper,  Zeugen 
der  Wahrheit  III,  S.  11 1  ff.)  Bei 
der  Annahme,  daß  alle  wesent¬ 
lichen  Elemente  der  Darstellung 
in  dem  Meißnischen  Benedictio¬ 
nale  von  1512  zu  finden  sind, 
geht  man  wohl  nicht  fehl,  wenn 
man  als  Jahr  der  Entstehung 
des  Gemäldes  die  Zeit  um  1513 
annimmt.  Höher  hinauf  zu  gehen 
halte  ich  für  bedenklich,  weil 
auch  stilistische  Parallelen  an¬ 
derer  Werke  für  die  angegebene 
Datierung  sprechen. 

Es  handelt  sich  nämlich  um 
die  Holzschnitte  eines  Werkchens, 
das  in  seinen  Illustrationen  — 
soweit  der  technisch  gröbere 
Holzschnitt  überhaupt  zu  einem 
mit  minutiöser  Feinheit  ausge¬ 
führten  Ölgemälde  als  stilistische 
Parallele  herangezogen  werden 
kann  —  dem  Leipziger  Gemälde 
sehr  nahesteht.  Den  Hinweis 
auf  diese  Parallele  sowie  die 
Überlassung  der  Photographien 
verdanke  ich  Eduard  Flechsig, 
der  auf  Seite  64  ff.  seiner  -Cra- 
nachstudien-  das  bisher  nur  in  zwei  Exemplaren  nach¬ 
gewiesene  Werkchen  erwähnt,  das  den  Titel  trägt:  »Ein 
serandechtig  Cristenlich  Büchlein  aus  hailigen  schrifften 
vnd  Lerern  von  Adam  von  Fulda  in  teutsch  reymenn 
gesetzt  .  Das  Büchlein  ist  im  Jahre  1512  in  Wittenberg 
erschienen  und  enthält  eine  Folge  von  acht  kleinen  Holz¬ 
schnitten,  deren  Typen  denen  des  »Sterbenden«  stilistisch 
nahestehen.  Blatt  7,  das  Jüngste  Gericht  darstellend,  das 
neben  einem  zweiten  Holzschnitt  1547  in  dem  »Hortu- 
lus  animae«  wieder  Verwendung  gefunden  hat  (vergl. 
Schuchardt  II,  S.  270  Nr.  109),  bilden  wir  hier  nach. 
Der  über  der  Weltenkugel  thronende  Erlöser  und 
Weltenrichter  —  deshalb  ohne  die  Dornenkrone  dar¬ 
gestellt  —  ist  typisch  genommen  die  analoge  Er¬ 
scheinung  wie  der  Christus  auf  dem  Gemälde  und 
wirkt  mit  der  Madonna  und  dem  Täufer  wie  eine 
durch  die  Technik  des  Holzschnittes  und  seine  Klein¬ 
heit  bedingte  Abbreviatur  der  himmlischen  Sphäre. 
Dieselbe  Parallele  findet  sich  aber  auch  wie  erwähnt 


LUKAS  CRANACH  D.  Ä.  DAS  JÜNGSTE  GERICHT 
HOLZSCHNITT 


31 


224 


ZUR  CRANACHFORSCHUNG 


zwischen  anderen  Figuren  des  kleinen  Holzschnitt- 
zyklus  und  dem  des  Gemäldes,  dessen  gesicherte  Da¬ 
tierung  auch  für  dieses  bedeutsam  ist. 

Die  neue  Datierung,  die  wir  auf  diese  Weise  für 
das  Cranachsclie  Gemälde  gefunden  haben,  ist  von 
Bedeutung  für  eine  Reihe  von  Gemälden,  die  ihm 
stilistisch  nahe  stehen,  kein  Datum  tragen,  aber  wegen 
der  Jahreszahl  1518,  die  der  Sterbende^  in  der 
Schmidburgischen  Widmung  trägt,  in  die  etwas  spätere 
Zeit  verlegt  worden, 
obwohl  diese  Anset¬ 
zung  von  manchem 
Forscher  schon  als  nicht 
unbedenklich  empfun¬ 
den  worden  ist.  Es 
handelt  sich  hier  zu¬ 
nächst  um  jene  klein- 
figurigen  Bilder,  die, 
soweit  sie  eigenhändige 
Arbeiten  Cranachs  sind 
oder  als  solche  von 
einzelnen  Forschern  in 
Anspruch  genommen 
werden,  sicher  einer 
Gruppe  angehören,  die 
zeitlich  enger  begrenzt 
ist  als  man  bisher  an¬ 
genommen  hat.  Zu 
dieser  Gruppe  rechne 
ich  unter  anderen  fol¬ 
gende  Vertreter: 

1.  Flügel -Altärchen 
der  Sammlung 
Richard  v.  Kauf¬ 
mann  in  Berlin. 

In  der  Mitte  die 
KreuzigungChri- 
sti,  links  Christus 
am  Ölberg,  rechts 
Auferstehung.  Im 
Galeriewerk  der 
Sammlung  von 
Kaufmann  (Nr.ög 
und  Tafel  46),  als 
»etwa  1520  ent¬ 
standen  bezeich¬ 
net;  vgl.  Dresdner 
Cranach-Ausstel- 
lung  Nr.  1 15.  Von  Flechsig,  S.  282,  dem  jungen 
Cranach  zugeschrieben. 

2.  Kreuzigung  Christi  in  der  städtischen  Gemälde- 
Sammlung  in  Straßburg  (Nr.  21  des  Katalogs). 

Entstanden  um  1515  .  Flechsig,  S.  91  u.Taf.  27. 

3.  Kreuzigung  Christi  im  Städelschen  Institut  in 
Frankfurt  a.  M.  Dresdner  Cranachausstellung 
Nr.  77.  Flechsig  S.  105:  »Der  Stil  des  »Ster¬ 
benden«  in  Leipzig  von  1518  gibt  uns  das 
Recht,  auch  die  kleine  Kreuzigung  in  Frank¬ 
furt  in  dieses  Jahr  zu  versetzen«, 

ln  diese  Gruppe  gehört  auch  der  mit  der  Jahres¬ 
zahl  1515  bezeichnete 


4.  Christus  am  Kreuz  zwischen  den  Schächern  in 
Berlin  bei  Frau  Mathilde  Wesendonck.  Cranach¬ 
ausstellung  Nr.  9,  Flechsig  S.  89  ff.  u.  Tafel  22. 

Auch  andere  Gemälde,  deren  Datierung  bisher 
geschwankt  hat,  dürften  in  diese  Gruppe  einzureihen 
sein,  für  die  vorstehend  nur  einige  typische  Vertreter 
genannt  wurden.  So  bin  ich  namentlich  geneigt, 
den  Christus  am  Ölberg«  der  Dresdner  Galerie,  den 
man  sogar  nach  1520  hat  ansetzen  wollen,  zeitlich 

unmittelbar  an  den 
> Sterbenden  >  heranzu¬ 
rücken,  womit  Flechsig 
(S.  92)  übereinstimmt. 
Aus  stilistischen  Grün¬ 
den  ist  auch  ein  Ge¬ 
mälde  mit  großen  Fi¬ 
guren,  das  von  Haus 
aus  zum  Epitaphium 
bestimmt  gewesen  ist, 
in  dieser  Umgebung  zu 
nennen:  Die  Dreieinig¬ 
keit  mit  Engeln,  die 
die  Leidensinstrumente 
tragen,  der  Madonna, 
dem  heiligen  Sebastian 
und  Sterbenden,  die 
sich  am  Boden  winden, 
im  Leipziger  Museum, 
im  Katalog  unter  Nr. 
248  noch  als  Leipziger 
Meister  aus  dem  An¬ 
fang  des  16.  Jahrhun¬ 
derts  angegeben  (vgl. 
Cranachausstellung  Nr. 
1 53,  Flechsig,  Cranach- 
studien  S.  98),  ein  ganz 
charakteristisches  Werk 
des  Meisters,  das  bei¬ 
nahe  in  all’  seinen  ein¬ 
zelnen  Typen,  sogar 
den  Porträtzügen  der 
Figuren,  in  der  Be¬ 
handlung  der  Wolken, 
in  der  Verwendung  des 
Kobaltblau,  dem  »Ster¬ 
benden«  unmittelbar 
an  die  Seite  zu  stellen 
ist.  Endlich  mag  in 
diesem  Zusammenhänge  noch  eine  ungemein  feine, 
wenn  auch  etwas  verputzte  »Dreieinigkeit«  genannt 
sein,  die,  aus  dem  Besitz  des  Herrn  Robert  Lehmkuhl 
in  Bremen  stammend,  auf  der  kunstgeschichtlichen  Aus¬ 
stellung  in  Erfurt  im  September  1903  zu  sehen  war. 
Das  Bild,  das  dafür  bezeichnend  ist,  wie  sorgsam  und 
zart  Cranach  eine  Engelsglorie  zu  gestalten  wußte, 
ist  40  cm  hoch  und  27  cm  breit  und  dem  Stil  des 
»Sterbenden«  durchaus  verwandt,  weshalb  es  auch  in 
den  an  die  Erfurter  Ausstellung  anknüpfenden  »Meister¬ 
werken  aus  Sachsen  und  Thüringen«  (S.  13)  um  das 
Jahr  1518  angesetzt  wird,  »da  es  an  die  Gedächtnis¬ 
tafel  des  Doktor  Schmidburg  in  Leipzig  erinnert«. 


LUKAS  CRANACH  D.  Ä.  DIE  DREIEINIGKEIT 
BREMEN,  SAMMLUNG  LEHMKUHL 


ZUR  CRANACHFORSCHUNG 


225 


Die  gleiche  Dreieinigkeit  in  der  Engelsglorie  auf  dem 
sechsteiligen  Gemälde  der  Dresdner  Galerie  Nr.  igoöd 
ist  hiernach  sicher  Schülerarbeit. 

Auch  in  dem  Holzschnittwerk  des  Meisters  findet 
sich  eine  bedeutsame  Nummer  —  das  größte  Blatt, 
das  aus  seiner  fleißigen  Hand  hervorgegangen  ist  - 
für  die  sich  auf  Grund  unserer  Ausführungen  eine 
neue  Datierung  gewinnen  läßt.  Es  ist  dies  die  so¬ 
genannte  Himmelsleiter  des  heiligen  Bonaventura, 
ein  Blatt,  das  ursprünglich  mit  dem  Holzschnitt  einer 
Hölle  zusammen  eine  Darstellung  bildete  und  zu  einer 
solchen  auch  auf  dem 
Abdruck  der  Pariser  Na¬ 
tionalbibliothek  vereinigt 
ist.  (Abgebildet  in  der 
Lippmannschen  Ausgabe 
der  Cranachscheu  Holz¬ 
schnitte  auf  Tafel  51  und 
51a;  vgl.  Schuchardt  II, 

S.  235  ff.)  Das  Blatt  schil¬ 
dert  im  Anschluß  an  die 
Grundsätze  der  Mystik 
Bonaventuras  die  Rück¬ 
kehr  des  Menschen  zu 
Gott,  deren  verschiedene 
Stufen  der  Heilige  unter 
dem  Bilde  einer  Leiter 
von  sieben  Staffeln  dar¬ 
gestellt  hatte.  Auf  diesen 
Staffeln  gelangt  man 
immer  höher  zur  Voll¬ 
endung  der  Erleuchtung 
des  Geistes;  in  Christo 
schaut  man  dann  nicht 
mehr  allein  den  Ver¬ 
mittler,  sondern  Gott 
selber,  mit  dem  man 
sich  eins  fühlt  in  Friede 
und  ungetrübter  Selig¬ 
keit.  Cranach  hat  den 
mystischen  Sinn  dieser 
Lehre  in  seiner  Weise 
verarbeitet  und  mit  Rück¬ 
sicht  auf  die  Person  des 
Kurfürsten,  der  unten  an 
der  Leiter  kniet,  ausge¬ 
legt.  Ein  Vergleich  mit  dem  »Sterbenden«  lehrt,  daß 
beide  Darstellungen  dem  Gedanken,  der  Komposition 
und  einzelnen  Typen  nach  aufs  engste  zusammen¬ 
gehören:  dem  Inhalt  nach  handelt  es  sich  um  die  Be¬ 
freiung  des  Menschen  von  den  Qualen  der  Hölle,  um 
das  Aufstreben  der  geläuterten  Seele  zu  den  Sphären 
überirdischer  Herrlichkeit,  der  künstlerischen  Anlage 
nach  haben  wir  das  nämliche  Kompositionsschema  in 
dem  Prinzip  des  Aufbaues  und  in  der  Anordnung  der 
Gruppen  vor  uns;  auch  die  Übereinstimmung  der 
Typen  weist  auf  gleichzeitige  Entstehung  hin.  Lipp- 
mann  (auf  Seite  13  des  genannten  Werkes)  setzt  das 
Blatt  in  die  Zeit  um  1520,  Flechsig  (S.  4g)  wegen 
der  stilistischen  Eigenschaften  mit  den  oben  Seite  223 
genannten  Holzschnitten  des  Büchleins  von  Adam 


von  Fulda  in  die  Jahre  1510  oder  1511.  Unsere 
Analyse  dürfte  diese  Datierung  in  der  Hauptsache 
bestätigen.  Diese  Jahre  bedeuten  für  Meister  Cranach 
offenbar  eine  Zeit,  die  ihm  den  Gedanken  an  Tod, 
Erlösung  der  Seele  und  ewiges  Leben  besonders 
nahelegte  und  ihn  zur  künstlerischen  Gestaltung  der 
ihn  bewegenden  Ideen  und  Gedanken  anregte.  Eine 
Zeit,  in  der  die  Pest  zahllose  Opfer  in  den  deutschen 
Landen  forderte,  legt  eine  solche  Vermutung  sehr  nahe. 
Ist  doch  auf  dem  im  Leipziger  Museum  befindlichen 
Gemälde  der  Dreifaltigkeit  neben  der  Madonna  der 

heilige  Sebastian,  der  Pa¬ 
tron  gegen  die  Pest,  dar¬ 
gestellt;  die  Sterbenden, 
die  hier  sich  am  Boden 
winden,  sollen  offenbar 
Pestkranke  sein,  die  die 
Seuche  dahinrafft.  In 
jedem  Falle  muß  man 
aber  bei  dem  »Sterben¬ 
den«  der  Annahme  ent¬ 
gegentreten,  daß  es  sich 
in  dem  Gemälde  um  eine 
Darstellung  protestanti¬ 
scher  Tendenzen,  um  die 
Hinneigung  zu  den  Leh¬ 
ren  Luthers,  von  der  der 
Künstler  hier  Zeugnis 
ablege  (so  neuerdings 
wieder  Hedwig  Michael- 
son,  Lukas  Cranach  d.  Ä., 
S.  7g),  handelt.  Wir 
wissen  allerdings,  daß 
Heinrich  Schmidburg 
Luther  nahestand  und 
diesem  bei  seinem  Tode 
(1520)  hundert  Gulden 
vermachte  —  quod  mihi, 
so  schreibt  Luther  an 
Spalatin  13.  November 
1520,  nulla  causa  magis 
placet  quam  ut  mortuus 
iustus  damnet  vivos  im- 
pios.  Es  wäre  bedenk¬ 
lich,  in  jenen  Jahren 
schon  in  der  Kunst  pro¬ 
testantische  Tendenzen  zu  suchen  im  Sinne  der 
großen  reformatorischen  Bewegung,  die  erst  einige 
Jahre  später  das  Volk  ergriff.  Nein,  das  Bild 
ist  vielmehr  ganz  aus  katholischen  Anschauungen 
herausgewachsen  und  entspricht  auch  den  religiösen 
Bedürfnissen  der  damaligen  katholischen  Welt.  Selbst 
Luther  hat  sich  noch  und  zwar  im  Jahre  151g  zu 
dieser  Auffassung  bekannt,  wenn  er  in  dem  Sermon 
von  der  Bereitung  zum  Sterben«  also  schreibt:  »Es 
soll  kein  Christenmensch  an  seinem  Ende  daran 
zweifeln,  daß  er  in  seinem  Sterben  nicht  allein  ist, 
sondern  er  soll  gewiß  sein,  daß  wie  es  das  Sakrament 
ausweist,  auf  ihn  gar  viele  Augen  sehen.  Zuerst 
die  Augen  Gottes  selber  und  Christi,  darum  weil  er 
seinem  Worte  glaubt  und  seinem  Sakrament  anhängt. 


LUKAS  CRANACH  D.  Ä.  DIE  HIMMELSLEITER  DES  HEILIGEN 
BONAVENTURA.  HOLZSCHNITT 


226 


ZUR  CRANACHFORSCHUNG 


Dann  die  lieben  Engel,  die  Heiligen  und  alle  Christen  .  . . 
Wenn  aber  Gott  auf  dich  sieht,  so  sehen  ihm  nach 
alle  Engel,  alle  Heiligen,  alle  Kreaturen,  und  wenn 
du  im  Glauben  bleibst,  halten  sie  alle  die  Hände 
unter.  Geht  dann  deine  Seele  heim,  so  sind  sie  da 
und  nehmen  sie  in  Empfang.« 

Im  Jahre  1522  hat  der  Cranachsche  Sterbende« 
eine  Art  Ergänzung  erhalten,  indem  zu  dem  Gemälde 
ein  Deckel  hinzugefügt  wurde,  der  mit  ihm  zusammen 
einen  Schrein  bildete,  was  nicht  anders  zu  denken  ist, 
als  daß  sich  das  Cranachsche  Gemälde  in  einer  ver¬ 
tieften  Umrahmung  befand,  über  der  an  einem  Schar¬ 
nier  drehbar  ein  Deckel  lag,  der  bei  besonderer  Ge¬ 
legenheit  geöffnet  wurde.  Auch  dieser  Deckel,  der 
im  Leipziger  Museum  bis  vor  zwanzig  Jahren  ma¬ 
gaziniert  war,  ist  in  seiner  Hauptdarstellimg,  einer 
Kreuzigung  Christi  über  einem  Kircheninterieur  mit 
Angehörigen  des  Stifters  (in  Lichtdruck  veröffentlicht 
in  den  Bau-  und  Kunstdenkmälern  Sachsens,  Leipzig- 
Stadt,  auf  Tafel  S),  kunsfgeschichtlich  nicht  uninteressant. 
Von  Cranachs  Hand  stammt  er  keinesfalls.  Scheibler- 
Janitschek  fühlten  sich  (Gesch.  der  Malerei  S.  507) 
wegen  der  starken  Phantastik  an  Grünewald  erinnert. 
Dann  wurde  einmal  an  den  Leipziger  Maler  Heinrich 
Schmidt  gedacht,  wobei  aber  nur  eine  unbekannte 
Größe  durch  eine  andere  ersetzt  wurde.  Schon  vor 
Jahren  dachte  Eduard  Flechsig  einmal  gesprächsweise 
an  den  aus  Landshut  i.  B.  stammenden  Maler  Georg 
Lemberger,  den  neuerdings  Heinrich  Röttinger  in 
Wien  in  den  Mitteilungen  der  Gesellschaft  für  ver¬ 


vielfältigende  Kunst  igo6,  S.  1  ff.  bei  einer  Unter¬ 
suchung  über  das  Holzschnittwerk  von  Lemberger 
(Monogrammist  G  L,  früher,  wohl  zuerst  von  Nagler, 
irrtümlich  Gottfried  Leigel  genannt;  vergl.  auch  »Kunst¬ 
chronik«  N.  F.  1.,  Sp.  322)  als  Meister  des  Gemäldes 
erwiesen  hat.  Ein  Gemälde  dieses,  Altdorfer  nahe¬ 
stehenden  Künstlers  war  bisher  noch  nicht  bekannt. 
Wir  wissen  von  ihm,  daß  er  1523  das  Bürgerrecht 
von  Leipzig  erwarb,  also  damals  sich  schon  einige 
Zeit  hier  aufgehalten  haben  muß.  Literarisch  ist  ein 
Gemälde  von  ihm  bezeugt.  Im  Richterbuch  des  Jahres 
1537  findet  sich  der  Eintrag,  daß  »Gorge  von  Lands- 
hnt«,  einem  Gläubiger,  den  er  nicht  bezahlen 
konnte,  »ein  bilde  Adam  vnd  Eva,  ein  kirnst  stucke, 
hinder  das  Gericht  gelegt«  hat  (Archiv  für  Gesch. 
des  deutschen  Buchhandels  Xll,  S.  187;  vergl. 
auch  neuerdings  Wustmann  in  seiner  »Geschichte 
der  Stadt  Leipzig«  S.  422).  Lemberger  scheint  haupt¬ 
sächlich  Buchkünstler  gewesen  zu  sein,  worauf  auch 
die  Phantasiearchitektur  der  Leipziger  Kreuzigung,  die 
in  Holzschnitten  der  damaligen  Zeit  vielfach  wieder- 
kehrt,  hindeutet.  Er  war  kein  Meister  großen  Stils 
und  ersten  Ranges,  immerhin  aber  ein  solcher,  an 
dem  die  Geschichte  der  Kunst  nicht  mehr  achtlos 
vorübergehen  darf.  Vielleicht  gelingt  es,  ihn  auf  Grund 
der  neuesten  Nachweise  weiterzuverfolgen.  Ist  doch 
die  sächsische  Kunstgeschichte  im  Zeitalter  der  Refor¬ 
mation  großenteils  überhaupt  noch  eine  terra  incognita, 
die  erst  noch  erforscht  werden  soll! 


WILHELM  GIESE 


Diesem  Heft  ist  eine  Radierung  des  jungen 
Wilhelm  Giese  beigegeben.  Giese  lebt  in 
Magdeburg,  das  ihn  als  Lehrer  der  Kunst¬ 
gewerbeschule  beschäftigt.  Weil  er  aber  nicht  bloß 
malt,  zeichnet  und  radiert,  weil  er  auch  Künstler  ist, 
sieht  und  liebt  er  selbst  die  Schönheit  und  die  künst¬ 
lerischen  Reize  Magdeburgs  und  seiner  Landschaft, 
einen  spröden  Stoff,  dem  nicht  jedermanns  Palette, 
Stift  und  Sinne  beizukommen  vermögen.  Diesem 
Milieu  entstammt  auch  unsere  Radierung,  die  das 
Licht  der  Öffentlichkeit  auf  der  letzten  Schwarz- 
Weiß- Ausstellung  der  Berliner  Sezession  erblickte: 
der  »Markt  in  Magdeburg«.  Von  dem  bekannten 
Denkmal  Ottos  des  Großen  auf  diesem  Platz  hat  die 
künstlerische  Absicht  nur  ein  kleines  Stück  der  Um¬ 
friedigung  stehen  lassen.  Denn  dieser  Absicht  kam 
es  auf  die  Wiedergabe  der  zwischen  dem  ruhenden 
Pol  der  Marktschirme,  -Körbe  und  -Frauen  herum¬ 
wimmelnden  Menschen  an.  Tristes  Regenwetter  sorgt 
dafür,  daß  die  Bewegung  dieser  Menschen  nicht  zum 
Stocken  kommt.  Ja,  selbst  wo  Obst-  oder  Gemüse¬ 
handel  zu  einer  Gruppenbildung  zwingt,  drückt  die 
Haltung  der  Beteiligten  Hast  und  nervöse  Unruhe 
aus.  Diese  Männer,  Weiber,  Kinder  kann  man  des¬ 
halb  auch  nicht  in  Gemütsruhe  revidieren,  ob  sie  die 
vorschriftsmäßigen  Finger,  Augen,  Ohren  haben  — 
man  kann  ihnen  aber  ansehen,  ob  sie  größere  oder 
geringere  Eile  haben,  und  ob  sie  schwer  oder  leicht 
zu  tragen  haben.  Diese  Figuren  sind  keine  »fleißigen« 
Studien  nach  dem  gestellten  Modell  im  Atelier  be¬ 
quem,  plastisch  und  »mit  Liebe«  gezeichnet,  sie  sind 
in  solidem  Studium  vor  der  Natur  erarbeitet.  Wer 
die  Künstlerbundausstellung  im  Leipziger  Buchge¬ 


werbemuseum  gesehen  hat,  konnte  unter  den  dort 
ausgestellten  Zeichnungen  Gieses  auch  eine  von  den 
Vorstudien  sehen,  die  Giese  in  künstlerischer  Ge¬ 
wissenhaftigkeit  anfertigte,  ehe  er  an  die  Bearbeitung 
der  Kupferplatte  ging.  Diese  selbe  Gewissenhaftigkeit 
zeigt  seine  Radiertechnik.  Da  wird  keine  zeichne¬ 
rische  Schwäche  mit  dem  beliebten  Schleier  der 
Aquatinta  verhüllt,  sondern  klar  und  deutlich  Strich 
für  Strich  geätzt.  Dieser  Strich  ist  bei  Giese  nicht 
ein  bloßes  Mittel,  mehr  oder  weniger  dunkle  Flächen 
zu  erzielen;  er  ist  bei  ihm  Element  der  Technik,  also 
genau  das,  was  er  bei  Rembrandt,  Manet,  Whistler 
ist.  Whistler!  Gewiß,  Gieses  Strich  ist  derber,  und 
sein  Detail  deshalb  nie  so  raffiniert  fein  wie  bei  dem 
sensiblen  Anglo-Amerikaner.  Dafür  entschädigt  Giese 
—  und  das  ist  seine  Stärke  —  durch  eine  feste  Bild¬ 
wirkung,  eine  fabelhafte  räumliche  Geschlossenheit, 
die  er  seinem  angeborenen,  instinktiven  Kompositions¬ 
gefühl  verdankt.  Dabei  mag  er  wohl  hier  und  da 
an  Japan  erinnern:  aber  dies  »Japanische«  ist  eben 
angeboren,  nicht  etwa  wie  bei  Degas  oder  Toulouse- 
Lautrec  durch  Studium  entwickelt.  Unterstützt  wird 
dieses  Raumgefühl  stets  von  rein  verstandesmäßigen 
Erwägungen  über  den  richtigen,  will  sagen  knapp¬ 
sten  Ausschnitt,  über  die  Wirkung  von  Diagonalen, 
über  den  Parallelismus  der  Linien.  Und  so  kommt 
in  jede  Arbeit  Gieses  ein  so  starker  ornamentaler  Ge¬ 
halt  —  ornamental  im  besten  Sinne  des  Wortes  ge¬ 
meint  — ,  daß  sie  sich  wie  unsere  Radierung  gern 
vom  Sammler  in  die  Hand  nehmen  und  in  der  Nähe 
liebevoll  betrachten  läßt,  und  dabei  doch  auch  an 
der  Wand  ihren  Platz  behauptet. 

PAUL  DO  BERT. 


-J 


DISKUSWERFER.  BRONZIERTER  OlPSABOUSS.  MÜNCHEN 
Nach  einer  Aufnahme  der  Verlagsanstalt  F.  Bruckmann 


a)  Vor  dem  Wurf 


b)  Im  Wurf 

ABB.  1.  MOMENTAUFNAHMEN  EINES  DISKUSWURFES 


c)  Absprung 


DER  DISKUSWERFER 

Eine  künstlerische  Untersuchung  von  Ludwig  Volkmann 


Die  Aufstellung  der  neugefundenen  Kopie  des 
Myronischen  Diskuswerfers  aus  Castel  Por- 
ziano  im  Thermenmuseum  zu  Rom  nebst  der 
trefflichen  Ergänzung  durch  Giuüo  Emanuele  Rizzo 
hat  in  letzter  Zeit  erneut  die  besondere  Aufmerksam¬ 
keit  auf  jenes  Meisterwerk  griechischer  Plastik  gelenkt, 
das  von  jeher  als  ein  Wendepunkt  in  der  Entwicke¬ 
lung  der  Skulptur,  als  ein  kühner  Vorstoß  im  Sinne 
größerer  Freiheit  und  Bewegung  nach  monumentaler 
Gebundenheit,  gegolten  hat.  (Vgl.  den  Aufsatz  von 
Walter  Amelung  in  Heft  7  des  vorliegenden  Jahr¬ 
ganges.)  So  darf  auch  eine  gerade  an  diese  Figur 
sich  anknüpfende  künstlerische  Betrachtung  allgemeine¬ 
rer  Art  auf  einiges  Interesse  rechnen,  die  den  wesent¬ 
lichsten  Problemen,  die  hier  zugrunde  liegen,  nachzu¬ 
gehen  versucht  und  ihre  Lösung  auf  anschauliche 
Weise  zur  Darstellung  bringen  möchte.  Denn  wenn 
Myrons  Diskoboi  ebensogut  gleichsam  ein  künstlerisches 
Glaubensbekenntnis  bedeutet  wie  der  Doryphoros  des 
Polyklet,  so  müssen  auch  wir  uns  über  die  grund¬ 
sätzlichen  Fragen  Rechenschaft  geben  können,  die  hier 
durch  die  Tat  eines  Meisters  ihre  Beantwortung  ge¬ 
funden  haben.  Und  an  der  Hand  eines  vielleicht 
nicht  ganz  wertlosen  neuen  Anschauungsmateriales 
ergeben  sich  daraus  von  selbst  mancherlei  verglei¬ 
chende  Blicke  in  das  Wesen  plastischer  Schöpfung 
und  künstlerischer  Arbeit  überhaupt. 

Die  erste  Anregung  zu  eingehenderer  Beschäftigung 
mit  den  künstlerischen  Problemen  des  Diskuswerfers 

1)  Nach  einem  zur  Winckelmann-Feier  des  archäolo¬ 
gischen  Seminars  der  Universität  Leipzig  im  Dezember 
igo6  gehaltenen  Vortrage. 

Zeitsclirift.  für  bildende  Kunst.  N.  F  XVIII.  H.  cj 


gab  mir  —  so  seltsam  dies  klingen  mag  —  eine 
Darbietung  im  Varietetheater.  Unter  dem  Namen  der 
»Drei  Olympier«  nämlich  traten  in  Berlin  und  ander¬ 
wärts  drei  hervorragend  schön  gebaute  und  athletisch 
durchgebildete  junge  Männer  auf,  die  in  sehr  geschick¬ 
ter  Weise  plastische  Posen  und  Gruppen  stellten,  und 
zwar  mit  völlig  unbekleidetem  Körper,  der  nur,  wohl 
einem  hohen  Polizeipräsidium  zuliebe,  mit  einer  Bronze¬ 
farbe  »bedeckt«  war,  im  übrigen  aber  alle  Formen 
der  prachtvoll  gleichmäßig  entwickelten  Muskulatur 
zeigte.  Dabei  nun  war  eine  Darstellung  des  Diskus¬ 
werfers  nach  Myron  besonders  glücklich  und  forderte 
in  mehrfacher  Hinsicht  unmittelbar  zum  prüfenden 
Vergleich  mit  dem  Kunstwerk  selbst  heraus.  Eine 
freundlichst  überlassene  Photographie  danach,  und 
zwar  ohne  den  Bronzeanstrich  des  Körpers,  ist  hier 
abgebildet,  und  daneben  das  vatikanische  Exemplar 
des  Diskobolen,  weil  gerade  dieses,  obgleich  keines¬ 
wegs  die  beste  Wiederholung,  dem  Darsteller  zum 
Vorbild  gedient  hat.  Es  braucht  dabei  die  bekannte 
Tatsache  nur  gestreift  zu  werden,  daß  diese  aus  rö¬ 
mischer  Zeit  stammende  Marmornachbildung  des 
Bronzeoriginales  nicht  nur  ziemlich  verweichlicht  und 
verflaut  ist,  sondern  auch  in  dem  durch  Albagini 
restaurierten  Kopf  einen  wirklichen  Fehler  aufweist; 
er  ist  falsch  aufgesetzt  und  müßte  richtig  nach  rück¬ 
wärts  blicken,  wie  bei  dem  Exemplar  im  Palazzo 
Lancellotti  in  Rom,  was  klar  aus  dem  mangelhaften 
Übergang  vom  Rückgrat  zu  den  Halswirbeln  hervor¬ 
geht.  Doch  nicht  darauf  soll  es  hier  ankommen, 
sondern  auf  die  allgemeine  Frage  des  Verhältnisses 
zwischen  dem  lebenden  Geschöpf  und  dem  von  Künst- 


32 


DER  DISKUSWERFER 


230 


ABB.  2.  NATURAUFNAHME  IN  DER  STELLUNG  DES 
MYRONISCHEN  DISKUSWEREERS 


ABB.  3.  DISKUSWERFER  NACH  MYRON 
ROM,  VATIKAN 


lerhand  gebildeten  Werk  überhaupt,  jene  Frage,  der 
ich  in  meinem  Buche  »Naturprodukt  und  Kunstwerk« 
von  verschiedenen  Seiten  aus  näher  zu  kommen  ver¬ 
sucht  habe  und  die  mich  deshalb  auch  in  diesem 
Falle  besonders  anregen  mußte.  Und  darin  liegt  viel¬ 
leicht  der  größte  Wert  derartiger  »plastischer  Dar¬ 
stellungen«,  daß  sie  solchen  Vergleich  ermöglichen 
und  so  neben  der  Freude  am  schönen,  harmonisch 
durchgebildeten  nackten  Körper  auch  dazu  beitragen 
können,  den  leider  noch  immer  recht  darniederliegen¬ 
den  Sinn  für  die  Plastik  zu  wecken  und  zu  fördern, 
wenn  man  sie  recht  betrachtet.  Freilich  muß  dabei 
zunächst  der  in  begreiflicher  Übertreibung  gelegent¬ 
lich  hervortretenden  Auffassung  vorgebeugt  werden, 
als  ob  damit  nun  wirklich  schon  Kunstwerke  oder 
selbständige  künstlerische  Werte  geboten  würden. 
Denn  bei  aller  Ähnlichkeit  der  Stellung  und  aller 
Schönheit  und  Grazie  des  »Modells«  dürfen  doch 
auch  hier  die  fundamentalen  Unterschiede  zwischen 
Natur  und  Kunst  nicht  übersehen  oder  geleugnet 
werden.  Auf  den  ersten  Blick  ist  es  ja  wohl  ganz 
auffallend,  wie  streng  sich  der  antike  Meister  an  die 
Natur  gehalten  und  wie  richtig  er  die  Funktionen  und 
Veränderungen  der  Muskulatur  wiedergegeben  hat, 
so  namentlich  in  den  kräftig  modellierten  Teilen  der 
rechten  Schulter  und  des  Armes  oder  in  den  Falten 
des  eingebogenen  Leibes  und  der  Leisten,  im  Ansatz 
des  Brustkorbes  usw.  Aber  dabei  ist  doch  im  Ganzen 


eine  so  sichere  und  klare  Vereinfachung  und  künst¬ 
lerische  Stilisierung  der  Formen  vorgenommen  worden 
--  man  beachte  nur  z.  B.  wie  die  ruhigen  großen 
Flächen  der  Brust  hervorgehoben  sind  — ,  daß  die 
aufs  wesentliche  gerichtete,  verarbeitende  und  frei 
gestaltende  Tätigkeit  des  Künstlergeistes  unmittelbar 
vor  Augen  tritt.  Vor  allem  aber  ist  es  das  Bewe¬ 
gungsmotiv  als  solches,  worin  sich  dies  geltend  macht, 
und  da  eben  darin  der  Hauptreiz  der  Figur  liegt, 
muß  hierauf  etwas  näher  eingegangen  werden.  — 
Einige  Abweichungen  im  Einzelnen  sind  leicht  zu  er¬ 
kennen:  die  rechte  Hand  am  Diskus  greift,  mit  ab¬ 
gespreiztem  Daumen,  im  Kunstwerk  höher  hinauf  als 
in  der  gestellten  Pose,  die  Brust  ist  stärker  nach  vorn 
gewendet,  die  Beugung  des  ganzen  Körpers  und  be¬ 
sonders  der  Kniee  ist  tiefer,  der  linke  Fuß  ist  nicht 
ruhend  aufgestellt,  sondern  schleift  mit  gestreckten 
Zehen  lose  nach,  jener  berühmte  Zug,  von  dem  noch 
zu  reden  sein  wird.  Und,  was  die  Hauptsache  ist, 
der  fabelhaft  lebendige  Qesamteindnick  des  Kunst¬ 
werkes,  die  lebhaft  empfundene,  geradezu  momentane 
Bewegung,  kommt  in  der  Wiedergabe  durch  den 
wirklich  lebenden  Menschen  nicht  annähernd  zur  Vor¬ 
stellung,  ja  dieser  wirkt  statt  bewegt  vielmehr  leblos 
und  erstarrt.  Nun  ist  es  ohne  weiteres  einleuchtend, 
warum  eine  genaue  Nachahmung  der  Figur  auch  dem 
kräftigsten  Athleten  nicht  möglich  ist;  gerade  das  hohe 
Hinaufgreifen  am  Diskus,  die  starke  Drehung  und 


DER  DISKUSWERFER 


231 


Beugung  des  Körpers,  das  Ruhen  der  gesamten  Last 
auf  nur  einem  Fuß  wäre  selbst  auf  ganz  kurze  Zeit 
einfach  nicht  auszuhalten,  und  hierin  allein  schon 
zeigt  es  sich,  daß  für  einen  solchen  Vorwurf  dem 
Künstler  die  bloße  Kopie  auch  des  besten  Modells 
nichts  nützen  würde.  Aber,  so  könnte  man  fragen, 
liegt  die  Verschiedenheit  des  Eindruckes  vielleicht  nur 
an  den  aufgeführten  Einzelheiten,  die  das  ruhende 
Modell  eben  nicht  geben  kann,  und  würde  eine  Mo- 
mentaufnahme  der  Wirkung  des  Kunstwerkes  gleich¬ 
kommen?  Oder  liegen  auch  da  noch  tiefere  Unter¬ 
schiede  vor?  —  Es  lag  nahe,  gerade  hier  durch  einen 
Versuch  Gewißheit  zu  verschaffen,  und  das  gelang 
durch  die  bereitwillige  Unterstützung  seitens  einiger 
Herren  vom  Männerturnverein  München,  die  der  Frage 
aus  künstlerischen  wie  turnerischen  Gesichtspunkten 
das  gleiche  Interesse  entgegenbrachten,  und  denen  die 
oben  unter  a  bis  c  wiedergegebenen  Aufnahmen  zu 
verdanken  sind.  Im  Gegensatz  zu  dem  in  der  heutigen 
Leichtathletik  gebräuchlichen  Diskuswurf,  bei  dem  vor 
dem  Abschleudern  der  Scheibe  ein  Sprung  vorwärts 
und  eine  ganze  Umdrehung  des  Körpers  ausgeführt 
wird,  ist  hier  nach  Weise  der  Antike  aus  dem  Stand 
geworfen,  wie  es  auch  bei  den  olympischen  Spielen 
in  Athen  gehandhabt  wurde.  Der  Werfende  tritt  mit 
vorgestelltem  rechten  Fuß  an  und  hebt  mit  beiden 
Händen  den  Diskus  hoch  empor  (a);  dann  holt  er 
nach  rückwärts  zum  Schwünge  aus,  wobei  die  linke 
Hand  die  Scheibe  losläßt  und  der  linke  Arm,  das 
Gleichgewicht  haltend,  ausgestreckt  wird,  während  die 
Beine  zugleich  durch  die  Gewalt  des  Schwunges  ganz 
von  selbst  in  die  Kniebeuge  herabgerissen  werden  (b); 
endlich  schleudert  der  rechte  Arm  in  mächtiger  Be¬ 
wegung  den  Diskus  nach  vorwärts  und  läßt  ihn  fort¬ 
sausen,  der  gesamte  Körper  aber  folgt  dieser  Aus¬ 
lösung  der  Kräfte  in  lebhaftem  Absprung,  wobei  nun 
das  linke  Bein  mit  ausgestrecktem  Fuß  nachgezogen 
wird  (c).  Es  ist  wichtig,  sich  über  diesen  tatsäch¬ 
lichen  Vorgang  klar  zu  sein,  der  Jedem,  der  ihn  nur 
einmal  in  Wirklichkeit  gesehen  hat,  sofort  einleuchtet. 
Frühere  irrige  Auffassungen,  wie  die,  daß  der  myro- 
nische  Diskoboi  im  Anlauf  begriffen  sei  und  plötz¬ 
lich  einhalte,  werden  dadurch  überzeugend  widerlegt. 
Die  mittelste  der  Aufnahmen  aber  gibt  nun  Antwort 
auf  unsere  eigentliche  Frage,  wenn  wir  sie  mit  dem 
Kunstwerk  vergleichen.  Gewiß  zeigt  auch  sie  wieder, 
wie  »richtig«  und  »naiurwahr«  der  Diskobo!  in 
vielen  Stücken  ist,  und  wie  gut  ein  Myron  die  blitz¬ 
schnell  vergehende  Bewegung  zu  beobachten  wußte, 
Jahrtausende  vor  Erfindung  der  Momentphotographie. 
Auch  sind  Vv^irklich  die  Abweichungen  im  Einzelnen, 
die  das  ruhende  Model!  aufwies  und  aufweisen  mußte, 
zum  Teil  hier  nicht  vorhanden;  die  rechte  Hand  faßt 
den  Diskus  ganz  von  oben,  der  Körper  ist  stärker 
gedreht,  die  Beine  sind  tiefer  gebeugt.  Aber  das 
Ganze  wirkt  trotz  alledem  längst  nicht  so  wahrschein¬ 
lich  und  selbstverständlich  wie  im  Kunstwerk,  ja  es 
erscheint  fast  bizarr  mit  den  eckigen  und  grätsdiigen 
Stellungen  der  Glieder,  die  der  Apparat  wahllos  er¬ 
schnappt  hat.  So  wenig  wie  das  ruhende  Modell 
hätte  also  auch  die  Momentaufnahme  zur  unmittel¬ 


baren  Übertragung  in  das  Kunstwerk  dienen  können. 
Die  wundervoll  geschwungene  Biegung  des  Disko¬ 
bolen,  die  Amelung  mit  Recht  einem  gespannten 
Bogen  vergleicht,  ist  nicht  allein  zur  Augenfreude 
oder  dem  geschlossenen  Umriß  der  Figur  zuliebe  da, 
sondern  erweckt  zugleich,  indem  wir  ihr  mit  den 
Augen  folgen,  in  uns  selbst  die  Empfindung  der  Be¬ 
wegung,  und  mit  der  Anmut  ist  auch  der  künstle¬ 
rischen  Wahrheit  Genüge  getan.  Ein  wesentlicher 
Punkt  aber  ist  dabei  noch  nicht  berücksichtigt:  der 
linke  Fuß,  den  der  Künstler  so  köstlich  nachschleifen 
läßt,  steht  im  Momentbilde  mit  umgebogenen  Zehen 
fest  auf  dem  Boden,  und  —  die  Naturaufnahme  hat 
Recht!  Dieses  Nachschleifen  des  Fußes  nämlich,  das 
gerade  so  charakteristisch-momentan  wirkt  und  den 
Eindruck  der  flüchtigen  Bewegung  so  lebhaft  unter¬ 
stützt,  ist  in  Wirklichkeit  nicht  gleichzeitig  mit  dem 
weitesten  Ausholen  des  Armes,  sondern  kommt  erst 
etwas  später,  im  Übergang  zum  Absprung  (c).  Da¬ 
mit  wäre  denn  geradezu  in  augenfälliger  Darstellung 
erwiesen,  daß  es  für  die  Wiedergabe  einer  Bewegung 
in  der  Kunst,  trotz  Lessing,  mit  der  Abschrift  eines 
einzelnen  Momentes  nicht  getan  ist,  selbst  wenn  er 
der  »fruchtbarste«  ist,  weil  eben  der  Künstler  mit 
vollem  Rechte  mehrere  Momente  in  seinem  Werk 
kombiniert  und  verschmilzt,  wie  es  auch  unser  Auge 
und  noch  mehr  unsere  Vorstellung  tut.  Ja  es  ist  der 
Kunst  dadurch  möglich,  in  gewissem  Sinne  das  zeit¬ 
liche  Nacheinander  im  räumlichen  Nebeneinander  dar¬ 
zustellen,  wiederum  trotz  Lessing.  Gerade  hierauf 
beruht  beim  Diskobo!  ganz  wesentlich  der  lebendige 
Eindruck,  daß  nicht  ein  vereinzeltes  Stadium  der  Be¬ 
wegung  herausgerissen,  sondern  der  gesamte  Vorgang 
empfunden  und  zur  Empfindung  gebracht  ist:  eben 
holt  er  aus  —  und  schon  ist  er  weiter!  Selbstver¬ 
ständlich  behält  auch  mit  dieser  kleinen  Einschränkung 
der  Satz  vom  »fruchtbarsten  Moment«  seine  Bedeutung, 
und  auch  Myron  hat  nicht  vergebens  den  Augenblick 
des  weitesten  Ausholens  mit  dem  Arm  gewählt,  um 
die  Bewegung  recht  eindringlich  zu  machen.  Der 
Vergleich  mit  dem  Uhrpendel,  bei  dem  auch  stets  die 
weiteste  Abweichung  von  der  Senkrechten  dargestellt 
wird,  ist  bekannt.  Es  ist  in  diesem  Augenblick  so 
viel  gesammelte  Kraft,  so  viel  latente  Bewegung  in 
dem  Körper  aufgespeichert,  daß  wir  ihn  wirklich  im 
nächsten  Moment  emporschnellen  zu  sehen  meinen, 
und  jedenfalls  ist  diese  Phase  des  Vorganges  aus¬ 
drucksvoller  und  anregender  zu  Bewegungsvorstel- 
lungen  als  die  dritte  (c),  bei  der  sich  die  Spannung 
nun  gelöst  hat  und  sich  die  Bewegung  erst  recht 
eigentlich  vollzieht.  Nicht  darauf  kommt  es  in  der 
Kunst  an,  daß  eine  Hand  wirklich  greife,  sondern 
man  muß  ihr  nur  glauben,  daß  sie  greifen  könne, 
nicht  darauf,  daß  der  Fuß  wirklich  springt,  sondern 
daß  er  springen  könne. 

Wie  richtig  im  Besonderen  übrigens  auch  der 
nachschleifende  Fuß  des  Diskobolen  beobachtet  ist, 
erweist  in  Ermangelung  der  betreffenden  Aufnahme 
beim  Diskuswurf  eine  entsprechende  Momentphoto¬ 
graphie  von  Ottomar  Anschütz  nach  einem  jungen 
Speerwerfer.  Auch  hier  erfolgt  dieses  Durchziehen 

3^* 


232 


DER  DISKUSWERFER 


des  Fußes 
erst  nach  er¬ 
folgtem 
Wurf,  und 
es  sieht  tat¬ 
sächlich  ge¬ 
nau  so  leicht 
und  elegant 
aus,  wie  es 
Myron  in 
der  Erinne¬ 
rung  festzu- 
halten  ge¬ 
wußt  hat. 
Überhaupt 
ist  diese  Auf¬ 
nahme  recht 
wohl  zum 
Vergleich 
mit  dem  Dis¬ 
kuswerfer 
heranzuzie¬ 
hen,  auch  für 
die  Armhal¬ 
tung,  und  sie  bietet  zugleich  einen  besonders  an¬ 
mutigen  geschossenen  Umriß. 

Wie  wir  sahen,  daß  Myrons  Werk  weder  die  Nach¬ 
bildung  eines  kunstvoll  gestellten  Modells  noch  die 
mechanische  Erfassung  eines  einzigen  Augenblickes 
bedeutete,  sondern  das  lebendige  Resultat  fortgesetzter 
Anschauung  und  eine  Summe  unzähliger  wohlbe¬ 
wahrter  Erinnerungsbilder,  so  hat  es  nun  andererseits 
geradezu  dafür  benutzt  werden  können,  um  den  alten 
griechischen  Diskuswurf  zu  neuem  Leben  zu  erwecken. 
Denn  bei  den  olympischen  Spielen  in  Athen  hat  tat¬ 
sächlich  der  Diskoboi  als  Vorbild  und  Richtschnur 
für  die  Stellung  beim  Werfen  dienen  können,  gewiß 
ein  klassischer  Beweis  für  die  dem  Kunstwerk  inne¬ 
wohnende  unvergängliche  Lebenskraft.  Besonders  der 
zweite  Sieger,  ein  Grieche,  hatte  sich  mit  dem  Be¬ 
wegungsmotiv  der  Figur  so  vertraut  gemacht,  daß 
er  es  beim  Wurf  ziemlich  genau  beibehielt  und  aus¬ 
gezeichneten  Erfolg  damit  hatte.  Eine  Aufnahme 
nach  ihm  zeigt  die  große  Ähnlichkeit  der  Stellung, 
jenen  interessanten  Chiasmus  der  Glieder,  der  für 
diese  bezeichnend  ist,  aber  auch  den  fest  aufgesetzten 
linken  Fuß  als  bemerkenswerteste  und  nach  dem  Vor¬ 
angegangenen  verständliche  Abweichung  gegenüber 
der  Figur.  Besonders  lehrreich  aber  ist  diese  Auf¬ 
nahme  dadurch,  daß  sie  nicht  scharf  von  der  Seite, 
sondern  etwas  von  vorn  genommen  ist,  und  sie  führt 
uns  dadurch  auf  eine  weitere  künstlerische  Frage,  die 
sich  an  den  Diskuswerfer  knüpft.  Die  Klarheit  und 
Deutlichkeit  des  Vorganges  nämlich  geht  in  dieser 
Ansicht  zweifellos  zum  Teil  verloren,  die  Arme  und 
Beine  überschneiden  und  bedecken  sich  in  unklarer 
Weise,  das  Ausholen  mit  dem  Diskus,  die  Wendung 
der  Brust  kommt  längst  nicht  so  kräftig  und  aus¬ 
drucksvoll  zur  Anschauung.  Auf  volle  Seitenansicht 
also  ist  das  Motiv  und  ist  auch  die  Figur  berechnet, 
und  wenn  wir  sie  daraufhin  nochmals  betrachten,  so 


ABI!.  4.  SPEERWERFER  NACH  DEM  WURF 
Momentaufnalime  von  Ottoinar  Anscliütz 


sehen  wir  sogar,  daß  sie  auch  in  dieser  Hinsicht  eine 
offenbare  und  bewußte  Steigerung  erfahren  hat.  Denn 
insbesondere  die  starke  Wendung  der  Brust  dient 
keinem  anderen  Zweck  als  der  schärfsten  Betonung 
dieser  Seitenansicht,  der  Ausbreitung  aller  Teile  in 
einer  Fläche,  so  daß  sie  in  einem  einheitlichen  Ge- 
sichtsbild  deutlich  und  restlos  zusammengefaßt  werden 
können.  Es  ist  eine  -Reliefaiif/assnng«  auch  der 
vollrunden  Plastik,  die  der  Kunst  der  »Goldenen  Zeit 
eigen  war  und  auch  später  immer  wieder  siegreich 
aus  der  Vergessenheit  auftauchte.  Deshalb  konnten 
die  Griechen  ganz  nnbedenklich  so  oft  die  gleichen 
Motive  in  Freiplastik  und  in  fvelief  darstellen,  ohne 
der  Wirkung  viel  zu  nehmen;  es  ist  bekannt,  wie 
zahlreiche  Statuen  z.  B.  auf  Münzen  sich  wieder¬ 
gegeben  finden,  und  auch  der  Diskoboi  ist  in  dieser 
Weise  verwendet  worden.  Ja  bei  der  Bedeutung,  die 
in  dieser  Auffassung  der  Plastik  naturgemäß  der  Um¬ 
riß,  die  Silhouette  gewinnt,  kann  sogar  die  engste 
Wechselbeziehung  mit  der  flächigen  Kunst  der  Vasen¬ 
malerei  bestehen.  Auch  hier  spielt  der  Diskoboi 
seine  Rolle,  wofür  sich  mancherlei  Beispiele  anführen 
ließen.  Selbstverständlich  mußte  diese  Berechnung 
auf  eine  Hauptansicht  auch  auf  die  Aufstellung  der 
Figur  zurückwirken,  wie  umgekehrt  in  der  Verbin¬ 
dung  mit  der  Architektur  die  stärkste  Anregung  zur 
Reliefauffassung  der  Freiplastik  liegen  kann,  znm  Bei¬ 
spiel  in  den  Giebelgruppen  usw.  Eine  Aufstellung 
also,  die  hierauf  nicht  Rücksicht  nimmt,  ist  falsch, 
weil  der  künstlerischen  Idee  des  Werkes  widersprechend, 
lind  falsch  ist  ebenso  eine  photographische  Aufnahme, 
bei  der  auf  diesen  wichtigen  Umstand  nicht  geachtet 
wurde.  So  verhält  es  sich  beispielsweise  mit  der 
nebenstehenden  Ansicht  des  so  ängstlich  gehüteten 
Diskoboi  Lancellotti,  dessen  eigensinnigem  Besitzer 
durch  den  neuen  Fund  von  Castel  Porziano  sein 
ganzer  Trumpf  aus  der  Hand  genommen  ist.  Diese 
Photographie 
hat,  in  der  wohl¬ 
gemeinten  Ab¬ 
sicht,  das  Ge¬ 
sicht  voll  zu 
zeigen,  die  Ge¬ 
samtwirkung 
der  Figur  gänz¬ 
lich  aufgehoben, 
während  gerade 
der  Kopf  nicht 
für  die  Ansicht 
en  face  berech¬ 
net  ist,  ja  ge¬ 
wisse  Verschie¬ 
bungen  und  Un¬ 
regelmäßigkeiten 
aufweist,  die  in 
der  Seitenansicht 
verschwinden. 

Ein  Vergleich 
mit  der  Abbil- 

,  ,  ABB.  5.  MOMENTAUFNAHME  EINES  DISKUS- 

dung  des  vati-  werfers  von  den  olympischen 
kanischen  Exem-  spielen  in  athen 


DER  DISKUSWERFER 


233 


plars  zeigt  deutlich,  wie  hier  die 
ganze  Klarheit  und  Eindringlich¬ 
keit  verloren  gegangen  ist;  der 
Arm  mit  dem  Diskus  verkürzt 
sich  und  wird  dadurch  weniger 
ausdrucksvoll,  ebenso  der  linke 
Arm,  und  die  Drehung  des  Kör¬ 
pers  erhält  im  Verhältnis  zu  den 
Beinen  etwas  Gezwungenes,  so 
daß  die  Figur  verzerrt  und  ver¬ 
zeichnet  wirkt  und  fast  umzu¬ 
fallen  scheint.  Das  linke  Bein 
schiebt  sich  unklar  hinter  das 
rechte,  und  statt  des  schönen 
schlank  nachschleifenden  Fußes 
sieht  man  eine  häßliche  breite 
Sohle.  In  der  Aufnahme  des 
vatikanischen  Diskuswerfers  da¬ 
gegen  kommt  alles  voll  zur  Gel¬ 
tung  und  die  Funktion  aller 
Glieder  tritt  in  höchster  Klarheit 
vor  Augen,  eben  weil  die  Relief¬ 
auffassung  der  Figur  richtig 
verstanden  und  bei  der  Wahl 
des  Standpunktes  berücksichtigt 
wurde.  Besonders  mag  auf  die 
prachtvolle  Parallele  der  beiden 
Oberschenkel  hingewiesen  sein, 
die  sich  bei  dieser  Ansicht  er¬ 
gibt  und  die  wohl  zweifellos, 
abgesehen  von  der  Deutlichkeit, 
zur  ästhetischen  Wirkung  der  Fi¬ 
gur  gehört.  Es  sei  hierbei  ein 
Seitenblick  auf  eine  andere  An¬ 
tike  gestattet,  auf  jenen  entzücken¬ 
den  Knabentorso  in  der  Mün¬ 
chener  Glyptothek,  dem  man  den 
Namen  des  llioneus  gegeben  hat. 

Die  Beugung  und  Drehung  des 
Rumpfes  hat  eine  gewisse  Ver¬ 
wandtschaft  mit  dem  Diskoboi, 
namentlich  aber  ist  auch  hier 
zweifellos  die  Hauptansicht  auf 
eine  ähnliche  Parallele  der  Schen¬ 
kel  berechnet,  wobei  sich  die 
Brust  dem  Beschauer  zudreht. 

Trotzdem  ist  es  unmöglich,  eine 
solche  Aufnahme  zu  bekommen, 
die  allein  auch  die  Stellung  der 
Beine  klar  vor  Augen  führen 
würde,  und  man  muß  sich  mit 
der  hier  abgebildeten  begnügen, 
die  ganz  unleidliche  Verkürzun¬ 
gen  und  Verdeckungen  aufweist.  Es  gibt  allerdings 
noch  eine  Rückenansicht,  und  diese  entspricht  ungefähr 
dem  Gegenpol  der  eigentlich  erforderlichen  Aufnahme, 
trifft  also  doch  wenigstens  die  richtige  Achse.  So 
führte  die  Betrachtung  des  Diskuswerfers  auch  auf 
die  Frage,  wie  man  eine  Statue  photographieren  soll, 
worüber  Heinrich  Wölfflin  in  dieser  Zeitschrift  (N.  F. 
VII.  Jahrg.)  ausführlicher  gehandelt  hat. 


ABB.  6.  DISKUSWERFER  NACH  MYRON.  ROM,  PALAZZO  LANCELLOTTI 


Der  Reliefauffassung  der  Plastik  ist  bekanntlich 
gerade  in  unseren  Tagen  ein  hochbedeutender  und 
erfolgreicher  Vorkämpfer  in  Adolf  Hildebrand  er¬ 
standen,  der  nicht  nur  praktisch  durch  seine  Arbeiten, 
sondern  auch  theoretisch  in  seiner  grundlegenden  Schrift 
über  das  Problem  der  Form  dafür  eintritt.  Sein  »Ku¬ 
gelspieler  kann  in  dieser  Beziehung  gern  als  ein 
modernes  Gegenstück  zum  Diskuswerfer  betrachtet 


234 


DER  DISKUSWERFER 


ABB.  7.  ILIONEUS.  MÜNCHEN,  GLYPTOTHEK 


werden,  denn  auch  bei  ihm  sind  alle  Formen  deut¬ 
lich  in  einer  Fläche  ausgebreitet  und  geben  in  einer 
fest  bestimmten  Hauptansicht  das  klarste  Bild  der  sich 
vollziehenden  Funktionen.  Dabei  ist  die  Figur,  wie 
auch  der  Diskoboi,  durchaus  nicht  etwa  eine  klein¬ 
liche  und  pedantische  Übertreibung  des  Prinzipes, 
sondern  gestattet  innerhalb  des  maßgebenden  Gesetzes 
genügende  Freiheit,  wie  denn  der  linke  Arm  des 
Kugelspielers  als  weniger  wichtig  sich  schräg  in  eine 
beschattete  Tiefe  verliert.  Der  grundsätzliche  Zusammen¬ 
hang  der  antiken  und  der  modernen  Figur  leuchtet 
gewiß  jedermann  ein,  aber  es  ist  nicht  das  Äußerliche 
der  alten  Kunst  übernommen,  sondern  ihr  Geist  er¬ 
faßt,  der  ein  echt  plastischer  Geist  war,  und  es  ist 
durchaus  verfehlt,  ein  solches  Werk  antikisierend  oder 
klassizistisch  zu  nennen,  wie  es  die  Menge,  vom  Sujet 
verlockt,  so  gern  tut,  ohne  sich  überhaupt  die  Mühe 
genauer  Betrachtung  im  Einzelnen  zu  nehmen.  Geistes¬ 
verwandtschaft  ist  keine  Nachahmung,  und  die  frei¬ 
willige  Unterwerfung  unter  ein  als  richtig  erkanntes 
Gesetz  tut  der  künstlerischen  Freiheit  und  Selbständig¬ 
keit  keinen  Abbruch. 

Wie  dagegen  selbst  das  gleiche  Motiv,  aus  einem 
veränderten  Geist  heraus  umgeschaffen,  zu  etwas  ganz 
Anderem  wird,  zeigt  eine  Bronzestatuette  aus  helleni¬ 
stischer  Zeit  im  Münchener  Antiquarium,  die  unseren 
Diskuswerfer  in  sehr  merkwürdig  veränderter  Gestalt 
vorführt  und  damit  eine  weitere  interessante  kunst¬ 
psychologische  Frage  anregt.  Die  Stellung  im  Ganzen 


ist  geblieben,  aber  jede  Form  im  Einzelnen  und  da¬ 
mit  doch  auch  der  gesamte  Eindruck  ist  anders  ge¬ 
worden.  Da  fehlt  völlig  die  in  Myrons  Figur  bei 
aller  Lebhaftigkeit  des  Bewegungsmotives  doch  vor¬ 
herrschende  Ruhe  und  Einfachheit  der  Formengebung, 
alles  ist  übertrieben,  barock,  die  Muskulatur  geschwollen, 
das  Gesicht  erregt  verzerrt,  das  Haar  in  derbe  Locken 
aufgelöst.  So  empfand  man,  ja  so  sah  man  damals 
den  Diskoboi,  dessen  vornehme  Ruhe  einer  nervösen 
Zeit  nicht  mehr  verständlich  war,  einer  Zeit,  deren 
eigene  Kunst  weniger  auf  die  Form  als  solche,  als 
vielmehr  auf  Ausdruck  um  jeden  Preis  ging  —  und 
wer  müßte  dabei  nicht  an  gewisse  Erscheinungen 
unserer  eigenen  Zeit  denken? 

Es  wäre  sehr  interessant  zu  wissen,  wie  wohl 
spätere  Geschlechter,  das  Mittelalter  und  die  Renais¬ 
sance,  den  Diskuswerfer  in  ihrer  Weise  umgebildet 
haben  würden,  wie  das  bei  anderen  Antiken,  z.  B. 
dem  Dornauszieher,  dem  Laokoon  und  anderen  zu 
beobachten  ist.  Leider  kann  davon  beim  Diskoboi 
nicht  die  Rede  sein,  da  die  vollständiger  er¬ 
haltenen  Exemplare  erst  gegen  Ende  des  i8.  Jahr¬ 
hunderts  wieder  aufgefunden  worden  sind.  Ein  arg 
verstümmelter  Torso  zwar  befand  sich  schon  in  der 
zweiten  Hälfte  des  17.  Jahrhunderts  am  Tageslicht 
und  kam  in  den  Besitz  des  französischen  Bildhauers 
Etienne  Monnot;  wie  gründlich  dieser  aber  den  künst¬ 
lerischen  Vorwurf  mißverstand,  beweist  seine  nach 
Sitte  der  Zeit  rücksichtslos  am  Original  selbst  vorge¬ 
nommene  Ergänzung  als  »stürzender  Krieger  ,  die 
sich  jetzt  im  kapitolinischen  Museum  in  Rom  befindet. 
Es  ist  trübselig  zu  sehen,  was  da  aus  dem  armen 
Diskuswerfer  geworden  ist,  besonders  wie  die  Füße 
haltlos  und  unorganisch  an  die  Plinthe  geklebt  scheinen 
und  das  sonst  freischwebende  Knie  eine  unsinnige 


ABB.  8.  ADOLF  HILDEBRAND,  KUGELSPIELER 


DER  DISKUSWERFER 


235 


Stütze  erhalten  hat.  Die  Wendung  des  Kopfes  aller¬ 
dings  ist  hier  schon  richtig  erraten.  Uebrigens  war 
auch  die  Bronzestatuette  des  Münchener  Antiquariums 
früher  unrichtig,  nämlich  als  sitzende  Figur,  aufgefaßt 
und  dementsprechend  aufgestellt.  Die  Wiedergaben 
des  Diskuswerfers  in  den  älteren  Kupferwerken  über 
die  römischen  Antiken  sind  nicht  wichtig  genug,  um 
hier  näher  auf  sie  einzugehen,  obwohl  auch  sie  in 
ihrer  klassizistischen  Umrißmanier  oft  recht  bezeich¬ 
nend  für  die  Auffassung  ihrer  Zeit  vom  Wesen  antiker 
Kunst  sind.  Besonders  amüsant  ist  aber  eine  Wieder¬ 
holung  der  Figur  in  Altwiener  Porzellan  aus  der 
Kaiserlichen  Manufaktur,  und  zwar  von  der  Hand 
eines  Anton  Grassi,  der  1755 — 1807  lebte  und  von 
der  Direktion  nach  Italien  geschickt  war,  um  seinen 
Geschmack  an  der  Antike  zu  bilden«.  Die  Nach¬ 
bildung  muß  also  ziemlich  bald  nach  der 
Wiederauffindung  der  Figur  gemacht  wor¬ 
den  sein  und  ist  ein  Dokument  dafür,  wie 
diese  auf  die  damalige  Welt  wirkte.  Da 
ist  eine  elegante  weiche  Nippfigur  daraus 
geworden,  ein  Eindruck,  zu  dem  das  Ma¬ 
terial  des  Porzellanes  und  die  leichte  Be¬ 
malung  nicht  unwesentlich  beiträgt.  Es 
herrscht  noch  eine  zierliche  Rokokoemp¬ 
findung  vor,  und  doch  merkt  man  wohl, 
wie  der  Künstler  bestrebt  war,  die  Formen 
klassisch  zu  »veredeln«,  was  ihm  gewiß 
im  Grunde  gar  nicht  lag.  So  konnten 
wir  auf  Grund  dieses  Figürchens  wenig¬ 
stens  andeuten,  wie  alle  Zeiten  die  ver¬ 
gangene  Kunst  mit  verschiedenen  Augen 
ansehen,  und  wir  selbst  müssen  wohl,  bei 
allem  Stolz  auf  unsere  wissenschaftlich¬ 
historische  und  vom  photographischen 
Apparat  unterstützte  Objektivität  schlie߬ 
lich  gestehen,  daß  auch  wir  in  dieser 
Hinsicht  nicht  ganz  frei  sind.  Es  ist  eben 
doch  nicht  gleichgültig  für  das  Kunst¬ 
empfinden  einer  Generation,  ob  ihr  die 
Antike  soeben  durch  Canova  und  Thor- 
waldsen  in  kühler,  abstrakter  Ferne  gezeigt 
worden  ist,  oder  ob  ein  Böcklin  und 
Hildebrand  sie  in  lebensvolle,  greifbare 
Nähe  rückten.  Und  bei  alledem  ist  die  viel¬ 
geschmähte  archäologische  Wissenschaft 
auch  für  das  rein  künstlerische  Verständnis 
der  antiken  Werke  nicht  so  ganz  ohne 
Verdienst  gewesen,  als  dies  von  mancher 
Seite  gern  dargestellt  wird.  Archäologen 
sind  es  gewesen,  die  gegen  die  üblen 
Ergänzungsversuche  an  den  Originalen 
selbst  aufgetreten  sind,  und  Verballhor¬ 
nungen  wie  der  »stürzende  Krieger  wer¬ 
den  kaum  wieder  möglich  sein,  wie  das 
Verfahren  Rizzos  bei  dem  neuen  Diskoboi 
im  Thermenmuseum  erhoffen  läßt.  Jeden¬ 
falls  kann  behauptet  werden,  daß  die  Figur 
durch  diese  Ergänzung  im  Gips  in  ver¬ 
ständnisvollster  Weise  ihrer  ursprünglichen 
Gestalt  wieder  so  nahe  gebracht  worden 


ist  wie  nur  irgend  möglich,  und  die  Wirkung 
wird  noch  getreuer  sein,  wenn  man  einmal  einen 
solchen  Abguß  bronzieren  wird,  wie  es  in  München 
und  anderwärts  mit  Abgüssen  des  vatikanischen 
Exemplares  unter  Anfügung  des  Lancellotti-Kopfes 
versucht  worden  ist.  Ein  solcher  bronzierter  Ab¬ 
guß  ist  auch  hier  auf  besonderem  Blatte  abgebildet 
nach  der  schönen  Furtwänglerschen  Aufnahme  in 
den  Brunn  -  Bruckmannschen  Denkmälern,  weil  er 
am  besten  den  ganz  anderen  Eindruck  vergegen¬ 
wärtigt,  den  das  Bronzeoriginal  in  seiner  dunklen 
Färbung  mit  reizvollen  Lichtern  und  Schatten  und 
ohne  den  störenden  Notbehelf  der  Stütze  hervorrief. 
Es  ist  bekannt,  daß  Formen  von  gleichem  Maß  in 
Bronze  knapper  und  schlanker  aussehen  als  in  Stein, 
und  da  das  Original  eine  Bronze  war,  so  kann  selbst 


ABB.  (J.  DISKUSWERFER.  ROM,  BRONZESTATUETTE.  MÜNCHEN,  ANTIQUARIUM 
Nach  einer  Anfnalime  der  Verlagsanslall  F.  Bruckiiiaiin 


236 


DER  DISKUSWERFER 


ABB.  III.  DISKUSWERFER,  ALS  STÜRZENDER  KRIEGER  ERGÄNZT 
ROM,  KAPITOLINISCHES  MUSEUM 


die  exakteste  Wiederholung  in  Marmor  ihm  in  der 
Wirkung  nicht  ganz  gleichkommen.  Ein  in  dieser 
Weise  behandelter  Abguß  aber  ist  von  geradezu 
frappanter  Lebendigkeit,  namentlich  wenn  noch  die 
Augen,  wie  Studniczka  es  in  Leipzig  gemacht  hat, 
hell  gelassen  sind,  wie  wenn  sie,  nach  antikem  Brauch, 
eingesetzt  wären.  Diese  Wechselwirkung  von  Material 
und  Stil  mußte  wenigstens  gestreift  werden,  um  den 
Kreis  der  künstlerischen  Fragen  zu  schließen,  die  sich 
an  den  Myronischen  Diskoboi  knüpfen,  und  es  ergibt 
sich  noch  etwas  Weiteres  daraus.  Es  lag  nahe,  daß 
bei  häufigerer  Wiederholung  in  Marmor  allmählig  die 
strenge  Anlehnung  an  alle  Einzelformen  des  Bronze¬ 
originales  verloren  ging  und  einer  mehr  marmor¬ 
gemäßen  Behandlung  wich.  Die  älteren  Kopien  sind 
daher  getreuer  und  historisch  richtiger,  aber  eigentlich 
ein  stilistisches  Mittelding,  während  die  späteren  flauer 
und  unzuverlässiger,  aber  rein  als  Marmorwerke  be¬ 
trachtet  unmittelbar  genießbarer  sein  können,  was 
leicht  zu  falschen  Vorstellungen  führen  könnte.  Der 
bronzierte  Abguß  der  nach  unserem  Wissen  genauesten 
Kopie  muß  somit  auch  aus  diesem  Grunde  als  ein 
wesentliches  und  schätzbares  Hilfsmittel  zur  Erweckung 
des  ursprünglichen  Eindruckes  gelten,  da  das  kostbare 
Original  wohl  für  immer  verloren  bleiben  wird. 

Ein  einzelnes  Kunstwerk  bot  die  mannigfaltigste 
Gelegenheit,  den  verschiedenen  künstlerischen  Proble- 


ABB.  II.  DISKUSWERFER 
PORZELLANFIGUR  VON  ANTON  ORASSI 


men,  die  ihm  zugrunde  liegen,  sorgsam  nachzugehen, 
und  einiges  neue  anschauliche  Bildermaterial  konnte 
vergleichend  dafür  beigebracht  werden.  Die  Fragen 
nach  dem  Verhältnis  von  Natur  und  Kunst,  nach  der 
Darstellung  der  Bewegung  im  Kunstwerk,  nach  der 
Reliefauffassung  der  Plastik,  dem  Wechsel  des  künst¬ 
lerischen  Zeitgeistes  und  der  Beziehung  zwischen 
Material  und  Stil  traten  nach  einander  hervor  und 
forderten  zur  Beantwortung  auf,  die  sich  stets  unge¬ 
zwungen  aus  dem  Kunstwerk  selbst  ergab.  In  solcher 
gewiß  nicht  unfruchtbaren  Betrachtungsweise  mögen 
sich  mehr  und  mehr  die  Archäologen  und  die  Ver¬ 
treter  der  neueren  Kunstwissenschaft  zusammenfinden, 
und  sie  werden  es  tun,  wenn  sie  stets  von  den  Werken 
selbst  den  Ausgang  nehmen  und  über  der  Wissen¬ 
schaft  die  Kunst  nicht  vergessen.  Denn  bei  ver¬ 
ständnisvoller  Handhabung  kann  die  ernste  Forschung, 
wie  wir  sahen,  sehr  wohl  dazu  beitragen,  uns  der 
Kunst  unmittelbar  näher  zu  bringen,  und  diesem 
Zwecke  mag  vielleicht  auch  die  spezielle  Betrachtung 
des  Diskuswerfers  zu  einem  bescheidenen  Teile  dienen. 


Herausgeber  und  verantwortliche  Redaktion:  E.  A.  Seemann,  Leipzig,  Qiierslralte  13 
Druck  von  ERNST  Hedricii  Nachf.  o.  m.  b.  h.  Leipzig 


f 


LIEBEE  MANN 


MAX  LIEBERMANN  DER  HAMBURGER  PROFESSOREN-KON VENT 

MAX  LIEBERMANN 

ZUM  SECHZIGSTEN  GEBURTSTAGE 


WAS  ist  wohl  das  Schönste  an  Liebermanns  Per¬ 
sönlichkeit?  Ich  glaube:  daß  er  mit  sechzig 
Jahren  noch  Bilder  malt,  über  die  man  strei¬ 
ten  kann.  Bei  wie  Vielen,  die  wir  miterlebt  haben, 
ist  das  der  Eall?  Wer  macht  noch,  wenn  er  vierzig 
Jahre  Arbeit  und  zwanzig  Jahre  Ruhm  hinter  sich 
hat,  etwas  anderes,  als  jahraus  jahrein  »echte«  Werke 
in  seiner  bekannten  Art«?  — 

Und  nun  erst  das  Erstaunlichste:  Die  jüngsten 
Bilder  sind  bei  Liebermann  auch  stets  die  reifsten 
und  —  jüngsten.  Als  man  die  Erüchte  seines  letzten 
Sommers  bei  Cassirer  ausgestellt  sah,  diese  mit  einem 
Nichts  an  Technik  geschaffenen  Impressionen  von 
Düne  und  Meer,  da  verblaßte,  vergraute,  vertrübte  sich 
im  Gedächtnisse  die  ganze  lange  Reihe  seiner  Werke 
vor  so  viel  Erische,  so  viel  Wahrheit,  so  viel  Sonne. 
Das  war  ja  auch  das  Leitmotiv  seiner  malerischen  Ent¬ 
wickelung,  der  Sonne  nach  und  immer  nach  zu  streben. 
Nec  Soli  cedit 

Wie  selten  aber  paart  sich  dem  Streben  auch  die 
Kraft  der  Ausdauer;  wenn  berühmte  Künstler  begraben 
sind,  und  Gedächtnisausstellungen  veranstaltet  werden, 
so  ergibt  sich  meist  ein  schon  typisch  gewordenes 
Urteil:  »Herrgott!  wie  famos  und  frisch  hat  der  Mann 
angefangen!  wer  hätte  der  glatten,  ausgeschriebenen 
Atelierhand  solche  unbefangen  lichtwahren  Jugend¬ 
arbeiten  zugetraut'  .  Liebermann  aber  ist  einer  von 
denen,  die  sich  nicht  unterkriegen  lassen.  Das  ist 
sein  Stolz. 


Viele  können  es  ihm  nicht  verzeihen,  daß  er  auf 
der  von  ihnen  anerkannten  und  genehmigten  Stufe 
seiner  Leistungen  nicht  stehen  geblieben  ist.  Und 
vergessen  doch  ganz,  daß  sie  diese  von  ihnen  heute 
mit  einem  vielsagenden  »Ja,  damals!«  hochgehaltenen 
Werke  einst  gerade  so  verlacht  und  verlästert  haben. 
Jahrelang  hat  der  Bürgermeister  Petersen  mit  einem 
Vorhang  bedeckt  in  der  Hamburger  Kunsthalle  hängen 
müssen,  weil  das  Bild  gar  zu  scheußlich  war.  Nun 
ward’s  enthüllt  und  schaut  mit  altmeisterlicher  Über¬ 
legenheit  auf  sein  jüngstes  Geschwister,  den  Profes¬ 
sorenkonvent.  Dem  Künstler  wäre  es  leichter  gefallen, 
so  ein  gediegenes  Porträt  nach  dem  anderen  zu  malen, 
ein  holländisches  Waisenhaus,  und  wieder  eines,  lauter 
»echte  Liebermanns«,  und  sich  einen  guten  Tag  zu 
machen.  Er  hat  das  bessere  Teil  erwählt  und  — 
läßt  die  Kläffer  kläffen. 

So  viel  aber  sollte  jedem  deutlich  sein,  wenn  er  diese 
Persönlichkeit  und  ihre  bald  vierzigjährige  Leistung 
überblickt:  der  Mann  weiß,  was  er  will.  Er  hat 
unsere  widerstrebende  Empfindung  bezwungen,  und 
deshalb  wollen  wir  ihm  vertrauen,  auch  wo  wir  uns 
für  seine  letzten  Ziele  noch  nicht  reif  fühlen;  ihm 

Der  gekämpft  hat  allerwegen 
Der  noch  kämpft  zu  dieser  Erist 
Und  der  doch  nicht  unterlegen 
Weil  er  ja  unsterblich  ist! 

G.  K- 


Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XVllI.  H.  lo 


33 


STUDIEN  VON  MAX  LIEBERMANN  ZUM  HAMBURGER  PROFESSOREN-KONVENT 


STUDIEN  VON  MAX  LIEBERMANN  ZUM  HAMBURGER  PROFESSOREN-KONVENT 


33 


STUDIEN  VON  MAX  LIEBERMANN  ZUM  HAMBURGER  PROFESSOREN-KON VENT 


STUDIEN  VON  MAX  I.IEBERMANN  ZUM  HAMBURGER  PROFESSOREN-KONVENT 


242 


GROSSE  BERLINER  KUNSTAUSSTELLUNG  1907 


Karl  Haider,  Schliersee 


Dame  mit  der  Rose 


Carl  Vilh.  Ilolsüe,  Lyngby 


Am  Fenster 


Viggo  Pedersen,  Hilleröd  (Dänemark) 


Abendstimmung 


DIE  GROSSE  KUNSTAUSSTELLUNG 
UND  DIE  AUSSTELLUNG  DER  BERLINER  SEZESSION 

Von  Emil  Heilbut 


Die  beiden  Ausstellungen  sind  mit  einem  Zwi¬ 
schenraum  von  acht  Tagen  eröffnet  werden. 
Die  Große  Ausstellung  hat  die  Nachteile, 
welche  in  der  Ausdehnung  liegen,  mit  Geschicklich¬ 
keit  dadurch  wett  gemacht,  daß  sie  eine  Reihe  von  die 
Aufmerksamkeit  lebhafter  beschäftigenden  Separatvor¬ 
führungen  in  Angriff  nahm.  Unter  diesen  Separatvor¬ 
führungen  ist  der  »Porträtsaal«  eine  der  wichtigsten.  Er 
umfaßt  Arbeiten  der  Gegenwart,  aber  auch,  rückblickend, 
der  jüngsten  Vergangenheit,  und  sogar  einige  Bilder 
der  alten  Meister  erwarten  den  Beschauer.  Dieser 
Porträtsaal  ist  gleich  am  Eingang  zu  finden  und  seine 
zu  Vergleichen  einladenden  Bilder  wollen  uns  ver¬ 
locken.  Es  ist  indessen  geraten,  sich  nicht  verführen 
zu  lassen  und  nicht  vom  geraden  Wege  abzuweichen, 
der  durch  die  Mitte  ins  Innere  führt.  Nur  dann  ge¬ 
nießt  man  die  Vorteile,  welche,  in  diesem  Jahre  zu¬ 
erst,  der  Katalog  bietet.  Er  ist  nämlich  nicht  mehr 
nach  dem  Alphabet  der  Künstler  geordnet,  sondern 
nach  der  Weise,  wie  die  Bilder  gehängt  sind.  Wenn 
man  dem  Wege  folgt,  der  im  Kataloge  vorgezeichnet 
ist,  kann  man  sich  bei  jedem  Bild,  unter  Vermeidung 
des  lästigen  Blätterns,  über  den  Autor  informieren. 
Dies  ist  die  einzig  richtige  Methode  eines  Kataloges, 
es  wird  einem  das  Hangen  und  Bangen:  »soll  ich 
im  Katalog  nachsehen,  wie  der  Maler  heißt?  Ach,  es 
ist  ja  doch  nicht  der  Mühe  wert«  erspart  --  man 
folgt  den  Bildern  so  bequem  mit  dem  Kataloge 
in  der  Hand,  daß  einem  jeden  Maler  sein  Recht 
wird.  Die  Leitung  der  Großen  Kunstausstellung  ist 
zu  dieser  neuen  Methode  des  Katalogs  vermutlich 
durch  die  Ausstellung  angeregt  worden,  welche  im 
letzten  Winter  die  Akademie  zur  Einweihung  ihres 
neuen  Heims  am  Pariser  Platz  abgehalten  hat.  Übrigens 
ist  der  Gedanke  an  sich  alt,  er  stammt,  gleich  vielen 
vernünftigen,  aus  England. 

Der  Saal,  in  welchen  man,  dem  Kataloge  gemäß, 
nun  zuerst  eintritt,  bietet  freilich  nicht  viel.  Das  Bild, 
das  der  verstorbene  Karl  Gussow  von  seiner  Mutter 
gemacht  hatte,  war  lange  berühmt  —  bis  es  jetzt  in 
diese  Ausstellung  kam  und  seinen  Nimbus  verlor. 
Es  mangelt  ihm  die  Beseelung;  man  erblickt  fast 
nichts  anderes  als  einen  sogenannten  Studienkopf.  Von 
Eduard  Kämpfer  in  Breslau  ist  ein  tüchtiges  Bild  ge¬ 
kommen:  Soldaten  Friedrichs  des  Großen  trinken  mit 
Breslauer  Bürgern.  Ein  Bild  von  Rudolf  Thienhaus, 
riesenhaft  groß,  kühl  gemalt  und  leider  gleichgültig, 
behandelt  eine  moderne  Kirchenszene.  Nicht  gleich¬ 
gültig,  im  Gegenteile:  konvulsivisch  wirkt  das  »Seelen¬ 
gebet  der  Heilsarmee«,  das  Otto  Heichert  zur  Dar¬ 
stellung  erkoren  hat.  Diese  Arbeit  findet  manchen 
freudigen  Anteil.  Ob  das  richtig  ist?  Mir  will  schei¬ 


nen,  daß  das  Bild  in  seinem  System  etwas  Altmodi¬ 
sches  hat,  nicht  das  Altmodische  im  besten  Sinne, 
sondern  jenes,  das  nur  eine  gewisse  Zeit  lang  blühte, 
in  der  Epoche  niedergehender  Kunst:  als  in  Deutsch¬ 
land  das  soziale  Genrebild  der  Hübner  und  Konsorten 
Anerkennung  fand.  Elendsmalerei  mit  Rücksicht  auf 
den  Stoff  und  aus  dem  Stoff  heraus  entstanden,  nicht 
aus  einer  malerischen  Anschauung.  Erzählende  Kunst, 
nicht  darstellende. 

Der  sogenannte  blaue  Saal  enthält  wieder,  wie 
stets,  vorwiegend  Skulpturen.  Die  bedeutendsten  sind 
die  Arbeiten  Hugo  Lederers,  des  Schöpfers  des  Ham- 
burger  Bismarckdenkmals.  Er  hat  für  den  Sockel  dieses 
Monuments  noch  sechs  Athletenfiguren  geschaffen. 
Gestalten,  die  hauptsächlich  die  Aktion  verkörpern, 
einige  aber  auch  das  Nachsinnen,  so  daß  bei  diesen 
ein  Zusammenfassen  des  Athletenhaften  mit  dem  Den¬ 
kenden  entsteht  ähnlich  wie  bei  Rodins  »Penseur'  . 
Im  ganzen  kann  man  über  diese  Sockelreliefs  schwer 
ein  Urteil  fällen.  Gerade  wenn  sie  sich  dem  Denk¬ 
mal  gut  einfügen  —  wie  bestimmt  zu  erwarten  ist  — 
ist  es  ziemlich  verständlich,  daß  sie  sich,  ohne  das 
Denkmal  selbst,  unvollkommen  präsentieren.  Einen 
vollkommenen  Eindruck,  einen  ganz  ausgezeichneten, 
hinterlassen  zwei  Arbeiterfiguren  dieses  Künstlers,  die 
er  für  das  Krupp-Denkmal  in  Essen  geschaffen  hat. 
Wenig  bedeutend  ist  ein  heiliger  Georg,  vortrefflich 
sind  Aktzeichnungen  des  Künstlers,  die  übrigens  schon 
früher  in  der  Sezessionsausstellung  zn  sehen  waren. 

Ein  neuer  Name  ist  Helene  Scholz  —  eine  ganz 
tüchtige  Künstlerin.  Sie  scheint  der  französisch -bel¬ 
gischen  Schule  anzugehören;  man  darf  das  nach  ihrer 
Büste  sowohl  ( »celle  qui  pense  —  pretiös,  aber 
ganz  brav  modelliert)  als  nach  ihrer  Figur  »la  Zelande 
annehmen,  und  bestätigt  wird  es  durch  eine  recht 
lebensvolle  Skizze,  in  der  der  Bildhauer  van  der  Stap- 
pen  porträtiert  wird. 

Gut  komponiert  ist  eine  große  Gruppe  von  Theo 
Blicks,  »Verzweiflung«. 

Unter  den  Malern  der  jetzt  folgenden  Säle  fällt 
Friedrich  Stahl  auf,  der  in  etwas  blasphemischen 
Bildern  die  äußeren  Eigentümlichkeiten  von  vlämi- 
scher  und  Florentiner  Kunst  zusammenzufassen  sucht. 
Das  farbige  Leben,  die  seltsamen,  etwas  krassen,  hellen 
Rots  in  der  Kleidung  und  die  zeichnerische  Gestal¬ 
tung  von  charakteristischen  und  übercharakteristischen 
jünglingsprofilen  und  alten  Männerköpfen  nimmt  er 
auf.  Er  travestiert  und  komponiert  neu.  Dieses  Ver¬ 
fahren  wendet  der  in  Florenz  lebende  Künstler,  der 
früher  moderne  Salonszenen  malte,  bereits  seit  meh¬ 
reren  Jahren  an.  Es  sind  verschiedene  seiner  Bilder 
auf  der  diesmaligen  Ausstellung,  die  nach  dem  Floren- 


244 


GROSSE  BERLINER  KUNSTAUSSTELLUNG  1907 


tiner  Modus  behaudelt  sind.  Sie  sind  in  ihrer  Art 
geistreich  -  wenn  man  des  Scherzes  nicht  über¬ 
drüssig  wird.  Aber  eines  dieser  Gemälde  steht  auf 
einer  viel  höheren  Warte,  ln  ihm  ist  es  dem  Künst¬ 
ler  gelungen,  fast  uns  vergessen  zu  machen,  daß  er 
in  den  Tempel  des  Elorentinischen  Ruhms  gleichsam 
spottend  eingestiegen  ist.  ln  dem  Bilde  Parcival 
hat  er  eine  ruhige,  durchaus  sympathische  Wirkung 
erreicht. 

Merkwürdig  geht  es  einem  mit  dem  Bilde  des 
Grafen  Harrach:  Ostermorgen  .  Es  ist  so  schlecht 
gemalt,  daß  man  daran  vorübergehen  möchte.  Es 
zeigt  sich  aber  vor  dem  Bilde  deutlich,  wie  wahr  es 
ist,  daß  Bilder  trotz  des  Wie  ,  um  das  es  sich  bei 
Kunstwerken  handelt,  nicht  allein  von  dem  rein  op¬ 
tischen  Eindruck  abhängen.  Vorzüge  und  Schwächen 
der  modernen  Kunst,  die  besser  als  Elarrach  malt, 
treten  entgegen!  Einem  modernen  Maler  würde  es 
immer  gelingen,  das  Atmosphärische  um  Christus 
herum,  das  Licht  seines  Gesichtes,  wenn  es  im  Ereien 
dargestellt  wird,  wiederzugeben.  Wir  würden  ein 
richtiges  Licht,  die  richtige  Earbe  hier  sehen  nur 
würden  wir  Christus  wahrscheinlich  nicht  sehen, 
wenigstens  haben  wir  ihn  von  ihnen  noch  nicht  zu 
sehen  bekommen,  derart,  daß  wir  an  ihn  glauben. 
Meistens  ist  er  sogar  schrecklich  verhunzt,  wie  auf 
dem  Bilde  des  sehr  talentvollen  Beckmann,  das  uns 
in  der  Sezession  noch  beschäftigen  wird  --  er  ist 
da  wie  einer  von  den  Schächern,  gleicht  ganz  und 
gar  nicht  einem  Christus.  Bei  Harrach  sehen  wir 
hingegen  einen  Christas,  das  ist  ein  Unterschied,  den 
man  nicht  verkennen  wird,  und  der  dazu  dient,  das 
Bild  des  Grafen  Harrach  doch  nicht  schlankweg  zu 
verurteilen:  es  hat  Verdienste,  auch  wenn  wir  be¬ 
greifen,  wie  viel  leichter  es  einem  Maler  der  alten 
Richtung,  mit  ihrer  Tradition  im  Christusstil,  werden 
konnte,  den  Christus  zu  bilden  als  einem  Maler  der 
neueren  Zeit,  der  ohne  diese  Stützpunkte  arbeitet.  Har- 
rachs  Christus,  als  Typus  genommen,  hat  übrigens 
sein  absolut  eigenes  Leben:  er  gehört  zu  der  Eamilie 
der  deutschen  Christusdarstellungen  im  ig.  Jahrhun¬ 
dert,  bewahrt  indessen  noch  auch  in  ihr  seine  eigenen 
Rechte. 

Sieht  man  von  der  Malerei  ab,  so  ist  auch  in  dem 
Mittelgrund  und  in  der  Eerne  des  Bildes  etwas,  das 
sehr  packt  und  festhält:  durch  den  himmlischen  Erie- 
den  in  der  Landschaft.  Man  geht  —  trotzdem  dies 
ein  schlechtes  Bild  ist  —  von  der  Arbeit  fort,  nicht 
ohne  zu  denken,  daß  dies  eins  der  innerlich  reichsten 
Werke  der  Ausstellung  ist. 

Looschen  und  Oskar  Erenzel  geben  ihre  bekann¬ 
ten  Werte.  Dettmann  ist  mit  einem  Parkbilde  (nach¬ 
her  finden  wir  ihn  auch  mit  seinem  schon  in  früheren 
Ausstellungen  gesehenen  Triptychon  )  vertreten.  Hans 
Hartig  erscheint  in  Alt- Dresden  im  Schnee  etwas 
übertrieben,  doch  ausdrucksvoll.  Kallmorgen  zeigt 
einen  sehr  stimmungsvollen  Winterabend.  Mit  dem 
Jahrmarkt  vorm  Tor«  verdirbt  sich  der  soeben  ge¬ 
nannte  Hartig  unsere  gute  Meinung  wieder:  das 
Bild  ist  eine  unmögliche,  leere  Sensationshascherei, 
im  Plakatstil.  Max  Schlichting  bewirkt  im  »Mond¬ 


aufgang  mit  einer  Dame  in  Lila  einen  geschickten 
scharfen  Earbenkontrast. 

Vortrefflich  berührt  im  allgemeinen  die  Schwarz- 
Weiß-Ausstellung,  die  in  mehreren  Räumen  ihr  still¬ 
umfriedetes  Dasein  führt.  Um  einige  Namen  zu 
bringen,  —  mehr  als  um  gerade  diese  und  keine 
anderen  hervorzuheben  seien  Otto  Eischer  (mit  einer 
vortrefflichen  Radierung  Hamburg< ),  Rudolf  Jettmar, 
Otto  Goetze,  Ernst  Eitner  namhaft  gemacht;  Ernst 
Eitner  der  Hamburger:  wie  denn  überhaui^t  in  der 
graphischen  Abteilung  sich  die  Hamburger  in  sehr 
anerkennenswerter  Weise  bemerkbar  machen  (nur  lllies 
in  farbigen  Blättern  ganz  und  gar  nicht  glücklich). 

Die  Glanznummern  in  der  Schwarz- Weiß- Aus¬ 
stellung  es  muß  hier  gesagt  werden,  daß  in  kei¬ 
nem  Teile  der  Ausstellung  so  sehr  wie  hier  das 
Bedauern  sich  geltend  macht,  bei  der  Eülle  der 
Leistungen  nicht  zn  vieles  erwähnen  zu  können 
die  bei  weitem  alles  schlagenden  Nummern  in  der 
graphischen  Abteilung  rühren  von  Eritz  Boehle  und 
Eerdinand  Schmutzer  her. 

Boehle  hat  zwölf  Radierungen  ausgestellt,  fast 
alle  aus  der  neuesten  Zeit  —  ein  Zeichen  von  rüstig¬ 
ster  Kraft,  sobald  es  sich  um  Blätter  gleich  diesen 
handelt,  die  mit  solchem  Ausdruck  ausgearbeitet  sind. 

Man  wird  gleichzeitig  sagen,  daß  eine  Erwägung 
wie  diese,  wenn  auch  berechtigt,  doch  nebensächlich 
ist.  Denn  nicht  so  sehr  auf  das  Maß  seiner  Arbeits¬ 
fähigkeit  soll  der  Nachdruck  gelegt  werden,  sondern  auf 
die  wunderbare  Qualität  der  Arbeiten,  die  er  macht. 

Die  orginellen  Ritter,  die  prachtvolle  Roßschwemme: 
ein  ins  Werk  gesetzter  Hans  von  Marees!  tüchtiger  als 
Marees:  lebensfähiger.  Von  hinreißendem  Rhythmus 
die  Pferde. 

Dann  der  heilige  Hieronymus!  köstlich!  die  Erei- 
heit,  Breite,  Behaglichkeit,  Sicherheit  der  Erzählung! 
Dieser  behagliche  Alte  ist  wie  von  einem  Bellini,  der 
Humor  bekommen  hätte. 

Herrlich  sind  die  Reiter  mit  Pferden,  die  Bauern 
mit  Pferden  -  -  von  einem  Naturalismus,  der  Stil  ge¬ 
worden  ist.  Diese  Gestalten  sind  aus  dem  Mainge¬ 
biet,  dort  zu  Hause,  wo  Eritz  Boehle  lebt,  und  sie 
reihen  sich  in  die  klassische  Kunst  ein. 

Der  vollständigste  Gegensatz  zu  dem  naiven  kraft¬ 
vollen  Boehle  ist  der  vollendete  Virtuose  Schmutzer. 

Er  hat  die  gewinnendsten  Eormen;  er  fesselt  jeden 
von  lins  (Boehle  fesselt  nur  einen  kleinen  Teil  der 
Beschauer,  diesen  aber  aufs  innigste).  Schmutzer  fesselt 
anders:  einem  entzückenden  Causeur  gleich,  dem  man 
nicht  widerstehen  kann,  dem  am  wenigsten  der  ernste 
schwerfällige  Eachmann  widerstehen  kann,  dem  aber 
auch  alle  Eranen  zufallen,  der  überhaupt  niemandes 
Mißfallen  erregt,  wenn  auch  nicht  jeder  sich  darüber 
klar  wird,  wie  weit  er  sich  aus  der  nur  gefälligen 
Mittelmäßigkeit  absondert. 

Er  ist  ein  Eürst  im  Charme,  ein  Brummei  im  Ge¬ 
biet  der  Radierung,  ein  unvergleichlicher  Gebieter  im 
Eelde  des  Modischen  -  die  Eleganz,  die  Pannemaker 
einstmals  für  den  Holzschnitt  mitbrachte,  die  Grazie, 
die  Wahner  im  Strich  hatte,  weist  er  auf,  ja,  läßt  er 
hinter  sich. 


HANS  MAKART 


BILDNIS  DER  FÜRSTIN  BULOW 


GROSSE  BERLINER  KUNSTAUSSTELLUNG  lgO^ 


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GROSSE  BERLINER  KUNSTAUSSTELLUNG  1907 


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Micliael  Ancher,  Kopenhagen 


Faniilienbild 


P.  A.  Besnard,  Paris 


Madame  Rejane 


Bernhard  Östernian,  Schweden 


Baronin  von  Eherstein 


Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XVIII.  II.  lo 


34 


246 


GROSSE  BERLINER  KUNSTAUSSTELLUNG  1907 


Wie  bei  den  Herren,  die  er  porträtiert,  alles  Stoff¬ 
liche  mit  >Aisaiice  vviedergegeben  ist,  voller  Freude 
an  den  Zufälligkeiten,  wie  er  mit  kokettem  Insistieren 
seinen  Ausdruck  auf  eine  Nuance  festlegt,  wie  er 
ein  Frauenprofil  lieblich  pikant  zeichnet  —  auch  den 
neumodischen  (oder  schon  wieder  altmodischen)  Fran¬ 
zosen  Hellen  durch  eingehenderes  Detail  überstrahlend  -- 
das  muß  gesehen  werden,  diese  Radierungen  mit 
ihrem  spielenden  Reize  wollen  geschlürft  sein.  Und, 
was  äußerst  merkwürdig  ist,  dieser  entzückende  Vir¬ 
tuose  greift  nicht  nur  das  Porträt  auf,  er  ist  auch  ein 
Meister  des  Interieurbildnisses,  mit  raffiniertem  Zauber 
führt  er  z.  B.  ein  Zimmer  vor,  in  welchem  man 
Joseph  Joachim  spielen  und  Eve  von  Keudell  ihn  be¬ 
gleiten  sieht,  und  er  radiert  selbst  Landschaften.  Eine 
von  diesen,  von  außerordentlichem  Charme,  ist  die 
»Alte  Brücke  in  Dresden-,  mit  einer  Vollkommenheit 
der  Radiertechnik  wiedergegeben,  einer  Klangwirkung 
des  Tones,  daß  die  alten  Kenner  wie  berauscht  sind 
und  das  junge  Volk  kaum  eine  Ahnung  hat,  was  die 
alten  Leute  so  hinreißt.  Aber  prachtvoll  finden  auch 
die  jungen  Leute  diese  Blätter. 

Wieder  zu  den  Gemälden  kommend  lassen  wir 
uns  Carl  Marrs  Junges  Mädchen  Wohlgefallen,  Walter 
Thors  Damenbildnis,  Schuster-Woldans  geschicktes 
Porträt  seiner  Tochter  gewinnt  unseren  Beifall,  an 
Schuster-Woldans  Bildnis  eines  Jägers  fällt  uns  auf, 
daß  der  landschaftliche  Hintergrund  ganz  »Gobelin« 
ist,  an  Peter  Janssens  vortrefflicher  Studie«  nehmen 
wir  wahr,  wie  nahe  er  Eduard  von  Gebhardt  in 
solchen  Werken  ist.  Leider  etwas  ganz  Rückständiges 
gibt  in  einem  aparten«  Damenporträt  Wilhelm  Schmurr 
(Düsseldorf),  Hermann  Emil  Pohles  »Traubendieb« 
zeigt  ebenfalls  etwas  Rückständiges  in  seinem  falsch 
jovialen  Jordaens-Stil :  die  Säle  11  und  12,  die  der 
Düsseldorfer  Künstl erschaff  gehören,  sind  überhaupt, 
im  ganzen  und  großen  genommen,  Ausnahmen  abge¬ 
rechnet  —  recht  minderwertig.  Wir  gleiten  hindurch, 
wir  lassen  darauf  von  melireren  Sälen  keinen  Eindruck 
zu  uns  dringen  —  die  Sinne  noch  immer  mit  Boehle 
und  Schmutzer  erfüllt  —  bleiben  zu  Salzsäulen  er¬ 
starrt  vor  einem  Bildnis  der  Vilma  Parlaghi,  Fürstin 
Lwoff,  Beschützerin  von  Tierschutzvereinen,  soi-disant 
Verdrängerin  von  Lenbach  und  größten  Reklame¬ 
heldin,  die  es  wenigstens  diesseits  des  Ozeans  gibt, 
stehen,  geben  uns  dann  einen  Ruck  und  eilen  weiter. 

Es  kommt  wieder  eine  wertvolle  Enklave:  Däne¬ 
mark.  Diesmal  sind  es  Gemälde,  die  unseren  hohen 
Enthusiasmus  wecken. 

Nicht  um  -große  Kunst  handelt  sich’s:  um  aus¬ 
gesprochen  stille.  Novellenstimmung  herrscht  vor, 
nicht  dramatische  Bewegung,  ja  indem  man  Novellen- 
stimmung  sagt,  sagt  man  schon  zu  viel.  In  der  No¬ 
velle  geht  doch  etwas  vor:  in  den  dänischen  Bildern 
geht  nichts  vor,  es  ist  Zustandspoesie.  Die  Einleitung 
zu  Novellen  ist  gegeben:  die  Handlung  fehlt,  fast 
selbst  die  Personen  fehlen.  Nur  die  Örtlichkeit  ist  da. 
Julius  Paulsen  in  einem  kleinen  feinen  Mondscheinbilde, 
Carl  Christian  Ferdinand  Wentorf  in  einem  guten 
Porträt,  Ilsted  in  einer  Zeichnerin  in  hellem  Kostüm 
vor  einer  großen  Gipsbüste,  Svene!  Hammershoi  in 


einem  ganz  zarten  Bilde  von  Runensteinen,  Sigurd 
Wandel  in  einem  »Alten  Hof  in  Helsingör<  ,  Svend 
Hammershoi  wiederum  in  einem  wunderbaren  Schlo߬ 
hof  (von  Maeterlinckscher  Gespenstigkeit  und  Inkon¬ 
sistenz  der  Mauern),  und  der  bereits  genannte  Wentorf: 
in  seinem  -Schloßgraben«,  mit  vorzüglichem,  son¬ 
nigen  Wasser  —  geben  herrliche  Proben  dieser  stillen, 
wunderbaren  Kunst. 

Lind  welche,  natürlich  schlichten,  Charakteristiker 
diese  Dänen  haben!  Da  ist  Michael  Ancher,  der 
nicht  nur  in  seinem  sonnigen  Selbstporträt  eine  tüchtige, 
auch  in  dem  bewunderswerten  »Familienbilde«  eine 
stille,  tiefe,  bedeutende  Charakteristik  gibt. 

Dann  die  Landschafter:  Louis  jensen,  in  Nordsee- 
laud  ,  Johann  Rohde  in  einer  kleinen  dänischen  Stadt« 
und  einem  »Hafen  in  einer  kleinen  dänischen  Stadt« 

—  es  sind  reizende  Künstler!  Wie  uns  auch  der  Maler 
des  Mondscheins,  Julius  Paulsen,  wieder  in  dem 
»Sommerhaus  (lichte  Sommernacht,  offene  Halle,  Pe¬ 
troleumlampe)  entzückt.  Dann  sehen  wir  auch  einen 
Versuch  zum  Drama:  in  Viggo  Pedersens  »Abend- 
stimmung-  wachwerden,  wo  sich  der  Künstler  daran 
gewagt  hat,  starke  plastische  Wolkenbildungen  und 
glühende  Töne  der  Abendluft  —  gleichsam  Historien¬ 
kunst  anstatt  der  Novelleustimmung  zu  geben. 

Johannes  Larsens  »Sommertag«  ist  ausgezeichnet 
in  der  klaren  Wiedergabe  des  »Unmalerischen  .  Carl 
Vilh.  Holsöe  schafft  im  engeren  Sinne  Novellen¬ 
stimmungen  mit  seiner  -Dame  auf  der  Treppe«  und 
in  einem  sonnigen  Zimmerbilde  (ohne  Figur)  »Am 
Fenster«.  Manchmal  trifft  man  auch  eine  etwas  sen¬ 
timentale  Vorliebe  für  Wirkungen  mit  Petroleumlam¬ 
pen  und,  höherstehend,  die  Neigung  für  das  Aufsuchen 
seltener,  geheimnisvoller  Lichtprobleme,  so  bei  Ilsted, 
Landschaft  von  der  Insel  Falster.  Die  dänische  Kunst 
würde  ja  nicht  von  dieser  Welt  sein,  wenn  sie  so 
vollkommen  wäre,  gar  keine  ein  wenig  schwächere 
oder  etwas  kränkelnde  Punkte  zu  haben! 

Die  mehr  lebendigen  als  schönen  Tierplastiken 
von  Anne  Marie  Carl-Nielsen,  die  zuerst  durch  Schulte 
bei  uns  eingeführt  wurden,  gefallen  mir  weniger. 

Auch  etwas  gediegenes  Philisterium  findet  man 
bei  den  Dänen:  lebensgroße,  nicht  sehr  interessante 
Bildnisse  von  Mädchen  mit  Zöpfen  und  dergleichen. 

—  Sie  reichen  nicht  an  das  Beste  der  dänischen 
Kunst.  Hans  Michael  Therkildsen  scheint  mir  ent¬ 
wickelungsgeschichtlich  charakteristisch.  Ich  denke  ihn 
mir  in  seinem  gutstimnnmgsvollen  Bilde  »Frau  mit  Kuh« 
nicht  unbeeinflußt  durch  einen  Pariser  Aufenthalt,  bei 
Bastien-Lepage.  Peter  Hansens  »Schafe  am  Dorn¬ 
busch  -  Sonnenschein,  hinten  blaues  Wasser  — 
ein  ausgezeichnet  detailliert  wirkendes  Gemälde,  ge¬ 
mahnt  mich,  obwohl  -unausgeführt«  und  breit  ge¬ 
malt,  an  ein  berühmtes  präraffaelitisches  Schafbild,  das 
den  Beifall  Ruskins  fand.  Und  auch  bei  Agnes  Slott- 
Möllers  schwebender  »Jungfrau  Bledelis«  denke  ich 

—  in  unmittelbarerer  Weise  -  an  die  Richtung  der 
Präraffael iten.  Daß Joakim  Skovgaards  Aquarell:  »Aus¬ 
treibung  aus  dem  Paradiese«  und  sein  Aquarell :  »Dornen 
und  Disteln«  in  die  Nähe  der  Präraffaelitenschule 
überleiten,  sieht  dann  jeder.  Peter  Hansens  »Fischer- 


GROSSE  BERLfNER  KUNSTAUSSTELLUNG  1907 


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Oilo  Scholderer  t 


Kinderbildnis  1861 


Oskar  Zwintscher,  Dresden  Bildnis  mit  weißen  Astern 


34 


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GROSSE  BERLINER  KUNSTAUSSTELLUNG  1907 


dorf  im  Herbste  ist  ein  erstaunliches  Stück  an  Deut¬ 
lichkeit  und  Treue. 

Nach  den  drei  dänisclien  Räumen  wirkt  der  schwe¬ 
dische  Saal  recht  unintim. 

Das  kühl  tüchtige  Porträt  des  Grafen  Georg  von 
Rosen  kann  heute  keinen  Anteil  mehr  wecken.  Gott- 
frid  Kallstenius’  Sturmwind'  wirkt  als  eine  recht 
summarische  Leistung  nach  dem  Bilde  des  Dramatikers 
der  Sonnenuntergänge  bei  den  Dänen.  Emil  Oester- 
mans  Bildnis  des  Königs  Oskar  ist  eine  ganz  acht¬ 
bare  Leistung,  aber  auch  nicht  mehr.  Axel  Falilcrantz’ 
»Strandpartie  wirkt  unsolide  (falscher  Corot  —  schlecht 
in  den  Schatten).  Wilhelm  Behm  zeichnet  sich  in 
seinem  Frühlingstag  (unter  Bäumen  ein  rotes 
schwedisches  Bauernhaus,  im  Vordergruud  ruht  noch 
etwas  Schnee)  unter  den  Schweden  aus.  Und  Emil 
Oesterman  erweist  sich  in  dem  Bildnis  von  Friedrich 
Dernburg  und  noch  mehr  in  dem  Porträt  einer  Dame 
(beide  sind  erheblich  besser  als  das  Porträt  des  Königs) 
als  einen  gewandten  und  in  vielen  Sätteln  gerechten 
Bildnismaler. 

Der  Saal  der  Hamburger  Künstler  schließt  sich 
dem  dänischen  Saal  30  an  und  es  ist  ersichtlich, 
daß  eigentlich  auch  in  Flamburg  beabsichtigt  wird, 
derartig  zu  malen  wie  die  Dänen  in  Dänemark.  Der 
Wille  ist  da,  der  Weg  ist  auch  da  —  denn  er  ist 
ungeheuer  leicht  zu  finden  es  fehlt  nur  das  tiefe 
stille  Talent.  Alle  diese  Hamburger  Künstler  »möchten» 

es  scheint  viel  mehr  hinter  ihnen  ein  Wille  gestan¬ 
den  zn  haben,  der  ihnen  sagte:  seht  ihr,  so  müßt  ihr 
malen.  Und  es  regte  sich  nichts,  es  belebte  sich 
nichts,  es  blieb  tot,  was  sie  versuchten.  Man  ist 
versucht,  an  den  Honumculus  zn  denken,  das  Wesen, 
das  aus  der  Gelehrsamkeit  hervorging  und  das  nicht 
lebensfähig  war.  Alle  diese  Künstler  haben  etwas 
ihnen  »Anerzogenes«.  Es  ist  im  großen  und  ganzen 
leider  nur  ein  zu  hilfloser  Dilettantismus  unter  diesen 
Künstlern  zn  finden,  deren  früheste  Ernst  Eitncr  und 
Arthur  Illies  waren.  Die  anderen  —  Schaper,  von 
Ehren,  Sophus  Hansen,  Kayser  nsw.  haben  sich  ange¬ 
schlossen.  Eitner  behauptet  sich  meiner  Ansicht  nach 
unter  allen  auch  jetzt  noch  recht  gut.  Z.  B.  ein  Bild  wie 
sein  »Frühling  läßt  sich  sehen.  Ausgezeichnet  finde 
ich  ein  Schneebild  von  Sophus  Hansen.  Das  meiste, 
was  von  Illies  kommt,  ist  sehr  unerfreulich;  sogar 
in  seiner  Griffelkunst  ist  er  unerfreulich  und  weist 
hier  bei  den  farbigen  Blättern  ein  giftiges  Kolorit 
auf.  Besonders  sprechen  muß  man  von  einem  durch 
Inhalt  und  Format  ziemlich  anspruchsvollen  Bilde 
von  Arthur Siebelist:  »Der  Künstler  und  seineSchüler  . 
Der  Künstler  hat  hier  lebensgroß  sich  selber  und 
seine  Schüler  auf  einer  Dorfstraße  im  Sonnenlicht 
porträtiert.  Es  hegt  vielleicht  etwas,  was  man  nicht 
unbedingt  verwerfen  möchte,  in  der  allerdings  vor¬ 
wiegend  vom  echtesten  Dilettantismus  zeugenden 
Burschikosität,  welche  dem  jungen  Siebelist  eingab, 
sich  weder  von  den  Schwierigkeiten  schrecken  zu 
lassen,  welche  in  einem  Gruppenporträt  hegen,  noch 
von  denen,  die  in  einem  Bildnis  im  Freien  hegen, 
sondern  sogar  diese  beiden  Probleme  znsammenzn- 
werfen  und  das  Schicksal  (das  ihm  natürlich  Unrecht 


gab)  herauszufordern.  Aber  die  blutjungen  Burschen, 
welche  seine  Schüler  sind,  tun  mir  leid.  Was  werden 
sie  bei  ihrem  Lehrer  an  Vorteilen  einheimsen.  Welch 
eine  betrübende  Vorstellung,  sich  auszumalen,  wie 
dieser  Lehrer,  der  noch  ringt  und  kämpft  und  sich  zn 
schwere  Aufgaben  stellt,  junge  Leute  unterrichtet  und 
ihnen  sagt,  wie  man  Bilder  malen  müsse!  Es  leuchtet 
mir  ein,  daß  jemand,  ohne  Unterricht  zn  erhalten, 
vorwärts  zu  kommen  vermag,  ja  das  will  mir  sogar 
unter  Umständen  ganz  und  gar  einleuchtend  erscheinen. 
Aber  wenn  ein  Lehrer  genommen  wird,  so  müßte 
es  einer  sein,  der  Lehrereigenschaften  aufweist,  und 
cs  hat  etwas  Tragisches,  daran  zu  denken,  daß  junge 
Leute  hier  einem  Lehrer  sich  überantwortet  haben, 
der  mit  weniger  Kultur,  als  erforderlich,  an  seine 
Aufgabe  tritt.  In  einem  Witzblatte  konnte  man  eine  An¬ 
frage  lesen,  wo  bei  diesem  Bilde:  »Der  Künstler  und 
seine  Schüler  der  Meister  wäre?  Leider  muß  man 
dem  anonymen  Spötter  recht  geben. 

Man  wird  trotzdem  über  die  einigermaßen  »would- 
be  neue  Kunstgemeinschaft  Hamburg  nicht  spotten, 
wenn  man  den  nebenanhegenden  Saal  der  Dresdener 
Kunstgenossenschaft  betrachtet.  Kunst  ist  nicht  an 
den  Ort  gebunden  gewiß  nicht.  Beweis  dafür 
ist  die  alte  Kunststadt  Dresden,  die  unabhängig  von 
ihrem  Ruhme,  unabhängig  von  ihrer  Vergangenheit 
so  schauerliche  Bildwerke  ausstellen  konnte,  wie  in 
dem  Saale  der  Kunstgenossenschaft  ilie  drei  Pastelle 
von  Osmar  Schindler  oder  den  unmalerischen  Mönch, 
der  die  Signatur  des  sonst  geschätzten  Richard  Müller 
trägt,  oder  das  dilettantenhafte  Bildnis  des  hambur- 
gischen  Senators  O’Swald  von  Johannes  Mogk.  In 
diesem  Saale  scheint  mir  ein  einziges  gutes  Bild  zu 
sein:  Leon  Pohles  Kopf  des  Königs  von  Sachsen. 

Im  Vorübergehen  bemerkte  ich  in  einem  Saal,  in 
dem  alles  Mögliche  aber  vorwiegend  Schlechtes  hängt, 
ein  großes  Bild  eines  ziemlich  geringen  dänischen 
Künstlers,  Lanrits  Tuxen:  »Königin  Viktorias  Diamant- 
jubilänm«  hat  er  hier  dargestellt.  Daß  Tnxen  ein  nicht 
guter  Maler  ist,  weiß  ich  aus  seinem  Bilde  in  der 
dänischen  Abteilung  Die  Tafel  wird  aufgehoben«: 
das  Bild  ist  geschwätzig,  langweilig  und  unintim. 
Hingegen  ist  das  Diamantjubiläum  der  Königin  Vik¬ 
toria  ein  immerhin  bemerkenswertes  Bild;  schreck¬ 
lich  —  aber  bemerkenswert.  Es  war  so  bei  dem 
Jubiläum.  Die  Mitwelt  und  die  Nachwelt  empfangen 
den  richtigen  Eindruck.  Die  Straße  ist  ganz  erfüllt 
von  den  Dekorationen  von  rotem  Tuch.  Vorne  steht 
das  Denkmal  der  Königin.  Am  Denkmal  hält  der 
Wagen  der  Königin,  mit  Vorreitern  —  und  es  gibt  eine 
entsetzliche  Disharmonie  zwischen  dem  Blau  der  Pferde¬ 
decken  und  dem  andersartigen  Blau,  mit  dem  der 
Wagen  ausgeschlagen  ist.  Rings  um  die  Königin 
sind  die  Reihen  von  Generalen,  unter  ihnen  ist  der 
Prinz  von  Wales;  wieder  überwiegt  das  Rot.  Und 
Rot  überall,  wohin  man  blickt,  an  allen  Fenstern 
krasses  rotes  Tuch,  weit  ist  man  hier  von  dem  An¬ 
blick  der  schönfarbenen  Teppiche,  die  im  Süden  bei 
solchen  Gelegenheiten  heraushängen.  Rotes  Tuch  bis 
hinten  hin,  wo  alles  sich.  Staub,  rotes  Tuch,  Firmen¬ 
schilder  und  Häuser,  in  dicke  Atmosphäre  auflöst. 


GROSSE  BERLINER  KUNSTAUSSTELLUNG  1907 


249 


Die  Abstufung  von  vorn,  wo  die  geschmückten  Gran¬ 
den  halten,  nach  hinten  hin  mit  dem  prosaischen,  den¬ 
noch  solide  festlichen  Straßenbilde  ist  gut  gegeben. 
Man  hätte  es  dem  reichlich  süßlichen  Maler  von  »Die 
Tafel  wird  aufgehoben«  schwerlich  zugetraut.  Auch 
das  Viktoriabild  ist  gräßlich,  es  entspricht  aber  einem 
Sehbedürfnis,  und  wenn  auch  der  Kunstmensch  sein 
Auge  von  diesem  subalternen  Bilderbogen«  abwendet, 
das  Wissensverlangen  bleibt  doch  daran  hängen. 

In  genau  diesem  Sinne  würde  ich  über  die  Haupt- 
und  Staatsaktionsbilder  von  Anton  von  Werner  nicht 
durchaus  den  Stab  brechen.  Derartige  Bilder  ver¬ 
dienen  mit  Stumpf  und  Stil  ausgerottet  zu  werden 
erst  dann,  wenn  in  ihnen  Sentimentalität  und  etwa 
absolutes  Nichtkönnen  neben  dem  Versuch,  darzu¬ 
stellen,  einhergehen.  Künstler  aus  Kassel  und  Düssel¬ 
dorf  haben  uns  auch  zu  solchen  Erwägungen  Anlaß 
gegeben,  man  kann  die  Trocken¬ 
heit  eines  Werner  im  Vergleich 
zu  solchen  unwürdigen  Rivalen 
oder  Nachfolgern  acliten. 

Arthur  Kampf,  auf  den  die 
allgemeine  Aufmerksamkeit  jetzt 
durch  seine  Wahl  zum  Präsidenten 
der  Akademie  gelenkt  worden  ist, 
ist  selbstverständlich  ein  Künstler 
von  ganz  anderem  Wert  als  Anton 
von  Werner.  Er  ist  eigentlich 
ein  Künstler,  wie  wir  in  dieser 
Art  keinen  anderen  in  Deutschland 
haben.  Ganz  außer  Frage,  daß  er 
so  gut  zeichnen  kann  wie  die 
französischen  Akademiker,  welche 
von  unseren  Malern,  auch  den 
Sezessionisten ,  so  lange  sie  in 
Paris  in  der  Ecole  Julian  stu¬ 
dieren,  mit  großem  Respekt,  wenn 
auch  nicht  als  Maler,  so  doch 
als  Lehrer  gewürdigt  werden.  Er 
zeichnet  vollkommen  so  gut  und 
so  sicher  wie  Jean  Paul  Laurens 
oder  wie  Lefebvre,  wie  Cabanel  und  Geröme.  Glän¬ 
zende,  einwandfreie  akademische  Schule,  mit  Eleganz 
verbunden. 

Er  hat  noch  mehr:  er  hat  auch  malerisches  Talent, 
wenn  wir  Talent  die  Fähigkeit  nennen,  alle  malerischen 
Nuancen  wiederzugeben.  Während  er  im  Zeichnen 
viel  besser  als  Anton  von  Werner  ist,  der  gar  kein 
schlechter  Zeichner  war  (Werner  hat  ganz  gute  Akt¬ 
zeichnungen  gemacht),  ist  Kampf  im  Malen  ganz  un¬ 
endlich  viel  ausgezeichneter  als  Werner:  nach  zwei 
Seiten  hin,  sowohl  und  dies  zählt  besonders  — 
in  der  eigenen  Produktion,  als  auch  in  der  Beur¬ 
teilung  der  malerischen  Leistungen  anderer,  moderner 
Künstler.  Darin  ist  bekanntlich  Werner  mit  voll¬ 
kommener  Blindheit  geschlagen,  haut  um  sich,  sieht 
nicht,  will  weniger  als  Hinz  und  Kunz  sehen.  Kampf 
steht  also  als  Akademiker  seinen  Mann,  kann  oder 
hat  gelernt,  was  der  beste  Akademiker  überhaupt  nur 
lernen  kann,  ist  einfach  das  Ideal  eines  Akademi¬ 
kers,  denn  wir  sehen  in  Frankreich,  wo  es  ähnliche 


Ferd.  Sclimutzer,  Wien 


Begabungen  wie  Kampf  gibt,  keinen  einzigen  Aka¬ 
demiker,  der  so  wohlgesinnt  und  friedfertig  die  ge¬ 
waltigen  Leistungen  der  Originalgenies  anerkennt. 
Wir  können  darum  uns  über  die  Wahl  dieses  jungen 
erst  zweiundvierzigjährigen  Akademikers  -  an  die 
Spitze  des  vorwiegend  aus  Greisen  bestehenden  In¬ 
stituts  nieht  lebhaft  genug  freuen.  Wir  werden  dessen¬ 
ungeachtet  seinen  Werken  die  Begrenzung,  innerhalb 
deren  sie  gerühmt  werden  können,  nicht  wegräumen 
können.  Seine  Gestalten,  seine  Menschen  wirken  z.  B. 
nicht  frei,  sie  wirken  wie  unter  Oberlicht.  Auf  dem 
einen  Karton,  den  er  ausstellt  und  der  gewiß  meister¬ 
lich  ist,  sehen  wir  rechts  Gefangene,  und  es  ist  nicht 
die  geringste  Falte  an  ihrem  Bettlerkleid,  die  nicht 
akademisch  wäre;  ebenso  wie  der  mit  straffer  Hal¬ 
tung  in  die  Stadt  einziehende  Otto  1.  nur  so  weit 
lebendig  ist,  wie  es  der  ausgezeichnete  Baß  Kinder¬ 
mann  in  München  war,  wenn  er 
in  den  Nibelungen  den  Hagen 
vorführte.  Dieser  ganze  Karton 
ist  meisterhaft  -  nur  meisterhaft; 
was  ihm  fehlt,  ist  Leben.  Das 
konnte  ihm  Kampf  nicht  geben, 
was  er  ihm  aber  gab,  das  ist 
hochzuschätzen.  Es  ist  im  Bereiche 
der  akademischen  Möglichkeiten 
das  denkbar  Hervorragendste. 

Manches  von  ihm  tritt  noch 
zarter  in  Studien  und  Zeichnungen 
und  Porträts  hervor,  Bildern  aus 
der  Natur.  Andererseits  ist  es 
freilich  charakteristisch,  daß  ihm 
ein  Entwurf  Verkündigung  bei 
den  Hirten«,  weniger  gelang,  weil 
ihm  das  Religiöse  gar  nicht  ge¬ 
geben  ist.  Da  wird  ihm  Geb¬ 
hardt,  dessen  Wirken  er  in  Düssel¬ 
dorf  vor  sich  hatte,  immer  über¬ 
legen  bleiben. 

Radierung  Auf  Böcklins  vielgesehener 

Venus  Anadyomene  von  1868, 
aus  dem  Besitz  des  Obersten  von  Heyl,  fällt  uns 
der  violette  Schleier  auf,  der  über  die  Fernsicht  des 
Meeres  gebreitet  liegt.  Wie  bewundert  man  die 
fabelhafte  Überlegenheit  Böcklins  über  Feuerbach, 
der  ganz  konventionell  ist,  wenn  er,  wie  in  der  Medea, 
das  Meer  schildert.  Welche  Empfindung  für  Licht 
ist  auch  auf  dem  sonnig  flimmernden  Körper  der 
Venus!  Übrigens  wirkt  das  Bild  nur  als  eine  Skizze. 

Thaulow  ist  mit  mehreren  Bildern  vertreten,  die 
einen  Eindruck  von  falschen  Bijoux  erwecken,  obwohl 
es  unzweifelhafte  und  gute  »Thaulows  sind.  L’avenir 
lui  sera  dur,  diesem  Künstler,  dem  bei  seinen  Leb¬ 
zeiten  so  gehuldigt  worden  ist.  Wenn  man  denkt, 
daß  Rodin  ein  Bild  von  ihm  stolz  in  seinem  Atelier 
bewahrte!  Man  sieht  heute  viel  Künstlichkeit  in  diesen 
immer  sehr  geschickten  Bildern,  wo  prächtiges  —  zu 
prächtiges  —  Licht  sich  im  Abendscheinein  den  Wellen 
spiegelt.  Die  Zeiten  sind  vorbei,  in  denen  man  an 
Thaulows  fließendem  Wasser  oder  an  seinen  täuschen¬ 
den  Sclmeelandschaften  kritikloses  Gefallen  fand.  Das 


250 


GROSSE  BERLINER  KUNSTAUSSTELLUNG  1907 


L.  Jensen,  Kopenhagen 


Landschaft 


Svend  Hanimerslioi,  Kopenliagen 


Schloßhof  Koldiiighiis 


GROSSE  BERLINER  KUNSTAUSSTELLUNG  1907 


251 


Fritz  Boehle,  Frankfurt  a.  M 


Radierung 


252 


GROSSE  BERLINER  KUNSTAUSSTELLUNG  1907 


Peler  lanssen,  Düsseldorf  Studie 

Bijouhafte  in  den  Bildern  dieses  zu  pariserisch  ge¬ 
wordenen  Nordländers  fällt  unangenehm  auf. 

Eins  der  besten  Bilder  in  diesem  Teile  der  Aus¬ 
stellung  ist  Rene  Billottes  Mondaufgang  an  den  Ufern 
der  Charente,  der  etwas  von  einem  guten  Schreyer 
hat.  Georges  Buysses  Kanal  im  Juni«  hat  solide 
Qualitäten.  La  Touche  ist  mit  einem  Zwischenakt 
im  Theater  vertreten,  einem  im  Licht  etwas  zu  phan¬ 
tastischen  Bilde,  wenn  man  erwägt,  daß  es  sich  um 
eine  moderne  Gesellschaftsszene  handelt.  Liljefors 
gibt  einen  Tour  de  force  in  seinen  Birkhühnern  im 
Reif  ,  einem  glänzenden  Bilde,  denn  es  ist,  abgesehen 
von  der  Wahrheit,  sehr  angenehm  im  Ton,  was  man 
nicht  jederzeit  bei  Liljefors  sagen  kann.  Bernhard  Win¬ 
ters  Bereitung  des  Flachses«  gehört  zu  den  Anschau¬ 
ungsbildern,  die,  wenn  es  ihrer  viele  gäbe,  doch  un¬ 
säglich  betrübend  wären.  Richard  Eschke  in  dem 
Bilde  eines  Städtchens  in  Mecklenburg,  Otto  H.  Engel 
mit  einem  Abend  in  der  Marsch  und  der  »Friesi¬ 
schen  Stube«,  Ernst  Gentzel  in  ^Schloß  Wiesenburg« 
und  »Fläminger  Landschaft  rufen  eine  angenehme 
Wirkung  hervor. 

Fritz  Burger,  ein  schweizer  Künstler,  bei  dem 
nichts,  aber  auch  nichts  das  Schweizerische  anzeigt, 
ist  nett  in  Kinderbildnissen,  etwas  süß  in  Professoren¬ 
porträts.  Das  Bild  »Kind  auf  dem  Sofa«  scheint  mir 
seine  beste  Leistung  diesmal  zu  sein. 

Die  Kollektivausstellung  Bruno  Paul,  die  mit 
riesigem  Interesse  erwartet  wurde  und  jetzt,  da  sie 
eröffnet  ist,  in  ihren  mit  Sachen  gefüllten,  niedrig 
gemachten  Stuben  eine  Menge  von  Beschauern  sieht. 


welche  viel  größer  ist  als  bei  den  Bildern,  findet  einen 
großen  Erfolg:  wohl  mit  durch  die  Gunst  des  Kaisers, 
der  ihn  bekanntlich  herberief  und  an  die  Spitze  der 
Schule  des  Kuustgewerbemuseums  stellte.  Die  Möbel 
dieses  Vertreters  des  neuen  Kunstgewerbestils  haben 
aber  —  bei  glänzender  Ausarbeitung  und  wunder¬ 
voller  Behandlung  —  doch  vielfach  etwas  Trübsinniges, 
Eigensinniges,  sich  dem  Komfort  Widersetzendes 
in  ihrem  Wesen.  Sie  bringen  auch  Neuerungen  in 
Gebieten,  die  deren  wahrlich  nicht  bedürfen,  nämlich 
im  Bereich  der  Schiffskabiiie,  wo  ein  trefflicher  Künst¬ 
ler  wie  Bruno  Paul  doch  nicht  erkannt  hat,  daß  der 
(in  England  beheimatete)  Kajütenstil  mit  seinen  be¬ 
quemen  Sesseln  usw.  total  modern  ist  und  nicht  um¬ 
gewandelt  zu  werden  brauchte.  Die  barocken  und 
krausen  Schiffsstühle,  mit  Krokodilshaut  bezogen,  die 
Paul  entworfen  hat,  sind  weit  rückständiger  als  die 
anspruchslosen  praktischen  alten  Ledersessel.  Vor¬ 
züglich  (unter  manchem  Andern!)  ist  ein  Flügel  von 
Bruno  Paul  in  einem  Musiksaal. 

Und  nun  bleibt  mir  noch  der  Saal  40  übrig,  der 
als  eine  Art  salon  carre  des  Bildnisses  gedacht 
worden  ist.  Hier  findet  man  ein  reizendes  naives 
Kinderbildnis  des  sonst  nicht  immer  so  ergiebig  ge¬ 
wesenen  Otto  Scholderer.  Bennewitz  von  Loefen  gab 
ein  anspruchsloses  und  angenehmes  kleines  Porträt 
seines  Vaters,  des  bekannten  Landschaftsmalers,  der 
in  seiner  Jugend  von  Krüger  gemalt  wurde.  Eduard 
von  Gebhardt  ist  mit  einem  charaktervollen  Bildnis 
des  Bürgermeisters  Wortmann  vertreten.  Von  Romney 
sieht  man  ein  sehr  hübsches  Bildnis  des  Captain 
Alexander  Forbes.  Von  Bantzer  das  bekannte  stille 
Bildnis  seiner  Frau.  (Daneben  hängt  ein  Stilleben 
des  wiedereutdeckten  Karl  Schuch:  es  ist  betrübend 
flattrig.  Spargel  und  ein  Glas  Wasser  sind  dargestellt, 
und  man  braucht  nicht  an  Manets  herrliches  Spargel¬ 
stilleben  zu  denken,  um  von  dem  Schuchschen  Spar¬ 
gel  enttäuscht  zu  sein.  Das  Ganze  dieses  Stillebens 
flattert  und  scheint  zu  schwimmen;  das  Bild  wirkt, 
als  wäre  es  durch  Wasser  gesehen).  Dann  folgt  ein 


Jolian  Rolide,  Kopenhagen  Kleine  dänische  Stadt 


GROSSE  BERLINER  KUNSTAUSSTELLUNG  1Q07 


253 


Peler  Hansen,  Kopenhagen 


Fischerdorf  ini  Herbst 


Ferdinand  Schmutzer,  Wien  Alle  Brücke  in  Dresden,  Radierung 


Zeitsehnii  für  bildende  Kunst.  N.  F,  XVlIl.  H.  10 


35 


254 


GROSSE  BERLINER  KUNSTAUSSTELLUNG  1907 


wertvolles  Bildnis  des  Malers  Peter  Burnitz  von  Hans 
Thoma.  Lenbachs  bekannter  glänzender  Herr  von 
Liphart,  einer  der  besten  Lenbachs,  die  es  gibt. 
Von  Gari  Melchers  das  gute  Bildnis  der  Mrs.  Hitchcock. 
Sargents  etwas  lebhaft  bewegte,  aber  verblüffende  Frau 
von  Grunelius.  Zwintschers  mit  Geschmack  arran¬ 
giertes  (nach  Vorbildern,  nicht  ohne  Whistler  arran¬ 
giertes)  Bildnis  mit  weißen  Astern  .  Von  Leo  Sam- 
berger  ein  gutes  Männerporträt.  Von  Karl  Ziegler  die 
schöne  Frau  Hertz,  ein  angenehmes  Bild.  Von  Karl 
Bios  ein  tüchtiges  Selbstporträt.  Von  Karl  Bantzer 
ein  ganz  gutes  Porträt  des  Bildhauers  Pöppelmann. 
Dann  von  Besnard  die  bekannte,  fabelhafte  Madame 
Rejane.  Hier  muß  man  ein  Pause  machen,  gleichwie 
das  Bildnis  einen  enormen  Gegensatz  zu  seinen 
Nachbarn  rechts  und  links  bildet. 

Gegenüber  der  bürgerlichen  Gehaltenheit  des 
Bantzerschen  Porträts  auf  der  einen  Seite  und  einem 
etwas  pretiösen  Bildnisse  Zwintschers  auf  der  anderen 
Seite  vertritt  das  Besnardsche  Bildnis  das  Springende, 
auf  den  ersten  Wurf  hin  Treffende.  Zu  Zwintschers 
Bildnis  —  Vor  schwarzen  Kacheln«  nennt  es  der 
Künstler  —  war  nicht  viel  Genius  nötig.  Die  Frau 
konnte  einfach  stillsitzen,  bis  sie  fertig  gemalt  war. 
Das  Bild  ist  eine  stillebenhaft  ausstudierte  Leistung 
und  man  braucht  bei  ihm  nur  den  Geschmack  an¬ 
zuerkennen,  mit  dem  Zwintscher  die  Hände  der  Frau 
gelegt  und  ihr  Blumen  in  die  Hände  gelegt  hat.  Nicht 
so  kann  man  über  das  Bild  von  Besnard  urteilen. 
Seine  Madame  Rejane  wirkt  wie  eine  Rakete. 

Es  ist  einerlei,  ob  man  vor  dem  Talent  des 
Besnard  viel  Respekt  hat  oder  nicht,  ob  man  ihn 
den  Affen  des  Genies  nennt  mit  Zola  oder  so  abge¬ 
schmackt  sein  will  wie  Roger  Marx,  der  in  einem 
Augenblick,  in  dem  er  vermutlich  vom  Sonnenstich 
getroffen  wurde,  gewähnt  hat,  seit  Delacroix  hätte 
die  französische  Kunst  kein  solches  Genie  aufzuweisen 
wie  Besnard;  —  es  ist  einerlei:  vor  diesem  Bilde 
verliert  man,  wenn  man  sie  gehabt  hat,  die  Abneigung 
gegen  Besnard  und  beugt  sich  vor  solcher  jauchzen¬ 
den  Entfaltung  eines  großen  Könnens.  Dieser  Thea¬ 
traliker  unter  den  Malern,  der  immer  etwas  von  dem 
changierenden  Feuer  der  Beleuchtungen  von  Lofe  Füller 
hat,  wird  bei  diesem  Bilde  einer  Theaterdame  in  der 
Wahl  seiner  Mittel  beinahe  gerechtfertigt.  Wie  in  einer 
Explosion  dieses  Th eater lichtes  steht  die  Dame  vor  uns, 
lachend,  den  breiten  Mund  durch  ein  Rot  von  Kunst¬ 
farben  gehoben:  sie  grimassiert,  sie  macht  ein  halb 
tolles  Gesicht  —  aber  ganz  Rejane.  Sie  hat  die 
Hand  an  die  Frisur  gehoben,  um  eine  fallende  Locke 
zu  ordnen,  steht  plötzlich  da,  wie  eine  Erscheinung, 
den  Oberkörper  etwas  zurückgebeugt,  sich  von  der 
Kulisse  abhebend,  die  eine  Parklandschaft  darstellt 
—  sie  selber  in  einer  schillernden  hellrosafarbenen 
Toilette,  die  Hals,  Schultern  und  Arme  freiläßt,  und 
die  Schultern  sehen  fast  grünlich  aus,  während  auf 
dem  Gesicht  eine  dicke  Schicht  rosigen  Puders  liegt. 
Dies  Porträt  ist  gemein  und  außerordentlich,  frech  und 
lebendig,  es  hat  die  Würdelosigkeit  einer  Affiche  und 
trifft  die  Rejane  und  in  ihr  die  ganze  Theaterwelt. 

Schreiten  wir  weiter,  so  fällt  ein  sehr  schönes. 


inniges  Frauenporträt  von  Karl  Haider  auf.  Joseph 
Scheurenberg  gibt  ein  sanftes  Kostümbild  seiner  Gattin 
aus  der  Zeit,  in  der  man  noch  Kostümbilder  malte. 
Knaus  erweckt  Behagen  mit  einem  von  einem  feinen 
Ausdruck  des  Humors  getragenen  Herrenporträt.  Gari 
Melchers’  Bildnis  eines  Fechtlehrers  hat  etwas  zu  viel 
von  dem  Renommistereiausdruck  von  sogenannten 
Schlagern  eines  Salons«,  vor  Karl  Gussows  ehemals 
berühmt  gewesenem  Bildnis  der  Romanschriftstellerin 
Ossip  Schubin  erkennt  man,  wie  tief  das  Kunst¬ 
empfinden  der  Zeit  gesunken  war,  die  dieses  Porträt 
für  bewundernswert  hielt.  Wir  sehen  hier  eine  detail¬ 
lierte  Wiedergabe  von  zwei  gelbgrauen  Augen,  so 
zwar,  wie  sie  ein  Augenarzt  oder  ein  Vergrößerungs¬ 
glas  wahrnimmt.  Das  Physische  an  den  Augen  ist 
recht  genau  hervorgebracht;  und  das  Bildnis  ist  un¬ 
gefähr  in  einer  Linie  mit  den  Stilleben  des  Friedrich 
Heimerdinger  zu  beurteilen,  der,  wie  es  schien,  eine 
nicht  gehobelte  Holzfläche,  auf  die  er  seine  Visitkarte 
befestigt  hatte,  durch  einen  Goldrahmen  begrenzte. 
Das  Sonntagspublikum  befühlte  diese  ungehobelte  Holz¬ 
fläche  und  sah,  daß  sie  nur  auf  die  Leinwand  gemalt 
war,  ebenso,  daß  die  Visitenkarte  nicht  aufgespießt 
und  umgebogen,  sondern  ebenfalls  nur  ein  bemaltes 
Stück  Leinwand  war.  Heimerdinger  hatte  seinen  Sonn¬ 
tagserfolg.  Gussow  aber  war  eine  Zeitlang  berühmt, 
jetzt  sieht  man,  wie  geschmacklos  die  Köpfe  seiner 
Bildnisse  im  Rahmen  sitzen,  wie  ausdruckslos  die  ehe¬ 
mals  bewunderten  Augen  sind  und  wie  den  Bildern 
völlig  eines  fehlt:  die  Auffassung. 

Als  eine  fesselnde  Arbeit  dokumentiert  sich  Thomas 
jugendbildnis  des  Malers  W.  Steinhausen,  und  mit 
Makarts  altem  Bildnis  der  jetzigen  Fürstin  Bülow  schließt 
die  Reihe  der  interessanten  Porträts  ab. 

Das  Bildnis  ist  von  etwas  flacher  Anmut.  Durch 
Sinn  fürs  Psychologische  hat  sich  Hanns  Makart  in 
seinem  Leben  nicht  ausgezeichnet.  Die  dunklen  Augen 
der  Fürstin  sind  etwas  langweilig  und  man  dürfte 
selbst  sagen:  leer.  Doch  ist  viel  Reiz  in  dem  Bilde 
entfaltet,  der  auf  Kultur  des  Auges  beruht.  Z.  B.  wie 
das  Handgelenk  der  Fürstin  zwar  flüchtig,  aber  fein 
modelliert  und  getönt  ist,  wie  viel  Grazie  sich  hier 
in  der  Linie  und  ein  gewisser  Charme  in  der  silber¬ 
blaugrauen  Färbung  zeigt.  Vor  allem  sind  die  Töne, 
welche  sich  über  die  vom  Kleide  niederhängende 
Schleppe  verbreiten,  ebenso  die  zarten,  gelbroten 
Farben  der  Blumen,  welche  die  Fürstin  im  dunklen 
Haar  trägt,  echter  Makart.  Noch  ist  der  Zauber  dieses 
Künstlers  nicht  völlig  untergegangen.  Er  war  auch 
im  vorigen  Jahre  in  Berlin  auf  der  retrospektiven 
Ausstellung  am  Lehrter  Bahnhof  zu  spüren.  Dort 
sah  man  Hanns  Makarts  Porträt  der  Charlotte  Wolter, 
das  bedeutender  war  als  das  der  Fürstin  Bülow,  dies 
Porträt  mit  seinen  Herbstfarben,  mit  seinen  vergehen¬ 
den,  verwesenden  Luxustönen.  Man  erkannte  die 
Irrtümer,  denen  der  alte  Farbenspieler  erlegen  ist  und 
freute  sich  doch  seines  koloristischen  Reizes.  An¬ 
nährend  so  geht  es  dies  Jahr  auf  der  Porträtausstellung 
bei  dem  Bildnis  der  Fürstin  Bülow. 

*  * 

* 


BERLINER  SEZESSIÖNS  AUSSTELLUNG  1907 


255 


L.  Corintli,  Berlin 


Das  Urteil  des  Paris 


Sommer 


Graf  Leopold  von  Kaickreutli,  Stuttgart 


Bildnis  der  Gräfin  Kaickreutli 

35* 


256 


BERLINER  SEZESSIONS-AUSSTELLUNG  1907 


Die  Ausstellung  der  Sezession  zeigt  diesmal  eigent¬ 
lich  nur  deutsche  Bilder.  Einige  sehr  schöne  van 
Goghs  sind  die  einzige  Ausnahme.  Die  Ausstellung 
gruppiert  sich,  im  Ganzen,  um  Liebermann,  und  wenn 
im  Vorwort  des  Sezessionskataloges  gesagt  wird,  die 
alten  Sezessionisten  werden  Klassiker,  so  trifft  das  auf 
niemanden  so  zu,  wie  auf  diesen  Chef  der  Se¬ 
zession.  Er  ist  der  Mittelpunkt  des  Kreises,  der  sich 
hier  versammelt  hat,  er  ist  der  Lehrer  der  Sezession 
in  der  ästhetischen  Anschauung  gewesen,  und  nichts 
war  gerechter,  als  daß  diese  Verbindung,  als  Vor¬ 
feier  seines  sechzigsten  Geburtstages,  eine  Ehrung 
des  Künstlers  durch  eine  Vorführung  von  Bildern  be¬ 
reitete,  welche  seinen  Lebenslauf  von  den  früheren 
bis  in  die  neuen  Zeiten  bezeichnen.  Es  ist  auch 
wichtig,  daß  diese  Art  von  Ehrung  gewählt  worden 
ist,  denn  durch  nichts  stärker  als  durch  den  Vergleich 
seiner  Arbeiten  untereinander  wird  uns  der  vollkom¬ 
menste  Eindruck  von  Liebermanns  Wert  übermittelt. 
Nicht  von  einer  Art  festgehalten  zu  werden,  stets 
aufnahmefähig  für  große  Eindrücke  zu  bleiben,  trotz 
ihrer  nicht  aus  seiner  Natur  gerissen  zu  werden,  immer 
persönlich  zu  sein,  auch  dann  noch  immer,  wenn  er 
sich  an  andere  anschloß:  das  macht  in  der  Tat  den 
Wert  Liebermanns  aus,  den  viele  verkennen,  den  selbst 
seine  Freunde  noch  nicht  immer  richtig  würdigen. 
Denn  wird  er  wirklich  bewundert,  genügend  be¬ 
griffen,  hat  man  vor  ihm  einen  Respekt,  wie  wenn 
er  in  der  Einsamkeit  eines  kärglichen  Landlebens 
hauste  und  zu  uns  herstrahlte?  Nein,  so  hat  man  ihn 
nicht  anerkannt,  niemals,  in  die  Gefühle,  der  Bewun¬ 
dernden  selbst,  mischte  sich  stets  etwas  Skeptizismus 
und  die  Neigung  ein,  den  Maler  nicht  für  ganz  per¬ 
sönlich  zu  halten,  man  traute  ihm  enorme  Vorräte 
an  Auffassungsgabe,  weniger  den  Vorrat  an  ange¬ 
borenem  Künstlertum  zu,  und  vielleicht  hat  sich  das 
erst  in  dieser  Ausstellung  geändert.  Der  kleine  Saal 
in  der  Sezession,  der  eine  Anzahl  seiner  älteren  Bilder 
und  einige  neue  birgt,  zeugt  von  einer  so  tiefen  Ori¬ 
ginalität,  daß  er  auf  viele  gerade  der  ihm  Nahestehen¬ 
den  wie  eine  Offenbarung  wirkte. 

Das  älteste  der  vorgeführten  Bilder  ist  die  hollän¬ 
dische  Nähschule,  von  1876.  Das  Neuartige  in  dem 
Bilde  ist  erstens,  daß  ein  solches  Zimmer,  mit  hellen, 
graublauen  Wänden  und  »reizlosen«  gelbbraun  an¬ 
gestrichenen  Möbeln  dargestellt  wurde,  welches  eine 
malerische  Ausbeute  nicht  zu  gewähren  schien,  um 
so  weniger,  als  kein  Helldunkel  vorlag,  und  daß  ihm 
Liebermann  dennoch  einen  hohen  koloristischen  Rang, 
eine  wundervolle  Feinheit  verlieh.  Zweitens  muß  an 
dem  Bilde  die  ganz  andere  »Schreibweise«  begrüßt 
werden.  Das  Bild  zeigt  keine  Gruppierungen  mehr 
wie  die  Genrebilder  von  Knaus  oder  Vautier,  —  das 
ist  selbstverständlich,  es  ist  aber  auch  verschieden  von 
dem  anders  als  bei  Knaus  und  Vautier  gedachten  und 
doch  noch  an  Stellungen  und  Mienenspielen  leiden¬ 
den  Genrewesen  Menzels.  Das  Bild  Liebermanns 
wirkt  vielmehr,  als  ob  ein  Maler,  nachdem  er  beob¬ 
achtet  hatte,  was  da  war,  seiner  Wege  gegangen 
wäre,  als  ob  er  nur  als  eine  Art  Aufnahmemaschine 
für  die  Nähschule  fungiert  hätte.  Und  trotzdem  ist 


diese  Nähschule  dann  kein  maschinenhaftes  Bild  ge¬ 
worden,  es  ist  keins  von  diesen  Dutzendbildern  ge¬ 
worden,  die  uns  begegnet  sind,  seitdem  die  Maler, 
sei  es  mit  ihrer  Camera,  sei  es  nur  mit  ihren  Augen 
ausgerüstet,  auf  die  Wanderschaft  auszogen  und  die 
Natur  gefangen  nehmen  und  dann  scheinbar  wieder 
freilassen  wollten,  während  sie  sie  tatsächlich  nur 
»gefangen  genommen«  hatten.  Die  Ästhetik  dieser 
Maler  war  damals  noch  die  von  Liebermann.  (Daß 
es  die  Aufgabe  der  Kunst  sei,  die  Natur  wiederzu¬ 
geben.)  Was  aber  seine  Bilder,  ohne  daß  er  sich 
dessen  bewußt  wurde,  von  denen  dieser  Daguerreroty- 
pisten  unterschied,  das  war  das  unmaschinelle  Klingen 
darin;  das  Feuer,  die  Zartheit  des  Empfindens.  Lieber¬ 
mann  begriff  erst  später,  was  ihn  von  den  simplen 
Nachahmern  der  Natur  entscheidend  unterschied.  Durch 
diese  Bewegung,  diese  Zartheit  und  dies  Feuer  werden 
wir  von  der  holländischen  Nähschule  festgehalten, 
bei  der  es  die  Naturtreue  nicht  ist  —  eher  noch  die 
Natursimplizität,  die  Nichtarrangiertheit  des  Vorbildes 
—  die  uns  anzieht. 

Als  eine  prachtvolle,  sonore  Leistung  schätzen  wir 
das  »Tischgebet«  (187g)  mit  dem  nervösen  Pinsel¬ 
strich.  Das  Bild  ist  in  engster  Gemeinsamkeit  mit 
dem  Schaffen  von  Jozef  Israels  entstanden  (der  die 
gleiche  Komposition  gemacht  hat),  doch  ganz  ver¬ 
schieden  von  Israelschem  Wesen;  ein  vollkommen 
echter  Liebermann  in  Ton  und  Gestaltung  liegt  hier 
vor;  wuchtiger  als  Arbeiten  des  holländischen  Alt¬ 
meisters,  männlicher. 

Mit  besonderem  Interesse  betrachtet  man  den  Chri¬ 
stus  im  Tempel  aus  dem  gleichen  Jahre,  das  Bild, 
das  für  die  Ausstellung  wieder  ausgegraben  worden 
ist,  denn  es  war  seit  dem  Sturm,  der  sich  darum  im 
bayerischen  Landtag  erhob  (1879),  als  es  in  München 
ausgestellt  und  von  Wilhelm  Leibi  beschützt  wurde, 
nicht  wieder  zum  Vorschein  gekommen.  Es  ruhte 
im  Atelier  von  Fritz  von  Uhde;  dort  ruhte  es  von 
Verdächtigungen  und  Verleumdungen  aus,  denen  es 
unschuldigerweise  ausgesetzt  worden  war. 

Man  hatte  angenommen,  daß  eine  satirische  Ab¬ 
sicht  Liebermanns  Pinsel  gelenkt  hätte,  als  er  diesen 
Christus  malte.  Das  war  aber  nicht  wahr;  so  sehr 
auch  der  Künstler  —  auch  bei  diesem  Bilde,  das  sieht 
man  z.  B.  an  der  Auffassung  der  Wendeltreppe  im 
Hintergrund  —  für  Menzel  schwärmte.  Menzel  hat 
in  seinem  Transparentbild  »Christus  im  Tempel«  eine 
Karikaturabsicht  verwirklicht.  Liebermann  hingegen 
hat  ein  anderes  Naturell;  es  liegt  ebensowenig  in 
seinem  Wesen  die  Fähigkeit,  in  der  Malerei  satirisch 
zu  sein,  wie  zu  idealisieren.  Beides  ist  ihm  gleichwenig 
gegeben,  beides  liegt  außerhalb  seiner  Möglichkeiten. 

Daß  auch  das  Ideale  zu  gestalten  außerhalb  von 
Liebermanns  Fähigkeiten  liegt,  erkennt  man,  zum  Nach¬ 
teil  des  Bildes,  an  dem  Christusknaben,  der  eine  ge¬ 
sunde,  tüchtige,  grundernste  Malerei  aufweist  —  keine 
Spur  von  Satire  — ,  der  aber  nur  irgend  ein  junge 
ist,  ohne  zur  Vorstellungsmöglichkeit  von  Christus 
beizutragen. 

Das  Bild  ist  im  übrigen  ausgezeichnet  gemalt, 
sehr  kraftvoll  in  seinem,  wenn  man  will,  akademischen 


BERLINER  SEZESSIONS-AUSSTELLUNG  1907 


257 


Willi.  Trübner,  Karlsruhe 


Schloß  Hemsbach 


W.  Leislikow,  Berlin 


Der  Hafen 


258 


BERLINER  SEZESSIONS-AUSSTELLUNG  1907 


Wesen  (akademisch  insofern,  als  das  Bild  »zusammen¬ 
gesetzt«  ist,  aus  malerischen  Typen  und  malerischen 
Einzelheiten  bestehend,  nicht  den  Charakter  eines  »Er¬ 
lebnisses  tragend).  Besonders  schön  gemalt  sind 
ein  blauer  Kaftan,  einige  Hände,  ein  Licht  auf  einer 
Stirn,  der  Eußboden  —  und  der  sehr  zarte  Ausdruck 
eines  müden,  vom  Bibelstudieren  müden,  alten  Juden, 
der,  mit  der  Hand  am  Mund,  gespannt  anhört,  was 
der  Knabe  sagt.  Der  Hintergrund  —  die  Treppe  — 
ist  der  Synagoge  zu  Venedig  entnommen,  wo  Lieber¬ 
mann  vorher  geweilt  hatte.  Das 
Bild  selbst  ist  in  München  ent¬ 
standen,  in  der  kurzen  Zeit  von 
drei  oder  vier  Monaten. 

Uber  die  »alte  Strümpfestopferin«, 
das  »Altmännerhaus  in  Amsterdam« 
und  die  »Seilerbahn  gehe  ich  kurz 
hinweg,  diese  drei  Meisterwerke  sind 
zu  bekannte  Bilder.  Eine  farben¬ 
schöne,  sehr  romantische  Skizze  zu 
dem  "Netzflickerinnengemälde«  der 
Hamburger  Kunsthalle  war  weniger 
bekannt.  Mit  großem  Anteil  be¬ 
trachtet  man  Liebermanns  neuestes 
Werk,  sein  Porträt  des  Herrn  S.  — : 

Erstaunlich  ist,  wie  Liebermann  hier 
den  Dargestellten  nicht  in  der  Pose 
des  Qemaltwerdens  vorführte,  son¬ 
dern  sein  Nachdenken  zeigte,  das  er 
nur  divinatorisch  erfaßt  haben  kann. 

Ein  Werk  der  Rekonstruktion:  aus 
der  Fassade  das  Innere  erfaßt. 

Wenn  Liebermann  einmal  ver¬ 
stohlen  —  bei  der  Eröffnungsfeier 
hat  er  sich  nicht  blicken  lassen  —  in 
dem  achteckigen  Raum  sich  aufhält, 
der  alle  diese  Bilder  birgt  und  von 
den  alten  zu  den  neuen,  von  den 
neuen  wieder  zu  den  alten  seine 
prüfenden  Augen  wendet,  kann  er 
zufrieden  sein  und  es  kann  ihn  ein 
Glücksgefühl  erfüllen.  Und  manche 
Beschauer  können  von  Beschämung 
gepackt  worden  sein,  denn  es  han¬ 
delt  sich  bei  einigen  alten  Bildern, 
die  sie  jetzt,  wie  etwas  Selbverständ- 
liches,  bewundern,  um  solche,  die 
vormals,  man  weiß  jetzt  nicht,  warum, 
befehdet  worden  sind. 

Für  Berlin  ganz  neu  ist  Liebermanns  großes  Bild 
des  Hamburger  Professorenkonventes,  von  igo6,  das 
in  einem  anderen  Saale  aufgehängt  worden  ist,  als 
die  eben  genannten  Bilder.  Dieses  Werk  verdient  nicht 
die  gleiche  Bewunderung  wie  die  anderen  Liebermann- 
schen  Bilder.  Noch  scheint  es  mir  übrigens  im  Werden; 
und  es  erscheint  bei  der  intensiven  Intelligenz  Lieber¬ 
manns  durchaus  möglich,  daß  er  auch  dieser  schweren 
Aufgabe  Herr  wird,  auf  der  einen  Seite  eine  Anzahl 
Professoren  zu  malen,  die  zuhören,  auf  der  anderen 
Seite  aber,  über  sie  hinausgeführt,  in  das  Reich  einer 
gesteigerten  Porträtkunst  versetzt,  den  ihnen  allen  ge¬ 


bietenden  Professor  Brinckmann.  Noch  hat  ihn  Lieber¬ 
mann  sozusagen  in  einem  Zwischenreich:  sein  Kopf 
ist  nicht  mehr  in  dem  Bereich  eines  rationalistischen 
Porträts  gehalten,  seine  Flächen  sind  leerer  geworden; 
—  Liebermann  fühlte,  wohin  er  in  diesem  Bildnis 
gelangen  müßte:  Professor  Brinckmann  ist  aber  in 
dem  geistigen  Reich  noch  nicht  angelangt,  wohin  er 
ihn  bugsieren  wollte,  daher  noch  ohne  eigentliches 
Leben  in  dem  jetzigen  Zustand.  Unter  den  anderen 
Professoren  sind  manche  ausgezeichneten  Köpfe.  Per¬ 
spektivisch  sind  in  dem  Bilde  noch 
manche  Unsicherheiten;  und  das 
bestimmt  gleichfalls  seinen  Charakter 
als  den  einer  noch  nicht  vollen¬ 
deten  Arbeit. 

Sehr  vorangekommen  zeigt  sich 
in  dieser  Ausstellung  Corinth.  Er 
hat  ein  glänzendes  Porträt  des  Schau¬ 
spielers  Rudolf  Rittner  als  Florian 
Geyer  geschaffen.  Hierbei  hatte  er 
das  Glück,  daß  sich  Rittner  nicht 
eigentlich  eine  Maske  in  dieser  Rolle 
macht,  sondern  sich  selber  gibt, 
mithin  konnte  Corinth  der  Gefahr, 
die  sonst  in  Schauspielerbildnissen 
bei  der  Vorführung  einer  Rolle  liegt 
—  welche  entsetzlichen  Fratzen  von 
Mimen  in  der  Figur  Richards  III. 
haben  wir  z.  B.  erlitten  —  aus  dem 
Wege  gehen.  Prachtvoll  ist  der  ge¬ 
sunde  entschlossene  Ausdruck  Rittners 
wiedergegeben.  Und  von  dem  er¬ 
quicklichsten  malerischen  Reiz  ist 
Corinths  teilweise  parodistisches  Bild 
von  dem  angeblichen  Paris  (bei 
dem  man  schwerlich  an  Griechen¬ 
land  denken  kann)  und  den  drei 
Göttinnen.  Hier  funkelt  es  in  einer 
Landschaft,  die  des  größten  Reizes 
voll  ist,  von  blühenden  Farben, 
die  mit  prickelndem  Geschmack  vor¬ 
getragen  sind.  Die  Szene  hat  mehr 
von  einem  Künstleratelierscherz  als 
von  einer  wirklichen  Vorstellung 
des  Paris  von  Troja  —  doch  durch 
die  Meisterschaft  der  luftigen  Per¬ 
siflage  wird  das  Bild  zu  ernster 
Kunst  erhoben. 

Trübner  ist  mit  zwei  Landschaften  vorzüglich,  mit 
Bildnissen  (und  dem  alten  Amazonenbild)  nicht  so 
glücklich  vertreten.  Leistikow  hat  sich  mit  ausge¬ 
zeichneten  Leistungen  eingestellt,  unter  denen  beson¬ 
ders  »Der  Hafen«  anzieht.  Slevogt  hat  eine  recht 
schlechte  Ausstellung  veranstaltet  und  seinem  lang¬ 
weiligen  Bilde  eines  hamburgischen  Senators,  einem 
unglücklichen  Selbstporträt  und  einem  nichtssagenden 
Bildnis  eines  älteren  berittenen  Herrn  gegenüber  vertritt 
lediglich  eine  kleine,  recht  nette  Skizze  (»Sezessions¬ 
ball«)  die  Qualitäten  des  Künstlers.  Dora  Hitz  hat 
ein  interessantes  Porträt  von  Frau  Gerhart  Hauptmann 
ausgestellt,  wie  sie,  als  ob  sie  in  den  Wolken  thronte. 


O.  Kolbe,  Berlin  Dekorative  Figur  (Stein) 


BERLINER  SEZESSIONS- AUSSTELLUNG  1907 


259 


Louis  Corinili,  Berlin 


Rud.  Riltner  als  Florian  Geyer  M.  Beckmann,  Florenz 


Akte 


auf  einer  weißen  Bank  sitzend 
in  einer  geschmackvoll  arran¬ 
gierten  Robe  ihr  kapriziöses 
Köpfchen  über  den  Beschauer 
hinblicken  läßt.  Habermann 
ist  mit  einem  schönen  Stu¬ 
dienkopf  aus  den  achtziger 
Jahren  vertreten,  der  schon 
in  der  jahrhunderlausstellung 
war.  Bedeutende  Stil  leben 
sind  von  E.  R.  Weiß.  Der 
junge  Max  Beckmann,  einer 
der  Stipendiaten  des  Villa 
Romanapreises,  stellt  höchst 
talentvolle  —  wenn  auch 
nicht  immer  sympathische 
—  Arbeiten  aus;  ein  Kreu¬ 
zigungsbild  zeigt  uns  ein 
höchst  wüstes  Treiben:  be¬ 
wundernswert  aber  ist  ein 
Adam-  und  Evabild  von  er¬ 
staunlicher  Leuchtkraft.  Einen 
wunderschönen  Eindruck  ruft 
wieder  das  alte  Bildnis  her¬ 
vor,  das  Kalckreuth  von  seiner 
Gattin  schuf.  Vielleicht  mehr 
gezeichnet  als  gemalt  ist 
es  von  einer  wundervollen 
Innerlichkeit,  ein  Standard¬ 
werk  der  deutschen  Kunst. 
Außerdem  stellt  er  das  zarte 
Bild  der  neben  dem  reifen¬ 
den  Korn  einhergehenden 


Max  Beckmann,  Florenz 


Frauenbilclnis 


Bauernfrau  wieder  aus  und 
sein  solides,  sympathisches 
Selbstporträt  neben  einem 
vielleicht  mehr  illustrativ  ge¬ 
sehenen  Bildnis  des  Pastors 
Behrmann.  Hermann  Pleuer 
ist  in  seiner  gewohnten 
Weise  vertreten,  die  jüngeren 
Künstler  der  Sezession  zeigen 
sich  durchweg  mit  guten 
Arbeiten  in  rüstigem  Vor¬ 
wärtsgehen  begriffen.  Ulrich 
Hübner  besonders  hat  durch 
einen  langen  Aufenthalt  in 
Travemünde  —  der  für  ihn 
viel  nützlicher  gewesen  ist 
als  jener  Aufenthalt  in  der 
Villa  Romana,  welchen  ihm 
der  Künstlerbund  bewilligte 
—  eine  Vertiefung  gefunden, 
welche  ihm  zu  wünschen 
war.  Unter  den  alten  Mit¬ 
gliedern  der  Sezession  ist 
aber  wieder  einer  erschienen, 
der  für  sich  lebt  und  uns 
erfreut:  Oberländer.  Sein 
Wirken  berührt  sich  nicht 
mit  der  pastosen  Malerei 
der  Sezessionisten,  nicht  mit 
ihrer  Kampfesfreudigkeit;  es 
ist  gelassen  und  uns  doch 
willkommen. 


DAS  SEELENGARTLEIN 


In  seiner  von  der  königl.  belgischen  Akademie  preisge¬ 
krönten  Geschichte  der  vlämischen  Malerei  verzeichnet 
der  Brüsseler  Kunsthistoriker  A.  J.  Wauters  als  das  be¬ 
kannteste  Mitglied  einer  alten  und  zahlreichen  Genier 
Künstlerfamilic  den  als  Miniaturmaler  Margaretas  von  Öster¬ 
reich  tätigen  Gerard  Horenbout,  den  nachmaligen  Hof¬ 
maler  Heinrichs  Vlll.  von  England.  Schon  Dürer,  der  auf 
seiner  niederländischen  Reise  bei  ihm  vorsprach  und  na¬ 
mentlich  eine  Arbeit  seiner  damals  achtzehnjährigen  Tochter 
Susanna  bewunderte,  rühmt  ihn  als  llluministen.  Als  solcher 
steht  er  vor  uns  in  einer  hochbedeutsamen  Schöpfung  der 
Buchmalerei,  der  künstlerischen  Ausschmückung  des  be¬ 
rühmten  Hortulus  animae  der  Wiener  Hofbibliothek. 

Diese  deutsche  Übersetzung  eines  am  Beginne  des 
i6.  Jahrhunderts  in  Deutschland  recht  beliebten  Erbauungs¬ 
buches,  dessen  Verbreitung  nach  der  Drucklegung  nur 
noch  gewachsen  war,  befand  sich  einst  in  den  Händen 
der  Statthalterin  der  Niederlande,  der  Erzherzogin  Marga¬ 
reta  von  Österreich.  Für  verschiedene  in  ihrem  Aufträge 
ausgeführte  Gemälde  und  für  illuminierte  Livres  d’heures 
empfing  Gerard  Horenbout  mehrere  Zahlungen  zwischen 
1516  und  1521.  Unter  diese  Arbeiten  wird  der  Wiener 
Hortulus  animae  gerechnet,  in  dessen  Rand  Verzierungen 
mit  Perlen  und  Tausendschönchen  man  Anspielungen 
auf  die  hohe  Auftraggeberin  erkennen  wollte.  Nächst  dem 
mit  ihm  auch  in  Beziehung  gesetzten  Breviarium  Grimani, 
mit  dessen  kostbarer  Reproduktion  er  nun  in  den  Wett¬ 
bewerb  einer  alle  Feinheiten  moderner  Reproduktions¬ 
technik  ausnülzenden  Prachtpublikation  tritt,  gilt  er  als 
eine  der  herrlichsten  Leistungen  der  Illuminierkunst. 

Der  Leiter  der  Kupferstichsammlung  der  Wiener  Hof¬ 
bibliothek  Dr.  Friedrich  Dörnhöffer  stellt  seine  reiche  Sach¬ 
kenntnis  in  den  Dienst  der  kunstgeschichtlichen  Einwertung 
dieses  seltenen  Denkmales,  das  in  1 1  Lieferungen  zu  je 
60  M.  auf  514  Tafeln  mit  109  farbigen,  857  schwarzen  und 
62  einfach  getönten  Seiten  vorgeführt  und  in  einem  be¬ 
schreibenden  Texte  auch  kritisch  gewürdigt  werden  soll. 
Man  darf  den  darin  zu  bietenden  Aufschlüssen  gerade  bei 
einem  Herausgeber  wie  Dörnhöffer  mit  größter  Spannung 
entgegensehen  und  gewiß  manches  Neue  über  die  vlämische 
Malerei  als  freudig  begrüßten  Nebenertrag  erwarten.  Heute 
ist  nur  ein  Urteil  darüber  möglich,  wie  sich  das  Werk  in 
der  glänzenden  Ausstattungsweise  präsentiert  und  mit  den 
Feinheiten  der  Arbeit  in  der  Wiedergabe  selbst  abfindet. 

Der  Bilderschmuck  bietet  außer  Blattumrahmungen, 
für  deren  künstlerische  Belebung  figurenreiche  Szenen  von 
großer  Mannigfaltigkeit  aus  dem  städtischen  und  länd¬ 
lichen  Leben  herangezogen  sind,  ganzseitige  Heiligenfiguren 
mit  einer  durchwegs  überaus  subtilen  Behandlung  des 
landwirtschaftlichen,  beziehungsweise  architektonischen  Hin¬ 
tergrundes.  Die  in  dem  vorliegenden  Probehefte  vereinig¬ 
ten  Kalenderbilder  des  Jänner,  Februar,  April,  Mai  und 
Juni  geben  entzückende  Einzelheiten  in  einer  wirklich  ver¬ 
blüffenden  Weise  wieder  und  ermöglichen  geradezu  wie 
an  dem  Originale  selbst  ein  zuverlässiges  Urteil  über  alle 
Werte  der  Arbeitsweise  des  seltenen  Werkes,  ob  es  nun 
die  Auffassung  und  Anordnung  der  Szenen  an  sich,  die 
Beherrschung  des  Raumproblems,  der  Perspektive,  der 

Seelengärtlein.  Hortulus  aniume.  Cod.  Bibi.  Pal. 
Vindob.  2706.  Photomechanische  Nachbildungen  der  k.  k. 
Hof-  und  Staatsdruckerei  in  Wien,  herausgegeben  unter 
der  Leitung  und  mit  kunstgeschichtlichen  Erläuterungen 
von  Friedrich  Dörnhöffer.  Frankfurt,  Jos.  Baer  8r  Co.,  1907. 


Architektur  oder  der  Landschaft  gilt.  Wie  glücklich  ist 
die  Stimmung  des  Februartages  jener  des  April  entgegen¬ 
gesetzt,  wo  bis  auf  die  blühenden  Bäume  und  die  sprossen¬ 
den  Blümlein  des  sich  verjüngenden  Rasens  eingegangen 
ist!  Köstliches  Behagen  an  der  Schönheit  der  wieder¬ 
erwachten  Natur,  welche  auch  andere  Genußfreudigkeit 
im  Menschenherzen  aufsteigen  läßt,  liegt  über  die  Szene 
des  Maienglückes  gebreitet,  und  Tierbeobachtung  und 
zarte  Landschaftsstimmung  vereinigen  sich  auf  dem  Juni¬ 
bilde  in  ungemein  glücklicher  Weise.  Gerade  angesichts 
der  Tatsache,  daß  die  Typen  für  diese  Darstellungsreihe 
immerhin  von  einer  traditionellen  Gebundenheit  sich  nicht 
leicht  frei  machen  konnten,  wird  die  künstlerische  Aus¬ 
reifung  des  Vorwurfes  offensichtlich  und  bei  dieser  Re¬ 
produktionsweise  auch  nach  jeder  Richtung  hin  bewertbar. 
Volle  Klarheit  und  harmonische  Stimmung  beherrschen 
nicht  minder  das  Kreuzigungsbild,  den  ernsten  Jakobus, 
den  prächtigen  Christoph  und  die  anmutige  Katharina, 
um  deren  Liebreiz  (siehe  die  von  uns  in  Dreifarbendruck 
nachgebildete  Tafel)  Horenbout  sich  mit  offensichtlichem 
Zartgefühle  bemüht  hat.  Für  die  so  malerischen  Bau¬ 
werke  des  Hintergrundes  konnte  gerade  Gent  mit  seinem 
Grafenschlosse  und  seinen  Giebelhäusern  überaus  ver¬ 
wendbare  Motive  beistellen,  an  welchen  der  Meister  augen¬ 
scheinlich  auch  nicht  achtlos  vorübergegangen  ist.  Seine 
Vertrautheit  mit  Darstellimgsmomenten  des  See-  und 
Fischerlebens  tritt  in  dem  Hintergründe  des  Jakobusbildes 
sowie  in  der  köstlichen  Fischfangszene  des  Christophblattes, 
jene  mit  der  Beschäftigung  der  Landleute  zu  den  ver¬ 
schiedenen  Jahreszeiten  auf  dem  Februar-  und  Junibilde 
vortrefflich  zutage.  Der  gedeckte  Tisch  der  Jännerdar¬ 
stellung  und  der  Geflügelhof  des  Aprilblattes  lassen  die 
LImsicht  erkennen,  mit  welcher  auf  scheinbar  untergeord¬ 
nete  Einzelheiten  eingegangen  ist.  Aber  auch  der  andere 
Schmuck  der  Umrahmungen,  Schmetterlinge  und  Blüten, 
die  im  Wasserglase  stehenden  Blumen,  der  Rosenzweig 
mit  aufbrechender  Knospe  ist  von  lebenatmender  Frische, 
alles  mit  erquickender  Ünmittelbarkeit  gegeben.  Die  Dar¬ 
stellungsfähigkeit  haftet  jedoch  nicht  nur  an  Äußerlich¬ 
keiten,  sondern  steigt  auch  in  die  Tiefen  der  Seele  hinab 
und  weiß  ergreifenden  Ausdruck  aus  denselben  empor¬ 
zuholen.  Das  zeigen  die  männlichen  Gestalten  unter  dem 
Kreuze,  die  gramgebeugt  zusammenbrechende  Maria,  die 
kindlich  naive  Frömmigkeit  der  in  Betrachtung  versunkenen 
Katharina,  der  gleichsam  bei  mannigfachen  Pilgerfahrten 
wettergebräunte  Charakterkopf  des  Jakobus.  Gar  manches 
klingt  an  die  Auffassung  und  Darstellungsart  bekannter 
Meister  niederländischer  Großmalerei  an;  der  in  Aussicht 
gestellte  Text  wird  an  der  Klarlegung  der  Wechelbezie- 
hungen  und  an  dem  Herausschälen  der  Sonderart  Horen- 
bouts  eine  ebenso  dankbare  als  interessante  Aufgabe 
finden. 

Die  photomechanischen  Nachbildungen,  in  welchen 
die  k.  k.  Hof-  und  Staatsdruckerei  in  Wien  die  Sonder¬ 
werte  der  in  der  Kleinmalerei  manch  großen  Zug  betonen¬ 
den  Bilderhandschrift  zur  Geltung  zu  bringen  und  wissen¬ 
schaftlicher  Einschätzung  verwendbar  zu  machen  weiß, 
stehen  ganz  auf  der  Höhe  auch  verwöhntester  Gegenwarts¬ 
ansprüche  und  zeigen  geradezu  eine  staunenswerte  Ver¬ 
feinerung  der  Reproduktionstechnik.  Sie  erschließt  in 
glänzender  Weise  eine  hervorragende  Schöpfung,  in  welcher 
die  schon  in  ihrem  Geltungsgebiete  eingeschränkte  Buch¬ 
malerei  zu  einer  nur  selten  wieder  begegnenden  Leistungs¬ 
fähigkeit  emporstieg.  Joseph  Neuwirth. 


Herausgeber  und  verantwortliche  Redaktion:  E.  A.  Seemann,  Leipzig,  Querstraße  13 
Druck  von  ERNST  HedriCH  Nache.,  a.  m.  b.  h.,  Leipzig 


\  r 


MINIATUR  AUS  DEM  SEELENOÄRTLEIN 

Dreifarbendruck,  nachgebildet  der  Tafel  in  der  Ausgabe  des  Verlages  j.  Baer  8c  Co.,  Frankfurt. 


ZEITSCHRIFT  FÜR  BILDENDE  KUNST  IQO7  ORIOINALRADIERUNO  VON  F.  BRACQUEMOND,  PARIS 


1.  Skizze  von  Francesco  Guardi,  im  Museo  Correr,  Venedig 


SKIZZEN  UND  ZEICHNUNGEN  DES  FRANCESCO  GUARDI 

Von  George  A.  Simonson  in  London 


Guardi  war  mit  seiner  Feder  und  dem  Bleistift 
bei  weitem  nicht  so  tätig  als  mit  dem  Pinsel. 
In  dieser  Hinsicht  glich  er  den  alten  vene¬ 
zianischen  Meistern,  die  sich  als  Koloristen  viel  mehr 
auszeichneten  als  durch  ihre  Leistungen  in  der  Zeichen¬ 
kunst.  Man  findet  vereinzelte  Blätter  seiner  Hand¬ 
zeichnungen  in  öffentlichen  Sammlungen  wie  in 
privaten.  Im  Vergleich  zu  seinen  unzähligen  Ge¬ 
mälden  von  Venedig  (ohne  die  Menge  von  capricci 
oder  teilweise  imaginären  Landschaften,  mit  denen  er 
seine  Geburtsstadt  überschwemmte,  mit  einzurechnen) 
sind  sie  jedoch  viel  weniger  bekannt  als  seine  Malereien. 

Der  lehrreiche,  in  der  Aprilnummer  dieser  Zeit¬ 
schrift  erschienene  Aufsatz  des  Herrn  Aureliano  de 
Beruete  über  Goyas  Handzeichnungen  gab  dem  Ver¬ 
fasser  die  Idee,  dem  gleichen  Leserkreise  über  Guardis 
Skizzen  Mitteilung  zu  machen.  Denn  Guardi  und 
Goya  haben  einige  gemeinsame  Kunstprinzipien  ge¬ 
habt,  obgleich  sie  von  der  Natur  mit  verschiedenen 
Temperamenten  ausgestattet  waren,  und  zwischen  den 
Sphären  ihrer  Wirksamkeit  gar  keine  Analogie  besteht. 
Vierunddreißig  Jahre  später  als  Guardi  geboren,  über¬ 
lebte  Goya  ihn  mehr  als  ebenso  viele  Jahre.  Der 
venezianische  .  Künstler  starb  zu  Venedig  1793,  der 
spanische  beendete  seine  Tage  zu  Bordeaux  1828. 
Der  eine  wie  der  andere  war  ein  Produkt  des  acht¬ 
zehnten  Jahrhunderts  und  ein  Vorläufer  der  modernen 
Malerei.  Sie  waren  von  demselben  Geiste  der  Em¬ 
pörung  gegen  das  Konventionelle  beseelt  und  ent¬ 
falteten  dieselben  impressionistischen  Neigungen, 
welche  wir  in  den  Werken  der  modernen  französischen 
Schule  finden.  Es  ist  daher  nicht  zu  verwundern, 
daß,  nachdem  ihr  Andenken  lange  Zeit  vernachlässigt 
worden  war,  die  künstlerische  Welt  fast  in  demselben 
Moment  zu  einer  gebührenden  Anerkennung  ihrer 
Verdienste  erwacht  ist.  Vor  zwanzig  Jahren  wurden 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XVIII.  H.  ii 


Guardi  und  Goya  noch  nicht  verstanden.  Jetzt  haben 
sie  den  Höhepunkt  ihres  Ruhmes  erreicht. 

Diese  wenigen  Bemerkungen  mögen  dazu  dienen, 
anzudeuten,  daß  ein  verbindendes  Glied  zwischen 
Guardi  und  Goya  vorhanden  ist  und  daß  eine  gewisse 
Veranlassung  dazu  besteht,  diesen  Artikel  dem  dieser 
Zeitschrift  über  Goya  beigesteuerten  folgen  zu  lassen. 

Die  Feststellung  der  Verwahrungsorte  von  Guardis 
Handzeichnungen  ist  schwer  zu  erörtern,  da  sie  in 
ganz  unerwarteten,  sogar  entlegenen  Gegenden  auf¬ 
tauchen.  Während  sie  in  wichtigen  Sammlungen 
von  Zeichnungen,  wie  in  derjenigen  des  Großherzog¬ 
lichen  Museums  zu  Darmstadt  nicht  vertreten  sind, 
befinden  sich  Proben  seiner  Schwarzweiß -Arbeit  oft 
in  Museen  untergeordneten  Ranges  verborgen.  So 
treffen  wir  vereinzelte  Blätter  von  Guardis  Zeich¬ 
nungen  in  den  Museen  zu  Lille,  Grenoble  und  Köln 
an,  um  ein  paar  aufs  Geratewohl  zu  erwähnen,  ln 
der  Regel  entdeckt  man  bloß  kleine  Serien  in  öffent¬ 
lichen  Sammlungen  und  selbst  das  Britische  Museum 
kann  nur  wenige  Proben  aufbieten;  wovon  eine,  der 
Markusplatz  in  Venedig  während  eines  Festes,  mit 
zahlreichen  Figuren  belebt,  wohl  als  eine  von  Guardis 
feinsten  Federleistungen  gelten  mag.  Die  Zeichnung 
ist  schon  deshalb  auffallend,  weil  sie  in  ungewöhnlich 
großem  Maßstabe  ausgeführt  ist.  ln  dem  Kupferstich¬ 
kabinett  des  Berliner  Museums  findet  sich  eine  Serie 
von  zwölf  Skizzen  von  Guardi.  Die  reichste  Samm¬ 
lung  jedoch,  vom  numerischen  Standpunkt,  besitzt 
das  Museo  Correr^)  in  Venedig,  welches  nicht  weniger 
als  achtzig  Skizzenblätter  von  Guardi  enthält;  einige 
davon  hängen  an  den  Wänden  in  einem  der  Säle  des 
Instituts,  andere  sind  in  einem  kleinen  Album  verwahrt. 


1)  Siehe  des  Verfassers  Monographie  über  Francesco 
Guardi  (Methuen  &  Co.,  London),  Seite  59. 


36 


2Ö2 


SKIZZEN  UND  ZEICHNUNGEN  DES  FRANCESCO  GUARDI 


Im  Jahre  1867  sammelte  ein  früherer  Direktor 
des  Museums,  der  verstorbene  Commendatore  N. 
Barozzi,  alle  im  Museum  befindlichen  Skizzen  Guardis 
in  dieses  Bändchen.  Es  ist  ein  Album  in  Oktav¬ 
format,  in  Halbpergament  gebunden,  die  Zeichnungen 
sind  auf  der  rechten  Seite  seiner  blauen  Blätter  an¬ 
gebracht.  Die  Größe  derselben  ist  verschieden, 
schwankend  zwischen  den  Maßen  von  fünfzehn  bis 
acht  Zentimeter.  Dargestellt  ist  eine  Reihe  von  Mo¬ 
tiven,  Ansichten  von  Venedig,  Paläste,  Kirchen,  Kanäle, 
Brücken,  Senatoren,  maskierte  Figuren  und  allerlei 
Landschaften,  Häfen,  Schlösser,  Seen  und  Marine¬ 
szenen  nebst  Architekturstücken,  Ruinen,  Pyramiden 
und  verfallenen  Tempeln,  jede  Zeichnung  ist  mit 
zwei  Nummern  versehen;  diejenigen,  welche  die 
Reihenfolge  der  Zahlen  vorstellen,  sind  später  einge¬ 
schoben  und  laufen  von  Nr.  i  bis  Nr.  54  und,  nach 
unterbrochener  Reihenfolge,  weiter  von  Nr.  65  bis 
Nr.  73.  Die  in  dem  Album  fehlenden  Skizzen 
(Nr.  55  bis  Nr.  64)  sind  aufgehängt,  wie  vorerwähnt, 
oder  befinden  sich  auf  Gestellen  in  dem  Museum. 
Ein  Inhaltsverzeichnis  mit  Beschreibungen  jeder  Zeich¬ 
nung,  welches  von  Commendatore  Barozzi  dem  Bande 
beigefügt  war,  zählt  insgesamt  achtzig  Studien  des 
Guardi  auf.  Auf  der  Rückseite  des  Einbandes  des 
Albums  steht  eine  Anmerkung^)  geschrieben,  der  ge¬ 
mäß  Teodoro  Correr,  der  Stifter  des  Museums,  eine 
kleine  Anzahl  dieser  Zeichnungen  Guardis  Sohn, 
Giacomo,  abgekauft  hat.  Einige  Skizzen  vom  Gia- 
como,  welcher  auch  Künstler  wurde,  haben  sich  denen 
seines  Vaters  eingemischt.  Zwischen  seinen  beschei¬ 
denen  Leistungen  und  denjenigen  des  Francesco  ist 
aber  ein  so  starker  Unterschied,  daß  die  Sichtung 
der  Werke  des  Vaters  und  des  Sohnes  leicht  wird. 

Besonderes  Interesse  haftet  einigen  von  Guardis 
Skizzen  in  dem  Museo  Correr  an;  zum  Beispiel  wenn 
sie  Stadtviertel,  aus  der  unmittelbaren  Umgebung 
seiner  Wohnung  während  seiner  letzten  Lebensjahre 
in  der  Gemeinde  von  S.  Canziano,  Venedig  oder 
Plätze  und  Städte  auf  dem  Festlande,  welche  er  von 
Zeit  zu  Zeit  besuchte,  darstellen.  Eine  Studie  ist  da 
zu  einem  imposanten,  noch  vorhandenen  Gemälde, 
welches  wir  verfolgen  können  als  in  Udine  ausgeführt, 
und  da  sind  andere  mit  eigenhändigen  Kommentaren 
des  Malers  über  den  wiedergegebenen  Ort,  woraus 
wir  mit  Sicherheit  schließen  können,  welchen  Teil 
von  Norditalien  er  durchreiste.  Wie  sein  Meister 
Antonio  Canale,  besuchte  Guardi  das  Tal  der  Brenta, 
Padua  und  die  Marca  Trevigiana. 

Einige  von  Guardis  Handzeichnungen  sind  von 
ihm  mit  der  vollen  Unterschrift,  andere  nur  mit 
seinen  Initialen  (F.  G.)  versehen,  aber  die  Mehrzahl 
derselben  sowie  seiner  Malereien,  sind  unsigniert.  Es 
gibt  eine  Menge  von  Nachahmungen  seiner  Werke, 
aber  Guardis  Stil  ist  so  unverkennbar,  daß  der  Laie, 
außer  wenn  die  Fälschungen  sehr  geschickt  sind, 
die  Meinung  eines  Sachverständigen  nicht  braucht, 
um  über  ihre  Echtheit  zu  entscheiden.  Viele  von 


1)  Siehe  des  Verfassers  Monographie  über  Francesco 
Guardi,  Seite  59. 


Guardis  Zeichnungen  sind  sehr  hastig  ausgeführt  und 
tragen  Anzeichen  fieberhaften  Schaffens.  Dennoch 
existieren  sehr  sorgfältig  gefertigte  Studien  von  ihm, 
welche,  wie  wir  annehnien  dürfen,  nicht  zu  seiner 
eigenen  Zerstreuung,  sondern  im  Aufträge  für  seine 
venezianischen  und  ausländischen  Gönner  gemacht 
wurden,  und  diese  mag  er  verkauft  haben,  wie  man 
von  Giarnbattista  Tiepolo  sagt,  daß  er  mit  seinen 
Studien  gehandelt  habe.  Ohne  Zweifel  benutzte 
Guardi  zuweilen  Feder  und  Bleistift,  um  eine  Studie, 
bevor  er  sie  auf  die  Leinwand  übertrug,  vorzubereiten 
und  wir  finden  vollendete  Studien  von  ihm,  die  mit 
den  Gemälden,  die  nach  ihnen  gemacht  waren,  so 
genau  übereinstimmen,  daß  man  fast  annehmen  könnte, 
daß  er  sein  Sujet  zuerst  malte  und  es  dann  in  schwarz¬ 
weiß  kopierte.  Sehr  feine,  sorgfältig  ausgeführte 
Zeichnungen  von  Guardi  sind  selten  und  werden 
heutzutage  von  Kennern  sehr  hoch  geschätzt.  Es  ist 
befriedigend  zu  sehen,  wie  sowohl  Zeichnungen  als 
Bilder  des  Meisters  sich  allmählich  in  öffentliche 
Museen  ihren  Weg  bahnen,  durch  Ankauf  oder  durch 
Vermächtnis.  So  ist  vor  nicht  langer  Zeit  die  Dutuit- 
Kollektion  mit  vier  sehr  geistreichen  Skizzen  Guardis, 
alle  Darstellungen  vom  Markusplatze,  in  das  Pariser 
Museum  im  Petit  Palais  übergegangen.  Auf  diese 
Weise  darf  man  ernstlich  hoffen,  daß  Guardis  beste 
Studien  die  Mappen  bereichern  werden,  welche  den 
Zeichnungen  der  alten  Meister  in  Museen  bestimmt 
sind,  und  schließlich  unter  die  Kategorie  unveräußer¬ 
licher  Kunstwerke  fallen  werden.  Neulich,  bei  An¬ 
laß  des  Ablebens  eines  sehr  bekannten  englischen 
Sammlers,  ging  eine  Federzeichnung  Guardis  von 
ungemeinem  Interesse,  den  Aufstieg  des  Grafen  Fran¬ 
cesco  Zambeccari  in  einem  Ballon^)  darstellend,  in 
anderen  Besitz  über,  und  die  Aufgabe,  ihren  gegen¬ 
wärtigen  Verbleib  nachzuweisen,  falls  es  nicht  sogleich 
geschieht,  mag  eine  unmögliche  sein. 

Wir  haben  festgestellt,  daß  Guardi  einer  der 
frühesten  Impressionisten  war.  ln  seinen  Zeichnungen 
geht  sein  Impressionismus  noch  weiter  als  in  seinen 
Gemälden,  alle  Einzelheiten  verbannend,  die  für 
malerische  Effekte  unerheblich  zu  sein  scheinen. 
Guardi  war  der  glänzendste  Darsteller  des  Pittoresken 
in  der  Szenerie  von  Venedig  nicht  nur  unter  den 
Malern  seiner  Zeit,  sondern  auch  unter  den  modernen. 
Es  ist  gerade  in  Bezug  auf  »pittoreske-  Landschaft, 
daß  Ruskin  in  der  einzigen  Stelle  in  seinen  »Mo¬ 
dernen  Meistern«,  in  welcher  er  Guardi  beiläufig 
erwähnt,  dessen  Namen  denjenigen  von  Canale  und 
Tempesta  beigesellt.  Dem  oberflächlichsten  Beobachter 
von  Guardis  Zeichnungen  wird  seine  besondere  Ge¬ 
schicklichkeit,  das  Malerische  in  der  Topographie  von 
Venedig  wiederzugeben,  auffallen.  Manchmal  ist  es 
das  Staccato  seiner  zitternden  Linien,  das  unsere  Auf¬ 
merksamkeit  erzwingt,  manchmal  der  wunderbare 
chiaroscuro  Effekt,  den  er  hervorbringt.  Seine  Feder¬ 
striche  sind  so  individuell  und  originell,  daß  man 
gerne  annehmen  könnte,  daß,  wenn  Guardi  gewollt, 


1)  Siehe  des  Verfassers  Monographie  über  Francesco 
Guardi,  Seite  57. 


2.  Zeichnung  von  Francesco  Guardi  (aus  der  Sammlung  von  Miss  S.  C.  Hewitt,  New  York) 


3.  Skizze  von  Francesco  Guardi,  im  Museo  Correr,  Venedig 


36“* 


4.  Originalzeiclinung  von  Francesco  Guardi,  aus  der  Sammlung  von  George  A.  Simonson  in  London 


5.  Originalzeiclinung  von  Giainbaltista  Piranesi,  aus  der  Saninilmig  von  George  A.  Sinionson  in  London 


0.  Originalzeiclinung  von  Antonio  Canale,  aus  der  Saniinlung  von  George  A.  Sinionson  in  London 


266 


SKIZZEN  UND  ZEICHNUNGEN  DES  ERANCESCO  GUARDl 


er  ein  vortrefflicher  Radierer  hätte  werden  können 
und  Whistlers  lebhaften  reizvollen  Blättern  von  Ve¬ 
nedig  mit  nicht  weniger  frappanten  Radierungen  hätte 
zuvorkommen  können.  Whistler  kann  als  ein  unbe¬ 
wußter  Nachfolger  von  Guardi  angesehen  werden, 
nicht  nur  weil  seine  nervösen  Linien  mit  denjenigen 
des  Venezianers  eine  nahe  Verwandtschaft  zu  haben 
scheinen,  sondern  auch  wegen  der  gleichartigen  Effekte 
von  Licht  und  Luft.  Guardi  wie  Whistler  zeichnete 
sich  durch  seine  raschen  Entwürfe  von  venezianischen 
Veduten  und  seine  Darstellungen  des  bunten  Schiff¬ 
wesens  der  Lagunenstadt  aus.  Aber  als  Eiguren- 
zeichner  übertrifft  Guardi  bei  weitem  den  Whistler. 
Gerade  in  seinen  Skizzen  von  Venezianern  läuft 
Guardis  Sinn  für  Humor  gleichsam  über,  und  die 
Szenen  des  flotten  Lebens  der  eleganten  Welt  in 
Venedig,  welche  er  in  seinen  Gemälden  geschildert 
hat,  lassen  einen  unvergeßlichen  Eindruck  auf  das 
Auge.  Zwei  seiner  feinsten  Stücke,  in  denen  er  mit 
zauberhaftem  Pinsel  solche  Szenen  uns  vergegen¬ 
wärtigt,  hat  der  Verfasser  das  Glück  gehabt  in  London 
letzthin  zu  entdecken.  Das  eine  stellt  eine  Maskerade 
in  einem  Saale  des  Ridotto  zu  Venedig  vor^),  das 
andere  ein  Eest  auf  dem  Markusplatze  am  Himmel¬ 
fahrtstag.  Einem  sehr  geistreichen  modernen  Kunst¬ 
kritiker,  dem  der  Einfluß  der  japanischen  Kunst  auf 
Whistler  vorgeschwebt  haben  mag,  ist  das  »chinesische« 
Aussehen  gewisser  Eiguren  in  Guardis  Darstellungen 
aufgefallen,  wodurch  er  sich  veranlaßt  fühlt  die  Be¬ 
merkung  zu  machen,  daß  Guardi  durch  chinesische 
Eigurenstudien  beeinflußt  gewesen  sein  mag.  Tiepolos 
Chinoiseries  sind  Beispiele  orientalischen  Einflusses, 
es  ist  aber  kein  Grund  vorhanden,  anzunehmen,  daß 
Guardis  flotte  Staffagen  nicht  gänzlich  die  Geschöpfe 
seiner  Phantasie  sind.  Besondere  Erwähnung  seiner 
Eiguren  wird  deshalb  gemacht,  weil  sie  in  vielen 
seiner  Zeichnungen  eine  sehr  wichtige  Rolle  spielen. 
Mögen  sie  auch  nicht  immer  die  Grazie  und  den 
Reiz  von  Pietro  Longhis  Studien  venezianischer 
Kavaliere  und  Koketten  haben,  von  denen  eine  in 
ihrer  Art  einzige  Sammlung  im  Museo  Correr  zu 
Venedig  sich  befindet,  so  erregen  Guardis  Staffagen 
ein  viel  regeres  Interesse  bei  uns  als  die  Figuren  in 
den  Sittenbildern  des  Longhi,  dessen  Anschauung  des 
tollen  venezianischen  Lebens  lange  nicht  so  originell 
ist  als  die  Guardis. 

Unser  Künstler  zeigt  sich  als  ein  vollendeter 
Meister  in  dem  Gebrauch  von  Sepia.  Mit  diesem 
jetzt  ganz  veralteten  Mittel  gelingt  es  ihm,  Schatten 
und  Halbschatten  so  fein  abzustufen,  daß  die  weichen 
Farbentöne  seiner  Bilder  in  denselben  fast  vorher 
angedentet  genannt  werden  können.  Zu  der  Ab¬ 
bildung  Nr.  4,  einer  höchst  genial  ersonnenen  Zeich¬ 
nung  von  Guardi,  ist  ein  schimmernder  Lichteffekt  in 
meisterhafter  Weise  wiedergegeben.  Durch  die  Säulen¬ 
bogen,  in  einen  leichten  Schatten  im  Vordergründe 
gehüllt,  sehen  wir  einen  von  der  Sonne  leuchtend 
erhellten,  innern  gewölbten  Hof,  in  welchen  das  Licht 

i)  Siehe  in  der  Zeitschrift  »L’Arte«  (Fase.  IV,  1907) 
des  Verfassers  Aufsatz;  »La  mascherata  al  Ridotto  in  Ve¬ 
nezia  di  Francesco  GuardU. 


von  oben  hereinströmt.  In  der  linken  oberen  Ecke 
ist  eine  Spanne  offenen  Himmels  sichtbar,  besäumt 
von  den  zickzackigen,  von  der  Witterung  beschädigten 
Umrissen  der  Mauer.  Sparsam  wie  auch  Guardi  mit 
dem  Gebrauch  von  Sepia  vorgegangen  ist,  erhöht  er 
doch  hierdurch  die  Effekte  seiner  Architekturstücke 
und  gibt  uns  eine  Idee  von  Raum  und  Licht,  welche 
ohne  eine  Grundlage  von  Sepia  kaum  möglich  ge¬ 
wesen  wäre.  Modernen  Malern,  welche  ihre  Aqua¬ 
relle  mit  allen  möglichen  Farben  zu  überladen  pflegen, 
würde  der  Verfasser  ein  Studium  von  Guardis  Sepia¬ 
arbeit  anempfehlen. 

Mit  diesem  einfachen  Mittel,  welches  er  sehr  leicht 
aufsetzt,  erzielt  er  wunderbar  frappante  chiaroscuro 
Effekte.  Viele  seiner  Zeichnungen  könnten  Mono¬ 
chrome  in  braunem  oder  blondem  Farbenton  genannt 
werden.  Wie  auch  andere  Maler  seiner  Zeit,  Zucca- 
relli  zum  Beispiel,  machte  Guardi  einige  Versuche  in 
Aquarellmalerei,  einer  damals  noch  im  Werden  be¬ 
griffenen  Technik.  Guardis  Aquarelle,  obwohl  sie 
eher  gefärbte  Zeichnungen  sind  als  Aquarelle  im 
modernen  Sinne  des  Wortes,  haben  als  erste  Versuche 
in  diesem  Mittel  kein  geringes  kunsthistorisches  In¬ 
teresse.  In  Anbetracht,  wie  sehr  sich  dasselbe  für 
schnelle  Improvisationen  eignet,  ist  es  merkwürdig, 
daß  Guardi  keinen  freieren  Gebrauch  davon  ge¬ 
macht  hat. 

Wir  haben  den  Leser  bereits  darauf  aufmerksam 
gemacht,  daß  Guardi  nicht  radiert  hat,  obgleich  er 
alle  Fähigkeiten  besessen  zu  haben  scheint,  einen 
vorzüglichen  Radierer  abzugeben.  Wir  wagen  zu 
behaupten,  daß  seine  Anlage  hierfür  seinen  Feder¬ 
zeichnungen  entnommen  werden  kann.  Es  ist  schwer 
zu  begreifen  wie  es  kam,  daß  Guardi  nicht  das  Ra¬ 
dieren  von  Canale  erlernte,  um  so  mehr  weil  zwei 
von  Canales  weniger  begabten  Schülern,  Bernardo 
Bellotto  und  Michele  Marieschi  dem  Beispiele  ihres 
Meisters  folgend  auch  radiert  haben,  ln  seinen  Zeich¬ 
nungen  hielt  sich  Guardi  bloß  an  Canale  Insoweit 
er  auch  von  der  Sepia  Gebrauch  machte,  ln  der 
Federführung  glich  er  ihm  nicht.  Guardi  war  nicht 
ein  bloßer  Nachahmer  des  Canale,  wie  zu  häufig  an¬ 
genommen  wird.  Er  hatte  ein  bestimmteres  künst¬ 
lerisches  Temperament  als  sein  Lehrer  und  auch  einen 
viel  frappanteren  Stil.  Gewöhnlich  heißt  es  bloß, 
daß  Canale  einen  Einfluß  auf  Guardi  ausgeübt  hat. 
Wir  glauben,  daß  zwischen  beiden  ein  Austausch 
von  Einfluß  stattfand,  ln  der  königlichen  Gemälde¬ 
sammlung  zu  Windsor  sowie  unter  den  Zeichnungen 
alter  Meister  in  der  daselbst  befindlichen  Bibliothek 
gibt  es  viele  Arbeiten  von  Canale,  in  denen  er  einen 
sehr  ungebundenen  Stil  an  den  Tag  legt  und  einen 
Blick  für  das  Malerische,  in  welchem  wir  den  Ein¬ 
fluß  von  Guardi  auf  ihn  wohl  sehen  können.  Von 
der  etwas  konventionellen  Manier  Canales  machte 
sich  Guardi  bald  frei,  da  wir  bereits  in  seinen  jugend¬ 
lichen  Arbeiten  seinen  individuellen,  obwohl  noch 
unentwickelten,  Stil  erkennen.  Ein  Beispiel  einer  seiner 
reifen  Federstudien  ist  unter  Fig.  Nr.  4  abgebildet, 
während  Fig.  Nr.  6  eine  von  Canales  feinsten 
Schwarzweiß -Leistungen  vorstellt.  Ein  Vergleich  der 


7.  Skizze  von  Francesco  Giiardi,  im  Museo  Correr,  Venedig 


8.  Skizzen  von  Francesco  Guardi,  im  Museo  Correr,  Venedig 


268 


SKIZZEN  UND  ZEICHNUNGEN  DES  FRANCESCO  GUARDI 


Reproduktionen  dieser  beiden  Zeichnungen  zeigt, 
wie  verschieden  die  Temperamente  von  Canale  und 
Guardi  waren. 

Wenn  Canale  ein  vollkommenerer  Meister  seines 
Handwerkes  und  ein  gediegenerer  Bildner  von  Archi¬ 
tektur  war,  so  hatte  Guardi  einen  phantasiereicheren 
Sinn  für  Komposition  und  einen  weit  leichteren 
Federstrich  als  sein  Lehrer.  Nebst  Canale  und  Guardi 
wollen  wir  noch  einen  Venezianer  an  dieser  Stelle 
nennen,  dessen  architektonische  Darstellungen  unüber¬ 
troffen  sind,  nämlich  Giambattista  Piranesi. 

Abbildung  Nr.  5  gibt  eine  seiner  verhältnismäßig 
seltenen  Federstudien  wieder,  durch  welche  wir  ihn 
viel  besser  beurteilen  können  als  in  seinen  Kupfer¬ 
stichen.  Piranesi  war  einer  der  Hauptvertreter  des 
Architekturkultes,  welcher  im  achtzehnten  Jahrhundert 
allgemein  wurde  unter  Kunstliebhabern.  Piranesis 
große  Vorliebe  für  klassische  Ruinen  und  Trümmer 
wurde  auch  von  Guardi  geteilt.  Der  letztere  jedoch 
hatte  ein  viel  feineres  Auge  für  das  Malerische, 
wenn  auch  Piranesis  Visionen  großartiger  antiker 
Architekturszenen,  wovon  seine  Zeichnungen  von  An¬ 
sichten,  der  Tempel  zu  Paestum  im  Soane  Museum 
(London),  gute  Beispiele  bilden,  ebenso  imposant 
sind.  Die  beiden  abgebildeten  Zeichnungen  von 
Guardi  und  Piranesi  sind  teilweise,  wenn  nicht  ganz, 
phantastische  Kompositionen,  während  Canale  in  seiner 
in  weichem  Sepiaton  ausgeführten  Studie  offenbar 
eine  wirkliche  Naturszene  dargestellt  hat.  Die  Illu¬ 
stration  Nr.  2  zeigt  eine  Landschaft  am  Meeresstrand, 


wie  Guardi  deren  viele  ähnliche  gemalt  hat.  Die 
Originalzeichnung,  welche  aus  der  Sammlung  des 
spanischen  Künstlers  Raimondo  de  Madrazo  stammt, 
ist  jetzt  in  New  York,  und  zwar  im  Besitze  von 
Fräulein  S.  C.  Hewitt.  Die  Rokokoeinfassung  der 
Landschaft  ist  ganz  eigen  und  erinnert  an  die  Plafond¬ 
dekorationen  barocken  Stils  in  den  venezianischen 
Palästen,  welche  Giambattista  Tiepolos  Deckenfresken 
umgeben.  Zum  Schluß  machen  wir  den  Leser  noch 
auf  die  Abbildungen  der  Skizzen  Guardis,  welche 
im  Museo  Correr  sich  befinden,  aufmerksam.  Als 
impressionistische  Studien  betrachtet,  sind  dieselben 
trotz  ihrer  etwas  flüchtigen  Ausführung  höchst  lehr¬ 
reich,  besonders  da  wir  wissen,  daß  der  Guardi- 
Skizzenschatz  im  Museo  Correr  zu  Guardis  Hinter¬ 
lassenschaft  gehörte  und  bei  seinem  Tod  in  den  Besitz 
seines  Sohnes  Giacomo  überging.  Das  alles  sind 
Arbeiten  seiner  letzten  Tage.  Eine  davon  ist  mit  der 
Jahreszahl  1789  bezeichnet  und  eine  andere  kann 
kaum  vor  1792  entstanden  sein,  denn  sie  stellt  das 
Theater  La  Fenice  vor,  das  erst  in  diesem  Jahre 
eröffnet  wurde.  Erläuternde  Bemerkungen  über  die 
hier  abgebildelen  Skizzen  des  Museo  Correr  sind 
überflüssig,  zumal  näheres  über  ihre  Entstehung  nicht 
bekannt  ist.  In  der  Sammlung  von  Zeichnungen  in 
der  Brera  ist  eine  Studie  Guardis  von  Kämpfern  zu 
Pferd  und  zu  Fuß,  welche  in  derselben  skizzenhaften 
Weise  entworfen  ist  als  diejenige  (Nr.  8),  welche 
wir  diesem  Aufsatze  als  vorletzte  Abbildung  ange¬ 
schlossen  haben. 


9.  Skizze  von  Francesco  Guardi,  im  Museo  Correr,  Venedig 


Die  Terrasse  der  Villa  Brancas 


Nach  einer  Radierung  von  Felix  Bracquemond 


FELIX  BRACQUEMOND 

Von  Karl  Eugen  Schmidt,  Paris. 


Die  Leiter  der  Societe  nationale  haben  den  vor¬ 
trefflichen  Gedanken  gehabt,  eines  der  ältesten 
Mitglieder  ihrer  Gesellschaft  im  diesjährigen 
Salon  durch  eine  Sonderausstellung  zu  ehren.  Dieser 
Gedanke  an  sich  wäre  weiter  nicht  besonders  lobens¬ 
wert,  denn  obwohl  die  Societe  nationale  keine  zwanzig 
Jahre  alt  ist,  hat  sie  doch  schon  eine  ganze  Reihe 
ältester  Mitglieder,  von  denen  man  gewiß  keine 
hundert  Werke  beisammen  sehen  möchte.  Hier  aber 
handelt  es  sich  um  Felix  Bracquemond,  und  das  ist 
einer  der  interessantesten  Künstler,  nicht  nur  der 
Societe  nationale,  sondern  überhaupt  unserer  Zeit. 

Wahrscheinlich  gibt  es  Leute  genug,  die  Bracque¬ 
mond  überhaupt  nicht  kennen,  und  die  ihn  kennen, 
wissen  kaum  von  der  Vielseitigkeit  seiner  Begabung 
und  seiner  Tätigkeit.  Weitaus  am  bekanntesten  ist 
der  Radierer  Bracquemond.  Wer  immer  sich  um  die 
moderne  Griffelkunst  des  neunzehnten  Jahrhunderts 
kümmert,  weiß,  daß  Bracquemond  vielleicht  der  er¬ 
staunlichste  Techniker  der  Radierung  ist,  und  daß 
neben  ihm  nicht  drei  moderne  Stecher  genannt  zu 
werden  verdienen.  Charles  Meryon,  eben  einer  von 
denen,  die  genannt  werden  müssen,  pflegte  seinen 
Bewunderern  zu  sagen: 

»Nein,  Ihr  irrt  Euch:  ich  habe  gar  keine  Ahnung 
von  der  Kunst  des  Radierers.  Ich  kann  einfach  nicht 
radieren.  Aber  Bracquemond,  das  ist  ein  Radierer, 
der  kann  radieren.« 


Mit  Meryon  hat  Bracquemond  einige,  wenn  auch 
nicht  viel  Ähnlichkeit.  Er  gehörte  mit  dem  auch 
noch  unter  uns  weilenden  Radierer  und  Drucker 
August  Delätre  zu  den  intimsten  Freunden  des  einstigen 
Marineoffiziers,  und  an  ihn  ist  der  letzte,  ganz  vom 
Irrsinn  beherrschte  Brief  gerichtet,  den  Meryon  kurz 
vor  seinem  Tode  in  der  Irrenanstalt  von  Charenton 
schrieb.  Ein  so  wunderbarer  Radierer  und  Künstler 
Meryon  auch  war,  ich  kann  mich  nicht  ganz  von 
dem  Gedanken  losmachen,  daß  er  dem  in  seinem 
Gemüte  schlummernden  Irrsinn  nicht  wenig  von  dem 
mysteriösen  Reize  verdankt,  der  uns  in  seinen  Blättern 
fasziniert.  Immer  oder  wenigstens  in  den  meisten 
Fällen  und  gerade  in  seinen  berühmtesten  und  herr¬ 
lichsten  Blättern  umlauert  den  Künstler  und  den  Be¬ 
schauer  ein  latentes  Grausen.  Es  ist  die  Stille  un¬ 
mittelbar  vor  oder  nach  dem  Verbrechen.  Soeben 
erst  sind  die  Mörder  in  jener  unheimlichen  Finsternis 
verschwunden  oder  aber  sie  werden  im  nächsten 
Augenblick  hervorstürzen  und  ihr  grausiges  Werk 
verrichten.  Diese  Atmosphäre  des  Wahnsinns  scheint 
mir  neben  den  rein  technischen  und  künstlerischen 
Vorzügen  seiner  Blätter  eine  Hauptursache,  warum 
der  Beschauer  von  der  Rue  des  Mauvais  garqons, 
von  der  Morgue,  von  dem  Stryge  und  von  fünfzig 
anderen  Blättern  Meryons  gleichsam  dämonisch  an¬ 
gezogen  und  festgehalten  wird.  Meryon  ist,  möchte 
ich  sagen,  der  Edgar  Allen  Poe  der  Radierung. 


ZeitschnU  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XVI II.  H.  i 


37 


270 


FELIX  BRACQUEMOND 


Bracquemond  hat  nun  von  diesen  Wahnvor¬ 
stellungen,  von  diesen  schauerlichen  Mysterien  nicht 
die  Spur.  Er  ist  der  gesundeste,  klarste  und  heiterste 
Künstler,  den  man  sich  denken  kann.  Wenn  ich 
oben  gesagt  habe,  daß  er  mitunter  an  Meryon  er¬ 
innert,  so  bezieht  sich  das  auf  mehr  äußerliche  Dinge. 
Auch  Bracquemond  grübelt  und  philosophiert  zu¬ 
weilen,  und  da  liebt  er  es,  wie  Meryon  pflegte,  seine 
Gedanken  nicht  nur  durch  die  Zeichnung,  sondern 
auch  durch  eini¬ 
ge  Verse  auszu¬ 
sprechen.  Meryon 
tat  das  allerdings 
viel  häufiger  als 
Bracquemond, 
und  bei  ihm  kam 
es  vor,  daß  die 
Verse  die  Haupt¬ 
sache  wurden, 
daß  die  Zeich¬ 
nung  nur  so  ne¬ 
benbei  mitging. 

Auch  der  Inhalt 
der  Verse  ist  der 
Natur  der  beiden 
Künstler  nach 
sehr  verschieden. 

Bracquemond  ge¬ 
fällt  sich  in  hei¬ 
terer  Ironie,  in 
kerngesundem 
Humor,  Meryon 
ist  düster  und  ge¬ 
heimnisvoll  wie 
in  seiner  Zeich¬ 
nung.  Einige 
Verse  Bracque- 
monds  sind  in 
Frankreich  be¬ 
rühmt  geworden 
und  werden  oft 
zitiert.  Die  Kritik 
hat  er  mit  einer 
Elster  verglichen, 
die  der  Welt  ver¬ 
kündet,  daß  das 
einzig  Schöne  das 
Häßliche  sei;  die 
Presse  ist  bei  ihm 
eine  Ente,  die  in  drolligen  Versen  erklärt,  daß  sie  etwas 
höchst  Erstaunliches  zu  erzählen  habe: 

Merveille!  Merveille!  Merveille! 

Bonnes  gens,  ouvrez  l’oreille; 

Je  vais  vous  dire  un  recit 
Qui  s’est  passe  loin  d’ici. 

Den  Advokaten,  die  auch  von  Daumier  so  ent¬ 
setzlich  mitgenommen  wurden,  widmet  er  als  Sinn¬ 
bild  eine  fette  Rabenschar,  die  sich  am  Galgen  er¬ 
götzt,  und  darunter  schreibt  er: 

Cri  funebre,  sombre  plumage, 
je  suis  le  rapace  corbeau. 

Voulez-vous  avoir  mon  image, 

Voyez  Loyal  ou  Chicaneau. 


Dann  hat  Bracquemond  noch  etwas  mit  Meryon 
gemein,  was  ihn  zum  Liebling  der  Sammler  macht. 
Denn  neben  diesen  beiden  gibt  es  überhaupt  keinen 
modernen  französischen  Radierer,  der  so  sehr  die 
Aufmerksamkeit  der  Sammler  erregt  hätte.  Höchstens 
Legros  kommt  noch  in  Betracht,  und  dann  die  Aus¬ 
länder  Whistler  und  Zorn.  Das  kommt  daher,  daß 
Meryon  und  Bracquemond  eigentlich  nie  für  den 
Handel  gearbeitet  haben  und  daß  sie  ihre  Arbeit 

nicht  für  beendet 
hielten,  wenn  die 
Kupferplatte  fer¬ 
tig  war.  In  der 
Tat  ist  damit  nur 
einTeil  der  eigent¬ 
lichen  Arbeit  ge¬ 
tan:  der  Drucker 
ist  ebenso  wich¬ 
tig  wie  der  Ra¬ 
dierer.  Die  Ar¬ 
beit  des  Radierers 
zerfällt  in  drei  Ab¬ 
teilungen,  deren 
jede  fast  gleich¬ 
wichtig  ist,  wenn 
es  sich  um  die 
Herstellungwirk¬ 
lich  vollkomme¬ 
ner  Blätter  han¬ 
delt.  Da  ist  zuerst 
der  Zeichner,  der 
die  Nadel  führt, 
dann  der  Ätzer, 
der  die  Linien 
dem  Kupfer  ein¬ 
graben  läßt,  end¬ 
lich  der  Drucker, 
der  das  Bild  von 
dem  Kupfer  auf 
das  Papier  über¬ 
trägt.  Die  aller¬ 
meisten  unserer 
heutigen  Radierer 
begnügen  sich 
mit  den  beiden 
ersten  Arbeiten 
und  überlassen 
das  Drucken  ei¬ 
nem  anderen.  Sie 
überlassen  dem  Auftraggeber  auch  die  Wahl  des  Papieres, 
und  besonders  hierin  unterscheiden  sich  Bracquemond, 
Meryon  und  einige  wenige  andere  Griffelkünstler  von 
dem  großen  Haufen  ihrer  Kollegen. 

Das  Drucken  ist  gewiß  ebenso  wichtig  wie  das 
Zeichnen  und  das  Ätzen,  aber  in  den  letzten  sechzig 
Jahren  und  bis  auf  den  heutigen  Tag  haben  die 
Pariser  Radierer  einen  so  vorzüglichen  Drucker  ge¬ 
habt,  daß  sie  ihm  diesen  Teil  ihrer  Arbeit  ruhig  über¬ 
lassen  konnten.  Der  alte  August  Delätre  druckte  die 
Blätter  so  gut,  wie  es  nur  jeder  Radierer  selbst  hätte 
tun  können,  und  in  vielen  Fällen  besser.  Aus  seiner 


FELIX  BRACQUEMOND 


271 


Schule  sind  dann  drei  oder  vier  Drucker  hervorge¬ 
gangen,  darunter  sein  Sohn  Eugen  Delätre,  die  fast 
ebenso  zuverlässig  und  künstlerisch  drucken  wie  der 
alte  Meister.  Das  also  durfte  Meryon  und  Bracque- 
mond  ruhig  dem  Drucker  überlassen.  Anders  steht 
es  mit  dem  Papier.  Jedermann  weiß,  daß  wir  uns 
heute  des  miserabelsten  Papieres  erfreuen,  das  man 
sich  vorstellen  kann.  Wahrscheinlich  wird  es  in 
dreißig  Jahren  noch  schlechter  sein,  aber  augenblick¬ 
lich  können  wir 
unsschlechteres 
Papier  über¬ 
haupt  nichtden- 
ken.  Nicht  nur 
alle  unsere  Zei¬ 
tungen, sondern 
auch  fast  alle 
unsere  Bücher 
werden  in  fünf¬ 
zig  Jahren  ein¬ 
fach  zerbrechen 
und  in  Staub 
zerfallen,  sobald 
man  sie  anrührt. 

Für  den  Griffel¬ 
künstler  ist  das 
ganz  besonders 
mißlich,  und 
schon  vor  fünf¬ 
zig  Jahren  fahn¬ 
deten  Leute  wie 
Meryon  und 
Bracquemond 
auf  das  schöne 
Papier,  das  un¬ 
sere  von  der 
modernen  indu¬ 
striellen  Ent¬ 
wickelung  un¬ 
berührten  Vor¬ 
fahren  in  ihrer 
Einfalt  aus  köst¬ 
lichen  Lumpen 
machten.  Man 
kaufte  alte  Ge¬ 
schäftsbücher 
und  sonstige  Fo¬ 
lianten  auf  und 
benutzte  die  leer 
und  weiß  gebliebenen  Blätter  zum  Drucken.  Selbst¬ 
verständlich  konnten  und  erst  recht  können  das  nur 
solche  Künstler,  die  ganz  wenige  Abzüge  machen. 
Der  Verleger,  der  bei  einem  Radierer  eine  Platte  be¬ 
stellt  und  tausend  oder  zehntausend  Abzüge  davon 
macht,  kann  an  solche  Feinheiten  nicht  denken. 

Aus  diesem  Grunde  aber  kümmert  sich  der  Samm¬ 
ler  nicht  oder  wenig  um  die  von  dem  Verleger  heraus¬ 
gegebenen  Blätter,  selbst  dann  nicht,  wenn  der  Mann 
mit  allen  Schikanen  arbeitet  und  fünfzig  Abzüge  vor 
der  Schrift,  ebensoviele  mit  Künstlereinfall,  ebenso- 
viele  auf  Japan,  China,  Holland  usw.  druckt.  Es  mag 


Leute  geben,  denen  das  imponiert,  aber  der  Sammler, 
der  seine  Blätter  wirklich  liebt  und  versteht,  gibt  auf 
diese  Mätzchen  nichts  mehr.  Schon  darum  nicht, 
weil  er  weiß,  daß  heutzutage  die  Kupferplatte  gestählt 
wird  und  danach  viele  tausend  Abzüge  liefert,  deren 
einer  ganz  genau  so  schön  und  gut  wird  wie  der 
andere.  Vor  fünfzig  Jahren  war  das  anders:  da  nutzte 
sich  die  Kupferplatte  schnell  ab  und  die  ersten  Ab¬ 
züge,  die  man  an  dem  Fehlen  der  Schrift  oder  an 

dem  Künstler- 
einfal!  erkannte, 
waren  bei  wei¬ 
tem  die  besten 
und  schönsten. 
Dazu  kam  dann 
noch  der  soge- 
nannteKünstler- 
druck,  der  da¬ 
mals  noch  nicht 
ein  Spekula¬ 
tionsartikel  des 
Verlegers  ge¬ 
worden  war. 
Zur  Zeit,  wo 
Bracquemond 
seine  besten 
Blätter  schuf, 
zog  der  Künstler 
von  der  in 
Arbeit  befind¬ 
lichen  Platte 
und  von  der  so¬ 
eben  fertig  ge¬ 
wordenen  eini¬ 
ge  Blätter  ab, 
die  er  seinen 
Freunden  gab. 
Das  waren  wirk¬ 
liche  Künstler¬ 
drucke,  deren 
Schönheit  noch 
erhöht  wurde 
durch  die  Sorg¬ 
falt,  womit  das 
Papier  ausge¬ 
wählt  war. 

Bekanntlich 
bezahlen  Samm¬ 
ler  nicht  nur  die 
Schönheit,  sondern  auch  die  Seltenheit,  und  da  ist 
es  natürlich,  daß  die  ersten  Drucke  Bracquemonds 
heute  fabelhafte  Preise  erzielen.  Nicht  so  fabelhaft 
wie  die  Künstlerdrucke  Meryons  freilich,  die  in  ein¬ 
zelnen  Fällen  10000  Franken  erreicht  haben,  aber 
doch  immer  so,  daß  der  gewöhnliche  Staatsbürger 
sich  mit  Grausen  wendet.  Daß  Meryon  weit  höher 
geschätzt  wird  als  irgend  ein  anderer  moderner 
Radierer,  hängt  auch  mit  seiner  latenten  Tollheit  zu¬ 
sammen.  Der  Mann  machte  von  jeder  Platte  fünf, 
zehn,  zwanzig  Abzüge  in  verschiedenen  Zuständen, 
er  kratzte  die  halbe  Platte  weg  und  brachte  ein  Meer 


^  MAKCOT  La  CKITKlUf:. 

(i  V'H-i  cfi  1/u.e-  ^Lurtu-lihLj  studiu,m  (j  ut  inITnunc  (oyuwJt. 


Nach  einer  Radierung  von  Felix  Bracquemond 


37 


272 


FELIX  BRACQUEMOND 


mit  vielen  Schiffen  an  die  Stelle,  wo  vorher  eine 
Schafherde  weidete,  er  hatte  immer  neue  Einfälle,  die 
immer  künstlerisch,  aber  sehr  oft  wirklich  wahnsinnig 
waren,  und  sobald  ihm  etwas  durch  den  Kopf  ging, 
kam  es  auch  auf  die  Platte,  die  er  gerade  auf  dem 
Tische  hatte.  Es  gibt  also  von  manchen  Blättern 
Meryons  Zustände,  die  nur  in  ganz  wenigen  Exem¬ 
plaren  vorhanden  sind,  und  diese  Seltenheit  verzehn- 
ja  verhundertfacht  ihren  Wert.  Manche  Blätter  von 
Meryon  kann  man  im  letzten,  fertigen  und  endgültigen 
Zustande  für  zehn 
oder  zwanzig  Eranken 
kaufen,  während  sie 
in  einem  besonders 
seltenen  früheren  Zu¬ 
stande  tausend  oder 
fünftausend  Eranken 
wert  sind  respektive  so 
hoch  bezahlt  werden. 

Es  kommt  also 
ungefähr  auf  folgen¬ 
des  hinaus:  ein  Ra¬ 
dierer,  der  von  den 
Sammlern  geschätzt, 
gesucht  und  hoch  be¬ 
zahltsein  will, muß  vor 
allen  anderen  Dingen 
selbstverständlich  ein 
eigenartigesTalent  be¬ 
sitzen  aber  fast  ebenso 
wichtig  ist,  daß  er  sich 
nicht  in  die  Hände 
eines  Händlers  begibt, 
daß  er  seine  Platten 
nicht  einfach  in  die 
Druckerei  liefert,  wo 
man  tausend  oder 
zehntausend  gute  oder 
schlechte  Abzüge 
macht,  sondern  daß 
er  selber  druckt  oder 
dabei  steht,  wenn  ge¬ 
druckt  wird,  daß  er 
sein  Papier  selber  aus¬ 
sucht  und  daß  er  so 
wenig  Abzüge  wie 
möglich  macht.  Ich 
weiß  sehr  gut,  daß  die 
Radierer  diese  Verhältnisse  besser  kennen  als  ich,  und 
daß  sie  einen  triftigen  Grund  haben,  wenn  sie  trotzdem 
einen  andern  Weg  einschlagen:  um  das  Radieren  zu 
betreiben,  wie  Bracquemond  und  Meryon  getan  haben, 
muß  man  wohlhabend  oder  bedürfnislos  sein.  Wer 
Geld  verdienen  will  oder  muß,  ist  auf  den  Verleger 
oder  Händler  angewiesen,  und  bei  dem  Händler  muß 
es  die  Masse  bringen. 

Bracquemond  ist  wie  fast  alle  großen  Künstler 
des  neunzehnten  Jahrhunderts  nicht  aus  dem  akade¬ 
mischen  Unterricht  hervorgegangen.  In  dem  Fache, 
worin  er  seinen  größten  Ruhm  errungen  hat,  ist  ihm 
eigentlich  überhaupt  nie  Unterweisung  geworden. 


Zwar  hat  er  sich  auf  dem  in  seiner  klaren  Festigkeit 
geradezu  an  Holbein  erinnernden  jugendbildnis,  das 
er  im  Alter  von  neunzehn  Jahren  gezeichnet  hat,  als 
Schüler  Guichards  bezeichnet,  aber  Guichard,  seiner¬ 
seits  Schüler  von  Ingres,  hat  ihn  nur  im  Zeichnen 
und  Malen  unterrichtet.  Die  ganze  Technik  der  Radier¬ 
kunst  hat  Bracquemond  für  sich  allein  ausgedacht  und 
ausprobiert,  und  seine  erste  Anleitung  fand  er  in  der 
Enzyklopädie,  die  Diderot  und  d’Alembert  fast  hundert 
Jahre  vorher  veröffentlicht  hatten.  Bracquemond  ist 

sein  ganzes  Leben 
lang  —  wie  Böcklin 
und  viele  andre  Künst¬ 
ler  —  ein  Tüftler, 
Bosseier  und  Ent¬ 
deckergewesen.  Nicht 
nur  in  der  Radier¬ 
kunst  fand  er  alle 
bereits  früher  geübten 
Techniken  neu  auf 
und  fügte  neue  Ver¬ 
fahren  den  alten  hinzu, 
sondern  auch  auf  an¬ 
deren  Kunstgebieten 
hat  er  sich  als  immer 
weiter  suchender  und 
probierender  Entdek- 
ker  bewährt.  In  ihm 
wie  in  so  manchem 
anderen  Künstler  un¬ 
serer  und  früherer  Zeit 
steckt  etwas  vom  Al¬ 
chimisten  und  Gold¬ 
macher,  und  dieser 
Zug  führte  ihn  zur 
Keramik,  die  wirklich 
mit  der  einstigen  Al¬ 
chimie  manche  Ähn¬ 
lichkeit  hat. 

Als  Beraldi  vor 
einigen  zwanzigJahren 
den  Katalog  derRadie- 
rungenBracquemonds 
aufstellte,  führte  er 
nahezu  800  Num¬ 
mern  an,  und  seither 
wird  diese  Zahl  wohl 
noch  einmal  voll  ge¬ 
worden  sein.  In  diesem  außerordentlich  großen  Lebens- 
werke,doppeltgroß,wenn  wirdieTätigkeit  Bracquemonds 
auf  anderen  Gebieten  berücksichtigen,  kann  man  drei 
oder  vier  Abteilungen  sondern.  Erstens  haben  wir  es 
mit  Stichen  nach  Gemälden  anderer  Meister  zu  tun,  die 
ohne  jede  Erage  zu  den  herrlichsten  und  vollkommen¬ 
sten  Nachstichen  gehören.  Es  ist  geradezu  wunder¬ 
bar,  wie  Bracquemond  sich  der  Art  so  durchaus  ver¬ 
schiedener  Künstler  anschmiegt,  und  wie  er  dabei 
doch  immer  persönlich  und  individuell  bleibt.  Er 
hat  Holbein  und  Rubens,  Ingres  und  Delacroix,  Millet 
und  Corot,  Turner  und  Manet,  Decamps,  Rousseau 
und  Gustav  Moreau  nachgestochen,  und  immer  hat 


FELIX  BRACQUEMOND 


273 


Nach  einer  Radierung  von  Felix  Bracqueinond  (Haut  d’un  baftant  de  Porte) 


Bucheinband,  entworfen  von  Felix  Bracqueniond 


274 


FELIX  BRACQUEMOND 


er  mit  unglaublicher  Gewandtheit  den  eigentümlichen 
Charakter  des  Vorbildes  hervorgehoben  und  unter¬ 
strichen,  ohne  dabei  die  eigene  Persönlichkeit  zu  ver¬ 
stecken  oder  zu  unterdrücken. 

ln  zweiter  Reihe  wären  die  Bildnisse  zu  nennen, 
die  er  nach  seinen  Freunden  und  Zeitgenossen  radiert 
hat.  In  der  Villa  Brancas  in  Sevres,  wo  er  seit  einem 
halben  Jahrhundert  wohnt,  haben  die  ausgezeichnetsten 
Pariser  Künstler  und  Schriftsteller  der  letzten  fünfzig 
Jahre  verkehrt,  und  fast  alle  haben  dem  Hausherrn 
gesessen.  So  ent¬ 
standen  die  berühm¬ 
ten  Blätter  nach  Me- 
ryon,  Edmond  de 
Goncourt,  Leon  Cla- 
del,  Theophil  Gau¬ 
thier,  Manet,  Edwin 
Edwards ,  Fantin- 
Latour,  Baudelaire, 

Puvis  de  Chavannes, 

Corot,  Delacroix, 

Chenavard  usw.,von 
denen  einige  wie  die 
vier  erstgenannten 
die  höchste  Meister¬ 
schaft  nicht  nur  des 
Künstlers  und  Tech¬ 
nikers,  sondern  auch 
des  Menschenken¬ 
ners,  des  Erfassers 
einer  fremden  Indi¬ 
vidualität  bekunden. 

Die  dritte  Reihe 
hat  Bracquemond 
seine  herrlichsten 
W  erke  gegeben,  aber 
nein,  es  ist  nicht 
möglich,  den  nach 
Holbein  gestoche¬ 
nen  Erasmus,  den 
Boissy  d’ Anglas 
nach  Delacroix,  den 
David  nach  Gustav 
Moreau,  alle  die 
nach  Millet  radierten 
Blätter  weniger  hoch 
einzuschätzen  alsden 
Haut  d’un  battant  de 
Porte,  als  Margot  la  Critique,  als  die  Ebats  de  Canards, 
und  es  ist  auch  nicht  möglich,  die  oben  genannten 
Bildnisse  diesen  Tierstudien  unterzuordnen.  Die  Wahr¬ 
heit  ist,  daß  Bracquemond  auf  diesen  drei  Gebieten 
gleich  vollkommene  Werke  geschaffen  hat,  und  es  ist 
lediglich  eine  persönliche  Geschmacksneigung,  viel¬ 
leicht  eine  Vorliebe  für  die  Tieranekdote,  die  mich 
seine  Raubvögel,  seine  Enten,  Möven,  Maulwürfe, 
Hähne  vorziehen  läßt.  Aber  ich  kann  mir  wirklich 
nicht  denken,  daß  ein  anderer  Künstler  das  Leben 
dieser  Tiere  auch  nur  ebensogut  schildern  könnte. 
Ich  kann  mir  absolut  nicht  vorstellen,  daß  jemals  ein 
alter  Gockel  so  wunderbar  gezeichnet  werden  könnte 


wie  der  vieux  coq  Bracquemonds,  daß  die  im  Wasser 
tollenden  Enten  jemals  einen  so  vertrauten  Freund 
finden  könnten  wie  diesen  Radierer.  Diese  Blätter 
kann  man  stundenlang  anschauen  und  sich  immer 
neu  an  ihnen  erfreuen.  Man  kann  sie  da  an  die 
Wand  hängen,  wo  das  Auge  jeden  Tag  und  jede 
Stunde  auf  sie  fällt,  und  nie  wird  man  sie  erblicken, 
ohne  sich  an  ihnen  zu  freuen.  Von  wie  vielen 
modernen  Kunstblättern  kann  man  ein  gleiches  sagen? 

Die  vierte  Reihe  der  Radierungen  Bracquemonds 

führt  uns  auf  ein 
ganz  anderes  Gebiet. 
Einige  zweihundert 
der  von  Beraldi  ge¬ 
nannten  Radierungen 
hat  der  Künstler  als 
keramischen  Dekor 
geschaffen.  In  den 
sechziger  Jahren  ge¬ 
hörte  Bracquemond 
mit  Goncourt,  Phi¬ 
lipp  Burty  und  eini¬ 
gen  anderen  Künst¬ 
lern  und  Schrift¬ 
stellern  zu  den  ersten 
Kennern  und  Freun¬ 
den  der  japanischen 
Kunst,  und  das  mag 
ihn  zu  seinen  ersten 
keramischen  Ver¬ 
suchen  geführt  ha¬ 
ben,  diedurch  seinen 
Wohnort  gleich  bei 
der  Porzellanmanu¬ 
faktur  einen  neuen 
Anstoß  erhalten 
mußten.  Eine  Zeit¬ 
lang  arbeitete  Brac¬ 
quemond  für  die 
Manufaktur,  dann 
war  er  fast  ein  volles 
Jahrzehnt  für  einen 
der  größten  franzö¬ 
sischen  Fabrikanten 
tätig  und  schuf  in 
dieser  Zeit  unzählige 
Entwürfe.  Nachdem 
er  zuerst  die  Radie¬ 
rung  mit  der  Keramik  verbunden  halte,  indem  er  die 
feuchten  Blätter  auf  den  Ton  legte  und  so  in  den 
Ofen  brachte,  wo  das  Papier  verschwand,  während 
die  Tinte  der  Zeichnung  in  den  Ton  eingebrannt 
wurde,  wandte  er  später  auch  die  Malerei  an  und 
ging  dann  zum  Schmelz  und  überhaupt  zu  allen 
möglichen  Arten  der  Dekorierung  über.  Lange  vor 
Carries  schon  hat  Bracquemond  so  allerlei  Gefäße 
aus  Porzellan,  Steingut  und  Fayence  geschaffen,  die 
mit  den  japanischen  Erzeugnissen  wetteifern. 

Wenn  der  Radierer,  Keramiker  und  Maler  Muße 
fand,  beschäftigte  ersieh  mit  anderen  kunstgewerblichen 
Gebieten.  Er  hat  Entwürfe  für  Stickereien,  für  Buch- 


FELIX  BRACQUEMOND 


275 


einbände,  für  Geschmeide,  für  Tafel si Iber,  für  schmiede¬ 
eiserne,  geschnitzte  und  gegossene  Gegenstände  ge¬ 
liefert,  und  mit  Jules  Cheret  und  Alexander  Charpen- 
tier  zusammen  hat  er  die  Stadtwohnung  und  das 
Landhaus  des  bekannten  Mäcens  Vitta  vollständig  mit 
künstlerischem  Hausrat  ausgestattet.  So  kann  der 
Meister,  der  jetzt  im  74.  Jahre  steht  und  der  seit 
seinem  14.  Jahre  als  Künstler  und  Kunstgewerbler 
tätig  ist,  auf  ein  ebenso  langes  wie  fruchtbares  Leben 
zurückschauen ,  auf 
ein  Leben ,  dessen 
Resultate  für  zehn 
andere  Menschenle¬ 
ben  genügen  würden. 

Bracquemond  aber 
genügen  sie  noch 
nicht,  denn  heute  wie 
einst  ist  er  unermüd¬ 
lich  an  der  Arbeit, 
und  auf  dem  Gebiete 
der  mit  farbigem 
Schmelz  ausgestatte¬ 
ten  goldenen  Prunk¬ 
gefäße,  das  er  in  den 
letzten  Jahren  bevor¬ 
zugt,  hat  er  sein  letztes 
Wort  noch  lange  nicht 
gesprochen. 

Bracquemond  ist 
nicht  nur  als  Tech¬ 
niker  in  seiner  Kunst 
von  erstaunlicher  Viel¬ 
seitigkeit,  er  gehört 
wie  die  Künstler  der 
Renaissance  zu  den 
Elitemenschen,  denen 
eigentlich  keine  Be¬ 
tätigung  des  mensch¬ 
lichen  Geistes  fremd 
ist.  Wer  ihn  je  in 
seiner  idyllisch  am 
waldigen  Bergeshang 
oberhalb  der  Manu¬ 
faktur  von  Sevres  ge¬ 
legenen  Wohnung  be¬ 
sucht  hat,  deren  Aus¬ 
sicht  er  auf  seinem 
berühmten  Blatte  »Die 
Terrasse  der  Villa 
Brancas«  festgehalten  hat,  weiß,  wie  überaus  an¬ 
ziehend  und  lehrreich  die  Unterhaltung  mit  dem 
Meister  ist.  Das  Alter  hat  seine  körperliche  Be¬ 
weglichkeit  etwas  gehemmt,  ohne  dem  Geiste  das 

geringste  anhaben  zu  können.  Da  die  Augen  beim 

Radieren  nicht  mehr  mitwollen,  kam  er  eines  Tages, 
als  er  von  seinem  Gärtner  erfahren  hatte,  seine  Frau 
sei  Stickerin,  auf  den  Gedanken,  Aquarelle  als  Stick¬ 
muster  zu  entwerfen.  Und  nach  einigen  nicht  sehr 
gelungenen  Versuchen  hat  er  jetzt  eine  ganz  unend¬ 
liche  Skala  von  Farbentönen  mit  Buchstaben  und 

Zahlen  bezeichnet,  welche  Zahlen  und  Buchstaben  er 


nun  auf  die  Pause  seiner  Entwürfe  schreibt,  also  daß 
die  Stickerin  danach  ihre  Röllchen  wählt  und  keinen 
Irrtum  begehen  kann. 

Nebenbei  aber  ist  Bracquemond  schon  seit  Jahren 
auch  literarisch  tätig.  Er  hat  ein  ebenso  originelles 
wie  anregendes  Buch  über  »Zeichnung  und  Farbe 
geschrieben ,  aus  welchem  ich  in  den  bei  E.  A. 
Seemann  erschienenen  »Künstlerworten«  manches 
zitiert  habe,  das  aber  schon  lange  ganz  ins  Deutsche 

hätte  übersetzt  wer¬ 
den  sollen.  Außer¬ 
dem  greift  er  hie 
und  da  zur  Feder, 
wenn  ihn  ein  beson¬ 
derer  Anlaß  reizt, 
und  in  den  letzten 
Jahren  arbeitet  er  an 
seinen  Erinnerungen 
und  Eindrücken,  die 
sicherlich  zu  den  in¬ 
teressantesten  Künst¬ 
lerbüchern  der  neue¬ 
ren  Zeit  gehören 
werden.  Denn  Brac¬ 
quemond  ist  nicht 
nur  ein  großer  Künst¬ 
ler  und  ein  ganzer 
Mann,  er  hat  auch 
zu  fast  allen  bedeu¬ 
tenden  Persönlich¬ 
keiten  Frankreichs  in 
der  zweiten  Hälfte 
des  neunzehntenjahr- 
hunderts  in  mehr 
oder  weniger  engen 
und  freundschaft¬ 
lichen  Beziehungen 
gestanden ,  also  daß 
seine  Erinnerungen 
uns  nicht  nur  die 
Ansichten  eines  aus¬ 
gezeichneten  Künst¬ 
lers,  sondern  auch 
manche  interessante 
Aufschlüsse  Überseine 
Zeitgenossen  bringen 
werden. 

Zum  Schluß  sei 
noch  erwähnt,  daß  die 
Gattin  des  Meisters  eine  außerordentlich  begabte  Malerin 
ist,  die  ihre  seit  vierzig  jahren  geschaffenen  Pastelle  und 
Ölgemälde  nur  in  der  Öffentlichkeit  zu  zeigen  brauchte, 
um  in  der  modernen  Kunstgeschichte  den  ihr  ge¬ 
bührenden  Platz  neben  Berthe  Morisot,  Eva  Gonzalez 
und  den  männlichen  Meistern  impressionistischer 
Porträtkunst  einzunehmen.  Der  Sohn  des  Künstler¬ 
paares,  Pierre  Bracquemond,  hat  vom  Vater  den 
suchenden  und  experimentierenden  Forschergeist  ge¬ 
erbt  und  ist  nicht  nur  als  tüchtiger  Maler,  sondern 
auch  besonders  durch  die  Erneuerung  alter  Mal¬ 
techniken  bekannt  geworden.  Er  hat  die  uns  erhalten 


Selbstbildnis  Bracqiiemonds  aus  dem  Jahre  1853 


276 


FELIX  BRACQUEMOND 


gebliebenen  ägyptischen,  griechischen  und  römischen 
Malereien  studiert  und  bemüht  sich  jetzt,  die  Vorzüge 
der  unveränderlichen  Wachsfarben  über  die  nach¬ 
dunkelnden  und  auch  sonst  allen  möglichen  Einflüssen 


unterworfenen  Ölfarben  darzutun.  Vielleicht  finden 
wir  später  eine  Gelegenheit,  auf  diese  interessanten 
Versuche,  sowie  auf  die  »Monotypen«  Pierre  Bracque- 
monds  zurückzukommen. 


Nach  einer  Radierung  von  Felix  Bracqueniond 


DER  NEUE  VERMEERi) 

Zur  obigen  Abbildung. 


SEIT  einigen  Wochen  hängt  der  neue  Vermeer, 
den  Dr.  A.  Bredius  in  einer  Brüsseler  Privat¬ 
sammlung  fand,  im  Mauritshuis  im  Haag  neben 
des  Delfter  Meisters  lebensgroßem  Mädchenporträt. 
Dieselbe  Galerie  birgt  außerdem  noch  die  -Allegorie 
des  Neuen  Testaments«,  die  -Diana«  und  jenes 
Wunderwerk  der  »Ansicht  von  Delft«.  Fürwahr  eine 
reiche  Kollektion,  wenn  man  bedenkt,  daß  von  dem 
Meister  überhaupt  nur  vierunddreißig  Werke  auf  uns 
gekommen  sind.  Das  neuentdeckte  Bild  ist  nur  klein 
(19,5X17,8  cm),  hält  aber  ob  seiner  koloristischen 
Qualitäten  jenen  umfangreicheren  Werken  tapfer  stand. 
—  Während  so  manches  andere  Bild,  klein  be¬ 
ginnend,  im  Laufe  der  Zeit  seinen  Siegeszug  durch 
die  Welt  nahm,  von  Sammlern  und  Händlern  heiß 
umworben,  um  schließlich  mit  ganzen  Vermögen 
bezahlt  zu  werden,  verbarg  sich  unser  Bildchen  fast 
zweieinhalb  Jahrhunderte  lang  in  heute  wohl  nicht 
mehr  nachweisbaren  Sammlungen  —  unbekannt  und 
namenlos,  aber  doch  seine  Besitzer  mit  stiller  Be¬ 
wunderung  erfüllend.  Keine  Urkunde,  keine  Er¬ 
wähnung  in  irgend  einem  Versteigerungskatalog  ließ 
seine  Existenz  ahnen,  bis  ein  glücklicher  Zufall,  dem 
allerdings  der  feinfühlige  Kenner  zu  Hilfe  kam,  allen 
Freunden  des  Meisters  —  und  wer  rechnete  sich 
nicht  dazu!  dies  neue,  anziehende  Werk  bescherte. 

1)  Vergl.  auch  Kiinstchronik«  Nr.  24. 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XVIII.  H.  i, 


Den,  der  mit  freudiger,  vielleicht  etwas  neugierig 
erregter  Erwartung  zum  erstenmal  vor  jenes  Mädchen 
tritt,  trifft  ein  stiller,  seltsam  beruhigender  Blick  aus 
zwei  Augen,  über  die  sich  ein  durchsichtiger  grünlicher 
Schatten  breitet.  Wir  kennen  jenen  Blick,  wir  kennen 
auch  das  Mädchen  selber  schon  —  aus  dem  Buda- 
pester  Bildnis.  Wir  kennen  auch  die  eigene  Wirkung, 
die  jener  Blick  auf  uns  auszuüben  pflegt,  weil  er  uns 
oft  in  seinen  Bann  gezogen  hat.  Ich  möchte  fast 
sagen,  daß  in  ihm  allein  schon  die  ganze  Farben-  und 
Lichtharmonie  Vermeers  innerlich,  geistig  ausgedrückt 
ist.  Denn  jene  blauen,  grünlichen,  silbergrauen,  grau¬ 
braunen,  Ocker-  und  zitrongelben  Töne,  die  auf  allen 
Gemälden  Vermeers  die  koloristischen  Hauptakzente 
bilden,  übersetzen  eigentlich  nur  den  mit  Worten 
nicht  wiederzugebenden  Stimmungsgehalt  jenes  Blickes 
in  eine  für  das  Auge  auch  sinnlich  wahrnehmbare 
Sprache.  Ihre  delikate  Auswahl,  ihre  bis  in  die  fein¬ 
sten  Nuancen  differenzierten  Abwertungen  erwecken 
in  uns  ein  ganz  ähnliches,  leis  und  still  im  Herzen 
webendes  Gefühl  weitabziehenden  Friedens,  wie  jene 
großen  venezianischen  sogenannten  »Existenzbilder«. 
Beide  stehen  sich,  so  verschieden  sie  auch  scheinen 
mögen,  innerlich  ungemein  nahe. 

Für  Vermeer  ist  unser  Bildchen  von  ganz  be¬ 
sonders  warmem  Ton.  Das  mag  daher  kommen, 
daß  statt  des  am  häufigsten  verwandten  Zitrongelb 
ein  kräftiges  Ocker  in  dem  großen  Blattmuster  des 

38 


278 


DER  NEUE  VERMEER 


Gobelins  neben  ebenfalls  aus  Ocker  und  Blau  ge¬ 
mischtes  Grün  gesetzt  ist.  Dem  Teppich  selbst,  wie 
noch  manchem  Detail,  begegnen  wir  auch  auf  an¬ 
deren  Bildern.  Denken  wir  z.  B.  an  das  »Atelier< 
in  der  Galerie  Czernin  in  Wien.  Auch  auf  der 
Allegorie  des  Neuen  Testaments  im  Mauritshuis 
findet  er  als  Bedeckung  des  Podiums  Verwendung. 
Aber  nicht  nur  in  dieser  Äußerlichkeit  berührt  sich 
mit  jenen  unser  »Mädchen  mit  der  Flöte«;  auch 
wegen  seines  mehr  dunkel  gehaltenen  Gesamttones 
muß  es  dieser  Gruppe,  zu  der  noch  die  »Lauten¬ 
spielerin  mit  dem  Brief  im  Rijksmuseum  gehört, 
angereiht  werden. 

Aus  welcher  Zeit  der  künstlerischen  Entwickelung 
Vermeers  es  stammt  dieser  Frage  bleiben  wir 
heute  noch  die  bestimmte  Antwort  schuldig.  Weder 
eine  Signatur,  noch  ein  Datum  geben  einen  Flinweis. 
Noch  immer  müssen  wir  uns  mit  der  einzigen  Jahres¬ 
zahl  1656  auf  der  Dresdener  Kupplerin  bescheiden, 
aus  der  wir  aber  sehen,  daß  der  Vierundzwanzig- 
jährige  bereits  ein  vollendeter  Meister  war. 

Der  eigentümliche  Hut  des  Mädchens  hat  uns  — 
seien  wir  ehrlich  zuerst  etwas  befremdet.  Es  ist 
indessen  zu  bedenken,  daß  gerade  sein  breiter  Rand 
das  köstliche  Helldunkel  auf  Stirn  und  Augen  mög¬ 
lich  macht,  das  mit  den  anderen  weiblichen  Kopf¬ 
bedeckungen  nicht  so  ohne  weiteres  zu  begründen 
gewesen  wäre.  Diese  Überschattung  der  Stirn  liebte 
aber  Vermeer.  Bei  den  männlichen  Figuren,  den 
Kavalieren,  bot  ihm  der  große  breitkrämpige  schwarze 
Filzhut  dazu  oft  willkommene  Gelegenheit.  Es  mag 
ihn  gereizt  haben,  auch  einmal  den  zarten,  helleren 
Teint  des  weiblichen  Gesichtes  dem  grünlichen 
Schattenton  gegenüberzustellen  und  die  sich  daraus 
ergebenden  koloristischen  Wirkungen  zu  beobachten 
und  festzuhalten. 

Gerade  bei  Vermeers  Bildern  ist  es  im  allge¬ 
meinen  überflüssig,  nach  dem  Inhalt  der  Darstellung 
zu  fragen.  Es  sind  ja  meist  ganz  einfache,  gewöhn¬ 
lich  nur  einfigurige  Szenen  ohne  lebhafte  Handlung 
und  ohne  hastige  Bewegungen.  Unser  Bildchen 
scheint  jedoch  nicht  mehr  vollständig  und  vielmehr 
das  Fragment  eines  größeren  Gemäldes  zu  sein.  Der 
Bildausschnitt  sieht  nicht  so  aus,  als  sei  er  vom 
Künstler  von  vornherein  beabsichtigt.  Es  liegt  näher. 


anzunehmen,  daß  ursprünglich  ein  größerer  Raum 
die  Figur  umgab.  Hätte  dann  der  seltsame  Hut  viel¬ 
leicht  noch  eine  andere  Bedeutung  als  die  des  bloßen 
Schattenspenders?  Stand  er  nicht  vielleicht  im  Zu¬ 
sammenhang  mit  irgend  einer  Allegorie,  für  die  wir 
beim  Fehlen  anderen  charakterisierenden  Beiwerkes 
keine  Erklärung  mehr  finden  können?  Bemerkens¬ 
wert  ist  wohl,  daß  jene  wegen  ihres  gleichartigen 
koloristischen  Stiles  oben  angeführte  Gruppe  halb 
allegorischen,  halb  musikalischen  Inhaltes  im  Aufputz 
ebenfalls  etwas  gesucht  und  in  der  Versinnbildlichung 
des  Allegorischen  nicht  besonders  glücklich  ist.  ln 
dieser  Beziehung  konnte  Vermeer,  ebenso  wie  viele 
andere,  doch  nicht  ganz  der  Modeströmung  wider¬ 
stehen  -  und  vielleicht  dürfen  wir  deshalb  diese 
Bilder  als  solche  einer  späteren  Schaffensperiode  an¬ 
sprechen.  — 

Technisch  sind  sie  und  unsere  neue  kleine  Tafel 
vollkommen  und  in  dem  gewohnten,  meist  dünnen 
Earbenauftrag  gemalt,  der  allenthalben  das  Korn  der 
Leinwand  oder  wie  hier  (auch  in  der  Abbildung 
sichtbar)  die  Holzfaserung  erkennen  läßt.  Die  pi¬ 
kanten  Tupfen  sind  mit  geübtem  Blick  überall  dahin 
gesetzt,  wo  der  Meister  ihrer  belebenden  Wirkung 
sicher  war. 

Der  neue,  seltene  Eund  hat  für  das  Leben  oder 
für  die  Stilentwickelung  des  Delfter  Vermeer  zwar 
keine  Aufklärung  bringen  können  —  eher  fügte  er 
noch  ein  neues  Rätsel  hinzu.  Dennoch  ist  durch 
ihn  (ganz  abgesehen  von  dem  reichen  künstlerischen 
Genuß)  eine  Ffoffnung  neu  belebt  worden,  die  auch 
allgemeiner  gefaßt  werden  darf;  daß  trotz  des  seit 
geraumer  Zeit  schon  betriebenen  eifrigsten  Suchens 
und  Jagens  nach  alter  Kunst  doch  noch  mit  un¬ 
erwarteten  Entdeckungen  gerechnet  werden  darf.  Und 
wenn  wir  uns  zurückblickend  vergegenwärtigen,  wie 
aus  W.  Bürgers  »Sphinx  im  Laufe  der  Jahre  eine 
allgemein  hochgeschätzte  und  allen  liebgewordene 
Künstlerpersönlichkeit  geworden  ist,  über  deren  bürger¬ 
liche  Verhältnisse  doch  auch  nicht  mehr  völliges 
Dunkel  herrscht,  so  scheint  es  nicht  ausgeschlossen, 
daß  auch  auf  seinen  künstlerischen  Entwickelungs¬ 
gang  noch  einmal  ein  heller,  klärender  Lichtstrahl 
fallen  wird.  KURT  PREISE  (Haag). 


DIE  KLOSTER  VON  SUBIACO') 


In  diesem  Werke  finden  wir  die  Ergebnisse  der  ge¬ 
meinsamen  Forschungen  einiger  der  tüchtigsten  Vertreter 
der  jungrömischen  Historikerschule  zu  einem  einheitlichen 
Ganzen  zusammengefaßt.  Jeder  der  vier  Arbeitsgenossen 
hat  das  seinem  speziellen  wissenschaftlichen  Interessen- 
und  Kompetenzbereiche  am  nächsten  liegende  Sonder¬ 
gebiet  des  gegebenen  Gesamtstoffes  getrennt  bearbeitet, 
ohne  doch  dabei  die  Resultate  der  parallellaufenden  Unter¬ 
suchungen  seiner  Mitarbeiter  jemals  aus  dem  Auge  zu  ver¬ 
lieren.  Auf  diesem  Wege  ist  denn  eine  Publikation  zu¬ 
stande  gekommen,  die  sowohl  ihren  Verfassern,  wie  auch 
der  hohen  italienischen  Unterrichtsbehörde,  die  jenen  An¬ 
regung  und  Auftrag  gab,  zur  höchsten  Ehre  gereicht. 
Der  Rahmen  eines  referierenden  Aufsatzes  verbietet  uns 
leider,  den  Gesamtinhalt  der  trefflichen  Publikation  mit 
gleichmäßiger  Ausführlichkeit  hier  wiederzugeben ;  wir 
werden  daher  über  die  innere  Geschichte  der  berühmten 
alten  Klöster,  sowie  über  den  Inhalt  ihrer  Archive  und 
ihrer  Bibliotheken  hier  nur  einen  möglichst  knappen  Über¬ 
blick  geben,  um  uns  dafür  etwas  eingehender  mit  den  die 
Leser  dieser  Zeitschrift  hauptsächlich  interessierenden 
kunstgeschichtlichen  Forschungsergebnissen  des  obigen 
Werkes  zu  befassen. 

Die  Durchforschung  der  Bibliotheken  und  Archive  der 
beiden  Klöster  —  Sacro  Speco  und  Santa  Scolastica  — 
hatte  Professor  Vincenzo  Federici,  Lehrer  für  Paläographie 
und  Diplomatik  an  der  Universität  Rom,  übernommen. 
Seiner  historisch-kritischen  Sonderstudie  über  diese  Bücher¬ 
und  Urkundensammlungen  sind  detaillierte  Verzeichnisse 
der  411  Handschriften-Codices  und  der  173  Inkunabeldrucke 
der  beiden  Bibliotheken,  sowie  kurze  Regesten  zu  den  4000 
öffentlichen  und  privaten  Urkunden  der  beiden  Kloster¬ 
archive  beigefügt. 

Der  Autor  berichtet  zunächst  über  die  Entstehung  der 
beiden  Bibliotheken,  über  die  lokale  Schreibertätigkeit  der 
Mönche  von  Santa  Scolastica  und  vom  Sacro  Speco,  über 
die  Codicesankäufe  der  Klosterprioren  und  die  Schenkungen 
von  seiten  gewisser  Privatleute,  kirchlicher  Behörden  und 
auswärtiger  Klöster,  sowie  über  die  spätere  Wiederver¬ 
sprengung  der  so  aufgesammelten  reichen  Bücherschätze, 
wie  sie  namentlich  die  zweimalige  Unterdrückung  der 
Klöster  im  Gefolge  gehabt  hatte.  Sodann  folgen  gedrängte 
Angaben  über  den  Inhalt  der  bis  heute  in  den  beiden 
Bibliotheken  verbliebenen  Manuskriptcodices  und  über  den 
paläographischen  Charakter  derselben.  Den  letzteren  An¬ 
gaben  zufolge  lassen  die  Sublacenser  Codices  sich  in  drei 
Gruppen  einteilen,  nämlich  in  eine  römische,  eine  ro- 


1)  /  Monasteri  di  Stibiaco.  Roma.  A  cura  e  spese  del 
Ministero  della  Pubblica  Istruzione.  Vol.  1.  P.  Egidi:  No- 
tizie  storiche;  G.  Giovannoni:  L’Architettura;  F.  Hermanin: 
Gli  Affreschi;  Vol.  II.  V.  Federici:  La  Biblioteca  e  l’Ar- 
chivio. 


manische  (aus  der  ersteren  abgeleitet  und  hauptsächlich  in 
den  römischen  Benediktinerklöstern  selbst  entstanden)  und 
eine  gotische  Handschriftengruppe.  Hierauf  bespricht  der 
Autor  in  gleicher  Ausführlichkeit  das  allmähliche  Anwachsen 
und  Wiederverstreutwerden  der  Sublacenser  Archive,  die 
mehrfachen  Neuordnungen  ihrer  Urkundenschätze  und  ins¬ 
besondere  deren  Katalogisierung  durch  den  Pater  Isidoro 
de  Su  um  die  Mitte  des  18.  Jahrhunderts.  Er  selbst  teilt 
dieselben  ihrem  Inhalte  nach  ein  in  Documenti  pubblici 
(322  Nummern),  die  unter  sich  wiederum  in  Abteiurkunden, 
Kirchenurkunden,  Kommunalurkunden  und  Feudalurkunden 
geschieden  werden,  und  in  Documenti  privati,  die  ihrer¬ 
seits  nach  den  juristischen  Personen  geordnet  werden,  auf 
die  sie  sich  beziehen.  Die  bereits  erwähnten  kritischen 
Verzeichnisse  sämtlicher  zurzeit  noch  im  Besitze  der  Klöster 
befindlichen  Manuskript-  und  Inkunabelcodices  und  Per¬ 
gamenturkunden  bieten  trotz  einiger  vom  Autor  selbst  zu¬ 
gegebenen  Kompilationsmängel  im  Verein  mit  den  beige¬ 
gebenen  umfangreichen  Namens-  und  Sachregistern  ein 
für  die  historische  Spezialforschung  und  insbesondere  für 
die  Geschichte  der  Benediktinerklöster  von  Subiaco  selbst 
außerordentlich  wertvolles  Studienmaterial  dar.  In  philo¬ 
logischer  Hinsicht  sind  diese  Regesten  leider  weniger  in¬ 
teressant,  da  die  registrierten  Urkunden  —  im  Gegensätze 
zu  den  sonst  üblichen  Gepflogenheiten  der  modernen  Di¬ 
plomatik  —  hier  nicht  in  ihrem  sprachlichen  Original- 
gewande  wiedergegeben  wurden.  Im  Anhänge  hat  Federici 
einige  Dokumente  von  besonders  hervorragender  wissen¬ 
schaftlicher  Bedeutung  vollinhaltlich  publiziert,  so  nament¬ 
lich  eine  neue  Redaktion  des  »Contemptus  Mundi«  aus 
einem  Subiacenser  Miscellancodex  des  15.  Jahrhunderts, 
sowie  das  Subiacenser  Fragment  der  »Mirabilia  Urbis 
Romae«.  Nachträglich  sind  auch  den  epigraphischen  Denk¬ 
mälern  der  Subiaco-Klöster  noch  einige  Worte  der  Erläu¬ 
terung  gewidmet. 

P.  Fgidis  Studie  über  die  Geschichte  der  Subiaco- 
Klöster  wird  eingeleitet  durch  ein  umfangreiches  Kapitel 
über  die  historischen  Spezialquellen  (Regesten  des  n.  Jahr¬ 
hunderts,  Archivurkunden,  Chronicon  Sublacense,  Chro¬ 
niken  des  Abtes  Lando,  des  Paters  G.  Capisacchi,  des 
Paters  Würtz,  Statuten  des  Kardinals  Torquemada  vom 
Jahre  1456)  sowie  über  die  einschlägige  historische  Spezial¬ 
literatur  von  Mabillon  ab  bis  auf  die  heutige  Zeit.  Fünf 
weitere  Kapitel  behandeln  sodann  die  Gründung  der  beiden 
Klöster,  die  beginnende  Blüte  derselben  im  10.  Jahrhundert, 
die  Glanzzeit  der  Klöster  und  ihren  Rückgang  im  n.  und 
12.  Jahrhundert,  den  Zustand  der  Klöster  im  13.  und 
14.  Jahrhundert  und  schließlich  die  »Abates  Manuales  , 
die  »Commenda«  und  die  Vereinigung  der  beiden  Klöster 
mit  demjenigen  von  Montecassino  unter  eine  gemeinsame 
Abtei.  Unter  Anwendung  der  strengsten  Quellenkritik  gibt 
der  Autor  eine  klare  und  lebensvolle  Darstellung  der  Ge¬ 
schichte  dieser  berühmten,  zwischen  die  Ausläufer  der 

38* 


28o 


DIE  KLÖSTER  VON  SUBIACO 


Simbruiner  und  der  Affilaner-Berge  eingebetteten  Benedik¬ 
tinerklöster.  Er  schildert  die  mannigfach  wechselnden  Er¬ 
eignisse,  die  hier  im  Laufe  der  Jahrhunderte  sich  ab¬ 
spielten,  und  betrachtet  besonders  eingehend  die  Be¬ 
ziehungen  der  beiden  Klöster  zur  römischen  Kurie  und  zu 
anderen  Abteien  des  Benediktinerordens.  Seine  Geschichts¬ 
darstellung  schließt  ab  mit  der  Verschmelzung  der  Abteien 
von  Subiaco  und  Montecassino,  wie  sie  wenige  Jahrzehnte 
nach  der  im  Jahre  1456  erfolgten  Einsetzung  eines  Com- 
mendatar-Abtes  zustande  kam  (1514).  Von  diesem  Zeit¬ 
punkte  an  —  so  schreibt  Egidi  —  war  die  altberühmte 
Abtei  von  Subiaco,  die  damit  endgültig  auf  ihre  persön¬ 
liche  Existenz  Verzicht  geleistet  hatte,  zu  einem  abhängigen 
Gliede  der  cassinesischen  Benediktiner-Kongregation  herab¬ 
gesunken.  Schon  mit  der  Einführung  des  Commenden- 
Systems  hatte  sie  ihre  früher  so  bedeutende  politische 
Stellung  aufgeben  müssen;  nunmehr  war  sie  ihrer  ad¬ 
ministrativen  Selbständigkeit  vollends  verlustig  gegangen, 
und  sobald  sie  einmal  der  Kontrolle  der  cassinesischen 
Äbte  und  Visitatoren  unterstellt  war,  durfte  man  ihre  histo¬ 
rische  Eunktion  für  immer  als  abgeschlossen  betrachten. 

In  einer  Reihe  von  Nachtragsexcursen  behandelt  Egidi 
sodann  noch  einige  Spezialfragen  aus  der  Geschichte  der 
Subiaco-Klöster.  Im  ersten  Excurse  erbringt  er  den  end¬ 
gültigen  Beweis  für  die  Unechtheit  einiger  in  die  Regesten 
des  11.  Jahrhunderts  eingereihten  und  im  Archive  von 
Santa  Scolastica  aufbewahrten  Urkunden  Gregors  I.,  Ni¬ 
kolaus’  1.  und  Johanns  VIII.;  ebenso  wird  auch  die  Su- 
biacenser  Stiftungsurkunde  des  consul  et  dux  Cesario 
(vom  Jahre  884?)  als  unecht  nachgewiesen.  Im  zweiten 
Excurse  gibt  der  Autor  eine  vollständige  chronologische 
Liste  der  Subiacenser  Äbte  bis  zur  Zeit  der  Unterordnung 
der  beiden  Klöster  unter  die  Abtei  von  Montecassino,  wo¬ 
bei  die  Angaben  der  alten  Chronisten  wie  auch  diejenigen 
der  neueren  Historiker  mehrfache  Berichtigungen  erfahren. 
Im  dritten  Excurse  führt  Egidi  den  Nachweis,  daß  die  le¬ 
gendäre  Überlieferung  von  der  Zugehörigkeit  des  Städtchens 
Tuscolo  zum  weltlichen  Machtbereiche  der  Subiaco-Klöster 
erst  um  das  Jahr  1000  in  den  Subiacenser  Archivurkunden 
auftauchte.  Der  vierte  Excurs  ist  der  Betrachtung  der 
Consuetudines  Sublacenses«  gewidmet,  einer  Art  von 
Klosterreglement  mit  genauen  Angaben  über  die  innere 
Verfassung  der  Klostergemeinschaft  und  über  die  Lebens¬ 
führung  und  die  Obliegenheiten  der  Mönche;  zusammen¬ 
gestellt  augenscheinlich  bereits  in  der  ersten  Hälfte  des 
14.  Jahrhunderts,  können  diese  Consuetudines  ihrer  text¬ 
lichen  Fassung  nach  in  der  Tat  erst  im  letzten  Jahrzent 
desselben  Jahrhunderts  niedergeschrieben  sein.  Der  inter¬ 
essanteste  aller  dieser  Excurse  ist  schließlich  derjenige 
über  die  ältesten  Subiacenser  Inkunabeldrucke.  Hier  sehen 
wir  den  unwiderleglichen  Beweis  dafür  erbracht,  daß  die 
drei  frühesten  Druckwerke  der  Subiaco-Klöster  bezw.  ganz 
Italiens,  nämlich  Ciceros  Schrift  »De  Oratore«  (Mai- 
Juni  1465),  der  Lactantius  (Oktober  1465)  und  die  Ab¬ 
handlung  des  heiligen  Augustinus  »De  Civitate  Dei«  (Juni 
1467),  bereits  mit  beweglichen  Leitern  gedruckt  worden 
sind,  und  zwar  von  den  deutschen  Buchdruckern  Arnold 
Pannartz  und  Konrad  Schweynheym,  die  im  Jahre  1467 
in  Rom  die  erste  italienische  Buchdruckerei  eröffneten. 
Egidi  ist  der  Ansicht,  daß  diese  beiden  deutschen  Mönche 
die  genannte  Schrift  des  heiligen  Augustinus  bereits  nicht 
mehr  in  Subiaco,  sondern  in  Rom  gedruckt  haben,  und 
zwar  ehe  noch  die  neuen,  erst  für  spätere  Werke  verwen¬ 
deten  Drucklettern  fertiggestellt  waren,  so  daß  also  auch 
dieses  Buch  in  der  Tat  noch  mit  den  Typen  der  beiden 
ersten  Subiacenser  Druckwerke  von  1465  gesetzt  zu  sein 
scheint. 


In  der  Einleitung  zu  seiner  Studie  über  die  Bait- 
geschichte  der  Subiaco-Klöster  weist  G.  Giovannoni  zunächst 
auf  den  bedeutsamen  Einfluß  hin,  den  der  Benediktiner¬ 
orden  direkt  oder  indirekt  auf  die  Entwickelung  der  mittel¬ 
alterlichen  Baukunst  im  allgemeinen  ausgeübt  hat:  direkt 
durch  die  rege  Architektentätigkeit,  wie  sie  die  Mönche 
selbst  —  vielfach  in  Gemeinschaft  mit  weltlichen  Bau¬ 
künstlern  —  bei  der  Leitung  und  Ausführung  von  Kirchen- 
und  Klosterbauten  entwickelten;  indirekt  durch  die  allmäh¬ 
liche  Ausbildung  jenes  einzigartigen  konstruktiven  Bau¬ 
systems,  dessen  Keime  sich  schon  in  der  vom  Begründer 
des  neuen  Mönchsordens  aufgestellten  Ordensregel  vor¬ 
gebildet  fanden,  und  das  dann  unter  strengem  Festhalten 
an  allen  wesentlichen  Grundelementen  jenes  Ursystems  in 
den  verschiedenen  Niederlassungszentren  des  Benediktiner¬ 
ordens  den  mannigfachsten  Differenzierungen  unterlag. 
Ehe  dann  der  Autor  auf  die  Besprechung  der  einzelnen 
Gebäude  von  Santa  Scolastica  und  vom  Sacro  Speco  selbst 
eingeht,  beschäftigt  er  sich  noch  des  näheren  mit  den  be¬ 
sonderen  topographischen  Verhältnissen,  die  auf  die  kon¬ 
struktive  Bauentwickelung  der  beiden  Klöster  einen  so 
wesentlichen  Einfluß  geltend  machen  mußten.  Wie  Giovan¬ 
noni  sehr  richtig  bemerkt,  müßte  in  der  Tat  einer  jeden 
baugeschichtlichen  Spezialstudie  »eine  derartig  gründliche 
Voruntersuchung  vorausgeschickt  werden,  die  allein  es  dem 
Forscher  ermöglicht,  sich  über  die  mannigfachen  Grund¬ 
bedingungen  des  örtlichen  Milieus  klar  zu  werden  und 
einer  jeden  derselben  den  richtigen  Koeffizienten  an  die 
Seite  zu  stellen  .  .  .  Erst  auf  der  sicheren  Basis  solch  einer 
allgemeinen  Voruntersuchung  läßt  sich  ein  exaktes  Studium 
der  Monumente  selbst  vornehmen.«  —  Diesem  Forschungs- 
prinzipe  gemäß  gibt  uns  der  Autor  vor  allem  ein  genaues 
Bild  von  der  geographischen  Gestaltung  jener  Valle  Santa«, 
die  dereinst  zur  Wiege  der  hier  zu  behandelnden  Bene¬ 
diktinergründung  werden  sollte,  und  von  dem  Anblick,  den 
sie  dem  Wanderer  dargeboten  haben  mag,  als  gegen 
Ende  des  5.  Jahrhunderts  der  heilige  Jüngling«  Benediktus 
sich  in  ihre  Einsamkeiten  zurückzog.  Er  bestimmt  die  Lage 
einiger  der  damals  von  dem  Heiligen  gegründeten  zwölf 
Klöster,  beschreibt  nach  der  geologischen  und  lithologischen 
Seite  die  Bodenformation,  auf  der  die  Klöster  erstanden, 
untersucht  die  Rohmaterialien,  mit  deren  Hilfe  sie  errichtet 
wurden,  sowie  die  Art  und  Weise,  wie  diese  Materialien 
in  den  verschiedenen  aufeinanderfolgenden  Bauepochen  in 
der  Mauerstruktur  der  Subiacenser  Klosterbauten  Verwen¬ 
dung  fanden.  Endlich  fixiert  er  noch  einige  Daten,  die 
ihm  bei  der  nachfolgenden  baugeschichtlichen  Detaildar¬ 
stellung  als  sichere  Orientierungspunkte  dienen  sollen. 

Selbst  eine  oberflächliche  Betrachtung  des  Gesamt¬ 
komplexes  der  Klosterbauten  von  Santa  Scolastica  läßt  den 
Forscher  alsbald  erkennen,  daß  er  es  hier  mit  einer  Reihe 
von  Bauwerken  zu  tun  hat,  die  den  verschiedensten  Stil¬ 
perioden  entstammen  und  die  gegensätzlichsten  Kunst¬ 
richtungen  vertreten.  Aus  den  Zeiten  vor  dem  11.  Jahr¬ 
hundert  sind  heutzutage  keinerlei  Baureste  mehr  übrig  ge¬ 
blieben,  und  aus  dem  1 1.  Jahrhundert  selbst,  indem  doch 
die  Subiacenser  Benediktinerabtei  ihre  regste  Bautätigkeit 
entwickelte,  hat  sich  einzig  und  allein  der  Campanile  er¬ 
halten,  die  im  Jahre  1053  errichtete  »egregia  turris«  des 
Abtes  Humbertus.  Dieser  Turm  präsentiert  sich  in  der 
Tat  noch  heute  in  derselben  Gestalt,  wie  dereinst  zur  Zeit 
seiner  Erbauung.  Der  obere  Teil  ist  zwar  wahrscheinlich 
gegen  Ende  des  13.  Jahrhunders  restauriert  worden,  jedoch 
scheint  man  dabei  dem  Kranzgesimse  unter  Beibehaltung 
des  alten  Baumateriales  seine  ursprüngliche  Gestalt  be¬ 
lassen  zu  haben;  nur  die  Mehrzahl  der  alten  Triforien 
wurde  damals  vermauert.  Die  äußere  Gesamterscheinung 


DIE  KLÖSTER  VON  SUBIACO 


281 


des  Campanile  ist  jedenfalls  bis  heutigen  Tages  dieselbe 
geblieben.  Diese  Tatsache  ist  um  so  bedeutsamer,  als 
dieser  Campanile  von  S.  Scolastica  älter  ist  als  alle  übrigen 
Glockentürme  des  römischen  Gebietes;  in  der  Tat  gibt  er 
sich  in  seinen  Grundelementen  dem  vergleichenden  Forscher 
zu  erkennen  als  eine  Übergangsbildung  zwischen  dem 
lombardischen  und  dem  römischen  Campanile.  —  Weniger 
vom  Glücke  begünstigt  war  der  gleichzeitige  alte  Kloster¬ 
bau  des  Abtes  Humbertus  cum  colonnellis  marmoreis 
(cf.  Chronicon  Subiacense),  von  dem  sich  leider  nicht  der 
geringste  Mauerrest  bis  in  unsere  Tage  herübergerettet 
hat.  Der  gegenwärtig  noch  bestehende  Klosterbau  wurde 
von  dem  römischen  Marmorius«  Jacobus  begonnen,  der 
während  der  Regierungszeit  des  Abtes  Landus  (1227 — 1243) 
den  südlichen  Frontbau  fertigstelite,  und  wurde  dann  von 
dessen  Sohn  Cosmas,  sowie  von  den  Enkeln  Lucas  und 
Jacobus  jun.  weiter  fortgeführt.  Diese  folgten  zwar  im 
allgemeinen  der  durch  den  ältesten  Bauteil  gegebenen 
Linienführung,  vertraten  jedoch  in  der  summarischeren 
architektonischen  Detaildurchbildung  bereits  eine  viel  freiere 
Kunstrichtung,  als  ihr  Großvater  jacobus  senior. 

Nachdem  Giovannoni  auf  die  schlichte  Formenstrenge 
und  das  organische  Gleichgewicht  dieses  Klosterbaues  hin¬ 
gewiesen  hat,  der  sicherlich  als  der  klassischste  Typus 
unter  den  sämtlichen  römischen  Klöstern  des  12.  und 
13.  Jahrhunderts  gelten  kann,  bespricht  er  mit  der  gleichen 
Ausführlichkeit  die  Galiläa-Kirche,  das  gotische  Atrium 
derselben  und  die  übrigen  Klostergebäude  von  S.  Scolastica, 
um  schließlich  den  gesamten  Lageplan  des  Klosters  zu 
rekonstruieren,  wie  er  sich  um  die  Wende  des  Quattro- 
und  Cinquecento  (einschließlich  einiger  heute  nicht  mehr 
existierenden  Bauteile)  dem  Auge  präsentiert  haben  muß. 
—  Von  dem  alten  Kirchenbaue  des  9.  Jahrhunderts,  sowie 
auch  von  demjenigen,  den  laut  inschriftlicher  Angabe 
Benediktus  VII.  errichtet  haben  soll,  sind  heute  nur  noch 
wenige  hier  und  da  verstreute  Reste  nachweisbar.  Da¬ 
gegen  zeigt  die  Klosterkirche  in  ihrer  heutigen  Gestalt, 
die  sie  erst  1771  —  1777  bei  einem  durch  den  Architekten 
Giacomo  Quarenglii  vorgenommenen  Umbaue  gewonnen 
hat,  noch  zahlreiche  Spuren  eines  gotischen  Kirchenbaues 
aus  der  zweiten  Hälfte  des  13.  Jahrhunderts,  der  sowohl 
in  seiner  Gesamtanlage,  wie  in  den  noch  vorhandenen 
architektonischen  Details  (Hauptportal,  Fensterrose,  Ma߬ 
werkfenster  usw.)  den  gleichzeitig  entstandenen  Kirchen 
der  Campagna  —  d.  h.  der  heutigen,  von  Palestrina  bis 
Cassino  sich  erstreckenden  Ciociaria  —  nahe  verwandt 
gewesen  zu  sein  scheint.  Der  frühgotischen  Stilepoche 
dieser  Kirchenanlage  gehört  augenscheinlich  auch  das 
Atrium  an,  das  von  allen  Autoren,  die  bisher  über  Subiaco 
geschrieben  haben,  infolge  einer  mißverständlichen  Ur¬ 
kundeninterpretation  in  das  1 1.  Jahrhundert  (!)  zurückdatiert 
wurde.  Nicht  vor  dem  15.  Jahrhundert  dagegen  kann 
die  große  spätgotische  Spitzbogenöffnung  des  Atriums  ent¬ 
standen  sein,  und  ebenso  auch  die  aus  Cippollino-Manuor 
erbaute  Zugangstür  zum  Refektoriumsvestibüle  (Arbeiten 
deutscher  Künstler).  Diejenigen  Klostergebäude,  in  denen 
der  Krankensaal  (13.  Jahrhundert),  das  Refektorium,  das 
Dormitorium  (14.  Jahrhundert)  und  der  Kapitelsaal  unter¬ 
gebracht  sind,  haben  so  vielfache  Umbauten  erlitten,  daß 
von  der  ursprünglichen  Bauanlage  so  gut  wie  nichts  mehr 
vorhanden  ist.  Besser  erhalten  ist  die  Sakristei,  deren 
Entstehung  bis  in  die  zweite  Hälfte  des  Trecento  zurück¬ 
reicht,  und  die  wahrscheinlich  zu  jenem  Komplexe  von 
Erneuerungsbauten  zu  zählen  ist,  die  der  Abt  Bartholo¬ 
mäus  III.  in  den  Jahren  1363 — 1369  ausführen  ließ. 

Das  Sacro  Speco-Kloster  wird  durch  ein  Konglomerat 
von  Gebäuden  gebildet,  das  im  Laufe  der  Zeiten  im 


nächsten  Umkreise  jener  Felsengrotte  emporgewachsen  ist, 
die  dereinst  dem  heiligen  Benediktus  selbst  als  Zufluchts¬ 
stätte  gedient  hatte.  Giovannoni  belehrt  uns,  daß  auch 
bei  diesem  Kloster  nur  einige  ganz  geringe  Baureste  in 
die  Zeit  vor  dem  12.  Jahrhundert  zurückdatiert  werden 
können.  Von  der  ersten  Hälfte  des  t3.  Jahrhunderts  ab 
verfolgt  der  Autor  die  Bauentwickelung  dieser  Klosteranlage 
bis  zum  Ausgange  des  14.  Jahrhunderts,  wo  dieselbe  ihren 
vorläufigen  Abschluß  erlangte,  um  dann  bis  um  die  Mitte 
des  18.  Jahrhunderts  unverändert  zu  bleiben.  Nach  Be¬ 
sprechung  einiger  architektonischen  Details  des  zugehörigen 
Kirchenbaues  insonderheit  gewisser,  der  apulischen  Kunst 
nahe  verwandt  erscheinender  Ornamentmotive,  sowie  ferner 
eines  erst  in  später  Zeit  aus  kosmatesken  Fragmenten  neu 
zusammengesetzten  Tabernakels  und  endlich  der  aus  der 
ersten  Hälfte  des  13.  Jahrhunderts  stammenden  Kanzel  — 
versucht  dann  Giovannoni,  den  Lageplan  des  Sacro  Speco- 
Klosters,  wie  es  sich  im  15.  Jahrhundert  deiu  Auge  prä¬ 
sentiert  haben  mag,  in  gleicher  Weise  zu  rekonstruieren, 
wie  er  es  bereits  beim  Monastero  di  S.  Scolastica  getan 
hatte.  Aus  dieser  Rekonstruktion  wird  ohne  weiteres  er¬ 
sichtlich,  daß  die  Gesamtanlage  des  Sacro  Speco-Klosters 
den  in  der  Ordensregel  des  heiligen  Benediktus  und  in 
den  Consuetudines  Subiacenses  festgelegten  Anforderungen 
und  Bedürfnissen  des  Mönchslebens  weit  besser  entsprach 
als  diejenige  des  Klosters  der  heiligen  Scholastica.  — 
Zahlreiche  von  Giovannoni  eigenhändig  gezeichnete  Archi¬ 
tekturaufnahmen  illustrieren  diesen  hochinteressanten  Bei¬ 
trag  zur  Geschichte  der  mittelalterlichen  Baukunst. 

Auch  F.  Hennanin  geht  in  seiner  Besprechung  der  in 
den  Subiaco-Klöstern  aufgespeicherten  Denkmäler  der  Mal¬ 
kunst  nach  streng  chronologischen  Gesichtspunkten  vor, 
wobei  er  dieses  reiche  Denkmälermaterial  in  vier  Gruppen 
einteilt,  deren  jeder  er  ein  besonderes  Kapitel  seiner  Ab¬ 
handlung  widmet:  1.  die  ältesten  Malereien,  2,  die  Fresken 
des  13.  Jahrhundert,  3.  die  Fresken  des  14.  Jahrhunderts, 
4.  die  Gemälde  des  15,  und  16.  Jahrhunderts. 

Die  ältesten  Malereien  finden  sich  in  einer  der  Höhlen 
unter  dem  Sacro  Speco-Kloster,  und  zwar  in  der  soge¬ 
nannten  »caverna  dei  pastori«.  Es  sind  dies  die  direkt 
auf  die  Felswand  gemalten  Freskogestalten  einer  thronenden 
Madonna  mit  dem  Christkinde  und  zweier  Heiligen;  die 
letzteren  sind  sehr  schlecht  erhalten,  abgesehen  vom  Kopfe 
der  einen  Heiligenfigur.  Die  Maltechnik  dieser  Fresko¬ 
bilder  ist  noch  ziemlich  roh,  die  dargestellten  Figuren  je¬ 
doch  lassen  bereits  ein  gewisses  Streben  nach  seelischem 
Ausdruck  wahrnehmen.  Die  historische  Kritik  hat  diese 
Malereien  einstimmig  ins  9.  Jahrhundert  zurückdatiert;  da¬ 
mals  weihte  nämlich  Leo  IV.  eine  Kapelle  des  Sacro 
Speco-Sanktuariums  dem  heiligen  Silvester,  dessen  Narnens- 
zug  sich  in  der  Tat  aus  den  Buchstabenresten  einer  alten 
Inschrift  zur  Rechten  des  Freskogemäldes  herauslesen  läßt. 
Früher  beherbergte  der  Sacro  Speco  sowohl  wie  das  Kloster 
der  heiligen  Scholastica  noch  mehrere  andere  Malereien 
des  9.  bis  12.  Jahrhunderts,  von  denen  jedoch  heutzutage 
nicht  die  geringste  Spur  mehr  übrig  geblieben  ist.  Die 
nächstältesten  Malereien  der  Subiaco-Klöster  datieren  viel¬ 
mehr  erst  aus  der  ersten  Hälfte  des  13.  Jahrhunderts,  und 
zwar  sind  dies  wiederum  einige  Fresken  des  Sacro  Speco: 
eine  Lünette  in  der  Unterkirche,  die  Fresken  der  St.  Gre- 
gorius-Kapelle  und  des  zugehörigen  Atriums  und  diejenigen 
an  der  Außenfront  des  ehemaligen  »Santuario  presso  il 
Roseto«.  Alle  diese  Freskomalereien  wurden  von  mehreren 
gleichzeitig  lebenden  Künstlern  ausgeführt,  und  zwar  — 
laut  Angabe  einer  Freskoinschrift  der  St.  Gregorius-Kapelle 
—  im  Jahre  1228,  dem  zweiten  Jahre  des  Pontifikates 
Gregors  IX.  Hermanin  beschreibt  diese  Fresken  mit 


282 


DIE  KLÖSTER  VON  SUBIACO 


größter  Ausführlichkeit  und  unterscheidet  in  ihnen  zwei 
verschiedene  Künstlerhände.  Danach  hätte  der  »Maler  des 
heiligen  Franziskus  von  Assisi«  außer  diesem  Heiligen 
selbst  und  außer  einer  das  Rauchfaß  schwingenden  Engels¬ 
gestalt  in  der  St.  Gregorius-Kapelle  noch  den  Bischof  Ugo- 
lino  von  Ostia  —  den  späteren  Papst  Gregor  IX.  —  ge¬ 
malt,  wie  er  eben  diese  Kapelle  dem  heiligen  Gregorius 
Magnus  weihte;  ferner  an  der  Außenfront  der  Kapelle  die 
Gestalten  des  Erlösers  und  zweier  Engel  und  endlich  viel¬ 
leicht  auch  die  Gewölbedekorationen  der  Kapelle  wie  des 
Atriums.  Dem  »Maler  der  Kreuzigung  Christi  dagegen  — 
der  sich  von  seinem  an  erster  Stelle  genannten  Kunst¬ 
genossen  hauptsächlich  durch  die  größere  Lebhaftigkeit  des 
Ausdrucks  und  der  Bewegung  seiner  Figuren  unterscheidet, 
sowie  durch  die  besondere  Art  der  Licht-  und  Schatlen- 
behandlung  in  den  Gewandfalten  —  würden  außer  der 
Kreuzigungsdarstellung  und  den  übrigen  Apsismalereien 
der  St.  Gregorius-Kapelle  noch  die  Engelvision  des  Kloster¬ 
bruders  Oddo  und  die  dekorativen  Wandmalereien  im 
Inneren  derselben  Kapelle,  sowie  im  Atrium  die  Gestalten 
des  heiligen  Gregorius  und  des  Hiob  zuzuschreiben  sein. 
Als  vollkommen  irrtümlich  erweist  sich  die  in  P.  Toescas 
Abhandlung  über  die  Kryptafresken  von  Anagni  ausge¬ 
sprochene  Behauptung,  der  Freskenmaler  der  St.  Gregorius- 
Kapelle  des  Sacro  Speco  zu  Subiaco  sei  ein  »Frater  Ro¬ 
manus  gewesen,  dessen  Bildnis  nebst  Namensinschrift  zu 
Füßen  der  Gestalt  des  heiligen  Petrus  auf  dem  Apsisfresko 
dieser  Kapelle  zu  sehen  sei;  nach  Hermanin  ist  dieser 
Frater  Romanus  vielmehr  lediglich  als  einer  der  Stifter 
dieser  Gemälde  zu  betrachten,  ebenso  wie  der  Frater  Oddo 
zu  Füßen  der  Engelserscheinung,  und  wie  ein  dritter  Mönch 
zu  Füßen  des  heiligen  Franziskus.  —  Eine  besonders  ein¬ 
gehende  Besprechung  widmet  Hermanin  noch  dem  be¬ 
rühmten,  angeblich  nach  dem  Leben  gemalten  Bildnis  des 
heiligen  Franziskus  zur  Rechten  der  Eingangstür  der  St. 
Gregorius-Kapelle.  Die  Überlieferung  von  der  Existenz 
solch  eines  echten  Franziskus-Porträts  im  Sacro  Speco  ist 
ziemlich  alt  und  geht  Hand  in  Hand  mit  einer  anderen, 
nach  der  der  heilige  Franziskus  um  raiS  den  Subiaco- 
Klöstern  in  eigener  Person  einen  Besuch  abgestattet  haben 
soll.  Nun  ist  jedoch  das  fragliche,  in  neuerer  Zeit  stark 
übermalte  Franziskus-Porträt  der  St.  Gregorius-Kapelle 
sicherlich  erst  im  Jahre  1228  entstanden,  und  zwar  wurde 
es  augenscheinlich  von  demselben  Künstler  ausgeführt,  der 
auch  die  Freskodarstellung  der  Kapellenweihe  durch  den 
Bischof  Ugolino  von  Ostia  gemalt  hat.  Demnach  sind 
beide  Gemälde  offenbar  als  Erinnerungsdenkmäler  an  einen 
gemeinsamen  Besuch  des  heiligen  Franziskus  und  seines 
Protektors  Ugolino  in  Subiaco  aufzufassen;  dieser  Besuch 
selbst  würde  dann  noch  vor  der  kanonischen  Heiligsprechung 
des  ersteren  und  vor  der  Papstkrönung  des  letzteren  statt¬ 
gefunden  haben.  Auf  jeden  Fall  ist  das  Franziskus-Porträt 
des  Sacro  Speco-Klosters  früher  entstanden  als  die  beiden 
anderen  angeblich  authentischen  Bildnisse  des  großen 
Heiligen  von  Assisi,  von  denen  das  eine  in  einer  Kapelle 
des  Klosters  S.  Francesco  a  Ripa,  das  andere  —  von  1235  — 
in  der  St.  Franziskus-Kirche  zu  Pescia  aufbewahrt  wird.  — 
Die  Ansicht,  daß  der  Subiacenser  »Maler  des  heiligen 
Franziskus«  —  also  P.  Toescas  imaginärer  »Frater  Roma¬ 
nus  —  auch  die  Kryptafresken  von  Anagni  gemalt  haben 
sollte,  widerlegt  Hermanin  endgültig  mit  Hilfe  einer  ge¬ 
nauen  stilkritischen  Vergleichung  der  Fresken  von  Subiaco 
mit  denjenigen  von  Anagni.  Allerdings  haben  die  letzteren 
auch  nach  seiner  Ansicht  eine  nahe  Stil-  und  Schulver¬ 
wandtschaft  mit  den  ersteren  aufzuweisen;  in  technischer 
wie  in  künstlerischer  Hinsicht  jedoch  findet  Hermanin  die 
Fresken  von  Anagni  denjenigen  von  Subiaco  soweit  über¬ 


legen,  daß  eine  Identität  des  Malers  von  Subiaco  mit  dem¬ 
jenigen  von  Anagni  völlig  ausgeschlossen  erscheine.  Beide 
Künstler  lassen  in  ihren  Werken  lediglich  eine  gemein¬ 
same  byzantinische  Schulabstammung  erkennen;  und  zwar 
glaubt  Hermanin  feststellen  zu  können,  daß  sie  nicht 
selbst  Orientalen  gewesen  seien,  sondern  Angehörige  der 
eingesessenen  römischen  Malerschule  byzantinisierender 
Richtung. 

Übrigens  waren  —  vielleicht  mit  alleiniger  Ausnahme 
des  sogenannten  »pittore  delle  Traslazioni«  —  alle  die 
zahlreichen  Künstler,  von  denen  die  Krypta  von  Anagni 
ausgemalt  wurde,  und  ebenso  diejenigen  sämtlicher  Sacro 
Speco-Fresken  vom  Jahre  1228  in  der  Tat  wohl  römische 
Maler,  die  bei  aller  Nachahmung  byzantinischer  Vorbilder 
sich  doch  dem  Einflüsse  jener  volkstümlichen  römischen 
Lokalkunst  nicht  zu  entziehen  vermochten,  wie  sie  in  der 
Unterkirche  von  S.  Clemente,  in  S.  Urbano  alla  Caffarella, 
im  Oratorio  di  S.  Silvestro  (neben  den  Santi  Quattro  Co- 
ronati)  zu  Rom  sich  triumphierend  behauptet  hat,  und  wie 
sie  im  Subiacenser  Sacro  Speco  selbst  ein  so  charakteristi¬ 
sches  Denkmal  gezeitigt  hat  in  den  von  einem  Magister 
Conxoliis  inschriftlich  bezeichneten  Fresken  der  dortigen 
Unterkirche.  Bei  Besprechung  dieser  letzteren  Malereien 
führt  Hermanin  den  sicheren  Nachweis,  daß  die  Unter¬ 
kirche  des  Sacro  Speco,  ehe  sie  vom  Magister  Conxolus 
neu  ausgemalt  wurde,  bereits  einen  alle  verfügbaren  Mauer¬ 
flächen  bedeckenden  Freskenschmuck  besessen  haben  muß, 
dessen  künstlerische  Urheber  den  Freskomalern  der  St. 
Gregorius-Kapelle  augenscheinlich  sehr  nahe  verwandt  ge¬ 
wesen  sind.  Diese  älteren  Fresken,  von  denen  heute  nur 
noch  ein  Lünettenbild  irritden  Heiligen  Stephanus,  Nikolaus 
von  Bari  und  Thomas  von  Canterbury  übriggeblieben  ist 
(sowie  außerdem  noch  ein  fragmentarisches  Bildnis  des 
Papstes  Innozenz  111.),  sind  offenbar  in  die  Zeit  der  Er¬ 
bauung  der  Unterkirche  selbst,  also  in  die  ersten  Jahre  des 
13.  Jahrhunderts  zurückzudatieren.  Die  gleichfalls  den  ge¬ 
samten  Innenraum  dieserUnterkirche  schmückenden  Fresken 
des  Conxolus  dagegen  können  nach  Hermanin  erst  in  den 
letzten  zwanzig  Jahren  des  13.  Jahrhunderts  entstanden 
sein.  Der  Schöpfer  dieser  Malereien  offenbart  sich  als  ein 
Vertreter  der  traditionellen,  von  fremden  Schuleinflüssen 
völlig  freien  römischen  Kunstweise  dieser  Zeit.  Außer 
dem  vom  Magister  Conxolus  voll  signierten  Lünettenbilde 
mit  der  Madonna  zwischen  zwei  Engeln  und  außer  dem 
dekorativen  Schmuck  der  Architekturglieder  sehen  wir  in 
diesen  Fresken  eine  Reihe  von  Szenen  aus  dem  Leben  des 
heiligen  Benediktus  dargestellt,  die  uns  Hermanin  Bild  für 
Bild  ausführlich  erläutert.  An  der  malerischen  Aus¬ 
schmückung  der  Deckengewölbe  scheint  der  Künstler  nur 
insofern  Anteil  gehabt  zu  haben,  als  er  die  von  den  ur¬ 
sprünglichen  Freskodekorateuren  der  Unterkirche  geschaf¬ 
fenen  Gewölbeornamente  neu  übermalte.  Sicherlich  von 
der  Hand  des  Conxolus  stammen  schließlich  noch  einige 
Heiligen-  und  Engelfiguren  im  ersten  Teile  des  Verbindungs¬ 
ganges  zwischen  der  Unterkirche  und  der  Cappella  di  San 
Gregorio;  leider  sind  diese  letzteren  Malereien  in  späteren 
Zeiten  so  schauderhaft  überpinselt  worden,  daß  sie  heute 
in  ihrem  ursprünglichen  Charakter  kaum  mehr  wiederzu¬ 
erkennen  sind. 

Unzweifelhaft  als  Trecento-Malereien  sind  nach  Her¬ 
manin  im  Sacro  Speco-Kloster  die  Fresken  der  Oberkirche, 
der  Scala  Santa  und  der  Cappella  della  Madonna  zu  be¬ 
trachten,  und  zwar  sollen  sie  sämtlich  von  der  Hand  eines 
einzigen,  nur  von  seinen  direkten  Schülern  unterstützten 
Meisters  herrühren.  Ihrem  Darstellungsinhalte  nach  um¬ 
fassen  diese  in  kunstgeschichtlicher  und  kunsttechnischer, 
wie  auch  in  rein  ikonographischer  Hinsicht  gleich  inter- 


DIE  KLÖSTER  VON  SUBIACO 


283 


essanten  Freskozyklen  eine  Reihe  von  Szenen  aus  der 
Lebens-  und  Leidensgeschichte  Christi  und  aus  dem  Leben 
der  Jungfrau  Maria,  so\vie  außerdem  zwei  Totentanzbilder 
(den  »Trionfo  della  Morte«  und  die  Historie  von  den  drei 
Lebenden  und  den  drei  Toten).  Besonders  bemerkenswert 
ist  in  seiner  Eigenschaft  als  ungemein  lebendige  Darstellung 
gewisser  Szenen  aus  dem  mittelalterlichen  Alltagsleben  das 
große  Kirchenfresko  mit  der  Verurteilung  und  der  Kreuz¬ 
tragung  Christi.  Auf  Grund  einer  genauen  stilkritischen 
Untersuchung  aller  dieser  Fresken  gelangt  Hermanin  zu 
der  höchst  plausibel  erscheinenden  Schlußfolgerung,  daß 
der  Schöpfer  dieser  Trecentonialereien  ein  dem  Meister 
Barna  nahestehender  Sienese  gewesen  sein  müsse,  der 
vielleicht  von  dem  1363 — 1369  regierenden  Abte  Barto- 
lomnieo  III.  zur  Ausführung  der  klösterlichen  Wand¬ 
malereien  nach  Subiaco  berufen  worden  wäre.  In  der  Tat 
ist  es  keineswegs  verwunderlich,  daß  zu  einer  Zeit,  in  der 
durch  die  dauernde  Verlegung  des  Wohnsitzes  der  Päpste 
nach  Avignon  die  römische  Kunst  einen  so  schweren  Schlag 
erlitten  hatte,  ein  selbst  aus  Siena  stammender  Klosterabt 
sich  einen  Maler  aus  seiner  Heimatstadt  verschrieb;  denn 
dort  hatten  wenige  Dezennien  vorher  überragende  Meister 
wie  Simone  Martini  und  die  beiden  Loienzetti  die  Malkunst 
zu  einem  so  stolzen  Gipfel  der  Entwickelung  emporgeleitet, 
daß  die  damalige  sienesische  Schule  für  auswärtige  Kunst¬ 
bedürfnisse  jedenfalls  weit  hervorragendere  künstlerische 
Kräfte  zur  Verfügung  stellen  konnte,  als  es  der  römischen 
Schule  jemals  möglich  gewesen  wäre.  Außerdem  wird 
die  Ausbreitung  der  damaligen  sienesischen  Kunstströniung 
bis  weit  nach  dem  Süden  hinab  auch  sonst  noch  durch 
die  mannigfaltigsten  urkundlichen  Nachrichten  beglaubigt, 
und  desgleichen  auch  durch  zahlreiche  Denkmäler  siene- 
sischer  Wandmalerei,  wie  sie  sich  in  den  an  der  Heerstraße 


zwischen  Siena  und  Subiaco  gelegenen  Städten  und  Klöstern 
—  in  Bolsena,  in  Montefiascone  und  in  Rom  selbst  — 
noch  bis  heutigen  Tages  erhalten  haben.  Übrigens  hätte 
Hermanin  bei  der  vergleichenden  Heranziehung  derartiger 
römischen  Denkmäler  der  sienesischen  Trecentokunst  zur 
Kontrolle  seiner  Behauptung,  daß  die  Subiacenser  Trecento- 
fresken  speziell  von  einem  dem  Meister  Barna  da  Siena 
nahestehenden  Künstler  gemalt  sein  müßten,  auch  die 
Malereien  am  Ciborium  von  S.  Giovanni  in  Laterano 
einer  vergleichenden  Untersuchung  unterwerfen  sollen,  da 
diese  in  der  Tat  dem  Meister  Barna  selbst  zugeschrieben 
werden. 

Nachdem  im  Trecento  die  sienesische  Schule  einen 
ihrer  Jünger  nach  Subiaco  entsandt  hatte,  folgte  im  Quattro¬ 
cento  die  umbrische  Schule  diesem  Beispiele  nach.  Denn 
nach  Hermanins  Ansicht  ist  es  ein  dem  Ottaviano  Nelli 
da  Gubbio  nahe  verwandter  umbrischer  Künstler,  dem  die 
jetzt  leider  völlig  übermalten  Fresken  der  Cappella  degli 
Angeli  im  Kloster  der  heiligen  Scholastica  (gestiftet  von 
dem  1428  verstorbenen  Bischof  Ludovico  von  Maiorca),  so¬ 
wie  die  aus  der  gleichen  Zeit  stammenden  Gemälde  in 
der  Oberkirche  des  Sacro  Speco  zuzuweisen  sind.  Die 
Mehrzahl  dieser  Fresken  stellt  Szenen  aus  dem  Leben  des 
heiligen  Benediktus  dar.  Auch  hier  wieder  sind  neben  der 
Hand  des  leitenden  Meisters  mehrere  etwas  schwächere 
Schülerhände  unterscheidbar.  Der  Meister  selbst  hat  augen¬ 
scheinlich  nur  das  Madonnenbild  über  der  zum  alten  Ka¬ 
pitelsaale  des  Sacro  Speco  führenden  Türöffnung  ausgeführt, 
sowie  außerdem  noch  die  beiden  prächtigen  kerzentragen¬ 
den  Engelgestalten,  mit  denen  die  eine  Wandfläche  in  der 
Oberkirche  desselben  Klosters  geschmückt  ist. 

ETTORE  MODIOUANI. 


Die  Großherzogi.  Gemälde-Galerie  im  Augusteum 
zu  Oldenburg.  41  Reproduktionen  in  Pliotogravüre, 
mit  einem  Vorwort  und  erläuterndem  Text  von  A.  Bredius 
und  Fr.  Schmidt-Degener.  —  Oldenburg,  Carl  G.  Onckens 
Hofkunsthandlung,  1906. 

Welche  gründliche  Umwälzung  im  Reproduktions¬ 
wesen,  die  sich  in  unserer  Zeit  vollzogen  hat!  Es  sind 
noch  nicht  zwanzig  Jahre  vergangen,  seit  ich  in  einer  Folge, 
»Die  kleineren  Gemäldesammlungen  Deutschlands«  betitelt, 
im  Aufträge  der  »Gesellschaft  für  vervielfältigende  Kunst« 
in  Wien  auch  die  Galerie  zu  Oldenburg  veröffentlicht 
habe.  Obwohl  der  photographische  Druck  damals  schon 
bekannt  war,  wurden  die  Nachbildungen  doch  in  Stichen 
und  Radierungen  ausgeführt;  war  doch  die  Gesellschaft 
gerade  gegründet,  um  den  künstlerischen  Vervielfältigungs¬ 
verfahren  gegen  die  immer  stärker  andrängenden  mecha¬ 
nischen  Reproduktionen  eine  Stütze  zu  bieten  und  sie  neu 
zu  beleben.  Vergeblich!  Die  photographischen  Verfahren 
haben  auf  der  ganzen  Linie  gesiegt,  haben  sich  so  ver¬ 
vollkommnet,  so  mannigfache  Formen  angenommen,  daß  sie 
schon  jetzt  imstande  sind,  fast  jedem  Kunstwerk  in  seiner  Art 
gerecht  zu  werden,  so  daß  Grabstichel  und  Nadel  nicht  mehr 
dagegen  aufkommen  können,  ja  dies  nicht  einmal  mehr 
versuchen.  Selbst  die  »Wiener  Gesellschaft«,  die  durch 
Jahrzehnte  einer  Anzahl  Künstler,  verdienten  und  unver¬ 
dienten,  weitergeholfen  und  unter  Mittelgut  und  Geringem 
auch  manch  schönes  Blatt  in  Radierung  und  Stich  ver¬ 
öffentlicht  hat,  hat  seit  lange  auch  die  mechanischen  Ver¬ 
fahren  mit  bei  ihren  Veröffentlichungen  heranziehen  müssen. 
Aber  die  vielen  Hunderttausende,  die  für  Erhaltung  der 
alten  Reproduktionsarten  ausgegeben  wurden,  sind  doch 
keineswegs  fortgeworfenes  Geld  gewesen:  wenn  diese 
Kunst  auch  bei  Nachbildungen  von  Gemälden  und  gar  von 
alten  Stichen  und  Zeichnungen  heute  so  gut  wie  beseitigt 
ist,  so  haben  doch  gerade  jene  Aufträge  die  Künstler 
wieder  die  freie  Behandlung  des  Stichels  gelehrt  und  haben 
sie  wieder  auf  die  rechte  alte  Bahn  geführt,  zur  Maler¬ 
radierung,  zur  vollen  Ausnutzung  aller  künstlerischen  Repro¬ 
duktionsarten  für  die  eigenen  Erfindungen  und  Studien. 

Jene  erste  Publikation  der  Oldenburger  Galerie  kann 
sich  daher  mit  diesem  neuen  Onckenschen  Werke  nicht 
vergleichen,  obgleich  darin  schon  die  meisten  Bilder,  die 
hier  reproduziert  sind,  wiedergegeben  sind.  Denn  diese 
mechanischen  Abbilder  geben  die  Originale  nahezu  treu 
wieder;  sie  haben  zugleich  den  Vorzug  gleichmäßiger 
guter  Durchbildung  und  einen  Ton,  der  dem  des  Originals 
möglichst  nahe  zu  kommen  sucht.  Der  Text,  den  Bredius 
für  die  Gemälde  des  17.  Jahrhunderts,  Schmidt  für  die 
des  15.  und  16.  Jahrhunderts  verfaßt  hat,  gibt  neben  der 
künstlerischen  Wertschätzung  und  kunsthistorischen  Er¬ 
läuterung  manche  wertvolle  neue  Fingerzeige,  die  man  aus 
der  Publikation,  der  wir  die  weiteste  Verbreitung  wünschen, 
kennen  lernen  möge.  Hier  sei  es  mir  gestattet,  gewisser¬ 
maßen  zur  Ergänzung  des  kurzen  Abrisses  über  die  Ge¬ 
schichte  der  Oldenburger  Galerie,  zwei  Männer  namhaft 
zu  machen,  die  besonderes  Verdienst  um  die  Zusammen¬ 
bringung  derselben  haben :  den  1  qoo  verstorbenen  Großherzog 
Peter  und  Otto  Mündler.  Der  Großherzog  ist  der  eigent¬ 
liche  Gründer  der  Galerie,  wie  wir  sie  heute  vor  uns  sehen: 
er  hat  den  Bau  veranlaßt  und  zum  Teil  aus  seinen  Mitteln 


bezahlt;  er  hat  aus  den  Schlössern  zusammengesucht,  was 
noch  an  guten  Bildern  darin  versteckt  war;  er  hat  vor 
allem  die  systematische  Vervollständigung  angestrebt  und 
bis  zu  einem  gewissen  Grade  mit  Glück  durchgeführt.  Die 
Erwerbungen  für  die  Galerie  machte  Großherzog  Peter 
durch  seinen  Kammerherrn  Freiherrn  von  Alten,  aber  der 
Ratgeber  bei  den  Ankäufen  war  ein  deutscher  Kunst¬ 
händler  in  Paris,  Otto  Mündler.  Mündler  ist  uns  älteren 
Kunsthistorikern  durch  seine  kritischen  Beiträge  zu  Burck- 
hardts  »Cicerone«  (2.  Aufl.)  wie  durch  seinen  Essay  über 
die  italienischen  Meister  im  Louvre  bekannt.  Aber  der 
treffliche  deutsche  Gelehrte  hat  nach  anderer  Richtung  eine 
Tätigkeit  entwickelt ,  wegen  der  er  neben  den  großen 
Museunisschöpfern  des  vorigen  Jahrhunderts  genannt  zu 
werden  verdient.  Als  Hauslehrer  in  Paris  in  dem  Flause 
des  Sammlers  Questier  zur  alten  Kunst  erzogen,  hatte  er, 
da  ihm  keine  Gelegenheit  ward,  sein  Wissen  in  einer  Stellung 
an  einer  öffentlichen  Sammlung  zu  verwerten  —  gleich¬ 
zeitig  mit  ihm  lebte  und  verkam  in  Paris,  in  einer  unter¬ 
geordneten  Stellung  an  der  Bibliotheque  nationale,  ein 
anderer  Bahnbrecher  in  unserer  jungen  Wissenschaft, 
Eduard  Koloff  — ,  als  Bilderhändler  sich  etabliert.  Aber 
dieser  Handel  widerstrebte  seinem  geraden,  biederen  Cha¬ 
rakter;  er  suchte  der  jungen  Berliner  Galerie  als  Unter¬ 
händler,  namentlich  bei  Ankäufen  in  Italien,  nützlich  zu 
sein.  Allein  Waagens  unglückliche  Reise  nach  Italien  im 
Jahre  1841,  von  der  er,  außer  einigen  damals  nicht  be¬ 
achteten  Renaissancebildwerken,  kaum  Ein  gutes  Stück 
mitbrachte,  hatte  hier  völlig  deprimiert.  Alles  Geld  wurde 
seither  auf  Gipsabgüsse  verwendet;  um  die  Abgüsse  der 
Rossebändiger  anfertigen  zu  lassen,  lehnte  man  den  Ankauf 
der  herrlichen  Woodbornschen  Sammlung  von  Zeichnungen 
Raffaels  und  Michelangelos  ab,  die  nicht  mehr  gekostet 
hätte,  wie  jene  beiden  Abgüsse!  Damals  wurde  Mündler 
mit  dem  rührigen  Direktor  der  Londoner  National  Gallery, 
Sir  Charles  Eastlake,  bekannt,  und  was  er  der  Berliner 
Galerie  vergeblich  angeboten  hatte,  wurde  ihm  jetzt  von 
London  entgegengebracht:  im  Jahre  1857  trat  er  als  Unter¬ 
händler  in  den  Dienst  der  National  Gallery.  Namentlich 
Italien  wurde  seine  Domäne.  Monate  hindurch  durch¬ 
stöberte  er  hier  alljährlich  die  Privatsammlungen  und 
Kirchen,  und  wenn  dann  Eastlake  im  Herbst  oder  Früh¬ 
ling  nach  Italien  kam,  wurde  die  Auswahl  getroffen  aus 
dem,  was  Mündler  vorher  ausgehandelt  hatte.  Sieben  Jahre 
lang,  von  1857  bis  1863,  ist  dieser  so  für  die  National  Gallery 
tätig  gewesen;  ihm  weit  mehr  als  Eastlake,  der  den  Ruhm 
dafür  erntete,  verdankt  diese  Sammlung  ihre  großen  Meister¬ 
werke  der  italienischen  Schule,  namentlich  aus  dem  15.  und 
16.  Jahrhundert.  Später  ging  Mündler  wieder  nach  Paris 
und  suchte  hier,  wo  er  es  konnte,  deutschen  Galerien  und 
deutschen  Sammlern  behilflich  zu  sein.  So  gerade  der 
Oldenburger  Galerie;  zuerst  im  Jahre  1867,  als  die  große 
Sammlung  des  Grafen  Schönborn-Pommersfelden  dort  ver¬ 
steigert  wurde,  ln  den  folgenden  Jahren  bis  zu  seinem 
Tode  1870  hat  Mündler  in  Paris  wie  in  Italien  durch 
Erwerbungen  für  mäßiges  Geld  die  Galerie  um  kleine 
Perlen  der  italienischen  Schule  zu  bereichern  verstanden. 
Ehre  dem  Andenken  dieses  Mannes,  der  in  der  Diaspora, 
in  den  bescheidensten  Verhältnissen,  sein  Deutschtum  stets 
hochgehalten  und  ihm  Ehre  gemacht  hat.  Bode. 


Herausgeber  und  verantwortliche  Redaktion:  E.  A.  Seemann,  Leipzig,  Querstraße  13 
Druck  von  Ernst  Hedrich  Nachf.,  a.  m.  b.  h.,  Leipzig 


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BESALÜ,  DIE  SPUREN  EINES  MITTELALTERLICHEN  GRAFEN¬ 
GESCHLECHTES  IN  DEN  ÖSTLICHEN  PYRENÄEN 

Von  Alfred  Demiani  in  Barcelona 


IN  leuchtender,  von  keiner 
Wolke  getrübter  Herbsthimmel 
wölbt  sich  über  Nord-Catalu- 
nien;  braune,  zerklüftete  Berge, 
an  deren  Abhängen  sich  die 
bunten  Farben  des  welkenden 
Laubes  mit  dem  dunklen  Grün 
der  Steineichen  und  dem  silber¬ 
nen  Grau  der  Oliven  mischen, 
werfen  lange  Schalten  in  die 
sonnige  Landschaft.  Am  Hori¬ 
zont  glänzt  der  frische  Schnee  der  Pyrenäen. 

Seit  Stunden  trotten  die  drei,  in  einer  Reihe  vor 
einander  gespannten  Maultiere  auf  der  Landstraße  von 
Gerona,  rollt  der  zweirädrige  Postwagen,  dessen  großes 
leinenes  Schutzdach  auf  und  nieder  schwankt,  vorüber 
an  Banolas  und  seinem  anmutigen  kleinen  See,  um 
sich  jetzt  endlich  seinem  Ziel  zu  nähern. 

An  dem  Vereinigungspunkt  zweier  tiefeingeschnit¬ 
tener  Flußtäler  (Fluvia  und  Capellada)  steigen  Felsen 
empor;  auf  den  Felsen,  mit  dem  Gestein  halbver¬ 
wachsen,  drängt  sich  ein  Gewirr  grauer  und  brauner 
Häuser;  über  den  Dächern  erheben  sich  die  runden 
Absiden  uralter  Kirchen  und  schwerfällige  vierkantige 
Türme;  hier  und  dort  leuchtet  zwischen  dem  alten 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XVIII.  H.  12 


Gemäuer,  wie  eine  fröhliche  Blume,  eine  rote  cata- 
lanische  Mütze. 

Der  Wagen  passiert  die  hoch  und  kühn  gewölbte 
Brücke,  welche  kaum  breit  genug  für  die  Spur  der 
Räder  ist;  dann  ein  kurzer  Zuruf  des  Kutschers,  und 
im  Galopp  geht’s  durch  den  engen  Torbogen,  durch 
die  schmale,  bergansteigende  Gasse;  der  rot  und  gelbe 
Kopfputz  der  Maultiere  tanzt,  die  Schellen  klingen; 
der  Kutscher  schreit  und  knallt  mit  der  Peitsche;  die 
Passanten  springen  zur  Seite;  Hühner  flattern  und 
gackern;  Gelächter  und  frohe  Gesichter  im  Wagen, 
Gelächter  und  frohe  Gesichter  in  den  Türen  und  an 
den  Fenstern,  und  das  staubbedeckte  Fuhrwerk  hält 
auf  der  kleinen  Plaza  von  Besalü. 

Ich  glaube,  es  wird  nicht  viele  unter  den 
Lesern  dieser  Zeitschrift  geben ,  welche  schon  etwas 
von  dem  stillen  Pyrenäenstädtchen  gehört  haben. 
Im  Baedeker  ist  nicht  einmal  der  Name  erwähnt. 
Es  ist  dies  gerade  ein  Hauptreiz  des  Reisens  südlich 
der  Pyrenäen,  daß  uns  hier  in  vielen  Fällen  die 
Möglichkeit  geboten  wird,  selbständig  kleine  Ent¬ 
deckungsfahrten  zu  unternehmen,  da  die  sonst  so 
zuverlässigen  roten  und  braunen  Reisebegleiter  ganz 


39 


BESALU,  DIE  SPUREN  EINES  MITTELALTERLICHEN  QRAFENGESCHLECHTS 


2  86 


oder  teilweise  versagen.  Aber  mitunter  sind  doch 
Ortschaften,  deren  Besuch  den  Kunsthistoriker  in  der 
angenehmsten  Weise  überraschen  würde,  wenigstens 
dem  Namen  nach,  als  Bahnstation,  mit  genauer  An¬ 
gabe  der  Kilometerzahl  bis  zur  nächsten  größeren 
Stadt,  aufgeführt  (denn  diese  Zahlen  liefert  ja,  selbst 
für  Spanien,  das  Kursbuch).  Da  Besalii  aber  nicht 
Bahnstation  ist,  ist  ihm  auch  diese  Ehre  nicht  zu¬ 
teil  geworden. 

Und  doch  hat  sich  hier  während  der  Jahrhunderte, 
als  sich  unter  der  Araberherrschaft  in  den  entlegenen 
und  rauhen  Gebirgstälern  der  Halbinsel  die  Neuge¬ 
burt  einer  weltbeherrschenden  Rasse  vorbereitete,  ein 
bedeutsames  Stück  Geschichte  abgespielt;  die  eigen¬ 
artigen  und  zum  Teil  wohlerhaltenen  Baudenkmäler 
der  Stadt  erzählen  uns  von  Kunst  und  Kultur  am 
Anfang  unseres  Jahrtausends. 

Die  Geschichte  der  einstigen  Grafschaft  Besalii 
erscheint  mir  hinreichend  interessant,  um  sie  kurz  zu 
skizzieren,  ehe  ich  mich  der  kunsthistorischen  Wür¬ 
digung  der  uns  aus  jener  Zeit  erhaltenen  Bauten  zu¬ 
wende. 

Als  die  Araber  in  der  Schlacht  von  Xeres  de  la  Fron¬ 
tera  (711)  die  Kriegsmacht  der  Westgoten  vernichtet 
hatten  und  im  Verlauf  von  drei  Jahren,  ohne  auf  er¬ 
heblichen  Widerstand  zu  stoßen,  die  Pyrenäen  er¬ 
reichten,  bedeutete  dies  für  den  größten  Teil  der  Be¬ 
wohner  der  Halbinsel,  bei  der  hohen  Kultur  und  re¬ 
ligiösen  Toleranz  der  Eroberer,  kaum  eine  Verschlech¬ 
terung  ihrer  Lage.  Die  meisten  scheinen  sich  auch 
diesem  Wechsel  in  der  Fremdherrschaft  gegenüber 
vollkommen  indifferent  verhalten  zu  haben.  Nur  in 
den  schwer  zugänglichen  und  infolge  ihrer  klima¬ 
tischen  Verhältnisse  für  die  Araber  wohl  auch  wenig 
verlockenden  Gebirgen  Nord-Spaniens,  wo  sich  ver¬ 
mutlich  Trümmer  des  gotischen  Heeres  wiedervereinigt 
hatten,  begegnen  wir  bereits  im  zweiten  und  dritten  Jahr¬ 
zehnt  des  8.  Jahrhunderts  den  ersten  Versuchen  einer 
neuen  christlichen  Staatenbildung  und  können  das  Er¬ 
wachen  der  Idee  einer  Rückeroberung 
beobachten. 

Und  wie  die  Geschichte  von  Castilien 
in  den  Schluchten  und  Höhlen  von  Asturien 
ihren  Anfang  nimmt  und  sich  mit  dem 
Namen  des  gotischen  Nationalhelden  Pelayo 
verknüpft,  so  weiß  die  catalanische  Über¬ 
lieferung  von  einem  Goten  Quintilian  zu 
berichten,  der  um  das  Jahr  740  in  den 
östlichen  Pyrenäen  lebte,  sich  als  Flerr  von 
Mongrony  bezeichnete  und  eine  Erhebung 
der  Christen  in  der  Gegend  von  Campro- 
don,  also  im  Norden  der  späteren  Graf¬ 
schaft  Besalü,  veranlaßte.  Gleichzeitig 
begegnen  wir  der  sagenhaften  Figur  des 
Otger  Catalön  mit  seinen  neun  Barones 
de  la  Fama«,  welche  in  den  Stammbäumen 
catalanischer  Geschlechter  eine  wichtige 
Rolle  spielen. 

Jedenfalls  kann  man  wohl  mit  Bestimmt¬ 
heit  behaupten,  daß  die  Gegend  von  Besalü, 


das  obere  Flußgebiet  der  Fluvia  und  des  Ter^),  eine 
Schutz-  und  Heimstätte  christlicher  Kultur  gewesen  ist, 
und  daß  in  diesen  Tälern  die  Herrschaft  des  Halb¬ 
mondes  kaum  länger  als  ein  Menschenaller  gewährt  hat. 
Die  Felsen,  welche  heute  die  Häuser  von  Besalü  tragen, 
mögen  in  jenen  Tagen  des  Kampfes  eine  bedeutsame 
Talsperre  gewesen  sein,  und  höchst  wahrscheinlich 
ist  die  Burg  von  Besalü  bereits  damals  entstanden. 

Die  Christen  im  nordöstlichen  Spanien  erhielten 
bald  einen  mächtigen  Bundesgenossen  in  Karl  dem 
Großen,  so  daß  nach  Begründung  der  spanischen 
Mark  (801)  durch  den  späteren  Kaiser,  Ludwig  den 
Frommen  die  Fterrschaft  des  Christentums  in  den  heuti¬ 
gen  Provinzen  Gerona  und  Barcelona  gesichert  schien. 

Bereits  anläßlich  der  ersten  Expedition  Karls  des 
Großen  nach  Spanien  (778)  wird  eines  Grafen  Odilon 
von  Besalü  Erwähnung  getan  ;  wir  wissen  von  dem¬ 
selben  Grafen,  daß  er  785  das  Kloster  von  Banolas 
gegründet  hat;  und  endlich  begegnen  wir  dem  Namen 
Besalü  aufs  neue  gelegentlich  der  Einteilung  der 
spanischen  Mark  in  Grafschaften. 

Unter  den  Nachfolgern  Karls  des  Großen  bildet 
die  spanische  Mark  anfangs  einen  Teil  des  Herzog¬ 
tums  Septimanien,  später  ist  sie  ein  von  dem  König¬ 
reich  Aquitanien  abhängiges  Lehn. 

Seit  der  zweiten  Hälfte  des  g.  Jahrhunderts  wird 
die  Bezeichnung  Marca  Catalana«  gebräuchlich,  deren 
Grafen,  jedenfalls  nach  wie  vor  gotischer  Abstammung, 
ausgesprochene  Abneigung  gegen  die  Suzerän  ität 
fränkischer  Könige  und  ein  deutlich  erkennbares  Streben 
nach  Autonomie  an  den  Tag  legen,  ja  sogar  kein  Be¬ 
denken  tragen,  die  Hilfe  der  Araber  gegen  ihre  Lehns¬ 
herren  in  Anspruch  zu  nehmen. 

Im  Abschluß  dieser  Bewegung  steht  der  Stamm¬ 
vater  der  souveränen  Grafen  von  Barcelona,  Wifred 
»lo  Pilos«2)  oder  »el  Velloso«“),  dessen  Geschlecht 

1)  Beide  münden  zirka  100  km  nördlich  Barcelona  ins 
Mittelmeer. 

2)  Catalanisch 

3)  Castilianisch,  beides  bedeutet  »der  Behaarte«. 


Gesamtansiclit  von  Besalü 


BESALU,  DIE  SPUREN  EINES  MITTELALTERLICHEN  QRAEENGESCHLECHTS 


287 


Das  Kreuz  von  Besalu 


später  die  königliche  Krone  von  Aragon  mit  der  Orafen- 
krone  vereinigte  und  im  Mannesstamm  ohne  Unter¬ 
brechung  bis  zum  Anfang  des  15.  Jahrhunderts  regierte. 

Ihm  gelang  es,  nachdem  er  durch  einen  ent¬ 
scheidenden  Sieg  im  Tale  des  Ter  über  die  Araber’), 
welche,  unter  Ausnutzung  der  regellosen  politischen 
Zustände  in  der  spanischen  Mark  wieder  bis  zu  den 
Pyrenäen  vorgedrungen  waren,  den  Bestand  seines 
Besitzes  gesichert  hatte,  von  Karl  dem  Kahlen,  zum 
Dank  für  erfolgreiche  Hilfeleistung  gegen  die  Nor¬ 
mannen,  die  von  seinen  Vorgängern  vergeblich  und 
unter  schwerer  Schädigung  des  Landes  angestrebte 
Unabhängigkeit  zu  erhalten. 

Wifred  ist  eine  jener  Gestalten  des  frühen  Mittel¬ 
alters,  um  welche  die  Sage  ihren  Schleier  gewoben 
hat,  und  deren  gigantischer  Schatten,  können  wir 
auch  die  Züge  nicht  mehr  deutlich  erkennen,  sich 
über  Jahrhunderte  erstreckt.  Wie  sich  die  Legende 
des  Wappens  von  Catalunien,  der  vier  roten  Balken  im 
goldenen  Eeld,  mit  seinem  Andenken  verbindet“),  so 
lebt  seine  Persönlichkeit  fort  in  der  Sehnsucht  nach 
Ereiheit  und  Unabhängigkeit  der  heutigen  Catalanen. 

Bei  seinem  Tode  (902)  verteilte  er,  um  die  Eort- 
dauer  der  jungen  Dynastie  zu  sichern,  die  Grafschaften 
seiner  nördlich  und  südlich  der  Pyrenäen  gelegenen 
Besitzungen  an  seine  Söhne  und  an  nahe  Verwandte 
des  Hauses. 

Seit  dieser  Zeit  regiert  in  Besalu  eine  jüngere 
Linie  des  gräflichen  Hauses  von  Barcelona,  deren 
Mannesstamm  jedoch  nach  zwei  Jahrhunderten  erlischt. 

1)  Seit  dieser  Niederlage  haben  die  Araber  die  östlichen 
Pyrenäen  nicht  wieder  betreten,  während  Barcelona  985 
nochmals  von  ihnen  erobert  wurde. 

2)  Karl  der  Kahle  soll  nach  dem  Sieg  über  die  Nor¬ 
mannen  seine  Hand  in  das  Blut  des  verwundeten  Grafen 
getaucht  und  vier  Streifen  auf  dem  Schild  des  getreuen  Lehns¬ 
mannes  gezogen  haben. 


Die  Regierungszeit  der  erblichen  Grafen  von 
Besalu,  welche,  je  nach  der  politischen  Lage,  ihre 
Unabhängigkeit  von  Barcelona  mehr  oder  weniger 
zu  wahren  wußten,  ist  derjenige  Zeitabschnitt,  wo 
wir  von  einer  Geschichte  von  Besalu  im  eigentlichen 
Sinne  sprechen  können,  und  an  jene  Tage  einstigen 
Glanzes  werden  wir  erinnert,  wenn  wir  die  Straßen 
des  weltvergessenen  Städtchens  durchwandern. 

Aus  der  Reihe  der  elf  Grafen  sind  es  vor  allem 
zwei  Persönlichkeiten,  welche  unser  Interesse  fesseln, 
und  deren  Bautätigkeit  und  Munifizenz  die  Stadt  ihr 
charakteristisches  Gepräge  verdankt;  Miron  (968 — 84) 
und  Bernhard  I.  Tallaferro  (990  — 1020). 

Miron  war  wohl  ursprünglich  kaum  für  den 
Herrscherberuf  bestimmt  gewesen ;  er  hatte  vielmehr 
die  geistlichen  Weihen  erhalten.  Doch  da  zwei  seiner 
Brüder  ohne  Erben  starben,  gelangte  er  zur  Regierung, 
und  wir  haben  das  merkwürdige  Schauspiel,  daß  er 
die  Würde  eines  Bischofs  von  Gerona  mit  der  eines 
Grafen  von  Besalii  vereinigt.  In  seiner  doppelten 
Eigenschaft  als  geistlicher  und  weltlicher  Eürst  be¬ 
suchte  er  983  ein  Konzil  in  Rom  und  wußte  vom  da¬ 
maligen  Papst,  Benedikt  VII.,  wichtige  Privilegien  für 
die  geistlichen  Stiftungen  seiner  Heimat  zu  erlangen. 

Bernhard  I.  ist  einer  der  nationalen  Helden  der 
RecoiK|uista.  Seinen  Beinamen  Tallaferro’)  verdankt 
er  dem  im  Kampf  gegen  die  Ungläubigen  erlangten 
Waffenruhm.  Vermutlich  hat  er  sich  an  der  Expedi¬ 
tion  der  catalanischen  Ritterschaft  nach  Cordoba  (1010) 
beteiligt,  welche  infolge  von  Thronstreitigkeiten  im 
Kalifat  von  einer  der  rivalisierenden  Parteien  zn  Hilfe 
gerufen  worden  war”). 

1)  Gleichbedeutend  mit  dem,  durch  Uhlauds  Ballade 
bekannten  französisch-normannischen  »Taillefer  . 

2)  Es  fielen  damals  unter  anderen  drei  christliche 
Bischöfe  im  Kampf  für  die  Interessen  eines  nmhameda- 
nischen  Prätendenten. 


39 


288 


BESALU,  DIE  SPUREN  EINES  MITTELALTERLICHEN  GRAFENGESCHLECHTS 


Um  Bedeutung  und  Selbständigkeit  seines  Terri¬ 
toriums  zu  erhöhen,  vor  allem  aber  um  sich  dem 
Einfluß  der  Bischöfe  von  Gerona  und  Vieh  zu  ent¬ 
ziehen,  plante  er  die  Errichtung  eines  eigenen  Bis¬ 
tums  für  die  Grafschaft.  Er  unternahm  zu  diesem 
Zweck  mit  seinen  Söhnen  Wilhelm  und  Wifred  1016 
eine  Romfahrt,  und  es  gelang  ihm  auch,  die  päpst¬ 
liche  Zustimmung  zu  erhalten,  infolge  deren  er 
seinen  Sohn  Wifred  zum  ersten  Bischof  von  Besalii 
weihen  ließ. 

Als  Zeichen  des  päpstlichen  Wohlwollens  für  das 
junge  Episkopat  brachte  er,  als  ein  Geschenk  Bene¬ 
dikts  VIII.,  der  ihn  in  einer 
Bulle  als  geliebten  Sohn 
und  glorreichen  Grafen 
von  Besalü  bezeichnet, 
das  lignum  crucis  oder 
auch  vera  cruz  von  Be¬ 
salü  aus  Italien  zurück, 
eine  Reliquie  in  Form  des 
Kreuzes  von  Caravaca  ^), 
welche  bis  vor  kurzem  in 
Besalü  verehrt  wurde  und 
auch  im  Wappen  der  Stadt 
Aufnahme  gefunden  hat. 

Das  kostbare,  der  Form 


1)  Patriarchenkreuz. 


des  Kreuzes  angepaßte  Behältnis  war,  soviel  ich  aus 
Abbildungen  habe  ersehen  können ,  vermutlich  eine 
Arbeit  des  1  3.  Jahrhunderts.  Leider  ist  das  durch  Alter 
und  Tradition  geheiligte  Wahrzeichen  im  Winter  i8gg 
durch  räuberische  Hände  entwendet  worden  und  seit¬ 
dem  spurlos  verschwunden;  vielleicht  wird  es  nach 
Jahren  einmal  in  einem  Museum  oder  einer  Privat¬ 
sammlung  wieder  auftauchen. 

Das  Bistum  von  Besalü  war  nur  von  kurzer  Dauer. 
Nach  Tallaferros  Tode,  der  in  seinem  Testament  bereits, 
um  den  Krummstab  neben  der  Grafenkrone  seinem 
Hause  zu  sichern,  seinen  jüngeren  Sohn  Heinrich  als 

späteren  Nachfolger  be¬ 
stimmt  hatte,wurde  Wifred 
mitdem  Bistum  von  Carcas- 
sonne  entschädigt,  und  der 
neubegründete  Bischofs¬ 
stuhl  blieb,  vermutlich  auf 
Betreiben  der  geistlichen 
Herren  von  Gerona  und 
Vieh,  unbesetzt.  Der  erste 
Bischof  von  Besalü  war  also 
auch  sein  letzter  gewesen. 

Bernhard  Tallaferro 
fand  auf  der  Brautschau 
für  seinen  ältesten  Sohn 
und  Nachfolger  den  Tod 
in  den  Wellen  des  Rhone. 


A  Apsis  —  B  Fassade  —  C  AKarplalz 


C  BESALU,  SANTA  MARIA  O 

A  Apsis  —  B  Detail  eines  Pfeilers  —  C  Nördüclie  Seitenpforfe  ~  D  Maupteingang 


290 


BESALU,  DIE  SPUREN  EINES  MITTELALTERLICHEN  ORAFENGESCHLECHTS 


Der  glänzendste  Vertreter  des  Geschlechtes  hatte 
ein  unerwartetes  und  frühes  Ende  gefunden.  Der 
Widerhall  der  allgemeinen  Trauer  hat  sich  uns  in 
einem  Rundschreiben  des  Abtes  Oliva  von  Ripoll, 
Bruders  des  Entschlafenen,  an  die  Geistlichkeit  erhalten, 
welches  von  dem  Unglücksfall  Kenntnis  gibt  und 
dem  Verstorbenen  unter  anderem  folgende  Eigen¬ 
schaften  nachrühmt:  ....  nulli  suo  tempore  pie- 
tate  secundus,  acer  in  armis,  corpore  pulcher  aspectu 
decorus,  ....  eloquens  lingua  .  .  .  .< 

Seine  Nachfolger  scheinen  auch  weiterhin  znm 
päpstlichen  Stuhl  in  guten  Beziehungen  gestanden  zu 
haben.  Daß  die  Grafen  viel  für  den  Klerus  taten, 
dafür  sprechen  allenihalben  in  ihrem  einstigen  Bann¬ 
kreise  die  zahlreichen  Kirchen-  und  Klosterbaulen  im 
Rundbogenstil.  (Ich  möchte  hier  nur  als  einige  unter 
vielen,  Porqueras,  San  Juan  de  las  Abadesas,  vor 
allem  aber  Ripoll,  anführen,  dem  ich  am  Schlüsse 
noch  einige  Zeilen  widmen  werde.)  Daß  sie  aber 
auch  gut  römisch  gesinnt  waren,  bezeugt  ein  für  Be- 
salü  historischer  Vorgang.  Als  das  durch  Gregor  Vll. 
nach  Gerona  berufene  Konzil,  welches  der  Simonie 
und  LJnsittlichkeit  der  Geistlichkeit  steuern  sollte,  durch 
die  Intrigen  des  Erzbischofs  von  Narbonne  gestört  wurde, 
öffnete  die  Grafenstadt  an  der  Fluvia  dem  päpstlichen 
Legaten  ihre  Tore,  so  daß  die  Verhandlungen  im 
Schutze  ihrer  Mauern  unbehelligt  fortgesetzt  werden 
konnten  (1077). 


Doch  Bruderzwist  und  Brudermord,  die  nicht  un¬ 
gewöhnlichen  Begleiterscheinungen  mittelalterlichen 
Feudalwesens,  schädigen  Ansehen  und  Bedeutung  des 
Ländchens;  der  Glanz-  und  Höhepunkt  gehört  ent¬ 
schieden  schon  der  Vergangenheit  an;  bis  endlich  1111 
der  letzte  Graf  von  Besah!,  Bernhard  III.,  die  Augen 
schließt,  und  die  Grafschaft  dauernd  mit  Barcelona- 
Catalunien  vereinigt  wird. 

Über  die  spätere  Geschichte  von  Besah!  ist  nicht 
mehr  viel  zu  berichten.  Der  Handel  blühte  im  Mittel- 
alter  durch  Export  seiner  Woll-  und  Textilprodukte, 
begünstigt  durch  die  zunehmende  Bedeutung  der  ca- 
talanischen  Hafenplätze,  welche  ihrer  Zeit  zu  den 
ersten  des  Mittelmeeres  zählten  L)  Als  reiche  Stadt 
gehörte  es  wiederholt  zur  Morgengabe  aragonesischer 
Könige  an  ihre  Gemahlinnen. 

Später  verliert  es  durch  Austreibung  der  Juden,  Ent¬ 
deckung  von  Amerika  und  durch  die  Vernachlässi¬ 
gung  Catahmiens  seitens  der  spanischen  Krone  an 
Reichtum  und  Bedeutung. 

Infolge  seiner  strategisch  wichtigen  Lage  am  Ein¬ 
gänge  zweier  Flußtäler  und  am  Vereinigungspimkt  dreier 
wichtiger  Straßen  hat  es  in  der  Kriegsgeschichte  häufig 
eine  Rolle  gespielt.  Erdbeben  (1427  und  28)  haben  das 
alte  Gemäuer  erschüttert;  der  Bauernaufstand  (1462), 
vor  allem  aber  in  neuerer  Zeit  der  Unabhängigkeits¬ 
kampf  gegen  Frankreich  und  die  Karlistenkriege  haben 
manches  zerstört  und  uns  das  von  Besah!  gelassen,  was 
heute  noch  unser  Interesse  in  Anspruch  nimmt. 


asLand  der  Überraschungen 
könnte  man  Spanien  nennen, 
im  guten,  mitunter  ja  aller¬ 
dings  auch  im  üblen  Sinne 
des  Wortes.  Doch  dem 
Kunsthistoriker  zeigt  es  sich 
eigentlich  immer  nur  von 
der  angenehmsten  Seite. 
Nicht  nur,  daß  er  hier 
Kunstwerke  und  architek¬ 
tonische  Monumente  findet, 
die  sich  mit  nichts  im  übrigen  Europa  vergleichen 
lassen,  es  gibt  hier  auch  halbvergessene  Ortschaften, 
welche  das  Gepräge  eines  bestimmten  Zeitabschnittes 
mit  einer  geradezu  verblüffenden  Treue  bewahrt  haben. 

Das  erstere  verdanken  wir  der  eigenartigen  ge¬ 
schichtlichen  Vergangenheit  des  Landes  und  dem 

Einfluß  der  verschiedenen,  sich  hier  begegnenden  Kul¬ 
turelemente;  das  letztere  ist  dem  konservativen  Sinn 
des  Spaniers,  seiner  in  unserer  hastigen  und  nervösen 
Zeit  geradezu  vorbildlichen  Faulheit  und  Indolenz 
und  der  ihm  angeborenen  Ehrfurcht  vor  seinen  reli¬ 
giösen  und  historischen  Traditionen  zuzuschreiben. 

Hierzu  kommt,  wenn  wir  Spanien  lediglich  mit 
Italien  vergleichen,  daß  auf  der  pyrenäischen  Halb¬ 
insel  die  Renaissance  bei  weitem  nicht  die  Rolle  ge¬ 
spielt  hat,  wie  am  Fuße  der  Apenninen,  sich  also 
hier  vieles  aus  dem  Mittelalter  erhalten  konnte,  was 


dort  einem  neuen  Schönheitsideal  zum  Opfer  fiel 
oder  auch  in  geschmacklosester  und  verständnislose¬ 
ster  Weise  verunstaltet  wurde“). 

Besah!  gehört  zu  dem  an  zweiter  Stelle  erwähnten 
Genre  kunsthistorischer  Merkwürdigkeiten  in  Spanien. 
Das  kleine  Felsennest  weiß  uns  nur  zu  erzählen  von  der 
Regierungszeit  seiner  Grafen,  von  den  Tagen  des 
Bischofs  Miron  und  des  Kriegshelden  Bernhard  Talla- 
ferro,  des  getreuen  und  diplomatischen  Sohnes  der 
Kirche. 

Zugegeben,  daß  in  Spanien  selbst,  vor  allem  aber 
in  Frankreich  und  Deutschland,  einzelne  hervor¬ 
ragendere  und  glänzendere  Schöpfungen  des  gleichen 
Zeitabschnittes  Vorkommen,  so  wird  man  als  stimmungs¬ 
volles  und  harmonisches  Gesamt-  und  Zeitbild  etwas 
ähnliches  nicht  leicht  wiederfinden. 

Es  soll  hier  nicht  in  spitzfindiger  Weise  erörtert 
werden,  ob  der  Stil  der  Bauwerke  von  Besah!  als 
romanisch,  römisch-byzantinisch  oder  latino-romanisch 
zu  bezeichnen  wäre.  Es  genügt  wohl  festzustellen, 
daß  sie  zum  Teil  bereits  Ende  des  10.  Jahrhunderts 
begonnen,  in  der  Hauptsache  aber  während  des 
11.  Jahrhunderts  zu  Ende  geführt  worden  sind. 


1)  Catalimien  hat  bereits  im  13.  Jahrhundert  eine  Acta 
de  navigacion«,  welche  für  die  Schiffahrt  der  Neuzeit  von 
grundlegender  Bedeutung  geworden  ist. 

2)  Z.  B.  Dom  von  Palermo. 


BESALU,  DIE  SPUREN  EINES  MITTELALTERLICHEN  GRAFENQESCHLECHTS 


2gi 


Nimmt  man  im  allgemeinen  das  Jahr  looü  als 
Geburtsjahr  des  romanischen  Stils  an,  da  damals  die 
Menschheit,  befreit  von  dem  auf  ihr  lastenden  Alb, 
dem  Glauben  an  den  bevorstehenden  Weltuntergang, 
aufatmete,  und  die  Kirche,  welche  natürlich  von  der 
Situation  profitiert  hatte,  eine  ausgedehnte  Bautätigkeit 
beginnen  konnte,  so  würden  wir  es  hier  mit  Konstruk¬ 
tionen  aus  den  ersten  Tagen  dieser  Bauweise  zu  tun 
haben.  Dasselbe  gilt,  wenn  man  der  Behauptung 
Quicherats  beipflichtet:  »Le  principal  caractere  de 
Tarchitecture  romane  c’est  la  voüte«  *). 

Es  ist  noch  nicht  der  romanische  Stil  des  12.  Jahr¬ 
hunderts  mit  seinen  prunkvollen,  reichgegliederten, 
von  innen  nach  außen  sich  erweiternden  Portalen 
und  dem  zierlichen  Ornament  seiner  Kapitäle.  Man 
weiß  noch  nicht  durch  Aneinanderreihung  auf  Säulen 
ruhender  Bogenfenster  dem  Kircheninneren  reichlich 
Licht  zuzuführen.  Der  Architektur  fehlt  die  Abge¬ 
schliffenheit,  Feinheit  lind  Sicherheit  einer  zielbewußten 
Geschmacksrichtung  und  die  Routine  künstlerischer 
Erfahrung. 

Die  sich  mehr  und  mehr  ihrer  Macht  bewußt 
werdende  römische  Kirche  ist  noch  bei  der  Arbeit, 
sich  unter  Benützung  dessen,  was  die  Völkerwande¬ 
rung  von  römischen  Bauwerken  übrig  gelassen,  und 
dessen,  was  in  Byzanz  bereits  seit  Erhebung  des 
Christentums  zur  Staatsreligion  Neues  entstanden  war, 
einen  eigenen  Stil  zu  schaffen.  Es  ist  der  Stil  des 
Jahrhunderts  Gregors  VIL,  die  Knospe,  welche  sich 
nach  zweihundertjähriger  Fortentwickelung  zur  präch¬ 
tigen  Blüte,  der  Gotik,  der  einzigen  wahrhaft  christ¬ 
lichen  Kunstform,  entfalten  sollte. 

Ich  möchte  hier  nochmals  Quicherat  zitieren,  der 
meiner  Meinung  nach  in  trefflicher  Weise  das  Wesen 
der  romanischen  Kunst  präzisiert:  »L’architecture  ro¬ 
mane  est  celle  qui  a  cesse  d’etre  romaine,  quoiqu’elle 
tienne  beaucoup  du  romain,  et  qui  n’est  pas  encore 
gothique,quoiqu’elle  aitdejä  quelque  chosedegothique«. 

In  erhöhtem  Maße  gilt  der  erste  Teil  dieses 
Satzes  für  das  11.,  der  zweite  Teil  für  das  12.  Jahr¬ 
hundert. 

An  römischen  Vorbildern  hat  es  natürlich  auch 
in  Spanien,  zumal  an  der  Mittelmeerküste,  nicht  ge¬ 
fehlt.  Für  unseren  speziellen  Fall  könnten  im  be¬ 
sonderen  Rosas  und  Ampurias  in  Betracht  kommen; 
nördlich  der  Mündung  der  Fluvia  gelegen,  waren  sie 
bereits  griechische,  später  römische  Kolonien.  Auch 
Besalü  selbst  hat  im  Altertum  unter  dem  Namen 
Bisuldinum  existiert. 

Beziehungen  zur  byzantinischen  Kunst  sind  wohl 
vor  allem  durch  die  Expeditionen  Karls  des  Großen  an¬ 
geknüpft  worden,  der  ja  den  Verkehr  mit  dem  östlichen 
Kaiserreich  eifrig  pflegte,  um  den  Weg  für  Kultur 
und  Kunst  nach  seinen  nordischen  Wäldern  zu  bahnen. 

Hierzu  kommt  ein  drittes  Element,  der  Einfluß 
des  Orients,  dem  die  übrigen  europäischen  Völker 
durch  die  Kreuzzüge  näher  gebracht  werden  sollten, 
der  sich  aber  in  Spanien  schon  seit  Jahrhunderten 
in  intensivster  Weise  geltend  macht.  Doch  ist  dies 


eigentlich  nur  ein  Ring,  der  sich  schließt;  denn 
die  Baumeister  des  Kalifats  von  Cordoba  waren 
mehr  oder  weniger  auch  bei  Byzanz  in  die  Lehre 
gegangen. 

Spanien  ist  ziemlich  arm  an  frühromanischen 
Bauten.  Die  geschichtliche  Erklärung  hierfür  ist  nicht 
schwer  zu  finden,  wenn  man  sich  durch  einen  Blick 
auf  die  Karte  vergegenwärtigt,  auf  welch  enges  Ge¬ 
biet  sich  die  christlichen  Staaten  vor  dem  Kreuzzug 
Alfons’  VI.  von  Castilien  und  der  Eroberung  von 
Toledo  (1085),  der  ersten  entscheidenden  Tat  der 
Reconquista,  beschränken  mußten.  Gleichzeitig  bietet 
sich  uns  ein, Anhalt  dafür,  in  welchen  Provinzen  wir 
christliche  Monumente  aus  den  ersten  Jahrhunderten 
der  arabischen  Okkupation  suchen  können. 

■■a  :l- 

Unter  den  Gebäuden  von  Besahi  sind  es  in  erster 
Linie  seine  drei  Kirchen,  welche  unsere  Aufmerksam¬ 
keit  in  Anspruch  nehmen. 

Die  älteste  unter  ihnen  ist  zweifelsohne  die  von 
San  Pedro ,  der  letzte  Rest  einer  einst  mächtigen 
Abtei.  Nachdem  hier  bereits  seit  823  ein  Kloster  be¬ 
standen  hatte,  das  aber  durch  die  Araber  zerstört 
wurde,  gründete  Miron  an  der  gleichen  Stelle  ein 
Benediktinerkloster  (977),  welches  er  direkt  unter  den 
Schutz  des  heiligen  Stuhles  stellte,  und  dessen  Abt 
das  Privilegium  selbständiger  Rechtsprechung  ver¬ 
liehen  wurde.  Die  Kirche  wurde  erst  nach  dem 
Tode  des  Stifters,  und  zwar  am  23.  September  1003, 
durch  die  Bischöfe  von  Gerona,  Vieh  und  Barcelona 
in  Anwesenheit  des  Grafen  Tallaferro  geweiht.  Sie 
ist  uns  fast  unverändert  erhalten  geblieben. 

Die  Westfront  bringt  die  innere  Gliederung  in 
schlichter,  doch  monumentaler  Weise  zum  Ausdruck. 
Das  Hauptportal  ist  hinsichtlich  des  Ornaments  sehr 
einfach  gehalten,  während  das  darüber  befindliche 
große  Fenster,  vermutlich  um  einigejahrzehnte  jüngeren 
Datums,  bereits  reichere  Ausstattung,  sowie  für  den 
späteren  romanischen  Stil  charakteristische  Merkmale 
aufweist  und  durch  die  beiden  flankierenden  Löwen 
sehr  dekorativ  wirkt. 

Das  Innere  hat,  wenn  auch  der  Gesamteindruck 
durch  die  barocke  Bemalung  und  Ausstattung  des 
Altarplatzes  einigermaßen  beeinträchtigt  wird,  wesent¬ 
liche  bauliche  Umgestaltungen  nicht  erfahren  und  ist 
ein  ausgezeichnetes  Beispiel  für  die  kleinen,  an¬ 
spruchslosen  und  doch  so  eindrucksvollen  Gottes¬ 
häuser  jener  Zeit,  deren  Baumeister  mit  der  Kon¬ 
struktion  des  Gewölbes  noch  wenig  vertraut  waren. 
Man  wagt  die  stützenden  Seitenmauern  nur  mit 
schmalen,  schießschartenähnlichen  Fenstern  zu  durch- 
brechetU);  die  Hauptlichtquellen  sind  die  Fenster  in 
den  Giebelwänden;  das  Problem,  die  Dimensionen 
des  Raumes  bei  größter  Leichtigkeit  der  Formen  un¬ 
beschadet  der  Dauerhaftigkeit  zu  erweitern,  ist  noch 
nicht  gelöst. 


1)  Jules  Quicherat,  Melanges  d’archeologie  et  d’histoire. 


1)  Das  Mittelschiff  hat  nur  auf  der  Südseite  Fenster. 


292 


BESALU,  DIE  SPUREN  EINES  MITTELALTERLICHEN  GRAFENGESCHLECHTS 


Die  miltleren  Pfeiler  der  Fluviabrücke 


AUS  BESALU 


San  Vicenle 


Hospital 


Calle  del  Conde  Tallaferio 


BESALU,  DIE  SPUREN  EINES  MITTELALTERLICHEN  GRAFENGESCHLECHTS 


293 


Die  Disposition  der  einzelnen  Teile  ist  einfach 
und  klar;  sie  besteht  aus  erhöhtem  Mittelschiff  mit 
halbrundem  Tonnengewölbe,  welches  auf  von  sechs 
schweren,  quadratischen  Pfeilern  gestützten  Bogen 
ruht,  aus  den  beiden,  sehr  schmalen  Seitenschiffen, 
deren  Gewölbe,  in  Form  von  Viertelkreisbögen,  sich 
an  das  Hauptschiff  anlehnen  und  aus  einem,  die 
Seitenwände  wenig  überragenden  Transsept.  Bei  der 
halbkreisförmigen,  doppelten  Apsis  kommuniziert  der 
äußere  Halbkreis,  welcher  die  Fortsetzung  der  Seiten¬ 
schiffe  bildet,  mit  dem  inneren,  dem  eigentlichen 
Altarplatz,  mittels  offener  Rundbögen,  welche  von 
vier  Säulenpaaren  getragen  werden.  Die  Kapitale  sind 
beachtenswert,  sind  aber  leider  im  18.  Jahrhundert 
vergoldet  worden.  Von  dem  Kreuzgang,  der  sich  an 
der  Südseite  der  Kirche  anschloß,  in  der  Franzosen¬ 
zeit  aber  zerstört  wurde,  sind  nur  wenige,  kaum  er¬ 
wähnenswerte  Reste  geblieben. 

Ein  Opfer  der  nämlichen  Kriegsjahre  ist  auch  die 
einstige  Hauptkirche  von  Besalu,  Santa  Maria,  ge¬ 
worden,  deren  immer  noch  imposante  Ruinen  sich 
an  der  höchsten  Stelle  der  Stadt  erheben.  Hier  hat 
sie  einst  neben  der  jetzt  gleichfalls  in  Trümmern 
liegenden  gräflichen  Burg,  von  der  sich  nur  noch  ein 
einziger  wuchtiger  Turm  aufrecht  erhalten  hat,  weit 
ins  Land  hinausgeblickt. 

Ursprünglich  hat  wohl  hier  oben  nur  eine  kleine 
Palastkapelle  existiert.  Einer  Kirche  auf  dem  Kastell 
von  Besalu  wird  zum  erstenmale  unter  Miron  Er¬ 
wähnung  getan,  auf  dessen  Veranlassung  hier  Augus¬ 
tiner  installiert  wurden. 

Die  Bedeutung  der  Schloßkirche  wurde  wesent¬ 
lich  durch  Begründung  des  Bischofssitzes  erhöht;  sie 
wurde  dadurch  zur  Episkopalkirche  und  Kathedrale. 
Während  früher  ihre  Bezeichnung  als  »San  Miguel« 
oder  auch  »San  Salvador«  wechselt,  wird  sie  jetzt 
der  Himmelskönigin  geweiht.  Vermutlich  wurde  auch 
in  diesen  Jahren  ein  Neubau  begonnen.  Historische 
Unterlagen  sind  hierfür  nicht  vorhanden;  doch  abge¬ 
sehen  von  architektonischen  Details,  welche  auf  eine 
spätere  Konstruktion,  als  die  von  S.  Pedro,  schließen 
lassen,  wird  diese  Vermutung  gestützt  durch  die 
Notiz,  daß  im  Jahre  1055  die  Kirche  auf  der  Burg 
von  Besalu  durch  den  Bischof  von  Gerona  geweiht 
wurde.  Ferner  liegt  ein  Dokument  aus  dem  Jahre 
1029  vor,  laut  dessen  das  Kloster  von  S.  Pedro  von 
allen  Dienstleistungen  für  die  Bauaibeiten  auf  der 
Burg  entbunden  wird.  Es  müssen  mithin  auf  jeden 
Fall  in  der'  ersten  Hälfte  des  11.  Jahrhunderts  um¬ 
fassende  bauliche  Veränderungen  auf  dem  Schloß- 
berg  stattgefunden  haben,  welche  sich  auch  auf  die 
Kirche  erstreckt  haben  dürften,  da  sich  eine  Neu¬ 
weihung  nötig  machte. 

Der  Grundriß  von  Sta.  Maria  ist  bereits  kompli¬ 
zierter  als  der  von  S.  Pedro,  und  an  den  Pfeilern  sind 
Halbsäulen  mit  sorgfältig  ausgeführten,  antikisierenden 
Kapitälen  angefügt. 


Erhalten  geblieben  sind  uns,  abgesehen  von 
weniger  beachtenswerten  Resten,  der  östliche  Teil 
mit  den  drei  Apsiden  und  Turm,  eine  Partie  der 
Nordwand  mit  hübscher  Seitenpforte  und  das  Haupt¬ 
portal,  dessen  Lünette  ein  gut  ausgeführtes  Relief, 
Christus  umgeben  von  den  Symbolen  der  Evange¬ 
listen,  trägt. 

Die  dritte  Kirche  von  Besalu  ist  die  jetzige 
Parochialkirche  der  Stadt,  San  Vicente.  Sie  wird 
zum  erstenmal  977  erwähnt,  anläßlich  einer  Schen¬ 
kung  Mirons  an  die  Augustiner  von  S.  Miguel  (Sta. 
Maria),  zu  welcher  auch  die  damals  »extra  muros« 
liegende  Kirche  gehörte.  Ferner  berichtet  ein  Doku¬ 
ment  im  Archiv  von  Besalu  über  einen  Neubau  von 
S.  Vicente  durch  Tallaferro.  Es  ist  entschieden  unter 
den  Kirchen  von  Besalu  diejenige,  welche  am  spätesten 
vollendet  wurde. 

Wenn  auch  das  Hauptportal  und  die  sehr  reich 
ausgestattete  südliche  Seitenpforte  den  Ruinen  von 
Sta.  Maria  etwa  zeitgenössische  Arbeiten  sind,  so 
trägt  das  zierliche  romanische  Säulenfenster  des  West¬ 
giebels  bereits  einen  ogivalen  Bogen  als  Abschluß; 
auch  der  Querschnitt  des  Gewölbes  zeigt  schon  eine 
geringe  Abweichung  von  der  reinen  Form  des  Halb¬ 
kreises.  Die  Harmonie  der  Architektur  innen  und 
außen  wird  durch  gotische  Einbauten  und  noch 
spätere  Anbauten  gestört. 

Die  Straßen  der  Stadt  bilden  eine  passende  Folie 
und  Staffage  für  die  von  mir  näher  geschilderten 
Monumente.  Das  aufmerksame  Auge  kann  noch  hier 
und  dort  einen  wappengeschmückten  Stein,  ein  Kapitäl, 
einen  Fries  entdecken,  welche  an  den  gleichen  Zeit¬ 
abschnitt  erinnern. 

Besonders  lohnend  ist  ein  Gang  durch  die  »Calle 
del  Conde  Tallaferro«  mit  ihrem  originellen  Lauben¬ 
gang.  Das  Haus  Nr.  14  dieser  Straße  hat  ver¬ 
mauerte  romanische  Fenster  mit  ziemlich  wohlerhal¬ 
tenen  Säulen  und  Kapitälen. 

Beachtung  verdient  vor  allem  das  an  der  Osfseite 
von  S.  Pedro  gelegene  Hospital,  dessen  Portal  bereits 
den  Arbeiten  des  12.  Jahrhunderts  ähnelt. 

Die  anfangs  schon  erwähnte  Brücke  über  die 
Fluvia  stammt  gleichfalls  aus  der  Zeit  der  Grafen. 
Es  ist  eine  technisch  interessante  Konstruktion;  die 
Pfeiler  sind  unter  Benutzung  im  Flußbett  liegender 
Felsblöcke  errichtet;  die  Spannung  der  Bögen  ist  in¬ 
folgedessen  ganz  verschiedenartig  und  die  Fahrbahn 
ist  nicht  geradlinig,  sondern  bildet  in  der  Mitte  einen 
Winkel. 

Leider  ist  der  Torturm,  der  noch  bis  vor  wenig 
Jahren  einen  der  mittleren  Pfeiler  schmückte,  bis  zur 
Hälfte  abgetragen  worden,  —  um  eine  Maschine  in 
die  Stadt  zu  bringen,  wie  man  mir  sagte.  Man  sieht, 
also  auch  die  Pyrenäentäler  sind  von  den  Segnungen 
moderner  Kultur  nicht  verschont  geblieben  und  die 
deutschen  Schildbürger  brauchen  sich  nicht  über  Iso¬ 
lierung  zu  beklagen;  sie  finden  überall  Kollegen,  selbst 
im  Bannkreise  der  Grafen  von  Besahi. 


Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  XVIII.  H.  12 


40 


Santa  Maria  von  Ripoll  bei  Besalü 


Portal  von  Santa  Maria  von  Ripoll  bei  Besahi 


40* 


B 

Santa  Maria  von  Ripoll  bei  Besalii :  A  Portal,  B  Detail 


Kreuzgang  Santa  Maria  von  Ripoll  bei  Besalii  Detail 


2g8 


BESALU,  DIE  SPUREN  EINES  MEFTELALTERLICHEN  ORAEENQESCHLECHTS 


ergauf,  bergab  führt  die  Straße 
durch  die  vulkanische  und 
pittoreske  Felsenlandschaft 
von  Olot  aus  dem  Gebiet 
der  Fluvia  in  das  Tal  des 
Ter;  und  vor  uns  erhebt  sich 
die  gewaltige  Masse  eines 
Bauwerkes  irn  Rundbogenstil, 
welches,  was  Ausdehnung 
und  Glanz  der  Ausstattung 
anbelangt,  das  in  Besalü  ge¬ 
sehene  in  Schatten  stellt. 
Es  ist  die  Kirche  des  Klosters  von  Ripoll,  dessen 
Geschichte  mit  der  des  Grafengeschlechtes  von  Besalü 
aufs  innigste  verknüpft  ist. 

Der  Ahnherr  Wifred  hatte  das  Kloster  (888)  zum 
Gedächtnis  seines  Sieges  über  die  Araber  gegründet 
und  seinen  erstgeborenen  Sohn  Rudolf  als  Abt  ein¬ 
gesetzt.  Noch  heute  gibt  auf  dem  Altarplatz  ein 
Mosaik,  dessen  Ornament  den  Kampf  zwischen 

Christentum  und  Islam  symbolisieren  soll,  von  dem 

denkwürdigen  Ereignis  Kunde. 

Seit  dieser  Zeit  hat  sich  das  Kloster  stets  der  be¬ 
sonderen  Gunst  und  Fürsorge  der  Grafen  erfreuen 
können,  und  sie  alle,  mit  Ausnahme  eines  einzigen, 
Oliva  Cabreta  (984 — go),  der  das  Eisenhemd  mit  der 
Mönchskutte  vertauschte  und  fern  der  Heimat  in 
Monte  Casino  starb,  haben  hier  die  letzte  Ruhe  ge¬ 
funden.  Bernhard  Tallaferro  legte  sich  den  Titel  eines 
Grafen  von  Ripoll  bei,  und  sein  Bruder,  der  Abt  von 
Ripoll  und  Bischof  von  Vieh,  Oliva  weihte  am 
15.  Januar  1032  die  heutige  Kirche  Santa  Maria 
von  Ripoll'  . 

Das  stolze,  fünfschiffige  Gotteshaus  wurde  während 
der  Karlistenkämpfe  1835  ^^st  vollständig  zerstört,  ist 
aber  in  neuester  Zeit  in  wahrhaft  mustergültiger  Weise 
restauriert  worden.  Das  bei  den  Wiederherstellungs¬ 
arbeiten  bewiesene  feine  Verständnis  und  Stilgefühl 
ist  anerkennenswert,  vor  allem  aber  die  weise  Mäßigung, 
mit  der  man  es  verstanden  hat,  hierbei  das  so  oft 
verhängnisvolle  »zu  viel  des  Guten <  zu  vermeiden. 

ln  erster  Linie  verdient  die  prachtvolle  Eingangs¬ 
tür  die  Beachtung  des  Besuchers.  Man  sagt  wohl 
kaum  zu  viel  mit  der  Behauptung,  daß  sie  eine  der 
eigenartigsten  Schöpfungen  des  11.  Jahrhunderts  ist. 
Es  ist  hier  so  recht  deutlich  zu  sehen,  wie  der  reiche 
Ornamentschmuck  der  äußeren  Umrahmung,  deren 
in  sieben  Reihen  angeordneten  Reliefs  in  naiver  Dar¬ 
stellungsweise  biblische  Historiken  von  den  Büchern 
Mosis  bis  zur  Apokalipse  vorführen,  den  Einfluß 
spätrömischer  Vorbilder  nicht  verleugnen  kann,  während 
das  Portal  selbst  bereits  das  Wesen  der  romanischen 
Formensprache  zum  Ausdruck  bringt,  hier  und  dort 
aber  ein  dem  Abendlande  unbekanntes  Fabeltier  uns 
die  Kunde  von  fernen  östlichen  Kulturen  zuträgt. 


Ich  möchte  es  hier  in  Ergänzung  des  oben  Ge¬ 
sagten  als  dankenswert  hervorheben,  daß  man  es  sich 
versagt  hat,  an  dem  wunderbaren  Werk,  das  bei  der 
Zerstörung  der  Kirche  stark  gelitten  hat,  das  Geringste 
zu  ergänzen  und  sich  lediglich  auf  die  Erhaltung  des 
Vorhandenen  beschränkt. 

Mir  scheint,  daß  bei  der  Betrachtung  beschädigter 
Kunstwerke  das  Auge  verhältnismäßig  mühelos  Fehlen¬ 
des  anfügt,  während  angesetzte  Nasen,  Hände  und 
Füße  die  Möglichkeit  eines  ästhetischen  Genusses 
zerstören. 

Der  Kreuzgang,  in  dessen  Schatten  die  Grafen 
schlummern,  soweit  sie  nicht  in  der  Kirche  selbst  bei- 
geselzt  sind,  hat  mehrere  Umänderungen  erfahren  und 
ist  in  seiner  jetzigen  Gestalt  eine  Arbeit  der  Jahr¬ 
hunderte  12 — 15.  Er  ist  in  zwei  Stockwerken  an¬ 
gelegt,  und  wenn  sich  auch  im  Detail  seiner  höchst 
anmutigen  und  abwechslungsreichen  Ornamente,  zu¬ 
mal  im  oberen  Stockwerk ,  sehr  erklärlicherweise 
mitunter  gotische  Motive  finden,  so  hat  er  doch  in 
seiner  Gesamtheit  einen  einheitlichen  romanischen 
Eindruck  gewahrt.  Beide  Etagen  haben  hölzerne 
Decken.  Die  verschiedenartige  Färbung  der  Säulen 
verleiht  dem  Ganzen  einen  lebhaften  und  warmen 
Ton. 

*  * 

Es  ist  ein  eigenes  Land,  das  Land  der  Grafen  von 
Besalü.  Die  großzügige  Natur  und  das  alte  den 
Jahrhunderten  trotzende  Gemäuer  reden  die  gleiche, 
uns  fremde  und  doch  so  verständliche  Sprache.  Man 
begreift,  daß  hier  Menschen  wohnten,  die  im  Morgenrot 
standen  einer  großen  Zeit.  Man  begreift  aber  auch 
den  Zukunftstraum  der  Catalanen. 

Die  Kinder  dieser  Berge  sind  nicht  gewillt,  den 
Zusammenbruch  ihrer  Nation  ohne  Widerspruch  und 
Kampf  als  Tatsache  hinzunehmen;  sie  sind  entschlossen, 
sich  den  eigenen  Weg  zu  bahnen,  koste  es,  was  es  wolle. 
Hier  lebt  wohl  auch  heute  noch  der  kühne,  trotzige 
und  unabhängige  Geist  der  Westgoten,  und  vielleicht 
sind  wieder  geheimnisvolle  Mächte  bei  der  Arbeit, 
welche  Spanien  ein  zweites  Mal  zu  neuem  Leben 
erwecken  könnten.  Die  Rolle  der  Kirche  dürfte 
allerdings  nicht  ganz  die  gleiche  sein  wie  vor 
tausend  Jahren,  wo  sie  es  war,  welche  die  Waffen 
schmiedete. 

Ein  Volk  verliert  nicht  den  Glauben  an  die  Zu¬ 
kunft,  wenn  es  eine  große  Vergangenheit  kennt  und 
liebt.  Und  wie  überall  der  Schild  mit  den  vier  blut¬ 
roten  Streifen  auf  uns  herabblickt,  und  ringsum  in 
den  Bergen  die  tausendjährigen  Wahrzeichen  eines 
längst  entschwundenen  Geschlechtes  das  Auge  fesseln, 
so  ist  auch  heutigen  Tages  noch  die  Erinnerung  an 
Wifred  lebendig  geblieben  und  an  den  Grafen  Bern¬ 
hard  Tallaferro. 


FRANZÖSISCHE  KUNSTAUSSTELLUNG 
IM  KAISER-WILHELM-MUSEUM  ZU  KREFELD 


Das  Schlagwort  von  der  »Ausstellungsmüdigkeit« 
ist  heute  ein  unentbehrliches  Requisit  jedes  Refe¬ 
renten  geworden.  Entspricht  es  aber  den  Tat¬ 
sachen?  Wie  ist  es  dann  zu  erklären,  daß  trotzdem  diese 
Veranstaltungen  nach  Zahl  und  Umfang  unaufhörlich 
wachsen?  Doch  wohl  nur  darum,  weil  wir  im  höchsten 
Maße  ausstellungsbedürftig  geworden  sind;  weil  sie 
unserer  auf  Anschauung  hindrängenden  Zeit  unent¬ 
behrlich  sind.  Unsere  modernen  Transport-  und  Ver¬ 
kehrsmittel  gestatten  sogar,  an  kleineren  und  scheinbar 
entlegenen  Orten  alles  das  im  Original  vorzuführen, 
wovon  unsere  Urgroßväter  sich  nur  durch  schriftliche 
oder  gedruckte  Mitteihing  unterrichten  konnten.  Es 
gehört  freilich  ein  geschickter  Leiter  dazu,  um  außer¬ 
halb  der  großen  Kunstzentren  wirklich  etwas  Gutes 
zu  veranstalten.  Andererseits  sind  diese  kleineren 
Orte  nicht  so  sehr  genötigt,  persönliche  Interessen¬ 
politik  zu  treiben,  auf  »einheimische«  Künstlergruppen 
und  deren  Bundesgenossen  Rücksicht  zu  nehmen. 
Und  gerade  das  war  es,  was  in  den  letzten  Jahren 
den  Krefelder  modernen  Kunstausstellungen  einen  so 
großen  ideellen  Erfolg  sicherte.  Liest  man  die  Pro¬ 
spekte  einer  modernen  Kunstausstellung,  so  ver¬ 
folgt  sie  ausschließlich  kulturelle  Interessen,  will  uns 
die  Bekanntschaft  mit  neuen  Kunstrichtungen  ver¬ 
mitteln,  uns  den  Genuß  von  Meisterwerken  sichern, 
mit  möglichster  Unparteilichkeit  ein  glänzendes  Bild 
der  neueren  Kunst  zeichnen,  und  was  dergleichen 
verlockende  Behauptungen  mehr  sind.  Tritt  man 
aber  in  die  Glaspaläste  an  Isar  und  Spree,  Donau 
und  Rhein,  so  ist  von  alledem  oft  herzlich  wenig  zu 
spüren  und  die  Massenware  der  großstädtischen 
Ateliers  erstickt  meist  die  sparsam  verteilten  guten 
Werke.  Erfolg,  das  heißt  kulturellen  Wert  können 
doch  nur  diejenigen  Ausstellungen  haben,  die  nach  rein 
künstlerischen  Gesichtspunkten  zusammengestellt  sind, 
wie  etwa  die  verflossene  Dresdener  und  andere  mehr. 
Das  gilt  auch  von  der  im  Juli  gezeigten  französischen 
Ausstellung  in  Krefeld.  Einen  französischen  Saal,  eine 
französische  Gruppe  haben  wir  in  Berlin  und  München 
oft  gehabt.  Einzelkünstler  waren,  besonders  in  München, 
gelegentlich  glänzend  und  überraschend  vertreten 
und  dadurch  dem  deutschen  Publikum  näher  gerückt. 
Aber  eine  so  systematisch  geordnete  und  fast  lücken¬ 
lose  Übersicht  über  die  französische  Malerei  der 
letzten  zwanzig  Jahre  ist  wohl  in  Deutschland  bisher 
nicht  geboten.  Nicht  jeder  Künstler  ist  hier  mit 
großen  Paradestücken  erschienen,  aber  doch  jeder  mit 
typischen  Arbeiten,  wenn  auch  nur  kleineren  Umfanges. 


Nun  liegt  aber  das  Verdienst  der  Krefelder  Veran¬ 
staltung  durchaus  nicht  nur  auf  »historischem«  Ge¬ 
biet.  Größer  noch  ist  der  erzieherische  Wert  für  die 
Bildung  des  Geschmackes.  Nicht,  was  zufällig  der 
oder  jener  Kunsthändler,  diese  oder  jene  Künstler¬ 
gruppe  auf  Lager  hatten,  war  ausgestellt,  sondern  das, 
was  nach  langem  systematischen  Suchen  als  charak¬ 
teristisch  und  zugleich  künstlerisch  wirksam  und 
wertvoll  erkannt  war. 

Die  Ausstellung  war  also  nicht  nur  nach  bestimmten 
Gesichtspunkten,  sondern  auch  nach  ganz  persönlichem 
Geschmack  zusammengestellt.  In  der  dadurch  be¬ 
dingten  Einheitlichkeit  lag  ihr  Hauptwert.  Sie  ist 
um  so  erfreulicher  als  sie  eigentlich  dem  Zusammen¬ 
wirken  zweier  Männer  entsprang.  Neben  dem  Leiter  des 
Krefelder  Museums  war  es  Herr  Avenard  in  Paris,  der 
als  Pfadfinder  und  Agitator  der  guten  Sache  außer- 
ordentlicheDienste  geleistet  hat  und  dessen  sympathische 
Persönlichkeit  wesentlich  zum  Erfolg  beitrug.  Endlich 
kam  wohl  auch  die  vornehme  Ausstattung  der  Räume 
in  dem  kleinen  aber  sehr  dezent  und  geschmackvoll 
dekorierten  Museum  dem  Ganzen  zu  statten. 

So  entstand  eine  Ausstellung,  verwunderlich  für 
diejenigen,  die  man  etwas  unhöflich  als  Schaupöbel 
bezeichnet,  höchst  erfreulich  für  den  Kultivierten  und 
für  diejenigen,  die  geneigt  sind,  ihren  Geschmack 
kultivieren  zu  lassen.  Glücklicherweise  wächst  ja  die 
Zahl  der  künstlerischen  Genußmenschen,  die  von  Bild 
und  Statue  nicht  nur  unterhalten  und  ergötzt,  sondern 
tief  innerlich  berührt  werden  wollen,  die  nicht  Berichte 
oder  Anekdoten,  sondern  farbige  Genüsse  sich  ersehnen. 
Für  sie  ist  die  Krefelder  Ausstellung  geschaffen. 
Hier  gibt  es  keine  Schaubude  mit  historischen  und 
patriotischen  Effektstücken,  sondern  nur  Bilder,  von 
denen  möglichst  jedes  einzelne  einen  bestimmten  far¬ 
bigen  Wert  repräsentiert.  Nichts  ist  schrecklicher,  als 
retrospektive  oder  historische  Ausstellungen,  wenn  unter 
diesem  Vorwand  künstlerisch  Wertloses  nur  um  der 
Vollständigkeit  willen  zusammengetragen  wird,  ln 
Krefeld  hat  man  sich  weise  zu  bescheiden  gewußt.  Da 
aus  der  Zeit  der  aufstrebenden  Freilichtmalerei,  aus 
der  Epoche  des  beginnenden  Impressionismus  neue 
und  große  Werke  heute  kaum  noch  vorgeführt  werden 
können,  ließ  man  diese  frühen  Impressionisten  nur 
eine  kleine  Visitenkarte  abgeben.  Da  sind  ein  paar 
Landschaften  von  Monet,  ein  warmes  violett  gestimmtes 
Seineufer  und  eine  schlichte  kühle  Winterszenerie  mit 
kahlen  Bäumen,  die  jene  langen  bläulichen  Schatten 
über  die  beschneite  Landstraße  werfen,  vor  denen  sich 


300  FRANZÖSISCHE  KUNSTAUSSTELLUNG  IM  KAISER- WILHEM-MUSEUM  ZU  KREFELD 


einst  die  Menschheit  so  entsetzt  hat.  Das  Straßenbild 
und  das  Seineufer  von  1877  von  Alfred  Sisley  (Besitzer 
Durand-Ruel)  und  der  sonnige  Bauernhof  von  Camille 
Pissarro  (datiert  1876.  Durand-Ruel)  geben  uns  eine 
Vorstellung  von  jener  Zeit,  da  diese  kleine  Künstler¬ 
gruppe  sich  erschöpfte  in  dem  Bemühen,  ans  der 
schwarzen  und  braunen  Sauce  der  Akademiker  zu  lichter 
Stimmung  zu  gelangen,  wobei  man  leicht  in  ein 
kreidiggraues  Licht  verfiel.  Umfassender  ist  Degas 
hier  vertreten,  der  große  Mitbegründer  des  Impres¬ 
sionismus,  der  seine  etwas  willkürlich  umrahmten 
Naturausschnitte  mit  großartiger  Unbekümmertheit  um 
die  akademische  Schönheit  und  um  das  Herkömm- 
liche  in  der  Wahl  der  Motive  malte.  Er  war  ein 
eigensinniger  Pfadfinder,  aber  doch  vor  allem  ein 
exquisiter  Farbenempfinder.  Sehr  deutlich  tritt  das 
hervor  in  einer  kleinen  Deckfarbenstudie  zweier  Mäd¬ 
chen,  die  Waschkörbe  tragen.  Plakatmäßig  flächenhaft 
sind  da  einige  kostbare  Farbenflecke  nebeneinander 
gestellt.  Zwischen  dem  grellen  gelben  Fond  und  dem 
warmen  Braunrot  des  Papiers  vermitteln  die  Kleider, 
das  Haar  usw.  Daß  Degas  gelegentlich  auch  in  kühlen 
Tönen  arbeitet,  ohne  doch  kreidig  kalt  zu  werden, 
sehen  wir  an  der  Studie  in  grau,  einer  »Plätterin«. 

Wie  diese  Impressionisten  erleuchtend  und  auf¬ 
hellend  auf  die  ganze  neuere  französische  Malerei  ge¬ 
wirkt  haben,  davon  gibt  uns  die  übrige  Ausstellung 
gleichsam  den  Beweis.  Mit  guter  Absicht  sind  hier 
diesen  Hellmalern  die  Meister  gegenübergestellt,  die 
das  lang  verpönte  Beinschwarz  wieder  auf  ihre  Palette 
setzten  und  im  Schatten  zur  Anwendung  brachten, 
jene  Schwarzmaler«,  als  deren  typische  Vertreter 
Simon  und  Cottet  gelten.  Aber  auch  sie  bleiben  doch 
nicht  mehr  in  jenem  undurchdringlich  schwärzlichen 
Helldunkel,  aus  dem  die  Koloristen  der  Altmeisterschule, 
wie  etwa  Henner,  ihre  mattschimmernden  weichen 
Aktfiguren  herauswachsen  ließen.  Auch  in  den  Werken 
der  schwarzen  Bande«  ist  Sonne  und  Luft,  ist  nicht 
nur  Licht,  sondern  auch  Farbenglut  und  daneben,  dank 
jenem  Zurückgreifen  auf  das  Schwarz,  eine  verblüffende 
Plastik.  Kräftige  Zeichnung  paart  sich  mit  impres¬ 
sionistischer  Farbenbehandlung.  In  dieser  Beziehung 
ist  das  große  Theaterbild  von  Lucien  Simon  geradezu 
verblüffend.  Man  sieht  wirklich  vom  ersten  Rang 
des  Theaters  ins  Parkett  hinab,  die  nackten  Schultern 
der  dekolletierten  Schönen  und  der  Einblick  in  die 
Corsage  aus  der  Vogelperspektive  sind  von  unbeschreib¬ 
licher  Realität,  man  sieht  den  Busen  atmend  sich 
heben.  Und  doch  nichts  von  jener  zeichnenden 
Strichelei  oder  sauber  vertreibenden  Halbtonkunst  der 
alten  Zeit,  sondern  kühne  Tonmalerei.  Nebenbei  ist 
auch  die  Psychologie  des  Theaterpublikums  ebenso 
ausführlich,  aber  nicht  so  karikiert  geschildert,  wie  auf 
irgend  einem  Bilde  der  alten  Genremaler- Epoche. 
Immerhin  —  das  Ganze  bleibt  ein  wenig  Bravourstück. 
Von  rein  malerischer  Qualität  sind  dagegen  die  drei 
Landschaften  von  Cottet,  besonders  das  alte  Felsennest 
an  der  Isere.  Eine  Gruppe  von  Steinhütten,  in  eine 
Schlucht  hineingezwängt,  mit  den  Felsen  verwachsen 
und  mit  ihnen  zusammen  in  warmer  Abendsonne 
erglühend,  so  daß  zwischen  den  schwarzen  Schatten 


und  Gesteinsrissen  überall  rotgoldene  Lichter  heraus¬ 
blitzen.  Noch  wunderbarer  ist  die  Wirkung  der 
Kathedrale  von  Salamanca  bei  Sonnenuntergang.  Von 
türkisblauem  Himmel  hebt  sich  in  scharfer  Kontur  die 
sonnenvergoldete  Steinmasse  der  Kathedrale,  während 
im  Vordergrund  in  weichen  grauen  Tönen  Fluß  und 
Ufer  verdämmern.  Cottet  erzielt  wundervolle  Farben¬ 
klänge  mit  den  einfachsten  Mitteln,  ein  paar  schwarze 
Konturen  auf  Malpappe  hingeschrieben,  die  Farbe 
trocken  anfgetragen  und  bis  auf  die  Pappe  wieder  ab¬ 
geschliffen,  das  liefert  alles,  Zeichnung  und  Farbe,  Luft, 
Licht  und  Sonne.  Simon  und  Cottet  sind  in  Deutsch¬ 
land  nach  Verdienst  bekannt.  Neu  mag  vielen  die 
Erscheinung  von  Dauchez  sein,  der  die  kühle,  lichte 
Feinheit  einer  flachen  Flußlandschaft  so  gut  zu  malen 
weilt.  Durch  ein  paar  Fichten  hindurch  erblickt  man 
eine  Ferne  von  Luft,  Sand  und  Wasser,  die  endlos 
sich  hinstreckt  und  unglaublich  nobel  in  ihrer  Ein¬ 
fachheit  wirkt. 

Stellen  diese  Schwarzmaler  die  Reaktion  gegen 
den  grauen  Impressionismus  dar,  so  finden  wir  im 
nächsten  Saale  die  Gruppe  der  Neoimpressionisten, 
also  eine  verbesserte  Ausgabe  des  alten  Impressionis¬ 
mus,  die  Konfettimaler,  wie  sie  der  Atelierwitz  getauft 
hat.  Nach  der  bekannten  Theorie  Signacs  lösen  sie 
das  weiße  Licht  in  seine  prismatischen  Grundfarben 
auf  und  setzen  diese  ungemischt  als  farbige  Punkte 
nebeneinander.  Unser  Auge  soll  dann  die  Mischung 
vollziehen,  die  man  ehedem  schon  auf  der  Palette  vor¬ 
wegnahm.  Indem  nun  das  Auge  die  zerstreuten  Farben¬ 
punkte  sammelt,  entsteht  jenes  Flimmernde,  Un¬ 
bestimmte  der  Form,  das  wohl  geeignet  ist,  uns  die 
Natur,  das  wirkliche  Tageslicht,  das  Zittern  der  son- 
nendurchglühten  Luft  vorzutäuschen.  Aus  der  großen 
Reihe  der  Neoimpressionisten  lernen  wir  in  Krefeld 
besonders  Henry  Edmond  Cross  als  einen  zielbewußten 
und  begabten  Meister  dieser  Richtung  kennen.  Das 
Bildnis  seiner  Frau  ist  wohl  geeignet,  uns  mit  dem 
Ungewöhnlichen  der  neuen  Technik  auszusöhnen. 
Hier  genügen  wirklich  wenige  Schritte  Abstand, 
um  uns  die  volle  Plastik  trotz  aller  Punktmalerei, 
den  völligen  harmonischen  Ausgleich  der  Kontrast¬ 
farben  und  ihr  Zusammengehen  zur  Fläche  vor¬ 
zuspiegeln.  Und  welche  Lebhaftigkeit,  welche  stark¬ 
farbige  Schönheit  kann  gerade  diese  Technik  in  die 
Landschaft  hineintragen. 

Allerdings  ist  die  Punktmalerei  nicht  der  einzige 
Weg,  Helligkeit  und  Luft  auszudrücken.  Maurice  Denis 
z.  B.  versucht  die  gleichen  Effekte  mit  ruhiger  flächen- 
hafter  Farbenbehandlung  zu  erzwingen.  Aber  Denis  hat 
noch  andere,  größere  Ziele.  Er  ist  ein  Raumgestalter 
erster  Größe.  Mit  Puvis  de  Chavannes  wetteifert  er  darin, 
durch  wenige  große  Gestalten  monumental  zu  wirken. 
Aber  statt  der  gedämpften,  schattenhaften  Farben  des 
Puvis  hat  er  die  ganze  lichte,  kühle  Helligkeit  der 
neuesten  Schule  und  jene  grenzenlose  Einfachheit, 
jene  naive  Ungesuchtheit  der  Zeichnung,  die  unser 
durch  den  Realismus  verwöhntes  Auge  irrtümlich  als 
kindliche  Ungeschicklichkeit  auffaßt.  Wie  Denis,  so 
malt  auch  Manguin  flächig,  dekorativ.  Während  aber 
Denis  kühles  Licht  liebt,  läßt  Manguin  alle  Farbenglut 


FRANZÖSISCHE  KUNSTAUSSTELLUNG  IM  KAISER-WILHELM  -  MUSEUM  ZU  KREFELD  301 


von  seiner  reichen  Palette  ausstrahlen.  Glänzende,  ja 
aufreizende  Farbenflecke  komponieren  sich  zur  Gestalt 
einer  sonnenbeschienenen,  halbnackten  Frau,  die  in 
lichter  Frühlingslandschaft  ausgestreckt  ruht. 

Sie  verlangen  neue  Gewöhnungen  von  unserem 
Auge,  diese  extremen  Lichtmaier,  und  das  Publikum 
ist  darüber  entrüstet,  wie  immer,  wenn  es  aus  seiner 
gewohnten  Bequemlichkeit  aufgeschreckt  wird.  In 
Krefeld  mußte  man  eine  besondere  Erläuterungsschrift 
über  das  Wesen  des  Pointillismus  drucken,  weil  die 
»Gebildeten«  ihrer  Verständnislosigkeit  und  ihrem 
Abscheu  vor  den  neuen  Bildern  ebenso  lebhaft  wie 
geschmacklos  Ausdruck  gaben.  Es  ist  die  alte  Ge¬ 
schichte.  Man  verlacht  und  bespottet,  was  man  selber 
nicht  begreift.  Auch  in  Krefeld,  wie  aller  Orten, 
wird  wohl  erst  die  nächste  Generation  das  als  selbst¬ 
verständlich  empfinden,  was  sie  heute  verblüfft.  Um 
so  größer  das  Verdienst  derjenigen,  die  ihnen  so 
frühzeitig  die  Bekanntschaft  mit  diesen  Dingen  ver¬ 
mitteln. 

Die  allen  Pleinairisten,  die  Neoimpressionisten  und 
die  Schwarzmaler  stellen  die  drei  Eckpunkte  dar,  wo¬ 
durch  der  Umfang  der  übrigen  Ausstellung  festgelegt 
wird.  Alle  anderen  vermitteln  nach  irgend  einer 
Richtung,  oder  ergänzen.  Zur  guten  alten  franzö¬ 
sischen  Tradition  leitet  Gaston  la  Touche  zurück.  Er 
gibt  ein  Salonstück  bester  Qualität,  voll  duftiger  Farbe, 
voll  Charme  und  Eleganz,  einen  sonnendurchflimmerten 
Musiksalon,  in  dem  die  Menschen  in  sonnigem  Be¬ 
hagen  ein  wenig  Musik  machen,  in  dem  alles  von 
goldiger  Stimmung  gesättigt  ist.  Oder  wir  spüren 
die  neue  Romantik  in  der  rotgoldenen  Abendsonnen- 


Phantasielandschaft  von  Menard,  mit  ihrer  matten  Zauber¬ 
glut  und  in  der  fast  biedermaierischen  Mondschein¬ 
sonatenlandschaft  des  Henri  le  Sidaner,  oder  in  den  auf 
apartes  Violett  und  Graugrün  gestimmten  Flachbildern 
des  Vallotton.  Dann  ist  Monet  vertreten,  nicht  der  Meister 
der  Heuschober,  sondern  der  moderne  Monet,  der  Dunst¬ 
maler,  der  am  abendlichen  Themseufer  träumerische 
Stimmungsbilder  in  zartestem  Violet  malt,  in  die  als 
dunkle  blauviolette  Masse  die  Konturen  der  Charing- 
Cross  Bridge  oder  des  Parlamenlshauses  hineintauchen, 
während  ein  paar  zitternde  Lichter,  weich  quellender 
Rauch  und  Dampf  das  Leben  der  Großstadt  ahnen  läßt. 
Und  Steinlen  —  mit  einer  animalisch  urwüchsigen, 
von  gedämpfter  Leidenschaft  erfüllten  Liebesszene  in 
dunkelndem  Walde. 

Die  ganze  Ausstellung  war  ein  wenig  Zukunftsmusik. 
Sie  verlangte  ästhetische  Menschen  als  Betrachter,  sie 
zeigte,  worauf  es  in  Zukunft  bei  Ausstellungen  ankommen 
wird:  nicht  auf  gemalte  Berichte,  sondern  auf  Tonwerte, 
auf  Nuancen.  Das  beste,  was  wir  hier  sahen,  sind  ein 
paar  farbige  Flecke,  scheinbar  flüchtig  hingeworfen,  aber 
entstanden  aus  gründlicher  Beherrschung  der  Form, 
die  als  unsichtbares  Faktum  dem  Bilde  zugrunde 
liegt.  Diese  paar  köstlichen  Farbentöne,  die  uns  bei 
richtigem  Abstand  die  größte  Weite  des  Raumes,  die 
geheimnisvollsten  Schicksale  ahnen  lassen,  sie  sind 
doch  das  Wesentliche  an  einem  Werke  der  Malerei. 
Nach  ihnen  wird  man  immer  mehr  die  Qualität  eines 
Bildes,  einer  Bildersammlung,  einer  Ausstellung  taxieren. 

Die  Krefelder  Ausstellung  hat  bewiesen,  daß  sich 
solche  Prinzipien  ohne  Konzession  an  Publikums¬ 
geschmack  durchführen  lassen.  M.  SCH  MID- Aachen. 


Ripoll,  Mosaik  des  Altarplatzes  (zu  dem  Aufsätze  über  Besalü) 

Die  Inilialen  und  die  Kopfleisten  in  dem  Aufsatz  über  Besalü  sind  vom  Vater  des  Verfassers  entworfen. 


Zeitschnti  für  bildende  Kunst.  N.  F,  XVItl.  H.  12 


41 


DIE  NEUESTEN  AUSGRABUNGEN  IN  POMPEJI 


SEIT  dem  letzten  Bericht  über  Pompeji  (Kunstchronik 
1905,  S.  295)  haben  die  Ausgrabungen  keine  be¬ 
sonders  großen  Fortschritte  gemacht.  Die  Gründe 
dafür  sind  mancherlei,  vor  allem  aber  hat  der  Um¬ 
stand  den  Ausschlag  gegeben,  daß  während  der  Periode 
Pais  und  in  der  ersten  Zeit  nach  seinem  Weggange 
die  Berichterstattung  weit  hinter  den  notwendigsten 
Anforderungen  zurückgeblieben  war.  Bis  der  neuer¬ 
nannte  Direttore  degli  Scavi  di  Pompei  nun  die  Lücke 
ausgefüllt  und  mit  dem  Bericht  über  die  Neufimde 
bis  zur  Gegenwart  vorgerückt  sein  würde,  wurde  des¬ 
halb  das  Tempo  der  Ausgrabungen  verlangsamt  und 
die  vorhandenen  Kräfte  vor  allem  auf  Ausbesserungen 
und  Ausführung  einiger  Ergänzungen  verwendet,  ein 
Verfahren,  das  an  sich  Billigung  verdient,  das  aber 
doch  hoffentlich,  nachdem  Berichterstattung  und  Aus¬ 
grabung  wieder  zusammen  gekommen  sind,  einem 
frischen  fröhlichen  Betriebe  der  Ausgrabung  wieder 
weichen  wird;  wenn  man  jetzt  sieht,  wie  wenige 
Kräfte  zur  Weiterführung  der  Ausgrabung  in  Pom¬ 
peji  verwandt  werden,  verliert  man  fast  jede  Hoffnung, 
daß  das  noch  übrige  Terrain  innerhalb  Menschenge¬ 
denken  freigelegt  werden  wird.  Besonders  nachdem 
die  Bewegung  für  die  Bloßlegung  Herkulaneums  durch 
die  Entschlüsse  der  italienischen  Regierung  aus  der 
Welt  geräumt  ist  (die  italienische  Regierung  hat  be¬ 
kanntlich  beschlossen,  die  angebotene  Unterstützung 
Auswärtiger  abzulehnen  und  die  Sache  selbst  zu  be¬ 
sorgen,  das  Resultat  wird  aber  wohl  sein,  daß  das 
Projekt  in  den  dazu  ernannten  Kommissionen  be¬ 
graben  wird),  kann  man  wohl  erwarten,  daß  Pompeji 
wenigstens  mit  Aufbietung  aller  möglichen  Kräfte  ge¬ 
fördert  werden  wird.  Die  Neuerungen,  die  Pais  ein¬ 
geführt  hatte,  sind  zum  Teil  geblieben,  wenn  sie  sich 
auch  noch  so  sehr  unangenehm  bemerkbar  machen, 
das  heißt,  der  Eintrittspreis,  der  von  2  Francs  auf  2,50 
erhöht  war,  ist  auf  seiner  Höhe  belassen  worden,  ob¬ 
gleich  infolgedessen  die  Einnahmen  wesentlich  hinter 
denen  früherer  Jahre  zurückgeblieben  sind,  auch  hat 
man  die  Einrichtung,  die  unter  Pais  getroffen  war, 
daß  die  meisten  Häuser  geschlossen  und  die  Kus¬ 
toden  in  die  einzelnen  Häuser  verteilt,  nicht,  wie 
früher,  den  Besuchern  zur  Begleitung  mitgegeben 
werden,  bestehen  lassen,  trotzdem  die  größten  Unan¬ 
nehmlichkeiten  daraus  sich  für  die  Kustoden,  beson¬ 
ders  zur  kalten  Winterszeit,  und  auch  für  das  be¬ 
suchende  Publikum  ergeben ,  das  ratlos  in  den 
Straßen  umherschwankt,  wenn  es  nicht  die  teuren 
Dienste  einer  Guida  in  Anspruch  nehmen  will. 
Der  Eingang  ist  an  die  Porta  Marina  zurückverlegt, 
dabei  aber,  wohl  aus  Verwaltungsgründen,  der  neu 
eröffnete  Zugang  bei  der  Porta  Stabiana  durch  den 
Hof  der  Gladiatorenkaserne  bcibehalten  worden,  so 
daß  Pompeji  jetzt  von  drei  Stellen  aus  zugänglich 
ist.  1.  Von  der  Porta  Marina  her  für  diejenigen,  die 
mit  der  Eisenbahn  von  Neapel  kommen;  2.  bei  der 
Porta  Nolana  für  die  aus  dem  elektrischen  Tram  Ab¬ 
steigenden,  und  drittens  bei  der  Porta  Stabiana  für 
diejenigen,  die  zuerst  in  Valle  di  Pompei  der  Ma¬ 


donna  del  Rosario  und  Bartolo  Lungo  ihre  Verehrung 
dargebracht  haben. 

Doch  zurück  zu  den  Ausgrabungen.  Im  wesentlichen 
ist  der  Straßenzug  östlich  vom  Hause  der  Vettier  bis 
hinaufzur  Porta  Vesuviana  bloßgelegt  worden  (InsulaXVI 
auf  dem  Plan  Notizie  degli  Scavi  1906,  S.  149),  zwischen 
der  Fortsetzung  der  Stabianerstraße  und  der  Via  del 
Labirinto.  In  dieser  Häuserreihe  verdient  vor  allen 
das  südlichste,  gewöhnlich  Casa  degli  Amoretti  d’oro 
genannt,  eine  besondere  Hervorhebung.  (Der  Plan 
des  Hauses  wird  in  den  Not.  d.  Sc.  1906,  S.  375  ge¬ 
geben).  Im  Eingang  läßt  sich  noch  eine  mehrfach 
m  Pompeji  übliche  Einrichtung  erkennen.  Nachdem 
die  Tür  des  Nachts  geschlossen  war,  wurde  im  Innern 
ein  ziemlich  starker  Querbalken  vorgelegt,  für  dessen 
Enden  in  den  Mauern  Löcher  ausgespart  waren;  aber 
mit  dieser  Sicherung  begnügte  man  sich  nicht,  man 
stellte  noch  schräg  gegen  den  Balken  oder  unterhalb 
gegen  die  Tür  eine  Stütze,  für  deren  unteren  Fuß  im 
Boden  ein  Loch  ausgespart  war.  Es  scheint,  daß  die 
alten  Pompejaner  die  Vorliebe  der  heutigen  Römer 
teilten,  durch  Anbringung  unendlich  vieler  Verschlüsse 
sich  gegen  Einbruch  zu  sichern,  Maßregeln,  welche 
gerade  bei  dem  Ausbruch  von  79  das  Durchbrechen 
der  Mauern  und  das  Eindringen  in  fremde  Häuser 
keineswegs  verhindert  haben,  ln  den  Zimmern,  die 
rechts  und  links  von  der  Tür  liegen  (C  und  D  im 
Plan),  sind  die  Wände  gelb  gefärbt,  mit  je  einem 
roten  Felde  in  der  Mitte;  neben  einem  teilweise  zer¬ 
störten  Bilde  (Leda  mit  dem  Schwan)  ist  in  dem  einen 
Zimmer  Narcissus  dargestellt,  der  sich  mit  der  linken 
Hand  auf  den  Felsen  stützt  und  sein  Bild  im  Wasser 
betrachtet,  während  in  dem  anderen  Zimmer  Hermes 
mit  Kerykeion  und  Beutel  hervorzuheben  ist.  Beide 
Zimmer  haben  Türen  nach  dem  Atrium  (B),  in  dem 
von  dem  Marmortisch  neben  dem  Impluvium  ein 
Marmorfuß  erhalten  ist;  über  dem  Loche,  das  die 
Regenwässer  nach  der  Straße  führte,  steht  ein  nied¬ 
riger  Marmorschemel  mit  Löwenfüßen.  Die  Wände 
des  Atriums  sind  rot  über  schwarzem  Sockel;  darin 
laufen  Streifen  lang,  die  mit  Gartenanlagen  und  ver¬ 
schiedenen  Gefäßen  verziert  sind,  die  stehend  oder 
liegend  und  mit  Bändern  umwunden  dargestellt  sind. 
In  der  Milte  der  linken  Seiten  wand  gewahrt  man  die 
Reste  eines  größeren  Bildes,  man  sieht  Ziegen  und 
Schafe  gelagert;  von  ihrem  Hirten  ist  nur  das  vor- 
geslreckte  linke  Bein  mit  hoch  hinaufgehenden  Stie¬ 
feln  erhalten;  daneben  steht  eine  Syrinx  an  der  Erde. 
Wahrscheinlich  war  in  dem  Bilde  Paris  bei  seiner 
Herde  dargestellt,  zu  dem  Hermes  die  drei  Göttinnen 
führt,  damit  er  den  Streit  um  die  Schönheit  entscheide. 
Aus  dem  Atrium  tritt  man  nach  Westen  in  ein 
kleines  Zimmer,  das  über  schwarzem  Sockel  gelbe 
Wände  hat;  von  den  in  der  Mitte  jeder  Wand  an¬ 
gebrachten  Bildern  ist  nur  das  dem  Eingang  gegen¬ 
überliegende  besser  erhalten.  Links  sitzt  n.  r.  ein 
Jüngling  in  grünlich-blauem  Ärmelchilon,  über  den 
ein  dunkelrotes  Gewand  gezogen  ist;  auf  dem  Haupte 
trägt  er  eine  gelbe  Kappe,  deren  Zipfel  zu  beiden 


DIE  NEUESTEN  AUSGRABUNGEN  IN  POMPEJI 


303 


Seiten  des  Hauptes  herabhängen ;  in  der  auf  dem 
Schoße  liegenden  linken  Hand  hält  er  einen  Stab; 
die  rechte  Hand  liegt  vor  der  Brust,  sein  Blick  ist 
dem  Beschauer  zugewandt.  Hinter  ihm  steht  eine 
Frau  mit  rötlich-braunem  Haar,  das  in  einen  Knoten 
auf  dem  Haupte  gebunden  ist;  sie  legt  die  rechte 
Hand  an  den  rechten  Arm  des  sitzenden  Jünglings. 
Von  rechts  tritt  neben  Säulen  eine  stattliche  Frauen¬ 
gestalt  herein  mit  violettem  Chiton  und  hellerem  Hi- 
mation  bekleidet;  sie  hat  den  rechten  Arm  am  Körper 
anliegend,  während  sie  den  unteren  Teil  des  linken 
Armes  vorstreckt.  Ein  nackter  links  von  ihr  stehen¬ 
der  Eros  weist  mit  der  ausgestreckten  Hand  auf  den 
Jüngling  hin.  Hinter  der  Frau  neugierig  hervorlugend 
steht  eine  Dienerin  mit  violettem  Chiton  und  bläu¬ 
lich  gefärbtem  Mantel.  Man  darf  in  der  Szene  wohl 
die  Annäherung  der  Helena  an  Paris  erblicken,  die 
von  Aphrodite  gefördert  wird.  —  Das  Gemälde  der 
anstoßenden  Wand  ist  bis  auf  geringe  Reste  zerstört; 
das  der  gegenüberliegenden  Wand  wurde  in  Frag¬ 
menten  an  der  Erde  gefunden;  obgleich  der  einen 
darin  teilweise  erhaltenen  Figur  der  Name  «hoTvif  bei¬ 
geschrieben  ist,  hat  sich  der  Inhalt  bis  jetzt  noch  nicht 
bestimmen  lassen.  Kehren  wir  aus  diesem  Zimmer 
in  das  Atrium  zurück  und  wenden  uns  in  das  süd¬ 
lich  anstoßende  Gemach  (G),  so  fallen  uns  auf  den 
zinnoberroten  Wänden,  die  über  schwarzem  Sockel 
sich  erheben,  mehrere  Gemälde  in  die  Augen,  links 
Thetis,  die  in  der  Schmiede  des  Hephästos  die  für 
ihren  Sohn  Achilleus  geschmiedeten  Waffenstücke  in 
Augenschein  nimmt.  Rechts  sitzt  Thetis,  mit  ent¬ 
blößtem  Oberkörper,  während  ein  bläulich -grünes 
Gewand  um  ihre  Schenkel  geschlagen  ist;  sie  lehnt 
den  linken  Arm  auf  eine  nicht  sichtbare  Stütze  auf 
und  führt  die  rechte  Hand  nach  dem  jetzt  zerstörten 
Kopf;  links  vor  ihr  steht  Hephästos,  e.  pr.  n.  r.,  in 
eine  Exomis  gekleidet,  die  den  rechten  Arm  und  die 
Brust  freiläßt;  er  hält  mit  der  linken  Hand  den  Schild 
auf  dem  Ambos  aufrecht,  um  den  darauf  angebrachten 
Schmuck  von  der  Thetis  besichtigen  zu  lassen;  die 
rechte  herabhängende  Hand  hält  den  Hammer.  Unten 
am  Ambos  lehnt  eine  Zange,  rechts  in  der  Ecke  sieht 
man  den  Helm  und  eine  Beinschiene,  links  zwei 
Arbeiter,  einen  alten  und  einen  jungen,  die  an  der 
anderen  Beinschiene  beschäftigt  sind. 

Auch  die  andere  Seite  ist  mit  einem  Bild  ge¬ 
schmückt;  an  der  Hinterwand  erblickt  man  einen 
Tempel,  von  dem  fünf  Stufen  herabführen;  links  unten 
führt  ein  Mann  in  blauer  lang  herabhängender  Chlamys 
und  braunen  Schnürstiefeln  einen  Stier  zum  Opfer 
heran;  rechts  steht  ein  gelber  Tisch  mit  einer  Kanne, 
vor  ihm  ein  hohes  eimerähnliches  Gefäß.  Neben 
dem  Tisch  steht  ein  jugendlicher  Mann,  e.  pr.  n.  1., 
in  rötlich-blauer  Chlamys;  er  hält  in  der  herabhän¬ 
genden  rechten  Hand  einen  Stab  (oder  ist  es  eine 
Rolle  mit  dem  Orakel?).  Links  vor  ihm  steht  ein  Mäd¬ 
chen,  das  mit  blauem  Chiton  und  weißem  Himation 
bekleidet  ist  und  einen  Kranz  auf  dem  Haupte  trägt; 
sie  hält  mit  der  rechten  Hand  eine  Schale  über  den 
Tisch;  rechts  von  ihr  gewahrt  man  noch  den  Kopf 
einer  anderen  Figur,  die  gleichfalls  bekränzt  ist.  Von 


oben,  vom  Tempel  herunter,  kommen  drei  Gestalten 
herunter,  deren  Köpfe  zerstört  sind,  ein  Mann  zwischen 
zwei  Frauen,  von  denen  die  eine  in  der  rechten  Hand 
ein  kleines  Gefäß  hat,  während  die  andere  mit  der 
linken  Hand  einen  Schild  gefaßt  hat.  Die  Deutung 
des  Bildes  wird  durch  einen  bis  jetzt  nicht  erwähnten 
Umstand  mit  Sicherheit  gegeben:  der  Jüngling  rechts 
ist  nur  mit  einer  Sandale  bekleidet,  es  ist  Jason,  der, 
zum  Opfer  von  seinem  Oheim  Pelias  gerufen,  unter¬ 
wegs  den  einen  Schuh  verliert  und  dadurch  den  arg¬ 
wöhnischen  Oheim  an  das  Orakel  erinnert,  das  ihm 
gebietet,  sich  vor  dem  Einschuhigen  zu  hüten;  er 
wird  den  gefürchteten  Neffen  über  das  Meer  ent¬ 
senden,  um  aus  Kolchis  das  goldene  Vließ  zurück¬ 
zuholen,  und  wird  dadurch  gerade  das  gefürchtete 
Unheil  auf  sich  herabrufen;  Jason  wird  nämlich  von 
der  Medea  begleitet  zurückkehren,  und  von  dieser 
überlistet  werden  des  Pelias  eigene  Töchter  ihren 
Vater  töten,  in  der  Meinung,  ihn  zu  verjüngen,  und 
dadurch  die  Rache,  die  Jason  für  seinen  Vater  Aison 
nehmen  will,  in  der  schrecklichsten  Weise  zur  Aus¬ 
führung  bringen. 

Das  Mittelbild  der  dritten  Wand  ist  leider  wieder 
sehr  zerstört.  Man  erblickt  auf  einem  Thronsessel 
einen  Mann  sitzend,  um  dessen  Schenkel  ein  dunkel¬ 
rotes,  mit  blauem  Saum  versehenes  Gewand  ge¬ 
schlagen  ist;  den  rechten  Arm  hat  er  erhoben,  in 
der  linken  Hand  scheint  er  einen  kleinen  Schild,  wohl 
eine  Schale,  zu  halten;  ein  großer  gelber  Schild  lehnt 
am  Thronsessel  an;  links  vor  ihm  auf  einem  Altar 
sitzt  eine  Frau,  die  dem  Beschauer  den  Rücken  zu¬ 
wendet,  den  Kopf  aber  nach  ihm  herumdreht;  sie  ist  in 
ein  violettes  Gewand  eingehüllt,  das  den  rechten  Arm 
freiläßt;  mit  der  rechten  Hand  stützt  sie  sich  auf  den 
Altar;  rechts  von  ihr  erblickt  man  einen  in  blauen 
Chiton  und  darüber  violettes  Himation  gekleideten 
Mann,  e.  pr.  n.  1.,  der  das  rechte  Bein  hinter  das 
linke  geschlagen  hat;  er  stützt  den  rechten  Arm  auf 
einen  Pfeiler  auf.  Ein  im  Hintergrund  als  Dekora¬ 
tion  aufgehängtes  Gewand  deutet  an,  daß  die  Szene 
sich  im  Innern  des  Hauses  zuträgt.  Also  ein  Mann, 
ein  Krieger,  der  in  seinem  Hause  an  einer  Frau  ein 
Strafgericht  zu  vollziehen  im  Begriff  ist;  um  seiner 
Gewalt  zu  entrinnen,  hat  sich  die  Frau  auf  den  Altar 
des  Hauses  geflüchtet;  ein  Jüngling  ist  bereit,  die 
Befehle  des  Königs  auszuführen.  Wenn  man  die 
Situation  scharf  ins  Auge  faßt,  bleibt  kaum  ein  Zweifel, 
daß  es  sich  um  Amphitryon  und  Alkmene,  nach  der 
Tragödie  des  Euripides,  handelt,  ganz  ähnlich  wie  auf 
der  früher  unter  dem  Namen  »Apotheose  der  Alkmene* 
bekannten  Vase  aus  Castle  Howard,  die  sich  jetzt  im 
British  Museum  befindet,  deren  wirkliche  Deutung 
festzustellen  mir  vor  Jahren  gelungen  ist.  Als  Am¬ 
phitryon  von  seinem  siegreichen  Feldzuge  gegen  die 
Teleboer  zu  seiner  Gattin  Alkmene  zurückkehrte,  fand 
er,  statt  warm  bewillkommnet  zu  werden,  verhältnis¬ 
mäßig  kühle  Aufnahme;  war  doch  kurz  vorher  in 
seiner,  des  Amphitryons,  Gestalt  Zeus  selbst  einge¬ 
troffen  und  hatte  bei  Alkmene  wärmste  Aufnahme 
gefunden.  Daß  Amphitryon  den  Behauptungen  seiner 
Gattin,  er  sei  schon  früher  gekommen  und  habe  ihre 


41 


304 


DIE  NEUESTEN  AUSGRABUNGEN  IN  POMPEJI 


Gunst  genossen,  keinen  Glauben  schenkt,  sondern 
an  ehelichen  Irrtum  denkt,  ist  natürlich,  was  Wunder, 
wenn  er  darauf  ausgeht,  sie  zu  bestrafen,  und  wenn 
sie,  im  Gefühle  ihrer  Unschuld,  auf  dem  Altäre  des 
Hauses  bei  den  Göttern  Schutz  sucht.  Auch  auf  dem 
Vasenbild  hat  Alkmene  sich  auf  den  Altar  geflüchtet, 
Amphitryon  hat  diesen,  ganz  wie  es  im  Rudens  des 
Plautus  (Rudens,  Akt  111 ,  Sz.  4)  angekündigt  wird, 
mit  Holz  umbaut,  um  die  treulose  Gattin  zu  ver¬ 
brennen,  ohne  sie  doch  vom  Altäre  heruuterzureißen, 
schon  legt  er  mit  seinem  Genossen  Antenor  die 
brennenden  Fackeln  an  den  improvisierten  Scheiter¬ 
haufen,  da  öffnet  sich  der  Himmel,  Zeus  erscheint, 
um  die  Situation  zu  klären,  den  Amphitryon  zu  be¬ 
ruhigen  und  die  Treue  der  Alkmene  zu  verteidigen, 
die  Hyaden  lassen  reichlichen  Regen  von  oben  her¬ 
abfließen,  durch  welche  die  Flammen  gelöscht  werden 
—  und  -  die  Zukunft  des  aus  der  Verbindung  des 
Zeus  mit  der  Alkmene  hervorgehenden  Helden,  des 
Herakles,  ist  gesichert  (vgl.  R.  Engelmann,  Archäo¬ 
logische  Studien  zu  den  Tragikern,  Berlin  igoo,  S.  52). 
Das  pompejaiiische  Wandgemälde  bezieht  sich  dann 
auf  eine  frühere  Szene  der  Alkmenesage,  Amphitryon 
sitzt  als  Richter  auf  dem  Thronsessel,  indem  er  das 
von  ihm  erbeutete,  aber  von  Zeus  als  Bestätigung 
seines  Sieges  überreichte  Trinkgefäß  des  Pterelaos  in 
der  Hand  hält.  Alkmene  hat  sich  auf  den  Altar  ge¬ 
flüchtet,  und  Antenor  wartet  auf  die  weiteren  Befehle 
des  Amphitry. 

Das  Peristyl  des  Hauses  (F  auf  dem  Plan),  in  das 
aus  G  eine  breite  Tür  führt,  hat  auf  den  zwei  Lang¬ 
seiten  je  sechs  Säulen,  die  im  unteren  Teile  unkanne¬ 
liertsind,  dorischen  Stils,  abwechselnd  unten  gelb  oder 
rot  gefärbt.  Auf  der  westlichen  Schmalseite,  die  höher 
liegt  als  die  östliche,  sind  die  beiden  mittleren  Säulen 
nach  der  Innenseite  mit  einem  Pfeiler  zusammenge¬ 
bunden,  zwischen  denen  der  Zugang  zum  Garten 
führt  (vier  Stufen).  In  den  Interkolumnien  hängen 
Oszillen  herab.  Köpfe,  teilweise  bemalt,  maskenartig 
gestaltet;  sie  sind  an  einer  Art  von  Perlschnüren 
aufgehängt.  Die  Wände  des  Peristyls  sind  schwarz 
bemalt  und  in  Felder  ge'cilt;  an  zwei  Stellen  ist  je  ein 
Stück  Glas  mit  Stuck  in  die  Wand  eingelassen,  das 
wohl  als  Spiegel  dienen  sollte.  In  der  Ecke  bei  D 
war  eine  Art  Larenheiligtum;  dort  erblickt  man 
zwei  gelbe  Felder,  darunter  je  eine  Schlange,  die  auf 
den  in  der  Ecke  angebrachten  Altar  zukriecht.  In 
dem  gelben  Feld  oben  links  hängt  ein  Sistrum,  das 
im  Isisdienst  gebrauchte  musikalische,  oder  besser  ge¬ 
sagt  Lärm  verursachende  Instrument,  ferner  ist  ein 
geflochtener  Korb  mit  Mondsichel  und  ein  kleinerer 
Korb  gemalt,  neben  dem  zwei  rote  Gefäße  stehen; 
darüber  hängt  eine  Schale.  Rechts  davon  gewahrt 
man  eine  sich  bäumende  Uraeosschlange,  über  ihr 
hängen  Gefäße,  auf  dem  rechten  Felde  dagegen  ist 
Hermes  mit  dem  Kerykeion  gemalt,  auf  ihn  folgt  ein 
Knabe,  eine  Frau  und  ein  Mann,  sämtlich  dem  Be¬ 
schauer  zugewandt,  mit  dem  Sistron  in  der  rechten 
Hand.  Zu  beachten  ist  noch,  daß  zwischen  den 
Säulen  ein  eisernes  Gitter  lang  lief,  so  daß  der  Peri¬ 
stylgarten  nur  über  die  Treppe  zugänglich  war.  In 


die  Felder  der  Längswand  sind  Marmorreliefs  einge¬ 
legt;  1.  Eine  Satyrmaske  mit  Fackel.  2.  Eine  Grotte, 
in  der  eine  Frau  ein  Opfer  darbringt;  neben  ihr 
steht  Eros,  der  sich  an  ihrem  Gewand  festhält.  3. 
Ein  viereckiges  Relief  mit  Masken  und  Thyrsusstäben, 
mit  Lyra,  Syrinx,  Altar  und  Fackel.  4.  Eine  große 
viereckige  Platte,  auf  der  ein  Satyr  e.  f.  dargestellt 
ist,  der  seinen  mit  Ziegenohren  versehenen  Kopf  nach 
links  wendet.  Das  fünfte  Rechteck  zeigt  tragische 
Masken,  ebenso  das  sechste.  Der  Fußboden  des  Peri- 
styls  zeigt  weiße,  sich  schneidende  Linien  mit  Kreisen, 
so  daß  in  die  Mitte  jedes  Quadrats  ein  Marmorstück 
eingelegt  ist. 

Das  kleine  vom  Peristyl  aus  zugängliche  Zimmer 
Q  zeigt  weiße  Wände  mit  fliegenden  Figuren;  hinter 
ihm  ist  eine  kleine  Gartenanlage  angebracht. 

Das  darauf  folgende  Zimmer,  O,  ist  ein  großes 
Tricliuium,  also  Speisezimmer,  bei  dem  wohl  den 
Gästen  jeder  Kline  ein  besonderer  Tisch  hingesetzt 
wurde;  wollte  man,  wie  es  gewöhnlich  der  Fall  ist, 
nur  einen  gemeinsamen  Tisch  für  alle  Speisesofas  an¬ 
nehmen,  dann  würden  die  Gäste  sich  in  unbequemer 
Lage  befinden,  wegen  allzu  großer  Entfernung  vom 
Tische.  —  Das  Nachbarzimmer  R  ist  ein  kleines  ge¬ 
wölbtes  Cubiculum  mit  rotem  Sockel  und  gelben 
Wänden,  die  durch  Medaillons  mit  Büsten  geschmückt 
sind;  außerdem  befindet  sich  in  der  Mitte  jeder  Wand 
ein  kleines  quadratisches  Gemälde,  links  Artemis,  die 
von  Aktäon  im  Bade  überrascht  wird  (Aktäon  mit 
Pedum  trägt  schon  Hörner,  zur  Andeutung  der  von 
Artemis  an  ihm  gleich  darauf  vorgenommenen  Ver¬ 
wandlung  in  einen  Hirsch);  die  zweite  Wand  zeigt 
Leda  mit  dem  Schwan  (sie  ist  nackt,  bis  auf  einen 
violetten  Mantel,  der  ihr  vom  Haupte  den  Rücken 
hinabfließt;  ein  Zipfel  des  Gewandes  ist  nach  der 
Scham  hinaufgezogen,  wie  in  den  für  höhere  Töchter¬ 
schulen  bestimmten  Mythologien,  bei  denen  beliebige 
Gewandteile  zur  Verhüllung  bedenklicher  Lücken  be¬ 
nutzt  werden;  sie  steht  e.  f.  und  hat  den  linken 
Arm  um  den  Schwan  gelegt,  während  sie  mit  der 
rechten  Hand  nach  oben,  nach  dem  Gewand  faßt, 
um  den  Schwan  (der  sich  vor  der  Verfolgung  des 
Adlers  zu  ihr  geflüchtet  hat)  zu  verbergen;  links  von 
ihr  steht  Eros  mit  der  Fackel,  zwischen  ihm  und  Leda 
ein  umgeworfener  Kalathos,  zum  Beweise  dafür,  daß 
Leda  gerade  mit  weiblichen  Arbeiten  beschäftigt  war. 
Es  scheint,  daß  der  Schwan  auf  dem  mit  einer  roten 
Decke  überzogenen  Bett  steht.  Die  dritte  Wand  zeigt 
Aphrodite  beim  Fischfang;  sie  sitzt  da  mit  nacktem 
Oberkörper,  mit  einem  blauen,  um  die  Schenkel  ge¬ 
schlagenen  Gewand  und  angelt,  indem  sie  sich  mit 
der  linken  Hand  auf  den  Felsen  aufstützt.  Unterhalb 
hält  Eros  ein  kleines  Fischchen,  eine  recht  bescheidene 
Beute,  in  die  Höhe,  während  von  oben  ein  zweiter 
Eros  mit  einem  Korbe  herbeieilt,  um  den  gefangenen 
Fisch  hineinzulegen. 

M,  das  an  der  Nordseite  des  Peristyls  zunächst 
zugängliche  Zimmer,  diente  einst  als  Cubiculum,  als 
Schlafraum;  es  zeigt  schwarze  Wände;  von  der  in 
der  Mitte  gewölbten  Decke  haben  sich  noch  zahl¬ 
reiche  Fragmente  erhalten.  —  Bei  der  Wand  zwischen 


DIE  NEUESTEN  AUSGRABUNGEN  IN  POMPEJI 


305 


j  und  1  ist  im  Peristyl  ein  kleines  vorspringendes 
Heiligtum  mit  zwei  dorischen  Säulen  angebracht;  die 
auf  der  oberen  Stufe  ehemals  vorhandenen  kleinen 
Bronzestatuetten,  die  Gegenstände  der  häuslichen  Ver¬ 
ehrung,  werden  wohl  in  das  Neapler  Museum  ge¬ 
bracht  sein.  —  Das  darauf  folgende  Gemach,  I, 
birgt  auf  seiner  Hinterwand  die  Bilder,  von  denen  dem 
ganzen  Hause  der  Name  Casa  degli  amoretti  d’oro 
gegeben  ist,  Amoretten  mit  Gold  gedeckt,  hinter  Glas¬ 
scheiben  verborgen.  Nur  zwei  sind  erhalten,  davon 
eins  nur  teilweise,  andere  Bilder  gleicher  Art  sind 
offenbar  schon  im  Altertum  weggenommen,  eins  ist 
ganz  erblindet. 

Nördlich  schließen  sich  an  dieses  Haus  andere 
kleine  an,  die  nicht  bis  zur  anderen  Straße  durch¬ 
gehen,  wie  die  Casa  degli  Amoretti  dorati,  sondern 
bald  von  der  einen,  bald  von  der  anderen  Straße 
den  Eingang  haben.  Da  ist  zunächst  schräg  gegen¬ 
über  dem  Eingang  der  Casa  dei  Vetti  Nr.  36  ein 
schmales  ärmliches  Haus,  mit  einem  Larenheiligtum 
im  Peristyl,  vor  dem  ein  marmorner  Tisch  steht. 
Zwischen  den  Säulen  des  Peristyls  läuft  eine  Rinne 
lang,  die  einst  wohl  mit  Erde  ausgefüllt  war,  um 
Blumen  zu  tragen.  Solcher  Blumenschmuck  scheint 
ehemals  ein  beliebter  Schmuck  für  die  Peristylien 
gewesen  zu  sein.  Auf  das  Peristyl  münden  zwei 
Zimmer,  von  denen  das  linke  gelbe,  von  schwarzen 
Streifen  durchbrochene  Felder  über  schwarzem  Sockel 
hat,  während  das  zweite  über  schwarzem  Sockel 
weiße  Felder  zeigt.  In  der  Mitte  jeder  Wand  ist  ein 
Bild  angebracht,  und  zwar  ein  solches,  das  nicht  der 
griechischen  Mythologie,  sondern  dem  römischen 
Leben  der  damaligen  Gegenwart  entnommen  zu  sein 
scheint.  Links  gewahrt  man  eine  Frau,  die  nach 
rechts  sitzt  und  den  rechten  Arm  um  die  Lehne  ihres 
Stuhles  geschlagen  hat,  während  sie  den  mit  einem 
Armband  geschmückten  linken  Arm  nach  rechts  aus¬ 
streckt.  Dort  sitzt  ein  Mann,  e.  f.,  bekränzt,  vor  dem 
ein  Tisch  steht,  unter  dem  man  ein  großes  Gefäß 
gewahr  wird.  Von  links  kommt  ein  Mädchen  durch 
eine  Tür,  zwischen  ihr  und  der  ersten  Frau  steht  eine 
Säule.  Leider  ist  das  Bild  ziemlich  zerstört.  Das 
Gemälde  der  Hinterwand  zeigt  links  einen  Mann 
nach  rechts  sitzend,  auf  einem  Stuhle,  der  eine  breite 
gebogene  Rückenlehne  hat;  ein  blaues  Kissen  dient 
als  Polster;  er  ist  in  eine  weiße  Toga  eingehüllt, 
seine  Füße  ruhen  auf  einer  Fußbank.  Den  rechten 
Arm  streckt  er  nach  vorn,  so  daß  er  mit  dem  Ge¬ 
wand  einen  Teil  des  Gesichtes  verhüllt,  um  den  Kopf 
hat  er  eine  weiße,  mit  grünen  Blättern  verzierte  Binde 
gelegt.  In  der  Mitte  sitzt  ein  Mann  e.  f.,  mit  weißer 
Tunika  bekleidet,  die  bläuliche  Kante  hat,  darüber  mit 
weißer  Toga,  die  vom  Rücken  hinabfällt  und  dann 
über  den  Schoß  geschlagen  ist;  auch  sein  Haupt  ist 
mit  einer  weißen  Binde  umwunden,  die  mit  Blumen 
und  Blättern  umsteckt  ist;  er  stützt  das  Kinn  auf  die 
rechte  Hand,  was  er  in  der  linken  Hand  hält,  ist 
zu  erkennen,  seine  Füße  ruhen  auf  einem  Schemel. 
Neben  ihm,  weiter  nach  rechts,  sitzt  ein  dritter  Mann, 
gleichfalls  in  weißer  (hier  grüngekanteter)  Tunika  und 
Toga;  sein  rechter  Arm  liegt  auf  der  Lehne  auf,  mit 


einem  Kranz  in  der  Hand;  die  linke  auf  dem  Schoße 
aufliegende  Hand  hat  eine  Binde  oder  Börse  gefaßt, 
auch  er  hält  die  Füße  auf  einem  Schemel.  Zwischen 
dem  zweiten  und  dritten  Mann  steht  im  Hintergrund 
eine  vierte  Figur,  wohl  gleichfalls  ein  Mann,  e.  f. 
mit  grüner  Tunika  und  gelber,  weiß  gefütterter  Toga; 
er  streckt  den  rechten  Arm  aus  dem  Gewand  nach  vorn 
vor.  Am  nächsten  liegt  es  wohl,  an  eine  sogenannte 
»Conversazione«  zu  denken,  Szenen,  die  nicht  nur  in 
der  Renaissance  und  später,  sondern  auch  schon  im 
Altertum  durchaus  üblich  waren.  —  Das  Bild  der 
dritten  Wand  ist  zerstört.  —  Nach  dem  Mosaik  zu 
urteilen,  muß  das  Zimmer  einst  als  Triklinium  ge¬ 
dient  haben;  deutlich  ist  der  Platz  der  lecti  durch 
das  Mosaik  bezeichnet,  ebenso  auch  der  Platz  des 
gemeinsamen  Tisches  durch  ein  schwarz-weißes  Mo¬ 
saik  mit  Ornament  angedeutet.  Nach  der  Straße  zu 
hat  das  Haus  einen  Laden. 

Die  Tür  Nr.  35  führt  durch  ein  schmales  Ostium 
zu  einem  kleinen  Atrium,  dessen  Impluvium  mit  hoch¬ 
stehenden  Steinplatten  eingefaßt  ist,  während  dies  in 
anderen  Häusern  sich  nur  nach  der  Tiefe  zu  ent¬ 
wickeln  pflegt;  ringsum  läuft  eine  ornamentale  Kante. 
Aus  dem  Atrium  führte  eine  Treppe  nach  dem  oberen 
Stockwerk.  Hinter  dem  Atrium  liegt  ein  viereckiger 
mit  Mauern  von  ca.  1  m.  Höhe  umgebener  Raum, 
der  jedenfalls  zur  Ausübung  eines  Handwerkes  diente. 
Der  Eigentümer  scheint  der  in  Pompeji  stark  ver¬ 
breiteten  Innung  der  Fullones,  der  Tuchwalker,  an¬ 
gehört  zu  haben.  Bilder  sind  in  dem  Hause  nicht 
erhalten. 

Nr.  34  ist  ein  Laden  ohne  Verbindung  mit  dem 
Hause,  das  also  an  einen  anderen  vermietet  war; 
auch  Nr.  33  ist  ein  Laden  mit  ziemlich  wohlerhalte¬ 
ner  Schenkeinrichtung;  an  der  Vorderseite  ist,  wohl 
zur  Abwehr  des  Unheils,  des  Malocchio,  mit  dem 
jemand  die  Insassen  bedrohen  könnte,  ein  Phallus 
angebracht,  der  von  zwei  auf  ihn  losgehenden  Männern 
bedroht  wird.  Man  kann  dabei  an  einen  in  Nord¬ 
afrika  gefundenen  Vers  denken,  dem  gleichfalls  ein 
Phallus  zugesetzt  ist:  hoc  vide,  vide,  vide,  ut  possis 
plura  videre!  »willst  du  dein  Auge  bewahren,  so  sieh 
dies  Wunder  an«;  man  will  durch  solches  Zeichen 
das  Auge  des  Zauberers  bannen,  es  gleichsam  ge¬ 
fangen  nehmen,  und  dadurch  abhalten,  Unheil  anzu¬ 
richten. 

Bei  Nr.  32  findet  man  im  Atrium  einen  gemauer¬ 
ten  Unterbau  für  einen  Kessel,  der  jedenfalls  für  das 
vom  Hausherrn  betriebene  Handwerk  diente.  Links 
davon  ist  ein  Zimmer  mit  roten  Wänden;  das  eine 
Mittelbild  zeigt  auf  weißem  Grunde  eine  hochragende 
Säule,  an  der  Thyrsusstäbe  befestigt  sind;  davor  steht 
die  Statue  eines  Priap  und  ein  Rundbau,  aus  dem  ein 
Baum  hervorwächst,  daneben  stehen  noch  andere 
Säulen  mit  breiten  Gefäßen  auf  dem  Kapitäl.  Da¬ 
zwischen  grasen  Ziegen  umher,  und  Frauen  eilen 
zum  Opfer  herbei.  Das  Bild  der  linken  Wand  ist 
sehr  zerstört;  und  doch  läßt  sich  noch  erkennen,  was 
ursprünglich  dargestellt  war.  Man  erkennt  rechts 
einen  Mann  mit  rötlicher  Hautfarbe  und  von  gewal¬ 
tiger  Größe  auf  einem  Felsen  sitzend,  links  davon 


3o6 


DIE  NEUESTEN  AUSGFMBUNGEN  IN  POMPEJI 


gewahrt  man  eine  Frau,  die  wohl  auf  einem  Delphin 
reitet,  offenbar  Galatea,  die  in  dem  einäugigen  Po- 
lyphem  die  Liebe  entzündet  hat.  Bekannt  ist  das  Ge¬ 
dicht  Tlieokrits,  in  dem  er  den  wilden  Riesen  seine 
Liebe  besingen  und  die  Kostbarkeiten  aufzählen  läßt, 
die  er  seinem  Schätzchen  zugedacht  hat.  -  Das  Bild 
der  drillen  Wand  ist  zerstört. 

Neben  den  eben  besprochenen  Häusern  liegt  ein 
anderes,  das  seinen  Zugang  von  der  Stabianerslraße 
hat;  dort  ist  das  Dach  des  Atriums,  wohl  etwas  zu 
niedrig,  hergestellt,  so  daß  man  für  die  Bilder,  die 
im  Inneren  angebracht  sind,  einigermaßen  die  antiken 
Beleuchtungseffekte  wiederhergestellt  hat.  Wenn  man 
aus  dem  Ostium  in  das  Atrium  tritt,  hat  man  rechts 
das  Larenheiligtum,  zwei  gewaltige  gelbe  Schlangen, 
die  auf  den  Altar  zukriechen.  Dem  Ostium  gegen¬ 
über  ist  auf  dem  oberen  Teil  der  Wand  eine  große 
Landschaft  mit  Tempeln  und  anderen  Gebäuden  an¬ 
gebracht;  man  bemerkt  darunter  besonders  eine  Halle, 
die  von  Karyatiden  getragen  wird,  an  sie  schließt 
sich  links  und  rechts  ein  Vorbau,  dessen  Stützen  gleich¬ 
falls  durch  weibliche  Figuren  gebildet  werden;  darunter 
treten  aus  einer  Tür,  zu  der  Stufen  hinaufführen,  links 
und  rechts  je  eine  weibliche  Figur,  links  eine  Frau 
mit  flacher  Opferschüssel,  rechts  eine  Bacchantin  mit 
Thyrsus.  Die  Öffnung  war  mit  einer  zusammenklapp¬ 
baren  Tür  geschlossen.  Daneben  erblickt  man  links 
auf  einem  Vorsprung  links  Ares,  rechts  Aphrodite  in 
ganzer  Figur. 

ln  dem  kleinen  Zimmer  darunter  zeigt  ein  Ge¬ 
mälde  vor  einem  Rundbau,  der  oben  mit  schmalen 
Fensteröffnungen  oder  Bukranien  geschmückt  ist,  den 
Narcissus,  der  sich  im  Wasser  spiegelt;  dagegen  zeigt 
das  links  vom  Ostium  gelegene  Zimmer  Ariadne,  die 
von  Bacchus  aufgefunden  wird,  und  Selene,  die,  mit 
Lichtkreis  um  das  Haupt  angetan,  den  schlafenden 
Endymion  aufsucht.  Der  Hund  des  Schläfers  dreht 
den  Kopf  nach  der  erscheinenden  Göttin  um  und 
bellt  sie  an,  nach  der  bekannten  Theorie,  daß  Pferde 
und  Hunde  die  den  Menschen  unsichtbaren  Gestalten 
wirklich  sinnlich  wahrnehmen,  ln  einem  anderen 
Zimmer,  das  gleichfalls  durch  eine  kleine  Tür  mit 
dem  Atrium  in  Verbindung  steht,  zeigt  ein  Gemälde 
den  Herakles  im  Gespräch  mit  zwei  Männern;  der 
links  stehende,  der  vom  Rücken  gesehen  wird,  hat 
unter  dem  linken  Arm  das  Schwert,  während  der  in 
der  Mitte,  e.  f.  stehende,  in  der  rechten  Hand  den 
Speer  hält.  Man  könnte  vielleicht  an  die  Unterredung 
denken,  die  Herakles  im  Hades  mit  den  beiden  dort 
zurückgehaltenen  Helden  Theseus  und  Peirithous 
hatte,  wenn  man  nicht  erwarten  müßte,  dann  wenig¬ 
stens  den  einen  der  beiden  Helden  sitzend  dargestellt 
zu  sehen.  Theseus  und  Peirithous  unternehmen  es 
nämlich,  die  Persephone  aus  dem  Hades  zu  rauben; 
sie  werden  dabei  ergriffen  und  festgesetzt;  als  Hera¬ 
kles  in  die  Unterwelt  hinabkommt,  versucht  er  es, 
die  beiden  Helden  loszureißen,  doch  gelingt  es  ihm 
nur  bei  Theseus;  Peirithous  könnte  seitdem  als  Heiliger 
der  Patron  der  »Sitzengebliebenen-  sein.  Auf  der 
zweiten  Wand  ist  Aphrodite  und  Ares  dargestellt; 
die  beiden  sitzen  nebeneinander,  Ares  hat  mit  der 


rechten  Hand  das  kirschrote  Gewand  der  Göttin  auf¬ 
gedeckt,  um  sie  herum  sind  vier  Eroten  beschäftigt; 
während  zwei  mit  dem  Hehn  des  Gottes,  ein  anderer 
mit  dem  Schild  spielen,  hält  ein  vierter  der  Göttin 
das  Schmuckkästchen  hin.  —  Die  dritte  Wand  zeigt 
wieder  die  Auffindung  der  Ariadne  durch  Dionysos. 
Ariadne  liegt  da,  in  tiefen  Schlaf  versunken,  den  rechten 
Arm  über  den  Kopf  gelegt,  während  der  linke  hcrab- 
hängt;  ihr  zu  Häupten  gewahrt  man  Hypnos,  den 
Schlafgott,  mit  einer  breiten  Schale  in  der  linken 
Hand,  in  der  der  einschläfernde  Trank  zu  denken 
ist.  —  Das  vierte  Bild  endlich  zeigt  eine  von  rechts 
oben  herabschwebende  weibliche  Gestalt,  deren  Ge¬ 
wand  sich  hinter  ihr  bogenförmig  aufbauscht;  sie 
fliegt  auf  einen  Jüngling  zu,  der  mit  einem  grünen 
Gewand  um  die  Schenkel  angetan,  ruhig  dasitzt.  Sein 
Hund  vor  ihm  wendet  den  Kopf  nach  der  fliegenden 
Göttin.  Da  der  Jüngling  nicht  schläft,  sondern  aus¬ 
drücklich  als  wachend  bezeichnet  ist,  wird  man  nicht 
an  Selene  mit  Endymion,  sondern  an  Eos  und  Ti- 
thonos  denken.  Die  im  Hintergrund  sichtbaren  ge¬ 
lagerten  Frauengestalten  mit  Blätterkränzen  im  Haar, 
die  sich  mit  den  Armen  umschlungen  halten,  sind 
wohl  als  Ortsgottheiten  zu  bezeichnen. 

Aus  tektonischen  Gründen  verdient  bemerkt  zu 
werden,  daß  man  neben  diesem  Hause,  in  Nr.  i8 
der  Stabianerstraße,  über  der  Zisterne  eine  Reihe  von 
Amphoren,  horizontal  in  die  Erde  gebettet,  so  daß 
sie  nur  von  Hals  und  Fuß  festgehalten  werden,  sonst 
frei  schweben,  über  dem  Wasser  angeordnet  hat.  Wahr¬ 
scheinlich  sollte  doch  hier  ein  leichter  und  doch  ge¬ 
nügender  Verschluß  angebracht  werden. 

Kehren  wir  jetzt  nach  der  Fortsetzung  der  Via 
del  Labirinto  zurück,  so  zeigt  das  Triclinium  von 
Nr.  31  rote  Wände,  in  deren  Mitte  auf  gelbem  Grunde 
eine  Landschaft  gemalt  ist.  Man  erblickt  eine  weidende 
Herde;  neben  dem  Jüngling,  ihrem  Hirten,  steht  ein 
zweiter  Jüngling,  der  mit  dem  ausgestreckten  Arm 
auf  die  Ferne  deutet;  man  kann  kaum  zweifeln,  daß 
es  sich  um  Paris  handelt,  der  von  Hermes  auf  den 
sich  nahenden  Zug  der  drei  Göttinnen  aufmerksam 
gemacht  wird,  die  sich  in  der  Schönheitskonkurrenz 
seinem  Richterspruch  unterwerfen  wollen.  Von  dem 
Bilde  der  zweiten  Wand  erkennt  man  noch  eine  hoch¬ 
ragende,  nach  oben  spitz  zulaufende  Säule,  an  der 
ein  Köcher  hängt  (solche  Säulen  pflegen  Artemis¬ 
heiligtümer  zu  bezeichnen),  und  einen  Baum  und 
einen  Jüngling,  der  in  der  vorgestreckten  rechten 
Hand  einen  Becher  hält.  Vielleicht  ist  gar  keine 
mythologische  Situation,  sondern  einfach  eine  heroische 
Landschaft  gemeint. 

Nr.  30  führt  zu  einem  ärmlichen  schmalen  Hause, 
kaum  5  m  breit,  in  dem  nur  das  Larenheiligtum  mit 
dem  Altar  und  der  Schlange  hervorzuheben  ist.  Durch 
eine  Tür  ist  es  mit  Nr.  2g  verbunden,  in  dessen  Ein¬ 
gang  ein  Graffito  C.  VETTIUS  sichtbar  ist;  ob  damit 
der  Eigentümer  bezeichnet  ist,  vermag  natürlich  nie¬ 
mand  zu  sagen. 

Durch  Nr.  28  gelangt  man  zunächst  in  ein  Atrium 
mit  einem  Marmortisch,  auf  das  sich  ein  Zimmer  mit 
weißen  Wänden  öffnet,  ln  der  Mitte  des  einen  ist 


DIE  NEUESTEN  AUSGRABUNGEN  IN  POMPEJI 


307 


die  Entführung  der  Europa  durch  Zeus  unter  der 
Gestalt  eines  Stieres  gemalt,  sie  liat  ein  gelbes  Gewand 
um  die  Schenkel  geschlagen;  während  sie  das  rote 
sich  bogenförmig  über  ihr  aufblähende  Obergewand 
mit  der  rechten  Hand  festhält,  legt  sie  die  linke  Hand 
auf  das  Haupt  des  Stieres;  rechts  am  Ufer  erblickt 
man  einen  Altar,  rechts  und  links  mehrere  Menschen, 
die  nach  der  Entführten  die  Arme  ausstrecken;  in 
der  links  erscheinenden  Gestalt  ist  wohl  der  Vater 
Agenor  zu  sehen.  Unter  diesem  Bilde  hat  ein  Kind, 
der  Höhe  nach  zu  urteilen,  mit  einem  spitzen  Gegen¬ 
stände  Vögel  in  den  Stuck  eingezeichnet.  Gegenüber 
erblickt  man  in  flüchtiger  Zeichnung  zwei  Schiffe  und 
am  Lande  Männer,  die,  wie  es  scheint,  einen  Menschen 
auf  den  Schultern  davontragen.  Man  wird  am  besten 
an  das  Laestrygonenabenteuer  denken,  ähnlich  wie  es 
auf  den  bekannten  Bildern  vom  Esquilin  (in  der  vati¬ 
kanischen  Bibliothek)  dargestellt  ist. 

Das  Triclinium  dieses  Hauses  ist  mit  einem  merk¬ 
würdigen  Bild,  einer  Stierheize,  geschmückt.  Im 
Hintergrund  erblickt  man  einen  Felsen,  auf  dem  eine 
Priapherme  aufgerichtet  ist,  daneben  ein  rundes,  mit 
Öffnungen  versehenes  Gebäude,  das  am  ersten  an  ein 
Amphitheater  denken  läßt.  Im  Vordergründe  gewahrt 
man  zwei  Männer,  von  denen  der  eine  mit  einer  wei߬ 
grauen,  der  andere  mit  einer  kirschroten  Tunika  be¬ 
kleidet  ist;  beide  tragen  hoch  hinaufgehende  Schuhe. 
Der  eine,  der  in  der  linken  Hand  einen  weißlichen 
Mantel  schwingt,  hält  in  der  gesenkten  rechten  Hand 
ein  kurzes  Schwert.  Der  andere,  mit  einem  kirsch¬ 
roten  Mantel  auf  dem  linken  Arm,  ist  im  Begriff,  einen 
mit  starken  Widerhaken  versehenen  Speer  einem  nach 
links  sprengenden  Stier  in  den  Nacken  zu  bohren, 
der  schon  von  einem  zweiten  Speer  getroffen  ist. 
Ein  anderer  Stier  liegt  schon  getötet  am  Boden.  Es 
bedarf  keines  Hinweises,  wie  sehr  dieser  Kampf  ge¬ 
radezu  an  die  heute  noch  in  Spanien  üblichen  Stier¬ 
kämpfe  mit  ihren  Picadores  und  Matadores  erinnert. 
—  Das  Bild  der  anderen  Wand  ist  zu  sehr  zerstört, 
als  daß  es  beschrieben  und  seiner  Bedeutung  nach 
erkannt  werden  könnte. 

Nr.  27  und  26  scheinen  einer  sehr  alten  Zeit 
anzugehören,  da  sie  Nachahmung  von  Marmorinkru¬ 
station  zeigen.  Im  Triklinium  zeigen  die  Wände 
über  schwarzem  Sockel  gelben  Grund;  auf  der  Rück¬ 
seite  sind  zwei  Bildchen  angebracht,  rechts  ein  junges 
Mädchen  mit  nacktem  Oberkörper,  das  ein  rotes  Ge¬ 
wand  um  die  Schenkel  geschlagen  hat,  und  auf  einem 
Felsen  sitzend  eine  Angelschnur  in  das  Wasser  hält; 
links  dagegen  gewahrt  man  einen  Jüngling,  der  nach 
rechts  sitzend  und  den  rechten  Ellenbogen  auflehnend, 
in  der  rechten  Hand  einen  Speer  hält;  ein  Eros  hat 
seinen  ausgestreckten  linken  Arm  gefaßt,  als  ob  er 
ihn  zum  Aufstehen  bewegen  wolle.  Man  kann  wohl 
nicht  daran  zweifeln,  daß  beide  Bilder  in  Beziehung 
zueinander  stehen,  und  daß  man  sich  als  drittes  Bild 
das  hinzudenken  muß,  wo  der  Jüngling  seine  Jagd 
auf  anderes  Wild  aufgibt  und  die  schöne  Fischerin 
sich  mit  der  Beute  begnügt,  die  ihr  nicht  der  Angel¬ 
haken,  sondern  der  Eros  zuführt.  —  Das  Bild  der 
linken  Wand  läßt  in  der  Mitte  noch  einen  unge¬ 


schlachten  Riesen  erkennen,  wohl  wieder  Polyphem, 
der  auf  seine  Galatea  wartet.  Das  Bild  der  dritten 
Wand  ist  zerstört.  Dagegen  ist  im  Atrium  noch  das 
Bild  des  Zeus  zu  erwähnen;  er  sitzt  e.  f.  und  hält 
die  linke  Hand  beschattend  über  die  Augen,  als  ob 
er  in  die  Ferne  spähen  wollte;  in  der  rechten  Hand 
hält  er  den  Blitz,  unten  steht  der  Adler,  seines  Winkes 
gewärtig. 

Auch  das  Bild  eines  Zimmers,  das  als  eine  Art 
Tablinum  betrachtet  werden  kann,  verdient  eine  kurze 
Erwähnung.  Links  sitzt  eine  Gestalt,  über  deren  Ge¬ 
schlecht  man  zweifeln  kann,  in  kurzem  Gewand  nach 
rechts  auf  einem  Stuhl;  sie  hält  in  der  einen  Hand 
einen  Speer,  der  über  ihre  rechte  Schulter  ragt;  rechts 
davon  steht  ein  Mann,  der  in  der  rechten  gesenkten 
Hand  einen  Speer  hält,  neben  ihm  ist  ein  Hund  an¬ 
gebracht;  zwischen  beiden  Gestalten  liegt  ein  undeut¬ 
licher  Gegenstand  am  Boden.  —  Man  wird  dies  wohl 
für  das  Fell  eines  Ebers  halten  und  in  den  beiden 
Gestalten  Meleager  und  Atalante  erkennen  können. 
Daß  das  Zimmer  nicht  die  gewöhnliche  Form  des 
Tablinum  hat,  kommt  daher,  daß  das  Haus  zwischen 
zwei  sich  schneidenden  Straßen  spitz  zuläuft  und 
deshalb  die  gewöhnliche  Hausform  nicht  festhalten 
konnte.  —  Darauf  folgt  noch  Nr.  25,  ein  Laden  ohne 
Zugehörigkeit  zum  Hause,  und  Nr.  24,  das  wohl  als 
Bottega  oder  Osteria  diente.  Jenseits  dieses  Straßen¬ 
endes  folgt  nach  Norden  ein  Wasserkastell,  in  dem 
die  Verteilung  des  durch  die  Wasserleitung  gelieferten 
Wassers  erfolgt,  und  die  Porta  Vesuviana,  das  Ve¬ 
suvtor,  das  in  seiner  Anlage  keine  Besonderheiten 
verrät. 

Noch  ist  zu  erwähnen,  daß  an  dem  Eingang  der 
Stabianerstraße  in  dies  Viertel  an  der  Außenseite  des 
der  Casa  degli  Amoretti  dorati  gegenüberliegenden 
Hauses  zwei  Bilder  angebracht  sind,  Dionysos,  der, 
weinselig  von  einem  Satyr  gestützt,  aus  einem  Kan- 
tharos  Wein  ausgießt  (neben  ihm  ein  Panther),  und 
Hermes,  nach  rechts  eilend,  mit  einem  Kerykeion  in 
der  Hand;  vor  ihm  ist  ein  Omphalos  mit  einer  sich 
aufrichtenden  Schlange  angebracht. 

Eine  Bemerkung  verdient  wohl  auch  der  Umstand, 
daß  in  dieser  Straße  vor  mehreren  Häusern  Ruhe¬ 
bänke  angebracht  sind;  man  kann  sich  die  Bürger 
vorstellen,  wie  sie  nach  des  Tages  Last  und  Hitze, 
um  die  kühle  Abendluft  zu  genießen  und  mit  den 
Nachbarn  traulich  zu  plaudern,  vor  ihren  Häusern 
saßen,  ein  Bild,  das  man  bis  jetzt  bei  den  antiken 
Pompejanern  nicht  vorausgesetzt  hätte.  —  Auch  daß 
dort  wieder  ein  Pfeiler  aufgefunden  ist,  an  dem  die 
Wasserleitungsröhren  in  die  Höhe  geleitet  wurden, 
so  daß  von  dem  Bassin  in  der  Höhe  die  Verteilung 
in  die  umliegenden  Häuser  erfolgt,  sei  nebenbei  er¬ 
wähnt;  die  bis  vor  kurzem  noch  in  Palermo  bestehende 
ganz  ähnliche  Einrichtung  scheint  nach  der  Einfüh¬ 
rung  der  allgemeinen  Wasserleitung  dort  ganz  ver¬ 
schwunden  zu  sein. 

Das  sind  die  Resultate  der  Ausgrabungen,  über 
die  jetzt  zu  berichten  wäre.  Hoffentlich  geht  es  nun 
rüstig  weiter;  an  gewinnbringenden  Resultaten  wird 
es  dann  sicher  nicht  fehlen.  ENGELMANN. 


WILLIAM  UNOER  IN  WIEN  ZU  SEINEM  SIEBZIGSTEN  GEBURTSTAGE 


IN  diesen  Tagen,  am  i  i.  September,  feierte 
William  Unger  seinen  siebzigsten  Geburtstag. 
Zu  dem  Tage,  mit  dem  er  offiziell  in  das  Qreisen- 
alter  eintritt ,  können  wir  an  keiner  Stelle  dem 
Freunde  und  Kupferstecher  ,  dem  verdienten  Be¬ 
gründer  der  modernen  f<adierkunst  in  Deutschland, 
unsere  Glückwünsche  passender  darbringen  als  hier 
in  der  »Zeitschrift  für  bildende  Kunst  .  Flat  doch 
William  Unger  in  den  ersten  Jahrgängen  dieser  Zeit¬ 
schrift  seine  Sporen  verdient;  die  Aufträge,  die  ihm 
E.  A.  Seemann  erteilte,  vor  allem  die  Radierungen  der 
Meisterwerke  in  den  Galerien  zu  Braunschweig  und 
Kassel,  die  hier  vor  etwa  vierzig  Jahren  erschienen, 
haben  zugleich  der  Zeitschrift  ihren  Charakter  ge¬ 
geben  und  das  allgemeine  Interesse  in  Deutschland 
darauf  gelenkt,  sie  haben  vor  allem  den  Sinn  an  der 
malerischen  Behandlung  des  Stichs  wieder  geweckt 
und  uns  zu  der  modernen  Malerradierung  verholten, 
die  seither  auch  bei  uns  in  Deutschland  besonders 
gepflegt  und  gewürdigt  wird. 

William  Unger  lebt  seit  mehr  als  einem  Menschen¬ 
alter  in  Wien;  er  ist  ein  Wiener  geworden,  aber  er  ist 
keineswegs  ein  geborener  Wiener,  sondern  ein  echter 
Norddeutscher,  der  Sproß  einer  der  begüterten  alten 
Beamtenfamilien  Hannovers.  William  Ungers  Vater  war 
freilich  mit  Glücksgütern  nicht  bedacht;  der  als  Sohn 
reicher  Eltern  erzogene  Jüngling  mußte,  infolge  derTreu- 
losigkeit  seines  Vormundes,  als  zweiter  Bibliothekar  in 
Göttingen  und  als  Lehrer  der  Kunstgeschichte  —  da¬ 
durch  damals  noch  eine  Kuriosität  auf  deutschen  Uni¬ 
versitäten!  — -  sich  und  seiner  Familie  aufs  einfachste 
durchhelfen.  War  doch  für  die  deutschen  Kunst¬ 
gelehrten  noch  nicht  einmal  das  Morgenrot  der  Zeit 
angebrochen,  in  der  sie  mit  pikantem  und  frivolem 
Kunstgeschwätz  in  den  Tagesblättern  und  illustrierten 
Monatsschriften  oder  durch  Gutachten  über  zweifel¬ 
hafte  Privatsammlungen,  Empfehlungen  von  Kunst¬ 
versteigerungen  und  dergleichen  auf  leichteste  Weise 
Geld  machen  und  üppig  leben  können.  Zwei  der 
Kinder  des  alten  Professors  Unger  wandten  sich  der 
Kunst  zu.  William  wurde  Maler,  aber  bei  seiner  be¬ 
sonderen  zeichnerischen  Veranlagung  widmete  er  sich 
bald  ausschließlich  der  Stecherkunst.  Die  freie  Be¬ 
handlung  der  Platte  mit  der  Radiernadel,  die  zuerst 


in  Frankreich  wieder  aufgekommen  war,  entsprach 
seinem  malerischen  Sinne  mehr  als  der  ängstliche, 
mehr  und  mehr  in  Stahlstichart  vorkommende  Linien¬ 
stich.  Da  die  Photographie  für  die  Nachbildung  von 
Gemälden  damals  noch  völlig  versagte  und  die  photo¬ 
graphischen  Druckverfahren  noch  nicht  erfunden 
waren,  so  widmete  Unger  seine  Kunst  der  Nach¬ 
bildung  von  Kunstwerken,  in  erster  Linie  von  alten 
Gemälden,  die  auch  im  Publikum  das  meiste  Interesse 
erregten.  Nach  den  ersten,  zum  Teil  noch  halb 
schüchternen  Versuchen  in  der  Braunschweiger  Galerie 
hat  er  bald  darauf,  jetzt  vor  vierzig  Jahren,  in  dem 
Album  der  Kasseler  Galerie  die  Radierung  zu  völlig 
freier,  malerischer  Nachbildung  der  alten  Gemälde, 
namentlich  der  holländischen  Meister  gebracht.  Seine 
Radierungen  nach  Rembrandt  erregten  vor  allem 
höchste  Bewunderung;  noch  reifer  und  freier  erscheint 
der  Künstler,  wenn  er  das  helle  Tageslicht  wiedergibt: 
in  seinen  Radierungen  nach  Rubens,  Cuyp,  den  beiden 
van  de  Velde  und  ähnlichen  Meistern. 

Der  Erfolg  dieser  Arbeiten  brachte  William  Unger 
rasch  in  den  Vordergrund  unserer  deutschen  Stecher; 
sein  Vorbild  und  seine  Schule  hat  die  malerische 
Radierung,  auf  Grund  von  Rembrandts  Behandlungs¬ 
weise,  rasch  auch  in  Deutschland  zur  Herrschaft  ge¬ 
bracht,  seine  zahlreichen  oft  vortrefflichen  Radierungen 
und  Publikationen  ganzer  Galerien  haben  wesentlich 
dazu  beigetragen,  das  Interesse  an  alter  Kunst  bei 
uns  zu  heben  und  das  Verständnis  dafür  zu  fördern. 
Auf  seinen  Schultern  stehen  die  jüngeren  Malerradierer, 
welche  der  Schwarzweißkunst  wieder  ein  neues,  ihr 
eigenstes  Feld  zugewiesen  haben.  Wo  Unger  in 
seinem  anfangs  etwas  heimatlosen  Künstlerleben  sich 
niedergelassen  hat:  in  Weimar,  in  Braunschweig,  Kassel 
und,  seit  1871,  in  Wien,  hat  er  es  verstanden  alle, 
denen  er  näher  getreten  ist,  durch  seine  Kunst  zu 
fesseln  und  durch  sein  ruhiges,  freundliches  Wesen, 
seine  Kunstbegeisterung,  seinen  bescheidenen  Sinn, 
seinen  offenen  Charakter  sich  zu  Freunden  zu  machen. 
Mit  ihnen,  mit  allen,  die  in  Deutschland  ein  warmes 
Herz  für  das  Gedeihen  der  nationalen  Kunst  haben, 
begrüßen  wir  den  Künstler  zu  dem  heutigen  Tage, 
der  ein  heiteres  Alter  einleiten  und  ihm  weiteres  erfolg¬ 
reiches  Schaffen  bringen  möge.  IV.  BODE. 


Herausgeber  und  verantwortliche  Redaktion:  E.  A.  SEEMANN,  Leipzig,  Querstralte  13 
Druck  von  Ernst  Hedricm  Nachf.  g.  m.  b.  h.  Leipzig 


KINDERKÖPFCHEN 


I 


jElTSCHRIFT  FÜR  BILDENDE  KUNST  I907 


ORIGINALRADIERUNO  VON  HERMINE  LAUKOTA