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Full text of "Zeitschrift für klinische Medizin"

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THE UNIVERSITY 


OF ILLINOIS 
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in 2021 with funding from 
University of Illinois Urbana-Champaign 


https://archive.org/details/zeitschriftfurkl1001 unse 


ZEITSCHRIFT 


FÜR 


KLINISCHE MEDIZIN 


HERAUSGEGEBEN VON 


W.HiIS F.KRAUS A. GOLDSCHEIDER G. KLEMPERER 


BERLIN BERLIN BERLIN BERLIN 
B.NAUNYN A.vonSTRÜMPELL A.SCHITTENHELM R. STAEHELIN 
BADEN-BADEN LEIPZIG KIEL BASEL 

C. von NOORDEN N. ORTNER 
FRANKFURT A.M. WIEN 


REDIGIERT VON 
W. HIS 


HUNDERTSTER BAND 
MIT 96 ABBILDUNGEN IM TEXT 





BERLIN 
VERLAG VON JULIUS SPRINGER 
1924 


. Druck der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig. 


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V De J. nn und ee Messung der Reizstärke an der 
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Steinbrinek, Walther. Über Kolloidlabilität und das Eiweißblutbild (Eiweiß- 
spektrum) im Plasma vom gesunden und kranken Menschen . . . . 
Be eEnskeZur Rlinikoden Dipamie #2... ER ETEN 
Orveiel, Franz, und Georg Hubert. Klinische Erfahrungen mit der mikro- 


skopischen Capillaruntersuchungsmethode . . .. 222.2... - 


Neumann, Rudolf, und Edith Lande. Zur Ätiologie und Genese der sog. 
Ranaokrinen Arthritis TR ne 2 
Schöndube, Wilhelm. Zur thyreosexuellen Insuffizienz. (Mit 1 Textabb.) 
Schwartz, Ph. Zur Frage des Icterus neonatorum . . . 2 2..2.2.. an 
Woenckhaus, Ernst. Zur funktionellen Magendiagnostik . 
Shinoda, 6. Sog. vitaminfreie Ernährung bei gesunden Menschen, nebst 
einigen kritischen Bemerkungen über Unterernährung 3 
Joel, Ernst. Vergleichende Untersuchungen über Röntgen- und Atophan- 
BER Ealunp ben Deukämien 0 2A EIERN ITEMS 
Focken, Ernst. Isthmusstenose der Aorta und septische Endokarditis . . 
Sörensen, $S. T. Über Poliomyelitis, besonders die difterentielle Diagnose. 
DET ae ER a RE EEE DEE, 
Seyfarth, C. Seuchen und Seuchenbekämpfung i in aa (Mit 4 Textabb.) 
Tolubejewa, N., und L. Pawlowskaja. Über den Einfluß der Wasser- und 
Nahrungsaufnahme auf den Blutdruck, speziell bei Hypertonie. (Mit 
NS ET N REN SE RER RE EE LLENEEN RER EEG 
Stahl, Rudolf, und Werner Entzian. Klinisches und Experimentelles über 
das intra- und extrakardiale Mühlengeräusch. (Mit 1 Textabbildung) 
Molnär, B., und L. Csaki. Die Hyperacidität als Störung des Kochsalz- 
I a Er N NEE 
Sternberg, F., und St. v. Gönezy. "Über Indikationen und Kontrolle der 
Leukämiebehandlung auf Grund neuer Prüfungsmethode 
Földes, E. Funktionsstörungen der Schilddrüse und durchschnittliches Volum 
TER IGEROETAN NORBERT SE, 
Csäki, Ladislaus. Über den diagnostischen und prognostischen Wert der Be- 
stimmung des Chlor- und Zuckergehaltes und des Refraktionswertes 
im Liquor cerebrospinalis mit besonderer Rücksicht auf Meningitis 
Vändorfy, J. Magenbelastungsprobe bei Hyperaciditätsfällen idR 
Baräth, Eugen. Über die Wirkung des Pilocarpins auf das eosinophile Blut- 
bild, speziell bei experimenteller Eosinophilie . . . . . 22... 
Rausch, Zoltän. Beiträge zur Jodzahl des Hames . . .. 2.2... 
Paunz, Ludwig. Beiträge zur Histopathologie des sympathischen Grenz- 
BE IE ELEND N RN 
Hofhauser, Stephan. Bi klinische Bedeutung der optischen Aktivität des 
IE PEN PO HRS A RE N a EL 
Hajös, Karl. Untersuchungen über stomachale und rectale Sensibilisierung 
Engelsmann, R. Untersuchungen über das Myelin und die im Auswurf 
vorkommenden Zellen, insbesondere die Alveolarepithelien. (Mit 
ERDE TIRU TS RE SS SR PR IE ER RE ER IEE FRIT AR 
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Schade, H., und F. Claussen. Der onkotische Druck des Blutplasmas ma 
die Entstehung der renal bedingten Ödeme. (Mit 11 Textabbildungen) 


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363 


IV Inhaltsverzeichnis. 


Billigheimer, Ernst. Vergleichende Untersuchnngen über die Wirkung und 
Wirkungsweise des Caleiums und der Digitalis. (Mit 23 Textabbild.) 

Klein, 0. Zur hormonalen Beeinflussung des Wasserhaushaltes beim Dia- 
betes mellitus durch Insulin und Pituitrin. (Mit 7 Textabbildungen) 

Vorschütz, Joseph. Über den Gesamt-Schwefelgehalt der Erythrocyten 
und des zugehörigen Serums hauptsächlich bei Krebskranken und 
Tuberkulösen . 

Egoroff. Die Veränderung des "Blutbildes "während der. Muskelarbeit bei 
Gesunden. (Mit 1 Textabbildung) 

Winterfeld, Hans Karl von. Über die Kombination der Polyey thämia rubra 
mit leukämischer Myelose. (Mit 1 'Textabbildung) 

Sonnenfeld, Arthur. Bilanz des Blutstoffwechsels bei perniziöger Anämie 

Koopman, J. Beitrag zur Polychromatophiliefrage \ an 

Grund, 6., und H. Jastrowitz. Zur Kenntnis pseudochylöser Ergüsse er 

Wichels, Paul. Über das Vorkommen von Bacterium coli im Inhalt des 
nüchternen Magens bei perniziöser Anämie 

Liekint, F. Über den Rhodangehalt des Speichels : 

Holler, G., H. Melicher, und N. Reiter. Menstruation und peripheren Blutbild 

Eisner, Georg, und Edmund Mayer. Zur Differentialdiagnose zwischen 
perniziöser Anämie und atypischer Lymphadenose. (Mit1 | Textabbildung) 


Pockels, Walter. Einwirkung von Tuberkulin und anderen Eiweißarten auf. 


den Wasserhaushalt tuberkulöser Kinder. (Mit 12 Textabbildungen) 
Weicksel, J. Über Reizversuche an milzexstirpierten Hunden nebst einigen 
Bemerkungen über die Yollykörperchen 
Paunz, L. Studien zur Biologie der Niere } 
Nagy, 6. Thrombopenie und essentielle Thrombopenie - i e 
Csepai, Karl. Zur Funktionsprüfung des vegetativen Nervensy stems 
Besprechungen A 
Umber, F., und Max, Rosenberg. un Dieenose nd Prognose der ly- 
cosuria. Inhocens: 4... ne 
Heubner, Woligang. Hemerkuar zur Hieentherspie r 


Kauffmann, Friedrich. Klinisch-experimentelle Untersuchungen zum Kösıkl 


heitsbilde der arteriellen Hypertension. En Teil.) (Mit 2 Text- 
abbildungen) .. u. Keuım:ae se Kr Le re Be a aA 

—. Klinisch- experimentelle Unteren china zum Krankheitsbilde‘ der 
arteriellen Hypertension. (IV. Teil.) £ 

Händel, Marcel. Über den Grundumsatz bei Hypertonien ; 

Bernhardt, Hermann. Zur Frage des Mineralstoffwechsels bei der Acidose. 
(Mit 5 Textabbildungen) R 

Schilling, Viktor, Jossmann, Karl Hoffmann, Rubitschung, van der Spek. 
Biologisch-klinische Blutstudien über allgemeine Infektionsfragen an 
der Impfmalaria der Paralytiker, besonders über ihre unspezifische 
Wirksamkeit. (Mit 11 Textabbildungen). »°. ... . 2. SEE 

Levi, Ernst. Über die Ursache der Lebercirrhose Bi Polyeythämie Rn 

Joseph, Fritz. Erfahrungen mit dem Hämogramm nach Schilling . 

Weiecksel. Über Stoffwechsel- und Harnsäureuntersuchungen bei bluttrans- 
fundierten Perniziösen 

Wichels, Paul und Behrens, Alfred. on Be, zur röntgenologischen 
Darstellung der Harnwege mit Kontrastmitteln , 

Reh, Max, Neues zur Lehre vom Pulse und zur Auffassung der. Hochs 
druckstauung et 

Autorenverzeichnis... 


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785 


802 





Im Inhaltsverzeichnis von Bd. 99 ist noch nachzutragen: 


Jacobowitz, Leo. Scharlachauslöschphänomen und Isohämagglutination. S.515 





(Aus der Medizinischen une des Städtischen en hannes Allerheiligen, 
Breslau ‚[Primärarzt: Prof. Dr. Ercklentz).).- 
Zur Caleiumtherapie. 
Von 
‚Rudolf Kaewel. 
( Eingegangen am 14. November 1923.) 


“ 


Aus den mannigfachen Ergebnissen- der experimentellen Pharma- 
kologie des Oalciums heben sich einzelne scharf ı umrissene- een 
hervor. 

Als fernwirkendes Adstringens ist das Calcium befähigt, Entzündungs- 
vorgänge zu verhindern. Es handelt sich wahrscheinlich um einen 
kolloidehemischen Vorgang, d.h. eine Entquellung der Kittsubstanzen 
der Blut- und Lymphgefäße, und einer daraus resultierenden Gefäß- 
diehtung. Hierin unterscheidet Sich das Calcium wesentlich von den 
Mitteln, die durch Herabsetzung der sensiblen Reize gleichfalls ent- 
zündungshemmend zu wirken vermögen. In neueren Untersuchungen 
fand Heubner, daß die Entzündungshemmung durch Calcium einmal 
wider Erwarten durch Phosphor gesteigert wird, und daß es sich nicht 
um eine spezifische Wirkung des Calciumphosphäts handelt. Er konnte 
durch verschiedene, andere, anorganische Mittel die gleichen Erfolge er- 
zielen, wenn diese Stoffe in fein disperser Form injiziert wurden. Die 
therapeutische Auswertung dieses Befundes scheitert an der Voraus- 
setzung der Vorbehandlung mit Calcium vor dem Einsetzen der ent- 
zündungserregenden Noxe b?). 

Weiter ergaben die muskelphysiologischen Untersuchungen, daß 

Caleciummangel zu einer Steigerung der neuromuskulären Erregbarkeit, 
Caleiumüberschuß zur Herabsetzung neuromüuskulärer Übererregbarkeit 
führt). 
. Außerdem vermag das Calcium Teitgchend in das antagonistische 
Spiel des Vagus und Sympathicus einzugreifen. Durch Calciumver- 
minderung wird -die Erregbarkeit des vegetativen Nervensystems 
gesteigert. Caleciumvermehrung dämpft die Übererregbarkeit des vege- 
tativen Systems. _ Herzfeld und Lubowski nehmen an, daß durch die 
Caleiumionenkonzentration im Serum die Korrelation des Vagus und 
Sympathicus vermittelt wird. Durch Reiz des Sympathicus trete 
eine Verminderung der Caleiumionen ein, die ihrerseits eine verstärkte 
Ansprechbarkeit des Antagonisten Vagus bedingt +”). 

Z. f. klin. Medizin. Bd. 100. 1 


2 R. Kaewel: 


Der Angriffspunkt des Caleiums liegt peripher von der Nervenendigung 
und zentral von der eigentlichen Muskelsubstanz. Nach den neueren 
Beobachtungen wäre der Angriffspunkt an die rezeptive Substanz 
des Sarkoplasmas zu verlegen, die durch das parasympathische Nerven- 
system versorgt wird 8% 10). 

Ein enger Zusammenhang erwies sich zwischen Adrenalin und 
Calcium. In Caleiumfreier Nährlösung ist Adrenalin unwirksam. Cal- 
ciumarme Lösung steigert die Adrenalinwirkung, caleiumreiche Lösung 
ist befähigt, Adrenalinwirkungen weitgehend zu hemmen. Bei der 
Beobachtung des Blutkalkspiegels fand Billigheimer unter Adrenalin 
ein Absinken des Blutkalkgehaltes!!). 

Von besonderem Interesse ist auch der Einfluß des Calciums auf das 
Herz- und Gejäßsystem. Schwache Calciumwirkung entsprach nach 
Kraus einer zentralen Vagushemmung, nach Pick einer Erregung 
der sympathischen Zentren. Ein starkes Caleiumübergewicht führt 
zum systolischen Stillstand. In calciumfreier Nährlösung blieben die 
Impulse, die vom Vagus ausgehen, erfolglos. Durch Änderung der 
Elektrolytenkombination, durch Vermehrung oder Verminderung der 
Caleiumionen, konnten am Herzen alle Wirkungen der Digitalis erreicht 
werden. Summierung trat in keinem Falle ein, da eine Speicherung des 
Caleiums im Herzen nicht statthat. Entscheidend war auch nicht die 
absolute Caleciummenge, sondern das Konzentrationsgefälle. Weiter- 
hin ließ sich der Erfolg der Digitalis durch Änderung des Caleiumgehaltes 
der Nährflüssigkeit weitgehend beeinflussen. In caleiumfreier Lösung 
waren die reinen Digitalisglykoside unwirksam. In caleiumarmer Lösung 
wurde das Herz durch die Glykoside sehr bald toxisch beeinträchtigt. 
Viel umstritten ist noch die Auffassung, wie dieser Einfluß des Caleiums 
zu erklären ist. Höber wies nach, daß die Verbindung zwischen Nerv 
und Muskel allein durch Erdalkalien gewährleistet wird, also eine 
spezifische Fähigkeit des Calciums ist, während die Kompensierung 
des Caleciumüberschusses auch durch andere Kationen erfolgen kann. 
Als Antagonist zeigte sich das Calcium bei der Arsen-, Chinin-, Chinidin- 
und Cocainvergiftung des Herzens. Auf das Gefäßsystem wirkt caleium- 
reiche Lösung gefäßerweiternd. Den gleichen Befund erhob in neueren 
Versuchen auch Krowarz bei der Kapillarbeobachtung 1% 13; 14 15, 16, 17, 18) 

Bei der Beobachtung des Blutbildes ließ sich eine Einwirkung des 
Caleiums in Gestalt einer Leukocyten- und Thrombocytenverminderung 
feststellen!9). Wie weit es sich hierbei um einen unmittelbaren Eingriff 
des Caleiums in das Blutleben handelt, ist nicht geklärt. Erklärt wurden 
diese Befunde auch durch eine mittelbare Caleiumwirkung über das 
autonome System. Bei peroraler Calciumzufuhr zeigte sich eine Abnahme 
der Gesamtblutmenge bzw. des Plasmas, Zunahme der Viscosität und 
des Refraktometerwertes. Hieraus läßt sich die bei gesunder Niere 





Zur Caleiumtherapie. 3 


einsetzende diuretischa Wirkung des Calciums durch Zunahme des 
Lösungswasserss und Abnahme des Quellungswassers erklären?). 
F. Müller zieht auch die Annahme einer vermehrten Glomerolusfiltration 
und verminderten Tubulusrückresorption heran?!). 

Neben der Einwirkung auf die nervöse Versorgung des Magendarm- 
kanales ist nach Spiethoff und Wiesenack der intravenösen Caleium- 
zufuhr auch eine resorptionshemmende Fähigkeit zuzusprechen; nachge- 
prüft an subeutaner und peroraler Joddarreichung??). 

Eine Zusammenfassung der Caleciumwirkungen versucht Burmeister 
unter dem Begriff der Protoplasmainaktivierung, das Calcium ist demnach 
befähigt, die Reaktion der Zelle gegen Noxen jeglicher Art einzuschrän- 
ken und zu hemmen. Wachtel kommt dagegen zu dem Schluß, daß 
das Wesen der Calciumtherapie in einer Proteinkörpertherapie auf dem 
Wege eines vermehrten Eiweißzerfalles zu suchen ist %*%). 

Therapeutisch wurde Calcium auf der hiesigen Abteilung bei vago- 
neurotischen Erscheinungen mit gutem Erfolge angewandt. Bei dem 
Asthma bronchiale gelingt es, den Anfall durch eine intravenöse Calcium- 
injektion sofort zu kupieren. Durch längerdauernde systematische 
Behandlung läßt sich die Anfallsbereitschaft herabsetzen. Schwerer 
sind in dieser Hinsicht die Asthmatiker mit ausgesprochenen, sekundären 
Erscheinungen zu beeinflussen. Ebenso ist es möglich, bei dem Heu- 
fveber die vagoneurotischen Erscheinungen vorübergehend wesentlich 
einzuschränken. Durch konsequente Therapie, einsetzend vor der 
Gräserblüte und durchgeführt solange noch irgendwelche Erscheinungen 
des Heufiebers nachweisbar sind, kann der Patient vor den unange- 
nehmen Äußerungen des Heufiebers bewahrt werden ®%), 

Auch bei anaphylaktischen Erscheinungen anderer Art ist das Calcium 
gut wirksam, so erwies es sich unter anderm bei der Bekämpfung des 
anaphylaktischen Schocks besonders brauchbar. Auch bei schon einge- 
tretenem Schock zeitigte das Calcium gute Ergebnisse. Citron lobt 
die Calciumtherapie bei anaphylaktischen Erscheinungen der Thyphösen, 
nach Anwendung von Kollargol, die häufig mit stärkeren Blutungen 
einhergehen. 

Mit gutem Erfolg wurde das Calcium bei anderen verschiedenartigen 
vagotonischen Zuständen verabfolgt, z.B. nervöser Superacidität, 
vagotonischen Durchfällen, enteritis membranacea. Wahrscheinlich 
ist auch die erfolgreiche Calciumanwendung bei chronischen Durch- 
fällen?) und Schleimabsonderungen nach Ruhr ebenfalls hierzu zu 
rechnen. Die gleichzeitig nach der Ruhr bestehende Bradykardie gibt 
einen Hinweis auf den Weg der Caleiumwirkung, d.h. indirekt über den 
Vagus. 

Wirksam war die Calciumtherapie bei einer großen Zahl spastischer 


Erscheinungen. E. Schmidt verwandte es bei einem Fall von myoplegia- 


i* 


4 R. Kaewel: 


paroxysmalis congenita, Januschke bei Bewußtseinsstörungen eines 
I1jährigen Knaben. In beiden Fällen wurde die Ursache der Erschei- 
nungen in Gefäßkrämpfen gesehen. Auf der hiesigen Abteilung: fand 
in der gleichen Überlegung das Calcium bei der Raynaudschen Krank- 
heit erfolgreiche Anwendung ®®). dr | ta 

Oft wurde Calcium bei spastischen Zuständen des Magendarmkanales 
angewandt, und die gute Wirksamkeit trat besonders in den Fällen 
deutlich hervor, in denen die Spasmen zu Ileuserscheinungen geführt 
hatten?®). Apart * rn 

Vor allem hat sich das Calcium immer erneut zur augenblicklichen 
Behebung der Symptome der manifesten Tetanie bewährt. Bei den 
verschiedenartigsten Äußerungen der Tetanie erwies sich das Calcium 
wirksam, sei es dem Laryngospasmus, Carpopedalsspasmen, Eklampsie, 
sei es dem subcorticalen, tonischen Krampfanfall, den tonischen Rinden- 
krämpfen, dem Bewußtseinsverlust (Frank), den epileptiformen An- 
fällen der Tetanie oder den Erscheinungen von seiten der Erfolgsorgane 
des vegetativen Systems z. B. der Blasentetanie, dem angioneurotischen 
Ödem u. a. mehr ?'®2) | | 

Neben den Erscheinungen der essentiellen Tetanie wurde Calcium 
mit guten Ergebnissen angewandt bei den experimentell auslösbaren 
Tetaniesymptomen, von denen die Tetanie parathyreopriva, Tetania 
postoperativa und die Überventilationstetanie praktische Bedeutung 
gewonnen haben. Melchior beschreibt eine Zunahme der postoperativen 
latenten wie manifesten Tetanie nach dem Kriege, Fälle, in denen eine 
direkte Schädigung der Epithelkörper oder anderer innersekretorischer 
Drüsen nicht möglich war. Die Überventilationstetanie wurde bei 
Hysterischen und auch bei einzelnen Fällen von Encephalitis myo- 
clonica mit Zwerchfellbeteiligung gesehen ®%**). 

Die Versuche durch Calcium allein, eine Heilung der Tetanie zu 
erzielen, sind jetzt wohl allgemein aufgegeben worden. 

Die pharmakologischen Beobachtungen legten die Versuche einer 
therapeutischen Anwendung des Caleiums auf das Herz nahe. Die 
Ergebnisse waren jedoch nicht befriedigend. Auf der hiesigen Abteilung 
konnte ein früheres Einsetzen oder Steigerung der Digitaliswirkung 
nicht erreicht werden. Auch blieben die Versuche durch Kombination 


der Digitalis und Calcium mit geringeren Dosierungen auszukommen 


und das toxische Stadium längerdauernder Digitalistherapie hinaus- 
zuschieben, erfolglos. Dagegen erwies sich auch auf der hiesigen Ab- 
teilung das Calcium gut wirksam bei Fällen neurogener und thyreo- 
toxischer Tachykardie, hier oft auch mit längerer “Dauer ®»?%#%). 
Die guten Erfolge des Caleiums nach Bernhard in der Behandlung 
des Lungenödems nach Versagen aller Herz- und Gefäßmittel ließen sich 


bestätigen. Benedikt schränkt die Anwendung auf die Fälle ein, bei denen 


Zur Caleiumtherapie. D 


die entzündliche Komponente im Vordergrund steht. Die Calcium- 
wirkung kann in diesen Fällen eine Deutung finden in der Einwirkung 
auf das Herz, auf die veränderte Gefäßwand oder im Sinne einer Osmo- 
therapie der hypertonischen Lösungen. Von der Velden empfiehlt 
das Calcium bei der Expectoration albumineuse®®). 

Die Verwendung des Calciums bei Blutungen gründete sich ursprüng- 
lich auf die. Auffassung, die in der Blutgerinnung einen fermentativen 
Vorgang sieht und dem Calcium eine wesentliche, unentbehrliche Rolle 
bei der Bildung des Profermentes Thrombin zuschreibt. Stuber sieht 
in der. Blutgerinnung einen rein kolloidchemischen Vorgang. Der Ein- 
fluß des Calciums ist nach ihm dem der zweiwertigen Kationen gleich- 
zusetzen. Es handelt sich demnach nicht um eine spezifische Calcium- 
wirkung, allerdings zeigte das Calcium vor den übrigen zweiwertigen 
Kationen eine besonders gute Wirkung. Gleichzeitig ist die Calcium- 
injektion auch durch die Hypertonie der Lösung und die fast regel- 
mäßig zu beobachtende Blutdrucksenkung wirksam. Erfolgreich war 
die Caleiummedikation bei Blutungen verschiedenster Ätiologie und 
Lokalisation, z.B. bei Lungen- und Magenblutungen, cholämischen 
Blutungen und bei Blutungen. der hämorrhagischen Diathese. Bei 
Lungenblutungen wurde das Calcium mit Herzmitteln zur BERNE 
der Stauungen im kleinen Kreislauf kombiniert ?% 2: #1, 42), 

Viel umstritten war die Beurteilung der Calciumanwendung bei der 
Tuberkulose. Statistische Beobachtungen, aus denen die Seltenheit 
der Tuberkulose bei Kalkbrennern hervorgeht, die Auffassung der 
Demineralisation des Körpers im Verlaufe der Tuberkulose, die vege- 
tativ neurotischen Stigmata der Tuberkulösen ließen einen Zusammen- 
hang zwischen dem: Verlauf der Tuberkulose und dem Kalkstoffwechsel 
vermuten. @uth sieht in der Vagotonie zumindest eine Begünstigung 
des exsudativen Verlaufes der Tuberkulose, wenn nicht das ursächliche 
Moment. Die experimentellen Versuche zeigten eine geringe Verlän- 
gerung des Lebens des tuberkulös infizierten Tieres unter Caleium- 
behandlung. Die Bewertung des therapeutischen Eingriffes ist zwar 
gerade bei der Tuberkulose schwer zu erfassen, und doch ist das Urteil 
nach den bisherigen Erfahrungen dahin zusammenzufassen, daß eine 
günstige Einwirkung des Calciums auf den Verlauf der Tuberkulose 
nicht erwiesen ist. Die Hemmung der Tuberkulinreaktion durch gleich- 
zeitige Caleiumzufuhr findet in der Auffassung der Reaktion als ana- 
phylaktisches Symptom des Tuberkulösen eine Erklärung. Brauchbar 
war dagegen die symptomatische Anwendung bei der Tuberkulose, 
so z.B. den hartnäckigen Subfebrilitäten, den Nachtschweißen. Die 
Hämoptöebehandlung durch Calcium wurde schon genannt ** #46), 

Schon 1920 wurde auf der hiesigen Abteilung das Calcium in der 
verschiedensten Form zur Behandlung der Nierenerkrankungen im 


6 R. Kaewel: 


Versuche herangezogen. In allen Fällen von Glomerulonephritis zeigte 
sich eine ausgesprochene Verschlechterung des Krankheitsbildes, vor 
allem eine starke Beeinträchtigung der Diurese. Bei den Nephrosen 
und Sklerosen war ein günstiger Einfluß des Caleiums nicht zu erkennen. 
Es stehen diese Befunde im Widerspruch zu den Erfolgen von Hülse, 
Porges und Pribram. Eine Bestätigung der hiesigen Beobachtungen 
ergeben die systematischen Erforschungen von Eisner und Falta, Depisch 
und Högler*”). 

Im allgemeinen bestätigten sich die guten Resultate des Caleiums 
in der Frauenheilkunde bei der Behandlung der prämenstruellen Schmer- 
zen ohne nachweisbare, anatomische Ursache, als Haemostypticum 
bei der Menarche chlorotisch anämischer Mädchen und bei den Menor- 
rhagien im Klimakterium. Es ist anzunehmen, daß das Calcium in diesen 
Fällen weniger unmittelbar blutstillend oder gefäßdichtend wirkt 
als indirekt durch das autonome System, da auch diese Symptome 
in Zusammenhang mit vagotonischen Zuständen gebracht werden®#). 

In der Therapie der Hauterkrankungen zeigte das Calcium neben 
der Herabsetzung der Überempfindlichkeit gegen chemotherapeutische 
Einflüsse (Jod und Chrysarobin) auch bei der Herabsetzung der Über- 
empfindlichkeit gegen Licht in einem Falle von Pruritus solaris cum 
lichenificatione (S’piethoff und Wiesenack) und in einem Falle von 
Hydroa aestivalis (Wiedemann) gute Resultate. Spiethoff und Wiesenack 
führten eingehende Untersuchungen durch, in welchen Krankheits- 
fällen die Caleiumdarreichung geraten erscheint. Sie warnen vor der 
Anwendung bei dem Ekzem, da bei latenter Anlage schon geringe Cal- 
ciummengen einen Ekzemausbruch auszulösen vermögen. Auf der 
hiesigen Abteilung fand das Calcium Verwendung bei der Urticarıa 
im allgemeinen mit gutem Erfolg, die Wirkung war aber schnell vor- 
übergehend. Ebenso fand das Calcium erfolgreiche Verwendung in 
der Behandlung der Pernionen. 

Auch bei Infektionskrankheiten wurde Calcium schon wiederholt 
versucht, konnte aber dann gewöhnlich durch vollwertigere Mittel 
ersetzt werden. Hervorgehoben sei die Anwendung bei dem Fleckfieber 
(Starkenstein). Benedikt gebrauchte das Calcium bei der Encephalitis 
epidemica erfolgreich gegen die Reiz- und Lähmungserscheinungen. 
Bei dem Scharlach kann Caleium als Mittel gegen die Infektion heran- 
gezogen werden, wie auch aus der Überlegung, daß die Symptome 
des Scharlachs als anaphylaktische Erscheinungen anzusprechen sind. 

In der Toxikologie wurde das Calcium bei der Bekämpfung der 
Säurevergiftungen, vor allem der Oxalsäurevergiftung, und der Chinidin- 
und Cocainvergiftung verwandt. Die klinische Beobachtung bestätigte 
weiterhin die experimentellen Untersuchungen, nach denen sich das 
Calcium als Antagonist des Arsens und Salvarsans zeigte. Die toxischen 











Zur Caleiumtherapie. 7 


Erscheinungen des Salvarsans bei salvarsanempfindlichen Patienten 
konnten durch vorangehende oder gleichzeitige Caleiumbehandlung 
unterdrückt werden. Schon bestehende Erscheinungen wurden gleich- 
falls günstig beeinflußt. Eine Abschwächung der antiluischen Salvarsan- 
wirkung war nicht feststellbar. Am zweckmäßigsten wird das Afenil 
(Caleiumchlorid-Harnstoff) als Lösungsmittel des Salvarsans benutzt. 
Sklarz zieht das Caleium in allen den Luesfällen als unterstützendes 
Mittel heran, in denen vegetativ neurotische Symptome als Ausdruck 
einer luischen Erkrankung des vegetativen Nervensystems im Vorder- 
grund stehen?!). 

Bezüglich der Applikationsweise zeigte sich in allen Fällen die intra- 
venöse Darreichung weit überlegen, vor allem, da eine schnelle Wirkung 
erzielt werden soll, die von dem Konzentrationsgefälle abhängig ist. 
Die orale Zufuhr wurde unterstützend angewandt, wenn eine länger- 
dauernde Wirkung des Caleiums angestrebt wurde. Die subcutanen 
und intramuskulären Injektionen verbieten sich durch die starken Reiz- 
erscheinungen, die das Caleium hervorruft. Versucht wurde auch die 
Inhalation. Hierüber liegen gute Erfolge von Ourschmann in der Be- 
handlung des Asthma bronchiale vor und einzelne gute Erfolge in der 
Kinderpraxis. Angewandt wurde die Inhalation auch bei der Lungen- 
tuberkulose. Von zahlreichen anderen Autoren wird diese Applikations- 
weisealsunzweckmäßigabgelehnt. Eigene Beobachtungen liegen nicht vor. 

Von den Calciumverbindungen findet das Caleiumchlorid und Afenil 
die ausgedehnteste Verwendung, weiter das Caleiumbromid und laktat. 
Im allgemeinen ist die Wahl des Anion nicht wesentlich mitbestimmend. 
Nach den Untersuchungen von sSieburg und Kessler war das Anion 
ohne Einfluß auf die Dauer des nach der Injektion noch nachweisbaren 
Caleiumionenüberschusses. Im Durchschnitt war nach einer halben 
Stunde ein Überschuß der zugeführten Caleiumionen, der etwa der 
sleichen ‚Menge der im Blut vorhandenen Calciumionen entsprach, 
nicht mehr nachweisbar. Eine Ausnahme bildete nur das Calcium 
Hypophosphit, dessen Ionenüberschuß am schnellsten verschwindet 
und das aus diesem Grunde nicht zu empfehlen ist. Auf der hiesigen 
Abteilung fand neben dem Afenil vorzüglich das 4 proz. Caleiumbromid 
Anwendung, ausgehend von der Überlegung, daß das Brom zentral 
angreifend den Erfolg des Calciums unterstützt?). 

Die Dosierungen schwanken zwischen 20 und 5 ccm einer 4—10 proz. 
Lösung. Je nach dem angestrebten Ziel kann mehrere Tage täglich 
oder jeden zweiten Tag eine Injektion verabfolgt werden. Bei Blutungen 
. wurden hier gewöhnlich I—2mal 20 cem einer 5—10%igen Lösung 
verabfolgt. Um eine längerdauernde Wirkung zu erzielen, fand Calcium 
in Verbindung mit Gelatine, Agar-Agar und Gummi Verwendung, 
im allgemeinen jedoch ohne befriedigende Resultate zu erreichen’?). 


S eR.'Kaewel: ı-° 


Toxische Schädigungen sind in der angegebenen Dosierung, die zur 
Erreichung destherapeutischen Zieles ausreicht, nicht beobachtet worden. 
Bei Überdosierung und schneller Injektion trat gelegentlich Kollaps 
ein." Meck beschreibt heftigste, ischiasartige Schmerzen nach der In- 
jektion von Afenil. Allgemein bekannt ist das brennende Hitzegefühl, 
das bei der Injektion auftritt, nach 2—3 Minuten aber bereits aufgehoben 
ist. Durch langsame Injektion kann dieses Symptom fast völlig um- 
sangen werden. 

Gegenindikationen gegen die Caleiumanwendung sind Nierener- 
krankungen, besonders die akute Glomerulonephritis. Weiter ist der 
permanente, arterielle Hochdruck, :der häufig mit einem erhöhten Blut- 
kalkgehalt einhergeht, und bei dem unter Calciumzuführung die 
eigenen Beschwerden meist zunehmen, als Gegenindikation anzusehen'?). 
Auch werden zu den Gegenindikationen Herzklappenfehler und Myo- 
karditis gerechnet, bei denen auf der hiesigen Abteilung keine schädi- 
senden Calciumwirkungen beobachtet wurden. Zu vermeiden ist Cal- 
cium bei fortgeschrittener Arteriosklerose, bei der im Gefolge der In- 
jektion oft starke Blutdruckschwankungen auftreten. 

Zusammenfassend ist über die therapeutische Verwendbarkeit 
des Calciums zu sagen: Dem Calcium ist es nach den bisherigen Er- 
fahrungen nicht vergönnt, zu heilen. Durch alleinige Kalkzuführung 
eine Kalkanreicherung oder längerdauernde Beeinflussung des Blut- 
kalkspiegels zu erzielen, gelingt nicht. Das Wesen der Calciumwirkung 
ist darin zu suchen, daß ihm in zahlreichen Fällen die Möglichkeit 
gegeben ist, vortreffliche, schnell einsetzende, symptomatische Erfolge 
zu erreichen. So. zeigt das Indikationsgebiet keine engen Grenzen. 
Es bietet ein buntes Bild aus der gesamten Pathologie. In manchen Fällen 
wird die Anwendung des Caleiums allein aus dem intuitiven Erfassen 
des Therapeuten:erfolgen, .und oft wird die erfolgreiche Caleiumwirkung 
einen Einblick in das pathogenetische Geschehen ermöglichen und 
Weg weisend und Weg ebnend für die systematische Therapie dienen. 


. Literatur. 


1) Starkenstein, Therap. Halbmonatshefte 1921, 18. — ?) Heubner, Klin. 
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Zur Caleiumtherapie. 9 


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24. — °%) Pribram, Dtsch. med.. Wochenschr. 1922, 31. — ?”) Turan, Med. Klinik 
1923, 24. — °®) Bernhard, Dtsch. med. Wochenschr. 1922, 41. — °?) Kelemen, 
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Med. Klinik 1923, 5. — *?) Stuber, Klin. Wochenschr. 1922, 49/50. — °?) Massint, 
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1922, 53. — *°) Mendl, Zeitschr. f. Tuberkul. 1921, 35. — **) Veilchenblau, Dtsch. 
med. Wochenschr. 1920. — ?’) Eisner, Dtsch. Arch. f. klin. Med. 1913, 5/6. — 
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schr. 1920, 34. — °°) Benedikt, Kongreßblatt f. d. ges. inn. Med. 1923, S. 375. — 
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exp. Pathol. u. Pharmakol. 1923, 96. — 5°) Götting, Dtsch. med. Wochenschr. 
1921, S. 955. ‘ 





(Aus der Med. Universitätsklinik Köln Augusta-Hospital [Direktor: Prof. Dr.Külbs)). 


Reiztherapie und quantitative Messung der Reizstärke an der 
roten Blutzelle. 


Von 


Dr. J. Vorsehütz, 
Assistent der Klinik. 


(Eingegangen am 22. November 1923.) 


Die spezifische Serenbehandlung der akuten Infektionskrankheiten 
ist in den letzten Jahren immer mehr in den Hintergrund getreten, an 
ihre Stelle trat die unspezifische, die mit dem von R. Schmidt eingeführten 
Begriff ‚„‚parenterale Proteinkörpertherapie“ und der von W. Weichardt 
eingeführten Bezeichnung „omnicelluläre Protoplasmaaktivierung‘, wo- 
durch also eine allgemeine Leistungssteigerung der Zellfunktionen ein 
tritt, eine neue Grundlage zur Bearbeitung dieses Gebietes bot, die ihrer- 
seits zahlreiche experimentelle Arbeiten zur weiteren Erforschung dieses 
Gebietes nach sich zog. 


Zu den ersten Autoren, die bewußt Proteinkörpertherapie angewandt haben, ge- 
hören Bier, Buchner, Hahn, Krehl und Matthes. Buchner konnte durch Proteininjek- 
tionen anderer Bakterienarten bei einer mit bestimmten Bakterien vorbehandelten 
Bakterienspezies vermehrte Temperatursteigerungen erzeugen. Krehl sah nach 
parenteraler Einverleibung von Albumosen und Peptonen Fieber auftreten, nach 
wiederholten Injektionen dauernd erhöhten Fieberanstieg, ebenso Matthes. Hahn 
spricht bei Injektion von Pestserum, in größeren Mengen angewandt, die Wirkung nur 
unspezifischen Faktoren zu. Eugen Fränkel hatte schon im Jahre 1893 Typhuskranke 
mit Typhuskulturen behandelt, ebenso Rumpf Typhuskranke mit Pyocyaneus- 
kulturen. Hierher gehören die Arbeiten von Kronecker, W. Roux, Abderhalden, 
Goldscheider, Doerr, v. Groeer u. a. m. Weichardt macht aber infolge der heute noch 
unfertigen Teilresultate in der experimentellen Forschung darauf aufmerksam, 
daß man sich hüten müsse, Teilresultate als Grundlage für die gesamte Therapie 
anzusehen und danach sogar Namen einzuführen wie „‚Kolloidoklastische Therapie, 
Kolloidtherapie, Osmotherapie, Reiztherapie usw.“ Meines Erachtens ist kein 
Name aufzufinden, so sagt Weichardt, welcher der Vielheit der Wirkungsmechanis- 
men bei der Proteinkörpertherapie gerecht werden könnte. Man kann diese 
höchstens im einzelnen studieren und sie durch treffende Definierungen und Be- 
merkungen für sich charakterisieren. Nach der Klarstellung des einzelnen gewinnen 
wir ein Bild des Gesamteffektes. Das Eine ist auf diesem Gebiete bisher ganz sicher, 
daß es prinzipiell falsch ist, eine einzige Ursache für die Vorgänge der Proteinkörper- 
therapie verantwortlich zu machen, genau so, wie es unrichtig war, sie von einem 
Symptom aus (Leukocytose, Antikörperbildung, Fieber, Entzündung usw.) be- 
urteilen zu wollen.“ 

Zur Erklärung der Wirkung dieser Eiweißkörper stützt Bier sich auf das 
Schultz-Arndtsche Grundgesetz, wonach kleine Dosen anregen, große lähmen. 








J. Vorschütz: Reiztherapie und quantitative Messung der Reizstärke usw. 11 


Trotzdem lassen sich die Früh- und Spätwirkungen, Fieber und Temperaturherab- 
setzung, Hyperämie und Entzündungshemmung, Gerinnungshemmung und Ge- 
rinnungsförderung, ferner Harnverminderung und Harnvermehrung, Hemmung 
und Förderung von Speichelsekretion und Schweißabsonderung, Bronchialsekret- 
steigerung und Verminderung des Auswurfs durch dieses Gesetz nicht erklären. (Cit. 
nach. H. Freund). 

Weichardt hat selbst darauf hingewiesen, daß erst unter der therapeutischen 
Einwirkung im Organismus derartiges Zutandsänderungen ausgelöst werden. 

Das Blut ist nun, da sich hier die Allgemeinwirkungen abspielen, am ehesten 
dazu geeignet, an ihm Zustandsänderungen nach Proteinkörperinjektionen fest- 
zustellen. Nach Sachs, Widal, Abderhalden, handelt es sich um physikalische 
Zustandsänderungen der Kolloide. Durch die Veränderung der Gerinnbarkeit des 
Blutes durch die Serum-Eiweißkörperverschiebungen, durch die Viskosität, durch 
beschleunigte Sedimentierung der Erythrocyten ist dieser Beweis erbracht. 

Meine Untersuchungen erstrecken sich ebenso, wie die von H. Freund 
und Gottlieb, auf die später eingegangen werden soll, auf das Blut, resp. 
die rote Blutzelle, um an ihr quantitativ die unspezifische Reizwirkung 
zu messen, neben experimenteller Berücksichtigung der Zustands- 
änderungen der Serumeiweißkörper, der Gerinnung und der Veränderung 
des weißen Blutbildes. Laufendes Klinikmaterial diente der experi- 
mentellen Forschung, und somit sollte gleichzeitig ein Überblick über die 
therapeutischen Erfolge und die Art der Behandlung, sowohl bei akuten In- 
fektionskrankheiten, wie auch beichronischen Arthritiden gegeben werden. 

Insgesamt kamen 331 Fälle zur Untersuchung, Fälle der verschie- 
densten Erkrankungen, darunter 72 Säuglinge mit Keuchhusten und 
Bronchopneumonien, 120 Lungentuberkulosen, 10 Carcinome, 24 akute 
rheumatische Gelenkerkrankungen, 24 croupöse Pneumonien, 5 exsu- 
 dative Pleuritiden, 10 chronische Arthritiden, 37 fieberhaften Bronchi- 
tiden, 12 Höhensonnen- und 7 Röntgenstrahlenbehandlungen. Bei den 
Bestrahlungen mit Höhensonne handelte es sich um exsudative Pleuri- 
tiden; bei den mit Röntgenstrahlen behandelten (2 Stunden) um kli- 
makterische Blutungen. 

Gleich zu Anfang meiner Arbeit untersuchte ich nur die Ver- 
änderungen des Gesamteiweißgehaltes des Serums und die Verschiebung 
der Albumin- und Globulinkomponenten und suchte dazu die Ver- 
änderung des weißen Blutbildes als Reaktionsindikator in Parallele 
zu stellen. Die Veränderungen der Senkungsgeschwindigkeiten der 
Erythrocyten wurden ebenfalls in einigen Fällen mit geprüft. An Ei- 
weißkörpern wurde Caseosan 2 ccm intravenös oder Aolan 5 ccm, Eigen- 
blut intramuskulär appliziert. 


I. Veränderungen des weißen Blutbildes. 
Seit langem weiß man, daß nach Eiweißinjektionen eine Leuko- 
cytose auftritt. Weichardt betonte ausdrücklich, daß diese auftretende 
Leukocytose nicht der unbedingte Ausdruck einer Gesamteffektstei- 


12 J. Vorschütz: 


serung des Organismus sei, sondern nur ein Symptom der unspezifischen 
Leistungssteigerung. R. Schmidt und P. Kaznelson sind derselben Ansicht. 
Schittenhelm und Weichardt konnten zeigen, daß die Werte der Leuko- 
cyten, der Temperatur und der Stickstoffausscheidung sich schon nach 
der ersten Injektion von Kolieiweiß bedeutend erhöhten. Die Autoren 
nahmen an, daß bei parenteralem Abbau von Eiweißkörpern verschie- 
dener Struktur ganz differente Abbauprodukte auftreten, deren Wirkung 
sich in verschiedener Weise auf den Organismus äußert. Wir wissen nun, 
daß die weißen Blutzellen nach Eiweißinjektionen vermehrt auftreten, 
sogleich nach der Einspritzung aber vermindert; ferner ist es eine Tat- 
sache geworden, daß gesunde Gewebe viel weniger auf Reize reagieren 
wie sensibilisierte oder ein sensibilisiertes Organ. Ähnliches sagen 
Meyer, Gottlieb in dem Lehrbuche der experimentellen Pharmakologie 
(4. Aufl. S. 634). Sie führen das Beispiel von einem trächtigen und nicht- 
trächtigen Uterus an, daß der trächtige auf Reizung kontrahierend, der 
letztere erschlaffend reagiere, und ebenso wirken Adrenalin und Pilo- 
carpin in dem einen Zustande des Uterus kontrahierend, in dem anderen 
erschlaffend (Cushny). Und weiter heißt es: ‚Was hier von Muskelzellen 
gesagt ist, gilt in entsprechender Weise für alle Zellen des Organismus“. 
Besonders deutlich tritt dies Verhältnis ferner an den Reflexapparaten 
des Zentralnervensystems, z. B. dem Respirationszentrum, auf, das im 
übererregbaren Zustande schon durch kleinste, sonst kaum wirksame 
Gaben von Morphium, oder dem Wärmeregulationszentrum, das im 
fiebererregten Zustand durch kleine, am Normalen ganz unwirksame 
Mengen antipyretischer Mittel zur Norm zurückgeführt wird. Von 
vornherein wird man annehmen dürfen, daß in allen lebenden Zellen 
die einstweilen nicht erklärbare Tendenz besteht, ihre normale funktionelle 
Müttellage festzuhalten, und wenn einmal nach der einen oder anderen 
Seite aus ihr abgedrängt, wieder zu ihr zurückzukehren. 

Von 47 Fällen, bei denen die Veränderung der weißen Blutzellen 
nach Eiweißinjektionen beobachtet wurden, will ich 15 tabellarisch 
angeben (Tab. 1). 

Aus der Tabelle 1 ergibt sich, daß nach 2 Stunden eine Leukocytose 
resp. Hyperleukocytose eintrat. Bei den 'Tuberkulösen, wo ich nur 
l cem Caseosan intravenös injizierte, trat immer eine sehr starke Reak- 
tion auf, die hier und da von Lymphocytose begleitet war, während 
Normale kaum auf 2 ccm Caseosan oder Aolan intramuskulär ansprachen. 
Es braucht allerdings nicht jeder Temperaturanstieg Hyperleukocytose 
zur Folge zu haben, wie ich an Bronchitiden und Pleuritiden nachweisen 
konnte. v. Jaschke berichtet über ebensolche Befunde. Die vorher 
erörterten theoretischen Erwägungen finden also durch diese Beweis- 
führungen ihre vollständige Stütze. Mit meinen Untersuchungen stimmt 
die experimentelle Untersuchungsarbeit dieser Art von J. Weichsel 














































































































Reiztherapie und quantitative Messung der Reizstärke an der roten Blutzelle.e. 13 
Tabelle 1. 
Vor der Injektion 2Std. nach der Injektion 
were; |: IE l&| 4.1. 
Fall Krankheit Proteinkörper Ge- E = < g 53 Ge- 3 3 & S S 
amt | S|E|3 12 12°] me 55/5 15 88 
Leukoe!% |2| 8 r Leukoe. % | 9 | 3 
% |) % 1% | % |-% - 1% l|% 1% |% 1% 
1 | Tbe. pulm. Caseosan, | 3000 60130|2 | 8] O0 11560016530] 5 0.0 
er et lccm intraven. | Fr; | By 
2 \ -Tbe. pulm. Üaseosan, 9000 651251 3 | 6| 1-120000163 12818 | 10 
EEE .. |.1 ccm intraven. PRTERRR- I-- Bi 
3 | Tbe. pulm. Uaseosan, 10400|55|31/ 4 | 9| .1 [19600/6234 4 | 0.0 
BR - \.l cem .intraven. Kir. | 
4 | Bronchitis Caseosan, -6500.70120| 2] 8| 0 | 9200178|17|14 | 1|.0 
| lcem intraven.| | 
5, Bronchitis | _Caseosan, 1000770 12172’ 77 °1°1 8900| 79,10| 27 2). 1 
| l ccm intraven. | _ 
6 | Bronchitis | Caseosan, | 6800 7219| 2, 7| 0 [10200/68/22|6 | 4 0 
| l ccm intraven. | 
7 \ Pneumonie Eigenblut, 9760158125] 3 |10| 4 [13800|76/19)5 | 0| 0 
Inn! 20ccmintramusk.| eh ir # 
8 | Pneumonie Eigenblut, 9300160120) 4 |1| 5 115400170123) 7. 0|. 0 
| 20 cemintramusk.]| _ | 
9 \Polyarthritis,  Eigenblut, 8900172121] 2 | 3) 2 [13400/65|28|.5 |.2| 0 
rheum. acuta |20 cemintramusk. | 
10 | Arthritis  Caseosan, 6200|65125/ 3 | 5) 2 | 8600/45 40 3 112 0 
chron. 2 ccmintravenös | | x | 
11 | Emphysem Caseosan, 6400170/2412 | 3| 1 | 9800179116) 2 | 3| 0 
| 2 ccm inrravenös | 
12 | Emphysem Üaseosan, 68007212313 | 1 1 | 840018011811 0 1 
| 2 ccmintravenös 
13 normal Caseosan, 6000/7512012 | 2| 1 | 6100/76/22| 1, 1/ 0 
2 ccm intravenös h | 
14 | - normal Oaseosan, 58001731221 3 | 2) 0 | 5700174122) 2 | 1| 1 
2.ccm intravenös | 
15 normal Caseosan, 6200/76123] 1 | 0| O0 | 6250/76123] 1 | 0, 0 
2 ccm intravenös 


voll und ganz überein, und ich teile seine Auffassung in der Dosverung 
bei der Therapie dahin, daß man keine zu starken Reize setzen soll bei 
der Tuberkulose, da ich sehr starke Temperaturanstiege und Hustenreize 
eintreten sah. Bekommt man eine Hyperleukocytose, d. h. mehr als 50% 
Vermehrung, so tritt Temperaturanstieg ein wie bei den Lungentuber- 
kulösen, was bei letzteren nicht erwünscht ist, bei Bronchitiden aber und 


'anderen Entzündungen, wo man einen starken Reiz ausüben will, ist 


eine derartige Hyperleukocytose nur erwünscht und man kann bei den 
ganz akuten schmerzhaften, mit Fieber einhergehenden Bronchitiden 


14 J. Vorschütz: 


und Pleuritiden 3cem Caseosan intravenös einmalig verabfolgen. 
Messungen 5 Minuten nach der Injektion hatten meistens Leukopenie 
zur Folge. 

II. Serumeiweißkörperveränderungen. 

In der ausführlichen Arbeit über Hyperproteinämie nach Eiweiß- 
injektion von Berger finden wir kurvenmäßig die Veränderung des 
Gesamtproteins, sowie der Albumin- und Globulinkomponenten darge- 
stellt. Berger findet, daß die pathologische Proteinvermehrung nach 
Eiweißinjektionen grundsätzlich in bestimmter Reihenfolge und zwar 
in den Hauptperioden mit verschiedener qualitativer Zusammensetzung 
abläuft und zwar derart, daß bei schematischer kurvenmäßiger Skizzie- 
rung auf einen Fibringlobulingipfel ein Globulin- und ein Albumingipfel 
folgen. Da man nun nach Proteininjektionen immer zuerst Globulin- 
vermehrungen auftreten sieht, dann erst- Albuminsteigerungen, so könnte 
man wohl annehmen, daß das dem Zellprotoplasma gleichkommende 
Globulin am ehesten vermehrt im Serum auftritt. Nach Angabe einiger 
Autoren tritt noch vor der Globulinvermehrung eine Fibringlobulin- 
vermehrung auf. Moll berichtete 1903, daß nach Injektionen von 
Protein und Peptonen der Fibrinogengehalt des Blutes ansteigt, Lang- 
stein und Meyer 1904, daß bei experimentellen Infekten Fibringlobulin- 
und Serumglobulinvermehrung Hand in Hand gehen. Halliburton (1893) 
stellte im Blutplasma bei akuten Entzündungen (Pneumonie, Pleuritis, 
Polyarthritis, rheumatica, Erysipel usw.) Fibrinogen- und Serum- 
globulinvermehrung fest. Hierher gehören die zahlreichen Arbeiten, 
die über das Senkungsphänomen der Erythrocyten entstanden sind, 
wo ausgeführt wird, daß in der Gravidität bei Carcinom, bei Tuberkulose, 
den verschiedenen Blutkrankheiten und allen Entzündungen Globulin- 
vermehrungen auftreten, die ihrerseits eine beschleunigte Sedimentierung 
bedingen. Die Vorstellung, daß das Fibrinogen allein als maßgebender 
Faktor infolge seiner Vermehrung bei der beschleunigten Senkung ange- 
sehen wurde, ist wohl heute abgetan. Am einfachsten setzt man zu 
dieser Beweisführung die Sedimentierung nur mit defibriniertem Blute 
an, und man sieht, daß die Senkung nur wenig verringert ist gegenüber 
der mit Plasmaflüssigkeit (Vorschütz, Johann und Josef). 

Untersuchungen über Serumproteinveränderungen nach Eiweiß- 
injektionen wurden von mir an 147 Patienten vorgenommen und zwar 
waren es wiederum Erkrankungen aller Art. 

Es wurde der Gesamtproteingehalt des Serums, der Gesamtglobulin- 
gehalt und das Albumin nach der Makrokjeldahlmethode. Die Tren- 
nung der Serumeiweißkörper wurde durch abgesättigte Magnesium- 
sulfatlösung bewirkt. Alle Bestimmungen wurden doppelt angesetzt 
und nur gut übereinstimmende Resultate verwendet. Raummangels 
wegen kann ich nur 25 tabellarisch angeben (Tab. IT). 








Reiztherapie und quantitative Messung der Reizstärke an der roten Blutzelle. 




































































15 
Tabelle II. 
, vor der Injektion 2 Std. nach der Injektion 
ia Diagnose en Glob. N.) Alb. N. Proteinkörper N, Glob.N. | Alb.N. 
g g g g g g 

1 normal 1,29 | 0,49 ı 0,80 | 2ccm Caseosan | 1,22 | 0,49 | 0,73 
intravenös 

2 normal 1,01 0,42 | 0,59 | 2cem Caseosan | 1,05 | 0,42 | 0,63 
intravenös 

3 normal 1,26 0,70 | 0,56 | 2cem Caseosan | 1,20 | 0,54 0,66 
intravenös 

4 normal 1,32 0,52 | 0,80 | 2ccm Caseosan | 1,30 | 0,82 | 0,48 
intravenös 

5 normal 1,24 0,48 | 0,76 | 2cem Caseosan | 1,25 | 0,45 | 0,80 
intravenös 

6 | Bronchitis 1,16 0,70 | 0,36 Aolan 5 ccm 1,28 | 0,82 | 0,46 
intramusk. 

7 || Bronchitis 1,08 0,56..1: 0,52 Aolan 5 cem 1,20 | 0,67 | 0,53 
intramusk. 

8 || Bronchitis 1,15 0:63 F 0,52 Aolan 5 ccm 1,05 | 0,63 | 0,42 
intramusk. 

9 || Pleuritis exs. 1 0,58 | 0,54 Aolan 5cem | 1,18 | 0,72 | 0,46 
| intramusk. 

10 || Pleuritis exs. 1,42 0,73 | 0,69 Aolan 5 ccm 1,86 | 1,04 | 0,82 
intramusk. 

11 | Tbe. pulm. 1,05 0,63 | 0,42 Aolan 2ccm 1,15 | 0,63 | 0,52 
intramusk. 

12 | Tbe. pulm. 1,22 0,70 | 0,52 | Aolan 2ccem 1,19 | 0,84 | 0,35 
intramusk. 

13 | Tbe. pulm. 1,12 0,60 | 0,52 Aolan 2 ccm 1,08 | 0,70 | 0,38 
intramusk. 

14 Angina 1,61 0,42 | 0,59 | Aovlan 2ccm 1,05 | 0,42 | 0,63 
intramusk. 

15 || Pneumonie 1,26 0,70 | 0,56 |Eigenblut 20 cem| 1,12 | 0,91 | 0,21 
intramusk. 

16 | Pneumonie 1,30 0,65 | 0,65 |Eigenblut 20 cem| 1,20 | 0,85 | 0,35 
intramusk. 

17 | Pneumonie 1:12 0,70 | 0,42 |Eigenblut20 ccem| 1,22 | 0,87 | 0,35 
intramusk. 

18 |; Pneumonie 1,32 0,60 | 0,72 |Eigenblut 20 cem| 1,34 | 0,85 | 0,49 
intramusk. 

19 || Ca ventric. 1,45 0,82 | 0,63 | Caseosan 2 ccm | 2,31 | 0,91 | 1,40 
intravenös 

20 | Ca oesoph. 1,26 0,56 | 0,70 | Caseosan 2cem | 1,33 | 0,63 | 0,70 
intravenös 

21 | Polyarthritis 1,32 0,52 | 0,80 [Eigenblut 20 cem| 1,40 | 0,76 | 0,64 
rheum. acuta intramusk. 

22 | Polyarthritis 1,24 0,63 | 0,61 |Eigenblut 20 cem| 1,32 | 0,80 | 0,52 
rheum. acuta intramusk. 

23 | Tbe. perit. 1,20 0,72 | 0,48 | Caseosan 1 cem | 1,40 | 0,90 | 0,50 
intravenös 

24 | Tbe. perit. 1,40 0,84 | 0,56 Caseosan l1cem| 1,47 | 1,05 | 0,42 
Intravenös 

25 Arthritis PHL2S 0,64 | 0,64 | Caseosan 2cem | 1,30 | 0,70 | 0,60 
chron. intravenös 





16 J. Vorschütz: > 


Diese Tabelle zeigt uns, daß der Gesamtproteingehalt hier und da 
vermehrt ist, einmal mit starker Globulin-, dann aber auch mit Albumin- 
vermehrung einhergehend. Besonders stark tritt die Gesamtprotein- 
und Albuminvermehrung bei Fall 19 hervor, der nach 24 Stunden ge- 
messen wurde; wahrscheinlich handelt es sich hier um Tumorzerfall 
wenn er auch nicht durch die Caseosaninjektion bedingt zu sein braucht. 
Die Befunde von Loeper und Tonuet, daß nach 'Tumorzerfall absolute 
Globulinvermehrungen auftreten können, konnten von mir bestätigt 
werden. Doch die Gesamtproteinvermehrungen lassen daran denken, 
daß nicht nur sekundär durch Eindickung des Serums eine höhere 
Konzentration erreicht wird, sondern daß durch Abgabe bestimmter 
noch nicht näher definierter Gewebssäfte eine derartige Eiweißan- 
reicherung bedingt werden kann. Für eine Proteinabnahme könnte 
man einen Wasserschub verantwortlich machen infolge Gefäßdurch- 
lässigkeit, doch liegen darüber noch keine näheren Beweise vor. Daß 
nur eine Serumverdünnung resp. Gesamtproteinabnahme vorkommt, 
habe ich in mehreren Fällen gesehen, wie auch aus der Tabelle ersicht- 
lich. Relative Globulinvermehrungen auf Kosten des Albumins sind 
längst bekannt, und ist die Globulinvermehrung bei entzündlichen 
Prozessen am häufigsten ; Berger spricht nicht von einer Gesamtprotein- 
abnahme und glaubt, bei der Proteinvermehrung handle es sich um 
Zelleiweiß, das genetisch verschiedener Natur sei, d. h. Eiweiß, das ein- 
mal dem Globulin, dann auch dem Albumin entspreche. Er findet bei 
seinen Tierversuchen stärkste Globulinvermehrung, wo die proteinogene 
Kachexie und Gewichtsabnahme am ausgesprochensten waren, woraus 
man schließen könnte, daß durch Proteininjektionen eine Einschmelzung 
des Zelleiweißes bedingt werde. B. findet aber auch ebenso, wie Moll, 
Hurwitz und Meyer Albuminabnahme bei noch unverändertem Körper- 
gewicht und Rest-N. Daraus muß man folgern, daß die Globulinver- 
mehrung das Primäre ist, unabhängig vom Albumin. 

Mit diesen Umsetzungen. des Serumproteins hängt eng zusammen 
die Blutplättchenfrage. H. Freund macht auf die Arbeit jener Ameri- 
kaner aufmerksam, die Extrakte aus Serum, Blutkuchen und Neben- 
nierenrinde herstellen und mit ihnen Vasokonstriktion und am Frosch- 
herzen digitalisartige Wirkung (auch systolischen Stillstand) bekommen 
haben. Da nun von den Giftwirkungen des Serums die Shockauslösung 
zunächst in Frage kommt, so wäre es denkbar, daß Serum-, und Digi- 
talis zusammen z. B. bei einer Endokarditis Herzvergiftung herbei- 
führen könnten. Die Giftwirkung des Serums ist nach Dittler an 
die Gerinnung geknüpft. Blutkörperchenfreies Hirudin- oder Oxalat- 
plasma sind wirkungslos. Durch Dialyse, gelang es Dittler die beiden 
Wirkungen zu trennen. Das Dialysat wirkte rein erregend, der Rückstand 
zeigte bei genügend langer Dialyse nur die Hemmung. Auf Grund dieser 


Reiztherapie und quantitative Messung der Reizstärke an der roten Blutzelle.. 17 


Tatsachen versuchte H. Freund, die Blutplättchen aus dem Blute zu 
isolieren, der frische Blutplättehenbrei aus Katzenblut wurde auf den 
Katzendarm angewandt, und es stellte sich heraus, daß nach einigen 
Minuten vollständige Hemmung der Pendelbewegungen eintrat, die nach 
20 Minuten aber wieder aufhörte; es kann aber auch umgekehrt starke 
Erregung auftreten. Mit dem Blutplättchenbrei kann man also die- 
selben Wirkungen erzeugen, wie Dittler mit dem definierten Blute nach- 
wies. Infolge dieser rein pharmakodynamischen Wirkungen am Darm 
kann man wohl annehmen, daß die Proteinkörperwirkungen am Nerven- 
system angreifen. Über das Auftreten und Verschwinden der Blut- 
plättehen bei Infektionen sind die Studien noch im Werden begriffen. 
v.d. Velden wies nach, daß nach Proteinkörperinjektion die Blutge- 
rinnung beschleunigt wird und daß die dabei entstehende Thrombo- 
cytenvermehrung den Gefäßendothelien entstammt. Nach Maxxner 
und Decastello tritt nach Proteinkörperinjektion Plättcehenvermehrung 
ein, nach anderen Verminderung. 

Wir haben uns sodann auch mit dieser Frage beschäftigt aut ver- 
sucht, die Blutplättchenanzahl 5 Minuten nach Eiweißinjektionen, wo 
bisher von Thrombopenie Mitteilung gemacht wurde, und ebenso nach 
2 Stunden, wo Thrombocytenvermehrung eintreten soll, zu bestimmen. 
Unsere Untersuchungen sind jedoch noch zu spärlich, als daß wir daraus 
schon festliegende Resultate machen könnten. Die Zählungen wurden 
nach der Methode von Spitz vorgenommen. 


Tabelle III. 















































Haemo- Blutplättehen 
Krankheit Proteinkörper Bu Erythro- En a Task, 5 Min. I 2 Std. 
2 ceyten | jection | post | post 
Bronchitis . . . | 2 cecm Aolan in- 90 4000000 | 160800 | 124800 147600 
tramuskulär | 
Bronchitis . ' Caseosan 1 ccm 85 4520000 | 112300 | 142400 | 108600 
| intravenös | 
Dysenterie . . . | Caseosan 1 cem | 90 | 3250000 | 151800 | 120800 | 200000 
| intravenös 
Chron. Ischias . || Caseosan ‘1 ccm 90 4000000 | 104000 | 85280 | 105000 
intravenös 
Aorteninsuff. . . | Caseosan 1 cem 80 4500000 | 170000 | 130000 | 150000 
| intravenös | 
Sepsis . . 12 cem (Caseosan | 90 | 5260000 | 147000 | 132000 | 198000 
Erysipel . . . . | 2 cem Caseosan | 75 | 4100000 | 209860 | 118446 | 244440 
Polyneuritis al- | | 
eoholica ... . |'2 cem Üaseosan 75 4200000 | 225680 | 127080 | 280000 
Erythema solare | 2 ccm (Caseosan | 85 | 4880000 | 139200 | 53300 | 132240 


Diese Tabelle ergibt keineswegs eindeutige Resultate, daß kurz nach 
‘der Injektion eine Thrombopenie, 2 Stunden später eine 'Thrombo- 
Z. f. klin, Medizin. Bd. 100. 2 


18 J. Vorschütz : 


cytenvermehrung auftritt. Man kann noch nicht sagen, ob bei einzelnen 
Erkrankungen eine Regelmäßlgkeit dieses Phänomens besteht oder ob 
die Methode selbst nicht exakt genug ist, wirklich vorhandene 'Throm- 
bocyten als solche einwandfrei erkennen zu lassen. Weitere Unter- 
suchungen hierüber sind im Gange. 

Eine weitere Folge der Proteininjektionen bedeutet die spezifische 
Agglutinintitererhöhung. So konnten Salomon und Madsen an Pferden, 
welche lange gegen Diphtherietoxin immunisiert worden waren, be- 
obachten, daß ihr abgesunkener Antitoxingehalt nach Injektion von Pilo- 
carpin eine deutliche Steigerung erfuhr. Das Maximum des Antitoxin- 
gehaltes ging parallel der Vermehrung der Speichelsekretion. Rostoski 
fand bei Kaninchen, die mit Typhuskulturen behandelt worden waren, 
daß nach Pilocarpininjektionen eine Vermehrung der Agglutinine 
im Blut auftrat. Hierdurch läßt sich beweisen, daß sensibilisierte Tiere 
auch durch Nichteiweißkörper eine erhöhte Antikörperbildung be- 
kommen. Ebenso tritt nach Injektion von konzentrierter Kochsalz- 
lösung, Jod, Quecksilberpräparaten, Nucleinsäure und Arsenverbin- 
dungen Steigerung der Aglutinine, der Immunkörper und der Hämolysine 
auf. Obermeyer und Pick erregten bei Tieren, die 1/, Jahr nicht immu- 
nisiert waren, nach Injektion von 5—1l0proz. Peptonlösung neue 
Präcipitinbildung. Konradı und Bieling sahen durch verschiedene 
unspezifische bakterielle Reize (Coli, Diphtherie, Dysenterie) eine Er- 
höhung des Agglutinintiters auftreten. Aus diesem Grunde weisen die 
Autoren darauf hin, daß man bei der Beurteilung der Widalreaktion 
gegenüber solchen Individuen, die früher einmal immunisiert worden 
waren, vorsichtig sein soll, da der abgesunkene Agglutinintiter durch 
derartige Reize weiter ansteigen könne. Nach den Beobachtungen 
Muchs und seiner Mitarbeiter spielt die Erhöhung des Antikörper- 
gehaltes nach Lichteinwirkung eine große Rolle. Weichardt und Schrader 
fanden bei immunisierten Tieren eine deutliche Erhöhung des Agglu- 
tininspiegels nach Injektionen von Deuteroalbumosen und Natrium- 
nucleinicum. An nicht vorbehandelten Tieren ist dagegen kein besonders 
hoher Anstieg des Agglutiningehaltes festzustellen. AM. Löhr fand nach 
Einverleibung unspezifischer Reizkörper eine erhöhte Agglutinin- 
anschwemmung bei hochfebrilen Typhusfällen, nach 2—3 Stunden 
jedoch fiel dieser Reiztiter wieder ab, Rekonvaleszenten und Bacillen- 
träger hielten den Titer über Tage hinaus. A. Frisch und, Starlinger 
sahen nach Zufuhr sowohl spezifischer wie unspezifischer Reizkörper 
bereits nach 2—4 Stunden eine beträchtliche Vermehrung des Fibri- 
nogens im Blutplasma auftreten, das auch nach einigen Tagen noch 
vermehrt vorhanden blieb. Zu ähnlichen Resultaten kamen Moll, 
v. d. Velden, Loewy und Togawa, Madrakowski und Orator, Tokuyi. 
W. und H. Löhr stellten durch Injektion von Reizstoffen (Serum, Caseo- 








Reiztherapie und quantitative Messung der Reizstärke an der roten Blutzelle. 19 


san, Tuberkulin und Kollargol) eine beschleunigte Sedimentierung der 
Erythrocyten fest analog den betreffenden Umsetzungen der Serum- 
eiweißkörper, wie bereits erwähnt. Schon 1921 haben Joh. und Jos. 
Vorschütz über beschleunigte Blutkörperchensenkung nach Eigenblut- 
injektionen berichtet (Mitteilungen aus den Grenzgeb. 1922). Da aus 
meinen früheren Mitteilungen über Blutkörperchensenkung hervorgeht, 
daß die unspezifische Gruber-Widalreaktion auf demselben physiko- 
chemischen Moment beruht wie die Blutkörperchensenkung, so lag es 
für mich nahe, nun auch nach solchen Eiweißinjektionen an Menschen 
Blutkörperchensenkung und Gruber-Widalreaktion in Parallele zu setzen. 
Ich will zusammenfassend hierüber mich dahin äußern, daß nach Eiweip- 
 injektionen sowie nach Aderlässen von etwa 200—300 com eine unspe- 
zifische Agglutinintitererhöhung auftritt, der eine Blutkörperchensenkungs- 
beschleunigung fast immer parallel geht. Wenn also Blutkörperchen eines 
betreffenden Individuums in etwa 40 Minuten sedimentierten und un- 
spezifische Gruber-Widalreaktion für Y-Ruhr-Bacillen 1:200 ergaben, 
so sedimentierten die Blutkörperchen nach intravenöser Injektion von 
2 com Caseosan in etwa 30—25 Minuten oder noch früher, und nun trat 
positive Agglutination in diesen Seren ein für Para-B und Typhusbacillen. 
Diese Befunde der unspezifischen Widalreaktion, die parallel der Blut- 
körperchensenkungsreaktion gehen, sagen uns, daß man mit der Ver- 
wendung der Bakterienagglutination diagnostischerweise sehr vorsichtig 
sein muß. Hier möchte ich auf einen Fall von anaphylatischem Schock 
aufmerksam machen, den W. Löhr beschreibt. Löhr findet eine völlige 
Aufhebung der Blutkörperchensenkung, die nach Verschwinden des 
Schocks einige Tage wieder stark beschleunigt auftritt. L. glaubt, daß 
durch die Schockwirkung eine Globulinfällung des Fibrinogens auftrete 
und daß infolge von starker Gefäßdurchlässigkeit eine Globulinverar- 
mung des Blutplasmas stattfände. In Analogie zu diesem Falle möchte 
ich eine Schwangerschaftseklampsie setzen. Die Blutkörperchen- 
senkung sistierte völlig; ich untersuchte die Eiweißfraktionen im Serum 
nach Kjeldahl und fand das Verhältnis des Albumins zum Gesamt- 
globulin wie 1:2, also ziemlich starke Globulinvermehrung. Ferner 
untersuchte ich den Eiweißgehalt der roten Blutzellen und fand über- 
raschenderweise nur 20%, hat doch der normale 28—32%. Einige 
Nabelschnurblute, die ich zu untersuchen Gelegenheit hatte, wiesen auch 
nur 20% Eiweiß auf. In der Zeitschrift für klinische Medizin %6, 
Heft 4/6, 1923, habe ich kürzlich auf die Bedeutung des Eiweißgehaltes 
der Erythrocyten für die Sedimentierung hingewiesen. Ich möchte 
nun den damals gefundenenen Blutkörpercheneiwerßgehalt der Eklamp- 
tischen für die schlechte Sedimentierung verantwortlich machen. Die 
Blutkörperchensenkung der Eklamptischen 2 Tage nach dem Partus 
erfolgte sehr schnell und es ergab sich nun ein Blutzelleneiweißgehalt von 
9% 


20 J. Vorschütz: 


30%. Leider hatte ich bisher keine Gelegenheit, bei einem Schock den 
Blutkörperchenwert festzustellen, aber ich glaube, daß die Vorgänge 
identisch sein könnten. Biologisch scheint mir diese Tatsache sehr 
interessant; man sieht, daß bei solchen Fällen, wo eine ausgesprochene 
Hypertonie des Organismus vorliegt, auch schon die rote Blutzelle, 
an der allein von den lebenden Zellen man dieses Phänomen studieren 
kann, Insuffizienzerscheinungen aufweist, die sowohl durch Erregungs- 
wie durch Lähmungsvorgänge am autonomen Nervensystem, in welcher 
Form weiß man noch nicht, ihre Erklärung finden dürften. H. Löhr 
sah nach Adrenalininjektionen, wodurch also der Sympathicus gereizt 
wird, Agglutinintitererhöhung, aber auch ebenso hier und da nach 
Pilocarpininjektionen. Salomon und Madsen fanden nach Pilocarpin- 
injektionen eine Steigerung des Diphtherie-Antitoxingehaltes und 
meine allerdings nur wenigen Untersuchungen dieser Art mit Adre- 
nalin und Pilocarpin ergaben geringe Blutkörperchensenkungsbeschleu- 
nigung in beiden Fällen. Wenn KRosenthaler und Holtzer auf Grund 
ihrer Untersuchungen fanden, daß nach Adrenalininjektionen bei 
immunisierten Menschen eine Agglutinintitererhöhung auftrat, nach 
Pilocarpin dagegen eine Hemmung eintrat, so möchte ich mich der 
Meinung Weichardts anschließen, daß wahrscheinlich eine Überdosie- 
rung stattgefunden hat. Die niedrigen Zelleiweißwerte der roten Blut- 
körperchen bei Neugeborenen könnten vielleicht von dem noch 
wenig differenzierten autonomen Nervensystem abhängig gemacht 
werden. 

Wir haben an unserer Klinik die Gerinnung mit dem Koagulometer 
(Duke) gemessen und konnten in 25 Fällen etwa 2 Stunden nach der 
Injektion (2 cem Caseosan intravenös) eine Gerinnungsbeschleunigung 
konstatieren. Der normale Mensch weist mit dem Koagulometer nach 
Duke eine Gerinnung seines Blutes in 6—9 Minuten auf, entzündlich 
Kranke und Carcinomatöse können eine Gerinnung in 4—6 Minuten 
haben. Bei unseren Fällen handelte es sich um Tuberkulose und Bronchi- 
tiden, und ich fand, daß die Gerinnung nach Eiweißinjektionen um 
2—3 Minuten abgekürzt war. Man sieht also, daß durch die sogenannte 
Reiz- oder Proteinkörpertherapie ein Komplex von Symptomen auftritt, 
und daß man nicht ein einziges Symptom als Ausdruck dieser unspe- 
zifischen Therapie ansehen darf. Weichardi führt mit Recht das Wort 
„Protoplasmaaktivierung‘ ein und brachte durch seine zahlreichen 
experimentellen Forschungen Dokumente für die nach Eiweißinjektion 
entstehenden Leistungsteigerungen ganzer Organismen und Organe. 
Diese Leistungssteigerungen sah er als omnicelluläre Wirkungen an 
und machte dafür richtige Dosierung des Proteins und seiner Spalt- 
produkte verantwortlich. Im Jahre 1912 stellten Schittenhelm und 
Weichardi folgendes Schema auf: 








Reiztherapie und quantitative Messung der Reizstärke an der roten Blutzelle. 21 


ns 


Natives Eiweih. 





Einfaches Zusammengesetztes 
unwirksam unwirksam 
Hochmolekulare schwer dialysable Diaminosäurereiche Paarlinge 
Spaltprodukte von Antigencharakter (Histone Protamine) 
wirksam wirksam 
| 
x 
Dialysierbare Spaltprodukte von ge- Niedere Spaltprodukte (Protone) 
ringerer Molekulargröße 
Monamino säure- Diaminosäure- wenig wirksam 
reiche reiche (Kyrine) 
wenig wirksam wirksam « — 
Monoaminosäuren Diaminosäuren 
unwirksam unwirksam 
Monoamine usw. Diamine usw. 
wirksam wirksam 


Wie nun diese so entstehenden Spaltprodukte beim Eindringen in 
die Blutbahn wirken, ob chemisch oder physikalisch, darüber sind die 
Akten noch nicht geschlossen. Doch steht fest, daß nach Einverleibung 
höher molekularer schwer dialysabler Abbauprodukte des Eiweißes, 
wenn sie in großen Mengen kleinen Tieren subcutan injiziert werden, 
Lähmungen auftreten, wie Verlangsamung der Atmung, Absinken der 
Temperatur, herabgesetzter Stoffwechselumsatz. In kleineren Mengen 
dagegen injiziert wirken diese Spaltprodukte in der richtigen Dosis 
sofort leistungssteigernd auf alle Organe, die man heranzieht. Dieselben 
Lähmungssymptome können auch auftreten nach wiederholten Injek- 
tionen verschiedener chemischer Substanzen in kleinen Dosen. Be- 
handelt man die Tiere mit Eiweiß vor, so bleiben diese Lähmungser- 
scheinungen aus. Dagegen können Tiere durch wiederholte Injektionen 
mit chemischen Reagentien gegen spätere Einspritzungen von größeren 
Mengen hoch molekularer Eiweißspaltprodukte widerstandsfähig ge- 
macht werden. Von solchen Chemikalien eignen sich, wie Weichardt 
zeigen konnte, kolloidales Palladium oder Blausäure, Methylenblau 
u.a. m. Die oben besprochenen wirksamen Eiweißspaltprodukte sollen 
nach Dall und Baylıss am Ort der Entstehung durch Capillarenerwei- 
terung die Durchblutung vermehren. Henderson und Loewi wiesen das 
für die Speicheldrüsen nach. Daß durch Eiweißinjektionen die Fer- 
mentbildung des Blutes angeregt wird, haben Martin, Jakoby, Euler und 
Neubert gezeigt. Auf die kolloidchemischen Vorgänge hat in letzter Zeit 
Sörensen hingewiesen. So konnte M. Siegmund in jüngster Zeit beweisen, 


22 J. Vorschütz : 


daß bei mit Serumtoxinen und Antitoxinen sensibilisierten Tieren die 
Zahl der tätigen Sternzellen in der Leber beträchtlich höher ist als bei 
unbehandelten Tieren, und daß damit die Speicherungsmöglichkeit 
auch grobdisperser Stoffe infolge Erhöhung der Oberflächenaktivität 
erhöht wird. Nach Siegmund führen gewisse Toxine (Pyocyaneus, 
Tuberkulin) zur Entwicklung mehrkerniger Zellformen, andere Stoffe, 
wie Benzol und Arsen, zum Zelluntergang. Gozony Kramar stellte durch 
Immunisierung mit Staphylokokken und B. ratimors. bei Ratten fest, 
daß immunisierte Leber- und Nierenzellen eine erhöhte Reduktions- 
tätigkeit aufweisen gegenüber nichtimmunisierten Tieren, wodurch be- 
wiesen wird, daß in gewissen Zellen des Organismus nach Immuni- 
sierung eine Veränderung stattfindet. Interessant sind die Strepto- 
kokkenuntersuchungen Weichardts, der durch Hinzufügen von gewissen 
Stoffen auf Zählplatten anfangs ein Wachstumsoptimum, dann eine 
deutliche Hemmung erzielt. Am lebenden Muskel tritt nach Mayerhof 
bei hochgradiger Ermüdung vermehrte Milchsäurebildung auf, Weichardt 
glaubt nun auf Grund dessen, daß bei Milchsäureeinwirkung und nach- 
heriger Neutralisation Spaltprodukte entstehen, welche das Strepto- 
kokkenwachstum hindern, zur besseren Reaktionsfähigkeit des Körpers 
müsse man künstliches Eiweiß dem Körper zuführen. Weichardt nennt 
die Träger dieser Eiweißwirkungen Protoplasmaaktivoren. Weichardts 
Verdienst ist es zweifelsohne, durch zahlreiche Versuche mit Protein- 
körperinjektionen Funktionsänderungen einzelner Organe messend 
festgestellt zu haben. Die von ihm angegegebenen Zuckungskurven 
der Gastrocnemii an Mäusen zeigen uns, daß eiweißbehandelte Tiere 
erhöhte Leistungssteigerung aufweisen gegenüber nicht vorbehandelten 
Tieren. Lwithlen suchte durch verschieden konzentrierte Krotonöl- 
einreibungen der Haut an Katzen die Entzündungsbereitschaft vor und 
nach Injektionen von artfremdem und arteigenem Serum, Plasma und 
Blut, Witte-Pepton, Gelatine, löslicher Stärke und kolloidaler Kiesel- 
säure messend zu vergleichen. Es wurde jedesmal festgestellt, daß die 
Entzündung deutlich gehemmt wurde nach Vorbehandlung mit art- 
fremdem Serum. 

Spiethoff hat ähnliche Erfahrungen am Menschen bei der Entzündung 
durch Chrysarobin gemacht. Zuithlen suchte durch intravenöse Injek- 
tionen von leicht bestimmbaren Chemikalien in die Bauchhöhle von 
Kaninchen ihre Diffusionsgeschwindigkeit zu messen. Da Verzögerung 
des Überganges nach Vorbehandlung eintrat, schloß er auf eine ver- 
minderte Durchlässigkeit der Gefäße. 

Nach Aderlässen sah er dieselbe Wirkung. Freund beobachtete nach 
Vorbehandlung mit Caseosan, Aderlässen und Röntgenbestrahlung 
ebenfalls das Auftreten vasoconstrietorischer Substanzen im Blute. 
Starkenstein bediente sich der Senfölchemosis als Meßmethode nach 








Reiztherapie und quantitative Messung der Reizstärke an der roten Blutzelle. 23 


Einverleibung der verschiedenartigsten Substanzen und konnte fest- 
stellen, daß eine Hemmung der Ausscheidung von Fluoresein Natrium 
in das Kammerwasser eintrat, woraus er eine verminderte Durchlässig- 
keit der Gefäße folgerte. Davidsohn und Friedemann konnten beweisen, 
daß Kaninchen nach Vorbehandlung mit artfremdem Serum auf Mediäl- 
injektionen eine erhöhte Fiebererregung aufwiesen. A. Freund und 
R. Gottlieb suchten auf pharmakologischem Wege durch Adrenalin und 
Pilocarpin eine quantitative Messung des Proteinkörperreizes vorzu- 
nehmen. Es ergab sich in 6 Fällen, daß nach Vorbehandlung mit Caseo- 
san eine deutliche Steigerung des Blutdruckes nach Adrenalin eintrat, 
und daß vor allem nur !/,—!/, der sonst wirksamen Konzentrationen 
genügte, um dieselbe Wirkung zu erzielen. In ähnlicher Weise wurde 
Speichelsekretionssteigerung mit Pilocarpininjektionen nach vorauf- 
gegangenen Aderlässen festgestellt. Die Sekretion vermehrte sich z. B. 
nach Aderlaß von 16 g auf 26,4 g. Wir sehen hieraus, daß die Pilocarpın- 
wirkung ebenso wie die Adrenalinwirkung durch unspezifische Reize stark 
gefördert werden kann, eine Tatsache, die der therapeutischen Medizin 
nicht verschlossen bleiben sollte, weil sich dadurch eine bessere Angriffs- 
weise der betreffenden Arzneien erzielen läßt. 

Alle diese erwähnten Methoden, soweit sie quantitativ sind, befassen 
sich, wie bereits oben erwähnt. mit Messungen allgemeiner Leistungs- - 
steigerungen, sei es nun des Gesamtorganismus oder einzelner Organe. 
Handelt es sich aber bei der Reiztherapie um eine wirkliche Protoplasma- 
aktivierung im Sinne Weichardts, so gilt es an erster Stelle, quantitative 
Veränderungen der einzelnen Zelle nachzuweisen, denn dadurch würde 
‚am ehesten gerade der Begriff „Protoplasmaaktivierung‘“ gestützt und 
bewiesen. Leistungssteigerung ist wahrscheinlich ein sekundärer Vor- 
gang der Zellaktivierung, und letztere müßte erst bewiesen werden. 
Wenn wir nach Proteininjektionen Leukocytose, erhöhte Organfunktion 
oder Streptokokkenvermehrung feststellen, so können wir damit nur 
beweisen, daß irgendein Substrat nach Eiweißinjektionen auftritt, das 
auf die blutbildenden Organe oder auf die Zellen wirkt, woraus eine 
Vermehrung oder Verminderung von Blut- oder Bakterienzellen resul- 
tiert, können aber noch nicht sagen, daß die Zelle selbst sich verändert 
hat. Die kürzlich von Gozony Kramar angegebene Reduktionsver- 
änderung von Staphylokokken nach Immunisierung von Ratten würde 
diesem Gedanken schon näherkommen, da man tatsächlich Protoplasma- 
veränderungen chemischer Natur wahrnimmt. 

Meine Aufgabe ist es nun, eine neue quantitative Meßmethode an der 
roten Blutzelle anzugeben, wodurch man die Eiweißveränderungen 
dieser Blutzellen quantitativ messend nach Proteininjektionen verfolgen 
kann. Beim Studium der Blutkörperchensenkungsreaktion, wo zweifels- 
ohne auch die Zellen genau die Rolle beim Zustandekommen der Ver- 


24 J. Vorschütz: 


klumpung und somit der beschleunigten Sedimentierung spielen wie das 
Serumglobulin, suchte ich die Zellen auf ihren verschiedenen Eiweiß- 
gehalt nach der Makro-Kjeldahlmethode zu prüfen und konnte fest- 
stellen, daß hier Schwankungen zwischen den Blutkörperchen von 
Neugeborenen und von pernziiöser Anämie von etwa 17% Eiweiß vor- 
liegen. Bisher habe ich in der Literatur keine Angaben darüber finden 
können, daß an Blutkörperchen allein N-Bestimmungen gemacht worden 
sind. V. Jaksch hat bei 16 Gesunden das Eiweiß des Gesamtblutes, also 
von Serum und Blutkörperchen bestimmt und Werte zwischen 21,06 
und 23,06%, im Mittel 22,62%, gefunden. Von Rzentkowski bestimmte den 
Stickstoffgehalt des Blutes bei Gesunden im Mittel zu 3,518%. Kenje 
Kojo fand in 2 untersuchten Fällen einen N-Gehalt von 3,806%. 

Es handelte sich zunächst darum, an einem großen Material den 
Eiweißgehalt der Blutkörperchen verschiedener Menschen, sowohl 
gesunder als kranker festzustellen, dann aber darum, eine exakte Messung 
des N- bzw. Eiweißgehaltes zu erreichen. Jede Bestimmung setzt selbst- 
verständlich Doppelbestimmung voraus, wie auch genaue Titereinstel- 
lungen der in Frage kommenden Säure wie Lauge. In der Zeitschrift 
für klin. Med. 96, Heft 4—6 und 97, Heft 1—3 sind vom Verf. kürzlich 
eine Reihe von Eiweißbestimmungen aus Blutzellen angegeben. Der 
. Rest-N, der normalerweise 40 mg/% beträgt, wurde nicht angegeben 
und kann nicht als ausschlaggebend für die verschiedenen Werte an- 
gesehen werden. 

Methodik: Durch Venaepunktio entnommenes Blut (immer 20 cem) 
wurde defibriniert, das Serum abpipettiert, die Blutkörperchen 2 mal 
in physiologischer Kochsalzlösung gewaschen, das Kochsalz sorgfältig 
abgesaugt und dann durch Umrühren mit einem Glasstabe für gleich- 
mäßige Dichte des Blutkörperchenbreies gesorgt; davon wurden je 
2 ccm mit der Meßpipette aufgezogen, in Kjeldahlkolben gebracht, ver- 
brannt und hieraus Stickstoffbestimmungen angesetzt. Da der Eiweib- 
schalt der normalen Zellen etwa das Vierfache des Eiweißgehaltes des 
Serums beträgt, ist es zweckmäßiger, nicht mit ”/,„-Säure und "/,,„-Lauge 
zu arbeiten, da man sonst die Bürette für eine Bestimmung 2 mal füllen 
muß. Wir legten "/, H,SO, vor und titrierten gegen "/, NaOH zurück. 
Von den Doppelbestimmungen, die nicht ganz genaue Übereinstimmungen 
ergaben, wurde das Mittel angegeben (siehe Tab. IV). 

Aus diesen nur partiell angegebenen tabellarischen Befunden ersieht 
man deutlich, daß gewaltige Schwankungen im Eiweißwerte der roten 
Blutkörperchen bei den einzelnen Individuen bestehen; die Schwan- 
kungsbreite zwischen dem Blutkörperchen-E-Gehalt des Neugeborenen 
und des einen angeführten Falles von Eklampsie einerseits und dem 
Blutkörperchen-E-Gehalt bei perniziöser Anämie anderseits beträgt rund 
17%. Tuberkulosen haben sämtlich einen erniedrigten Eiweißgehalt, wie 








Reiztherapie und quantitative Messung der Reizstärke an der roten Blutzelle. 25 


Tabelle IV. 





















































N-Gehalt, Biwelh- N-Gehalt| Kiweiß- 
Fall Diagnose UFFEOBEN EB Fall Diagnose derroten| Ip e 
Blut-K. Blut-K. & 
in % Blut-K. in % | Blut-K. 
Ta RD EN in % 1 Mel BAR, 
1 normal 4,5 | 28,12 | 28| Nephrosklerose 5,2 | 32,50 
2 normal 45 28,12 |29| Nephrosklerose | 5,1 | 31,87 
3| ° normal 46 2875 | 301 Ulcus ventric. 4.52.1128;12 
4 normal 4.6 128,75 | 31! Bronchitis 4.55 1,28,12 
5 normal 1,48 1.80,0: [32 | Bronchitis 4,6 | 28,75 
6 normal ı 4,8 | 30,0. | 33 Bronchitis 114,65 | 28,75 
7 normal ee Br BE Bronchitis RR 
8 normal 7 29,37 | 35 | Perniziöse Anämie 5.8 1:36,25 
9) . normal ' 5,0 131,25 | 36 | Perniziöse Anämie | 5,7 | 35,62 
10 normal 50 !3125 | 37 Perniziöse Anämie 5,7 | 35,62 
11 Diabetes mell. | 5,2 32,50 | 38 Perniziöse Anämie 5,9 | 36,87 
12 Apoplexie 4,7 29,37 | 39 , Perniziöse Anämie | 5.9 | 36,87 
131 - Apoplexie 4,8 ! 30,0 | 40) Perniziöse Anämie | 5,3 | 833,12 
14 Careinose 15,2 ) 32,50 | 41 Hypertonie | 5,3 | 33,12 
15 Magen-Oa. 171052 32,50 I 42 Hypertonie 5 .440:1,393.70 
16 Oesoph.-Ca. 1.550. .1.31,25,.143 Hemiplegie 5,8210493.12 
Ir Leber-Ca. ED 31,87 | 44 \Polyneuritise acuta.. 5,3 | 33,12 
18 Blasen-ÜUa. | 4,9 30,62 | 45 | Tbe. pulmon. 4,3 26,87 
19 ° Lungen-Ca. | .4,9 30,62 | 46 | Tbe. pulmon. 4,2 | 26,25 
90 Achylia gastr. 47 129,37 |47) Tbe. pulmon. 4,0 | 25,0 
21 Mitralinsuff. 4,5 28,12 | 48 | Pleuritis tbe. 40° 125.0 
22 Mitralinsuff. 46 | 28,75 | 49 Pleuritis tbe. 4,3 | 26,87 
23 || Polyarthrit. rheum. 4,7 | 29,37 | 50 |  Pleuritis tbe. 40 125,0 
24 | Polyarthrit. rheum. ı 246 28,75 1 51 Neugeborene 3,1 19,37 
25 | Polyarthrit. rheum. | 4.6: 428,75 | 52 Neugeborener | 3,3 | 20,62 
26 Nephritis | 45 | 2812 | 53 |  Neugeborener B.8.2:1,20,62 
27 Nephritis 44 |2750|54| Eklampsie 3,3 | 20,62 





alle Entzündungen, bewegt sich doch die Norm um 28— 32%. In der Blut- 
körperchensenkungsfrage waren diese Befunde von ausschlaggebender Be- 
deutung, da man feststellen konnte, daß Zellen mit hohem Eiweißgehalt, wie 
die von perniziöser Anämie, sich viel eher senken als die mit niedrigem, 
z. B. bei Tuberkulose oder gar bei Neugeborenen. Für die Exaktheit der 
Methode sprechen zunächst die gut übereinstimmenden Doppelbestim- 
mungen, danri aber auch revidierten wir unsere Resultate, indem wir 
die in der Pipette aufgesaugten 2 ccm Blutkörperchen in Doppelbestim- 
mungen wiederum zur Trockensubstanz in Platintigeln bis zur Gewichts- 
konstanz eindampften und aus diesen Trockensubstanzen den N-Gehalt 
bestimmten. Die Werte waren übereinstimmend, so daß die Methode 
als durchaus annehmbar gelten konnte. Auf Grund dessen versuchten 


26 J. Vorschütz: 


wir nun durch Eiweißinjektionen beim Menschen oder durch sonstige 
teizungen des Organismus, sei es durch Bestrahlung mit Höhensonne 
oder mit Röntgenstrahlen, Veränderungen des Zellinhaltes resp. des 
Protoplasmas der roten Blutkörperchen herbeizuführen und diese Ver- 
änderungen quantitativ zu messen. Wir gingen nun so vor, daß wir in 
dem zu untersuchenden normalen Blute zunächst den Eiweißgehalt 
der Zellen feststellten, am folgenden Tage wiederum, um zu sehen, ob 
derselbe konstant blieb. Von den mit Reiztherapie Behandelten wurden 
3 oder 24 Stunden nach der Eiweißinjektion oder nach der Bestrahlung 
‘wiederum Blut entnommen und sowohl der Zelleiweißgehalt wie auch die 
Serumeiweißveränderungen chemisch bestimmt. Von den so unter- 
suchten 40 Fällen bekamen wir die Resultate, die aus der beigefügten 
Tabelle ersichtlich sind. 

Aus der Tabelle ersehen wir deutlich, daß Gesunde auf Eiweiß- 
irjjektionen wenig oder kaum reagieren, während pathologische Indi- 
viduen je nach ihrer Gewebsempfindlichkeit sehr große Ausschläge er- 
geben können. Nach Freund und Gottlieb wirken Aderlässe mit Bezug 
auf die Serumveränderungen genau wie Proteinkörperinjektionen, eine 
Tatsache, die wir auch mit Bezug auf die Zellen nachweisen können. 
Je größer der Aderlaß, um so stärker die Reizwirkung. Aus diesem 
Grunde haben wir dann später, um die Wirkung der Proteininjektion an 
der Zelle zu prüfen, regelmäßig eine nur geringe bestimmte Menge Blut, 
nämlich 20 com entnommen, da dann die Aderlaßwirkung fast gänzlich 
ausgeschlossen wird. 

Betrachten wir die Tabelle näher daraufhin, welche Zellen es sind, 
die nach Reizung mit Höhensonne, Röntgenstrahlen oder Proteinkörpern 
mit einem Plus oder Minus reagieren, so fällt zunächst deutlich auf, 
daß alle Zellen von Patienten, die an einer Infektion litten, weniger als 
normalen Eiweißwert haben, und daß diese Zellen mit einem Plus rea- 
gieren, d. h. sie nehmen Eiweiß auf infolge Reizung. Zellen mit höherem 
Eiweißgehalt als normal reagieren mit einem Minus, sie geben Eiweiß 
ab. Bei der ersteren Art von Zellen, die man als Zellen hypoplastischer 
Natur bezeichnen könnte, handelt es sich anscheinend um Assimilation, 
bei den letzteren, den hyperplastischen Formen um Dissimilations- 
vorgänge. Interessant erscheint, daß alle Zellen, seien sie hyper- oder 
hypoplastischer Natur, nach Injektionen eine ausgesprochene Tendenz 
zeigen, zur Norm überzugehen, z. B. von 34%, auf 30% und von 26% 
auf 30%, (die Norm bewegt sich um 30%). Das dynamische Gleich- 
gewicht der Zellen, das infolge Erkrankung gestört ist, wird durch Rei- 
zung wieder angestrebt, sei es durch Assimilation oder durch Dissi- 
milation. Die Gesamteiweißveränderungen des Blutes verteilen sich 
keineswegs so, daß durch Eiweißabgabe seitens der Zellen ein Plus im 
Serum zustande kommt, und daß umgekehrt sich das Serumeiweiß auf 





- 
















































































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J. Vorschütz 



































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bunzjas]40, 1 








Reiztherapie und quantitative Messung der Reizstärke an der roten Blutzelle.. 29 


Kosten der Zelleiweißßvermehrung vermindert. Gefäßdurchlässigkeit, 
Verwässerung und Eindickung des Serums scheinen trotzdem zu be- 
stehen. 

Man könnte nun annehmen, die Eiweißveränderungen der Zelle 
beruhten nicht auf echter Vermehrung und Verminderung, sondern 
diese Werte seien nur Pseudowerte, durch Quellung und Entquellung 
der Zellen bedingt, einmal durch Alkali-, dann durch Säureanreicherung. 
Hamburger, von Koranyi und Bence wiesen nach, daß der ausgleichende 
Wechsel im Wassergehalt zwischen Blutplasma und roten Blutkörper- 
chen durch die Kohlensäure beim normalen Hin- und Herpendeln vom 
arteriellen zum venösen Zustand und wieder zurück zum arteriellen 
zuwege gebracht wird. Nicht nur die Eiweißkonzentrationen allein, 
sondern auch die spezielle Zustandsform der Eiweißkörper spielen eine 
große Rolle. A. Böhme wies an gesunden Menschen nach, daß die Serum- 
konzentrationswerte über Wochen und Monate hinaus konstant bleiben, 
während einzelne ständig niedere Werte aufweisen. Schade und Menschel 
haben in einer jüngst erschienenen Arbeit diese Frage der Quellung und 
Entquellung ausführlich experimentell behandelt, und ihre Bedeutung 
für klinische Fragen ausgewertet. So sagen die Autoren, daß das aus 
dem Blute in den Bindegewebsraum einströmende Wasser nicht lange 
an seinem neuen Orte als freie Flüssigkeit bestehen bleiben könne, es 
werde als kolloidfreie Lösung sehr begierig vom Gewebe durch Quellung 
aufgenommen. Im Experiment konnten sie beweisen, daß Bindegewebe, 
welches mit Blutserum im Quellungsgleichgewicht steht, aus Serum- 
salzlösung noch eine Wassermenge zu binden vermag, welche die Quel- 
lung in 24 Stunden um etwa 30% (Hautbindegewebe) resp. um 60% 
(Nabelschnurgewebe) erhöht. Nach Asher tritt bei erhöhter Zellfunktion 
und bei vermehrter Lymphbildung eine Milieuveränderung im Binde- 
gewebe auf, welches den arbeitenden Zellen angrenzt: Es entstehen 
am Ort der gesteigerten Zellfunktionen vermehrte Säuremengen; diese 
werden größtenteils in Salzform gebunden; daneben kann aber auch nach 
Schade, P. Neukirch und A. Halpert eine gut meßbare Acidose resul- 
tieren. Interessant sind die Feststellungen von Hamburger, welche von 
der Säure-Alkalibeeinflussung der roten Blutkörperchen ihren Ausgang 
nehmen. Die roten Blutkörperchen zeigen Quellung bei jeder kleinsten 
Verschiebung der Milieureaktion zum Sauren und Entquellung bei 
jeder kleinsten Verschiebung in der Richtung des Alkalischen. Eine 
Gabe von 0,0025%, HCL zu defibriniertem Blute, wobei die Blutflüssig- 
keit selbstverständlich alkalisch bleibt und nur in sehr geringem Maße 
an Alkalizität abnimmt, läßt die genannten Erscheinungen deutlich zu- 
tage treten, während Hinzufügen von 0,00775% Alkali, d.h. 1 KOH 
auf 12960 Blut das Gegenteil, also Schrumpfung der Zellen und Stei- 
gerung des Wassergehaltes der Blutflüssigkeit herbeiführt. Dieselben 


30 1% Vorschütz : 


Veränderungen wies Hamburger auch für die Leukocyten, sowie für 
Nieren-, Leber- und Milzzellen nach. Das Bindegewebe dagegen ent 
quillt bei jeder kleinsten Verschiebung zum Sauren und quillt bei jeder 
Verstärkung der alkalischen Reaktion. Bei der Salzbeeinflussung der 
Zellen erleben wir denselben Antagonismus, die Zellen quellen in hypo- 
tonischer Salzlösung und schrumpfen in hypertonischer; die kollagene 
Substanz, sowie das Bindegewebe in toto zeigt in konzentrierterer Na- 
CL-Lösung eine größere Quellung als in verdünnterer (Schade und 
Menschel). Vel. hierzu auch Höber, Physikalische Chemie der Zellen 
und der Gewebe, 4. Aufl. 1914, S. 268ff., 379 u. 638. 

Kehren wir nun zu unserm Eiweißbefunde zurück, so ist es selbst- 
verständlich, daß diese Quellungs- und Entquellungsmomente mit 
berücksichtigt werden müssen, und daß man aus den vorliegenden Ver- 
mehrungen und Verminderungen des Zelleiweißes nicht ohne weiteres 
eine Protoplasmaaktivierung annehmen darf. Um die Ursachen dieser 
Unterschiede zu eruieren, trockneten wir Blutkörperchen hyper- und 
hypoplastischer Form in Platintiegeln bis zur Gewichtskonstanz, setzten 
je 0,5 g dieser Trockensubstanz zur Makrokjeldahlbestimmung an und 
konnten so an 10 untersuchten Fällen, wo deutliche Unterschiede bei der 
voluminösen Bestimmung zutage getreten waren, feststellen, daß abso- 
lute Biweißvermehrungen oder Verminderungen vorlagen. Das Moment 
der Quellung wie das der Entquellung konnte durch die Wasserverdampfung 
definitiv ausgeschaltet werden. Damit haben wir bewiesen, daß es sich 
latsächlich um eine Aktivierung des Zellinnern, um eine wirkliche ‚, Proto- 
plasmaaktivierung‘‘ nach der Injektion handelt. Unser Interesse ging nun 
dahin, festzustellen, wie lange diese Reizwirkung anhalte! Wir unter- 
suchlen zu diesem Zwecke schwerere, diffuse Bronchitiden und fanden, 
daß in den Fällen, wo keine Besserung eingetreten war, der Reiz nach 
3 Tagen abgeklungen war; wenn also z. B. der Zelleiweißwert vor der 
Behandlung 28%, betrug, nach Injektion dann 30%, so war nach 3 Tagen 
der alte Wert von 28%, wieder erreicht. Das Wort „Gesundsein oder 
Gesundwerden‘“ würde demnach einen Zelleiweißgehalt der roten Blut- 
körperchen von 28% bis 32% bedeuten. Sehr interessant war die Fest- 
stellung, daß bei solchen Patienten, wo nach Proteinkörperbehandlung 
3 Tage später Fieber und Entzündung abgefallen waren, nun der an- 
fängliche Reizwert bestehenblieb. Hieraus ergibt sich das oben bereits 
angeführte biologische Gesetz: Kranke Zellen, die ihr dynamisches 
Yleichgewicht verloren haben, streben durch Reizkörper ihr normales Gleich- 
gewicht wieder an, und behalten letzteres, wenn Gesundung eintritt. Mü 
dem Wort Gesundung treffen wir aber den Gesamtorganismus, und wenn 
wir nun während der Erkrankung eine Zellart, nämlich die rote Blut- 
körperchenzelle, auf unspezifische Reize mit Protoplasmaaktivierung und 
Herstellung ihres früheren Gleichgewichtes reagieren sehen, so mub es 


1 Fe Tr ne a a 














Reiztherapie und quantitative Messung der Reizstärke an der roten Blutzelle. 2 
| [eo .) 


uns klar sein, daß diese Wirkung, wenn sie zur Gesundung führt, sicherlich 
nicht unicellulär, sondern omnicellulär ist. Analog den Versuchen von 
Freund und Gottlieb (Loc. cit.), aus denen hervorgeht, daß nach Vorbe- 
handlung mit Proteinkörpern der Blutdruck auf Adrenalingabe viel 
stärker ansteigt, als ohne Vorbehandlung und analog ähnlichen Ver- 
suchen der genannten Autoren mit Pilocarpin versuchten auch wir, 
größere Ausschläge im Eiweißgehalt der Zellen durch Adrenalin- oder 
Pilocarpin-Injektionen nach Proteinkörpervorbehandlung zu erhalten. 
Wir entnahmen 20 ccm Blut, bestimmten den roten Blutkörperchen- 
eiweißgehalt und spritzten anschließend 2ccm Caseosan ein. Nach 
24 Stunden maßen wir wiederum den Eiweißgehalt der Zellen, spritzten 
l cem Pilocarpin oder Adrenalin ein (subcutan) und entnahmen nach 
etwa 30 Minuten, wenn starke Speichelsekretion oder Blutdruckerhöhung 
eingetreten war, wiederum Blut zur Untersuchung. Die Befunde waren 
zweifelsohne deutlicher als vor der Adrenalin- oder Pilocarpin-Injektion ; 
der Eiweißgehalt der Zellen nahm in höherem Prozentzahl zu und ab, 
sowohl bei Pilocarpin wie bei Adrenalin. Diese größere Wirkung könnte 
aber auch durch den noch einmal gesetzten Reiz der Venaepunktio hervor- 
gerufen worden sein. Bezüglich der Wirkung der unspezifischen Reiz- 
therapie möchte ich mich dem Urteil von H. Freund und @ottlieb an- 
schließen, welche behaupten, daß nach unspezifischen Reizen (Caseosan, 
Aderlaß, Blutinjektion) ein Zustand von ‚Allergie entsteht, der eine 
veränderte Reaktion auf gut dosierbare Nervenendgifte des autonomen 
Systems (Adrenalin, Pilocarpin) hervorruft. Diese Reaktion hält solange 
an, wie die Proteinwirkung dauert“. Nimmt man an, daß die Frreg- 
barkeit der autonomen Nervensystems für die normalen adäquaten 
Reize in der gleichen Weise sich ändert, wie wir es für die Wirksamkeit 
der Gifte dartun konnten, so wird bei seiner Bedeutung für fast alle 
Örganfunktionen die Vielgestaltigkeit der nach unspezifischen Reizen 
klinisch beobachteten Erscheinungen verständlich. Die Vorbehandlung 
mit den erwähnten Proteinkörpern bewirkt nach unserer Auffassung 
diese Umstimmung dadurch, daß sie Zerfallsprodukte zu ungemein 
vielseitiger Wirksamkeit entstehen läßt. Ich konnte beweisen, daß 
die Zellveränderungen ebenso schnell vor sich gehen wie die betreffen- 
den Serumweränderungen, die diese besagte Leistungssteigerung bewirken 
soll. Man könnte vielleicht die Zellveränderungen, die nunmehr be- 
wiesene Protoplasmaaktivierung als das Primäre ansehen; danach sind 
vielleicht die von Weichardt und später von Freund und Gottlieb 
angenommenen Zerjfallsprodukte (Blutplättchen?) Reizprodukte der akti- 
vierten blutzellen. Ob die Wirkung der Injektion direkt an der Blut- 
zelle selbst angreift oder über das autonome Nervensystem geht, muß 
Hypothese bleiben, jedoch möchte ich mich der letzteren Anschauung mehr 
zuneigen. 


32 J. Vorschütz: 


Die klinische Bedeutung der unspezifischen Reiztherapre. 

Zahlreich sind die Arbeiten über die verschiedenen Reizmittel, haupt- 
sächlich über die Proteinkörper, deren man sich heute bei Erkrankung 
aller Art bedient. Insbesondere wird an der Bierschen Klinik seit über 
90 Jahren mit den verschiedensten Tierblutarten zu therapeutischen 
Zwecken gearbeitet. So berichtet E. Kisch über die verschiedenen intra- 
venösen Hammel-, Rind- und Pferdeblut-Injektionen bei tuberkulösen 
Knochenerkrankungen von Erwachsenen und Kindern und sieht durch 
diese Injektionen eine allgemeine Appetitaufbesserung und Gewichts- 
zunahme eintreten. An unserer Klinik bedienen wir uns hauptsächlich 
des Eigen- oder Verwandtenblutes bei akut entzündlichen Prozessen, 
Pneumonie, Bronchopneumonien, exsudativen Pleuritiden, Bronchitiden 
und akuten Gelenkerkrankungen. Bei 72 Säuglingen, die an schwerem 
Keuchhusten mit gleichzeitigen Bronchopneumonien erkrankt waren, 
wurde Elternblut (10 ccm) intraglutaeal eingespritzt, die Erfolge waren 
überraschend. Nach 2—3 Tagen Abfall des Fiebers und Verschwinden der 
objektiv nachweisbaren Geräusche. Die besten Erfolge sahen wir mit 
Eigenblut bei croupöser Pneumonie: 24 Fälle, die am ersten oder zweiten 
Tlage mit hohem Fieber, Crepitatio indux und starken Schmerzen einge- 
liefert wurden, zeigten am Tage nach der Injektion ein vollkommen ver- 
ändertes Bild. Vor allem ist die Atemnot seschwunden, die Patienten 
können wieder durchatmen, das Fieber fällt ab und nach 2—3 Tagen 
war in allen Fällen eine auffallende Besserung des Krankheitsbefundes 
erzielt. Anfangs zogen wir, um die Gerinnung zu verhüten, vor der Blut- 
entnahme 2 ccm Natrium eitricum (5%) in der 20 cem Spritze auf, und 
füllten erst dann die Spritze mit dem Blut aus der Armvene; wir sahen 
bei diesem Vorgehen nicht so gute Resultate wie heute. Jetzt entnehmen 
wir Blut aus der Armvene und spritzen sogleich nachher die entnommene 
Menge intramuskulär in die Oberschenkelmuskulatur ein. Vorher 
machen wir bei Erwachsenen noch einen Aderlaß von 200 —300 cem. 
Es wird ja, wie vorher bewiesen, nun eine doppelte Reizwirkung gesetzt, 
da Aderlässe auf die Zelle genau so wirken wie eine Proteininjektion. 
Sehr gute Erfolge sahen wir auch mit Eigenblut bei akutem Gelenk- 
"heumatismus, die Schmerzhaftigkeit der Glieder läßt bald nach und es 
tritt Abschwellung, Entfieberung und subjektives Wohlbefinden nach 
2—3 Tagen ein, allerdings oibt es keine Regel ohne Ausnahme, wir sahen 
auch Fälle, wo wir zum Salycil greifen mußten. Man soll daher zunächst 
mit Proteinkörpern versuchen, um die akkumulierende Wirkung des 
Salyeils zu vermeiden, und in den meisten Fällen hat man Erfolg. We- 
niger dankbar erweist sich die Behandlung der chronischen Arthritiden; 
bei diesen hartnäckigen Erkrankungen muß man ebenso hartnäckig 
in der Behandlung mit Proteinkörpern vorgehen. Wir haben mehrere 
Wochen hindurch, wöchentlich 2mal, wenn kein Fieber nach der Injek- 











Reiztherapie und quantitative Messung der Reizstärke an der roten Blutzelle. 3 


tion auftrat, abwechselnd 2 ccm Caseosan intravenös, Eigenblut und 
Aolan 5cem intramuskulär injiziert, auf diese Weise haben wir auch 
gute Resultate erzielt. Akute Bronchitiden werden ebenso mit Eigen- 
blut, chronische mit Caseosan und Aolan behandelt. Über günstige Re- 
sultate mit defibr. Eigenblute berichten Joh. Vorschütz und B. Teuckhoff. 
Die Injektionen werden intravenös appliziert. K. Brünner berichtet 
über ziemlich gute Erfolge bei ovariellen Blutungen und akuten Adu- 
exitiden mit hämolysiertem Eigenblut. 4. Weskott macht in einem 
Sammelreferat auf die Wichtigkeit der Behandlung chronischer Arthri- 
tiden mit den verschiedensten Präparaten aufmerksam und spricht 
über die verschiedenartigen Wirkungen derartiger Reizmittel. Weskott 
zieht infolge der überwiegenden Nachteile mit Kuhmilchinjektion das 
Caseosan vor, bei Arthritis gonorrh., 2—Ö5cem intramuskulär, bei 
Neuralgien 0,5—1 ccm, bei der Arthritis urica nicht über 1 ccm Caseosan 
hinaus. R. Schmidt benutzte Milch, die nur 10 Minuten auf dem Wasser- 
bad erhitzt war, die also zweifelsohne noch höhere anaphylaktogene 
Wirkung besaß zur intraglutaealen Injektion. Unangenehme oder gar 
bedrohliche Zufälle wurden nicht gesehen. Lindig, der die intravenöse 
Wirkung seines Caseosanpräparates studierte, gibt Maßsnahmen an, um 
schwere Allgemeinerscheinungen zu vermeiden, indem er mit niederen 
Dosen beginnt und bei jeder weiteren Injektion steigert. 

Besondere Sicherheit bietet die fraktionierte Injektion (Besredka). 
Eine geringe Menge, etwa !/, der Dosis wird injiziert, nach 2—3 Stunden 
die ganze Menge. Besonders große Heilerfolge gerade durch Milchthe- 
rapie zeitigt die Ophthalmologie. Cords stellt in ausgiebiger Weise die 
Spezialliteratur in der Ophthalmologie zusammen und berichtet über 
seine eigenen glänzenden Erfolge bei der Gonoblennorrhoea adultorunı, 
wo nach 10 cem Milchinjektion eine Abschwellung der Lider und Nach- 
lassen der Sekretion eintritt. Cords hat von Kiefer in einer Dissertation 
171 derartige Fälle zusammenstellen lassen und betrachtet die Unter- 
lassung der Milchinjektion bei der oben besagten Krankheit als Kunst- 
fehler. Zum ersten Male wurde über Milchtherapie in der Ophthal- 
mologie von L. Müller berichtet im Jahre 1918, dann weiter über gute 
Heilerfolge von Berneand und Jickeli. Cords versucht bei Augener- 
krankungen außer der abgekochten Kuhmilch noch das Aolan (Schwarte), 
das Ophthalmosan (Jendralski) das Caseosan, das von Hessberg bis 10 cem 
sogar intravenös einspritzte, Pferdeseren, Deuteroalbumosen (Holler 
nach den Vorgängen von Matthes), Yatren-Casein und schließlich von 
Maaß empfohlene Proteinkörper-Strychnin-Präparate unter dem Namen 
Vistosan I und II. Bei Terpichin- und Lebertraninjektionen nach Unna 
sah Cords bei hartnäckiger ulceröser Blepharitis keine Erfolge. Heine 
berichtet über gute Resultate mit Milchinjektionen bei der Retinitis 
albuminurica, ebenso R. Schmidt und Barthels; die einschlägige Literatur 


Z. f. klin. Medizin. Bd. 100, 3 


34 ud J. Vorsehütz : 


über dieses Spezialgebiet findet sich in der Arbeit von Cords. Von 
anderen Präparaten aufgeführter Natur sind noch zu nennen das Sanar- 
thrit (Heilner) das Vaceineurin (Dolkan), das in 3 Serien mit steigender 
Dosis intraglutaeal alle 3—5 Tage injiziert wird. Bei hartnäckigen Neu- 
ralgien und Neuritiden sollen gute Resultate erzielt worden sein. In 
einigen Fällen, wo wir Vaceineurin anwandten, sahen wir keinen Erfolg. 
Hierher gehören auch die colloidalen Silberpräparate, die bei chronischen 
Gelenkerkrankungen auch gute Erfolge zeigen, so das Collargol (1 —2%), 
Elektrocollargol und das Jodcollargol (2%) zu intravenösen Injektionen 
in Stärken von 4—8cem. Die Lösungen müssen aber immer frisch 
bereitet werden, da sonst Nebenwirkungen auftreten. Zu nennen sind 
ferner noch die Schwefelölemulsionen (Meyer-Bisch), das Melubrin, 
Novalgin, das gerade bei fieberhaften rheumatischen Zuständen ein 
promptes Antipyreticum und Analgeticum sein soll, orale Verabreichung 
in Tabletten von 0,1—0,2 täglich 3—4mal besonders zur Entfieberung 
und zur Linderung der Schmerzen auch bei Neuralgien. Schließlich 
finden sich auch bei Badekuren unspezifische Reizwirkungen; welcher 
Art dieser Reiz ist, wissen wir nicht, aber man muß annehmen, daß 
er in einer Berührungswirkung des Wassers mit der Haut oder Schleim- 
haut liegt. Nach Schober wird ebenfalls eine 'Protaplasmaaktivierung 
der Zellen durch die Auswirkung der balneotherapeutischen Reize, wie 
durch Thermalkuren erfolgen. 


Zusammenfassung: 


An 331 Fällen wird experimentell die Wirkung unspezifischer Reize 
(hauptsächlich durch Proteinkörper) auf das Blut geprüft; es ergibt sich 
kurz folgendes: ; 

1. kurz nach der Injektion tritt eine Leukopenie, nach 2 Stunden 
Leukocytose auf; je empfindlicher das Gewebe, um so stärker die Reiz- 
wirkung. 

2. Die Blutplättchenzahl scheint nach den allerdings noch spärlichen 
Untersuchungen gleich nach der Injektion (freilich nicht immer) ver- 
mindert, 2 Stunden später vermehrt zu sein. 

3. Die Serumeiweißkörper setzen sich nach Eiweißinjektionen um, 
meistens tritt Vermehrung des Globulins auf Kosten des Albumins ein, 
jedoch nicht immer. Der Gesamteiweißgehalt des Serums wird einmal 
vermindert, einmal vermehrt. 

4. Die Blutgerinnung ist nach Proteinkörperinjektion beschleunigt; 
die Sedimentierung der Erythrocyten ebenfalls. 

5. Die unspezifische Agglutination wird nach parenteraler Eiweiß- 
einverleibung erhöht und an der unspezifischen Gruber-Widal-Reaktion 
bewiesen. | 














Reiztherapie und quantitative Messung der Reizstärke an der roten Blutzelle. 35 


6. Es wird die Wirkung des unspezifischen Reizes an der roten Blut- 
zelle quantitativ gemessen und es ergibt sich, daß alle Reize, sei es durch 
Injektionen oder durch Bestrahlungen, auf die roten Blutzellen so ein- 
wirken, daß Zellen hypoplastischer Form assimilieren, d. h. Eiweiß auf- 
nehmen, Zellen hyperplastischer Form dissimilieren, d.h. Eiweiß abgeben. 

7. Hieraus ergibt sich ein einfaches biologisches Gesetz, daß die rote 
Blutzelle durch Reize eine T’endenz zeigt, ihr verlorenes dynamisches Gleich- 
gewicht wieder anzustreben. 

8. Dieser Zellreiz dauert etwa 3 Tage an; tritt nach einmaliger Injektion 
@esundung ein, so behält dieses gesunde Individuum den Reizwert, der 
sofort 2 Stunden nach der Injektion erhalten wurde. 

9. Es wird experimentell bewiesen, daß es sich bei diesen Vorgängen 
in der Zelle um absolute Eiweißvermehrungen und Verminderungen handelt ; 
Quellungs- und Eniquellungsvorgänge werden ausgeschlossen, danach scheint 
tatsächlich eine Protoplasmaaktivierung der Zellen durch unspezifische 
Reizwirkung bewiesen. 

10. Klinisch wichtig sind. die Blut- resp. die Eigenblutinjektionen bei 
frischen entzündlichen Prozessen, Pneumonien, exsudativen Pleuritiden, 
Gelenkerkrankungen und Bronchitiden. 

11. Auch bei chronischen Arthritiden wird durch abwechselnde und 
länger durchgeführte Behandlung mit Caseosan, Aolan und Blut guter 
Erfolg erzielt. 


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38  J. Vorschütz: Reiztherapie und quantitative Messung der Reizstärke usw 


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8, 91. — 113) Weichardt, W., Über unspezifische Leistungssteigerung. Münch. med. 
Wochenschr. 1921, Nr. 2. — "#) Weichardt, W., Über die Aktivierung durch un- 
spezifische Therapie. Münch. med. Wochenschr. 1921, 5. 365. — 115) Weichardt, 
W., Aktivierung der Körperzellen und Infektionserreger. Kl. Wochenschr. 1922, 
S. 1725. — 416) Weichardt, W., Über die Aktivierung von Zellfunktionen durch 
leistungssteigernde Maßnahmen. Dtsch. med. Wochenschr. 1921, Nr. 3l. — 
117) Weichardt, W., Die Leistungssteigerung als Grundlage der Proteinkörper- 
therapie. Ergebn. d. Hyg., Bakteriol., Immunitätsforsch. u. exp. Therapie 9. 
1922. Berlin, J. Springer. — 118) Weichardt, W. und Schrader, Über unspezifische 
Leistungssteigerung (Protoplasmaaktivierung). Münch. med. Wochenschr. 1919, 
S, 289. — 119) Weskott, Die neuzeitliche innere Behandlung chronischer Gelenker- 
krankungen und Neuralgien. Münch. med. Wochenschr. 1923, Nr. 29. — 
120) Zimmer, Schwellenreiztherapie der chronischen Gelenkerkrankungen. Berl. 
klin. Wochenschr. 1921, S. 1308. Münch. med. Wochenschr. 1921, S. 135. 











(Aus der Medizinischen Abteilung des Städt. Krankenhauses Allerheiligen 
[Primärarzt: Prof. Dr. Ercklentz].) 


Über Kolloidlabilität und das Eiweißblutbild (Eiweißspektrum) 
im Plasma vom gesunden und kranken Menschen, 


Von 
Dr. Walther Steinhrinck, 
Sekundärarzt, 


(Eingegangen am 14. Dezember 1923.) 


Im letzten Jahrzehnt haben sich auch auf den Gebieten, mit denen 
sich Immunitätslehre und Serumforschung beschäftigen, immer mehr 
Tatsachen ergeben, daß neben der chemischen Konstitution auch der 
physikalischen Struktur der Säfte und ihren Veränderungen eine wesent- 
liche Bedeutung zukommt. Solange sich der menschliche Organismus 
in normalen, physiologischen Verhältnissen befindet, prävalieren in dem 
Blutplasma, einer kolloidalen Eiweißlösung, die hochdispersen und sta- 
bilen Eiweißkörper, die Albumine, gegenüber den niedrig dispersen und 
labilen, dem Fibrinogen und den Globulinen. Dieser physikalisch- 
chemische Zustand wird während normaler Verhältnisse mit großer 
Zähigkeit festgehalten, und man darf darin wohl einen wichtigen Faktor 
für den normalen Ablauf der Lebensvorgänge erblicken. Ein Grund- 
gliedder entzündlichen Erkrankungen ist die Änderung der Säftemischung, 
also der Kolloidstruktur der flüssigen Gewebe im weitesten Sinne, und 
schon geringfügige Abweichungen von der Norm drücken sich oft noch 
vor der Möglichkeit klinischen Nachweises in ausgeprägten und charak- 
teristischen Veränderungen der gesamten, physikalisch-chemischen 
Struktur des Plasmas aus. Diese Veränderungen könnte man dem 
Durchbrechen einer Schutzwirkung gleichsetzen, auch spielt der jeweilige 
Zustand möglicherweise als Faktor der für die Disposition oder Resistenz 
zu berücksichtigenden Momente eine mehr oder weniger große Rolle. 
„Diese Abweichungen vom Normalzustand können nun prinzipiell nach 
zweierlei Richtungen hin erfolgen, entweder im Sinne einer über das 
normale Ausmaß noch hinausgehenden Dispergierung und Stabilisierung 
oder im Sinne einer Herabsetzung und Vergröberung der Dispersion. 
Verhältnisse erster Art trifft man in typischer Weise in allen Krankheits- 
zuständen, die durch eine im Vordergrund stehende Beteiligung der 
Leber — als Ort der Fibrinogenbildung (Kisch) — ihr Gepräge erhalten, 
ferner unter Bedingungen, die verwandtschaftliche Beziehungen zum 
anaphylaktischen Schock aufweisen. Verhältnisse der zweiten Art kom- 


40 Walther Steinbrinck: Über Kolloidlabilität und das Eiweißblutbild 


men bei allen jenen Zuständen zur Beobachtung, die klinisch als Eiweiß- 
zerfallstoxikosen anzusehen sind, oder wenigstens einen gesteigerten 
Eiweißumsatz annehmen lassen.“ (Starlinger.) Denn hier bildet sich als 
erste Stufe des Abbaus das Fibrinogen, dieses geht in das Globulin über, 
das Globulin in das Albumin und dieses schließlich in nicht mehr koagu- 
lable Eiweißabbauprodukte und zuletzt in Harnstoff über [Herzfeld 
und Klinger!) | 

In Analogie zu der Arneth-Schillingschen Kernverschiebung könnte 
man von einer Links- bzw. Rechtsverschiebung des Bluteiweißbildes 
sprechen. Nun kommen aber neben dieser groben, unspezifischen Ver- 
schiebung bei vielen, vielleicht allen, Krankheiten, noch weitere ganz 
fein differenzierte Veränderungen vor, die sich uns in den spezifischen, 
serologischen Untersuchungsmethoden kenntlich machen. Um zu einer 
bildhaften Darstellung zu gelangen, scheint es mir daher nicht un- 
angebracht, von einem Bluteiweißspektrum zu sprechen, in dem die 
einzelnen Krankheiten oder Krankheitsgruppen ihre Absorptionsbezirke 
oder Streifen oder Streifengruppen einzeichnen. Wissen wir doch 
(E. F. Pick u. a.), daß gewisse Fermente und Immunkörper im Blut 
bestimmten Fraktionen anhaften. So fand sich die schützende, anti- 
toxische Komponente sowie der hämolytische Amboceptor in den 
Pseudoglobulinteilen (Ruppel), dagegen Agglutinine, Präcipitine und 
komplementbindende Faktoren — auch der Wassermann - Körper 
(Sachs) — in Euglobulinfraktionen. Die bisherigen, serologischen Unter- 
suchungsmethoden gaben oft verschwommene Bilder, — das unspezifische 
Anftreten oder Wiederauftreten des Widal bei den verschiedensten In- 
fektionskrankheiten, die mehr als je sich erweisende Unspezifität der 
WaR. und des Tuberkulose-Wa. — Die serologischen Reaktionen kenn- 
zeichnen vielleicht nur die für die einzelne Krankheit bestimmten, 
erößeren Labilitätsbreiten, die zum Teil ineinander übergreifen, innerhalb 
dleren aber eine bestimmte Fraktion?), ob nun infolge oder ohne Adsorption 
krankheitsspezifischer Substanzen, als scharf umschriebene Absorptions- 
streifen oder Streifengruppen bei differenzierter Technik — schärferer 
optischer Einstellung — hervortritt. Stern ist es nun gelungen, den 
Absorptionsstreifen für Lues in der ihrer sonst störend interferierenden, 
labilsten Fraktion beraubten hydrophoben Euglobulingruppe, als 
Träger der WaR., scharf kenntlich zu machen. Damit ist der erste 
Schritt getan, und wir können hoffen, daß auch für die anderen Krank- 
heiten die charakteristischen Labilitätsgrade, oder um im Bilde zu bleiben, 
Absorptionsstreifen sich festlegen lassen. | 


1) So bestechend diese Theorie auch sein mag, stehen ihr doch gewisse klinische 
Erfahrungen und experimentelle Untersuchungen gegenüber, 7. B. Moll. 


2) Abgesehen von den mehr oder weniger spezifischen Veränderungen der 
übrigen Plasmabestandteile (Lipoide usw.). 








(Eiweißspektrum) im Plasma vom gesunden und kranken Menschen. 41 


Bei dem großen, allgemeinen Interesse an diesen Fragen nimmt es 

nicht wunder, daß nicht nur aus rein theoretischen Erwägungen, sondern 
auch aus praktischen eine große Zahl klinisch leicht ausführbarer Reak- 
tionen zur Prüfung der Plasma- oder Serumkolloidlabilität angegeben 
wurde. 
Da ist zuerst zu nennen die viel benutzte Blutkörperchensenkungs- 
probe (S.R.). An der Klärung dieses merkwürdigen, biologischen Phä- 
nomens haben sich eine große Reihe Autoren beteiligt (Linzenmeier, 
Fahraeus, Höber und seine Schüler, Abderhalden, Bürker, Kürten, Oettin- 
gen, Starlinger u. a.). Die S.R. beruht kurz gesagt auf Folgendem: Im 
allgemeinen ist die Suspension der R. im Plasma stabil. Diese Stabilität 
vermindert sich mit der Zunahme des spezifischen Gewichts der suspen- 
dierten Teilchen. Jede Mehrbelastung führt zu einer beschleunigten 
Senkung (bei einer bestimmten Durchlässigkeit des Plasmas). Die dabei 
auftretende Agglutination der R. führt zu einer Verkleinerung ihrer 
Gesamtoberfläche und Verminderung der Reibung. Im normalen Blut 
wird die Agglutination dadurch vermieden, daß die elektronegativ ge- 
ladenen Teilchen (diese Ladung soll nach Vorschütz an ein Nucleoproteid 
gebunden sein) sich abstoßen. Bei einer Entladung ballen sie sich zu- 
sammen und verlieren ihre Stabilität. Werden sie nun in vitro durch 
Röntgenstrahlen oder andere Maßnahmen noch weiter aufgeladen, so 
kommt es zu einer stark verzögerten S.R. Dieser Vorgang tritt aufsowohl 
bei Bestrahlung des gesamten Blutes wie des Plasmas und der R. getrennt, 
nicht aber bei Abfilterung (Süßmann, Inaug.-Diss.). Eine Vermehrung 
des Fibrinogens und des Pseudoglobulins im Plasma gegenüber der 
Albuminfraktion führt zur Entladung und damit zur Agglutination 
und beschleunigten Senkung. Das ausschlaggebende ist jedenfalls die 
stoffliche Änderung, mit der erst sekundär die energetische Verschiebung 
einhergeht. Mit dieser Erklärung des Phänomens sind die früheren, ver- 
schiedenen Theorien über die S.R. zu einer Einheit verschmolzen. 

Bei einer Nachprüfung an über 100 Fällen unseres Krankenmaterials 
kommt Süßmann und später Schindera an ebenso vielen (unter gleich- 
zeitiger, quantitativer Bestimmung der einzelnen Eiweißkörper des 
Plasmas, wobei die engen Zusammenhänge der S.R. mit dem Fibrinogen- 
gehalt bestätigt wurden), in Übereinstimmung mit den anderen Autoren 
zu dem Ergebnis, daß beschleunigte S.R. zwar ein Symptom von ent- 
zündlichen Vorgängen im Organismus ist, daß ihr aber als Einzelunter- 
suchung eine wesentliche, prognostische und diagnostische Bedeutung 
nicht zukommt. (Über besondere Prüfungen zur Feststellung der Wir- 
kung therapeutischer Eingriffe wird Stukowski hieran anschließend be- 
richten.) Eine verzögerte oder normale Senkung dagegen fand sich bei 
Leberleiden und Typhus, die beide mit einem gewissen Fibrinogenmangel 
einhergehen sollen, eine Annahme, die die Untersuchungen Schinderas 


42 Walther Steinbrinck: Über Kolloidlabilität und das Piweißblutbild 


bestätigten. In 2 Fällen von Lebereirrhose wurde ein verminderter in 
je einem von katarrhalischem Ikterus ein normaler und ein erhöhter 
Fibrinogenwert festgestellt. In den beiden letzten Fällen scheint das 
darauf zu beruhen, daß die Leber noch nicht so sehr geschädigt war, um 
den Fibrinogenaufbau zu vernachlässigen. Vielleicht ist aber nicht nur 
ein Organ, die Leber, sondern mehrere, die vikariierend für einander 
eintreten können, an der Bildung des Fıbrinogens beteiligt. 

Nun spielen beider $.R. aber noch andere wichtige Faktoren eine Rolle, 
die Menge und Art der R., der Hgb.-Gehalt, und wohl auch die Viscosität. 

Größtenteils parallel mit diesen liefen die Untersuchungen von 
v». Lebinski über Kolloidlabilität des Serums, nach der v. Daranyi an- 
gegebenen Methode. Diese beruht darauf, daß die labilen Eiweißkörper 
_ im Serum Globuline — fällenden Eingriffen gegenüber weniger wider- 
stehen, v. Daranyi hat eine Kombination zweier Eingriffe angewandt, 
nämlich Alkohol und Erhitzung. „Hierdurch wird eine allmählich ein- 
setzende, gleichmäßige und nach verschiedenen Zeitintervallen leicht 
ablesbare Reaktion ermöglicht.“ 

v. Lebinski prüfte nun neben pathologischen Sera — Tbe., Lues, Infektions- 
krankheiten, Magengeschwüren und malignen "Tumoren — besonders noch normale 
Sera unter Einwirkung einerseits von Röntgenstrahlen, andererseits von ultra- 
violetten Strahlen. Normale Sera wurden unter diesen Einwirkungen nun zu mehr 
oder weniger starker Flockung gebracht, während die pathologischen fast durch- 
weg noch eine Verstärkung derselben zeigten. — Dabei geht die Flockung der 
unbestrahlten Sera der $.R. parallel. — Er kommt zu dem Schluß, daß die Röntgen- 
strahlen diese Flockung der Kolloide durch elektrische Entladung herbeiführen, 
während bei ultravioletten die Flockung entweder durch direkte Veränderungen 
der Eiweißkörper (Schanz) oder aber durch katalysatorische Wirkung des Lichtes 
zustande komme, so daß das Serum-Albumin durch Schwefelabspaltung in Serum- 
Globulin umgewandelt wird (Hasselbach). 

Nun fehlt aber dem Blutserum durch die seiner Gewinnung voran- 
gehenden Gerinnung die maßgebende und labilste Stufe, das Fibrinogen. 
Es mußte daher die Untersuchung des Plasmas selbst aussichtsreicher 
und eindeutiger erscheinen. Hierzu schien die von Starlinger angegebene 
Mikromethode ganz besonders geeignet, zumal für die geplanten Reihen- 
untersuchungen. 

Herr Starlinger hatte die Güte, mir seine Methode anläßlich des Kongresses 
persönlich vorzuführen, wofür ich ihm an dieser Stelle meinen Dank sagen möchte. 

Die Methode stellt eine modifizierte Hoffmeister’sche Succedantällung 
dar und dient ebenso wie die beiden anderen Methoden nur der Fest- 
stellung relativer, vergleichbarer Stabilitätswerte. Sie bietet außerdem 
noch, wie genaue Nachprüfung mit der im folgenden zu schildernden 
Methode erwies und Starlinger selbst schon angibt, unvermeidliche 
Ungenauigkeiten. Genauere Ausschläge, wie sie mitunter wünschenswert 
sind vor allem für einen weiteren, wissenschaftlichen Ausbau dieser 











(Fiweißspektrum) im Plasma vom gesunden und kranken Menschen. 43 


Veränderungen, werden uns die Flockungsreaktionen nicht geben 
können. Daher stellte es sich Schindera zur Aufgabe, die absolute 
Prozentzahl der Eiweißfraktionen, genauere, quantitative Werte, vor 
allem in Reihenversuchen im Verlaufe einer Erkrankung zu bestimmen. 

Schindera prüfte nun refraktometrisch den Fibrinogengehalt nach der 
2. Methode von Leendertz und Gromelski, den Globulin-, Albumin- und Ge- 
samtproteingehalt nach den von Robertson ausgearbeiteten Grundsätzen, 
bei denen auf der sonst üblichen Viscosimetrie etwa beruhende Fehler- 
quellen ausgeschaltet sind. Nach genauer Festlegung der Normalwerte 


Hibrmogentinn in 9: 0,1 — 0,26% 
Gesamt-Protein . . . 7,0— 8,5% 
@lohulin: 0. u; 1,5 — 3,5% 
N NE 4,2 — 6,8% 


(dabei sind stets weniger Globuline als Albumine vorhanden, das Ver- 
hältnis von 40 : 60 wird nicht überschritten) untersuchte er nun das 
Plasma von Scharlach-, Ruhr-, Typhus-, Sepsis-, Grippe-, Gelenkrheuma- 
tismus-, Pneumonie-, Tuberkulose- und Leberkranken, sowie Nephrose, 
perniziöse Anämie und myeloische Leukämie. Hierbei werden die in der 
Literatur bekannten Befunde der Änderung bzw. Erhaltung des normalen 
Eiweißbildes teils bestätigt, teils ergänzt. — Ausführlicher Bericht a.a.O. 
Das klassische Beispiel für die Schwankungen des Eiweißbildes bietet 
die kruppöse Pneumonie. Es fanden sich hier außerordentlich hohe 
Fibrinogenwerte (0,440—1,438), relativ geringe Gesamtserumprotein- 
werte (5,50—6,08). Von absolut vermindertem Eiweißwert kann bei 
dem hohen Fibrinogenwert natürlich nicht gesprochen werden. Die 
bekannte Verschiebung des Eiweiß-Quotienten zu ungunsten der Albu- 
mine wird bestätigt. 


Zur Klärung der Frage, ob die refraktometrischen Ergebnisse durch die 
bei anfangs verminderter oder völlig aufgehobener Chloridausscheidung bedingte 
Chlorretention gestört werden können, stellte ich gemeinsam mit Brucke und 
Baerthold Reihenuntersuchungen an, über die später ausführlich berichtet werden 
soll. Wir bestätigten die von anderer Seite erhobenen Befunde, daß der Chlorid- 
gehalt des Blutes meist ganz abnorm niedrig ist und unter dem Schwellenwert 
Ambards liegt. Vom Tage der Krisis dagegen kommt es zu langsamen Anstieg, 
bis mit dem Beginn der Chloridausscheidung im Urin oft unter vorübergehendem 
Herabsinken — überschießende Ausfuhr ? — die Werte normal werden. Bei Rezi- 
diven wiederholt sich das gleiche Bild. 

Die Scharlachkranken wurden während der Krankheit fortlaufend 
untersucht. ‚Als erste Veränderung der Eiweißfraktionen tritt eine 
Vermehrung des Fibrinogengehaltes auf, die jedoch nur kurze Zeit an- 
hält (0,39— 0,65%, parallel damit geht die S.R.). Nach dem Fibrinogen- 
gipfel!) erreicht das Globulin seinen höchsten Stand (bis 5,4%)?). Diese 
Vermehrung hält wesentlich länger an als die des Fibrinogens; ent- 
gegengesetzt damit läuft eine Verminderung der Albumine (2,3—1,8%/,). 


1) Am 6. Tag. 2) Am 16. Tag. 


44 Walther Steinbrinek: Über Kolloidlabilität und das Eiweißblutbild 


Das Gesamtserumprotein steigt nach vorübergehendem Abfall (5,50 
bis 6,80%) mitunter über die Norm an und erreicht erst allmählich ab- 
fallend wieder den normalen Wert.“ Es zeigte sich dabei, daß die Kurve 
der mit Reizkörpern (Strepto-Yatren, vgl. Steinbrinck und Stukowskt, 
Zeitschr. f. klin. Med. 97, 1—3) behandelten Patienten etwas schneller 
und steiler zur Norm ablief als die unbehandelter Kranker. Vielleicht 
können wir darin die Objektivierung dieser günstigen Einwirkung im 
Sinne eines beschleunigten Krankheitsverlaufes erblicken. Andererseits 
aber kann auch die verschiedene Konstitution der einzelnen Patienten 
und der mehr oder weniger schwere Verlauf der Erkrankung diese Unter- 
schiede hervorgerufen haben. 

Reiztherapie bezeichnet keinen einheitlichen Vorgang, sondern be- 
deutet ganz allgemein die Erregung vitaler Kräfte zu Heilzwecken. An 
sich ist die Reizbehandlung nicht harmlos, denn jeder Reiz ist eine Be- 
lastung des Körpers, und eine strenge Proportionalität von Reizursache 
und Reizfolge kann selbst unter den einfachsten Verhältnissen nicht in 
Frage kommen. Es gilt daher durch richtige Auswahl der Reizdosis 
(neben dem Reizmittel) in jedem Falle die Heilmittelreaktion so zu ge- 
stalten, daß sie bei geringster Beanspruchung der Körperkräfte die 
höchste Leistungssteigerung des Organismus erzielt (Schwellenreiz- 
therapie, Zimmer). Welcher Reaktionserscheinungen, welcher Reiz- 
mittel und Reizdosen wir im einzelnen Falle bedürfen, kann nur die Er- 
fahrung lehren und läßt sich bei der Kompliziertheit der Vorgänge nicht 
deduzieren:; denn es wird bei der Injektion von „Reizmitteln‘ primär 
eine physikalische Änderung der Säftestruktur durch die verschiedensten 
Mittel bewirkt — nach Rona und Michaelis wohl durch den Abbau des 
injizierten Mittels selbst. — Diese würde dann die weitere Ursache für die 
sekundär im Organismus sich vollziehenden Reaktionen darstellen. Die 
erzielte Reaktion hängt demnach neben den Reizstoffen auch vom 
physikalisch-chemischen Zustand der Körpersäfte ab, indem die Reiz- 
stoffe auf durch den Krankheitsprozeß bereits labilisierte Eiweißkörper 
einwirken. Es liegt daher nahe, ähnlich wie bisher in ausgedehntem 
Maße an Hand des Blutbildes mit diesen Methoden allein oder in Ver- 
bindung mit dem Blutbild diese Vorgänge im einzelnen zu prüfen. Ob 
und in wieweit sich diese groben Veränderungen des Bluteiweißbildes für 
die Bewertung der Reiztherapie und ihre Dosierung ausbauen lassen, 
werden weitere Untersuchungen lehren. Waren doch die ganzen Ver- 
suchsreihen einerseits zu dem Zweck angestellt, um auf breiterer Grund- 
lage die Sonderwirkung der Reiztherapie zu prüfen, andererseits, um 
einen Schritt vorwärts zu tun in der Festlegung der Verschiebung des 
Plasmaeiweißes (Eiweißspektrum) bei einzelnen Erkrankungen. 


Abgeschlossen den 2} Dezember 1923. 








(Biweißspektrum) im Plasma von zesunden und kranken Menschen. 45 


‚Nachtrag bei der Korrektur: Während der Druck legung dieser Ar- 
beit machte ich folgende noch hierher gehörende und nicht uninteressante 
Beobachtungen, die daher nicht unerwähnt bleiben sollen. Vergleiche 
der typischen Scharlachkurven (S, R, u. Fibrinogen) mit solchen, die 
durch auf die Labilität der Eiweißkörper stark einwirkende Faktoren 
verändert sind: 

l. Bei einem 19jährigen Patienten trat während des anfangs nor- 
malen Verlaufs am 5. Krankheitstage eine schnell vorübergehende 
Leberschädigung auf (durch Scharlachvirus bedingt?) mit Ikterus und 
Urobilinurie. 

Der in typischer Weise ansteigende Ast der Kurve brach mit dem 
Augenblick des Auftretens der Leberschädigung mit einer scharfen 
Abknickung nach unten ab, um mit dem Abklingen der interkurrenten 
Erscheinungen am 10. Tag in der dem Krankheitstermin entsprechenden 
Weise zu verlaufen. Diese Beobachtung könnte eine Bestätigung sein 
für die Abhängigkeit des Fibrinogenspiegels von der Leberfunktion. 

2. Fin zweiter Patient (l4jähriger Knabe) erkrankte unmittelbar 
nach Lösung einer doppelseitigen kruppösen Pneumonie an Scharlach. 
Die sofort vorgenommene Prüfung der genannten Reaktionen zeigte, 
daß die durch die Pneumonie labilisierten Eiweißkörper wohl noch 
nicht in das normale Gleichgewicht gekommen waren. Die Kurve 
begann schon in einem Gebiete höheren Fibrinogengehalts und kam 
langsamer als bei typischem Verlauf auf der normalen Stufe an. Sie 
war gewissermaßen auf einer höheren Stufe angesetzt. 


Literatur. 

!) Bürker, Münch. med. Wochenschr. 1922, Nr. 16. — ?) v. Daranyi, Dtsch. 
med. Wochenschr. 1922. — ?) Fahraeus, Arch. med. Band. — ?) Frisch-Starlinger, 
Med. Klinik. 1921, Nı. 38, 39; 1922, Nr. 8. — ) Geppert, Berl. klin. Wochenschr. 
1921, Nr. 10. — ®) Hasselbach, Strahlentherapie 1913, Nr. 2. — ?) Herzfeld-Klinger, 
Bioch. Zeitschr. 1904, 1917. — ®) Kisch, Klin. Wochenschr. 1923. — °) Leendertz 
Gromolski, Arch. f. exp. Pathol. u. Pharmakol. 1922. — 19) v, Lebinski, Inaug.-Diss. 
Breslau. — !!) Linzenmeier, Arch. f. Gynäkol. 1920, Nr. 131; Zentralbl. f. Gynäkol. 
1920, Nr. 30; Dtsch. med. Wochenschr. 1922. — 12) Mond-Schanz, Pflügers Arch. 
f. d. ges. Physiol. 1922, Nr. 196, 164, 170. — 13) Robertson, Journ. of biol. chem. 
1912. — 14) Sachs-Oettinger, Münch. med. Wochenschr. 1921, Nr. 12. — 3) Sachs, 
Therapeut. Halbmonatsschr. 1920; Dtsch. med. Wochenschr. 1923, Nr. 41. — 
16) Schindera, Inaug.-Diss. Breslau. — 17) Starlinger, Klin. Wochenschr. 1923, Nr. 29; 
Biochem. Zeitschr. 1921. — 18) Stern, Breslau. Schles. Ges. f. vaterländ. Kultur. 
— 1?) Süssmann, Inaug.-Diss. Breslau. — ?%) Vorschütz, Zeitschr. f. klin. Med. 1923. 
— ?1) Weichsel, Dtsch. med. Wochenschr. 1923, Nr. 45. — 2?) Zimmer, Schwellen- 
reiztherapie. 


(Aus der IV. med. Universitäts-Klinik und dem biochemischen Laboratorium 
im Städt. Krankenhaus Moabit zu Berlin.) 


Zur Klinik der Lipämie. 


Von 
Dr. Ernst Joel, 


Assistenzarzt. 


(Eingegangen am 25. Januar 1924.) 


Unter den vielfachen Störungen, die die normale chemische Zu- 
sammensetzung des Blutes erleiden kann, ist die Lipämie, der abnorm 
hohe Fettgehalt des Serums, eine schon den alten Ärzten vertraute Er- 
scheinung. Sie hatten ja durch die viel gepflegte Anwendung des Ader- 
lasses nicht nur häufige Gelegenheit zur Beobachtung des Blutes, sondern 
auch durch die weniger geübten chemischen Analysen besonderen Anlaß, 
aus seinem Aussehen und seinem Verhalten in vitro möglichst aufschluß- 
reiche diagnostische Folgerungen zu ziehen. Die Lipämie (Sanguis albus 
s. lacteus) war eine solche Erscheinung, die der bloßen Betrachtung eine 
wesentliche Abartung der Blutkonstanz erschloß, und in ihrer An- 
schaulichkeit und leichten Deutbarkeit höchstens noch der Cholämie 
zu vergleichen, von der sie sich freilich dadurch unterschied, daß sie 
nicht wie jene schon aus dem Aussehen der Haut erwartet werden konnte, 
sondern im Gegenteil ein fast immer unerwartetes, mitunter erschrek- 
kendes Faktum bildete. Erst später ist man ja dahin gelangt, auch ohne 
Blutuntersuchung aus dem Spiegelbilde der Netzhaut Lipämie zu dia- 
gnostizieren. 

Aus der Durchsicht älterer und neuerer klinischer Berichte über 
Lipämie gewinnt man ein sehr buntes Bild ihrer möglichen Bedingungen. 
Ohne Zweifel gehört eine größere Zahl früherer Beobachtungen der 
}ruppe der alimentären Lipämie zu, wie sie einige Stunden nach der 
Verdauung einer fettreichen Mahlzeit normalerweise auftritt. Es bleiben 
dann aber noch immer eine Anzahl pathologischer Fälle (ausführliche 
Übersicht der älteren Literatur bei Fischer), unter welchen der Diabetes 
melitus am meisten, wenn auch absolut gar nicht so häufig, vertreten 
ist. Sodann folgen Vergiftungen, wie durch Phosphor, Phloridzin, 
Chloroform, chronische Alkoholvergiftungen (besonders bei Branntwein 
säufern), schwere Nierenkrankheiten und Cholämien. 


E. Joöl: Zur Klinik der Lipämie. 47 


Diesen klinischen Lipämiebefunden hat neuerdings die experimentelle 
Pathologie einige weitere hinzugefügt, besonders die Aderlaßlipämie 
(Boggs und Morris) und die ihr offenbar verwandte Hungerlipämie 
der Kaninchen, für die sich klinische Analoga nicht finden. 

Man gewinnt aus diesen vielfältigen Entstehungsbedingungen den 
Eindruck, daß die Lipämie kaum ein einheitliches Symptom darstellt, 
und es darf hinzugefügt werden, daß auch innerhalb der einzelnen 
Krankheiten der Mechanismus der Lipämie ungeklärt, ja auch nur das 
Organ oder Organsystem, dessen Funktionsänderung ihre Entstehung 
verschuldet, völlig unbekannt ist. 

Es ist deshalb wohl berechtigt, jeden Fall von Lipämie, der etwas 
Außergewöhnliches darstellt, mitzuteilen, besonders wenn er wie der 
folgende in bezug auf Art sowie Dauer und Genauigkeit der Beob- 
achtung einzigartig ist, und daran, wenn möglich, einige allgemeinere 
Erwägungen über die Pathogenese der Lipämie anzuknüpfen. 


Klinische Beobachtung. 


Vorgeschichte. H., 29jähriger Bäckergehilfe, mit belangloser Familienanamnese, 
bis zum Kriege (Infanterist) stets gesund. Alkohol-, Nikotinmißbrauch, Geschlechts- 
krankheiten verneint. — 1916 im Felde Verschüttung, anschließend französische 
Gefangenschaft. Angeblich etwa 4 Wochen starke Durchfälle, hohes Fieber, 
Schmerzen in der Oberbauchgegend. Bald darauf, besonders nach Aufregungen, 
Krampfanfälle. Schmerz- und Krampfanfälle persistierten auch nach der Lazarett- 
entlassung, manchmal unabhängig voneinander, manchmal gleichzeitig auftretend; 
häufiges Erbrechen, Verschlechterung des Ernährungszustandes, zeitweiliger 
Lazarettaufenthalt. Nach der Heimkehr (1919) Dienst als Postaushelfer. Monate- 
langes Wohlbefinden, dann periodenweise Bauchschmerzen, Durchfälle, Erbrechen, 
Krampfanfälle. Wegen seines Nervenleidens Kriegsrente. Nach mehrfachem Wech- 
sel zwischen Wohlbefinden und beschwerdereichen Zeiten Februar 1923 erneute 
Verschlechterung (Oberbauchschmerzen, Durchfälle, Abmagerung), zwecks Heil- 
verfahrens Aufnahme in ein Versorgungskrankenhaus Gewicht 48 kg, hoch- 
gradige Anämie (52%, Hb), Achylia gastrica, helle, manchmal fettglänzende Stühle 
ohne occultes Blut. Typisch hysterische Krampfanfälle. WaR. —. Am Blut oder 
Blutserum war — z. B. bei Anstellung der WaR. — niemals etwas Besonderes 
aufgefallen. Bei entsprechender Pflege Gewichtszunahme, Besserung des Blut- 
befundes, bei dessen erneuter Prüfung sich das Serum als milchig getrübt erwies. 
Augenhintergrund (Prof. Hethey) typisch lipämisch, einige Wochen vorher sicher 
normal. Auf besondere Veranlassung von Herrn Prof. Hethey, dem ich auch an 
dieser Stelle verbindlichst danke, zur Stoffwechseluntersuchung unserer Klinik 
überwiesen. 

Der Pat. war im Sommer und im Herbst 1923 mehrere Wochen auf meiner 
Station, dazwischen und später stellte er sich zur Nachuntersuchung mehrfach vor. 
Die gesamte Zeit der eingehenden Beobachtung beträgt über 9 Monate. 


Befund bei Aufnahme und weiterer Verlauf. 


Habitus: 29jähriger, jünger aussehender, untersetzter Mann mit schlaffer 
Muskulatur, genügendem Fettpolster, mäßig kräftigem Knochenbau. Gewicht 
5l,5kg bei 165 cm Körpergröße. (Nach 6 Monaten 53 kg). Gesicht voll, pastös, 


48 BE. Joel: 


zarte, gut durchblutete Haut, feuchte Augen, runde Körperformen, geringe Lanugo- 
behaarung, weiblicher Schamhaartyp, mäßig kräftiger Bartwuchs, Haupthaar 
an den Schläfen leicht ergraut. Keine Ödeme, Exantheme, Drüsenschwellungen. 
Temperatur normal. — Gefälliges, zutrauliches, lenkbares Wesen, labile Stim- 
mungslage, betontes Gerechtigkeitsgefühl. 

Kreislauf- und Atmungsorgane: ohne jede Besonderheit. 

Verdauungssystem: Zunge meist belegt, feucht. Starke, nicht scharf abgrenz- 
bare Druckempfindlichkeit der Magengrube, dert auch Spontanschmerz, häufig 
unabhäneig von der Nahrungsaufnahme, meist eine halbe bis eine Stunde nach der 
Mahlzeit, besonders nach fettreicher und voluminöser Kost. Lagerung ohne Ein- 
fluß. Erbrechen besonders nach Schwarzbrot und schlackenreichen Speisen. Im 
Erbrochenen niemals freie HCl. Mageninhalt nach Ewalds Probefrühstück (mehr- 
fach wiederholt) 100-125 cem gut zerkleinerten, genügend angedauten Breis. 
Freie HCl: 0, (0), (0). Ges. Acid.: 6 (8), (5). (In Klammern die späteren Wieder- 
holungsuntersuchungen.) Milchsäure: —, Sanguis: —. 

Röntgenologisch: Nichts Abnormes. Leber nicht tastbar. Im Harn fast stets 
Urobilin deutlich nachweisbar, kein Hinweis auf Gallensäuren. Stuhl: täglich 
I—3 helle, weiche, geformte, oft etwas glänzende, voluminöse, normal riechende 
Entleerungen. Sanguis stets negativ. Mikroskopisch: bei Schmidtscher Probekost 
reichlich Muskelfasern mit erhaltener Querstreifung. Vereinzelt Stärkekörner. 
Bei gewöhnlicher Kost selten Fetttröpfehen und Fettsäurenadeln. Keine Erythro- 
cyten, keine Wurmeier. Während der letzten Beobachtungsperiode wiederholte 
Beobachtung von Aleurobius farinae (einer Mehlmilbe). 

Fettgehalt der Stühle. Bei mehrfacher Untersuchung 5—6% der eingenomme- 
nen Fettmenge. Die Fettausnutzung ist also vollkommen normal. Der Stickstoff- 
gehalt der Stühle betrug pro die ziemlich gleichmäßig 1,8—2,0 2. 

Duodenalinhalt (mit Einhornscher Sonde gewonnen) bei der ersten Beobach- 
tung: Es tropfen viertelstündlich etwa 20 cem gelben Saftes ab. 2 cem Saft ver- 


dlauen in 1 Stunde nicht 2 mg Casein. — Bei der zweiten Beobachtung (6 Monate 
später) 
ccm Farbe 

1, ‚Viertelstunde wo noe 2 Bart u 5 

9. Viertelstunde u ER re oe llgra 

3. Viertelstundesr ar. A Lu EZ EEREOlNzee 

5cem Äther durch die Sonde 
4. Viertelstunde „2 2...0... nr. 22.240 Tsolaseln: 


Fermentuntersuchung des Duodenalsaftes (Prof. Jacoby). 


were ann in DE rn ne nr en TEL ET 

















| Trypsin | Lipase | Diastase 

ı 1 ccm Saft verdaut in ‚2 cem Saft spalten aus Eihfheiten 

| 1 Stunde 10 cem Erdnußöl ab 
Probe 3 | | | 


Probe 4 | | 
(nach dem Ätherreiz) 200 me: (Jasein , 183,0 mg Ölsäure : 500 Einheiten 


I 


(vor dem Atherreiz) 100 me Casein | 70,4 mg Ölsäure | 125 Einheiten 
| 
| 
| 





‚Aus der Untersuchung geht hervor, daß der an sich schon recht wirksame 
Saft durch den Ätherreiz noch wirksamer geworden ist. 


Zur Klinik der Lipämie. 49 


Cholesterin in Spuren. Gallensäuregehalt nicht herabgesetzt. 

Urogenitalsystem. Harnmenge der Flüssigkeitsaufnahme entsprechend, Kon- 
zentrations- und Verdünnungsvermögen erhalten. Im Harn niemals Eiweiß, 
keine krankhaften Formbestandteile. pır 5,4—6,5. Neutralfett und Cholesterin 
in Spuren. Reststickstoff im Blut 23 mg %. A: — 0,60°. Kochsalzgehalt des 
Blutes 0,48 g%. 

Sexualfunktionen augeblich gegen früher unverändert erhalten. 

Nervensystem: Lebhafte Sehnen- und Hautreflexe, geringer Tremor der Hände 
und Zunge, Tie der Stirnmuskulatur. Loewische Reaktion (Mydriasis nach In- 
stillation von 1 Tropfen Adrenalin 1: 1000 in den Conjunctivalsack) positiv. 
Während der Beobachtungszeit einige typische hysterische Krampfanfälle. Liquor: 
kein erhöhter Druck, wasserklar, spez. Gewicht 1006, Pandv, N onne-Apelt, Wasser- 
mann negativ, Sachs-Georgi: +. Keine Pleocytose. Fett qualitativ nicht nach- 
weisbar. 

Stoffwechsel. Im Harn niemals Reduktion, Polarisation, Hefevergärung. 
Keine Ketonkörper. Blutzuckerbestimmungen (Bang) nach Belastung durch 20 g 
Glykose ergaben eine durchaus normale Kurve: 











Minuten nach Belastung Zucker in mg °/, 

0 99 
10 104 
20 126 
30 132 
45 90 
60 66 
75 89 





Weitere auf den Kohlenhydrathaushalt (oder die Leber) sich beziehende Prü- 
fungen zeigt abgekürzt folgende Übersicht: 

















Substanz | Menge | Applikationsform Ergebnis 
pen er ee Be m ee m rn sen > 2 nn _ u T = ne eye = ee — — = 
Glykose ‚100 e oral ' Kein Harnzucker. 
Adrenalin Img ı subcutan Kein Harnzucker. 


(reringer Blutdruckanstieg. 


Phloridzin 20 mg | intramuskulär | 2,3 g Glykose im Harn. 
| ı Ausscheidung in 2 Stunden beendet. 
Lävulose ı 1008 | oral Im Harn keine Lävulose. | 
Wralaktose 40 g oral Im Harn 4,32 g Galaktose. 
| ‚ Ausscheidung in 4 Stunden beendet. 
Milch (Widal) | 200 & oral _ Leukocytenanstieg:: 6600, 6800, 7200, 
6500. 


Geringer Blutdruckanstieg. 














Z. f. klin. Medizin. Bd. 100. 4 


50 R. Joel: 


Einen weiteren Einblick gibt die folgende Tabelle (Harnuntersuchungen): 












































an ccm | Sp. @ N Nacl'ı P, 0; U u NH, 

15. V. | 2650 | 1010 | 7,42 |14,84 | 1,sg | | Cemischrele st 
16. V. || 2000 | 1010 |, 7,40 |12,40 | 1,98 | (tägl. 30 g Fett) 
17. V. | 2000 | 1009 | 7,84 |14,40 | 0,96 | ' 

18. V. | 1275 | 1010 8,00 | 5,61 |1,22 | | ettarme Kost 
19. V. | 700 | 1020 | 7,90 | 4,90 |1,59 | | (täglich 5 g Fett) 
20. V. 680 | 1018 | 7,90 | 3,61 [1,26 |0,47 | | [Gewichtsabnahme 
21.V. | 680.| 1018 | 7,90 | 3,61.\1,26-|0,47 | 

22.V.|| 780 | 1017 | 7,87 | 6,71 \1,12 [0,34 | | \ | 

23. V. | 1470 | 1016 !' 9,06 |14,40 |1,46 |0,42 | | Fettreiche Kost 
25. V. | 1530 | 1013 | 9,33 117,44 |1,18 [0,29 | (tägl. 180 g Fett) 
26. V. || 1550 | 1016 |10,42 |15,19 [2,43 |.0,48 | Gewichtszunahme 
27.V. | 1185 | 1016 , 8,63 |14,22 | 2,10 16,48 | 1,02 

28. V. || 1500 | 1015 |11,97 |18,30 | 2,04 121,47 |1,15 | 

29. V. | 2400 | 1010 10,92 |18,72 | 1,90 ‚20,82 ‚1,16 |!Gewöhnliche Kost 
30. V. || 2050 | 1011 10,62 |15,17 | 1,60 20,97 11,22 J 


Aus der Tabelle ergibt sich bei Berücksichtigung des in der Nahrung ent- 
haltenen täglichen Stickstoffs von 10—12g und einer durchschnittlichen Stick- 
stoffausscheidung im Stuhl von 2g kein Anhalt für vermehrte Fiweißzersetzung, 
ferner nach Maßgabe der Phosphorsäure- und Harnsäurewerte kein Zeichen für 
vermehrten Zellzerfall. Hinzugefügt sei hier, daß der Amino-Stickstoff mit 2,5 % 
vom Gesamtstickstoff (am Untersuchungstage 6,21 g) in durchaus normaler Rela- 
tion ausgeschieden wird. Das Verhältnis des Harn-Ammoniaks zum Harnstoff 
beträgt 5—7%, d. h. es liegt normale Harnstoffbildung vor. Das in der Tabelle 
nicht näher aufgeführte Verhältnis von primärem zu sekundärem Natriumphosphat 
läßt im Verein mit den Ammoniakwerten und den pu-Werten des Harns die An- 
nahme einer acidotischen Verschiebung des Stoffwechsels nicht zu. 

Blut (in Klammern die Befunde bei der zweiten Beobachtungszeit, 6 Monate 
später): 


Hämoglobin (Sahli) . . . . 75 (80) 
Erythrocyten.. . . . ... . 2950000 (2 085 000) (3 540 000) normales ro- 
Leukocyten’ TE Nee 7400 (6200) (6500) tes Blutbild 
Segmentkernige. .. .. . 50 (38) 
Stabkernige. WIE 12 (10) 
Jugendkernige FF. 72577 1 (0) 
Lymphooyten Tesr 33 (35) 
Monocyten “DIT. 2 (135) 
Bosinophile2 72 Ze 1 (3) 
Basophile TR Sg rer det 


Keine Parasiten (auch im nächtlich entnommenen Blut) nachweisbar. 

Blutungszeit: 2 Minuten. Gerinnungszeit: 6 Minuten. Retraktion des Blut- 
kuchens beschleunigt. Rumpel-Leede stets positiv. 

Ösmotische Resistenz: Beginnende Hämolyse bei 0,40%, komplette bei 0,20%. 

Sedimentierung der Erythrocyten im Citratblut (Anordnung nach Wester- 
green): Nach 1 Stunde 38 mm, nach 2 Stunden 65 mm. 

Mechanische Resistenz: Deutlich vermindert. 














Zur Klinik der Lipämie. 51 


Das Blut im ganzen sieht hell aus, zeigt im Glas einen schokolade- 
braunen Farbenton und dort, wo sich das Serum abscheidet, bläulich- : 
violette Streifungen. Bei Beobachtung eines aus der Fingerbeere 
quellenden Tropfens bemerkt man nach etwa einer Minute an seiner 
Oberfläche kleinste weiße Stippchen aufschießen. Unter dem Mikroskop 
sieht man im Hellfeld (Ölimmersion) eben noch erkennbare zitternde 
Pünktchen, die bei Dunkelfeldbetrachtung hell aufleuchten und leb- 
hafte Oscillationen zeigen. Wenig Geldrollenbildung der Erythrocyten. 
Das Serum, das sich schnell und sehr ergiebig abscheidet, hat eine 
gelblich weiße Farbe und macht nach Farbe und Konsistenz vollkommen 
den Eindruck von rahmiger Milch. Scharfes Zentrifugieren oder längeres 
Stehen auf Eis bewirkt keine völlige Aufrahmung, wohl aber sieht man 
an der Oberfläche ein häutchenartiges Gebilde. Bei Ätherschüttelung 
klärt sich das Serum; der Ätherrückstand ist schmierig und gibt auf 
Papier einen Fettfleck. 

Das Blut ist die einzige erfaßbare abnorm fetthaltige Körperflüssig- 
keit. Weder Harn noch. Speichel, noch Magen-, noch Darmsaft, noch 
Liquor, noch schließlich durch Cantharidinpflaster gewonnenes Reizserum 
enthielt mehr Fett als die auch normalerweise vorhandenen Spuren. 

Die erwähnten Kennzeichen behielt das Blut während der gesamten 
Beobachtungszeit bei, und dem entsprechen auch die in dieser Zeit 
bestimmten Neutralfett- und Cholesterinwerte des Serums (erstere nach 
@. Klemperer und H. Umber, letztere nach Authenrieth und Funk 
bestimmt). | 
































| In 100 ccm Serum 
Datum G es. Ätherextrakt [ Ges. Cholesterin Bemerkungen 
wel 8 er AS 
25. IV. 1923 _ 0,768 
16. V. | 8.11 0,760 | | 

17. V. 7,58 u Statt Serum Plasma verwendet 
20.V. — 0,736 
22.V 7,70 1,220 Nach 5 Tagen fast fettfreier Kost 
28. V 6,64 0,780 ' Nach 5 Tagen sehr fettreicher 

| Kost 
30. V. — 0,760 ) 

: er ia En | Gewöhnliche Kost mit durch- 
0. VI. 6.57 0.752 schnittlichem Fettgehalt von 
21. VII. en 0,700 en 
30. VII. ee 0,710 ) 

B.TX. 6,20 0,700 BAR 
26.1X. 7,28 0,720 Gewöhnliche Kost mit durch- 

1.X. 6.44 schnittlichem Fettgehalt von 

A.X. Er 0,705 etwa 30 bis 40 g 


4* 


52 R. Joel: 


In der fettarmen Periode verlor der Patient den Appetit und erbrach 
mehr als sonst, hatte einen Gewichtsverlust von 1,5 kg in 5 Tagen, so 
daß dieser Abschnitt fast als Hungerperiode angesehen werden kann 
(vgl. dazu Tabelle auf S. 50). 

Wie man sieht, verhält sich das Cholesterin zum Gesamtätherauszug, 
in welchem es ja mit enthalten ist, etwa wie 1:10. Wir haben also 
weniger eine Lipoidämie (bei der dieses Verhältnis zuweilen 1:3 ist) 
als vielmehr vorwiegend eine Neutralfettlipämie vor uns. Zur Charak- 
teristik des Fettes können wir folgende Daten anführen, welche mit den 
in der Literatur vorliegenden übereinstimmen (vgl. Neißer und Derlin 
und Fischer): 


Schmelzpunkt . . .... 40—41° 
JOGZaH am A BETFRRE HR DR 
Verseifungszahl”.". (naen. 7173 


Versuchen wir, diese (im März 1924) nun schon über ein Jahr an- 
dauernde hochgradige Lipämie unter eine der bekannten Formen zu 
subsummieren, so ist zunächst an eine Verzögerung in der Verarbeitung 
des alimentären Fettes nicht zu denken, nachdem eine fünftägige Fett- 
karenz nicht zur Senkung, sondern sogar zum Anstieg der Lipoide 
geführt hat. Ebenso scheidet eine diabetische oder eine nephrogene 
Lipämie bei der völligen Unversehrtheit des Kohlenhydratstoffwechsels 
und der Nierenfunktion aus. Eine Lipämie aus Anämie oder Inanition 
kommt um so weniger in Betracht, als die Besserung des Blutbefundes 
und des Körpergewichtes zeitlich gerade mit dem Auftreten der Lipämie 
zusammenfällt. Fragen wir, worin die Krankheit des Beobachteten, 
abgesehen von der Lipämie, bestehe, so ist eine seit über 7 Jahren 
bestehende Affektion vornehmlich des Magens und wahrscheinlich des 
Pankreas (beide zunächst im Sinne der Achylie) anzunehmen, wobei 
sich aber die Funktionstüchtigkeit des letzteren im Laufe der ver- 
gangenen Monate zweifellos gehoben hat. Wenn wir also auch nach dem 
jetzigen Ausfall der Stuhlanalyse und der Fermentuntersuchung des 
Duodenalsaftes mit der Äußerung des Verdachtes einer Pankreas- 
affektion sehr zurückhaltend sein wollen, so spricht doch vor allem die 
Vorgeschichte unseres Patienten, die häufig rezidivierenden Oberbauch- 
schmerzen bei Abwesenheit von sicheren Magengeschwürssymptomen, 
die früher hellen und fettglänzenden Stühle, die ehemals geringe fermen- 
tative Kraft des Duodenalsaftes, die Kreatorrhoe und das Loewische 
Zeichen für eine Affektion des Pankreas. Des weiteren müssen wir nun 
begründen, was uns dazu veranlaßt, überhaupt an Beziehungen des 
Pankreas zum Fettstoffwechsel und zur Fettblütigkeit zu denken. 
Zunächst das häufige Zusammentreffen von Diabetes und Lipämie. 
Es wäre zu fragen, ob es vielleicht ausschließlich die löpämischen Diabetes- 











Zur Klinik der Lipämie. 45) 


fälle sind, die sich durch Pankreasveränderungen auszeichnen. Was den 
menschlichen Diabetes betrifft, so entsprechen, wie uns eine Durchsicht 
der zur Autopsie gekommenen lipämischen Diabetesfälle lehrt, in der 
Tat sehr viele Beobachtungen diesem Postulat. 

Sehr instruktiv ist z. B. ein Fall wie der von Marchand mitgeteilte eines 
25jährigen Diabetikers, der in den letzten Lebenstagen unter so starken Leib- 
schmerzen litt, daß man an Pankreasnekrose oder Peritonitis dachte. Gleichzeitig 
war eine Lipämie aufgetreten mit 6,2%, Gesamtfett und 1,1%, Cholesterin. Bei 
der Autopsie erwies sich das Pankreas als etwas atrophisch und derb, zeigte breite 
fibröse Einlagerungen zwischen teilweise nekrotischen Läppchen, deren Randzone 
stark mit Eiterkörperchen infiltriert war. 

Um eine durchgängige Regel handelt es sich jedoch nicht (vgl. hierzu 
z. B. die 40 Sektionsberichte in Naunyns Lehrbuch). Diese Diskrepanz 
zwischen Lipämie und negativem Pankreasbefund braucht allerdings 
nicht so sehr zu überraschen, nachdem sich das Pankreasextrakt Insulin 
offenbar auch in solchen Fällen als wirksam erweist, die wir als pankreas- 
diabetisch nicht anerkennen würden. Kurzum die Schädigung der 
antidiabetischen Funktion der Bauchspeicheldrüse läßt sich vorläufig 
in vielen Fällen morphologisch ebensowenig darstellen wie die hier 
postulierte antilipämische. 

Was den tierischen Diabetes betrifft, so sei auf Naunyns spontan- 
diabetischen Hund verwiesen, der hochgradige Lipämie (12,3%, Gesamt- 
fett) und schwerste Pankreasnekrose aufwies. Was das Blut pankrea- 
topriver Tiere anlangt, so hat Seo unter 5 Hunden bei 4 erhöhte Fett- 
und Cholesterinwerte, bei einem hochgradige Lipämie festgestellt (keine 
Hungertiere). Bei der Übertragung der beim experimentellen Diabetes 
gewonnenen Tatsachen auf die menschliche Pathologie ist jedenfalls 
Zurückhaltung geboten, auch bezüglich unserer besonderen Frage- 
stellung. So weist G@eelmuyden unter Anführung analytischer Belege auf 
das Mißverhältnis im Fettgehalt von Leber und Blut hin, das beim 
menschlichen Diabetes zugunsten des letzteren (höhere Lipämiegrade) 
besteht, während bei dem akuten Pankreasdiabetes des Hundes die 
Fettleber im Vordergrund steht. Andere Bedingungen dürften beim 
chronischen Diabetes nach partieller Pankreasexstirpation vorliegen. 

Ein Hinweis sei hier noch gestattet auf den möglicherweise ebenfalls über das 
Pankreas gehenden Zusammenhang zwischen Lipämie und Alkoholismus. Die 
Tatsache, daß chronischer Alkoholismus zu Lipämie führen kann, ist als sicher- 
gestellt anzusehen. Wenn auch gewöhnlich die Leberschädigung bei Alkoholismus 
im Vordergrund steht, so sind ganz unabhängig von ihr Rankreasschäden schon 
lange bekannt. So sprach Friedreich geradezu vom ‚„Säuferpankreas“. Lissauer 
hat fast stets bei Alkoholismus ohne Lebercirrhose Pankreasveränderungen kon- 
statiert in Übereinstimmung mit den Befunden von Symmers, der in den Langer- 
hansschen Inseln von Trinkern meist fettige Infiltrationen feststellen konnte. 

Ein etwaiger Zusammenhang zwischen Diabetes und Lipämie könnte 
jedenfalls immer noch ein indirekter sein und des ätiologischen Zwischen- 


54 RE. Joel: 


oliedes der Hyperglykämie, der Acidose oder anderer Faktoren bedürfen. 
Besondere Beweiskraft würde solchen Experimenten oder solchen 
Krankenbeobachtungen zukommen, wo bei möglichster Unversehrtheit 
des Kohlenhydrathaushaltes eine Pankreasschädigung zur Lipämie führt. 


Während der Beobachtung meines Patienten wurde der chirurgischen 
Abteilung unseres Krankenhauses (Geh.-Rat Borchardt) ein junges 
Mädchen mit heftigen Oberbauchschmerzen und schwerstem Allgemein- 
zustand zugeführt und unter der Diagnose akute Pankreasnekrose, die 
in der Tat vorlag, sogleich operiert. Bei der Vornahme der Senkungs- 
reaktion des einige Wochen vorher völlig normalen Blutes (WaR.) stellte 
nun der Stationsarzt Dr. Marcus eine Lipämie fest!). Schon der bloße 
Anblick des zwar auch vollkommen milchigen Serums zeigte jedoch, daß 
der Fettgehalt ein geringerer sein müsse als bei Fall H. Im übrigen aber 
hatte Gesamtblut und Serum fast alle auf S.51 erwähnten Eigen- 
schaften. Der Cholesteringehalt betrug 0,36 g-%, also etwa das 2!/,fache 
der Norm. Das Neutralfett mindestens das lOfache. Zur quantitativen 
Bestimmung reichte die verfügbare Blutmenge nicht aus. Also auch 
hier wie im Fall H. im wesentlichen eine Vermehrung der Neutralfett- 
fraktion im Gegensatz zu den Lipoidämien, wie sie besonders bei 
schweren Nierenerkrankungen zur Beobachtung kommen. Im Harn 
Zucker, Ketonkörper, Eiweiß, Fett während der Beobachtungszeit 
niemals nachweisbar. Harndiastase pathologisch vermehrt. Stuhl weich, 
reichlich, hell; mikroskopische Fetttröpfchen erkennbar. 5 Tage nach 
der Operation bei fortschreitender Erholung, Wiederherstellung der 
Stühle, Rückgang der Harndiastase schwindet die sichtbare Lipämie, 
und das Serum hat den völlig normalen Cholesteringehalt von 0,15 g-%. 


Eine Fettvermehrung im Blute bei Pankreaserkrankungen ist wahr- 
scheinlich deshalb nicht bekannt, weil man nicht auf sie fahndet und 
überdies das Gesamtblut nichts von der besonderen Beschaffenheit des 
Serums zu verraten braucht (so auch zunächst in unserem Falle). Aber 
selbst auch im Serum macht hoher Fettgehalt nicht immer optische 
Erscheinungen (,Maskierung‘“). So berichtet Bloor über eine Lipämie 
mit 3,6%, Gesamtfett ohne jede Trübung, entsprechendes Bürger über 
cholämische Lipämien. Schließlich brauchte die Lipämie bei Pankreatitis 
ein ebensowenig konstantes Symptom zu sein wie etwa die Glykosurie. 

Sehr wichtig er®heint mir nun in diesem Zusammenhang ein Fall, 
den Wijnhausen als „„Xanthomatose mit rezidivierender Pankreatitis‘“ 
bei einem 35jährigen Mann 1921 veröffentlicht hat. 


!) Herrn Geheimrat Borchardt sowie Herrn Kollegen Marcus, der den Fall 
noch in anderem Zusammenhang publizieren wird, möchte ich hier für die Er- 
laubnis zur Anstellung der chemischen Untersuchungen verbindlichst danken. 





mmmnnn tn nn nn U 


m nme um _mm—n 


EEE En 


a; u — 








Zur Klinik der Lipämie. 55 


Diese Pankreatitis, die sich jahrelang hingezogen hatte, indem sie sich neben 
der typischen Stuhlbeschaffenheit in heftigen fieberhaften Schmerzanfällen, an- 
fangs vereinzelter, später dauernder Glykosurie zu erkennen gab, war von einer 
schubweise sich ausbreitenden Xanthomatose begleitet. Nachdem der Pat. 7 der- 
artige Anfälle erlitten hatte, wurde er operiert (Dekapsulation, Drainage) mit dem 
Erfolg, daß seine Anfälle von jetzt ab seltener wurden, fast nur nach Diätfehlern 
und auch dann milder auftraten als früher. Das Serum hatte im Anfall einen 
Cholesteringehalt von 0,86%, im Intervall von 0,442%, und war, wie mir Herr 
Dr. Wijnhausen auf meine Anfrage freundlicherweise mitteilte, auch in der anfalls- 
freien Zeit lipämisch. | 


Hierher gehört vielleicht auch der Fall von Speck aus dem Jahre 1865. 


Speck beschrieb damals einen Pat., der über Gliederschmerzen, Leibweh, 
Heißhunger abwechselnd mit Appetitlosigkeit, Brechneigung, Ekel vor fettigen 
Speisen klagte, dies bei leichter Leberschwellung; kein Potus. Die Blutanalysen 
auf Fett betrugen: 

28. XII. 1864 7,4% 


9.1 1865 3,01%, 
19. 1. 1865 3,55%, 
30.1. 1865 2,20%, 


14.II. 1865 "0,20%, 


‘ 


Am Ende der Beobachtungszeit schwand gleichzeitig mit der Lipämie Appetit- 


‚losigkeit und Mattigkeit. 


Im gleichen Zusammenhang sind auch die Studien Wiesels über 
Leberveränderungen bei multipler abdomineller Fettgewebsnekrose 
und Pancreatitis haemorrhagica zu erwähnen. 


Nachdem der Autor auf die zahlreichen Fälle von Leberverfettungen bei 
Pankreaserkrankungen hingewiesen hat, die sich in der großen kasuistischen Zu- 
sammenstellung von Truhart finden, beschreibt er selbst mehrere Fälle, in welchen 
er bei hämorrhagischer Pankreatitis neben anderen ÖOrganveränderungen eine 
Lipämie histologisch dadurch nachwies, daß er in Leber und Niere in dem Lumen 
der größeren Gefäße und Capillaren (Glomerulusschlingen) teils Fettkügelchen, 
teils homogene Fettmassen finden konnte, die an Embolien erinnerten. W. faßt 
die Lipämie jedenfalls als keine rein lokale auf und hält den klinischen Nachweis 
von Fett im Blut oder im Harne, der in seinen Fällen unterlassen war, aus diagno- 
stischen Gründen für wünschenswert. Einen ähnlichen Fall wie W. veröffentlicht 
Hildebrandt. 


Jedenfalls glauben wir schon jetzt einige Argumente für den pan- 


 kreatogenen Ursprung einer Lipämie vorgebracht zu haben. 


Wie man sich den hier vertretenen Zusammenhang zwischen Lipämie 
und Pankreas denken soll, darüber können heute nur Vermutungen 
geäußert werden. Es mag daran erinnert sein, daß Magnus-Levy und 
L. F. Meyer bei der Erörterung über das Zustandekommen von Lipämien 
im allgemeinen besonders eine Erschwerung des Fettaustritts aus den 
Capillaren in Betracht ziehen, sei es, daß es sich um „veränderte Durch- 
lässigkeit der Capillarwand oder um ein verlangsamtes Eintreten der 
physikalisch-chemischen Veränderungen“ handelt, ‚die das Fett behufs 


56 E. Joel: 


Durchtritts durch die Capillarwand erfahren muß“. Einen Schritt 
weiter geht .Bloor, der die diabetische Lipämie aus dem Mangel an einem 
Hormon erklären möchte, das den Abtransport aus dem Blute regelt. 
Schließlich sei eine von Bürger zitierte Anschauung U. Lombrosos er- 
wähnt (uns im Original nicht zugänglich), nach welcher ‚die Fett- 
aufnahmefähigkeit der Zellen durch ein inneres Sekret des Pan- 
kreas unterstützt werden soll, welches die Blutfette resorptionsfähig 
macht‘. | Ä | 

Es lag in diesem Zusammenhange nahe, bei dem Patienten einen 
therapeutischen Versuch mit Insulin vorzunehmen, zumal mehrere 
Berichte, so z. B. von Davies und Major, über den Rückgang der dia- 
betischen Lipämie unter Insulinbehandlung vorliegen. In zwei Ver- 
suchen, bei denen unser Patient je 10 Einheiten des Insulins Bayer 
erhielt (das wir durch gütige Vermittlung von Herrn Prof. Fuld be- 
kamen), war kein Rückgang im Fett oder Cholesteringehalt des Blut- 
serums zu bemerken. Wir legen allerdings auf diese Versuche schon 
deshalb keinen besonderen Wert, als es nur bei einem zu einer durch 
Hypoglykämie deutlich manifestierten Insulinwirkung kam und der 
übrigbleibende bei dem hohen Grade der Lipämie als einmaliger Eingriff 
wahrscheinlich viel zu geringfügig war. Hier sei auch angemerkt, daß 
eine längere Behandlung mit Pankreon, Pepsin und Salzsäure ohne Ein- 
wirkung auf die Lipämie war. 

Unabhängig davon, welches Organ bei H. primär erkrankt sei, 
mußte es noch unsere Aufgabe sein, den Mechanismus der Lipämie nach 
Möglichkeit aufzudecken, immer auch unter Berücksichtigung der Tat- 
sache, daß die Lipämie gar nicht das eigentlich krankhafte, sondern nur 
das Symptom einer Störung, unter Umständen sogar eine zweckmäßige 
Schutzmaßnahme des Organismus darstellen könne. | 

Zur Erklärung der Lipämie dachte Virchow an eine krankhafte Ein- 
schränkung der oxydativen Prozesse, andere, so Bang, an eine verringerte 
Fettavidität der Gewebe oder an Blockierung für Fett durch Anomalien 
der Gefäßwand oder, wie @. Klemperer, an eine Mobilisierung der Zell- 
lipoide zum Aufbau neuer Zellen oder, wie Ebstein, an fettige Degene- 
ration bestimmter Gewebe. Verse hat auf die Bedeutung des Cholesterins 
aufmerksam gemacht, die diesem für die Retention des Neutralfettes im 
Blut zukomme. Schließlich zog man seit den Lipolyseversuchen von 
Oohnstein und H. Michaelis einen etwaigen Verlust der lipolytischen 
Wirksamkeit des Blutes selbst in Betracht, indem man das Pflüger sche 
Postulat von der Spaltung des Fettmoleküls vor Durchtritt durch die 
Darmwand auch auf die Fettwanderung aus dem Blut in die Depots 
ausdehnte, woraus also bei geringer lipolytischer Wirksamkeit eine fort- 
dauernde Rückstauung von Fett im Blut erklärt werden könnte. Die 
stalagmometrische Methode von Rona und L. Michaelis hat die Frage 














Zur Klinik der Lipämie. 57 


nach der lipolytischen Funktion des Blutserums einer einfachen Prüfung 
zugänglich gemacht, die wir auch in unserem Falle anwendeten. Die 
Versuche ergaben: 





Tropfenzahl des Serum-Tributyringemisches nach 


























0Min. | 30 Min. | 60Min. | 90Min. | 120 Min. 
1. Normalserum (Kontrolle) | 185 | 104. | 96 94 
2. Lipämisches |a) I 115 az rer 99 | 
Serum ' b)] 10 Monate | 111 1014 | 102 100° | 98 
c)f später | 117 107°) 7102 98 


Bei Atoxyl- und Chininzusatz völlige Hemmung, d.h. Leber- und 
Pankreaslipase nicht nachweisbar. Also das lipämische Serum bewirkt 
gegenüber dem Ausgangswert nur eine geringe Abnahme der Tropfen, 
die Spaltung schreitet aber ungefähr bis zu dem auch bei normalen Seren 
erreichten Endwerte vor. Die ganze Tropfenabnahme wird durch die 
niedrige Anfangszahl erklärt, welche, wie unsere spezielleren Unter- 
suchungen ergaben, auf Adsorptionsvorgänge des Tributyrins an die 
Fetteilchen gedeutet werden muß. Wir werden bei anderer Gelegenheit 
auf diese Frage eingehen, die prinzipiell wichtig ist, insofern als die 
erwähnte Methodik z. B. von Sakai zur Aufklärung der Aderlaßlipämie 
dienen sollte. Auch Verse (1. c. S. 834ff.) hat früher seine Bedenken gegen 
die von Sakai vorgetragene Auffassung mitgeteilt. Für unsere beiden 
Fälle können wir nur sagen, daß, so verlockend es wäre, die Lipämie auf 
eine verringerte Wirksamkeit der Blutlipase zurückzuführen (die 
natürlich ihrerseits wieder auf einer organischen Funktionsstörung 
beruhen könnte), so unerlaubt erscheint es uns, die Frage auf Grund der 
vorliegenden Methodik erledigen zu wollen. 

Die anderen soeben genannten Möglichkeiten der Genese einer 
Lipämie kamen für unseren Patienten nicht in Betracht; weder ließ das 
Studium seines Stoffwechsels verringerte Oxydationen erschließen, noch 
kann, wie bemerkt, eine Verzögerung in der Verarbeitung des alimen- 
tären Fettes angenommen werden. 

Auf die anderen vorhin erwähnten Entstehungsbedingungen sei zum 
Schluß noch im Zusammenhang mit der Frage eingegangen, was die 
Lipämie als solche, welchen Ursprungs auch immer, für den Organismus 
bedeutet. Die Beantwortung dieser Frage erscheint um so wünschens- . 
werter, als sich selten Gelegenheit ergeben wird, einen Fall von reiner 
Lipämie so lange und eingehend zu beobachten, indem bei den. be- 
kannteren klinischen Lipämieformen, der diabetischen und der nephro- 
genen, die Manifestationen der Grundkrankheit so schwere sind, daß 
ihre Trennung von etwaigen Lipämiesymptomen undurchführbar sein 


dürfte. 


58 E. Joel: 


A priori möchte man annehmen, daß eine so abgeartete Blutzusammen- 
setzung zu erheblichen Störungen führen müßte. Subjektiv sehen wir 
bei unserem Patienten davon wenig, wenngleich die Beurteilung seiner 
Beschwerden (allgemeine Schwäche, Kopfschmerz, Schwindel) durch 
seine Neuropathie erschwert wird. Objektiv können wir kaum von 
einem typischen lipämischen Krankheitszeichen sprechen, außer etwa 
dem, daß die spezifischen Blut- bzw. Serumbestandteile durch das 
Fett bis zu einem gewissen Grade verdrängt sind, wie aus folgender 
Zusammenstellung hervorgeht: 

















Normale Durch- 
schnittszahlen 
Trockensubstanz .. | 14,5% 718 2209% 
Gesamtstickstoff . . . | 0,95—1,02% 1,25% 
Eiweiß (berechnet) . | 5,9—6,6% | 7,5% 
Kochsalz een | 0,49%, 0,58% 
Erythroeyten . . . . , 3500000 | 4500 000 
Hämoglobin | 70% | 85% 





Von Belang dürfte hier vor allem die Reduktion des Hämoglobins 
mit all seinen Folgen sein. Die von Herrn Oberarzt Hirschmann freund- 
lichst vorgenommene Untersuchung der Sauerstoff- und Kohlensäure- 
spannung (nach Bareroft) ergab entsprechende Werte, nämlich Vol O, 
— 13,08, Vol CO, = 60,7; d.h. also eine abnorme Verschiebung im Ver- 
hältnis der Blutgase, zuungunsten des Sauerstoffs. Vielleicht läßt sich 
das bei H. stets auslösbare Phänomen von Rumpel-Leede auf eine 
schlechte Versorgung der Hautcapillaren zurückführen. Ganz allgemein 
wird man jedenfalls annehmen dürfen, daß so erhebliche Fettmengen 
wie in unserem Fall die Austausch- und Ernährungsfunktionen des 
Blutes erheblich stören können, ohne daß uns aber die Krankengeschichte 
konkrete Hinweise für bestimmte Organschädigungen gibt. 

Von den Untersuchungen in vitro sei hier noch die erhöhte Visco- 
sität des Serums, die wir wohl auf das Fett beziehen dürfen, erwähnt, 
während seine Oberflächenspannung beträchtlich erniedrigt war. Mit der 
Viscositätserhöhung könnte man vielleicht den für das Alter und den 
allgemeinen schwächlichen Zustand des Patienten relativ gesteigerten 
Blutdruck (Maximum 135) in Zusammenhang bringen. Weitergehende 
Schlüsse, wie etwa die früher z.B. von W. Ebstein angenommene 
Emboliegefahr, erscheinen uns nicht erlaubt. Die niedrige Oberflächen- 
spannung, die bei dem hohen Fettgehalt erwartet werden durfte, können 
wir in keinerlei Verbindung mit irgendeinem krankhaften Symptom 
bringen. Gleiches gilt für die enorm beschleunigte Sedimentierung der 
Erythrocyten im Citratblut, die eine Bestätigung der von Kürten 
gewonnenen Ergebnisse darstellt und vielleicht außer auf dem ver- 














Zur Klinik der Lipämie. 59 


mehrten Cholesteringehalt auch auf der niedrigen Oberflächenspannung 
des Serums beruht. Übrigens vollzieht sich die Retraktion des Blut- 
kuchens im nativen Blut stets außerordentlich schnell. Die mangel- 
hafte Geldrollenbildung der Erythrocyten ließ daran zweifeln, ob 
Thrombenbildung und Blutgerinnung in befriedigender Weise vor sich 
sehe. Die Prüfung der Gerinnungs- wie der Blutungszeit führte jedoch 
mehrfach zu völlig normalen Ergebnissen (S. 50). Schließlich mußte 
gefragt werden, ob bei einem derartig hohen Fettgehalt nicht auch die 
Spaltprodukte des Fettes abnorm vermehrt sein konnten, die Fett- 
säuren, aber auch vielleicht die Seifen, was nach Erfahrungen des Tier- 
versuches keineswegs unbedenklich sein kann. Aber auch hier zeigten 
sich einwandfrei normale Verhältnisse. 

Die Zahl der auf die Lipämie beziehbaren subjektiven und objektiven 
Zeichen ist demnach gering, und man ist verwundert, wie verhältnis- 
mäßig gut ein so hochgradiger Fettgehalt des Blutes monatelang ver- 
tragen wird, was auch durch den vorhin erwähnten Fall von Speck 
gut illustriert wird. 

Wir werden in einer späteren Mitteilung weitere Beobachtungs- 
ergebnisse bei Fall H. berichten und behalten uns vor, Untersuchungen 
der Blutlipoide bei menschlichen spontanen und tierexperimentellen 
Pankreaserkrankungen anzustellen. 


Zusammenfassung. 


Im vorangehenden wird ein Fall von Lipämie beim Menschen 
dargestellt, der bezüglich seines klinischen Bildes und seiner Dauer 
mit keinem der bisher beschriebenen Fälle verglichen werden kann. 
Es wird vermutet, daß dieser Lipämie eine Pankreasstörung zugrunde 
liegt. Daß es überhaupt einen Zusammenhang zwischen Pankreas und 
Lipämie gibt, wird durch die Schilderung eines weiteren eindeutigeren 
Falles sowie durch einige der Literatur entnommene Angaben zu stützen 
gesucht. Nach den vorgebrachten Tatsachen und Erwägungen erscheint 
es uns berechtigt, eine pankreatogene Lipämie von den übrigen Formen 
der Lipämie abzugrenzen, womit gleichzeitig auch eine besondere 
physiologische Funktion des Pankreas, nämlich seine Beteiligung an 
- der Regelung der Fettverteilung im Körper, postuliert wird. 


Herrn Professor Martin Jacoby möchte ich auch an dieser Stelle 
für vielfache Beratung und Unterstützung herzlichst danken. 


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60 E. Joel: Zur Klinik der Lipämie. 


Ebstein, Virchows Arch. f. pathol. Anat. u. Physiol. 155, 571. — Fischer, Virchows 
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Verse, Beitr. z. pathol. Anat. u. z. allg. Pathol. 63, 789, 1916. — Virchow, Ges. 
Abhandl. Frankfurt 1856, S. 138. — Wiesel, Mitt. a. d. Grenzgeb. d. Med. u. Chirurg. 
14, 487. 1905. — Wiejnhausen, Berlin. klin. Wochenschr. 1921, S. 1268. 








(Aus dem Sanatorium Groedel, Bad Nauheim.) 


Klinische Erfahrungen mit der mikroskopischen 
Capillaruntersuechungsmethode. 


Von 
Privatdozent Dr. Franz Groedel und Dr. Georg Hubert, Bad Nauheim. 


(Eingegangen am 1. Januar 1924.) 


Bisher hat sich die physiologische und klinische Forschung beim 
Studium des Kreislaufsystems hauptsächlich mit dem Motor und den 
Leitungsröhren, den Arterien und Venen, nicht aber genügend mit den 
Capillaren beschäftigt, obschon gerade sie, als die eigentlichen Stoff- 
wechselorgane, den Teil des Kreislaufs darstellen, dessentwegen das Herz 
und die Gefäße überhaupt vorhanden sind. Als erster beobachtete 
Lombard!) 1912 die Hautcapillaren am Nagelfalz des Fingers durch die 
transparent gemachte Haut. Er benutzte die Methode zur Messung des 
Capillardrucks. Die Methode wurde später von O. Müller und Weiss?) 
durch Konstruktion geeigneter Hilfsinstrumente ausgebaut und klini- 
schen Zwecken dienstbar gemacht. Ihnen gebührt das Verdienst, als 
erste die verschiedenen Untersuchungsergebnisse mit verschiedenen 
funktionellen oder organischen Veränderungen des Kreislaufs in Zu- 
sammenhang gebracht zu haben. Die Methode ist heute hinlänglich 
bekannt. Ihre Anwendung für das Studium der Kreislaufstörungen 
und die gemachten Schlußfolgerungen bedürfen aber auch heute noch 
vielfach der kritischen Nachprüfung und der Ergänzung. Diesem Zwecke 
sollen die folgenden Studien an einem reichen Material von Kreislauf- 
störungen dienen. 

Wir beschränkten uns auf die Untersuchung der Capillaren am 
Nagelfalz der Finger. Hier sind die Capillaren wegen ihres horizontalen 
Verlaufes am besten zu übersehen. Die von Niekau?) und von Weiss 
und Hanfland*) veröffentlichten Beobachtungen der Hautcapillaren an 
anderen Stellen der Körperoberfläche fanden von uns keine Berück- 
sichtigung. Sie scheinen auch eher zum Studium lokaler Hautverände- 
rungen besondere Geltung zu haben. 

Daß eine direkte Untersuchung der Capillaren neue Aufschlüsse 
und Erkenntnisse bringen mußte, war von vornherein anzunehmen. 
Wir beobachten ja hier die Stelle des Kreislaufs, an der sich die kom- 
pliziertesten biologischen Reaktionen vollziehen. In Würdigung gerade 


62 F. Groedel und G. Hubert: Klinische Erfahrungen 


dieser Tatsache werden wir aber auch bei weitgehenden Veränderungen 
der Capillaren am Nagelfalz in unseren Schlüssen sehr vorsichtig sein 
müssen. Denn gerade hier ist der Stoffwechsel im Vergleich, z. B. zum 
Capillargebiet der Eingeweide, der Leber, der Niere und anderer Organe 
relativ geringer. Je nach den verschiedenen Stoffwechselaufgaben 
werden sich wahrscheinlich auch Capillarform und ihre Durchblutung 
verändern. Eine Verallgemeinerung der am Nagelfalz gefundenen Ab- 
weichungen ist daher nicht immer ohne weiteres erlaubt. 

Um aus unserer Methode überhaupt bindende Schlüsse über Stö- 
rungen im Kreislaufsystem kardiogener oder vasogener Natur zu ziehen 
oder um Störungen in der Regulation der Stoffwechselaufgaben der 
Capillaren oder des von ihnen versorgten Gewebes festzustellen, sind 
sehr eingehende Kenntnisse über die anatomische Struktur sowie über 
die physiologische Tätigkeit der Capillaren unbedingt notwendig. Unser 
Wissen ist aber auf diesem Gebiete zur Zeit noch lückenhaft. Weitere 
Forschungen über diese Fragen und kasuistische Sammelarbeiten über 
Form- und Durchströmungsverhältnisse bei normalen, sowie über 
typische sichtbare Veränderungen bei Störungen im Kreislaufsystem 
werden aber langsam die Klärung der sehr verwickelten Probleme 
herbeiführen. 

Die Veröffentlichung der bisher gefundenen Ergebnisse ist also be- 
rechtigt und wünschenswert, um durch immer neue Überprüfungen zum 
Ziele zu kommen. Will man aus Veränderungen der Capillarform und 
ihrer Durchströmung Rückschlüsse auf Störungen des Kreislaufappa- 
rates machen, dann ist zuerst die Frage zu beantworten: Sind die Capil- 
laren lediglich die letzten, feinsten Röhren, die das vom Herzen ausgepumpte 
Blut rein passiv durchströmen lassen, oder besitzen sie selbständige Kräfte, 
um den in ihnen fließenden Blutstrom je nach Bedarf regulatorisch zu 
beeinflussen? Bei der Bedeutung des Capillarkreislaufs für den ganzen 
Körperhaushalt ist schon a priori eine solche Fähigkeit anzunehmen. 
Nach anatomischen Studien bestehen die Capillaren aus platten Endo- 
thelzellen, die eine Fortsetzung der Intima der Arteriolen bzw. der Venen 
darstellen. Zwischen den einzelnen Endothelzellen liegen, wie Gegen- 
baur5) nachweisen konnte, kleine Öffnungen. Bezüglich der Inner vation 
sind die Ansichten geteilt. Einige Autoren (Conheim und Ed. und 
E. H. Weber) bestreiten eine besondere nervöse Versorgung, die über- 
wiegende Menge der Forscher nimmt aber eine nervöse Beeinflussung 
im Sinne einer Vasoconstriction und Dilatation an. Stricker beobachtete 
eine Verengerung des Capillarlumens durch Quellung und Schrumpfung. 
Steinach und Kahn®) glauben an ringförmige Gebilde, die die Endothel- 
zellen ähnlich wie die Muscularis die größeren Arterien umspinnen. 
Vorher waren schon von Rouget und Mayer verästelte Capillarwand- 
zellen aufgefunden worden, die mit ihren feinen Ausläufern die Capil- 


a 3 











mit der mikroskopischen Capillaruntersuchungsmethode. 63 


laren faßreifenförmig umklammern. Ob nun feinste muskuläre Elemente 
oder besondere nervöse Fasern an der selbständigen Regulation der 
Capillarschlingen Anteil haben, werden weitere Forschungen feststellen 
müssen. Jedenfalls entsprechen die bisherigen wissenschaftlichen Er- 
gebnisse den empirischen Beobachtungen. Man könnte sich allerdings 
eine aktive Tätigkeit der Capillaren auch in dem Sinne vorstellen, daß 
von den umliegenden Gewebszellen, je nach deren Bedarf an Sauerstoff 
oder sonstigen Nahrungsstoffen ein chemisch - biologischer Reiz auf 
die Endothelwand wirkt und diese lediglich durch Quellung und 
Schrumpfung zur Erweiterung und Verengerung veranlaßt, wie dies be- 
‚sonders von Hagen angenommen wird. Auch die Durchströmungs- 
geschwindigkeit könnte gerade durch solche Reize beeinflußt werden. 
Die letzte Theorie hat nach unserer Ansicht sehr viel Bestechendes 
für sich. Wir möchten jedenfalls nach unseren gegenwärtigen Kennt- 
nissen eine selbständige regulatorische, den jeweiligen Bedürfnissen 
des sie umgebenden Gewebes angepaßte Tätigkeit der Capillaren an- 
nehmen. Und stellt man sich auf diesen Boden, dann ergibt sich folge- 
richtig eine weitere Tatsache. Veränderung an Form- und Durch- 
strömungsart der Capillaren spricht keineswegs immer ohne weiteres für 
eine Störung des Zentralapparates. Sie kann ebenso lediglich eine rein 
periphere Störung, eine funktionelle oder organische Capillarschädigung 
sein, ja sie braucht nicht einmal eine Störung oder Schädigung, sie 
kann auch eine notwendige biologische Reaktion darstellen. 

Aus den verwickelten Ursachenkomplexen und aus den engen Be- 
ziehungen der einzelnen Kreislaufabschnitte zueinander und der rela- 
tiven Selbständigkeit der Capillaren andererseits, ist die Schwierigkeit 
eindeutiger Schlüsse an sich hinlänglich erklärt und die häufig sich 
widersprechenden Deutungen verschiedener Autoren bei gleicher Be- 
obachtung verständlich. 

Wir unterscheiden im allgemeinen drei verschiedene Formen von 
Capillaren, die Haarnadelform, die Achterform und die kompliziert ge- 
schlängelte Teppichklopferform. Während im allgemeinen die Haar- 
nadelform als die normale bezeichnet wird, hält man die Achterform 
und vor allem die kompliziert geschlängelte für pathologische Abarten. 
Wir werden weiter unten an Hand unserer Beobachtungen näher dazu 
Stellung nehmen. 

Wichtig ist neben der Form das Kaliber der beiden Schenkel. Im 
allgemeinen ist der venöse Schenkel etwas, aber jedenfalls nur unbe- 
deutend weiter als der arterielle. Häufig läßt sich gar kein Breiten- 
unterschied erkennen und die Differenzierung beider Schenkel nur durch 
die Durchströmungsrichtung feststellen. Nur bei bestimmten Störungen 
läßt sich eine deutliche Erweiterung der venösen Schenkel erkennen; 
er kann dann bis dreimal so breit sein als der arterielle. 


64 F. Groedel und G. Hubert: Klinische Erfahrungen 


Die klinisch wichtigste Formveränderung ist die gleichmäßige oder 
teilweise Verengerung der Capillarschlingen. Man findet in solchen Fällen 
eine auffallende Zartheit und Feinheit der arteriellen Schenkel. Der 
Querschnitt des arteriellen Teils ist sehr gering, das Gefäß kaum sicht- 
bar. Verfolgt man den Verlauf dieser Capillaren, so findet man im arte- 
riellen Schenkel nicht selten sogar zirkuläre Einziehungen. Man hat den 
Eindruck totaler oder regionärer Spasmen. Die engen arteriellen Schenkel 
können bei allen drei Formtypen gefunden werden; am häufigsten sind 
sie mit starker Schlängelung verbunden. 

Neben der Form hat natürlich die Durchströmungsart das größte 
Interesse hervorgerufen. 

Um die verschiedenen Durchströmungsarten richtig voneinander 
abtrennen und deuten zu können, schicken wir kurz einige theoretische 
Bemerkungen über die Mechanik des Gesamtkreislaufes voraus. Das 
Herz pumpt rhythmisch seinen Inhalt in die Gefäße. Durch die Elasti- 
zität des Gefäßrohres wird aus dem unterbrochenen rhythmischen ein 
kontinuierlich rhythmischer Blutstrom. Die elastische Arterie fängt 
den systolischen Blutstoß auf und wandelt einen Teil der kinetischen 
Energie während der Systole in potentielle um. Die systolisch ge- 
speicherte potentielle Energie wird dann in der Diastole ausgenützt, die 
gedehnte Arterie zieht sich zusammen und unterhält somit auch in der 
Diastole die Blutströmung. Durch diesen Mechanismus fließt auch 
in der Diastole ein diastolisches ‚Etwas‘, in der Systole ein systolisches 
„Mehr“ durch das Gefäßrohr. Obschon der Querschnitt der einzelnen 
Gefäße mit der Entfernung vom Herzen abnimmt, wird der Gesamt- 
querschnitt des Strombettes mit zunehmender Entfernung aber infolge 
vermehrter Gefäßverzweigung größer, der Volumenunterschied zwischen 
Diastole und Systole immer geringer, je weiter ein Gefäß vom Motor 
entfernt liegt. Nach Rothberger?) erfolgt die Drosselung der Pulswelle 
in den Präcapillaren; die Folge davon ist also eine kontinuierliche 
capilläre Strömung. Damit stimmt die empirische Beobachtung voll- 
kommen überein. Wir sehen bei normalem System in den meisten Fällen 
eine für das untersuchende Auge kontinuierliche Capillarströmung ohne 
erkennbare Dehnung oder Verengerung der Schlingen. Die kontinuierliche 
capilläre Strömung ist sicherlich für die Aufgaben des Capillarnetzes 
als Stoffwechselorgan auch die physiologisch optimale. Finden wir 
demnach Abarten in der Durchströmung, so dürfen wir an eine Störung 
an irgendeiner Stelle des Systems denken. Die Entscheidung, wo die 
Störung liegt und welcher Art sie ist, kann dabei oft große Schwierig- 
keiten machen, wie wir später sehen werden. 

Ganz ungeklärt ist noch die auffallende Tatsache, daß bei einer 
großen Reihe von Menschen in den Capillaren überhaupt keine Strö- 
mung nachweisbar ist. Wir sahen solche T'otalstasen in 31,9%, der ver- 

















mit der mikroskopischen Capillaruntersuchungsmethode. 65 


schiedensten zentralen und peripheren Kreislaufstörungen. Der Be- 
hauptung von Weiss?), daß die schnelle kontinuierliche Strömung das 
Sichtbarwerden der Blutströmung erschwert oder unmöglich macht, 
möchten wir nach unseren langen und zahlreichen Beobachtungen nicht 
beipflichten. Daß es sich in solchen Fällen tatsächlich um echte Stasen 
handelt, davon überzeugten wir uns durch den Sperrversuch. Nach 
Absperrung des Zuflusses mit einem, den Maximaldruck übersteigenden 
Manschettendruck, konnten wir nach Lösung der. Sperre die vor dem 
Sperrversuch stromlosen Capillaren in lebhafter schneller Durchströ- 
mung für lange Zeit beobachten. In anderen Fällen kam nach Lösung 
der Sperre nur für kurze Zeit eine schnelle Strömung zustande, die sich 
bald erschöpfte und wieder von absoluter Stase gefolgt wurde. Neuer- 
dings erklären Parrisius und Wintterlin®) die auch von uns öfter be- 
obachteten temporären Stasen durch regulatorische Tätigkeit der 
derivatorischen Kanäle, direkter arteriovenöser von Hoyer entdeckter 
Verbindungen, durch welche der Capillarkreislauf zeitweise ausgeschaltet 
wird, eine Erklärung, die aber nicht befriedigt. In derartig gelagerten 
Fällen sieht man oft nach minutenlanger Stase plötzlich für einige Sekun- 
den eine sehr schnelle Strömung einsetzen, allmählich läßt die Ge- 
schwindigkeit wieder nach, bis das ganze Capillarnetz wieder ruhig steht. 

Eine weitere Abart der Durchströmung ist die langsame wurmartige 
Durchströmung. Die einzelnen roten Blutkörperchen wälzen sich, in 
Rollen verklumpt, aber als kontinuierliche Blutsäule geradezu durch die 
Capillarschlinge hindurch. Wenn ein Vergleich erlaubt ist, könnte man 
an das Bild eines schweren Lastzuges erinnern, der sich auf einer ge- 
wundenen Gebirgsbahn mühsam aufwärts schiebt. Die Capillarwände 
erscheinen nicht parallel, man hat eher den Eindruck von an Peristaltik 
erinnernden Ein- und Ausbuchtungen. Gerade bei diesem Typ sieht 
man nicht selten einen gewissen regelmäßigen Wechsel zwischen der 
langsamen Strömung und der temporären Stase. 

Die wurmartige langsame Strömung kann durch drei verschiedene 
Faktoren bedingt sein, 1. durch ungenügende vis a tergo. Diesem Faktor 
kommt aber nur dann maßgebende Bedeutung zu, wenn man das 
präcapillare und capillare System als rein passive, Leitungsröhren ohne 
Eigenfunktionen ansieht. 2. Durch Wechsel des Kontraktionszustandes 
der Capillarschlingen selbst. Stärkere Kontraktion führt durch Erhöhung 
des peripheren Widerstandes bei einer konstanten genügenden vis a tergo 
zur Erschwerung und damit zur Verlangsamung der capillären Durch- 
strömung; oder die vis a tergo pumpt das Blut mit einer konstanten 
Kraft in ein durch Atonie oder Lähmung des capillären Stromgebietes 
maximal erweitertes Flußbett. Die Folge ist die gleiche, nämlich die 
langsame Strömung. 3. Durch Änderung des Capillardruckes. Je geringer 
der Capillardruck, um so geringer die Durchströmungsgeschwindigkeit. 

Z. 1. klin. Medizin. Bd. 100. | 5 


66 F. Groedel und G. Hubert: Klinische Erfahrungen 


Die dritte, vielleicht wichtigste pathologische Durchströmungsart 
ist die sog. körnelige Strömung. Wir sehen in solchen Gefäßen die ein- 
zelnen Blutkörperchen voneinander getrennt oder kurze Blutkörperchen- 
säulen durch mehr oder weniger große Zwischenräume voneinander 
geschieden, die Capillarschlingen in verschieden starker Geschwindigkeit 
durchfließen. Die körnelige Durchströmung ist fast ausnahmslos mit 
einer auffallenden Engigkeit des Capillarrohrs verbunden. Infolgedessen 
sieht man häufig jedes einzelne Blutkörperchen vom anderen getrennt 
die Schlingen durchlaufen. Manchmal ist der arterielle Schenkel 
streckenweise leer und gar nicht erkennbar, der venöse Schenkel da- 
gegen immer vollständig gefüllt, er beteiligt sich also an der Kontraktions- 
veränderung nicht. Die gekörnte Strömung ist nach unserem und 
anderer Untersucher Urteil ein Symptom für eine rein periphere Zir- 
kulationsstörung. Es handelt sich hierbei wohl ohne Zweifel um einen 
capillären Spasmus, also um eine capilläre Hypertonie. Mit Verän- 
derungen des Zentralapparates steht sie in keinem ursächlichen Zu- 
sammenhang. 

Die letzte Abweichung vom normalen Durchströmungstyp ist der 
echte Mikrocapillarpuls. Wir sehen in solchen Fällen in den Capillaren 
eine rhythmische, mit der Herzaktion synchrone Durchströmung, die 
in einzelnen Fällen sogar mit einer systolischen (passiven ?) Erweiterung 
und einer diastolischen Verengerung der Capillarschlingen einhergeht. Da 
wir nach physiologischen Studien wissen, daß die Pulswelle in der Prä- 
capillare gedrosselt und in eine kontinuierliche Capillarströmung über- 
geführt wird, so muß der Capillarpuls eine pathologische Bedeutung 
haben, und zwar eine rein periphere präcapillare Störung anzeigen. 
An unserem Material werden wir später zeigen können, daß diese theore- 
tische Annahme durch die Erfahrung bestätigt wird. Hier soll vorerst 
nur im allgemeinen dazu Stellung genommen werden. Die Entstehung 
des echten Mikrocapillarpulses kann, wie ja auch schon Jürgensen?) 
früher angenommen hat, zwei Ursachen haben. Erstens entsteht er durch 
übermäßige Stoßkraft a tergo bei intaktem Capillarsystem. In diesem 
Falle überwiegt die zentrale Kraft über die ihr entgegenarbeitende 
Drosselung der Präcapillaren und schlägt bis in das Capillarnetz durch. 
Diese Verhältnisse liegen nach unseren Beobachtungen aber nur sehr 
selten vor. Bedeutend häufiger ist die zweite Entstehungsart. Infolge 
einer funktionellen Schwäche der Präcapillaren und der Capillaren er- 
fährt die normal große vis a tergo keine genügende oder eine zu geringe 
Drosselung in den Präcapillaren und bewirkt distal eine rhythmisch 
pulsatorische Durchströmung. Ja man kann sich bei dieser Betrach- 
tungsweise sogar einen echten Mikrocapillarpuls bei stark herabgesetzter 
Zentralkraft vorstellen. Auch dieser Vorstellung gibt die praktische 
Erfahrung recht. So erklärt sich nämlich der häufig bei hochgradigem 

















mit der mikroskopischen Capillaruntersuchungsmethode. 67 


Fieber trotz schwer darniederliegender Herzkraft feststellbare echte 
Mikrocapillarpuls. Er ist hier geradezu der Ausdruck des Vasomotoren- 
kollapses. 


Nach diesen notwendigen theoretischen Betrachtungen und allge- 


meinen klinischen Erfahrungen wenden wir uns dem von uns im letzten 


Halbjahr capillarmikroskopisch untersuchten klinischen Material zu. 
Aus äußeren Gründen war es uns leider nicht möglich, das gesamte 
Material mit dieser Methode zu untersuchen, immerhin liegen den nach- 
stehenden Ausführungen 514 Einzeluntersuchungen zugrunde. Wir 
teilen die verschiedenen Störungen in kardiogene, vasogene und konsti- 
tutionelle ein. Wir untersuchten: 


A. Kardiogene Kreislaufstörungen: 


ee OR N ZB, 100 
BEENVERRNBERTENLKUUDERT a SE m OR RER Et. rain), 60 
B. Vasogene Kreislaufstörungen: 
BE RETGERIOTOBETL a a En a ne en 139 
Bessnlillische Gefaßbrkrankungenm. u 2 Nauen 36 
3. Nephrosklerosen und sekundäre Schrumpfnieren . . . . 2.2.2... 64 
ENT are 1 u0c Ka SEHE TU ESG ET a a ei 26 
De ebiorinchen stormpar.ı a. ae ee lee 11 
C. Konstitutionelle Störungen: 
EI une el et m 54 
Peansemkeriund PAnatmkapid 20a N 9 RE 24 
Sa. 514 


A. Capillarbefund bei kardiogenen Kreislaufstörungen. 
Tab. I zeigt die Untersuchungsresultate bei 82 einfachen und kom- 
binierten Mitralfehlern. Es überwiegen darnach die geschlängelten 


' Formen mit 45% gegen nur 28% Haarnadelformen. Auch die starke 


Häufung der dünnen, engen Capillaren mit 48,9% fällt auf. Diese 
Häufung sog. pathologischer Capillarformen, die von anderen Autoren 
als Ausdruck peripherer Gefäßveränderung gedeutet werden, bringen 
wir im Gegensatz zu ihnen mit einer Kompensationsreaktion des Capillar- 
netzes in Zusammenhang. Bei allen Mitralfehlern ist bekanntlich die 
periphere Durchblutung durch den Ventildefekt mehr oder weniger un- 
genügend. Vor allem bei der Mitralstenose, die meistens mit einer 


I. Mitralklappenfehler. 82 Fälle. 











Capillarform Durchströmungsart 
{nr Ines 
Haarnadelform 28 Kontinuierlich 20 
Schlängelung 45 Gekörnt 10 
Abnorme Verengerung 48,9 Langsam 20 
Stase 58,5 





68 F. Groedel und G. Hubert: Klinische Erfahrungen 


Hypotonie verknüpft ist. Zur Garantierung der für den Stoffwechsel 
notwendigen Versorgung des Gewebes wird durch Schlängelung der 
Capillarschlingen die durchblutete Oberfläche des Gewebes vergrößert, 
durch stärkere Verengerung ein höherer Capillardruck gewährleistet und 
damit wieder eine bessere Durchströmung ermöglicht. 

Um dem Vorwurf zu begegnen, daß in solchen Fällen eine gleich- 
zeitige Arteriosklerose, die ja bei älteren Individuen auch mit Mitral- 
fehlern sich kombinieren kann, die Formveränderung bedingen könnte, 
haben wir aus der Gesamtgruppe den Capillarbefund von 29 Patienten 
unter 35 Jahren mit Mitralfehlern in Tab. II gesondert aufgeführt. 
Wir finden nun hier, wie die Tabelle zeigt, fast die gleichen Resultate, 
45%, weisen geschlängelte, 48%, auffallend dünne und nur 20,5% haar- 
nadelförmige Capillaren auf. Damit dürfte die oben gegebene Er- 
klärung wahrscheinich gemacht worden sein. Die Veränderung der 
Capillarform ist eine Regulationsvorrichtung für die veränderten Kreis- 
laufbedingungen und jedenfalls bei Mitralfehlern kein Beweis für sklero- 
tische oder funktionell-toxische Capillarschädigung. 


II. Mitralfehler bei Jugendlichen. 29 Fälle. 














Capillarform Durchströmungsart 
in % in %/o 
Haarnadelform 20,5 Kontinuierlich 18,3 
Schlängelung: 45 Gekörnt 10,2 
Abnorme Verengerung 48 Langsam 18,3 
Stase 55 





Bezüglich der Durchströmungsverhältnisse fällt der geringe Prozent- 
satz kontinuierlicher schneller Strömung auf. Wir fanden sie nur in 
20%, dagegen ließ sich in 58,5%, gar keine, in 20% eine auffallend lang- 
same, wurmartige Strömung nachweisen. Wie das Einzelstudium er- 
eibt, zeigten die Fälle mit wurmartiger, langsamer Strömung meist eine 
Störung der Kompensation leichten oder höheren Grades. Wir werden 
also auch in der vom physiologischen Typ abweichenden Durchströ- 
mungsart eine Reaktion der Capillaren zum Teil auf die geänderten 
mechanischen Verhältnisse, zum Teil aber auch, besonders in der wurm- 
artigen Strömung, ein Nachlassen des gesamten Kreislaufs erblicken. 
Wie groß die Rolle der einzelnen Faktoren beim Zustandekommen der 
langsamen Strömung einzuschätzen ist, ließ die Mikrocapillarunter- 
suchung allein nicht erkennen. 

Nach diesen Beobachtungen sind Formveränderungen der Capil- 
laren und die verhältnismäßig seltene kontinuierliche schnelle Strömung 
bei Mitralfehlern eine sehr häufige Erscheinung und wahrscheinlich in 
causalen Zusammenhang mit dem Ventildefekt zu bringen. 











mit der mikroskopischen Capillaruntersuchungsmethode. 69 


Tab. III gibt die Ergebnisse von 60 Myokarderkrankungen wieder. 

Hier überwiegen die Haarnadelformen mit 46,6% und die konti- 
nuierliche Strömung mit 40%. Schlängelung mit 33,3% und nament- 
lich die dünnen Formen mit 26,6% treten gegenüber allen sonstigen Be- 
obachtungen bei anderen Krankheitsbildern zurück. Auffallend ist die 
Tatsache, daß die Capillardurchströmung nur in etwa !/; der Fälle 
stillsteht und nur in 15%, verlangsamt ist, obwohl die vis a tergo in diesen 
Fällen fast ausnahmslos vermindert ist. Vielleicht liegt das daran, daß 
die Arterien und Arteriolen gerade wegen der mangelnden Zentralkraft 
im Zustand kompensatorischer Tonisierung die Capillardurchströmung 
doch ermöglichen oder die Capillaren selbst mit Hilfe der Rouget- 
Mayerschen Korbzellen eine bessere Durchblutung garantieren. Immer- 
hin konnten wir aber eine gewisse Korrelation zwischen der langsamen 


III. Myokarderkrankungen. 60 Fälle. 








Capillarform Durchströmungsart 








inz3r Iikz0y 
Haarnadelform 46,6 Kontinuierlich 40 
Schlängelung 3353 Gekörnt 10 
Abnorme Verengerung 26,6 Langsam 15 
Stase 34,8 





Strömung und der Schwere der Insuffizienz feststellen. Hier scheint 
dann in der Tat der Hauptfaktor die mangelnde Vis a tergo zu sein, 
so daß man vielleicht die capilläre Stase und die langsame Strömung 
bei Myokarderkrankungen prognostisch verwenden könnte. Aber alle 
diese Fragen sind noch weitgehender Klärung bedürftig. 

Andere Autoren sehen in der übermäßigen Erweiterung der venösen 
Schenkel ein Zeichen für das Nachlassen der Herzkraft, besonders des 
rechten Herzens. Wir haben gleichfalls bei unserem Material in 37 Fällen 
eine abnorme Erweiterung der venösen Schenkel gesehen, konnten aber 
eine zwingende Abhängigkeit dieses Befundes von einer Herzinsuffizienz ' 
speziell des rechten Ventrikels nicht finden. Wohl sahen wir die venöse 
Erweiterung der Capillaren bei Myokarditis 11 mal, bei Nephrosklerose, 
die häufig mit sekundärer Herzinsuffizienz verbunden ist, 8mal, zu- 
sammen also in 51%, aller Fälle, in 49%, war aber jegliche Herzinsuffi- 
zienz ausgeschlossen. In den 19 Fällen von Erweiterung der venösen 
Schenkel mit sicherer oder wahrscheinlicher Herzinsuffizienz fehlte 
10 mal eine Dilatation des röntgenologisch untersuchten Herzens ganz, 
also in über 50%. Umgekehrt konnten wir z. B. bei einem stark de- 
kompensierten Mitralfehler mit allen klassischen Stauungssymptomen 
im venösen Kreislauf und einer maximalen Dilatation des Herzens nach 
rechts (Mr. im Röntgenbilde 11,7 cm!) keine Erweiterung der venösen 


70 F. Groedel und G. Hubert: Klinische Erfahrungen 


Schenkel finden. Es ließen sich noch eine ganze Reihe schwerster Herz- 
insuffizienzen mit Stauung im venösen Kreislauf beschreiben, bei denen 
die Erweiterung im venösen Schenkel fehlte. Daraus ergibt sich ein- 
wandsfrei, daß neben dem Nachlassen der Zentralkraft noch andere 
Momente zur Erweiterung der venösen Schenkel führen. 

Man hat die Erweiterung der venösen Schenkel ferner als einen 
charakteristischen Befund bei Diabetikern beschrieben und diesen Be- 
fund mit der auffallenden Hautröte der Zuckerkranken in Verbindung 
gebracht [ Weiss!) und Jürgensen?)]. Jürgensen?) beschreibt besonders 
die Erweiterung der Umschlagstelle zwischen arteriellem und venösem 
Schenkel, die er als besonderes Schaltstück der Capillaren anspricht. 
Es ist vielleicht hier am Platze, unsere diesbezüglichen Eigenbeobach- 
tungen bei dieser Gelegenheit einzureihen. Wir hatten leider gerade in 
letzter Zeit nur Gelegenheit 9 Diabetiker capillarmikroskopisch zu 
untersuchen, fanden aber trotz eigens darauf gerichteter Aufmerksam- 
keit die Erweiterung nur in einem einzigen Falle. Auch Henius!?) fand 
die Erweiterung nur in einem Teil der Diabetesfälle, Fischl!!) sah sie 
nie. Es scheint also auch hier keine absolut notwendige Beziehung zu 
bestehen. Die übermäßige Rötung der Haut braucht übrigens keines- 
wegs capillärer Natur zu sein, sie ließe sich auch durch Erweiterung des 
subpapillären Plexus erklären. Wir haben z. B. bei einigen Vasomotori- 
kern hochgerötete Finger ohne Veränderung der Capillarschlingen, da- 
gegen einen stark rot gefärbten Untergrund feststellen können. 


B. Gapillarbefund bei vasogenen Kreislaufstörungen. 
Das Resultat bei 139 Arteriosklerotikern ohne Nephrosklerose gibt 
Tab. IV wieder. 
Als auffallendstes Merkmal ist die abnorme Länge der haarnadel- 
förmigen Capvllaren an die Spitze zu stellen. Wir konnten die von vielen 
Voruntersuchern [Weiss?), Jürgensen?®) u. a.] gemachte Beobachtung 


IV. Arteriosklerose. 139 Fälle. 
| 











Capillarform | Durchströmungsart 
in %, | 1127; 
Haarnadelform 38,9  Kontinuierlich 36,6 
Schlängelung 40 | Gekörnt 10,1 
Abnorme Verengerung 43,3 Langsam 10 
' Stase 43 


I 


vollauf bestätigen. Die Capillarschlingen überschreiten das Maß der 
sonst gefundenen Normalformen um 50—100% in der Länge. Die Haar- 
nadelform ist mit 38,9% bei Arteriosklerose auffallend häufig, etwa 
ebenso oft sieht man die geschlängelte. Das Kaliber ist in 43,3%, dünner 
als normal. 








mit der mikroskopischen Oapillaruntersuchungsmethode. 71 


Verhältnismäßig häufig, in 36,6%, sahen wir im Gegensatz zu Weiss 
eine kontinuierliche, meist sehr schnelle Strömung. Die Blutkörperchen 
rasen geradezu durch die Schlingen. Besonders schnell ist die Strömung 
in den langen Capillaren, eine Beobachtung, die auch Jürgensen gemacht 
hat. In den dünnen, meist stark geschlängelten Capillaren ist eine 
Strömung nicht zu beobachten oder sie ist verlangsamt. Wie die Tab. IV 
zeigt, entspricht die Zahl der dünnen Capillaren etwa der Zahl der nicht 
erkennbaren Strömung. 

Nach diesen Ergebnissen scheint die auffallende Verlängerung der 
Capillarschlingen mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit für Artervo- 
sklerose zu sprechen. Wir finden diese Abart jedenfalls sonst bei keiner 
Krankheitsgruppe. Anscheinend ist die Verlängerung ein Zeichen 
mehr beginnender oder im Beginn stationär gebliebener Sklerose, die 
Schlängelung dagegen ein Zeichen weiter fortgeschrittener Erkran- 
kung. Wir kommen zu dieser Vermutung besonders deshalb, weil wir 
häufig neben normalkalibrigen Schlingen auch stark geschlängelte 
und sehr enge Capillaren bei fortgeschrittener Sklerose gefunden 
haben. 

Worauf die Verlängerung beruht, ist nicht sicher zu entscheiden. 
Eine sklerotische Veränderung der Capillaren selbst anzunehmen, 
scheint uns unwahrscheinlich. Sie in Analogie mit der Verlängerung 
der anatomisch ganz anders gebauten Aorta zu setzen, wie Weiss es 
tut, ist wohl kaum angängig. Wir denken uns die Langstreckung des 
Endothelschlauches eher als eineReaktion auf proximal gelegenere Ver- 
änderungen. Vielleicht kommt sie durch Erhöhung des Strahlungs- 
druckes zustande. 

Die auffallend schnelle Capillarströmung im Beginn der Erkrankung 
läßt sich vielleicht als Mangel der regulatorischen Unterstützung des 
arteriellen Systems infolge von Elastizitätsverlust erklären. 

Neben der Arteriosklerose hat vor allem die Nephrosklerose alle mit 
der mikroskopischen Capillaruntersuchung arbeitende Autoren ein- 
gehend beschäftigt. Besonders seit Volhard die Glomerulonephritis mit 
einer Capillarischämie in Verbindung gebracht hat. Wir haben | 
die Nephrosklerose in die Gruppe der vasogenen Kreislaufstörungen 
eingereiht, ohne für die Entstehung der Krankheit etwas präjudizieren 
zu wollen. Ohne Zweifel handelt es sich aber bei der- Nephrosklerose 
um Nierengefäßveränderungen mit sklerotischem Umbau. Ob dieser 
primär oder sekundär,mechanisch oder toxisch entsteht, hat für die 
Einreihung keine Bedeutung. Das Studium der Capillarbilder ist aber 
vielleicht gerade mit berufen, das verwickelte Bild der Pathogenese 
zu klären. Tab. V zeigt das Untersuchungsergebnis bei 64 Fällen. 
In weitaus der Mehrzahl finden wir geschlängelte, und zwar meist sehr 
kompliziert geschlängelte Schlingen von sehr dünnem Kaliber. Die 


12 F. Groedel und G@. Hubert: Klinische Erfahrungen 


Prozentzahl der geschlängelten mit 64, die der engkontrahierten mit 
54,8 überwiegen die bei allen anderen Krankheitsgruppen gefundenen 
Werte. Gleichwohl schließt das Fehlen von capillärer Schlängelung 
oder Kontraktion eine Nephrosklerose nicht aus. Wir sahen in 36% 
Haarnadelformen, meist von abnormer Länge, entsprechend den Be- 
funden bei ' Arteriosklerose ohne Nierenbeteiligung. 


V. Nephrosklerosen. 64 Fälle. 











Capillarform Durchströmungsart 
in °%, in ®/, 
Haarnadelform 36 Kontinuierlich 32,9 
Schlängelung 64 Gekörnt 28,1 
Abnorme Verengerung 54,8 Langsam 0,9 
Stase 57,8 





Von Wichtigkeit sind die sehr häufig zu beobachtenden Abarten der 
Durchströmung. In 57,8%, namentlich in den dünnen und stark ge- 
schlängelten Capillaren, ist eine Strömung nicht zu erkennen, daneben 
ist besonders die körnelige Strömung mit 28,1% ein häufiger Befund. 
Nach unseren Beobachtungen deutet starke Körnelung in Übereinstim- 
mung mit den Feststellungen anderer Autoren immer auf einen hoch- 
gradigen Spasmus des arteriellen Schenkels, aber sie ist durchaus nicht 
ein pathognomisches Zeichen für eine nur durch Nephrosklerose bedingte 
Capillarschädigung. Wir finden gekörnte Strömung auch in allen anderen 
Krankheitsgruppen, wie ein Blick auf die verschiedenen Tabellen zeigt. 
Allerdings scheinen sie bei Nephrosklerose und innersekretorischen 
Störungen am häufigsten zu sein. Das legt den Gedanken an ein toxisches 
Agens nahe, durch das ein solcher Spasmus hervorgerufen wird. Eine 
Stütze für unsere Auffassung sehen wir in den Versuchen Augsteins!?). 
Augstein konnte durch Einträufelung von Nebennierenextrakt körnelige 
Strömung in den Capillaren des Auges erzeugen. Eine andere Erklärung 
für die gekörnte Strömung bei Nephrosklerose scheint sehr interessant 
. und der Nachprüfung wert. Weiss?) denkt nämlich vor allem an eine 
in den Capillaren selbst gelegene Hemmung der Passage und vermutet 
entarteriitische und capillaritische Prozesse. 

Die langsame Strömung fanden wir im Gegensatz zu Weiss wie bei 
der Arteriosklerose ziemlich selten. Man kann sich denken, daß die 
meist mit beiden Krankheiten verbundene Hypertrophie des linken 
Ventrikels den peripheren arteriellen Widerstand überwindet und damit 
eine genügend schnelle Strömung herbeiführt. Immer wieder werden 
wir also darauf hingewiesen, daß die Strömungsgeschwindigkeit in den 
Capillaren die Resultante der. weiter oben beschriebenen 3 Kräfte- 
gruppen ist. 








mit der mikroskopischen Capillaruntersuchungsmethode. 73 


Den Nephrosklerosen stehen die klimakterischen Hypertonien nahe. 
Da wir nur 16 reine Fälle untersucht haben, weisen wir nur auf die in 
Tab. VI eingetragenen Ergebnisse hin. Weitgehende Schlüsse lassen 
sich aus dem geringen Material nicht ziehen. 


VI. Klimakterische Störungen mit Hypertonie. 16 Fälle. 














Capillarform Durehströmungsart 
in %o in % 
Haarnadelform 43,5 Kontinuierlich 18,7 
Schlängelung 37,4 Gekörnt 6,2 
Abnorme Verengerung 37,4 Langsam 25,0 
Stase 43,5 


Tab. VII zeigt das Untersuchungsergebnis von 10 klimakterischen 
Kreislaufstörungen ohne Hypertonie. Interessant ist der fast völlig 
gleiche Befund in beiden Fällen, unabhängig von der Hypertonie. Die 
in einem hohen Prozentsatz gefundene Verengerung der Capillarschlingen 
"dürfte jedenfalls mit innersekretorisch-toxischen Momenten zusammen- 
hängen. Weitere Beobachtungen sollen uns über eventuelle typische 
Capillarveränderungen klimakterischer Art näheren Aufschluß bringen. 


VII. Klimakterische Störungen ohne Hypertonie. 10 Fälle. 











Capillarform Durchströmungsart 

in °%, in % 
Haarnadelform 40 Kontinuierlich 10 
Schlängelung 40 Gekörnt 10 
Abnorme Verengerung 30 Langsam 2 
Stase 45 





C. Capillarbefund bei konstitutionellen Störungen. 

Neben den Vasoneurotikern untersuchten wir 11 Patienten mit rein 
thyreotoxischen Störungen und fanden, wie Tab. VIII zeigt, in etwa 
4/. der Fälle sehr dünne, spastisch zusammengezogene Schlingen. Die 
Behauptung von Weiss, daß für thyreotoxische Störungen die starke 
Erweiterung der gesamten Capillarschlingen charakteristisch ist, konnten 
wir demnach durchaus nicht bestätigen, ja geradezu das absolute Gegen- 
teil feststellen. Alle Capillaren zeigten Haarnadelform. Auch hier führen 


VIII. Thyreotoxische Störungen. 11 Fälle. 














Capillarform Durchströmungsart 
in. in. °, 
Haarnadelform 100 Kontinuierlich 36,2 
Schlängelung 0 Gekörnt 18,1 
Abnorme Verengerung 81,8 | Langsam 18,1 
Stase 30,2 


74 F. Groedel und G. Hubert: Klinische Erfahrungen 


wohl die toxischen Substanzen, ähnlich wie bei klimakterischen und 
nephrosklerotischen Störungen, zur übermäßigen Kontraktion. Ent- 
sprechend der häufig zu beobachtenden Verengerung ist auch die Stase 
und die langsame Strömung hier ein häufiger Befund. 

Von größerer Wichtigkeit ist das Ergebnis bei 54 Vasoneurotikern 
ohne objektive organische Kreislaufstörungen, denn hier handelt es 
sich tatsächlich um rein konstitutionelle Störungen. Das Resultat ist 
in Tab. IX zusammengestellt. Auch hier fällt vor allem die Häufigkeit 
der dünnen kontrahierten Capillaren auf. Wir sehen sie in 46,3%. Im 
Gegensatz zu allen bisher beschriebenen Gruppen ist aber die Schlänge- 
lung mit 28%, bedeutend seltener. Die Haarnadelformen beherrschen 
mit 69,3%, das Bild. Bei den Vasoneurotikern geht also die Engigkeit des 
Capillarkalibers nicht wie bei Nephrosklerose und den klimakterischen 
Störungen mit einer abnormen Schlängelungen einher. 


-IX. Vasomotorenneurosen. 54 Fälle. 

















Capillarform Durchströmungsart 
my), Ina 
Haarnadelform 69,3 Kontinuierlich 28 
Schlängelung 28 Gekörnt 7,4 
Abnorme Verengerung 46,3 Langsam 16,8 
Stase 50 


Bei den Strömungsverhältnissen überwiegt die Stase, wahrscheinlich 
durch Erhöhung des peripheren Widerstandes. Dafür würde auch die 
bei Vasoneurotikern verhältnismäßig oft beobachtete langsame’ Strö- 
mung (16,8%) sprechen. Charakteristisch für vasomotorische Kreislauf- 
störungen ist die Vielgestaltigkeit und gewisse Willkür im Capillarbild. 
Alle Capillarformen, alle Durchströmungstypen im gleichen Gesichts- 
felde ist ein häufiger Befund. Ja man kann wohl behaupten, daß der 
Vasoneurotiker alle Typen von Capillarformen und Durchströmungs- 
arten immitieren kann, die wir bei organischen Krankheiten zu finden 
gewohnt sind, mit einer Ausnahme, der übermäßigen Verlängerung der 
Schlingen. Von größtem Interesse sind die jüngst von Jürgensen'3) 
gemachten Beobachtungen bei Fällen von Encephalitis epidemica. Er 
konnte bei der mit dieser Erkrankung einhergehenden, auch autoptisch 
festgestellten Schädigung des Vasomotorenzentrums geradezu 2 Typen 
von Capillarschädigungen nachweisen. Im Typus A Jürgensens findet 
er verhältnismäßig schmale, gut differenzierte Capillarschlingen mit 
guter Durchströmung. Die Blutsäule ist zwar mehrfach durchbrochen, 
aber eine eigentliche Körnelung nicht zu sehen. In verschiedenen 
Capillaren desselben Gesichtsfeldes fand er die verschiedensten Durch- 
strömungsgeschwindigkeiten. Dieser Typ A findet sich bei Beginn der 

















mit der mikroskopischen Oapillaruntersuchungsmethode. 75 


Erkrankung oder in nicht sehr schweren Fällen. Beim Typus B sind 
dagegen die Capillaren maximal erweitert, von dunklen Blutmassen 
erfüllt und nicht gut zu differenzieren. Ganz ähnliche Beobachtungen, 
_ wenn auch nicht in so ausgesprochenem Maße, haben auch wir bei 
Vasomotorenneurosen ohne infektiöse Schädigung des Vasomotoren- 
zentrums machen können. 
In Tab. X sehen wir das Ergebnis bei 24 Asthenikern und Andmikern. 
Es handelt sich hier um Patienten mit kleinem, zum Teil hypoplasti- 
schem Herzen, Hypotonie und sekundärer Anämie. Schlängelung der 
Gefäße in 25%, Haarnadelformen in 53%, abnorme Engigkeit in 41,6%. 
Die Durchströmung verhält sich etwa genau so wie bei den Vasomotoren- 
neurosen. Die Stase und langsame Strömung scheint uns hier die Folge 
geringer Vis a tergo und einer capillären Atonie zu sein. 


X. Asthenie und Anämie. 24 Fälle. 











Capillarform | Durchströmungsart 
in % | in %%/, 
Haarnadelform 53  Kontinuierlich 25 
Schlängelung 25 Gekörnt 0 
Abnorme Verengerung 41,6 Langsam 20,6 
Stase 50,4 


Außer den bisher beschriebenen Ergebnissen haben wir weiterhin aus 
den verschiedenen Krankheitsgruppen die Hypertonien ausgesondert und 
den jeweiligen Capillarbefund besonders studiert. Wir haben uns dabei 
die Frage vorgelegt, ob Hypertonien verschiedener Provenienz auch ver- 
schiedene Typen des Capillarbildes erkennen lassen. Im ganzen unter- 
suchten wir 120 Patienten mit Hypertonie. Es waren: 

57 nephrosklerotische, 
38 arteriosklerotische, 
. 16 klimakterische, 
8 rein vasomotorische, 
1 Polycythaemia vera 
Sa. 120. 

Das Untersuchungsergebnis enthalten die Tab. XI, XII, VI und 

XIII. Wir sehen aus ihnen folgendes: 


XI. Nephrosklerötische Hypertonien. 57. Fälle. 

















Capillarform Durchströmungsart 
in % in °% 
Haarnadelform 19,3 Kontinuierlich 24,5 
Schlängelung 52,3 | Gekömt 24,3 
Abnorme Verengerung 43,9 | Langsam 5,2 





| Stase 44 


76 F. Groedel und G. Hubert: Klinische Erfahrungen 


Bei nephrosklerotischen Hypertonien steht die Schlängelung und 
Engigkeit der Schlingen durchaus im Vordergrund. In mehr als 50% 
sind die Capillaren geschlängelt, in etwa der Hälfte der Fälle spastisch 
kontrahiert. Lange Haarnadelformen sind selten. Als Durchströmungs- 
typ finden wir vor allem die körnelige Strömung so häufig (24,3%) 
wie bei keiner anderen Hypertonie. Langsame Strömung ist nur selten 
zu beobachten. 

Im vollsten Gegensatz dazu beherrscht bei der rein arteriosklero- 
tischen Hypertonie (Tab. XII) die lange Haarnadelform mit 80,2% 
das Bild. Wir sehen also, daß auch bei den hypertonischen Arterio- 
sklerosen die gleichen Verhältnisse vorliegen, wie bei den arteriosklero- 
tischen Kreislaufstörungen im allgemeinen (s. zum Vergleich Tab. IV); 
und schließen auch daraus, daß die bloße Schlängelung der Schlingen 
nicht auf organischer Veränderung der Capillaren zu beruhen braucht, 


XL. Arteriosklerotische Hypertonien. 38 Fälle. 











Capillarform Durchströmungsart 
in % in %% 
Haarnadelform 80,2 Kontinuierlich 52,6 
Schlängelung 20,0 Gekörnt 11 
Abnorme Verengerung 21,0 Langsam 13,1 
Stase 2a. 


sondern, wie wir uns vor allem bei Vitien und bei unseren jugendlichen 
Individuen überzeugen konnten, eher zur Garantie der nötigen Ver- 
sorgung des Gewebes, bei Veränderung des Gesamt- oder des Capillar- 
kreislaufs dient. | 

Bei rein arteriosklerotischer Hypertonie tritt auch die abnorme 
Engigkeit zurück, sie beträgt nur 21%. Das gleiche gilt von der körne- 
ligen Strömung (13,1%). Diese ganz auffallenden Unterschiede bei diesen 
beiden Arten von Hypertonie legen die Vermutung nahe, daß die nephro- 
sklerotische Hypertonie und die arteriosklerotische zwei verschiedene 
Ursachen haben. Man könnte bei nephrosklerotischer Hypertonie an eine 
toxische Capillarschädigung denken, bei arteriosklerotischer mehr an mecha- 
nische, durch Elastizitätsverlust bedingte erhöhte Widerstände im Gefäß- 
apparat ohme Capillarveränderung*). Wir werden gerade dieser Frage 
durch weitere Studien besondere Aufmerksamkeit schenken, vielleicht 
lassen sich dann durch Bestätigung unserer Befunde sogar aus dem 
Capillarbild Rückschlüsse auf die Provenienz einer Hypertonie und 
weitere differenzialdiagnostische Momente herausarbeiten. 








*) Während der Niederschrift des Manuskriptes lesen wir in dem eben erschie- 
nenen Buch von Kylin, „Klinische und experimentelle Studien über die Hyper- 
toniekrankheiten“, daß auch er zwischen arteriellen Hypertonien ohne Capillar- 
schaden und capillärer Hypertonie mit Capillarschaden unterscheidet. 














mit der mikroskopischen Capillaruntersuchungsmethode. UT 


Die klimakterischen und nervösen Hypertonien ähneln in ihrem 
Capillarbild eher den nephrosklerotischen. Bei beiden steht wieder 
die spastische Kontraktion im Vordergrund (s. Tab. VI und XIII). 
Enge Schlingen, starke Schlängelungen sind häufiger, langsame Strö- 
mung aber, im Gegensatz zur Nephrosklerose, wenigstens bei nervösen 
Hypertonien, außerordentlich selten anzutreffen. Daß wir im Gegensatz 
zur arteriosklerotischen Hypertonie bei den klimakterischen ähnlich wie 
bei den nephrosklerotischen häufig eine übermäßige Kontraktion der 
Schlingen finden, dürfte wieder ein neuer Anhalt für die toxische Genese 
solcher Veränderungen bieten. Wissen wir doch, daß es sich bei klimak- 
terischen Hypertonien um eine innersekretorische toxische Störung 
handelt, die mit außerordentlich grob wahrnehmbaren Gefäßverände- 
rungen einhergeht. Die bei vasomotorischen Hypertonien so häufig 
"beobachtete langsame Strömung erklärt sich wohl durch ungenügende 


XIII. Nervöse (vasomotvrische) Hypertonien. 8 Fälle. 




















Capillarform Durehströmungsart 
112, a Insrn 
Haarnadelform 5 Kontinuierlich 12,5 
Schlängelung 25 Gekörnt 12,5 
Abnorme Verengerung 62,5 Langsam 0 
Stase 75,0 


Zentralkraft gegen erhöhten peripheren Widerstand, was um so eher 
verständlich ist, wenn wir daran erinnern, daß bei diesen meist nicht 
fixierten Hypertonien eine Hypertrophie des linken Ventrikels aus- 
bleibt. 

Zum Schluß wollen wir unsere Studien über den echten Mikrocapillar- 
puls mitteilen. Schon früher, besonders von Jürgensen!*), ist darauf 
hingewiesen worden, daß unseren klinischen Beobachtungen einer 
Pulsation unter dem Fingernagel, besonders bei Aorteninsuffizienz, 
nicht immer ein Mikrocapillarpuls entspricht. Man hat diese Pulsation 
als einen Arteriolenpuls erkannt, der sich nicht mehr in den Capillaren 
auswirkt. Diese Beobachtung konnte nach den physiologischen For- 
schungen über die Drosselung in den Präcapillaren nicht mehr über- 
raschen. Wir haben nun auch unsererseits die von Jürgensen gemachten 
Beobachtungen in 56 Fällen von Aorteninsuffizienz bestätigen können. 

Wie Tab. XIV zeigt, fanden wir nur in 9 Fällen einen positiven 
Mikrocapillarpuls, während 37 Fälle ihn vermissen ließen (s. Tab. XV). 
Um die auffallende Tatsache zu klären, haben wir uns zunächst 
die Frage vorgelegt, ob vielleicht die erhöhte Blutdruckamplitude 
für das Zustandekommen des Mikrocapillarpulses verantwortlich zu 
machen sei. Man würde sich dann vorstellen können, daß die über- 


178 F. Groedel und G. Hubert: Klinische Erfahrungen 


mäßige Stoßkraft in der Systole und das extrem tiefe Absinken in der 
Diastole den systolischen Stoß in den Capillaren als Mikrocapillarpuls 
erkennen läßt, also die physiologische Drosselung im Präcapillarsystem 
überwunden wird. In diesem Sinne hat sich Jürgensen offenbar den 
Mikrocapillarpuls bei Aorteninsuffizienz erklärt und darauf seine Be- 
hauptung gestützt, daß der Nachweis eines Mikrocapillarpulses bei 
Aorteninsuffizienz ein Beweis für gute Kompensation und eine starke 
Vis a tergo ist. Diese Erklärung entspricht aber nicht unseren empiri- 
schen Beobachtungen. Auf Tab. XV sehen wir die 37 Fälle von Aorten- 
insuffizienz ohne Mikrocapillarpuls zusammengestellt. Wir finden darin 
nicht weniger als 21 Fälle mit abnorm erhöhter Blutdruckamplitude. 
Außerdem waren sämtliche hier verzeichneten Fälle im Zustande ab- 
soluter Suffizienz, also das zentrale und periphere System gut kompen- 


XIV. 9 Aorteninsuffizienzen mit Mikrocapillarpuls. 


























ze en | Kuutiatel| erde] apenne 
| 

1 90—140 50 u 

2 80—145 65 + | 

3 40—130 90 Pal: 

4 37—145 112 + 

5 100— 225 125 + 

6 10—145 135 + 

7 25—160 ': | 185 I + 

8 25—175 150 I + 

9 0— 200 200 I + 


siert. Die Höhe der Blutdruckamplitude scheidet demnach, wenigstens 
als alleinige Ursache, aus. Dagegen finden wir in Tab. XIV die 9 Fälle 
mit positivem Capillarpuls verzeichnet. Die Amplituden sind allerdings 
in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle auch abnorm erhöht, aber es 
kommt noch ein zweites wichtiges Moment dazu. In 6 von 9 Fällen 
handelte es sich um Patienten im Zustande deutlicher Dekompensation. 
Wir teilen nach diesen Feststellungen den Standpunkt Jürgensens nicht, 
halten vielmehr das Auftreten eines Mikrocapillarpulses bei Aorten- 
insuffizienz geradezu für ein Zeichen ungenügender Kompensation, 
und zwar des vasogenen Systems. Diese besteht in einem Nachlassen der 
peripheren. Zirkulationstätigkeit, wahrscheinlich im Präcapillargebiet. 
Erlischt dort die Drosselungsfähigkeit der Pulswelle, dann kommt es 
wahrscheinlich zur Dekompensation des Gesamtkreislaufes. Der erste 
Ausdruck für das Erlahmen ist der positive Mikrocapillarpuls und seine 
Beobachtung vielleicht der erste feine Indicator für die drohende 
Insuffizienz. Sollte sich diese Tatsache bei noch größerem Material be- 








mit der mikroskopischen Capillaruntersuchungsmethode. 79 


























XV. 37 Aorteninsuffizienzen ohne Mikrocapillarpuls. 
u iemek | amsimnae | „Rom, | Dion: 
1 80—110 30 | + 
2 80—110 30 + 
3 70—105 35 7 
4 80—115 35 Fr 
5 70—110 40 TE 
6 75—118 43 + 
7 80—126 46 + 
8 70—120 50 + 
9 70—120 50 > 
10 70—120 50 -F 
11 50—103 53 + 
12 80 — 135 55 + 
13 80—136 56 = 
14 | 70—126 56 + 
15 90—150: ; 60 + 
16 35— 95 60 + 
17 70—140 70 7 
18 30—100 Ze 3, + 
19 45—135 90 re 
20 100—190 90 n# 
2] 40—130 90 Tr 
22 60—155 95 + 
23 50—148 98 + 
24 30 - 128 398 + 
25 45—145 100 + 
26 30—140 110 <B 
27 35—145 110 FH 
28 60 -175 115 Fr 
29 40—145 115 1 
30 120— 240 120 He 
31 20—140 120 u% 
32 60—185 125 Tr 
33 70—195 125 .— 
34 30—155 125 # 
35 30—180 150 + 
. 36 20—175 155 ur 
37 25— 185 160 > 














stätigen, dann hätten wir gerade in der Mikrocapillarbeobachtung, 
wenigstens bei der Aorteninsuffizienz ein neues Mittel zur Funktions- 
prüfung des Kreislaufs. 

Daß der Mikrocapillarpuls jedenfalls nicht allein oder vielleicht über- 
haupt nicht mit einem Ventildefekt an den Aortenklappen zusammen- 


80 F. Groedel und G. Hubert: Klinische Erfahrungen 


hängt, dafür können wir an Hand unserer Studien weitere Beweise 
anführen. Wir konnten nämlich auch echten Mikrocapillarpuls ohne 
Aorteninsuffizienz finden. Wie Tab. XVI zeigt, fanden wir bei 18 Pa- 
tienten mit den verschiedensten Kreislaufstörungen positiven Capillar- 
puls. Überblickt man die Höhe der Blutdruckamplitude, so stehen die 
8 Fälle mit erhöhter Amplitude prozentual sogar stark zurück. Die 
einzelnen Fälle zeigen dagegen, bis auf 4 von Myokardschwäche, alle 
Störungen im vasogenen Apparat. In fast allen Fällen lassen sich 
Tonusveränderungen im arteriellen System annehmen, bei den nervösen 
eine Vasomotorenschwäche, bei den arteriosklerotischen, nephro- 


XVI. 18 Kreislaufstörungen ohne Aorteninsuffizienz mit Mikrocapillarpuls. 


























Nr. Krankheit Blutdruck Amplitude | Komp. | D ekom- 
| | pensiert 
1, Aortitis Juet 80-145 BEE na ® 
2 |  _Aortitis luet 70-110 al a ce 
3.1 Myocarditis 60— 115 4) + 
4 || Myocarditis | 75— 100 | 25 + 
5 |  Myocarditis | 75-133 | 58 Er 
6 | Myocarditis 70—165 95 n- 
7 \ Arteriosklerose 80-120 - | 40 % 
8 | Arteriosklerose 70— 140 | 70 + 
9 | Arteriosklerose 90-170 | 80 r 
10 | Arteriosklerose 110-238 11 1a 
11 | _ Arteriosklerose 90-155 | 65 | 7 | 
12 | Arteriosklerose 60-100 40° | + 
13 | Nephrosklerose 120 — 240 | 120 | a 
14 | _Nephrosklerose | 140— 215 u + 
15 |  Nephrosklerose 90-2105 1125100 Ha 
16 \| Vasomotorische |f 60— 100 | 40 + | 
175 Störungen eh: ee 4 
18 | Thyreotoxikose 70—155 | 85 + 











sklerotischen und syphilitischen Kreislaufstörungen organische Gefäß- 
veränderungen. Der Mikrocapillarpuls ist also auch nach diesen Be- 
obachtungen das Resultat peripher gelegener Kreislaufstörungen. Daß 
der Grund für die Entstehung eines Mikrocapillarpulses wohl ausschließ- 
lich nur in einer peripheren Störung zu suchen ist, beweist, wie schon 
eingangs kurz angedeutet, sein Auftreten bei hohem Fieber. Hier sind 
alle Größen der Gleichung bekannt. Die Herzkraft liegt darnieder, der 
Vasomotorentonus ist herabgesetzt, die kleinsten Arterien und die Arte- 
riolen sind gelähmt, und je stärker der Vasomotorenkollaps, um so 
häufiger ist der Mikrocapillarpuls. 

Der mit dem Studium der Kreislaufstörungen beschäftigte Arzt 
erwartet von jeder neuen Untersuchungsmethode neben der Ver- 





mit der mikroskopischen Capillaruntersuchungesmethode. 1 
F > 


feinerung der Diagnostik vor allem eine Methode zur Funktionsprüfung 
des Kreislaufs. Weiss'5) glaubte eine solche in seinem Sperrversuch 
gefunden zu haben. Er erzeugt in der Recklinghausenschen Manschette 
einen den maximalen Blutdruck übersteigenden Druck und sperrt 
damit den peripheren Kreislauf ganz. Durch langsames Nachlassen 
des Manschettendruckes bestimmt er die Höhe des Druckes, bei 
welchem die zum Stillstand gekommene capilläre Strömung wieder be- 
ginnt. Er stellte fest, daß bei suffizientem Kreislauf die capilläre Ein- 
strömung wenige Millimeter unter dem Blutdruckmaximum einsetzt, 
daß dagegen die Differenz zwischen maximalem Blutdruck und Ein- 
strömungsdruck mit zunehmender Kreislaufschwäche wächst. Die 
Methode ist vom theoretischen Standpunkt schon im Hinblick auf die 
große Selbständigkeit und regulatorische Tätigkeit des Capillarsystems 
sowie in Berücksichtigung der Reagibilität der Schlingen infolge der 
künstlichen Absperrung anfechtbar und hat auch bei zahlreichen Nach- 
prüfungen und auch nach unseren vielfachen Kontrollen den von Weiss 
mitgeteilten Ergebnissen nicht entsprochen. Wir gehen über unsere 
diesbezüglichen Resultate hinweg, um so mehr, als ©. Müller die Me- 
thode in seiner jüngst erschienenen Monographie selbst für nicht mehr 
beweisend ansieht. 

In letzter Zeit hat van der Speck!%) eine neue Methode angegeben, 
die er zur Funktionsprüfung des Capillarsystems, also nicht des Gesamt- 
kreislaufes, empfiehlt. Er legt eine 2 cm breite Fingermanschette um 
die zweite Phalanx des zu untersuchenden Fingers. Dann wird durch 
einen engen Gummiring das Blut aus der Endphalange des Fingers 
ausgepreßt. Darnach wird der Druck in der Manschette über den 
maximalen Blutdruck erhöht, der Gummiring entfernt. Allmählich 
läßt er den Druck in der Manschette nach, bestimmt den Druck, bei 
dem sich die Capillaren wieder füllen, den sog. ‚„Beginnstromdruck‘“. 
Dieser Druck wird festgehalten. Die Venen sind noch völlig kom- 
primiert. Durch das weitere Einströmen von Blut in die arteriellen 
Schenkel bei behindertem venösen Abfluß verlangsamt sich die capilläre ° 
Strömung, bleibt aber im Gange. Die Capillaren funktionieren also 
gut und überwinden den venösen Gegendruck. 

Bei pathologisch veränderten Capillaren folgt nach Einsetzen der 
ersten Strömung unter dem „Beginnstromdruck“ dagegen sofortige 
Stase. Die kompensatorische Kraft der Capillaren ist zur Aufrechterhal- 
tung einer Dauerströmung ungenügend. Der Druck in der Manschette 
wird weiter gesenkt, bis eine konstante Dauerströmung zu beobachten 
ist. Das ist der nach dem Autor benannte ‚bleibende Stromdruck“. 

Der Unterschied zwischen Beginnstromdruck und bleibendem 
Stromdruck ist ein Gradmesser für die funktionelle Leistungsfähigkeit 
_ der Capillaren und Präcapillaren. Beträgt die Differenz mehr als 10 mm, 
Z. f. klin. Medizin. Bd. 100, Ö 


82 F. Groedel und G. Hubert: Klinische Erfahrungen 


dann soll eine deutliche Capillarinsuffizienz vorhanden sein. Wir haben 
die Methode bei unseren bisherigen Untersuchungen noch nicht benützen 
können, sind also nicht in der Lage, dazu Stellung zu nehmen, es erheben 
sich aber die gleichen Bedenken wie gegen die Weisssche Methode. 
Die künstliche Abschnürung mit der hier noch gewaltsameren Entleerung 
sprechen gegen sie. Nach einer so roh mechanischen Schädigung wird 
sicher die Tonisierung und die biochemische Reagibilität dieser zarten 
Gebilde bei Nachlassen der Blockade verändert sein und die gefundenen 
Resultate in ihrer Beweiskraft beeinträchtigen. 

Wir fassen die Ergebnisse unserer Studien kurz noch einmal zu- 
sammen: 

1. Bis jetzt scheint uns die Aufstellung typischer Capillarbilder für 
bestimmte Kreislaufstörungen noch gewagt. Wir finden alle möglichen 
Formen bei den verschiedensten Kreislaufstörungen, ja sogar auch ohne 
solche und häufig mehrere Typen nebeneinander im gleichen Gesichtsfeld. 

2. Dasselbe gilt von den Dürchströmungsarten. Auch bei ganz 
Gesunden kann man totale Stasen, langsame Strömung und sogar ge- 
legentlich Körnelung beobachten. 

3. Die einzige pathognomonische, eindeutig zu bewertende Abart ist 
die deutliche Verlängerung der haarnadelförmigen Capillarschlingen. 
Man findet sie fast ausschließlich bei Arteriosklerose ohne Mitbeteili- 
gung der Nierengefäße. 

4. Die Schlängelung der Haargefäße ist häufig bei Mitralvitien zu 
finden und scheint hier eine regulatorische Kompensation zur besseren 
Durchblutung des Gewebes zu bedeuten. 


5. Ob die Schlängelung bei Nephrosklerose, klimakterischen, thyreo- 


toxischen und nervösen Kreislaufstörungen auf Capillarschädigung zu- 
rückzuführen ist, erscheint zweifelhaft. 

6. Pathologisch ist dagegen stets die abnorme Engigkeit der arte- 
riellen Schenkel. Ihre Pathogenese hat verschiedene Ursachen. Bei 
Nephrosklerose und klimakterischen Störungen ist sie sicher, bei thyreo- 


- toxischen wahrscheinlich toxisch bedingt und der Ausdruck einer » 


capillären Schädigung. 

7. Dicke venöse Schenkel haben für sich allein keine diagnostische 
Beweiskraft für etwaige Insuffizienz des venösen Kreislaufs oder für 
Schwäche des rechten Ventrikels. 

8. Kontinuierliche Strömung ist keine Garantie für Güte oder 
Kompensation des Kreislaufs. Sie findet sich auch bei schwerster 
Myokardschädigung, also darniederliegender Zentralkraft, andererseits 
sogar sehr häufig bei schwerer Arteriosklerose, also organischer Er- 
krankung des Gefäßapparates. 

9. Die gekörnte Strömung scheint fast ausnahmslos ein Zeichen 
peripherer Gefäßschädigung zu sein. Mit großer Wahrscheinlichkeit 








mit der mikroskopischen Capillaruntersuchungsmethode. 83 


spricht Körnelung in engen Schlingen für nephrosklerotische oder 
andere toxische Capillarschädigung. 

10. Die bei allen Krankheitsgruppen gefundene totale Stase ist zur 
Zeit noch nicht geklärt. 

ll. Langsame Strömung deutet, besonders bei Myokarderkran- 
kungen, auf mangelhafte Zentralkraft, ist aber nicht beweisend. Meistens 
resultiert die langsame Strömung aus 2 Summanden, aus der herab- 
gesetzten Zentralkraft und einer peripheren 'Tonusveränderung im arte- 
riellen und capillären System. 

12. Die von anderer Seite beschriebene rückläufige Strömung bei 
ungehemmtem, nicht gestautem peripheren Kreislauf konnten wir 
nicht beobachten. 

13. Mikrocapillarpuls als besondere Abart der Durchströmung hängt 
wenig oder gar nicht mit der Veränderung der Herzkraft, als vielmehr 
mit dem Verlust peripherer Regulation des Gefäßsystems und nament- 
lich der präcapillaren Drosselung zusammen. So erklärt sich sein Fehlen 
bei vielen Fällen von Aorteninsuffizienz, sein nicht seltenes Vorkommen 
ohne einen Ventildefekt an der Aorta und im Fieber. 

14. Durch den Vergleich der Capillarbilder bei Hypertonien ver- 
schiedener Herkunft scheint uns vielleicht ein Weg gefunden, eine 
Klärung des Hypertonieproblems zu ermöglichen. Lange, nicht ver- 
engte Capillaren und gute schnelle kontinuierliche Strömung bei aus- 
gesprochener Hypertonie sprechen .mehr für arteriosklerotische Genese 
ohne capilläre Schädigung; stark verengte Schlingen mit in der Haupt- 
sache gekörnter Strömung dagegen für nephrosklerotische mit Schädi- 
gung des capillären Systems. Die Charakteristica für klimakterische 
thyreotoxische und rein nervöse Hypertonien müssen noch weiter aus- 
gebaut werden. 

15. Die von Weiss angegebene Funktionsprüfung mit Hilfe des 
Sperrversuchs hält der klinischen Nachprüfung nicht stand. 

16. Über die in jüngster Zeit von van der Speck beschriebene 
Funktionsprüfung des Capillarsystems haben wir keine eigene Er- 
fahrung. 

17. Vermutlich werden die weiteren Untersuchungen über das 
Capillarbild noch deutlicher die funktionelle Trennung zwischen Capillar- 
und Gefäßsystem klar legen. Das Gefäßsystem endet funktionell am 
Ende der Präcapillaren. Dort finden wir gleichsam ein Ventil, eine der 
wichtigsten Regulationsvorrichtungen des Kreislaufes, nämlich die 
Drosselung der systolischen Pulswelle. Solange diese Vorrichtung 
funktioniert, sehen wir in dem Capillarbild nur in sehr geringem Maße 
die Verhältnisse des Gesamtkreislaufs wiedergespiegelt. Nur aller- 
stärkste Störungen des proximal gelegenen Apparates führen zu Ver- 
änderungen des Capillarbildes. Dagegen führt jede Schädigung der 

6* 


S4 F. Groedel und G. Hubert: Klinische Erfahrungen usw. 


Präcapillaren bzw. ihrer Drosselungsfunktion zu deutlichen Verände- 
rungen im Capillarbild. 

Außerdem müssen natürlich auch funktionelle und organische 
Schädigungen der Capillarschlingen selbst Abweichungen vom Normal- 
typ des Capillarbildes hervorrufen. Wir können hoffen, daß der weitere 
Ausbau der Capillarmikroskopie uns auch einen tieferen Einblick in die 
verwickelten Probleme des Gewebstoffwechsels gewinnen läßt. Vielleicht 


werden wir dann die jetzt noch als vasogen zusammengefaßten Störungen 


des Kreislaufapparates trennen können in arterielle, venöse, präcapillare 
und capillare. Sehr wahrscheinlich werden sich dann die letzteren, die 
capillaren Störungen, als selbständige Gruppe vom Gesamtkomplex 
abscheiden lassen. 


Literatur. 


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H. 1/2. 1916. — 3) Niekau, Arch. f. klin. Med. 13%, H. 5/6. 1920. — ?) Weiss und 
Hanfland, Münch. med. Wochenschr. 1918, Nr. 23. — °) Gegenbaur, Anatomie des 
Menschen. 1899. — 6) Steinach und Kahn, Pflügers Arch. f. d. ges. Physiol. 9%. 1903. 
— 7) Rothberger, Handbuch der allgem. Pathol. Diagnostik und Therapie der Herz- 
und Gefäßerkrankungen. II. Bd., 1. Teil. Leipzig: Franz Denticke 1913.— 
8) Parrisius und Wintherlin, Arch. f. klin. Med. 141, H. 3/4. 1922. — ?) Jürgensen, 
Zeitschr. f. klin. Med. 86, H. 4/5. — !°) Henius, Kraus-Brugsch. — '!) Fishe, Med. 
Klinik 1923, Nr. 28. — 1?) Augstein, Zeitschr. f. Augenheilk. %. 1902. — 1?) Jürgen- 
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H. 3/4. 1920. — 15) Weiss, Zeitschr. f. exp. Path. u. Therapie 19. 1914. — 1°) van 
der Speck, Arch. f. klin. Med. 141, H. 5/6. 1923. 





ET TE Ang 


ie 


a 2 

















(Aus der II. Inneren Abteilung [Leiter: Geh.-Rat Prof. Dr. Zinn] des städtischen 
Krankenhauses Moabit-Berlin.) 


Zur Ätiologie und Genese der sog. „„endokrinen“ Arthritis. 


Von 
Dr. Rudolf Neumann und Dr. Edith Lande. 


(Eingegangen am 7. Januar 1924.) 


Aus dem scheinbar so monotonen Gepräge der chronischen Gelenk- 
erkrankungen hebt sich bei näherer Kenntnis eine Gruppe klinisch 
und pathologisch-anatomisch scharf hervor. Es ist damit jene Gruppe 
gemeint, welche in kurzen Zügen folgendes Bild zeigt: ganz allmählich, 
ohne jedes akute Stadium und fieberlos, setzt zunächst in der Regel 
an den kleinen Gelenken der Hand und des Fußes, meist symmetrisch, 
eine Schwellung und Schmerzhaftigkeit ein. Bald schneller, bald lang- 
samer springt die Erkrankung unaufhaltsam auf neue Gelenke über, 
häufig von distal nach proximal, also von den Händen und Füßen auf 
die Ellbogen- und Kniegelenke usw. fortschreitend. Gleichzeitig ver- 
schlimmern sich die Veränderungen in den zuerst ergriffenen Gelenken. 
Zu den Schwellungen kommen bald Kontrakturen, Ankylosen und Sub- 
luxationen unter gleichzeitiger Atrophie der Haut und Muskeln der 
Umgebung. Trotz vorübergehenden Besserungen und oft jahrelangem 
Stationärbleiben des Krankheitsprozesses ist das Fortschreiten meist 
doch unaufhaltsam und führt schließlich zu einer völligen Bewegungs- 
behinderung, wobei die Extremitäten oft stark deformiert und in den 
bizarrsten Stellungen fixiert sind. Zwei Tatsachen sind klinisch noch 
besonders hervorzuheben: die Erkrankung tritt fast ausschließlich 
beim weiblichen Geschlecht auf, und die Entstehungsursache ist noch 
sehr umstritten; nur soviel scheint sicher zu sein, daß infektiöse Mo- 
mente als Ätiologie nicht in Frage kommen. 

Pathologisch-anatomisch ist diese Gelenkerkrankung wohl charak- 


_ terisiert: die Schwellung wird hauptsächlich bedingt durch eine Ver- 


diekung der Gelenkkapseln, ein Exsudat im Gelenk ist nicht oder nur 
in ganz geringem Maße vorhanden. Im weiteren Verlauf kommt es 
frühzeitig zu einer auffallenden Knochenatrophie, dann zu einem 
Schwund und einer Zerstörung des Gelenkknorpels und der angrenzen- 
den Knochenpartieen. Als Folge dieser Prozesse stellen sich Subluxationen 
und Ankylosen der Gelenke ein. 


SH R. Neumann und E. Lande: 
SD 


Die Sonderstellung dieser Erkrankung gegenüber den andern chro- 
nischen Gelenkprozessen ist schon von vielen Forschern erkannt worden. 
Sie prägt sich aus in der mehr oder weniger treffend gewählten Be- 
zeichnung: primär chronische Arthritis, Arthritis chronica progressiva 
(Pribram), rheumatoide Arthritis (Garrod), Arthritis sicca genuina 
ulcerosa (Kaufmann, Munk). 

Während also klinisch und pathologisch-anatomisch die beschrie- 
bene Form der Gelenkerkrankung scharf umrissen und gut erforscht 
ist, ist ihre Ätiologie noch recht ungeklärt. Es werden die verschiedensten 
Ursachen beschuldigt, so immer noch Infektionen, dann Erkältungen, 
Stoffwechselstörungen, Erkrankungen des Zentralnervensystems und 
Störungen der inneren Sekretion. Gegenüber den ersteren Momenten, 
für die kaum objektive Unterlagen vorhanden sind, hat die innere Se- 
kretion allmählich als kausaler Faktor an Bedeutung gewonnen. Es 
sind hauptsächlich zwei Drüsen mit innerer Sekretion, die in ursächlichen 
Zusammenhang mit der Gelenkerkrankung gebracht werden: Ovarıum 
und Schilddrüse. 

Die ätiologische Bedeutung der Schilddrüse hat erst vor kurzer 
Zeit wieder Deusch betont. Er beobachtete einen Fall, wo sich die ersten 
Zeichen einer Gelenkerkrankung auf der Höhe eines schweren M. Basedow 
entwickelten. Derartige Beobachtungen finden sich schon mehrfach 
in der Literatur. Gara, der bei 20%, seiner chronischen Gelenkerkran- 
kungen bei weiblichen Patienten Störungen der Schilddrüsentätigkeit 
sah, spricht deshalb direkt von einer Arthritis thyreoidea. Auf Grund 
derselben Erfahrungen wurde von Williaminoff der Ausdruck: Poly- 
arthritis progressiva chronica thyreotoxica und von Th. Kocher: Rheu- 
matismus thyreoprivus chronicus geprägt. Ähnliche Angaben finden 
sich auch von ‚Jones, Poncet und Nathan. In diesem Zusammenhang 
ist auch der Hinweis von Bauer interessant auf die Häufigkeit der chro- 
nischen Gelenkerkrankungen in Tirol, die mit dem zahlreichen Vor- 
kommen des endemischen Kropfes in dieser Gegend in Verbindung 
gebracht werden. Die ursächliche Abhängigkeit dieser Form der chro- 
nischen Gelenkerkrankung von einer Dysfunktion der Schilddrüse 
ergibt sich auch aus der wiederholten Beschreibung von dem heilsamen 
Effekt von Schilddrüsenpräparaten in solehen Fällen. So konnte Th. 
Kocher durch Thyreoidin einen Fall von chronischer Gelenkerkrankung 
nach Schilddrüsenausfall heilen. Auch in der ausländischen Literatur 
sind ähnliche Ansichten mehrfach vertreten. So sahen Leopold Levy und 
H. de Rothschild günstige Resultate der Schilddrüsentherapie besonders 
bei jugendlichen Individuen mit chronischen Gelenkerkrankungen, 
ebenso Jakunin und Carlowitz. 

Schon von den meisten bisher genannten Autoren wurde neben 
der Störung der Schilddrüsenfunktion bei ihren Fällen gleichzeitig ein 











Zur Ätiologie und Genese der sog. „endokrinen“ Arthritis. 87 


Ausfall der Ovarialsekretion beobachtet, die aber ätiologisch für die 
Gelenkerkrankung weniger gewertet wurde. Demgegenüber wird von 
einer Reihe von Forschern schon seit langem die Störung der Keim- 
drüsenfunktion als Ursache der beschriebenen chronischen Gelenk - 
erkrankung des weiblichen Geschlechtes in den Vordergrund gestellt. 
Schon @arrod hat auf das häufige Auftreten chronischer Gelenkerkran- 
kungen im Klimakterium hingewiesen; desgleichen erwähnt Pribram 
in seiner Monographie in Nothnagels Handbuch, ‚daß diese Form des 
Rheumatismus chronicus deformans bei Frauen häufig mit dem Kli- 
makterium oder mit dem Beginn der Menses einsetzt oder, falls die Krank- 
heit schon früher begonnen hat, so werden während des Klimakteriums 
Nachschübe oder Verschlechterungen beobachtet.“ Auch Ats betont 
das Entstehen chronischer Arthritiden unter dem Einfluß endokriner 
Drüsen und besonders der weiblichen Keimdrüsen. Ähnliche Hinweise 
finden sich auch bei Poncet, Nathan, Pineles, Gara, Dalche u.a. Munk 
spricht neuerdings direkt von einer klimakterischen Polyarthritis. 
Von Massalongo endlich und von Nathan wird eine kombinierte inner- 
sekretorische Störung, wobei außer Schilddrüse und Ovarien, auch 
Nebenniere und Hypophyse beteiligt sind, als Ursache angenommen. 
Trotz dieser vielfachen Angaben bezeichnet Lommel in seiner Abhand- 
lung in Mohr-Staehelins Handbuch ‚‚die Vorstellung von der patho- 
genetischen Wichtigkeit der inneren Sekretion bei chronischen Gelenk- 
erkrankungen‘‘ als Hypothese. Auch Bauer erscheint es vorläufig nicht 
möglich, etwas Präzises über die Beziehungen zwischen chronischer 
Arthritis und endokrinem Apparat auszusagen. Auch auf der vor kurzem 
stattgehabten Debatte über chronische Gelenkerkrankungen in der 
Berliner medizinischen Gesellschaft vom 28. XI. 1923 gingen die 
Meinungen in diesem Punkt noch stark auseinander. Während Kraus, 
Munk und Umber dem innersekretorischen Moment eine wichtige ätio- 
logische Bedeutung beimessen, bedarf nach @oldscheider dieser Punkt 
noch sehr der weiteren Forschung und Klärung. Bei der Unklarheit, 
die in der ganzen Frage der Ätiologie dieser chronischen Gelenk- 
erkrankung noch herrscht, erscheint deshalb die erneute Anregung 
von Deusch, mehr als bisher auf den Zusammenhang mit endokrinen 
Drüsen zu achten, wohl angebracht. 

Bei dem Fehlen experimenteller Beweise bleibt vorläufig noch der 
einzige Weg, in dieser Frage vorwärts zu kommen, die Empirie, also 
die exakte klinische Beobachtung. In diesem Sinne erscheint uns die 
kurze Mitteilung der nachfolgenden Fälle wichtig und vielleicht zur 
Klärung des Problems beizutragen. 


Fall 1: Marie W., 51 Jahre. 
Frühere Anamnese o. B. Im Alter von 49 Jahren treten ziehende Schmerzen 
in den Gelenken beider Hände und Füße auf, die in den nächsten Jahren zunehmen. 


88 R. Neumann und E. Lande: 


Eine erhebliche Verschlimmerung setzte im Jahre 1921 ein und zwang die Pat., 
das Krankenhaus aufzusuchen. Die Menses sistieren seit 1920, uuzelsiln ein Jahr 
nach Beginn der Gelenkschmerzen. 

Befund: Mäßig ernährte, blasse Pat. Herz leicht nach links verbreitert mit 
systolischem Geräusch an der Spitze. Blutdruck: RR 135/90 Hg mm. Innere 
Organe sonst 0. B. Nervensystem: Linke Pupille > rechte. Die rechte ist ent- 
rundet, reagiert nicht auf L. u. C. Linker Patellarreflex nicht auslösbar. Babinski 
links angedeutet. WaR. negativ. Temperaturen hin und wieder subfebril, sonst 
immer normal. 

Gelenkbefund: Kapselverdickung und Ulnarsubluxation des Zeigefingers und 
des Daumens in den Grundgelenken rechts. Handgelenk verdickt, Bewegung 
eingeschränkt. Ähnliche Veränderungen finden sich in geringerem Maße an den 
Gelenken der. linken Hand und an den Fuß-Zehengelenken. 

Röntgenologisch sieht man an den befallenen Gelenken eine allgemeine Atrophie 
und verwaschene Struktur der Handwurzelknochen. Die Gelenkflächen sind im 
wesentlichen noch unverändert. 

Im Verlauf der Krankenhausbehandlung (Diathermie, Bäder, Ovarialprä- 
parate, Salicylate) zunächst stark wechselndes Befinden, dann rel. weitgehende 
subjektive und objektive Besserung mit Abschwellung der Gelenke. 


. Zusammenfassung. Typische Arthritis chronica sicca genuina, be- 
schränkt auf die kleinen Gelenke der Hände und Füße. Der Beginn der 
Gelenkerkrankung liegt ungefähr 1 Jahr vor dem Einsetzen des Klimak- 
teriums, der Höhepunkt der Erkrankung fällt zusammen mit dem 
Klimakterium. 


Fall 2: Berta E., 46 Jahre. 

Früher Nierenentzündung, Ischias, Operation wegen Gebärmutterknickung. 
Seit ungefähr 1!/, Jahren bestehen Schmerzen und Schwellungen wechselnden 
Grades in den Fingergrundgelenken beider Hände. In letzter Zeit auch Schmerzen 
in Armen und Beinen. Seit ca. 3 Jahren sind die Menses unregelmäßig, seit ?/, Jahr 
Menopause. Zur Zeit bestehen noch starke klimakterische Beschwerden: Angst- 
zustände, Wallungen, Herzklopfen usw. 

Befund: Gut genährte Pat. Innere Organe 0. B. Blutdruck: RR 120/85 Hg mm. 
Normale Temperatur. 

Gelenkbefund: Schwellung und Rötung des Metacarpophalangealgelenks des 
3. Fingers rechts. Die Bewegungen in diesem Gelenk sind schmerzhaft aber nicht 
eingeschränkt. In geringerem Maß finden sich dieselben Veränderungen in den 
Metacarpophalangealgelenken der linken Hand. In den übrigen Gelenken noch 
keine objektiven Veränderungen. 

Röntgenbefund: Gelenkflächen noch unverändert, deutliche Kapselverdiekung 
des 3. Metacarpophalangealgelenks rechts. 


Zusammenfassung. Beginnende primär chronische Arthritis sicca 
senuina beider Hände einsetzend während des Klimakteriums. 


Fall 3: Margarete V., 38 Jahre. 

Vorgeschichte o. B. Im Alter von 35 Jahren zunächst halbjähriges, dann nach 
kurzer Wiederkehr dauerndes Sistieren der Menses. Im selben Jahre stellten sich 
ziehende Schmerzen in den Hand- und Fingergelenken ein. In den nächsten Jahren 
allmählich zunehmende Schwellung der Gelenke und Übergreifen des Prozesses 
auf Fuß-, Knie-, Ellbogen- und Schultergelenke, verbunden mit starken Schmerzen 
und Abnahme der Beweglichkeit. 














Zur Ätiologie und Genese der sog. „endokrinen" Arthritis. 89 


befund: Blasse, mäßig ernährte Pat. Innere Organe o. B. Blutdruck RR: 
100/65 Hg mm. WaR. negativ. Erhebliche Lymphocytose 44%. Gynäkologische 
Untersuchung o. B. Dauernd fieberfrei. 

Gelenkbefund: Die oben erwähnten Gelenke sind mäßig geschwollen, aber 
ohne nachweisbaren Erguß, Haut und Muskulatur der Umgebung atrophisch. 
Aktive und passive Bewegung stark schmerzhaft und eingeschränkt. Der rechte 
Unterarm befindet sich in leichter, sämtliche Finger in starker Kontraktions- 
stellung mit Subluxation der Phalangen. Bei allen Bewegungen starkes Crepitieren 
hör- und fühlbar. 

Röntgenaufnahme der Hand: Starke Subluxation sämtlicher Fingergrund- 
gelenke mit Knorpelzerstörung im Mittelgelenk und Ankylose und deformierenden 
Prozessen im 4. und 5. Fingermittelgelenk. Knieaufnahme: Schwund des Meniscus 
und knöcherne Ankyose der Gelenkflächen. Condylus internus aufgetrieben. 
Allgemeine Knochenatrophie. 

Trotz energischer Behandlung mit Wärme, Ruhigstellung, Salicylaten, Protein- 
körpern (Yatren-Casein, Caseosan und Sanarthrit), Ovarialpräparaten und Thy- 
reoidin, ist nur vorübergehende subjektive Besserung, kein Aufhalten des Prozesses 
zu erreichen. 


Zusammenfassung. Typische primär chronische Arthritis sicca 
ulcerosa genuina, deren Beginn zeitlich zusammenfällt mit einem 
vorzeitigen Klimakterium. 


Fall 4: Marie L., 46 Jahre alt. 

Früher mehrfach Lungenentzündungen und Krämpfe. Im Alter von 16 Jahren 
Auftreten eines Kropfes, der keine Beschwerden verursachte. Im 37. Jahr Unregel- 
mäßigwerden der Menses, die von da ab nur 1—2mal im Jahr auftraten und mit 
45 Jahren ganz aufhörten. Zu derselben Zeit setzten Schmerzen in mehreren 
Gelenken ein, die allmählich zunahmen, ohne Schwellung, aber mit Rötung und 
Hitzegefühl. Dabei hier und da ganz geringe Temperatursteigerungen bis höchstens 
37,5°. Ergriffen waren zuerst rechtes Fuß- und Kniegelenk, dann die Hände. Später 
auch das linke Fuß- und Kniegelenk, weiterhin auch Ellbogen- und Schultergelenk. 

Befund: Gut ernährte Frau, kleinapfelgroße derbe Schwellung der Schilddrüse. 
Herz nach links und rechts erweitert. Akzentuation des 2. Aortentons. Blutdruck 
RR: 205/85 Hg mm. Lungen: leichte Bronchitis. Leber 2 Querfinger unterm 
Rippenbogen fühlbar. Nervensystem: Lebhafte Reflexe, Pupillen etwas different, 
reagieren. Feinschlägiger Tremor, Hyperhidrosis, Dermographie. Keine Augen- 
erscheinungen. WaR. negativ. Blutbild: 27% Lymphocyten, 5% Eosinophile. 
Urin: Reichlich Leukocyten, einzelne hyaline und granulierte Zylinder. Rest-N: 
26,9. Nierenfunktionsprüfung ergibt normale Funktion. Dauernd normale Tem- 
peratur im Krankenhaus. 

Gelenkbefund: Schwellung, Rötung und Bewegungsbeschränkung des rechten 
Handwurzelgelenkes und einiger Metacarpophalangeal- und Interphalangeal- 
gelenke beider Hände. Die Fußgelenke sind zur Zeit objektiv frei. Dagegen ist 
das linke Kniegelenk erheblich geschwollen und die Bewegungsmöglichkeit erheb- 
lich eingeschränkt. 

Röntgenbefund: Röntgenologisch dokumentieren sich die Gelenkveränderungen 
durch Schwellung der Gelenkkapseln, Periostrauhigkeiten an den Epiphysen und 
allgemeine Knochenatrophie. Die Gelenkknorpel und Gelenkflächen sind noch 
unverändert. 

Unter Behandlung mit Salicylaten, Diathermie und Ovarialpräparaten läßt 
sich eine leidliche subjektive Besserung und objektiver Rückgang der Schwellungen 
und Schmerzhaftigkeit erzielen. 


STE) R. Neumann und E. Lande: 


Zusammenfassung. Es handelt sich um eine Patientin mit Schwellung 
der Schilddrüse und mit geringen Zeichen einer Hyperfunktion derselben. 
Weiterhin findet sich bei ihr ein vorzeitiges Versiegen der Keimdrüsen- 
tätigkeit. Daneben besteht hochgradige Hypertonie. Gleichzeitig mit 

‘dem Beginn des frühen Klimakteriums ist eine typische primär chro- 
nische Arthritis sicca aufgetreten. 


Fall 5: Anna G., 43 Jahre. 

Im Alter von 29 Jahren schwere Zangengeburt, die zur Vereiterung beider 
Ovarien führte und eine Entfernung derselben 2 Jahre später nötig machte... Nach 
vorübergehendem Sistieren der Menses traten in den nächsten Jahren wieder 
Blutungen auf, die ärztlicherseits auf „‚Wucherungen‘“ zurückgeführt wurden. 
Nach mehrfacher Bestrahlung endgültiges Aufhören der uterinen Blutungen. 
Gleichzeitig mit und nach den Bestrahlungen stellten sich eigentümliche Ver- 
änderungen ein: Es zeigte sich eine Schwellung der ganzen Körperhaut. Die Haut 
wurde glatt und glänzend. Außerdem völliger Haarausfall am ganzen Körper, 
daneben erhebliche allgemeine Schwäche. In den folgenden Jahren verloren sich 
die Hautschwellungen allmählich wieder, im übrigen blieb der Befund unverändert. 
Es gesellten sich aber dann, immer mehr zunehmend, Gelenkbeschwerden hinzu, 
beginnend im linken Knie, fortschreitend auf fast die gesamten übrigen 
Gelenke. 

Befund: 43 jährige, kachektische, sehr senil aussehende Pat. Stark atrophische, 
glatte und glänzende Haut. Fast völliger Schwund der Kopfhaare, der Augen- 
brauen, Wimpern, Achsel- und Schamhaare. Innere Organe o. B. Blutdruck: 
RR 100/55 Hg mm. Blutbild: Lymphocytose von 30%, Eosinophilie von 7%. 
Wan. negativ. 


Gelenkbefund: Völlig hilfloser Zustand. Pat. kann weder gehen noch irgend- 
welche Handgriffe ausüben. Es finden sich pathologische Veränderungen an den 
Finger-, Handwurzel-, Ellbogen-, Schulter-, Fuß-, Kniegelenken, besonders der 
linken Seite. Die Gelenke zeigen keine Rötung oder Schwellung. Dagegen ist die 
Haut über den Gelenken und die Muskulatur der Umgebung atrophisch. Die 
Beweglichkeit in den meisten Gelenken ist stark eingeschränkt. Teilweise besteht 
völlige Fixation in Beugestellung, besonders am linken Knie und Ellenbogen. 
Die Finger sind im Grundgelenk teilweise ulnarwärts subluxiert. Aktive und 
passive Bewegungen sind sehr schmerzhaft. 

Die Röntgenaufnahme einer Hand gibt eine fleckige Atrophie der Diaphysen, 
allgemeine Knochenatrophie der ganzen Hand, die Gelenkflächen sind im wesent- 
lichen noch frei. Die Weichteile sind nur wenig verdickt. Ähnliche Verhältnisse 
gibt die Aufnahme der Khniee. 

Während der halbjährigen Krankenhausbehandlung, trotz intensiver physi- 
kalischer und medikamentöser Therapie (Salicylpräparate, Yatren-Casein) lang- 
sames Fortschreiten des Prozesses. 


Zusammenfassung. Nach der Exstirpation der Ovarien kommt es 
bei der Patientin zunächst zu Erscheinungen von Myxödem, kenntlich 
an Schwellung der Haut, Haarausfall und allgemeiner Schwäche. Später 
tritt eine fortschreitende primär chronische Arthritis sicca auf. Außer 
dem Ausfall der Ovarientätigkeit muß in diesem Falle eine Hypo- 
funktion der Schilddrüse angenommen werden. 











Zur Ätiologie und Genese der sog. „endokrinen“ Arthritis. 91 


Fall 6: Marie Schr., 53 Jahre alt. 

Im Alter von 20—34 Jahren 13 Entbindungen. Mit 35 Jahren Gallenstein- 
operation. Einige Jahre danach Unterleibsoperation, über deren genaues Datum 
und Art die Pat. nichts angeben kann. Kurze Zeit nach der Operation hörten 
die Menses auf. Im August 1914 traten dann Schmerzen in den Händen und später 
auch in den Füßen auf. Im Verlauf der nächsten Jahre griff die Erkrankung 
auf die Kniee über, während gleichzeitig die Veränderungen in den Händen immer 
mehr zunahmen. 

Befund: Mäßiger Ernährungszustand, seniles Aussehen. Innere Organe o. B. 


Gelenkbefund: Die schwersten Veränderungen finden sich in den Handwurzel- 
und Fingergelenken beider Hände. Die meisten dieser Gelenke sind unbeweglich, 
die Finger stehen teilweise in Beugestellung fixiert und in den Grundgelenken 


stark ulnarwärts subluxiert. Haut und Muskulatur der Hände sind atrophisch. 


Röntgenologisch sieht man die Handwurzelknochen untereinander verschmol- 
zen. Die Gelenkspalten, hauptsächlich in den Metacarpophalangealgelenken, sind 
infolge von Knorpelnekrosen geschwunden, ebenso auch zwischen den einzelnen 
Phalangen der Finger. Hochgradige allgemeine Knochenatrophie. Schwere Verände- 
rungen finden sich auch noch in beiden Kniegelenken, die in spitzwinkliger Con- 
tracturstellung fixiert sind und im Röntgenbild hochgradige Knochenatrophie 
mit Meniscusschwund und Deformation der Gelenkfläche des Femur zeigen. Im 
Verlauf der Krankenhausbehandlung trat keine Besserung auf; in hilflosem 
Zustand ins Siechenhaus verlegt. 


Zusammenfassung. Entwicklung einer schweren primär chronischen 
Arthritis sicca genuina, die zeitlich einem frühzeitigen Erlöschen der 
Keimdrüsentätigkeit, die auf eine operative Entfernung der Eierstöcke 
zurückzuführen ist, folgt. 

Die Beobachtungen umfassen also 6 Fälle von chronischer Gelenk- 


| erkrankung bei Frauen. Kurz zusammengefaßt sind die Hauptsymptome: 


Schleichender, fieberloser Beginn. Erste Lokalisation in der Regel in den 
kleinen Gelenken der Hände und Füße, erst späteres Übergreifen auf die 
eroßen Gelenke. Frühzeitige Atrophie der Muskulatur der Umgebung. 
Jeder Therapie trotzender, unaufhaltsamer Verlauf, der teils mit Ver- 
steifungen, teils mit schweren Deformationen, mit Subluxationen und 
Kontrakturen endet. Pathologisch-anatomisch besteht zunächst eine 
Verdiekung der Gelenkkapsel ohne Erguß, erst später treten Knochen- 
atrophie und Defekte am Knorpel und Knochen der Gelenkenden auf. 
Danach deckt sich diese Erkrankung mit dem Begriff der rheumatoiden 
Arthritis (Garrod) oder mit dem der primär chronischen Arthritis (Prr- 
bram) oder mit der Periarthritis destruens (Umber) oder mit der Arthritis 
sicca ulcerosa genuina (Munk). In Übereinstimmung mit His, Munk 
und Kraus unterscheidet sich auch nach unseren Erfahrungen diese 
nur bei Frauen auftretende trockene Form prinzipiell von ähnlich 
verlaufenden chronischen Gelenkerkrankungen, die auch bei Männern 
vorkommen. Hier nämlich ist, wie auch wir wiederholt beobachtet 
haben, das Bild von starken Ergüssen in die Gelenke beherrscht, während 
die Knorpel und Knochen, abgesehen von einer Atrophie, bis in ein 


92 


R. Neumann und E. Lande: 


weit vorgeschrittenes Stadium hinein noch unverändert sein können. 
Soviel über die Klassifizierung dieser Arthritisform, auf die nicht weiter 
eingegangen werden soll. Vielmehr soll uns hier die Ätiologie be- 
schäftigen. 

Bei den beobachteten 6 Fällen handelt es sich um Frauen im Kli- 
makterium. Und zwar besteht in 2 Fällen (Fall 1 und 2) ein zeitlich 
normales Klimakterium, in 2 weiteren Fällen (Fall 3 und 4) ein Kli- 
makterium praecox naturale und in den letzten 2 Fällen (Fall 5 und 6) 
ein durch operative Entfernung der Ovarien bedingtes künstliches Kli- 
makterium praecox. In den Fällen 4 und 5 von vorzeitigem Klimak- 


terium findet sich außer der Störung der Keimdrüsentätigkeit noch die. 


Störung einer weiteren Drüse mit innerer Sekretion: der Schilddrüse. 
Bei sämtlichen Fällen ergibt sich klar, daß der Beginn der Gelenk- 
erkrankung zeitlich nahe mit dem Klimakterium zusammenfällt. In 
Übereinstimmung 'mit früheren Beobachtungen drängt sich so auch 
hier der deutliche temporäre Konnex zwischen dem innersekretorischen 
Komplex und dem Auftreten der Gelenkerkrankung unmittelbar auf. 
Der Schluß aus diesem nahen zeitlichen Zusammenhang auf einen 
ursächlichen liegt natürlich sehr nahe. Er ist schon wiederholt gezogen 
worden, wie die Bezeichnungen: klimakterische Arthritis (His, Munk) 
oder endokrine Arthritis (Umber), Arthritis thyreotoxica (Gara, Williami- 
noff, Kocher) zeigen. Besonders beweiskräftig in diesem Sinne erscheinen 
unsere 2 Fälle von chronischer Arthritis im Anschluß an ein vorzeitiges 
Klimakterium naturale und noch mehr die 2 Fälle im Anschluß an ein 
operativ gesetztes Klimakterium praecox. Diese Beobachtungen er- 
lauben dieselbe Beweisführung, die Pineles für die Ätiologie der Heber- 
denschen Knoten anwandte. Er sah die Heberdenschen Knoten häufig 
bei Frauen im Klimakterium entstehen. Das daraus vermutete ursäch- 
liche Verhältnis ergab sich ihm noch deutlicher durch den Nachweis 
der Knoten im Klimakterium praecox naturale. Geschlossen sieht er 
die Beweiskette durch die Feststellung der Knoten bei kastrierten 
jugendlichen Frauen. Nach Pineles sind demnach die Heberdenschen 
Knoten auf natürliche oder künstliche Involutionsvorgänge der weib- 
lichen Geschlechtsorgane zurückzuführen. Mit derselben Berechtigung 
lassen sich die beobachteten Gelenkerscheinungen mit ähnlichen Vor- 
gängen im weiblichen Genitale in ursächlichen Zusammenhang bringen. 

Es ist nun die Frage, ob sich unter Anerkennung eines ursäch- 
lichen Zusammenhanges auf Grund der heutigen Kenntnisse von der 
Wirkung der innersekretorischen Drüsen eine Erklärung finden läßt 
für die Entstehung dieser sogenannten endokrinen Arthritis. Wenn 
dabei auch noch manches hypothetische und spekulative Moment 
vorhanden ist, so erscheint sich uns trotzdem zwanglos eine Theorie 
von heuristischem Wert zu ergeben. 























Zur Atiologie und Genese der sog. „endokrinen“ Arthritis. 93 


Zunächst sei auf die nahen Beziehungen der innersekretorischen 
Drüsen, besonders auch der Ovarien zum Knochensystem, die ja schon 
lange bekannt sind, hingewiesen. Hierher gehört die Korrelation zwischen 


 Hypophyse und Akromegalie, zwischen Osteomalacie und Hyperfunk- 


tion der Ovarien, zwischen Unterfunktion der Keimdrüsen und Knochen- 
wachstum u. a. Besonders interessant in diesem Zusammenhang ist 
eine Beobachtung von Riebold. Er sah mehrfach bei jungen Mädchen 
zur Zeit der Menstruation rheumatoide symmetrische, schmerzhafte 
Schwellungen besonders der Finger und Fußgelenke. Er führt diese 
zurück auf eine Störung der sekretorischen Tätigkeit der Ovarien, 
wodurch gewisse toxisch wirkende Sekrete eines nicht funktionstüchtigen 
Ovariums während der Ovulation in den Kreislauf gelangen. 

Diese sichergestellten nahen Beziehungen zwischen Funktions- 
störung der innersekretorischen Drüsen und dem Knochensystem 
lassen schon den zunächst scheinbar so unerklärlichen Zusammenhang 
zwischen Blutdrüsen und Störungen im Gelenkapparat verständlicher 
erscheinen, zumal wenn man als Ursache einer Gelenkveränderung eine 
primäre Knochenschädigung annehmen wollte, was immerhin durchaus 
möglich scheint. Diese Tatsachen bilden zwar einen Wegweiser aber 
noch keine Erklärung für die Entstehung dieser Form der chronischen 
Arthritis. Eine plausible Erklärung aber, die den klinischen und ex- 
perimentellen Erfahrungen wie auch dem anatomisch nachgewiesenen 
Beginn der Erkrankung in der Gelenkkapsel Rechnung trägt, scheint 
sich uns aus den folgenden Betrachtungen zu ergeben. 

Schon frühere Beschreiber, namentlich Curschmann, haben betont, 
daß diese Form der Arthritis, die immer wieder als chronischer Rheu- 
matismus bezeichnet wird, mit Rheumatismus, einem Ausdruck, der 
das Wechselnde, Fließende der Erscheinungen kennzeichnen soll, außer 
dem Sitz in den Gelenken nichts gemein hat. Demgegenüber ist schon 
mehrfach auf einen Zusammenhang mit einer Erkrankung des Nerven- 


‚systems hingewiesen worden. Der symmetrische Beginn an beiden 


Extremitäten, der ganz allmählich zunehmende, symmetrische Verlauf 
mit zuerst progressiven, dann regressiven Veränderungen, die früh- 
zeitig einsetzende, mitunter den Gelenkerscheinungen vorauseilende 
Atrophie der Muskeln und der Haut legen eine Analogie mit Erkran- 
kungen wie Syringomyelie, Tabes und spinalen Muskelatrophien u. a. 
nahe. Doch ist in Wirklichkeit niemals eine Erkrankung des Zentral- 
nervensystems nachgewiesen worden. Näher liegt der Zusammen- 
hang mit dem vegetativen Nervensystem, dessen Funktion innig ver- 
knüpft ist mit den innersekretorischen Drüsen. Eine Funktionsstörung 
dieser Drüsen, besonders der Ovarien und der Schilddrüse ist aber stets 
vorhanden. Eine wichtige experimentelle Stütze für die Annahme 
des Konnexes zwischen Blutdrüsen und Gelenkaffektion bildet eine 


94 R. Neumann und E. Lande: 


Mitteilung Brünings in der Berliner medizinischen Gesellschaft. Er 
beobachtete bei Sklerodermie, bei der sich häufig außer den typischen 
Hauterscheinungen Veränderungen an den kleinen Gelenken der Hände 
und Füße finden, sehr ähnlich denen bei der klimakterischen Arthritis, 
daß diese Gelenkerscheinungen durch die Sympathektomie günstig be- 
einflußt wurden. Er zieht daraus den naheliegenden Schluß, daß diese 
Veränderungen bedingt werden durch sympathicotonische Gefäß- 
krämpfe, zentraler oder peripherer Natur, wodurch weiterhin trophische 
Störungen in den Gelenken entstehen. Daß aber solche Gefäßkrämpfe 
sympathischer Natur gerade an Händen und Füßen mit konsekutiven 
schweren Ernährungsstörungen auch sonst in der Pathologie eine Rolle 
spielen, dafür sind die Raynaudsche Krankheit und ihre Vorstufen: 
die so häufigen ‚„‚abgestorbenen Finger‘ bei vegetativ stigmatisierten 
Individuen ein guter Beweis. 

Diese Tatsachen berechtigen zu der Folgerung, daß auch die primären 
Veränderungen bei der primär chronischen Arthritis der Frauen: die 
Kapselverdickungen, die Haut- und Muskelatrophien, auf trophische 
Störungen infolge funktioneller Gefäßkrämpfe in diesem Bereiche 
zurückzuführen sind, vorausgesetzt, daß sich dabei eine Übererregbar- 
keit des sympathischen Systems mit einer Neigung zu Gefäßspasmen 
nachweisen läßt. 

Das Übergewicht des den Sympathicus stimulierenden Adrenal- 
systems zeigt sich im Klimakterium häufig schon an der Blutdruck- 
steigerung und an den nicht seltenen abnormen Pigmentationen der 
Haut. Weiterhin ist es aber eine sichere Tatsache, daß das innere 
Sekret der Ovarien einen hemmenden Einfluß auf den Sympathicus 
ausübt, und daß umgekehrt bei einer Unterfunktion der Ovarien die 
Sympathicuserregbarkeit gesteigert ist. So fand sich nach Kastration, 
wie Biedl anführt, mehrfach eine Hypertrophie der Nebennierenrinde. 
Durch die Kastration wird die Osteomalacie geheilt, die nach Cristo- 
foletti bedingt wird durch eine Überfunktion der Ovarien während der 
Gravidität und eine dadurch hervorgerufene Hemmung des chromaffinen 
Systems, die ihrerseits zu einer Dysfunktion der mit dem Kalkstoff- 
wechsel und dem Knochenwachstum in Verbindung stehenden Drüsen 
führt. Eine gleichartige Beeinflussung des vegetativen Nervensystems 
durch die Ovarien ergeben die Untersuchungen von L. Adler. Er fand 
bei Überfunktion derselben eine starke Reaktion auf vaguserregende 
Mittel, bei Unterfunktion der Ovarien eine erhöhte Adrenalinempfind- 
lichkeit und einen gesteigerten Sympathicustonus. Man kann also 
das Klimakterium als eine Zeit der Sympathicotonie bezeichnen, 
und die allgemeinen Symptome des Klimakteriums: erhöhter Blutdruck, 
vorübergehende Gefäßspasmen mit sekundären Hyperämien, nervöse 
Übererregbarkeit mit Tremor u. a. entsprechen ganz der Wirkung einer 




















Zur Ätiologie und Genese der sog. „endokrinen“ Arthritis. 95 


Adrenalininjektion. Wenn man also sympathischen Gefäßspasmen mit 
sekundären Ernährungsstörungen im Bereich der Gelenke eine aus- 
schlaggebende Bedeutung bei der Genese dieser primär chronischen 
Arthritis beimißt, so ist damit der ursächliche Zusammenhang zwischen 
der Gelenkerkrankung und dem Klimakterium mit seinem Ausfall 
der Ovarienfunktion und der dadurch bedingten Übererregbarkeit 
des Sympathieus bewiesen. In gleicher Weise erklären sich so leicht 
auch die häufigen Beobachtungen der chronischen Arthritis beim 
Morbus Basedow, denn die Überfunktion der Schilddrüse wirkt bekannter- 
maßen erregend auf den Sympathicus, in noch gesteigertem Maße, 
wenn der hemmende Einfluß der Ovarien, deren Funktion beim Morbus 
Basedow fast stets gestört ist, fortfällt. 

Ein pathologisch gesteigerter Erregungszustand des Sympathicus 
erscheint uns nach diesen Auseinandersetzungen als das ausschlag- 
gebende Moment bei dieser Art chronischer Arthritis, gleichviel durch 
welche Drüsenstörung dieser Zustand hervorgebracht wird. In Wirk- 
lichkeit wird dabei immer gleichzeitig eine Korrelationsstörung in dem 
ganzen System der in Wechselwirkung zueinander stehenden Blut- 
drüsen bestehen. Der scheinbare Widerspruch, der darin liegt, daß 
verhältnismäßig selten im Klimakterium, dieser Zeit einer physio- 
logischen Sympathicotonie, die endokrine Arthritis auftritt, erklärt 
sich durch das normalerweise kompensatorische Eintreten anta- 
gonistischer Drüsen für den Ausfall der Ovarien. Dadurch kann es 
nicht zu einer pathologischen Auswirkung dieses erhöhten Sympathicus- 
tonus kommen. Umgekehrt wird das relativ häufigere Auftreten dieser 
Gelenkerkrankung im Klimakterium praecox, namentlich im künstlich 
gesetzten, auf diese Weise umso verständlicher. Denn hier erlischt 
plötzlich, ganz unphysiologisch auf der Höhe ihrer Funktion die Ovarien- 
sekretion; damit fällt plötzlich der hemmende Einfluß auf den Sym- 
pathicus weg, und das antagonistische Adrenalsystem tritt hemmungslos 
in die Erscheinung. 

Für die Auslösung und die schädigende Wirkung dieser, wie eben 
auseinandergesetzt, endogen bedingten Gefäßspasmen spielen natürlich 
äußere schädigende Momente, wie Nässe, Kälte, Traumen, Überanstren- 
gungen eine wichtige unterstützende Rolle. Für die Progredienz der 
Erkrankung sind diese äußeren Ursachen, insbesondere die falsche 
statische Belastung und der falsche Gebrauch der schon erkrankten 
Teile, von großer Bedeutung. 

Zusammenfassend ergibt sich also auf Grund der Beobachtung von 
6 Fällen primär chronischer Arthritis bei Frauen in unmittelbar zeit- 
lichem Konnex mit einem normalen oder vorzeitigen Klimakterium, 
teilweise mit gleichzeitiger Schilddrüsenstörung, folgende Theorie für 
die Ätiologie und Genese dieser Arthritisform: Das Hauptmoment für 


96 R. Neumann und E. Lande: Zur Ätiologie usw. 


die Entstehung der primär chronischen Arthritis bei der Frau ist eine 
Störung des innersekretorischen Drüsenapparates und zwar in der 
Richtung eines Übererregungszustandes des sympathischen Systems. 
Dieser wird bedingt durch den Wegfall der Sympathicus hemmenden 
Ovarienfunktion oder durch die Steigerung der den Sympathicus er- 
regenden Schilddrüsentätigkeit. Diese Sympathicotonie führt, unter- 
stützt durch äußere schädigende Momente, zu lokalen spastischen 
Zuständen in den die Gelenke versorgenden Gefäßgebieten und damit 
hier zu Ernährungsstörungen, welche die Gelenkveränderungen ein- 


leiten. 
Literatur. 
!) Adler, Zur Physiologie und Pathologie der Ovarialfunktion. Arch. f. 
Gynäkol. 95. 1911. — ?) Bauer, Konstitutionelle Disposition zu inneren Krank- 


heiten. Springer 1917. — ?) Biedl, Innere Sekretion. Urban u. Schwarzenberg 1916. 
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Zur Symptomatologie der Akromegalie. Wien. klin. Wochenschr. 1899. — 

”) Cohen, Americ. journ. of med. scienc. 147, 228. 1914 (Kongr. Zentralbl. 10, 117). 
— ®) Deusch, Polyarthritis deformans progressiva und Basedowsche Krankheit. 
Klin. Wochenschr. 1922, Nr. 45. — °) Falta, Erkrankungen der Blutdrüsen. — 
10) Gara, Die durch Stoffwechselstörung bedingten chronischen Gelenkerkrankungen. 
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der spez. Pathologie und Therapie %, 2. 1902. — !?) His, Wesen und Form der 
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15) Karlowitz, Beitrag zur Klärung des Zusammenhangs zwischen Kropf und 
rheumatischer Gelenkerkrankung Medycyna i kronika lekarska, 1914, Nr. 1. — 
16) Kocher, Handbuch von Kraus-Brugsch 1. — !") Levi und Rothschild, O. Doin, 
Paris 1911 (ref. nach Bauer). — !) Lommel, Handbuch von Mohr-Staehlin 4, 1. — 
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pathologischen Anatomie der Gicht. Dtsch. med. Wochenschr. 1920, Nr. 5. — 
2!) Munk, Über Gelenkerkrankungen. Vortrag und Diskussion in der Berl. med. 
Gesellschaft 1. u. 28. XI. 1923. — °?%) Pineles, Wien. klin. Wochenschr. 1908, 
Nr. 25. — ”°) Pineles, Wien. klin. Wochenschrift 1914, Nr. 23 u. 24. — *) Poncet, 
Verh. d. 12. Kongr. d. orthopäd. Ges. Berlin 1923 (Kongr. Zentralbl. 9, 569). — ° 
25) Pribram, Chronischer Gelenkrheumatismus und Osteoarthritis deformans. 
Nothnagels Handbuch der spez. Pathol. u. Therapie %, 2. 1902. — 6) Riebold, 
Über periodische Fieberbewegung mit rheumatischen Erscheinungen bei jungen 
Mädchen. Dtsch. Arch. f. klin. Med. 93. 1908. — ?°%) Umber, Akute u. chron. 
Gelenkerkrankungen in Penzoldt u. Stintzing, Handb. der ges. Therapie. 5. Aufl. 
1914. — °°) Umber, Ernährung u. Stoffwechselkrankheiten bei Urban u. Schwarzen- 
berg, IT. Aufl. 1914. — *”) Williaminoff, Polyarthritis chronica progressiva thyreo- 
toxica. Russki Wratsch 1908, S. 597 (ref. nach Deusch). 








(Aus der Medizinischen Universitätsklinik zu Frankfurt a. M. [Direktor: Prof. 
Dr. @. v. Bergmann).) 


Zur thyreosexuellen Insuffizienz. 


Von 
Wilhelm Schöndube, 
Volontärassistenten der Klinik, 


Mit 1 Textabbildung. 
(Eingegangen am 17. Dezember 1923.). 


Neben den wohlcharakterisierten Krankheitsbildern auf dem Ge- 
biet der Erkrankungen mit innerer Sekretion, wie sie uns etwa in der 
Akromegalie, dem Basedow, dem Myxödem geläufig sind, wurden schon 
im Beginn der Periode, in der die Hochflut einschlägiger Beobachtungen 
einsetzte, Fälle beobachtet, die sich keiner der festumrissenen inner- 
sekretorischen Erkrankungen einfügen ließen, bei denen man auch mit 
der Diagnose rein nervöser Correlationsstörungen nicht auskam. Ange- 
sichts einer Fülle divergierender Beobachtungen mußte der von Claude 
und Gougerot geschaffene Krankheitsbegriff der „polyglandulären In- 
suffizienz“, mit dem man solche Fälle bedachte, das Bedürfnis auslösen, 
einerseits ihn möglichst einzuschränken, andererseits aus ihm Fälle 
herauszulösen, deren gleichartige Erscheinungen zu einer verbind- 
licheren‘ Namengebung berechtigten als der zu nichts verpflichtende 
Ausdruck der pluriglandulären Insuffizienz. So schuf Biedl sein thyreo- 
testiculo-hypophyseo-suprarenales, sein thyreo-suprarenales Syndrom 
usw., so hat vor allem Falta gezeigt, daß er berechtigt ist, eine Reihe 
von einschlägigen Beobachtungen als ‚multiple Blutdrüsensklerose‘‘ 
zusammenzufassen, der er bezüglich ihrer wahrscheinlich entzündlichen 
Ätiologie und ihren durch Anämie und Kachexie charakterisierten 
zum Tode führenden Verlauf ganz bestimmte Merkmale mit auf den 
Weg geben konnte. Inzwischen sind durch Ourschmann und Hirsch 
Beobachtungen veröffentlicht worden, die sich unter den Faltaschen 
Begriff einordnen lassen, bei denen es sich also auch um einen wahr- 
scheinlich infektiösen, aber meist noch nicht näher definierbaren Krank- 
heitsprozeß mehrerer Blutdrüsen handelt, der durch sklerotische Atro- 
phie meist zu Ausfallserscheinungen der Schilddrüse, Keimdrüsen, 
Hypophyse und Nebennieren führt und schließlich durch unaufhaltsame 
Kachexie mit dem Tode des Individuums endigt. Namentlich Hirsch 
hat durch lückenlosen Obduktionsbefund zweier Fälle der Hypothese 
Faltas, der nur über wenig ausreichende Obduktionsbefunde verfügt, 
eine starke Stütze gegeben. Dem gegenüber zeigt C'urschmann an der 

2. f. klin. Medizin. Bd. 100. {; 


98 W. Schöndube: 


Hand von 3 Fällen wieder, was aus den zahlreichen, namentlich fran- 
zösischen Beobachtungen vor ihm zum Ausdruck kam, daß es auch 
Fälle von sicherer Erkrankung mehrerer Blutdrüsen geben kann, die 
nicht zum Bilde der multiplen Blutdrüsensklerose passen und für 
die der Ausdruck pluriglanduläre Insuffizienz erhalten bleiben muß. 
Einer seiner Fälle, der mit sicheren Ausfallserscheinungen der Thyreoi- 
dea, der Keimdrüsen, der Nebennieren und des Pankreas dem Typ 
multiple Blutdrüsensklerose am nächsten kommt, wies keine sklero- 
tischen Veränderungen des Pankreas und der Nebennieren auf und zeigte 
außer einer Influenza auch keinen Hinweis auf entzündliche Genese. 
Die Tatsache also, daß auch funktionelle Drüsenschädigungen das 
Krankheitsbild hervorrufen können, spräche gegen den Ausdruck 
multiple Sklerose. Dieselben Einwände findet Frisch bei einem Fall 
von Hypothyreose, Keimdrüsen und Nebenniereninsuffizienz in einem 
luetischen Organismus. Seine sowie die Beobachtungen von Simmonds, 
Donath und Lampl erweisen ihm, daß einerseits schwere Ausfallserschei- 
nungen von Blutdrüsen ohne anatomische Veränderungen derselben 
einhergehen, andererseits solche am Sektionstisch gefunden werden 
können, wo sie das klinische Symptomenbild nicht erwarten läßt. Der 
Ausdruck multiple Blutdrüsensklerose wird als klinischer Begriff daher 
auch von ihm abgelehnt. Ferner macht C’urschmann bei seinen Fällen 
auf die starke konstitutionelle Komponente aufmerksam, die Falta 
bei der Definition seines Krankheitsbegriffes nicht erwähnt, und stützt 
so die Anschauungen Wiesels, der die multiple Blutdrüsensklerose als 
Folge einer Bindegewebsdiathese ansehen möchte, die sich in angeborenen 
gewebsschwachen Organen entwickelt. Wiesel spricht demnach von 
Bindegewebsdiathese mehrerer Blutdrüsen. 

Was den Krankheitsverlauf angeht, so zeigt der Fall von Frisch, 
daß eine Heilung selbst schwer kachektischer Individuen, bei denen 
ätiologisch die auch von Falta in den Vordergrund gestellte Lues in 
Frage kommt, durch antiluetische Behandlung und Organpräparate 


wohl möglich ist. Diese Tatsache führt zu der Überlegung, daß es 


sicherlich gelingen muß, die Anfangsstadien dieser Krankheit, wie wir 
sie auch nennen mögen, sei es durch Organpräparate bei unklarer 
Ätiologie, sei es durch das Angehen eines spezifisch infektiösen Prozesses 
zu heilen oder mindestens zu bessern. Die Diagnose multiple Blutdrü- 
sensklerose mit ihrer von Falta aufgestellten düsteren Prognose dürfte 
in vielen Fällen durch die Jahre der Entwicklung dieser Krankheit 
nicht zu stellen sein, sie sub finem vitae oder nach Ausbruch der unauf- 
haltsamen Kachexie und Anämie zu stellen, bedeutet für den klinisch 
denkenden Arzt keinen Vorteil. 

Deshalb ist es verdienstlich, wenn Borchardt sich neuerdings bemüht, 
den Quellen jener traurigen Erkrankung nachzuspüren, und zu dem 





—- 








Zur thyreosexuellen Insuffizienz. 99 


Ergebnis kommt, daß es eine ‚„thyreo-sexuelle Insuffizienz‘“ gibt, die 
die Basis jeder multiplen Blutdrüsensklerose bildet und — sui generis — 
auch als gutartige Erkrankung meist bei Frauen vorkommt und nicht 
in die maligne Form der Faltaschen Krankheit überzugehen braucht. 
Auch aus diesem Grunde ist der alte Claude-Gougerotsche Ausdruck 
immer noch der bessere, denn die multiple Blutdrüsensklerose darf 
doch immer mehr als eine bösartige Form eines Krankheitsgeschehens 
aufgefaßt werden, das durchaus auch benigne verlaufen kann. Ob es 
in jedem Falle vorteilhaft ist, schematisierend den Inhalt des pluri- 
glandulären Topfes zu sichten und neue enger umgrenzte Krankheitstypen 
herauszusuchen, ist solange ein zweifelhaftes Beginnen, als wir noch 
immer der Methoden entbehren, die uns über Funktion und Bau der 
inneren Drüsen am Lebenden eine klare Auskunft geben können. Auch 
die Borchardtsche Neuschöpfung hat fließende Übergänge zu allen 
möglichen Typen multiglandulärer Erkrankungen. Das von Bor- 
chardt geschilderte Symptomenbild, bei dem im Gegensatz zur voll aus- 
gebildeten multiplen Blutdrüsensklerose keine Kachexie und Anämie, 
sondern jugendliches Aussehen mit runzellosen, vollen Backen beob- 
achtet wird, wird schon durchbrochen von der v. Noordenschen Dy- 
strophia genito-sclerodermica junger Mädchen, die Borchardt zur ersten 
Untergruppe seiner thyreo-sexuellen Insuffizienz zählt. Denn diese 
jungen Mädchen mit thyreo-sexuellen Störungen und Sklerodermie sind 
im Gegenteil abgemagert und haben ein gealtertes Aussehen. Auch 
die von Borchardt angeführten männlichen Fälle vom Pubertätstyp der 
thyreo-sexuellen Insuffizienz lassen Einwände zu. Der Fall 14 eines 
17jährigen Jünglings von Falta, den dieser selbst als eine gutartige 
Form der multiplen Blutdrüsensklerose aufzufassen geneigt ist, hat 
neben deutlichen Störungen an der Schilddrüse und dem Genitalapparat 
eine Tetanie, die auf die Unterfunktion der Epithelkörperchen hinweist, 
und der Fall von Dupre und Pagniez eines l5jährigen Mädchens leitet 
selbst nach Ansicht Borchardts zum pluriglandulären Infantilismus über, 
weist allerdings nach Auftreten der ersten Menstruationsblutung eine 
deutliche vorübergehende Insuffizienz des thyreo-sexuellen Apparates 
auf. Deutlicher zeigen die anderen Untergruppen der thyreo-sexuellen 
Insuffizienz, nämlich der ‚‚klimakterische‘‘, der ‚‚puerperale‘“ und der 
„thyreogene Typ‘ das Vorherrschen von Schild- und Keimdrüse. Bei 
ihnen scheint der neue Krankheitsbegriff einem Bedürfnis abzuhelfen. 

Hingegen sind die angeführten autoptisch untersuchten Fälle kein 
absoluter Beweis für die Richtigkeit seiner Theorie. Denn der Fall von 
Gandy läßt durch eine vorhandene Polyurie und eine im Röntgenbilde 
beobachtete flache Sella den Schluß auf Mitbeteiligung der Hypophyse 
zu, während der Fall Brissaud und Bauer durch Anämie und Kachexie 
mehr dem Bild der multiplen Blutdrüsensklerose zuneigt, andererseits 

7* 


100 W. Schöndube: 


aber eine angeblich normal aussehende 15 g schwere Thyreoidea auf- 
weist. Die Hypophyse ist in diesem Falle nicht erwähnt, die Frage der 
hypophysären Kachexie bleibt also offen. Die mitgeteilten Sektions- 
befunde sogenannter thyreo-sexuelle Insuffizienz gehören also sicher 
nicht zu den stärksten Säulen der Borchardtschen Hypothese. Das 
mag seinen Grund in der relativ gutartigen Prognose der typischen 
Krankheitsfälle haben und wäre danach noch kein Beweis für die Un- 
richtigkeit des Borchardtschen Krankheitsbildes. 

Um allen diesen in Fluß befindlichen Fragen nach Auflösung des 
Begriffs der pluriglandulären Insuffizienz in einzelne, bessere charakteri- 
sierte Teilgebiete näherzukommen, ist eserwünscht, alle hierzu gemachten 
Beobachtungen mitzuteilen. Im folgenden soll eine Kranke beschrieben 
werden, die wir in diesem Sommer an unserer Klinik studieren konnten. 


E. B., 30jährige Haustochter. Heredität: Urgroßeltern gesund, eine Groß- 
tante mütterlicherseits körperlich zurückgeblieben, fast Zwergin, früh entwickelt 
(Mensesbeginn mit 12 Jahren), jedoch große Schwierigkeiten in der Schule, kann 
heute noch nicht orthographisch schreiben. Charakterlich gutartig, aber ver- 
schroben in Lebensgewohnheiten, daß sie ihrer Umgebung zur Last fällt. Groß- 
mutter und -vater mütterlicherseits sehr nervös. Mutter hochbegabt, doch schwer 
psychopathisch, litt in den 40er Jahren an langdauernder schizophrener Psychose, 
Vater hochwertig, Diabetiker, dessen Vater auffallend klein. In der Familie viel Dia- 
betes. Anamnese: Mit 5 Jahren Gehirnerschütterung infolge Sturz von der Treppe, 
während der Schulzeit gelegentlich Angstzustände, sonst sehr begabt und leistungs- 
fähig. Mit 13 Jahren schwere Angstzustände (Platzangst, Angst in gefüllten Räumen, 
Verlegenheit beim Sprechen mit anderenPersonen). Durch Jahre hindurch nicht im 
Theater, in keiner Gesellschaft. Mit 15 Jahren Einsetzen der Menses, keine Libido. 
Von 1910—1913 einigermaßen normaler Zustand, Anfang 1914 mit 21 Jahren 
nervöser Zusammenbruch. Erschöpfungszustände, Wirrsein im Kopf, Nicht- 
denken-können, Vergeßlichkeit, schwere Depression und Gleichgültigkeit, Cessatio 
mensium bis zum 27. Jahre (1920). Angeblich niemals Libido, dagegen schwär- 
merische Freundschaften mit Frauen. 1917 löst sie eine Verlobung. Seit 1916 
auffällige Gewichtszunahme, Haarausfall, Schmelzdefekte, Abnahme des Gehörs. 
1916 Magenbeschwerden mit anschließender, fast 2 Jahre dauernder Gelbsucht. 1917 
wird Duodenalgeschwür festgestellt. 3monatliche Diätkur, Heilung. 1918—1920 
Besserung des seelischen Zustandes, Pat. ist beruflich tätig, abends nur immer 
totmüde, geht auffallend früh zu Bett. 1920 erneut völlige Erschöpfung mit Schlaf- 
sucht, geistigem Versagen, ohnmachtsähnlichen Zuständen von 1—3 Stunden 
Dauer. Hormin wird nicht vertragen, macht Verwirrtheit, Angst und Erregung. 
Nach Strychnin, subeutan über 1 Jahr gegeben, jeweils kurzdauernde Besserung. 
Schwerhörigkeit steigert sich bis zu Zeiten völliger Taubheit. Verschiedene Ohren- 
spezialisten stellen eine typische Otosklerose fest. Thelygon, Atropin, Arsen ohne 
Erfolg. Dagegen Oktober, November 1921 nach 0,3—0,6 Thyreoidin (Merck) 
verblüffende Besserung aller Beschwerden und Rückkehr der Menses, bestehende 
Adynamie behebt sich. Dezember 1921 Nachlassen der Thyreoidwirkung, Schlaf- 
sucht und Denkhemmung kehren zurück, Menses bleiben aus, nach Aussetzen 
des Mittels auffallender Fettansatz (Oberschenkel und Mammae). In der Folge 
Hypophysenpräparate nur von geringem vorübergehenden Erfolg. Von Zeit zu 
Zeit ist Schilddrüse notwendig, doch machen sich allmählich Anfälle von Angst, 
Unruhe, Tachykardie unangenehm bemerkbar. Seit Mai 1920 starke Schwindel- 














Zur thyreosexuellen Insuffizienz. .101 


anfälle mit Brechreiz und fast völliger Bewußtlosigkeit, daneben leichte Schwindel- 
zustände. Schwerhörigkeit nimmt wieder stark zu, Ohrensausen im linken Ohr, 
gesteigert in den Tagen des Schwindels. !/, Jahr im Krankenhaus Darmstadt, 
Behandlung mit Schilddrüse und Hypophysispräparaten. Langsame Besserung, 
Gewichtsabnahme. August 1922 bis Oktober 1922 Sanatorium Schloß Hornegg 
(Geh. Rat Roemheld). Dort Weiterbehandlung mit Schilddrüse, Hypophyse und 
Parathyreoid. Pilocarpin und Schwitzpackungen wirksam gegen den Schwindel, 
Gewichtsabnahme 1,5 kg, Hörfähigkeit gebessert. Bis Januar 1923 verhältnis- 
mäßig gute Zeit, dann Pilocarpin ausgesetzt. Nach 10 Tagen wieder Menieresche 
Anfälle und Nachlassen des Gehörs. Mitte März Eintritt in unsere Klinik. Pat. 
nimmt augenblicklich täglich 3,0 Thyreoidin, 0,6 Parathyreoidin, 5mal 0,25 cem 
Pituglandol. Seit August 20 Pfund zugenommen. Periode sehr spärlich, aber 
regelmäßig. Befund: 1,61 m groß, 60,2 kg schwer, gut genährt, reichliche Fett- 
polster, namentlich an Brust, Hüften und Oberschenkel. Mammae pendulae, 
Drüsenkörper deutlich mittelgroß fühlbar. Haut rosig, sehr trocken, sehr wenig 
zu Schweiß neigend. Starker Dermographismus. Haupthaar dünn, kurz, brüchig, 
trocken (Pat. hat als Kind sehr starkes und langes Haar gehabt). Crines axillaris 
sehr spärlich, Crines pubes in mäßiger Stärke, Lanugobehaarung dürftig. Gebiß: 
Zähne an der Oberfläche wie an den Außenseiten stark abgeschliffen, Schmelz 
an diesen Stellen fehlend und Zement freiliegend. Nur die mittleren Ineisivi 
‘unversehrt. Nägel rissig, keine groben Defekte, Herz und Lungen o. B. Blut- 
druck 125/75. 'Thyreoidea kaum fühlbar. Röntgenologisch: Sella turcica nicht 
vergrößert, nicht abgeflacht. Puls um 100, regelmäßig. Temperatur 37,7 rectal. 
Nervensystem: Alle Reflexe normal auslösbar — leichte Zuckung im Lippenrot 
rechts, leichter Tremor der Hände, leichtes Lidflattern. Würgreflex nicht auslös- 
bar, Corneal- und Scleralreflex vorhanden. Ausgesprochene Hypalgesie am ganzen 
Körper, namentlich an Bauch und Beinen. Grobe Kraft erhalten. Im Harn außer 
Eiweißspuren kein pathologischer Befund. Gynäkologisch (Geheimrat Seitz): 
Äußere Genitalien von normalem Aussehen, Vagina gut entwickelt, Portio klein. 
Uterus ist anteflektiert, nur fingerdick, Ovarien sehr klein, etwa nur zwetschenkern- 
groß, frei beweglich. Ophthalmoskopisch (Prof. Schnaudigel): Augenbewegungen 
frei, Pupillenreaktion normal, rechts —2,5D. S=/,, links —2,5D. S=?/y 
bis 5/,. Augenhintergrund rechts sowie Gesichtsfeld normal, links deutliche Ab- 
blassung namentlich der temporalen Hälfte des Sehnerven. Leichte nasale Ein- 
engung des Gesichtsfeldes. Otologisch (Prof. Voss): Rechtes Trommelfell retrahiert, 
in der Mitte des unteren Abschnittes rötlich durchscheinend. Links ist das rötliche 
Durchscheinen im vorderen und unteren Abschnitt stark ausgeprägt. Kein Ny- 
stagmus, auch nicht bei Hintenüberbeugen des Kopfes. Subjektives Schwindel- 
gefühl, kein Romberg, keine Adiadochokinese, kein Sherrington. Vorbeizeigen mit 
der linken Hand nach außen, unten und vorn. Flüstersprache bdsts. a. c. Weber 
nach rechts lateralisiert, Rinne links —, rechts —. Schwabach (a,) 12/17. Untere 
Tongrenze links h!. Obere Tongrenze: Links werden die Töne des Monochords 
durch Luftleitung als Kratzen bezeichnet. Knochenleitung 9 cm; rechts Luftleitung 
17cm, Knochenleitung 11cm. Schwabach (A) 62 Sek.—75 Sek. 


Spülung mit 5 ccm Wasser von 18° und Bartelscher Brille: links beim Blick 
geradeaus kein Nystagmus, bei seitlichem Blick nach rechts nur vereinzelte 
rotatorische Nystagmuszuckungen, Vz. auch mit der rechten Hand nach links, wäh- 
rend das spontane Vz. mit der linken Hand ein wenig zunimmt. Subjektiv starkes 
Gefühl der Gleichgewichtsstörung, bei Augen-Fußschluß kein Schwanken, aber 
Scheinbewegung der Gegenstände entgegengesetzt der Richtung des Uhrzeigers. 


Rechts ‚bei Blick geradeaus kein Nystagmus, nur vereinzelte Nystagmus- 
zuckungen bei extremster Blickrichtung nach links. Vz. mit beiden Händen 


102 W. Schöndube: 


nach rechts. Bei Augen-Fußschluß leichte Neigung des Oberkörpers nach rechts. 
Subjektiv stärkeres Schwindelgefühl wie nach Linksspülung. 

Warmspülung 47° links: kein Nystagmus, auch nicht bei seitlicher Blick- 
richtung. Vz. mit der rechten Hand nach außen, während mit der linken Hand 
richtig gezeigt wird. Bei Augen-Fußschluß kein Schwanken, subjektiv ganz ge- 
ringes Schwindelgefühl. Rechts: kein Nystagmus, weder bei Blick geradeaus noch 
bei seitlicher Blickrichtung. Vz. mit der linken Hand etwas stärker nach außen 
wie spontan, rechts richtig. Bei Augen-Fußschluß kein Schwanken, geringes 
subjektives Schwindelgefühl. 

Nach 10 Rechtsdrehungen Vz. mit beiden Händen nach rechts, kein Nach- 
nystagmus, keine Fallneigung, während des Drehens kein, während des Anhaltens 
ausgesprochenes Schwindelgefühl. Nach 10 Linksdrehungen Vz. mit beiden Händen 
nach links, kein Nachnystagmus. Bei Kopf geradeaus Fallneigung nach rechts, 
bei Kopf rückwärts keine Fallneigung. 

Diagnose: Doppelseitige Otosklerose, links stärker als rechts mit Beteiligung 
des inneren Ohrs und des Vestibularapparates (cfr. Kalorische und rotatorische 
Nystagmusunter- bzw. -unerregbarkeit). 

Im Blut findet sich eine auffallende Eosinophilie, Lymphocyten an der oberen 
Grenze der Norm, ferner die Zeichen leicht gesteigerter Blutbildung bzw. Aus- 
schwemmung einzelner unreifer Elemente aus dem Knochenmark. Blutzucker 
0,12%, Serumkochsalz 0,537 g%, Kalkspiegel im Blut 10,8 mg%, also an’ 
der oberen Grenze. Durch das Anlegen der Recklinghausenschen Manschette 
entstehen in der Ellenbogenbeuge zahlreiche capilläre Blutungen. Eine Gefäß- 
funktionsprüfung nach Morawitz und Deneke ergibt normale Werte (Probe 1: | 
7,118%, Probe 2: 7,459%, Eiweiß im Serum). Capillarmikroskopisch findet man 
am Limbus des Fingernagels sowie an der Brust normale Bilder. Am Oberarm 
zahlreiche capilläre Erweiterungen nach Art der von O. Müller beschriebenen 
Capillaraneurysmen. Die Bestimmung des Grundumsatzes nach Krogh ergibt eine 
Erhöhung um 40%, ein Resultat, wie es sonst bei Basedowkranken vorkommt. 
Bei der pharmakologischen Prüfung des vegetativen Nervensystems (s. beigegebene 
Tabellen) findet man eine lebhafte, wenn auch etwas verlangsamte Ansprech- 
barkeit der Vasoconstrictoren, eine starke Pulsbeschleunigung, eine starke Reiz- 
barkeit des Blutzuckerspiegels nach Adrenalin. Der Serumeiweißspiegel zeigt 
normale Veränderung. Im ganzen also eine Überempfindlichkeit des sympathi- 
schen Nervensystems. Nach Pilocarpin starke Salivation, dagegen minimales 
Schwitzen; endlich eine paradoxe Atropinreaktion als Ausdruck einer verminderten | 
Lähmbarkeit parasympathischer Nerven. | 

| 





Probatorische Adrenalininjektion (1 mg subeutan). 
LT nn 





























Puls | Blutdruck Blutzucker Serum- Allgemeinreaktion 
| eiweiß 

Vor Versuch... | 100 | 112/65 | 0,125% | 7,869 % 

2 Min.nach Inj, 128 110/65 _— — Herzklopfen, Blässe 

ee ne > — “ 

10 Re 148 | 157/75 | 0,143% | 8,1504% | Taube Beine 

1D, eh a 148 | 153/76 = = Zittern am ganzen Körper | 
U na anaee 148/68 — — Blässe 

30 23 m.|.150 | 140/60. | 0,226% | 8,1936% Rumpel-Lede-+, zittert nich! 
DO SI 132 | 130/75 | 0,238% | 8,085 % mehr 
120,121, MB 115/65 | 0,107% | 7,636 % 








— mm 





Zur thyreosexuellen Insuffizienz. 103 


Pilocarpin-Versuch (1 mg subcutan). 


————————— nennen 
































Puls | Blutdruck | Temperatur |Speichelfluß Allgemeinreaktion 
Vor Versuch... | 118 | 125/70 36,8° = 
%Min.nach Inj. | 114 | 118/65 — _ 
im 100 118/63 > = 
Br)... 104 | 113/53 35,5 ° beginnt _ KeinSchwitzen, Wärmegefühl 
ee, 108 110/58 = 30 ccm 
30 2000| 194 | 122/70 | 361° | 100 „ | Übelkeit, Herzklopfen, leicht. 
ey; 116 | 130/75 — 200 .„ , Schweiß auf Bauch, Achsel- 
N N, ©, 88:.122 70: l.55>> ZADuE, höhle, Rücken 


Atropin-Versuch (1 mg subceutan). 


L————————————— ee 























Puls | Blutdruck Allgemeinreaktion 

Vor Versuch. . . 80 115/65 

2 Min. nach Inj. 76 118/65 | Bitterer Geschmack im Mund 

en a ER EZ 12 115/65 | Respirator. Arythmie + 
Ken ekairın 60 110/68 4 si et 
EYE een. 16815400 h RL 
a 76 118/63 “ 5 + 

1 Be 92 113/65 | Puls kräftiger 

40 Ch 92 115/65 | Leicht trocken im Mund 

Biae 5 002. 88 115/65 


Verlauf: 28. III. Aussetzen jeglicher Organpräparate. Bereits in den nächsten 
Tagen Schwindel, Übelkeit und Brechreiz, schlaflose Nächte, am Tag Unfähigkeit 
zu denken, Gefühl der Leere und Wirrheit im Kopfe. Während Pat. bisher eifrig 
gelesen und geschrieben hat, beschäftigt sie sich mit nichts mehr, liegt ruhig im 
Bett. Coffein in kleinen Dosen (0,2) schafft gelegentlich Besserung. 

Seit 29. III. Obstipationsbeschwerden, die während der Schilddrüsenmedi- 
kation verschwunden waren. 

4. IV. Puls ist auf 70-80 gesunken. Temperatur 37,5 durchschnittlich, oft 
Frostgefühl, im Gegensatz zu dem Zustand zur Zeit der Thyreoidinmedikation, 
wo jede Temperatur als zu hoch empfunden wurde. Subjektiv etwas gebessert, 
aber großes Schlafbedürfnis. Kochsalzbelastung 5 g, davon in 24 Stunden 5,1 g 


in 300 ccm Harn ausgeschieden. 


7. IV. Lumbalpunktion: Druck 140 mm, !/,°/oo Eiweiß, mikroskopisch eine 
Zelle. Zu therapeutischen Zwecken werden 40 ccm Liquor abgelassen. Enddruck 
90 mm. Danach eine Woche lang zunächst starke, dann langsam abklingende 
Schmerzen im Kopf, Nacken und Oberschenkel, keine Schwindelanfälle mehr. 

14. IV. Urinmengen seit einiger Zeit auffallend gering, heute Anurie, ohne 
daß die Blase gefüllt getastet werden kann. Gewicht innerhalb von 4 Tagen von 
59,3 auf 61,7 kg gestiegen. 

18. IV. Belastungsprobe mit 100 g Traubenzucker per os. Keine alimentäre 
Glykosurie, Blutzucker bereits nach einer Stunde wieder normal. 

19. IV. Grundumsatz nach Krogh: —13%. Gewicht 62,7 kg, d. h. 4kg mehr 
als das in der Klinik bisher beobachtete niedrigste Gewicht. 


104 


W. Schöndube: 


20. IV. Heiße Bäder seit 18. IV. bessern vorübergehend Diurese und Schlaf. 


21. IV. Prüfung auf latente Ödeme nach Kauff 
der Urinmengen nach Beckenhochlagerung, 


mann ergibt keine Vermehrung 
jedoch verursacht der Wasserstoß 


eine starke überschießende Diurese und entsprechende Gewichtsabnahme. 


23. 1V. Einsetzen einer sehr schwachen Periode, 


dauert. 


Reizbarkeit des Sympathicus (s. Tabelle). 


die nur wenige Stunden 


Probatorische Adrenalininjektion ergibt eine wesentlich verminderte 


Probatorische Adrenalininjektion (1 mg subeutan .} 
































Puls | Blutdruck | Blutzucker | Jerum- Allgemeinreaktion 
eiweiß 
23. IV. | | 
Vor Versuch... | 60 | 105/75 | 0,104% | 8,558%, 
2Min.nachInj. | 88 | 128/65 ey ee Übelkeit, Atmung beschleun., 
DE e ee z Blässe, Herzklopfen, kein 
1 130/60 | 0,132% ı 8,387% Tremor, kein Rumpel-Lede 
10 80 125/60 ur Si 
2 un: nina Le 1250 ee 
I 80 | 125/55 | 0,237% | 8,387% | Urinprobe nach 2Std. enthält 
BU ae 80 120/60 | 022% | — 0,8% Traubenzucker, wei- 
1b Re Fr 72 | 120/70 | 0,119% | 8,28 % tere Urinproben zuckerfrei 
240 „| 64 | 10270 | 0,064% | 7,416% 


Pilocarpinversuch (1 mg subcutan). 











Teen 


Allgemeinreaktion 








25.1V. 


Vor Versuch... 
2 Min. nach In). | 


5 
10 
15 x 
20 „ e) 
30 
60 

120 „ „ 
240 


’ 


hl eh 


25. IV. 














Puls | Blutdruck ISpeicheiftu 
| 

| 60 | 115/75 > 
60 109/70 — 
64 110/80 is | 
72 | 120/70 | beginnt 
80 118/70 | 20 cem 
84 125/75 — 
88 120/75 | 60ccm | 
84 120/75:.1.160 -,, 
76 125/80 | 210 „, 
60 117/85 | 240 8. 





Resp. Arythmie + 


Fühlt sich kalt 


Übelkeit 
Nicht geschwitzt, kalt 


Pilocarpininjektion ergibt wiederum eine leichte Erregbarkeit des 


Vagus, wenn auch nicht so stark wie bei der ersten Prüfung. 
Capillarmikroskopie zeigt am Limbus des Mittelfingernagels undeutliche 
(ödematöse). Capillarzeichnung, langsame gekörnelte Strömung in einzelnen, 
Stasen in anderen Teilen. Ungleichmäßige Länge der Schlingen. 
26. IV. Blutbild s. spätere Zusammenstellung. Psychisch wechselnd, öfters 
benommener Kopf. Schlaflosigkeit. 


depressiv, Schreiben, Lesen, 


4. V. Starke Oligurie, psychisch und körperlich seit 1. V. 
Reden fällt schwer, leichte Angstgefühle, Wasserstoß 
ohne diuretischen Erfolg, keine latenten Ödeme nachweisbar. 


erquickender Schlaf. 


sehr erschöpft, 


Fester, aber nicht 








Zur thyreosexuellen Insuffizienz. 105 


9. V. Weiterhin starke Oligurie, Körpergewichtszunahme, pralle, gedunsene 
Haut, „das Gesicht droht zu zerplatzen, sie fühlt sich so aufgeblasen, daß die 
Kleider nicht mehr zugehen“. Stark vermehrte Salivation. Nach Ganzlichtbad 
nur mäßiges Schwitzen, Erschöpfung wird immer größer, dazu namentlich vor- 
mittags Kopfschmerzen und Benommenheit. 

10. V. Milchtag, nach 800 g Milch etwa die doppelte Flüssigkeitsmenge aus- 
geschieden. 

12. V. Operation (Prof. Schmieden), Transplantation von 5 kleinen Stücken 
einer kolloidreichen Struma in das Netz. 

Bis 17. V. Tachykardie, Puls 90, leicht erhöhte Temperatur, Wohlbefinden. 

Ab 17. V. Rückkehr des typischen, schilddrüsenlosen Zustandes. Schlafsucht, 
Übelkeit und Ekel vor dem Essen, Darmträgheit, Oligurie, Apathie, Darnieder- 
liegen der geistigen Kräfte, Verworrenheit im Kopf. Auf Milchtag (21. V.) keine 
gute Ausschwemmung. 

Ab 23. V. 0,3 Thyreoidin (Merck), zunächst gute Wirkung, Darm und Blase 
reagieren besser, Körpergewicht sinkt. Stimmung, Denkvermögen bessern sich, 
jedoch Schlaflosigkeit und Erregung. 

24. V. Lumbalpunktion: Druck 220 mm, Gesamteiweiß 1/,%/o0, eine Zelle, 
20 ccm abgelassen. 

24. V. bis 4. VI. schlechte Zeit. Thyreoidwirkung hat nur kurze Zeit angehal- 
ten, Periode blieb aus, ausgeprägte Tachykardie, um 100. Pat. schläft meist, 


Gehör sehr schlecht, Diurese leidlich, starke Salivation. 


Ab 5. VI: Pituglandol (2 ccm) intravenös, verschleiert durch Calcium. 

Ab 8. VI. stundenweise Besserung im psychischen Befinden. Pat. wird klar 
im Kopf und beginnt sich wieder für allerlei zu interessieren. 

16. VI. Unter täglicher Pituglandol- und Thyreoidtherapie (2mal 0,3) soweit 
gebessert, daß Pat. die Klinik verlassen kann. 

18. IX. 1923 Nachuntersuchung. Bisher fast regelmäßig 0,3 Thyreoidin 
(Merck), 0,6 Hypophysis cerebri (Freund & Redlich) und Hypophysin (Hypo- 
physisopton Merck) intravenös alle 3—4 Tage. Dabei verhältnismäßig Wohl- 
gefühl. Geistige Funktionen nach ihrer Angabe deutlich abhängig von Hypo- 
physenpräparaten. Periode regelmäßig, sehr gering (einen halben Tag). Diurese 
ziemlich geregelt, jedoch immer wenig Urin. Nachts und morgens meist sehr starke 
Salivation, namentlich wenn Flüssigkeitsaufnahme stärker als gewöhnlich (muß 
auf Gummiunterlage schlafen, durchnäßt durch Speichelfluß manchmal 2—3 Hand- 
tücher in der Nacht). Kein Schwitzen. Befund: Haut weich, schlaff, Gewicht 
60 kg, trophische Störungen eher besser. Haar kurz geschnitten, fällt nicht mehr 
aus. Zähne nicht wesentlich verändert, Nägel gerillt, ohne grobe Defekte. Blut- 
druck R.R. 140/175, Blutbild s. Zusammenstellung, Blutkalk 12,75 mg%, Blut- 
zucker 0,12 g% , Cholesterin 0,226 8%. Nervenstatus: Kein Tremor, kein Chvostek, 
ganz leichtes Lidflattern, respiratorische Arythmie, sonst o. B. 


In Kürze ausgedrückt sehen wir also, wie sich ein von der psychischen 
und endokrinen Seite her schwer belastetes Individuum bis zur Pubertät 
störungslos entwickelt, wie in dieser Zeit dann zum ersten Male psycho- 
gene Attacken auftreten, während die Pubertätsentwicklung offenbar 
ungehemmt bleibt. Mit 21 Jahren Beginn der innersekretorischen Er- 
krankung mit schweren Erschöpfungszuständen, cessatio mensium 
und Verlust der Libido. Im Verlauf der bis heute dauernden Erkrankung 
treten Haarausfall, Gewichtszunahme und reichliche Fettbildung, Ver- 
stopfung, Abschleifen der Zähne, starke Schwerhörigkeit hinzu. Mit 


106 W. Schöndube: 


23 Jahren Ikterus, mit 24 Jahren Ulcus duodeni, letzterers durch Diät- 
kur geheilt. Vom 24. bis 26. Jahre leichte Remission, dann neuerdings 
Verschlechterung, die seit 1921 durch Organpräparate (Schilddrüse, 
Hypophyse, Epithelkörper) aufgehalten wird. In letzter Zeit schwere 
Schwindelanfälle, fast bis zur Taubheit führende Schwerhörigkeit. 

Aus dem Befund ist besonders wichtig: 

1. Verkleinerung der Schilddrüse, die palpatorisch kaum nachweis- 
bar ist. 

2. Hochgradig atrophischer Uterus und Ovarien, geringe Menstruation. 

3. Störungen des Haarwuchses, namentlich des Haupthaares, starke 
trophische Störungen der Zähne, leichte der Nägel. 

4. Stoffwechselherabsetzung. 

. Fehlende Schweißsekretion. 

. Starke Salivation. 

. Oligurie. 

. Geringer Turgor der Haut und Muskulatur, mäßige Adipositas. 

9. Otosklerose mit Meniereschen Anfällen. 

Es kann demnach mit Sicherheit gesprochen werden von einer pluri- 
glandulären Störung, die Schilddrüsen und Keimdrüsen erfaßt hat, 
vielleicht aber auch die Hypophysenfunktion beeinträchtigt. Der ob- 
jektive Befund an 2 innersekretorischen Drüsen verbietet, von einer 
nur correlativen Störung zu sprechen. 

Der Beginn der Erkrankung mit schwerer Erschöpfung und Cessieren 
der Menses ist bereits vieldeutig in bezug auf die primär betroffenen 
Drüsen. Man kann sämtliche Erscheinungen zunächst nur auf die Schild- 
drüse beziehen. Schon Hertoghe hat mit seiner Hypothyreoidie benigne 
ein dem unseren ziemlich ähnliches Syndrom beschrieben. Ebenso 
einleuchtend, namentlich durch die allerdings erst neuerdings erwiesene 
Genitalatrophie ist es, den primären Sitz in den Keimdrüsen zu suchen, 
und endlich finden sich auch hypophysäre Erkrankungen (z. B. Akro- 
megalie, Dystrophia adiposo genitalis), bei denen ganz im Beginn Stö- 


-1o9 Qt 


0,6) 


rungen in der Geschlechtssphäre auftreten. Das Erschöpfungssymptom: | 
ist in neuerer Zeit, gleichgültig ob isoliert oder im Rahmen correlativer | 


Störungen erscheinend, auf den Hypophysenvorderlappen bezogen 


worden (Fließ) und konnte mit Vorderlappenmedikamenten günstig | 


beeinflußt werden. Auch bei unserer Patientin zeigen Hypophysen- 


präparate, namentlich diejenigen aus der ganzen Drüse, eine auffallende | 
Wirkung auf das Allgemeinbefinden, während röntgenologisch an der ! 
Sella nichts Pathologisches nachzuweisen war. Genetisch spricht nichts ' 
für eine entzündliche Erkrankung. Die Patientin gibt im Gegenteil | 


spontan an, sie sei sehr widerstandsfähig gegen Infektionen (längere 


Zeit Schwester auf Infektionsstationen, ohne selbst krank zu werden). | 
Auch Grippe hat sie nie gehabt, Fieber sehr selten. Vielleicht besteht | 





en mer re TEE Tr eeeene Sa 














Zur thyreosexuellen Insuffizienz. 107 


hier ein Zusammenhang mit dem hohen Cholesterinblutwert, dessen 
entgiftende Eigenschaften neuerdings stark diskutiert werden. Hin- 
gegen wird bei der Betrachtung der hereditären Verhältnisse die Auf- 
merksamkeit zwingend auf die Konstitution gelenkt. Zwar hat sich 
die Patientin bis zur Pubertät ganz normal entwickelt, doch ist schon 
damals eine schwere psychogene Pubertätserkrankung aufgetreten, 
der wenige Jahre später die Erkrankung der innersekretorischen Drüsen 
folgte. Wenn so an der Schwelle des Alters, in dem einem großen Teil 
der inneren Drüsen erst ihre volle Entfaltung im Getriebe des Lebens 
zukommt, ein Versagen eintritt, und wenn schädigende Noxen während 
des Lebens ausgeschlossen werden können, so müssen konstitutionelle 
Momente in Form minderwertiger Anlage angenommen werden. In der 
Tat bietet die Angabe, daß Großtante mütterlicherseits ein Zwerg, Groß- 
vater väterlicherseits auffallend klein, Mutter schizophren war, Vater 
diabetisch ist, Handhaben genug, um für die ganze Familie eine Unter- 
wertigkeit des Blutdrüsensystems annehmen zu können. Derartige 
Anschauungen sind schon von den Schöpfern des Krankheitsbegriffs 
„pluriglanduläre Insuffizienz‘ Claude und Gougerot geäußert und später- 
hin z. B. von Bauer, Wiesel, Goldstein, Curschmann, Krabbe verfochten 
worden. Der Ausdruck Curschmanns ‚„Blutdrüsenschwächling‘ scheint 
uns für den vorliegenden Fall ein sehr glücklicher zu sein. Krabbe hat 
bei seinen Fällen einen universellen degenerativen Zustand des Blut- 
drüsensystems bis ins Fötalleben zurückführen können. Bei Annahme 
einer minderwertigen Anlage in unserem Falle wäre der Entscheidung 
über den Ort des Beginns der Erkrankung nicht mehr die große Be- 
deutung zuzumessen, wie wenn es sich um eine aus irgendwelchen 
äußeren Ursachen entstehende Krankheit handelt. Wichtiger bleibt 
der Nachweis darüber, welche Drüsen erkrankt sind und wie die Sym- 
ptome, die die Kranke bietet, erklärt werden können. 

Von diesen können wir die Störungen des Haarwuchses, der Zähne, 
der Nägel, die fehlende Schweißsekretion auf die Unterfunktion der 
Schilddrüse beziehen. Auch die Adipositas kann auf dem Umwege über 
die Stoffwechselverlangsamung hypothyreodischen Ursprungs sein. Die 
geringe Menstruation hängt augenfällig mit der starken Uterus- und 
Ovarialatrophie zusammen. Über die Erscheinungen der Oligurie in 
Gemeinschaft mit starker Salivation und Gewichtsvermehrung, über 
die Otosklerose im Zusammenhang mit der Blutdrüsenerkrankung, über 
das Blutbild, schließlich über die Psyche und über das vegetative Ner- 
vensystem müssen noch einige Worte gesagt werden. 

Fangen wir mit dem letzten an, so erkennen wir an Hand der bei 
uns und bereits anderweitig!) angestellten pharmakologischen Prü- 


1) Für die Überlassung einiger Daten von früheren Untersuchungen bin ich 
Herrn Geh. Rat Roemheld (Schloß Hornegg) zu Dank verpflichtet. 


108 W. Sehöndube: 


fungen des vegetativen Nervensystems, wie groß der Einfluß von Blut- 
drüsenausfall auf das vegetative System ist, bzw. welche starke Wir- 
kung die angewandten Organpräparate haben. Die Untersuchungen 
am Ende der medikamentlosen Zeit ergeben eine verhältnismäßig 
schwache Adrenalinreaktion, ganz geringe Adrenalinglykosurie, eine 
hyperglykämische Kurve nach dem normalen Typ (Billigheimer). Das 
Fehlen einer alimentären Glykosurie erweist die träge Mobilisierung der 
Kohlehydrate. Im Zusammenhange mit dem verhältnismäßig niederen 
Blutdruck (105/75) zeigt sich uns als Ausdruck des Hypothyreoidismus 
der Wegfall zur Förderung zum chromaffinen System als eine Unter- 
funktion des Nebennierenmarks, der Wegfall der Hemmungen zum 
Pankreas als eine Überfunktion desselben. Im Sympathicusgebiet er- 
weisen die trophischen Störungen die Herabsetzung des Erregungszu- 
standes. Das parasympathische System ist hingegen etwas übererreg- 
bar, abgesehen von der mangelnden Schweißsekretion, und ist es zu 
jeder Zeit der Beobachtung geblieben. Beachten wir die Werte, die wir 
erhielten, als die Patientin mit Medikamenten überfüttert zu uns kam, 
so sehen wir wie die Thyreoidmedikation eine erheblich gesteigerte 
Sympathikusempfindlichkeit verursacht hat, die trotz der vorhandenen 
Tachykardie deutlich herauskommt. Puls und Blutdruck überschießen 
den Rahmen des Normalen, auch im Blutzuckerspiegel finden wir eine 
starke Reizbarkeit mit starkem Anstieg und starkem Abfall. Desgleichen 
ist der Vagus durch Pilokarpin abnorm leicht ansprechbar geworden, wie 
wir an der primären Pulsverlangsamung sehen, die unter normalen Be- 
dingungen nie auftritt (Bauer). Eine gesteigerte Lähmbarkeit des Vagus 
ist nicht vorhanden, die beiden Atropinversuche zeigen die bekannte, zu- 
nächst paradoxe Atropinreaktion einer Vagusreizung, für die eine genü- 
gende Erklärung noch nicht gefunden ist (Platz). Man darf also hier infolge 
der Wirkung zahlreicher Organpräparate, unter denen das Thyreoid an 
erster Stelle steht, von einem vegetativen Hypertonus sprechen und 
sieht, wie sowohl sympathisches als parasympathisches Nervensystem 
gleichgerichtete Veränderungen, je nach dem Zustand des Blutdrüsen- 
systems bzw. nach der Menge der zugeführten Organpräparate erleiden. 
Ob die fehlende Schweißsekretion mit krankhaften Störungen des vege- 
tativen Nervensystems in Zusammenhang gebracht werden kann, 
oder ob es sich hier um trophische und vasomotorische Störungen auf 
Grund des Hypothyreoidismus handelt, läßt sich meiner Ansicht nach 
zugunsten der letzten Ansicht entscheiden, denn wir sehen, daß weder 
zur Zeit der Schilddrüsenüberfütterung noch zur Zeit des medi- 
kationslosen Zustandes eine kräftige, normale Schweißbildung zu er- 
zielen ist. Es bleibt immer derselbe schweißarme Zustand, was dafür 
spricht, daß die Erfolgsorgane weitgehend den nervösen Einflüssen ent- 
zogen sind. 


Deu u u Li Eu Deu 








Zur thyreosexuellen Insuffizienz. 109 


Wollen wir die Psyche der Patientin beurteilen, so weist uns die Tat- 
sache, daß schon in der Jugend Platzangst und Zwangsvorstellungen 
aufgetreten sind, ferner der schwere, wahrscheinlich psychogene Puber- 
tätszusammenbruch auf die psychopathische Veranlagung hin. Die 
endokrinen Störungen und schließlich die Organpräparattherapie haben 
das Seelenleben weiter different beeinflußt, konnten wir doch sogar hier 
in der kurzen Zeit der Beobachtung während der schilddrüsenlosen 
Periode eine experimentell nachweisbare psychische Veränderung fest- 
stellen. Zur Zeit der Aufnahme in die Klinik bestanden deutliche An- 
schauungsbilder, so daß wir im Sinne von W. Jaensch von einer eideti- 
schen Persönlichkeit sprechen konnten, dagegen waren etwa 5 Wochen 
später bei völligem Aussetzen der Präparate keine Anschauungsbilder 
mehr zu erzielen. Der Hautwiderstand, der vorher sehr niedrig war, so 
wie sonst nur bei Basedowkranken (W. Jaensch), ist stark gestiegen und 
nähert sich den Werten, wie wir sie bei Myxödematösen finden. Die 


galvanische Erregbarkeit motorischer Nerven war immer normal, wir 


können also direkt von einer Persönlichkeit sprechen, die, als sie zu uns 
kam, durch Thyreoid vegetativ stigmatisiert war und deren Stigmen 
zum Teil durch Weglassen der Präparate verschwunden sind. Freilich 
sind dafür schwere andere psychische Symptome aufgetreten, wie 
namentlich Schlafsucht, Apathie, Verworrenheit im Kopf, die sich, wie- 
derum durch Thyreoid vorübergehend, durch Pituglandol, später Hypo- 
physin und Hypophysisopton für längere Zeit beheben ließen. Es ist 
sehr schwierig, deren Herkunft zu erklären, doch glaube ich, daß man 
bei ihnen die Störungen der Blutdrüsen ätiologisch in den Vordergrund 
stellen muß. Die Abgrenzung der direkt von der Blutdrüseninsuffizienz 
abhängigen psycho-pathologischen Erscheinungen von solchen vorwie- 
gend hysteriformer Art, deren Prävalenz von anderer ärztlicher Seite 
sehr betont wurde, ist eine schwere, wenn nicht unmögliche Aufgabe. 
Sicherlich wird man die Hypalgesie, ferner die starke, kritiklose Über- 
wertung aller psychischen Symptome seitens der intelligenten Patientin 
psychogen erklären müssen. Aber die nie mangelnde Fülle des Objek- 
tiven weist immer wieder auf die Drüsenerkrankung hin. 

Das Blutbild zeigt nach der beigegebenen Aufstellung vor allem 
merkwürdige Schwankungen der Weißen und eine fast stets vor- 
handene leichte Eosinophilie. Wir sehen, wie die Lymphocyten je 
nach dem Stande der Krankheit gegenüber den Neutrophilen abnorm 
hohe Werte annehmen, die zu medikationslosen Zeiten mit starken 
Ausfallserscheinungen maximal werden, während das Verhältnis bei 
kompensierender Organtherapie normale Zahlen erreicht. Das be- 
kräftigt die Ansicht Borchardts, daß es sich bei der Lymphocytose nicht 
um den Ausdruck einer hypoplastischen Konstitution handelt, sondern 
daß sich ein Status lymphaticus erst im Verlauf der pluriglandulären 


110 W. Schöndube: 


Insuffizienz und je nach Stärke des funktionellen Ausfalls entwickelt. 
Die Meinung, daß auch Genitalatrophie und Haarausfall sekundär 
als Symptome des Status Iymphaticus entständen, ist durch unsere Be- 
obachtungen dagegen nicht gestützt. Unser Befund der Steuerung 
des Blutbildes durch Organpräparate der Thyreoidea und Hypophyse 
bildet eine Ergänzung der Beobachtung Guggenheimers, dem es bei 
Frauen in der Menopause gelang, eine bestehende Lymphocytose zur 
Rückbildung zu bringen und eine Bestätigung der Befunde von Falta, 
Newburgh und Nobel sowie Bertelli, die bei Hypothyreose eine durch 
Schilddrüse zu bessernde Mononucleose fanden. Viel schwieriger ist 
die Deutung der Eosinophilie. Sie soll immer ein Zeichen erhöhten 
Vagotonus sein (Falta, Eppinger und Heß, Neußer). Demnach müßte 
bei Ausfall des Ovars als einer wesentlich vagotonisierenden Blutdrüse, 

















| August 192 | März 1923 | April 1923 | September 1923 
Dämoplonine.nara 60% Sahli | 88,1% Aut. | 88,1% Aut. | 78,5% Aut. 
Erythrocyten....... 5,3 Mill. 4,4 4,7 4,23 
Leukocyten ...... 7200 6900 6800 6100 
Neutrophile In... 68% 54% 455% 65% 
Lymphoeyten ..... 2295 3595 47% 30% 
Monocyten \. .... .... 4% 2% 3% En 
Eosinophile ...... B9% 9% aa 59 
2 Myeloblasten | 1% Mastzellen | Blutungszeit 
2 Myelocyten 10 Min. 
Gerinnungszeit 
7Min. 
Thrombocyten 
150 000 

















eine Verminderung der Eosinophilen vorkommen, was bei unserem 
Falle bis zu einem gewissen Grade stimmt, da nämlich zur Zeit der maxi- 
malen Ausfallserscheinungen der niedrigste Wert für die Eosinophilen 
beobachtet wurde. Zur Zeit der Feststellung der hohen Werte kann . 
allerdings, wie wir sahen, von einem überwiegenden Tonus im Para- 
sympathicus nicht gesprochen werden. 

Der Wasserhaushalt bietet in der ersten Zeit der Beobachtung ein 
ziemlich normales Bild. Wir erkennen aber, daß die Patientin in dieser 
Zeit einen stark erhöhten Grundumsatz von -+40°%, hat und schließen 
daraus, daß sie noch stark unter der Einwirkung der Schilddrüsen- 
präparate steht. Erst mit dem Nachlassen der Organpräparatwirkung 
macht sich eine Ausscheidungsstörung im Sinne einer Verminderung 
der Wasserausscheidung mit Hautbeteiligung (pralle, nicht eindrück- 
bare Quellung des Gewebes) geltend, wobei das Körpergewicht ansteigt 
und die subjektiven Beschwerden zunehmen. Zu dieser Zeit ist der 














Zur thyreosexuellen Insuffizienz. 714 


Grundumsatz erheblich erniedrigt, nämlich —13% gegenüber der 
Norm!). 

Die Flüssigkeitsaufnahme war während der ganzen Zeit ziemlich konstant, 
sie betrug durchschnittlich 800—1000 g. Zunächst zeigt sich während etwa 
20 Tagen eine leichte Oligurie mit annähernd gleichbleibenden Tag- und Nacht- 
mengen und gleichmäßigem, durchschnittlich hohem spezifischen Gewicht (um 
1030). Dann folgen starke Schwankungen im Flüssigkeitswechsel. Es erscheint 
ein völlig anurischer Tag, gefolgt von Tagen starker Harnverminderung. Heiße 
Bäder steigern vorübergehend die Diurese. Die kurzfristige Zufuhr einer größeren 
Flüssigkeitsmenge in Form des Kauffmannschen Versuchs ergibt eine stark über- 
schießende Flüssigkeitsausscheidung, ohne aber Anhaltspunkte für latente Ödeme 
aufzuzeigen. Weiterhin bleibt der Wasserhaushalt von dem Symptom starker 
Oligurie beherrscht, ein zweiter Wasserstoß bleibt erfolglos, indessen gelingt es, 
durch Milchtage die Diurese stark anzuregen und jeweils eine entsprechende 
Körpergewichtsabnahme zu erzielen. Die Transplantation von Schilddrüse hat 
keinen Einfluß auf den Wasserhaushalt, erst mit dem Wiedereinsetzen der Thy- 
reoidinmedikation kommt die Diurese wieder in Fluß. 




















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Auffallend ist, wie auch Veil bei einem seiner Fälle mit primärer 
Oligurie mitgeteilt hat, daß trotz des oligurischen Dauerzustandes eine 
dauernde Körpergewichtszunahme nicht vorhanden ist. Auch ich bin 
geneigt, diese Erscheinung einer vermehrten Wasserabgabe durch die 
Lunge und — wie besonders in den warmen Sommermonaten in Er- 
scheinung trat — durch starke Salivation, namentlich nachts, zuzu- 
schreiben (Patientin durchnäßt manchmal 3—4 Handtücher in der 
Nacht), während Wasserabgabe durch Schweiß, wegen fast völliger Un- 


1) Die Bestimmung des Grundumsatzes am Kroghschen Respirationsapparat 
nahm Dr. Hellwig von der Chirurg. Universitätsklinik vor. Die gefundenen Werte 
wurden mit Hilfe der Benedictschen Normalzahlen errechnet. Der Quotient 


Grundumsatz 1938 1213 
str betrug bei dem ersten Versuch 1384’ beim zweiten Versuch 1413 ' 


217 W. Schöndube: 


fähigkeit zu schwitzen, nicht in Betracht gezogen werden kann. Veisl 
bezieht die Oligurie seiner Fälle auf eine Übererregung des gesamten 
vegetativen Nervensystems, obwohl auch er mit Thyreoid, Eierstocks- 
extrakt und kleinen Joddosen gute therapeutische Erfolge erzielt hat. 
"Wir sehen in unserem Falle, daß gerade am Ende der medikationslosen 
Zeit von einer stärkeren Störung in der Korrelation der vegetativen 
Nerven keine Rede sein kann. Dagegen zwingen die ausgeprägten Er- 
scheinungen im Wasserhaushalt nach längerem Weglassen der Organ- 
präparate, die relative Regularisierung desselben durch Thyreoid und 
Hypophyse, zu dem Schluß, daß auch hier eine rein innersekretorische 
Störung vorliegt. Bezüglich deren Verankerung ist der Thyreoidea 
wohl die Hauptrolle zuzuschreiben. Wir möchten dabei ganz im Sinne 
der Starling-Oohnstein-Asherschen Theorie von dem Grad der Tätig- 
keit des Unterhautzellgewebes bei gesunder Niere den Ablauf des Wasser- 
und Salzstoffwechsels abhängig machen und dabei der Schilddrüse im 
Sinne von Eppinger eine erhebliche steuernde Wirkung zuerkennen. 
Man kann in diesem Falle mit Hertoghe von einer ‚forme fruste“ 
des Myxödems sprechen, wie sie Eppinger als ‚„mildere Form von 
gutartigem Myxödem weit mehr vermutet als dies bisher geschehen 
ist.“ Verl weist darauf hin, daß Oligurie bei Myxödem als klassisches 
Symptom nicht bekannt ist; da allerdings keine besonderen Studien 
darüber vorliegen, so darf angenommen werden, daß die Oligurie 
ein nicht allzu seltenes Moment beim Bilde des Myxödems darstellt. 

Wir sind geneigt, noch eine andere Beobachtung in Beziehung 
zu dieser Frage zu bringen. Zu therapeutischen Versuchen und im 
Zusammenhang mit der ÖOtosklerose machten wir mehrere Lumbal- 
punktionen und fanden am Ende der medikationslosen Zeit bei sonst 
normalem Liquor einen Druck von 222 mm, während er nach längerer 
Schilddrüsentherapie einen Wert von 160 mm aufwies. Man könnte 
auch hier im schlechten Resorptionsvermögen der Endothelien oder 
einer geringeren Aktivität im Zellgeschehen eine Art hypothyreodische 
Erscheinung sehen, eine Ansicht, die durch Lumbalpunktion beim voll . 
ausgebildeten Myxödem zu erhärten wäre. 

Merkwürdig ist die schnelle, überschießende diuretische Reaktion 
nach Wasserstoß; man ist trotz normalem Verlauf des Volhardschen 
Wasser- und Konzentrationsversuches und einem von pathologischen 
Bestandteilen völlig freien Urin versucht, an Nierensperre zu denken, 
für die uns eine plausible Erklärung aber mangelt. 

Die am Ende der klinischen Beobachtung und weiterhin gewonnene 
Erfahrung, daß Hypophysenpräparate einen ebenfalls steuernden Ein- 
fluß auf den Wasserhaushalt haben, macht den Einfluß des Hirnan- 
hanges auf die Diurese zum Gegenstand unserer Beachtung. Das ent- 
gegengesetzteSymptom, die Polyurie, ist uns namentlich bei Hypophysen- 











Zur thyreosexuellen Insuffizienz. 113 


tumoren und bei der Dystrophia adiposo-genitalis bekannt. Eine Oli- 
gurie bei hypophysärer Kachexie hat Monakow beobachtet, und unlängst 
haben Jungmann sowie C'sepai, über Ödeme durch Störungen des Salz- 
stoffwechsels bei polyglandulärer Sklerose berichtet. Doch haben die 
Sektionsbefunde nichts Eindeutiges über die Rolle der Hypophyse aus- 
gesagt, da z. B. im Falle O'sepai die Hypophyse überhaupt nicht ver- 
ändert war. Ob also hier das Hypophysensekret eine wesentliche Rolle 
spielt, oder ob es sich um eine Störung des Stoffwechselregulations- 
zentrums (Aschner) im Zwischenhirn handelt, oder ob letzten Endes 
die Thyreoidea den ausschlaggebenden Faktor darstellt, wie es bei 
unserem Fall am meisten den Anschein hat, läßt sich noch nicht 
entscheiden. Ä 

In diesem Zusammenhang soll die Frage beantwortet werden, 'ob 
die vorhandene Fettsucht hypophysären Ursprungs ist, etwa im Sinne 
der Dystrophia adiposo-genitalis. Erstens fehlt eine stärkere Fettan- 
sammlung an den typischen Stellen, zweitens ist der Grundumsatz in 
der medikationslosen Zeit deutlich erniedrigt, während Zondeck und 
Löwy sowie Plaut neuerdings nachgewiesen zu haben glauben, daß 
bei hypophysärer Fettsucht der Grundumsatz gar nicht bzw. nur leicht 
herabgesetzt ist. Beides spricht also für eine thyreogene Adipositas. 


“ Auch die temporale Abblassung des linken Opticus könnte als atypisches 
Symptom einer Hypophysenerkrankung gedeutet werden, doch sind geringe Grade 
dieser Erscheinung sowohl familiär als auch als thyreotoxische Folge beschrieben 
worden und daher als sicheres Zeichen einer Schädigung des Hirnanhangs nicht 
zu verwerten. 


Von Wichtigkeit scheint es mir endlich zu sein, auf den etwaigen 
Zusammenhang zwischen der Otosklerose und dem pluriglandulären 
Syndrom hinzuweisen. | 


In der Literatur findet sich zwar nur ein einziger Fall von multipler Blut- 
drüsensklerose mit Otosklerose. Es handelt sich um einen von Ponfick genau . 
untersuchten 47jährigen Mann, bei dem eine sichere Atrophie der Hypophyse 
gefunden wurde. Die Keimdrüsen sind leider nicht erwähnt. Daß die Otosklerose 
in enger Beziehung zum Blutdrüsenapparat steht, erweist ihr öfteres Auftreten 
während der Pubertät, ihre Entstehung oder Verschlimmerung in der Gravidität. 
Voss dachte zuerst an eine ursächliche Beteiligung der Epithelkörperchen. In 
seinem Sinne fanden Frey und Orzechowski bei Otosklerose vielfach Tetanie und 
eine Verminderung des Kalkgehalts im Serum bei Tetanie. Leicher untersuchte 
später eine größere Anzahl von Otosklerotikern und fand in einem hohen Prozent- 
satz eine Blutkalkverminderung, wobei nur in wenig Fällen eine Erhöhung der 
neuro-muskulären Erregbarkeit festzustellen war. O. Mayer wies in einem Fall 
von Otosklerose auf eine hochgradige (Alters-?) Atrophie der Ovarien hin und 
den auffälligen Befund, den er bei der mikroskopischen Untersuchung des Hirn- 
anhangs erheben konnte. Hier erinnerte ihn die Zunahme azidophiler Elemente 
‚im Vorderlappen und die hochgradige Reduktion der basophilen Elemente an 
Befunde anderer Autoren (Rössle, Kolde) bei Kastraten bzw. klimakterischen 
Involutionshypophysen. Auch Denker schreibt der Hypophyse bei der Patho- 


Z. f. klin. Medizin. Bd. 100. 8 


114 W. Schöndube: 


genese der Otosklerose eine wichtige Rolle zu. Neben dem Einfluß der Schwanger- 
schaft weist auch er auf die hypertrophische Schwangerschaftshypophyse hin und 
betont die Knochenveränderungen bei der Akromegalie. Durch das Abderhalden- 
sche Dialysierverfahren, dessen Wert in neuerer Zeit allerdings stark bestritten 
wird, hat er bei 22 Otosklerosefällen in 77% Hypophyse abbauen können, während 
bei den normalen Kontrollfällen nur in 33% Hypophysenabbau zur Beobach- 
tung kam. 

In unserem Falle möchten wir eher an die Hypophyse als an die 
Epithelkörperchen denken; abgesehen von einer leichten Zuckung im 
Lippenrot, die wir auch bei Normalen oft sehen, fanden sich keine neuro- 
muskuläre Übererregbarkeit, keine tetanischen Symptome. Der Kalk- 
spiegel im Blute war, im Gegensatz zu der Mehrzahl der Fälle von 
Leicher, eher erhöht, vielleicht spielt die Hypothyreose hierbei eine ur- 
sächliche Rolle. Die Zahnstörungen fassen wir nach der ganzen Art 
ihres Aussehens nicht als tetanische Zähne, sondern als hypothyreo- 
dische auf. Daß eine Beziehung zwischen der Dysfunktion der endo- 
krinen Drüsen und der Ötosklerose besteht, scheint uns außer allem 
Zweifel, denn jedesmal, wenn es der Patientin besonders schlecht geht, 
ist das Gehör im Sinne einer deutlichen Verschlechterung mitbeteiligt. 
Der otosklerotische Prozeß scheint dann einen gewissen Schub durchzu- 
machen und die Schwindelanfälle kehren wieder. Die Meniereschen 
Anfälle sind wahrscheinlich auf eine Einbeziehung der statischen Or- 
gane des Ohrs, namentlich der Maculae cribrosae, zu beziehen. 

Überblicken wir zusammenfassend die Fülle der Beobachtungen, so 
vermögen wir trotz vieler Hinweise auf die Hypophyse (Wasserhaushalt, 
Otosklerose, Fettsucht, Augenbefund) einen sicheren Nachweis ihrer 
Mitbeteiligung bei dem Krankheitsprozeß nicht zu führen. Wir können 
deshalb bei unseren differentiell-diagnostischen Erwägungen die Dy- 
strophia adiposogenitalis ausschließen und uns lediglich an Krankheits- 
bilder halten, die mit Unterfunktionszuständen der Schilddrüse und 
. der Keimdrüsen einhergehen. Hierbei stoßen wir auf große Schwierig- 
keiten bei der Abgrenzung gegen den weiblichen Eunuchoidismus und den 
Infantilismus, namentlich weil das erstgenannte Krankheitsbild beim : 
Weibe noch nicht fest umrissen und bezüglich des Infantilismus starke 
Meinungsverschiedenheiten klaffen (Falta, Peritz), auf die einzugehen, 
hier zu weit führen würde. Wesentlich scheint mir der Hinweis Asch- 
ners zu sein, daß wir analog den Verhältnissen beim Manne vom reinen, 
weiblichen Eunuchoiden erwarten müssen, daß er einen Umschlag in 
die hetero-sexuelle Form darstellt, die wir bei unserer Patientin sicher 
nicht vor uns haben. Was den Infantilismus angeht, so vermögen wir 
mit Falta in dem Krankheitsbild einer atrophischen Schädigung der 
Thyreoidea und der Keimdrüsen, die nach voller Entwicklung des Indi- 
viduums zum Ausbruch kommt und zu den verschiedensten degene- 
rativen Schädigungen führt, keinen Infantilismus zu erblicken. Bei dem 


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Zur thyreosexuellen Insuffizienz. 115 


typischen Habitus: jünger aussehend, volles, gesundes Gesicht, keine 
Anämie und Kachexie, keine Haut- und Schleimhautpigmentation, 
möchten wir unseren Fall zu den Pubertätstypen der Borchardischen 
thyreo-sexuellen Insuffizienz rechnen und wie dieser Autor annehmen, 
daß es sich entweder um eine Vorstufe der multiplen Blutsklerose 
handelt, oder daß die Erkrankung nach erfolgreicher Therapie eine gut- 
artige Prognose hat. 


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thymico-Jymphaticus. Wien 1911. — Peritz, Der Infantilismus. Ergebn. d. inn. 
Med. u. Kinderheilk. 1911, Nr.7 und Handb. d. inn. Med. Kraus-Brugsch. — 
Platz, Die pharmakologische Prüfung des vegetativen Nervensystems. Klin. 
Wochenschr. 1923, Nr. 30. — Plaut, Gaswechseluntersuchungen bei Fettsucht. 
Dtsch. Arch. f. klin. Med. 142. 1923. — Ponfick, Myxödem und Hypophyse. 
Zeitschr. f. klin. Med. 38. 1899. — Rößle, zit. nach O. Mayer. — Simmonds, 
Atrophie des Hypophysisvorderlappens und hypophysäre Kachexie. Dtsch. med. 
Wochenschr. 1918, Nr. 31. — Veil, Über primäre Oligurie. Dtsch. Arch. f. klin. 
Med. 139. 1922. — Voss, Verhandl. d. dtsch. otolog. Ges. 1912, S. 193. — Wiesel, 
Handb. d. Neurologie von Lewandowsky. Springer 1913. — Zondeck und Löwy, 
Verhandl. d. Ges. f. inn. Med. 34. Kongr. Wiesbaden 1922. 








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(Aus dem Senckenbergischen Pathologischen Institut der Universität Frank- 
furt a. M. [Direktor: Prof. Dr. Bernh. Fischer].) 


Zur Frage des Iceterus neonatorum. 


Von 
Priv.-Doz. Dr. Ph. Schwartz. 


(Eingegangen am 18. Dezember 1923.) 


In der Reihe der Veröffentlichungen über die Neugeborenengelbsucht 
sind die Arbeiten von A. Hirsch und A. Ylppö (1913) von grundlegender 
Bedeutung. Die beiden Autoren haben unabhängig voneinander quanti- 
tative Gallenfarbstoffbestimmungen im Blut Neugeborener vorgenom- 
men. Die Untersuchungen Ylppös befassen sich auch mit Bestimmungen 
der Gallenfarbstoffausscheidung in der fötalen und ersten extrauterinen 
Periode. So konnten Hirsch und besonders Ylppö Feststellungen ge- 
winnen, die zwar weit entfernt sind, das Wesen und die Ursachen der 
so ungemein häufigen Neugeborenenerkrankung restlos aufzudecken, 
doch unzweifelhaft auf dem Wege liegen, der zur Lösung der Probleme 
führt. — Wir werden aber die tatsächlichen Befunde der Autoren und 
ihre Auslegung scharf voneinander unterscheiden müssen. 

Ada Hirsch fand in Untersuchungen an 100 Fällen, daß 1. bei Neu- 
geborenen bereits im Nabelschnurserum mehr Bilirubin enthalten ist 
als im Blute Erwachsener oder Säuglinge nach Ablauf der Ikterus- 
periode im Blute. Sie fand weiter, daß 2. die Intensität des Ikterus 
neonatorum im allgemeinen parallel mit der Intensität der Bilirubin- 
reaktion im Nabelschnurserum geht und stellte fest, daß 3. der Bili- 
rubingehalt im Blute bei jedem Kinde in den ersten 24 Stunden, evtl. 
noch am zweiten und dritten Lebenstage, zu steigen beginnt. Bei 
ikterischen Kindern ist diese Vermehrung längere Zeit hindurch zu 
beobachten, während es bei ikterusfreien Kindern nach 1—3 Tagen 
zu einem steilen Abfall kommt. 

Ganz ähnlich sind die Befunde von YIppö. Auch YIppö fand den 
Gallenfarbstoffgehalt des Neugeborenenblutes vermehrt im Vergleich 
zum Erwachsenen. Die Vermehrung ist nach YIppö bereits im Nabel- 
schnurblut beträchtlich ; nach der Geburt steigt aber der Gallenfarbstoff- 
gehalt noch 5—10 Tage lang, um dann allmählich sinkend die gewöhn- 
lichen, physiologischen Werte zu erreichen. Kinder, bei welchen der 
Gallenfarbstoffgehalt des Blutes eine bestimmte Grenze überschreitet, 


118 Ph. Schwartz: 


werden ikterisch, andere nicht. Bei den nichtikterischen Neugeborenen 
hört der Anstieg des Gallenfarbstoffgehaltes im Blut etwa am 3. Tage 
auf. Der Gallenfarbstoffgehalt des Blutes und die Intensität des Haut- 
ikterus zeigen einen Parallelismus. 

Die Frühgeburten besitzen nach Ylppö im allgemeinen einen sehr 
hohen Gallenfarbstoffgehalt im Blut; der Anstieg dauert bei ihnen 
gewöhnlich 6—10 Tage, und der Gallenfarbstoff hält sich wochenlang 
oberhalb der erwähnten Grenze. 

Diese Feststellungen wurden 1922 von Schiff und Färber im wesent- 
lichen bestätigt. 

Man wird also wohl mit Recht als erwiesen ansehen dürfen, daß bei 
der Mehrzahl der Neugeborenen eine Vermehrung des Gallenfarbstoff- 
gehaltes im Blute stattfindet, die einige Tage oder einige Wochen nach 
der Geburt ihr Maximum erreicht und dann zu den physiologischen Werten 
der Erwachsenen absinkt. 

Die Beobachtung dieser charakteristischen Gallenfarbstoffwechsel- 
kurve nach der Geburt erinnert an Feststellungen, die ich in einer 
gemeinsamen Untersuchung mit R. Baer und J. Weiser über den Eisen- 
stoffwechsel Neugeborener erheben konnte. Wir versuchten es an ins- 
gesamt 114 Kindern der verschiedenen Entwicklungsstufen, das Schick- 
sal der bei der Geburt so häufigen und oft sehr ausgedehnten trauma- 
tischen Blutungen des Neugeborenen zu verfolgen und konnten bei 
der überwiegenden Mehrzahl der Kinder eine sehr ausgeprägte Be- 
lebung, eine ‚Mobilisierung‘ des histochemischen Eisenstoffwechsels: 
Eisenbeladung der Milz und der Leber, insbesondere der Kupffer schen 
Sternzellen, nach der Geburt nachweisen. 

In der überwiegenden Mehrzahl der Kinder, die — gleichgültig, 
ob frühgeboren oder ausgetragen — tot zur Welt kamen oder bis zu 
3 Tagen nach der Geburt am Leben blieben, fanden wir die Leber 
und Milz histochemisch entweder völlig eisenfrei oder nur Spuren von 
Eiseneinschlüssen enthaltend. Wir sehen diesen Zustand als den Normal- 


befund beim Neugeborenen an. In einer Anzahl von totgeborenen oder 


bis zu 3 Tagen am Leben gebliebenen Kindern konnten in den peri- 
portalen Bindegewebszellen und Epithelien der Leber meistens nur 
Spuren von Eiseneinlagerungen nachgewiesen werden, und in einer ver- 
hältnismäßig geringen weiteren Anzahl der Fälle trafen wir auch schon 
spärliche eisenhaltige Kupffersche Sternzellen und Eiseneinschlüsse in 
Zellen der ‚roten‘“‘ Melzpulpa, Erscheinungen, die wir als die ersten, 
unzweifelhaften Zeichen der Mobilisierung des histochemischen Eisen- 
stoffwechsels beim Neugeborenen ansehen. Bei älteren Kindern werden 
die Erscheinungen des mobilisierten Eisenfarbstoffwechsels immer deut- 
licher und erreichen ihre maximale Intensität bei Säuglingen zwischen 
1 und 2 Monaten. Sahen wir in der Gruppe der Kinder bis zu 3 Lebens- 





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Zur Frage des Icterus neonatorum. 119 


tagen nur in weniger als !/, der Fälle eisenhaltige Kupffersche Stern- 
zellen, so konnten wir in der Gruppe von 4—10 Tage alten Kindern 
schon in mehr als der Hälfte der Fälle eisenbeladene Kupffersche Zellen 
nachweisen. Aber nicht nur die Zahl der Fälle mit eisenhaltigen Kupffer- 
schen Zellen ist bei diesen älteren Kindern vermehrt im Vergleich zu 
den totgeborenen oder nur einige Tage alten Neugeborenen, sondern 
auch die Anzahl der eisenbeladenen Kupfferschen Sternzellen selbst 
in den einzelnen Lebern; ebenso ist auch die Zahl der eisenhaltigen 
Milzen in dieser Altersgruppe vergrößert und auch die Eisenmengen 
sind in den einzelnen Milzen ganz entsprechend gestiegen. Je älter 
die Kinder geworden sind, um so häufiger und reichlicher finden wir 
die Eisenbeladung der Kupfferschen Sternzellen und der Milz. Zwischen 
der histochemischen Eisenbeladung der Leber einerseits und der Milz 
andererseits besteht eine bestimmte Parallele, indem eisenfreie Milzen 
in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle völlig oder fast völlig eisen- 
freien Lebern entsprechen. Andererseits ist die Intensität der histo- 
chemischen Eisenablagerungen in der Leber, ganz besonders in den 
Kupfferschen Sternzellen, geeignet, in den meisten Fällen auch die 
Intensität der Eisenbeladung in der Milz zu kennzeichnen. Auf dem 
Höhepunkt der histochemischen Eisenstoffwechselmobilisierung, bei 
1—2 Monate alten Säuglingen, sahen wir in fast allen Fällen eine sehr 
hochgradige Eisenspeicherung in den Kupfferschen Sternzellen und in 
der ‚roten‘ Milzpulpa. Die eisenbeladenen Kupfferschen Sternzellen 
erreichen Dimensionen, wie man sie in der menschlichen Pathologie 
sonst kaum beobachtet; ihre plumpen Leiber füllen die Blutcapillaren 
der Leber oft auf weite Strecken fast völlig aus. Auch die Milz dieser 
Säuglinge zeichnet sich in typischer Weise durch einen geradezu bei- 
spiellosen histochemischen Eisengehalt aus. Nach dem 3. Lebensmonat 
nehmen aber die Erscheinungen des vorher so intensiven histochemischen 
Eisenstoffwechsels allmählich ab, und nach dem 5. Monat etwa ist in 
Leber und Milz wiederum dasselbe Bild zu finden, das in einer so großen 
Zahl der Fälle vor der Mobilisierung vorhanden war: Leber und Milz 
erweisen sich als histochemisch eisenfrei. | 

Ebenso wie die Bestimmung des Gallenfarbstoffgehaltes im Blute, ergubt 
also auch die Verfolgung des histochemischen Eisengehaltes der Leber und 
Milz bei Neugeborenen eine typische Kurve, die in allen Fällen, vn typischem 
Abstand vom Zeitpunkt der Geburt, eine maximale Höhe erreicht und dann 
nach allmählichem Abstieg wiederum zum Niveau des Ausganges zurück- 
kehrt. 

Wir haben in unseren Untersuchungen den größten Wert auf den 
Beginn der histochemischen Eisenstoffwechselkurve gelegt. Wir sahen 
bei totgeborenen, ausgetragenen, ja übertragenen Früchten ebenso histo- 
chemisch völlig eisenfreie Lebern und Milzen, wie wir sie bei Kindern 


120 Ph. Schwartz: 


fanden, die 1!/, oder sogar 2 Monate zu früh zur Welt kamen. Anderer- 
seits sind bei 4, 6, 10, 30 Tage alten Frühgeburten dieselben typischen 
Erscheinungen der histochemischen Eisenstoffwechselmobilisierung zu 
finden, in derselben Intensität ausgeprägt, wie bei ausgetragen ge- 
borenen Kindern desselben extrauterinen Alters. So konnte es sein, 
daß wir Kinder untersuchten, die, zu früh geboren, im Alter von 1—2 
bis 21/, Monaten starben und deren Eisenbefunde auf einem hohen 
Niveau, auf dem Höhepunkt oder sogar bereits dem absteigenden Ast 
der Eisenstoffwechselkurve standen, trotzdem in den Organen von 
post conceptionell ebenso alten, nur reif oder übertragen geborenen 
Kindern, keine Spur von histochemischem Eisen nachzuweisen war 
oder nur Anfangsstadien der beginnenden Mobilisation aufgefunden 
wurden. Es sind das ganz besonders wichtige Beobachtungen, weil sie 
klar zeigen, daß bei der Ausbildung der histochemischen Eisenstoffwechsel- 
kurve die Unterbrechung, oder vielleicht besser gesagt, die Störung des 
fötalen Stoffwechsels durch den Geburtsvorgang entscheidend wirkt und 
daß der Beginn des Aufstieges von der Entwicklungsstufe der Frucht völlig 
unabhängig, einzig und allein vom Zeitpunkt der Geburt bedingt wird. 

Diese Befunde sind uns auch darum sehr wichtig, weil wir in den 
Untersuchungen von Ylppö und Hirsch ganz ähnliche Eigenschaften 
der Gallenfarbstoffkurve des Blutes zu erkennen glauben. 

Ich möchte zunächst diese Analogien mit unseren Befunden heraus- 
schälen: 

Die kleinste Frühgeburt der A. Hirschschen Untersuchungsreihe war bei der 
Geburt 1700 g schwer, ihr Nabelschnurblut enthielt Bilirubin in einer Verdünnung 
von 1:45000. Dieser Grad der Bilirubinkonzentration im Nabelschnurblutserum 
kann keinesfalls mit der Entwicklung der Frucht im Zusammenhang stehen, denn 
A. Hirsch sah z. B. 4 andere Kinder, deren Geburtsgewicht mindestens 3500 g 
betrug und die Bilirubin im Nabelschnurserum in einer kaum abweichenden Kon- 
zentration (1 : 50.000) enthielten. Ahnlich ist es auch mit den ganz hochgradigen 
Verdünnungen. Im Nabelschnurblutserum eines 4100 g schweren Neugeborenen 
konnte A. Hirsch eine Bilirubinverdünnung von 1: 130 000 nachweisen. Das 
Nabelschnurblutserum eines viel kleineren Neugeborenen mit 2700 g Geburts- 
gewicht enthielt aber Bilirubin in einer fast ebenso großen Verdünnung (1 : 145 000). 
Das größte aller von A. Hirsch untersuchten Kinder wog bei der Geburt 4450 g; 
es enthielt im Nabelschnurblutserum die noch ziemlich beträchtliche Bilirubin- 
konzentration von 1:85 000, dieselbe oder ungefähr dieselbe Konzentration des 
Gallenfarbstoffes konnte aber auch bei einer ganzen Anzahl von Kindern festgestellt 
werden, deren Geburtsgewicht 3000 g oder noch weniger betrug. Die größte Bili- 
rubinverdünnung (1 :250000) traf A. Hirsch im Nabelschnurblutserum eines 
3100 g schweren Neugeborenen; ein Geburtsgewicht, bei welchem viele andere 
Kinder die zwei- bis dreifache, und ein Fall sogar die fünffache Menge Bilirubin zeigt. 

Es ist alsg unzweifelhaft, daß die Bilirubinkonzentration des Nabel- 
schnurblutserums bei der Geburt mit der Reife der Frucht nichts zu tun 
haben kann!). 


!) Natürlich ist dieses Ergebnis auch von A. Hirsch selbst verzeichnet. 

















Zur Frage des Icterus neonatorum. 12} 


Leider sind die A. Hirschschen Untersuchungen über den Bilirubin- 
gehalt des Neugeborenenblutes in den ersten Tagen und Wochen nach 
der Geburt nicht geeignet, eine derartige Unabhängigkeit des Bilirubin- 
gehaltes von der Reife der Frucht bei der Geburt ganz einwandfrei 
zu dokumentieren. Denn A.Hirsch untersuchte nur 12 Fälle, und 
auch diese waren, mit Ausnahme eines 2800 g schweren Neugeborenen, 
alles Kinder, die, völlig ausgetragen, mit einem Geburtsgewicht von 
über 3000 g zur Welt kamen. Das größte untersuchte Kind dieser 
Gruppe wog bei der Geburt 3700 g. So krasse und überzeugende Unter- 
schiede einerseits und andererseits Übereinstimmungen zwischen den 
Befunden, wie sie bei der Gegenüberstellung von sehr kleinen Früh- 
geburten und voll ausgetragenen oder überreifen Neugeborenen zu 
finden wären, konnten dabei gar nicht erscheinen. Trotzdem läßt es 
sich auch an diesen verhältnismäßig spärlichen Fällen klar zeigen, 
daß innerhalb der untersuchten engen Grenzen der Bilirubingehalt des 
Blutes bei allen Kindern ungefähr von denselben Verdünnungswerten 
ausgeht und der Beginn einer kennzeichnenden Gallenfarbstoffkurve, 
ganz unabhängig vom Geburtsgewicht, immer am ersten Lebenstage 
einsetzt. 

Die Ylppöschen Untersuchungen über den Gallenfarbstoffgehalt des 
Neugeborenenblutes sind aber geeignet, die Lücken gerade hier aus- 
zufüllen. Ylppö untersuchte den Gallenfarbstoffgehalt des Blutes bei 
61 Kindern, darunter waren 18 frühgeborene und 2 Föten. Es läßt sich 
an den von Ylppö mitgeteilten Tabellen und Kurven unzweifelhaft 
zeigen, daß der Anstieg des Gallenfarbstoffgehaltes im Neugeborenen- 
blut bei allen Kindern am ersten Lebenstag immer von einem fast identi- 
schen Niveau beginnt, ganz gleichgültig, ob es sich um sehr frühgeborene 
oder völlig ausgetragene Kinder handelt. 

Ylppö fand z. B. bei einer sehr stark ikterischen Frühgeburt mit 1200 g Ge- 
burtsgewicht (Zabinsky) im Alter von 10 Stunden 89,0 g 105 Gallenfarbstoff im 
Blute; im Alter von 9 Tagen konnte ein Gallenfarbstoffgehalt von 477,5 g-10 
gefunden werden. Sehr ähnliche Werte gibt er bei einem ebenfalls stark ikterischen, 
ausgetragenen Kinde (Jelitto) an. Das bei der Geburt 3030 g schwere Kind enthielt 
in der Nabelschnur 38,0 g : 10° Gallenfarbstoff und ließ im Blute im Alter von 
21/, Tagen 249,5 g°10°5, im Alter von 7 Tagen 371,5 g 105 Gallenfarbstoff 
nachweisen. Leider sind einerseits bei der Frühgeburt die Nabelschnurblutwerte 
und der Gallenfarbstoffgehalt des Blutes im Alter von 21/, und 7 Tagen nicht 
angegeben, andererseits fehlen auch bei dem ausgetragenen Kinde die Angaben 
des Gallenfarbstoffgehaltes im Blute 10 Stunden und 9 Tage nach der Geburt, so 
daß ein Vergleich auf ganz äquivalenter Basis in diesen beiden Fällen nicht mög- 
lich ist. | 

Doch zeigen andere Frühgeburten und ausgetragene Kinder, daß 
trotz sehr großer Unterschiede zwischen den Geburtsgewichten, in den- 
selben Zeitabständen nach der Geburt fast völlig identische Gallenfarbstoff- 
werte im Blut vorkommen können. 


124 Ph. Schwartz: 


Ähnliche Feststellungen lassen auch Beobachtungen erkennen, die 
Ylppö innerhalb der Gruppe der von ihm untersuchten Frühgeburten 
erheben konnte. 


Die Gallenfarbstoffwerte im Blute können bei ungefähr gleichreifen Kindern 
sehr verschieden sein. Bei einer Frühgeburt (Lerch) von 1760 g Geburtsgewicht 
fand Ylppö am 8. Lebenstage 192,5 g 10° Gallenfarbstoff im Blute, dagegen 
enthält ein anderes, bei der Geburt 1800 g schweres Kind (Riess) am 7. Lebenstag 
626,5 g 105, also etwa 3mal mehr. Eine Frühgeburt (Mirus) mit dem Geburts- 
gewicht von 1850 g zeigte 31/, Tage nach der Geburt einen Blutgallenfarbstoffgehalt 
von 379,95 g 105; eine andere Frühgeburt (Fiorenzano) mit einem Geburtsgewicht 
von 1370 g enthielt im Blut am 3. Lebenstage mehr als 2 mal soviel, 820,0 g * 10° 
Gallenfarbstoff. Ähnliche große Abweichungen sind zu erkennen, wenn man Ylppös 
Angaben über ungefähr gleich entwickelte, ausgetragen geborene Kinder mitein- 
ander vergleicht. Beieinem bei der Geburt 3350 g schweren Neugeborenen (Zobezak) 
war am 4. Lebenstage im Blut ein Gallenfarbstoffgehalt von 48,5 g 10° fest- 
zustellen; ein anderes, ganz gleich entwickeltes Kind (Ritter) mit einem Geburts- 
gewicht von 3350 g, enthielt ebenfalls am 4. Lebenstage mehr als 5mal soviel 
(267,25 & 10°) Gallenfarbstoff im Blute. 

Es kann also auf Grund der tatsächlichen Befunde Ylppös darüber 
kein Zweifel besiehen, daß der Gallenfarbstoffgehalt im Blute Neugeborener 
mit der Reife der Frucht bei der Geburt nichts oder, wir wollen einstweilen 
vorsichtiger sagen, nichts Wesentliches zu tun hat. 

Schon diese Feststellung steht in einem sehr krassen Widerspruch 
zu den Tendenzen der theoretischen Auslegungen Ylppös. Verfolgt 
man aber die tatsächlichen Befunde Ylppös weiter, so müssen der- 
artige Differenzen noch viel schärfer hervortreten, und so möchte ich 
jetzt vor allem die Anschauungen Ylppös über die Entstehung der 
Gallenfarbstoffwerte im Neugeborenenblut wiedergeben. Ylppö glaubt 
festgestellt zu haben, daß die Gallenfarbstoffproduktion beim Foetus, 
die bis zum letzten Fötalmonat sehr klein ist, im letzten Fötalmonat 
physiologischerweise — also etwa so, wie sich die Extremitäten ver- 
größern — eine bedeutende Vermehrung erfährt und nach der Geburt 
noch mit erhöhter Intensität weiter zunimmt. Ferner nimmt YIppö an, 
daß „die Funktionen der fötalen Leber noch nicht genügend scharf aus- 
gebildet sind‘ und daß deshalb beim Foetus von dem schon in völlig 
physiologischer Menge gebildeten Gallenfarbstoff ein Teil „statt in den 
Darm, ins Blut‘ übergeht. Die.gegen Ende der Fötalperiode und nach 
der Geburt physiologischerweise gesteigerte Gallenfarbstoffproduktion 
muß also auch den Gallenfarbstoffgehalt des Blutes erhöhen. „Die 
Leber ist natürlich bestrebt, den Gallenfarbstoff möglichst vom Blut 
zurückzuhalten, und nach einigen Wochen ist die Leber dann end- 
lich so weit entwickelt, daß sie prozentuell nicht mehr Gallenfarb- 
stoff ins Blut übergehen läßt als die Leber des erwachsenen Menschen. 
Aber ehe es die. Leber so weit gebracht hat, hat der Gallenfarbstoffgehalt 
des Blutes bei den meisten Kindern die Grenze für den Hautikterus 











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Zur Frage des Icterus neonatorum., 123 


überschritten, und der Icterus neonatorum ist entstanden.‘‘ So kommt 
Ylppö zu der in seinen Ausführungen sehr wesentlichen Feststellung, 
daß die verschiedenen Verlaufsformen des Icterus neonatorum ‚nichts 
weiter als der Ausdruck von einer verschieden weit entwickelten Leber- 
funktion“ sind. ‚Bei einem Kinde dauern die fötalen Sekretions- 
verhältnisse nur kurze Zeit nach der Geburt an, und die Leber bekommt 
rasch das Vermögen, den neugebildeten Gallenfarbstoff in ähnlicher 
Weise wie beim Erwachsenen in die Gallencapillaren zu leiten: es ent- 
steht entweder kein Ikterus oder nur ein gewöhnlicher, in wenigen 
Tagen vorübergehender Ikterus. Erreicht die Leber aber erst nach 
mehreren Tagen dieses Vermögen, so haben wir vor uns den Icterus 
neonatorum prolongatus. Und endlich, kommt das Kind mit einer 
Leber zur Welt, die noch mangelhafter die Gallenbestandteile in die 
Gallencapillaren leitet, so entsteht Ieterus neonatorum gravis.‘“ Ylppö 
findet es „selbstverständlich, daß gerade die Frühgeburten, die mitten 
in der Fötalperiode geboren werden, stark ikterisch werden müssen,‘ 
sind doch sogar ‚die ausgetragenen Kinder bezüglich der Entwicklung 
der Leberfunktionen eigentlich zu früh geboren“. — ‚Der Icterus 
neonatorum ist demnach eine einheitliche physiologische Erscheinung.“ 


Für die geschilderte Auffassung charakteristisch sind auch noch die folgenden 
Äußerungen Ylppös. 

Ylppö suchte nach dem Vorkommen von Neugeborenenikterus bei Tieren. 
Ausgesprochene Gelbsuchtsanfälle kommen nach ihm nur bei Pferden vor. Zwar 
fand er auch bei neugeborenen Zicklein und Hündchen in den ersten Lebenstagen 
eine leicht steigende Erhöhung der Blutgallenfarbstoffwerte, doch konnte ein wirk- 
licher Ikterus dabei nicht beobachtet werden. 

Bei Hunden hat Eiti an der Placenta einen grünen Überzug gesehen und wies 
nach, daß es sich dabei um Biliverdin handele. Ylppö sah bei 4 trächtigen Hün- 
dinnen niemals Gallenfarbstoff im Blute, und da er dagegen bei neugeborenen 
Hündchen regelmäßig kleine Mengen von Gallenfarbstoff im Blute vorfand, glaubt 
er bewiesen zu haben, daß die Gallenfarbstoffmassen in der Hundeplacenta nicht 
von der Hündin selbst, sondern von den Föten stammen. Die im Vergleich zu den 
Werten bei neugeborenen Menschen verschwindend geringen Mengen von Gallen- 
farbstoff im Blute neugeborener Hündchen veranlaßte Ylppö zu interessanten 
Annahmen. Er hält es gar nicht für unmöglich, daß der Hundefoetus seinen „‚Ikte- 
rus‘ schon in utero vor der Geburt durchmacht. Mit ‚„Ikterus‘‘ des Hundefoetus meint 
Ylppö „nur einen Zustand, bei dem verhältnismäßig viel Gallenfarbstoff‘‘ im 
Fötalblut kreist. „Beim menschlichen Foetus würde dieser Zustand erst später, 
eine kurze Zeit vor der Geburt, beginnen und dann im extrauterinen Leben ab- 
laufen. ‘“ 

Diese Theorie des „Neugeborenenikterus‘“ bei Hunden erscheint uns geeignet, 

das Verständnis für Feststellungen Ylppös wie die folgende: der ‚‚Icterus neona- 
torum ist beim Menschen einfach die Folge der Fortdauer eines für das fötale Leben 
charakteristischen Zustandes“, in ihrer ganzen, ihnen von Ylppö beigemessenen 


Bedeutung, zu vermitteln. Allem Anschein nach glaubt doch Ylppö, daß bei 


Kindern, die durch irgendwelche Veranlassung nicht 9, sondern 12 Monate im 
Mutterleib verbringen würden, der Icterus ‚„‚neonatorum‘ in einem ebenso hohen 
Prozentsatz der Fälle und ebenso intensiv schon im Mutterleib entstehen müßte, 


124 Ph. Schwartz: 


wie er sonst bei der normal erfolgten Geburt zu finden ist. Ylppö erklärt doch, daß 
der „‚Icterus neonatorum sich gar nicht von äußeren Momenten beeinflussen 
läßt“, daß „äußere Momente dabei höchstens eine verzögernde Wirkung aus- 
üben“ könnten, und betont die indifferente Rolle der Geburt ganz besonders. 
So wertvoll und grundlegend ich auch die Befunde Ylppös über den 
Gallenfarbstoffgehalt im Blute Neugeborener finde, kann ich seinen 
Folgerungen nicht zustimmen. Vor allem kann ich mich nicht damit 
einverstanden erklären, daß der Geburtsvorgang bei der Ausbildung 
der Gallenfarbstoffwerte im Blute Neugeborener keine Rolle spiele. 
Schon die Beobachtung, daß einerseits der Gallenfarbstoffgehalt 
des Blutes Neugeborener unabhängig von der Reife der Frucht bei 
der Geburt ist und daß er andererseits vom Zeitpunkt der Geburt an 
bei Frühgeburten und ausgetragenen Kindern in ganz gleicher Weise 
verändert wird, weist darauf hin, daß diese Veränderung immer nicht 
nur mit dem Zeitpunkt der Geburt, sondern auch mit dem Geburtsvorgang 
selbst im Zusammenhang steht. Jedenfalls steht er in gar keiner Ab- 
hängigkeit vom Entwicklungszustand der Leber, wie die Ylppösche 
Theorie fordern müßte. Der entscheidende Einfluß des Geburtszeit- 
punktes und des Geburtsvorganges selbst ist aber auch noch mit weiteren 
Ergebnissen der Ylppöschen Untersuchungen zu belegen. | 

Ylppö versucht die Größe der gesamten Gallenfarbstoffproduktion 
der Frucht bis zur Geburt zu bestimmen. Er glaubt berechtigt zu sein, 
aus der im gesamten Meconium gefundenen Gallenfarbstoffmenge 
Schlüsse über die Gallenfarbstoffsekretion bei Föten zu ziehen. Wir 
wollen auf die treffliche Begründung dieser auch uns sehr wahrschein- 
lichen Feststellung Ylppös nicht eingehen und nur die Resultate der 
Untersuchungen mitteilen. 

Ylppö untersuchte dabei 13 Kinder, hiervon 2 Frühgeburten, die <—6 Wochen 
zu früh, das ist etwa im 8. Embryonalmonat, geboren waren. In der ganzen Zeit, 
bis zum 8. Fötalmonat hatten diese beiden Frühgeburten nach der Berechnung 
Ylppös nur etwa 4 mg Gallenfarbstoff gebildet. Dagegen ließ sich nachweisen, 
daß ausgetragene Kinder, deren Fötalperiode nur etwa 1 Monat länger war, doch 
bereits etwa 8mal mehr = 33 mg Gallenfarbstoff in den Darm ausgeschieden haben. 

Ylppö kommt auf Grund dieser Untersuchungen zu folgendem 
Schlußsatz: ‚Die Gallenfarbstoffbildung ist beim Foetus ganz minimal 
bis zum letzten Monat, dann beginnt sie besonders rasch anzusteigen ; 
die in der ganzen Fötalperiode gebildete Gallenfarbstoffmenge st aber 
trotzdem auffallend klein (= ca. 33 mg).‘“ — Eine interessante und wich- 
tige Feststellung, die geeignet ist, den von Ylppö so gering eingeschätzten 
Einfluß der Geburt in ein ganz anderes Licht zu setzen. Ylppö unter- 
suchte nämlich die Gesamtgallenfarbstoffausscheidung bei den 13 Kin- 
dern auch nach der Geburt weiter. Das kleinste untersuchte Kind 
dieser Gruppe (Kind Muth, Drilling) hatte ein Geburtsgewicht von 
1740 g und kam 4—5 Wochen zu früh zur Welt. Der Gallenfarbstoff- 








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Zur Frage des Icterus neonatorum. 125 


gehalt des gesamten Meconiums betrug 3,87 mg. Nehmen wir an, daß 
das Kind die zur normalen Reife nötigen 4—5 Wochen noch im Uterus 
verbracht hätte, so ist es gerade nach den Untersuchungen Ylppös 
klar, daß im Meconium nicht 3,87 mg, sondern etwa 8mal mehr — 33 mg 
Gallenfarbstoff enthalten wäre. Nun aber ist das Kind 4—5 Wochen 
zu früh geboren und produzierte — nach den im Stuhl gefundenen 
Mengen zu urteilen — schon in den ersten 21 Tagen des extrauterinen 
Lebens nicht &mal, sondern etwa 30mal mehr, — 115,87 mg, Gallenfarb- 
stoff, als bis zum Ende seiner zu früh unterbrochenen, intrauterinen Periode: 
das Kind schied schon in den ersten 3 Wochen des extrauterinen Lebens 
etwa 4mal soviel Gallenfarbstoff im Stuhlgang aus, als Kinder produziert 
hätten, die die zum normalen Reifetermin noch notwendigen 4—-5 Wochen . 
im Mutterleib verbringen. 


Nicht weniger lehrreich ist auch der zweite Fall eines frühgeborenen Kindes, 
den Ylppö genau untersuchte. Das Kind (Schüler) kam mit einem Geburtsgewicht 
von 2170 g, nach den Angaben Ylppös 5—6 Wochen zu früh, zur Welt. Das ge- 
samte Meconium enthielt 3,9 g Gallenfarbstoff. Wäre das Kind bis zum Ende 
der normalen Schwangerschaftszeit im Mutterleib geblieben, so hätte man bei der 
Geburt im Meconium nur etwa 8mal mehr, also insgesamt etwa 33 mg Gallen- 
farbstoff als das Produkt einer weiteren 25—30tägigen Sekretionstätigkeit nach- 
weisen können. Nun ist das Kind aber eben doch zur Welt gekommen und hat 
bereits in den ersten 13 Tagen nicht 8mal, sondern 25mal mehr — 98,7 mg 
Gallenfarbstoff in den Darm ausgeschieden, also in den 2 Wochen extrauterinen 
Lebens 3 mal mehr Gallenfarbstoff produziert als Kinder, die, nach dem Geburts- 


termin unserer Frühgeburt, normalerweise noch 5—6 Wochen im Mutterleib 
bleiben! 


Es kann darüber gar kein Zweifel bestehen, daß diese so auffallende 
Erhöhung der Gallenfarbstoffausscheidung in den Darm nach der 
Geburt nur durch die Unterbrechung des fötalen Stoffwechsels bei der 
Geburt bedingt sein kann, im letzteren Fall ebenso wie bei der vorher 
besprochenen Frühgeburt. 

Ylppö untersuchte in dieser Untersuchungsserie nur zwei Früh- 
geburten, wir können also den entscheidenden Einfluß des Geburts- 
vorganges auf die Gallenfarbstoffsekretion in den Darm beim Neu- 
geborenen nur noch mit seinen Zahlen an ausgetragenen Kindern doku- 
mentieren. 


Wir müssen gestehen, daß der entscheidende Einfluß des Geburtsvorganges 
auf die Gallenfarbstoffausscheidung in den Untersuchungen von Ylppö bei aus- 
getragenen Neugeborenen nicht so klar und einwandfrei zu zeigen ist wie bei den 
Frühgeburten. Doch sind auch hier reichliche Zeichen vorhanden, die mit großer 
Deutlichkeit auf analoge Verhältnisse hinweisen. Den niedrigsten Gallenfarbstoff- 
wert im Meconium Ausgetragener fand Ylppö bei einem Kind mit dem Geburts- 
gewicht von 3500 g (Schmidt); es waren hier 8,67 mg nachzuweisen. In den ersten 
13 Tagen konnte Ylppö 152,40 mg Gallenfarbstoff im Stuhl finden, dieselbe Gallen- 
farbstoffmenge, die er auch bei einem ausgetragenen Kind nachgewiesen hat, das 
im Meconium viel mehr, nämlich 38,89 mg, Gallenfarbstoff enthielt. 


126 Ph. Schwartz: 


Unabhängig von den fötalen Gallenfarbstoffmengen im Meconium sind 
bei ausgetragenen Kindern nach den Untersuchungen von Ylppö in den 
ersten 13 extrauterinen Lebenstagen immer ungefähr dieselben Gallenfarb- 
stoffmengen nachzuweisen; sie sind im Durchschnitt etwa viermal so 
sroß als die gesamte pränatale Gallenfarbstoffsekretion der Frucht. 

Es ist also unzweifelhaft, daß zum mindesten der Zeitpunkt der.Ge- 
burt für die Gallenfarbstoffausscheidung in den Darm auch bei aus- 
getragenen Kindern von entscheidender Wichtigkeit ist. Bei der einen 
Frühgeburt war die Gallenfarbstoffausscheidung in den Darm in den 
ersten 13 extrauterinen Lebenstagen den Durchschnittswerten des 
Gallenfarbstoffgehaltes im Stuhl ausgetragener Kinder fast gleich: diese 
Beobachtung spricht dafür, daß der Gallenfarbstoffgehalt des Stuhles 
bei den ausgetragenen Kindern nicht nur vom Zeitpunkt der Geburt, 
sondern, wie bei den Frühgeburten, vom @eburtsakt selbst entscheidend 
beeinflußt wird. 

Fassen wir die Befunde einerseits bei Frühgeburten, andererseits bei 
ausgetragenen Kindern zusammen, so können wir feststellen, daß die 
Vermehrung der Gallenfarbstoffproduktion, die im Anschluß an die 
Geburt bei so vielen Neugeborenen nachzuweisen ist, nicht als eine 
selbstverständliche Fortsetzung der von Ylppö gefundenen, geringen, 
fötalen, physiologischen Erhöhung der Gallenfarbstoffproduktion er- 
scheint. Sie ist vielmehr von der Reife der Frucht bei der Geburt un- 
abhängig, beginnt immer im Zeitpunkt der Geburt und entsteht infolge von 
Veränderungen des Stoffwechsels, die durch den Geburtsvorgang bedingt 
werden. 

Den entscheidenden Einfluß des Geburtsvorganges auf den Gallen- 
farbstoffhaushalt bemerkte auch A. Hirsch. Sie denkt zwar daran, daß 
das Blutserum des Neugeborenen ‚schon längere Zeit denselben hohen 
Gehalt haben‘‘ könnte, „den wir im Nabelschnurserum nachweisen“; 
andererseits könnte es aber auch sein, meint sie, daß „durch irgend- 
welche Vorgänge vor und bei der Geburt‘‘ „der anfangs niedrige Wert” _ 
des Bilirubingehaltes ‚rasch angestiegen“ ist. A. Hirsch entschließt _ 
sich auf Grund ihrer Befunde zu dieser letzteren Annahme und erklärt, 
„wir müssen wohl annehmen, daß der Ikterus von Vorgängen bei 
der Geburt und nicht vom Alter der Frucht abhängig ist“. Sie denkt 
dabei „an das Einsetzen der extrauterinen Lebensvorgänge (Atmung, 
Peristaltik, Entfaltung und Blutfüllung der Lungen usw.)“, 

Trotzdem die Ylppöschen Untersuchungen, wie wir finden, reich- 
licher als die Hirschschen Arbeiten Beobachtungen geliefert haben, die 
geeignet sind, den entscheidenden Einfluß des Geburtsvorganges auf 
den Gallenfarbstoffwechsel beim Neugeborenen zu dokumentieren, und 
trotzdem auch YlIppö selbst die Möglichkeit eines Zusammenhanges 
zwischen Gallenfarbstoffmenge im Nabelschnurblut und Dauer oder 








Zur Frage des Icterus neonatorum. 427 


Schwere der Geburt in Betracht zieht, glaubt er das Bestehen irgend- 
eines Zusammenhanges ganz ablehnen zu können. Es dürfte von In- 
teresse sein, festzustellen, wie Ylppö zu dieser Anschauung kommt. 
Ylppö verfolgte nämlich bei 20 Frauen den Geburtsverlauf. Er schreibt: 
„Bei schweren und langdauernden Geburten fand ich aber keine höheren 
Werte im Nabelschnurblut als bei leichter Geburt. Den höchsten 
Gallenfarbstoffgehalt fand ich sogar in einem Falle, bei dem die Geburt 
eine äußerst leichte war und im ganzen nur 2 Stunden dauerte.“ YIppö 
meint: „Es läßt sich demnach kein Zusammenhang zwischen der Schwere 
und Dauer der Geburt und zwischen der Höhe des Gallenfarbstoff- 
gehaltes im Nabelschnurblut nachweisen.“ Und so glaubt YIppö auch 
feststellen zu dürfen, „daß der Geburtsprozeß überhaupt keine ursäch- 
liche Rolle spielen kann.“ 

YIppö publizierte seine Arbeiten über den Neugeborenenikterus 
etwa 6 Jahre vor seinen bekannten Untersuchungen bei Frühgeburten. 
Er konnte sich bei diesen pathologisch-anatomischen Arbeiten sicherlich 
mehr als einmal überzeugen, daß die klinischen Angaben ‚leichte‘ oder 
„schwere“ Geburt —, selbst wenn sie auf Grund sehr genauer Beob- 
achtungen gewonnen waren, im allgemeinen nicht geeignet sind, ana- 
tomische Befunde am Gehirn zu charakterisieren: wie oft sah ich bei 
frühgeborenen und ausgetragenen Kindern die schwersten, geburts- 
traumatischen Veränderungen des Gehirns nach Geburten, die als 
„leicht“, ‚„‚rasch‘‘ oder ‚‚normal‘‘ bezeichnet waren! 

Wir können die „Leichtigkeit‘‘ oder ‚Schwere‘ des Geburtsvorganges 
einstweilen nur an den Folgezuständen erkennen, die einerseits an der 
Mutter, andererseits an der Frucht nachzuweisen sind. Und wenn so 
klare und einwandfreie Ergebnisse, wie die tatsächlichen Befunde der 
Hirschschen und Ylppöschen Untersuchungen über die Neugeborenen- 
gelbsucht darauf hinweisen, daß ganz unabhängig von der Reife der 
Frucht im Zeitpunkt der Geburt und durch den Geburtsvorgang im Gallen- 
farbstoffwechsel eine grundsätzliche und kritische Veränderung ein- 
tritt, so können wir diese Feststellung durch die klinischen Angaben 
. einer „leichten‘ oder ‚‚schweren‘‘ Geburt nicht beeinflussen lassen. 

Wir müssen vielmehr nach Momenten suchen, welche bei dem Ge- 
burtsvorgang geeignet sind, eine kritische Wandlung des Gallenfarb- 
stoffwechsels herbeizuführen. 

Ein derartiges Moment glaube ich z. B. in Blutungen beim Geburts- 
trauma erblicken zu dürfen, wie das vor kurzem Deluca und auch Sieg- 
mund ausgesprochen haben. Wir wollen zunächst die Frage ganz bei- 
seite lassen, ob die Häufigkeit und Intensität dieser Blutungen genügen 
könnte, die Häufigkeit und Intensität des N eugeborenenikterus bzw. 
der Erhöhung des Gallenfarbstoffgehaltes im Blute Neugeborener zu 
erklären, Blutuntergang spielt als Erklärung der Neugeborenengelb- 


128 Ph. Schwartz: 


sucht seit Virchow eine bedeutende Rolle. Ich möchte hier auf die ge- 
schichtliche Zusammenstellung in der Ylppöschen Arbeit hinweisen und 
als Beispiel für die so mannigfachen Variationen dieser Theorie nur 
die Ansicht von Schick anführen, weil sie bei YIppö noch nicht erörtert 
werden konnte. Da Etti, Henricius, Lieberkühn, Strahl, Duval, Kolster 
und Bonnet bei verschiedenen Tieren mütterliche Blutextravasate in 
der Placenta nachgewiesen haben, die z. B. in der Hundeplacenta grüne, 
in der Katzenplacenta braune ‚„Säume‘“ erzeugen, glaubt Schick an- 
nehmen zu dürfen, daß mütterliches Blut auch in der Placenta des 
Menschen zugrunde geht und daß auf diese Weise mütterliche Blut- 
körperchen, Hämoglobin und dessen Derivate in den Chorionektoderm- 
zellen aufgenommen werden. Nun meint Schick: ‚Dieser von der Mutter 
gelieferte Blutfarbstoff ist die Muttersubstanz desjenigen Bilirubins, 
der zum Icterus neonatorum führt.‘“ Da nach Schick der Untergang 
von mütterlichem Blut Substanzen zur Blutbildung des Foetus liefern 
sollte, wäre der Icterus neonatorum einfach nur ein Symptom dieses 
normalen Blutabbaues, also eigentlich physiologisch, in der Konsti- 
tution der Frucht und der Mutter selbst begründet. Indessen erklärt 
die weit überwiegende Mehrzahl der Blutzerfallstheorien die Neu- 
geborenengelbsucht mit einem Blutuntergang nach der Geburt: man 
dachte z. B. daran, daß aus der Placenta und Nabelschnur bei der Geburt 
in die Gefäße des Neugeborenen zu viel Blut übergehe, das nun hier 
zerfällt. Erst vor kurzem gab Ratnoff, der in Stühlen von ikterischen 
und nichtikterischen Kindern Blut nachweisen konnte, der Vermutung 
Ausdruck, daß die Gefäßwand bei Neugeborenen unvollkommen be- 
schaffen sei und so bei der Entstehung des Neugeborenenikterus Blu- 
tungen eine Rolle spielen könnten, die durch Stauungsvorgänge bei und 
nach der Geburt veranlaßt würden. 

Es ist recht schwierig, sich mit YIppö über die Frage auseinander- 
zusetzen, warum er eigentlich solche ‚„hämatogene‘ Theorien der Neu- 
geborenengelbsucht ganz von der Hand weist. Ylppö stellt nämlich 
fest, daß in den ersten 13 Lebenstagen die Gesamtausscheidung des 


Gallenfarbstoffes im Stuhl und Urin bei ikterischen Kindern nicht 1 


größer ist als bei nichtikterischen und daß zwischen der Intensität des 
Ikterus und den ausgeschiedenen Gesamtgallenfarbstoffmengen keine 
Kongruenz besteht. ‚Mit diesen Befunden‘ — meint Ylppö — „ver- 
lieren alle hämatohepathogenen Theorien, die den Icterus neonatorum 
auf einen abnorm großen Zerfall von roten Blutkörperchen bei den 
ikterischen Neugeborenen zurückführen wollen, den Boden.‘ Zweifellos 
glaubt Ylppö „mit diesen Befunden‘ den Beweis geliefert zu haben, 
daß bei allen Neugeborenen, bei ikterischen wie bei nichtikterischen, 
immer ganz dieselben Gallenfarbstoffmengen produziert werden, daß 
also bei der Entstehung des Neugeborenenikterus eine übergroße Er- 











Zur Frage des Icterus neonatorum. 129 


höhung der Gallenfarbstoffproduktion als primäre Ursache nicht in 
Betracht kommen kann, es müßten doch sonst alle Neugeborenen einen 
Ikterus, und zwar einen ziemlich ähnlich intensiven Ikterus bekommen. 
„Es bleiben nur die rein-hepatogenen Theorien übrig“, d. h. es muß 
zu der nach Ylppö bei allen Neugeborenen ganz gleichen Erhöhung 
der Gallenfarbstoffproduktion noch eine individuelle Ursache, die 
individuell verschieden unvollkommene Leberfunktion hinzutreten. 
Nun, ich glaube, daß diese Schlußfolgerung zum mindesten verfrüht 
ist. Ylppö hat bisher durchaus keinen Beweis geliefert, der sie aufrecht 
erhalten könnte. Denn, wenn wir selbst annehmen, daß die Gallen- 
farbstoffausscheidung aus dem Körper immer, absolut kennzeichnend 
für die im Organismus produzierten Gallenfarbstoffmengen ist, so müs- 
sen wir doch feststellen, daß YIppö die Ausscheidung nur in den ersten 
13 Lebenstagen verfolgt hat, in einer Periode also, die keinesfalls den 
ganzen Zeitabschnitt des erhöhten Gallenfarbstoffgehaltes im Blute in sich 
schließt. Hat doch Ylppö selber Kinder gesehen, bei denen die Gelb- 
sucht 3—4 Wochen nach der Geburt noch bestand, bei denen also das 


Resultat einer Bestimmung der ausgeschiedenen Gallenfarbstoffmengen 


in den ersten 13 Lebenstagen keinesfalls gleichbedeutend sein kann mit 
der gesamten Gallenfarbstoffproduktion des ganzen Ikteruszeitab- 
schnittes. Hätte YIppö festgestellt, daß in einem Zeitraum nach der 
Geburt, in welchem auch der intensivste Ikterus bis zu den untersten 
Gallenfarbstoffwerten im Blute abgelaufen sein könnte, bei allen Kin- 
dern, gleichgültig, ob ikterisch oder nichtikterisch, immer die gleichen 
Mengen Gallenfarbstoffes den Organismus verlassen haben, so hätte da- 
durch eine ‚rein hepatogene‘‘ "Theorie der Neugeborenengelbsucht tat- 
sächlich eine sichere Grundlage erhalten. Aber von einem derartigen 
Nachweis kann einstweilen keine Rede sein, und er wird — wie ich 
glaube — niemals gelingen!). Im übrigen ist die YIppösche Ikterus- 
theorie gar keine ‚rein hepatogene“. Glaubt doch YIppö selber, daß 
„der steile Anstieg in der Gallenfarbstoffsekretion, der etwa am 6. Tage 
anfängt“ und auf eine „besonders vermehrte‘ Gallenfarbstoffbildung 
hinweist, der ‚Ausdruck eines vermehrten Zerfalls von roten Blut- 
körperchen‘“ ist, der ‚‚möglicherweise darauf zurückzuführen‘ wäre, 


1) Eine recht interessante Frage ist es, warum bei allen Neugeborenen in den 
ersten 13 Lebenstagen die gleiche Gallenfarbstoffmenge ausgeschieden wird. Man 
könnte zur Erklärung dieser bemerkenswerten Feststellung von Ylppö annehmen, 
daß die Bilirubinanhäufung im Blute, die nach den Untersuchungen von Hirsch, 
Ylppö und Schiff und Färber bei allen Neugeborenen (auch bei nichtikterischen) 
nachzuweisen ist, immer jene Grenze erreicht, bei welcher eine überhaupt mögliche, 
maximale Ausscheidung eintritt. Die gleiche Größe der ausgeschiedenen Gallen- 
farbstoffmengen würden also nach dieser Annahme nicht das Zeichen einer bei 
allen Neugeborenen gleichen Gallenfarbstoffproduktion, sondern einfach die Folge 
der bei allen Neugeborenen ungefähr gleichen Ausscheidungsfähigkeit sein. 


Z. f. klin. Medizin. Bd. 100. 9 


130 Ph. Schwartz: 


„daß die schon in der Fötalperiode gebildeten Erythrocyten zu dieser 
Zeit allmählich ihre Lebensfähigkeit zu verlieren beginnen“. Allerdings 
bemerkt YlIppö, daß diesen Blutuntergang beim Neugeborenen auch 
Gallenbestandteile, vor allem die Gallensäuren, die im Neugeborenen - 
blute infolge des schon vorher entstandenen Ikterus zurückbleiben, mit 
veranlassen könnten. 

Ich möchte auf die Erörterung dieser Widersprüche in der YIppö- 
schen Theorie nicht weiter eingehen. Ja, ich glaube, daß selbst die 
Frage, ob ‚rein hepatogen“ oder ‚rein hämatogen‘“ in der Form, wie 
man sie besonders seit den Arbeiten der Aschoffschen Schule zu be- 
handeln pflegt, für unsere Fragestellung recht gleichgültig ist. Kommt 
es uns hier doch nur darauf an, zu untersuchen, ob die Entstehung der 
Neugeborenengelbsucht das Resultat einer primären Leberstörung ist, 
bei einer in allen Fällen ungefähr gleich großen Gallenfarbstoffproduk- 
tion, oder ob der Icterus neonatorum durch eine primäre Erhöhung der 
Gallenfarbstoffproduktion verursacht wird, bei einer in allen Neu- 
geborenenorganismen ungefähr identischen Leberfunktion. Trotz der 
kleinen Abweichung, wie die oben geschilderte Erklärung des steilen 
Anstieges am 6. Lebenstage, bekennt sich YIppö im wesentlichen zu 
der Auffassung, daß die Summe der Gallenfarbstoffproduktion bei allen 
Neugeborenen ungefähr gleich groß sei und daß die Neugeborenengelb- 
sucht durch eine primäre Funktionsschwäche der Leber veranlaßt 
würde. Es ist aber Ylppö nicht gelungen, die Identität der Gallen- 
farbstoffproduktion bei allen Neugeborenen zu beweisen; damit fällt 
die unbedingte Notwendigkeit der Annahme einer funktionellen Minder- 
wertigkeit der Neugeborenenleber. Wir haben also keine Ursache und 
kein Recht, die entscheidende Bedeutung eines primären Blutzerfalls 
bei der Geburt als das auslösende Moment der Neugeborenengelbsucht 
von vornherein abzulehnen. 

Ich rechne diese Feststellung zu den wichtigsten Ergebnissen meiner 
hier angestellten Untersuchung. 


Betrachten wir die tatsächlichen Feststellungen, die ohne irgend- ° 
welche hypothetischen Voraussetzungen als wichtige Zeichen von Blut- 


untergang bei Neugeborenen verwertet werden können, so finden wir: 
1. Auf Grund der A. Hirsch und Ylppöschen Untersuchungen, daß 
bei Neugeborenen, gleichgültig, ob es sich um sehr unreife Frühgeburten 


oder um reife, ja übertragene Früchte handelt, eine Vermehrung der 
Gallenfarbstoffproduktion stattfindet, deren Beginn mit dem Zeitpunkt 
der Geburt zusammenfällt und deren Ursache in der Stoffwechselver- 


änderung liegt, die durch den Geburtsvorgang bedingt wird. Die Ver- 
mehrung der Gallenfarbstoffproduktion erreicht nach der Geburt einen 
Höhepunkt — immer im selben Zeitabstand von der Geburt, gleich- 
gültig, ob es sich um Frühgeburten oder um ausgetragene Kinder handelt 

















Zur Frage des Icterus neonatorum. 131 


— und kehrt dann nach allmählichem Absteigen zu niedrigen, lange, 
normale Lebensperioden kennzeichnenden Werten zurück. 

2. Können wir auf Grund der Untersuchungen, die ich mit Bär und 
Weiser ausführte, feststellen, daß bei Neugeborenen, gleichgültig, ob es 
sich um sehr unreife Frühgeburten oder um reife, ja übertragene Früchte 
handelte, eine Vermehrung, Mobilisation des histochemischen Eisen- 
stoffwechsels stattfindet, deren Beginn mit dem Zeitpunkt der Geburt 
zusammenfällt und deren Ursache in Stoffwechselveränderungen liegt, 
die durch den Geburtsvorgang bedingt werden. Die Vermehrung, 
Mobilisation des histochemischen Eisenstoffwechsels, erreicht nach der 
Geburt einen Höhepunkt — immer im selben Zeitabstand von der Ge- 
burt, gleichgültig, ob es sich um Frühgeburten oder um ausgetragene 
Kinder handelt — und kehrt dann nach allmählichem Absteigen zu 
niedrigen, normalen Werten zurück. 

Es liegt auf der Hand, diese beiden so auffallenden Eigentümlich- 
keiten des Neugeborenenstoffwechsels in einer gemeinsamen Ursache 
zu vereinigen und ihre Erklärung in einem Blutuntergang zu sehen, 
der im Anschluß an den Geburtsvorgang vor sich geht. Trotzdem die 
Annahme des Zusammenhanges zwischen Gallenfarbstoff- und Eisen- 
befunden im Rahmen jener Selbstverständlichkeiten liegt, die der 
Mediziner nachzuweisen oft gar nicht für notwendig hält, möchte ich 
besonders hervorheben, daß ich hier nur mit — sehr wahrscheinlich zu- 
treffenden — Vermutungen arbeite. Für die Richtigkeit meiner An- 
nahmen sprechen auch noch Befunde und Ansichten von einigen Autoren, 
die in neuerer Zeit durch moderne Untersuchungsmethoden nachzu- 
weisen versuchten, daß die Neugeborenengelbsucht die Folge eines 
Blutunterganges ist. 

Seit den Untersuchungen von H. van den Bergh, der durch den 
Ausfall einer „direkten“ bzw. ‚indirekten‘ Diazoreaktion im Serum 
Ikterischer die ‚„‚hepatisch‘ durch Gallenstauung entstandene Gelbsucht 
von „anhepatischen‘“, ‚dynamischen‘ Ikterusfällen zu unterscheiden 
glaubt, wurde wiederholt versucht, eine derartige Unterscheidung auch 
im Blute Neugeborener zu erreichen. So glaubt Lepehne auf Grund von 
Gallenfarbstoffbestimmungen im Blute Neugeborener gänzlich aus- 
schließen zu können, daß sich der Ikterus neonatorum auf mechanische 
Weise als Stauungsikterus erklären ließe; er nimmt vielmehr an, 
daß die Gelbsucht der Neugeborenen, ähnlich wie der hämolytische 
Ikterus, „durch eine Hyperbilirubinbildung innerhalb der Retikulo- 
endothelien der Milz und Leber infolge erhöhten Unterganges von 
roten Blutkörperchen während und kurz nach der Geburt“ zu er- 
klären ist. 

Schiff und Färber stellen den ‚funktionellen‘ Charakter des Bili- 
rubins beim Neugeborenen ebenfalls fest und glauben darin einen Hin- 


9* 


132 Ph. Schwartz: 


weis darauf zu sehen, daß der vermehrten Gallenfarbstoffbildung beim 
Neugeborenen ‚,‚eine gesteigerte Blutmauserung zugrunde liegen muß“. 

Auch Knöpfelmacher und ©. Kohn kommen auf Grund von Unter- 
suchungen des Nabelschnurblutes zu ähnlichen Resultaten. 

Diese Feststellungen könnten die Erklärung der Neugeborenen- 
gelbsucht durch einen Blutuntergang bei der Geburt sehr entschieden 
stützen. In der letzten Zeit ist aber in Arbeiten von E. Adler und 
Strauß und von Levi-Crailsheim eine Analyse und Kritik der H. v. d. 
Berghschen Reaktionen vorgenommen werden. Ja, Levi-Orailshevm 
meint, daß praktisch ein hepatogener und hämatogener Ikterus auf 
Grund der H. v. d. Berghschen Reaktion gar nicht zu trennen seien. 
Die Berechtigung einer derartig scharfen Ablehnung muß zunächst noch 
dahingestellt bleiben. Ich möchte hier nur auf Untersuchungen von 
Knöpfelmacher und Kohn hinweisen, die zeigten, daß im Gallenblasen- 
inhalt, also in einer unzweifelhaft ‚‚hepatischen‘‘ Galle Neugeborener, 
im Gegensatz zu dem Gallenfarbstoff im Blute, eine rasche, direkte 
Diazoreaktion zu erzielen ist. Irgendwelche Unterschiede scheinen also 
doch zu bestehen. 

Entschieden für die Richtigkeit der Annahme eines Zusammen- 
hanges zwischen den Gallenfarbstoff- und Eisenstoffwechseleigentüm- 
lichkeiten des Neugeborenen und einem Blutuntergang bei der Geburt 
spricht auch das tatsächliche Vorhandensein von Blutungen bei Neu- 
geborenen. Ich denke in erster Reihe an die von Oruverlhier, Kundrat, 
Seitz, Kowitz, Ylppö geschilderten pialen Blutungen, an die von Beneke 
gefundenen Tentoriumrisse und an die von mir beschriebenen Blutungen 
aus subependymären Venen Neugeborener. Von der großen Häufigkeit 
derartiger Blutaustritte wird sich jeder überzeugen können, der eine 
größere Anzahl von totgeborenen oder in den ersten Lebenstagen ver- 
storbenen Kindern genau zu untersuchen Gelegenheit hat. Noch vor 
kurzem berichtete Sharpe über Untersuchungen, in welchen er bei 
46 Neugeborenen mit Symptomen einer intrakraniellen Verletzung in 
87%, der Fälle Blut im Lumbalpunktat fand. Ylppö sah piale Blu- . 
tungen in etwa 90%, der von ihm untersuchten Frühgeburten. Die 
Häufigkeit der Tentoriumrisse wird ungefähr auf 20% der Fälle ge- 
schätzt; es handelt sich dabei vorwiegend um ausgetragene Kinder. 
Man findet aber bei fast sämtlichen Neugeborenen, die im Anschluß 
an die Geburt verstorben sind, oder nur einige Tage am Leben blieben, 
Blutaustritte, wenigstens in der Kopfschwarte. Bei Kindern, die in 
Steißlage oder Rückenlage zur Welt kamen, sind ausgedehnte Blu- 
tungen auch in den entsprechenden tiefen Muskelteilen der Frucht 
nachzuweisen. Ylppö sah Blutungen auch in der Lunge, im Magen 
und Darm des Neugeborenen, und derartige Befunde konnte auch ich 
selbst mehrmals erheben. Irgend etwas muß mit diesen extravasierten 





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Zur Frage des Iceterus neonatorum. 133 


Blutmengen geschehen, und es ist nur eine Anpassung an die allgemeinen 
Anschauungen, wenn wir annehmen, daß der Blutabbau auch hier mit 
einer Produktion von Gallenfarbstoff und Hämosiderin einhergehe. 
Leider fehlen uns aber noch Befunde, bei welchen Blutungen mit den 
konsekutiven Erscheinungen des Gallenfarbstoff- und Eisenstoff- 
wechsels quantitativ verglichen wären. Ich glaube, daß diese Aufgabe 
in ausgedehnten und genauen experimentellen Untersuchungen gelöst 
werden könnte. Bis zur Klärung dieser quantitativen Verhältnisse 
wird man wohl nichts Bestimmtes darüber aussagen dürfen, ob zur 
Ausbildung des Neugeborenenikterus die angeführten traumatischen 
Blutungen bei der Geburt allein genügen oder ob zur Erklärung auch 
noch ein andersartiger Blutuntergang anzunehmen wäre. Ich darf aber 
vielleicht schon jetzt der Vermutung Ausdruck verleihen, daß die Neu- 
geborenengelbsucht um so deutlicher erscheint, je ausgedehnter der 
Blutuntergang bei der Geburt ist. Wir finden bei Frühgeburten im all- 
gemeinen darum einen viel intensiveren Ikterus als bei reifen Früchten, 
weil bei Frühgeburten die traumatischen Blutungen bei der Geburt 
gewöhnlich viel ausgedehnter sind. Man kann von experimentellen 
Untersuchungen über den Blutuntergang eine endgültige Lösung der 
Frage des Neugeborenenikterus erhoffen. 

Schiff und Färber neigen zur Annahme Schicks, daß der Icterus 
neonatorum durch Zerfall mütterlichen Blutes verursacht sein könnte. 
Ich glaube, diese Annahme ablehnen zu müssen. Schon Knöpfelmacher 
und Kohn wiesen darauf hin, daß die Annahme Schicks mit den tatsäch- 
lichen Feststellungen bei Neugeborenen nur durch unbegründet kom- 
plizierte Hypothesen in Einklang zu bringen wäre; „es könnte ja sein‘ 
— meinen diese Autoren —, „daß die Bilirubinbildung in der Placenta 
erfolgt‘‘ — wie das Schick annimmt —, „aber nach dem Abnabeln steigt 
der Gallenfarbstoff des Blutes weiter an, und der Gallenfarbstoff im 
Blute erweist sich weiter als anhepatisch. Da müßte man sagen, daß 
beim Foetus der Gallenfarbstoff in der Placenta, nach der Geburt aber 
der gleiche anhepatische Farbstoff irgendwo anders gebildet wird.“ Mit 


‚Recht halten Knöpfelmacher und Kohn eine derartig verwickelte Er- 


klärung für unnötig. Die zur Gelbsucht führende Gallenfarbstoffver- 
mehrung kann aber auch schon darum nicht aus mütterlichem Blut 
stammen, weil es doch dann unverständlich wäre, warum die histo- 
chemische Eisenstoffwechselkurve immer in derselben Weise, gleich- 
gültig, ob es sich um Frühgeburten oder um ausgetragene Kinder handelt, 


_ bei der Geburt beginnt. Würde bei der Entwicklung der hohen Blut- 
_ Gallenfarbstoffwerte bei Neugeborenen ein Zerfall von mütterlichem 


Blut irgendeine Rolle spielen, so bliebe es überhaupt unverständlich, 
warum die Eisenbestandteile des zerfallenden Blutes in der Leber der 


- Frucht immer erst nach der Geburt histochemisch nachweisbar werden, 


134 Ph. Schwartz: Zur Frage des Icterus neonatorum. 


sollte doch der Blutzerfall in der Placenta nach Schick schon lange Zeit 
vor der Geburt erfolgen. 

Allem Anschein nach ist also der Neugeborenenikterus die Folge eines 
Blutunterganges bei der Geburt. 


Literatur. 


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Zeitschr. f. Kinderheilk. 3%. 1924. — Virchow, Gesammelte Abhandlungen. — Wagner, 
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Zeitschr. f. Kinderheilk. 9. 1923; Pathologisch-anatom. Untersuchungen bei Früh- 
geburten. Zeitschr. f. Kinderheilk. 1919. 





(Aus der Medizinischen Klinik zu Gießen [Prof. Dr. F. Voit].) 


Zur funktionellen Magendiagnostik. 


Von 
Dr. Ernst Woenckhaus, 


Assistenzarzt an der Klinik. 


(Eingegangen am 4. Januar 1924.) 


Über die physiologischen Leistungen des Magens sind wir vor- 
nehmlich durch die Untersuchungen Pawlows!) und seiner Schüler zu 
klaren Vorstellungen gekommen. Die Mannigfaltigkeit der Magen- 
funktion ist eine außerordentlich große, die verschiedensten mecha- 
nischen, chemischen und sekretorischen Prozesse spielen sich auf engstem 
Raume ab. Dann aber ist der Magen ein offener Schlauch, in den von 
oben Speichel, vom Duodenum Darminhalt fortwährend einströmt, 
in dem Resorptions- und Sekretionsvorgänge die Bedingungen dauernd 
ändern. Bei dieser Sachlage ist von vornherein eine große Zahl von 
Prüfungsmethoden gegeben. Seitdem sich die Röntgenstrahlen als ein 
unentbehrliches Hilfsmittel bei der Magenuntersuchung immer mehr 
eingebürgert haben, sind die anderen Untersuchungsmethoden sehr in 
den Hintergrund gedrängt worden. Meist zu Unrecht, denn erst nach 
Durchführung der übrigen klinischen Untersuchungsmethoden soll 
entschieden werden, ob eine Röntgenuntersuchung wünschenswert 
oder überhaupt notwendig ist. Bei vielen Magenkrankheiten kommt 
man ohne sie aus, wenn auch zum Nachweis von Tumoren, Ulcerationen, 
Stenosen, Verlagerungen und Verwachsungen die Röntgenuntersuchung 
oft allein die Diagnose sichern kann. Durch Inspektion, Palpation und 
Perkussion gelingt es uns in den meisten Fällen, über die Lage, Form 
und Größe des Magens ein ungefähres Bild zu bekommen. Zum Nach- 
weis der motorischen und sekretorischen Leistungen des Magens bedienen 
wir uns der Sondenuntersuchung. Alle Bemühungen, ohne Sonde aus- 
zukommen und vollwertige Ersatzmittel?) hierfür zu finden, sind ge- 
scheitert. Sie sind entweder unzuverlässig und führen zu diagnostischen 
Irrtümern oder geben uns bestenfalls nur allergröbste Aufschlüsse. Aber 
in den Fällen, in denen die Einführung des Magenschlauches kontra- 
indiziert ist, bei Magenblutungen, bei schweren Herzfehlern, Aorten- 
aneurysmen muß man doch zu diesen Ersatzmethoden seine Zuflucht 
nehmen. 


1) Pawlow, Die Arbeiten der Verdauungsdrüsen. Wiesbaden 1898. 
?) Ersatzmethoden: E. Schütz, Arch. f. Verdauungskrankh. 20. 


136 E. Woenekhaus: 


Es existieren eine ganze Anzahl von Methoden, welche die Magen- 
sekretion, wie sie auf digestive Reizung hin erfolgt, zu prüfen suchen. 
Im Prinzip sind sie alle gleich, man gibt nüchtern eine gewisse Probe- 
nahrung und hebert nach einiger Zeit den Mageninhalt aus und prüft 
ihn auf die erfolgte Sekretion. Am gebräuchlichsten ist die Probe- 
mahlzeit nach Riegel und das Probefrühstück nach Zwald-Boas. Da 
diesen Methoden auch gewisse Mängel anhaften, so wurden die ver- 
schiedensten Modifikationen empfohlen. Ehrmann!) benutzte als Probe- 
trunk eine Alkohollösung, welche neben erheblichem digestiven Reiz 
den Vorzug der angenehmen Ausheberung, der sofortigen Erkennung 
von Retentionen, der Beimischung von Blut und Schleim, der Prüfung 
auf Bakterien und endlich der Eiweißfreiheit haben soll. In einer Nach- 
prüfung kam ich?) zu dem Ergebnis, daß neben Vorteilen dieser Methode 
auch erhebliche Mängel anhaften. Auch Fricker?) hält den Alkohol- 
probetrunk nur zur Acidometrie geeignet, während er ihm keine Be- 
deutung für die sekretorische Leistung und die Motilität des Magens 
beimißt. Oft tritt durch den abnormen Alkoholreiz ein störender 
Gallenrückfluß ein, ferner werden durch den Fortfall des Kauaktes 
wertvolle diagnostische Momente ausgeschaltet. Bei dem Versuch, 
diese Mängel zu beheben, kam ich, angeregt durch die experimentellen 
Arbeiten Rosemanns*) zu der Überlegung, die Chlorfreiheit des Probe- 
trunkes in diagnostischer Beziehung auszuwerten. Rosemann*) gewann 
nach der von Pawlow und Schumowa-Simanowskaja?d) angegebenen 
Methode der ‚‚Scheinfütterung‘‘ am Hunde absolut reinen Magensaft. 
Dieser Magensaft war nicht ‚normaler Hundemagensaft“, da ja zur 
Absonderung nur das Reizmoment der Scheinfütterung zur Wirkung 
kam, während alle die Reize fortfielen, die die Speise bei ihrer An- 
wesenheit im Magen selbst verursachen. Rosemann prüfte an dem so 
gewonnenen Saft die physikalischen und chemischen Eigenschaften. 
Er fand, daß der Gesamtchlorgehalt des Magensaftes einer auffälligen 
Konstanz unterworfen ist. Die Grenzwerte schwanken zwischen 0,54 
und 0,64%, die Höhe der Chlorausscheidung ist nur von der Menge 
des Magensaftes abhängig. Der Salzsäuregehalt war dieser Konstanz 
nicht unterworfen. Es galt nun nachzuprüfen, ob der Gesamtchlor- 
gehalt des Magensaftes auch beim Menschen so konstant ist, ob er 
sich bei Magenkrankheiten ändert und ob diese Änderung auch so 
regelmäßig vorhanden ist, daß damit diagnostische Rückschlüsse ge- 
stattet sind. 


1) Ehrmann, Berlin. klin. Wochenschr. 1914, Nr. 14. 

2) Woenckhaus, Zeitschr. f. d. ges. exp. Med. 31, H. 1/2. 

3) Fricker, E., Schweiz. med. Wochenschr. 52, Nr. 2. 1922. 

4) Rosemann, Pflügers Arch. f. d. ges. Physiol. 118. 1907. 

°) Pawlow und Schumowa-Simanowskaja, Arch. f. Physiol. 1895. 





a. 


— 











EEE EEE BE EEE AS 


Zur funktionellen Magendiagnostik. 137 


T, | 

Um zunächst über den Chlorgehalt Magengesunder Aufschluß zu 

erhalten, gab ich in der üblichen Weise 300 cem einer 5proz. Alkohol- 

lösung in destilliertem Wasser und heberte nach 20 Minuten aus. Die 

Säurewerte wurden mittels 1/,„-Normallösungen titriert, die Chlor- 
bestimmung nach der Volkardschen Methode ausgeführt. 


Tabelle I. Alkoholprobetrunk bei Magengesunden. 
































h Säurewerte: 

a eg | freie HCl | Ges. Acid. VIER, 
ir G. Gastroptose | +20 + 22 0,1205 
2 -H. 9,0. B. iı + 17 + 22 0,1099 
4 B. @ Tbe. pulm. + 7 +12 0,0931 
4.!| Kn. Q ren mob. + 16 + 19 0,1014 
5. J. 5' Neurasth. +13 +15 0,1293 
6. Kr. © Retrofl. uter. + 12 —+ 16 0,145 
7° W. @ Tbe. pulm. + 10 + 16 0,076 
8. Kr. © Choleeyst. +16 + 17 0,0923 
9. B. © Cystitis Ni #9 0,149 
10. R. © Hysterie 167 17719 0,139 
11. L. &' Pankreastum. : 2. 0,103 
12. E. 9 Te. pulm. + 10 +15 0,099 








Demnach werden bei Magengesunden mit einer 5 proz. Alkohollösung 
nach 20 Minuten im Mittel 0,11 g-%, Gesamtchlor ausgeschieden. Auch 
bei dieser Art der Magensaftgewinnung sind, ganz gleich den Ergebnissen 
von kosemann, die Gesamtchlorwerte ziemlich konstant, sie schwanken 
zwischen 0,076 und 0,146%. Diese Werte liegen ganz erheblich unter 
den von Rosemann beim Hunde gefundenen. Die Ursache dürfte z. T. 
darin zu suchen sein, daß einerseits der durch die 5proz. Alkohollösung 
gewonnene Magensaft verdünnt ist, dann aber auch geringe Bei- 
mengungen von Speichel sich nicht vermeiden ließen, trotzdem in jedem 
einzelnen Fall veranlaßt wurde, den Speichel auszuspeien und jede 
unwillkürliche Schluckbewegung zu vermeiden. Sehr störend war der 
Gallenrückfluß, der sich, wie ich ja auch in meiner schon angeführten 
Arbeit (S. 136, Nr. 2) erwähnte, nicht vermeiden ließ. Wenn der aus- 
geheberte Magensaft von galliger Farbe war, oder die Gmelinsche Probe 
positiv ausfiel, war der gewonnene Saft zur Chlorbestimmung ungeeignet. 
Regelmäßig waren dann die gefundenen Werte ganz ausgesprochen 
hoch und standen in keinem Vergleich zu denjenigen, die bei gleichen 
Kranken, aber von nichtgalligem Magensaft gewonnen waren. 


Ip 
Um über die Gesamtchlormenge in reinem Magensaft Aufschluß 
zu bekommen ohne die verdünnende Wirkung der Alkohollösung, 
heberte ich den gesunden, nüchternen Magen aus. Nach Ansicht von 


138 E. Woenckhaus: 


Seiler!) ist der Magen vor dem Frühstück leer oder enthält nur einige 
Kubikzentimeter meist deutlich schleimigen Inhaltes. Demgegenüber 
sind in jüngerer Zeit verschiedene Arbeiten erschienen, die dieser 
Ansicht widersprechen. Rehfuß, Martin und Hawk?) unterscheiden 
eine digestive und interdigestive Phase des Magens. Auch in der inter- 
digestiven Phase beobachteten sie Saftabsonderung, sie nahmen deshalb 
eine aktive Sekretion in der Ruheperiode an. In dieser interdigestiven 
Phase soll die Peristaltik durch die Peristole ersetzt sein, die Schnelligkeit 
der Sekretion und die titrierbare Säure soll etwa um die Hälfte gegen 
die der digestiven Phase abnehmen. Auch nach Jarno, Keks und 
Vandorfy®) ruht der leere Magen nicht. Auf nüchterne Sondenaus- 
heberung weißt vor allem Pron?) hin. Er fand in 56 Sondierungen bei 
sicher nachgewiesenem Uleus 45 mal freie Salzsäure, 10 mal fehlende 
freie Salzsäure und nur einmal überhaupt keine Salzsäure. Für die 
Gewinnung des nüchternen Magensaftes fällt noch der nicht unerhebliche 
Sondenreiz ins Gewicht. 


Tabelle II. Nüchterne Ausheberung. 


























Nr.| Diagnose j BES ENE f Clg-% 
| freie HC1 | Ges. Acid. 
1 
1. W. Q Tbe. pulm. Kies ey 0,067 
2.| K. Q® Cholecyst. BE RT 0,0923 
3.1, B..Q Gystitis. el 0,0416 
4. R. Q@ Hysterie N — 0,0518 
5.| 8. © Bronchitis Ze rg 0,0741 
6.!| @. © Ischias. — | _ 0,0981 


Die nüchterne Ausheberung des Magens wurde sehr oft ausgeführt, 
fast regelmäßig wurde auch mit einer 100 ccm großen Spritze aspiriert, 
aber nur 6 mal gelang es, genügend Flüssigkeit zu erhalten, und nur 2 mal 
war die Menge ausreichend, um damit neben der Chlorbestimmung auch 
die Säuretitrierung vorzunehmen. Der Gesamtchlorgehalt bewegt sich 
zwischen 0,0416 und 0,0923%, und ist im Mittel mit 0,07 g-% ganz | 
erheblich niedriger, alsin dem durch Alkohollösung erzeugten Magensaft. 
Demnach scheinen die gesunden Magendrüsen in der Ruhe, wenn über- 
haupt, nur eine ganz minimale sekretorische Leistung aufzubringen. 
Ferner ist immerhin noch zu berücksichtigen, daß eine nicht kontrollier- 


1) Seiler, Mohr und Stähelin, Handb. d. inn. Med., 3, 1. Teil. 1918. 
2) Rehfuß, Martin und Hawk, Gastric. analysis. Ber. d. ges. Physiol. 10. 





8) Jarno, L., und Vandorfy, J., Über die Tätigkeit des nüchternen Magens. 1 


Zentralbl. f. inn. Med. 1921, Nr. 34; Jarno und Keks, Über den Chemismus des 
nüchternen Magens. Zentralbl. f. inn. Med. 1920, Nr. 40. 

4) Pron, L., Le chimisme & jeune dans l’ulcere gastrique. Zentralbl. f. inn. Med. 
1921, Nr. 29. 














Zur funktionellen Magendiagnostik. 139 


bare Menge von verschlucktem Speichel den Magensaft weiter ver- 
dünnt hat. Mit Rücksicht hierauf habe ich diese Methode nicht weiter 
verfolgt. 


id, 


Wie ich schon vorher ausführte, machte sich bei der Alkohollösung 
hin und wieder ein störender Gallenrückfluß bemerkbar. Im folgenden 
berichte ich über Versuche mit anderen chlorfreien Lösungen, die bei 
möglichst gutem digestivem Reiz den störenden Gallenrückfluß nicht 
auslösen sollen. Starke Sekretionserreger durfte ich nicht nehmen, 
da nach Heienyi und Vandorfy!) bei einer gewissen Höhe des Salzsäure- 
spiegels im Magen immer Rückfluß eintritt. 

Bei der Aufnahme der Magenanamnesen fällt es auf, daß sehr oft 
gerade süße Speisen und Getränke schlecht vertragen werden, daß 
hiernach oft Sodbrennen, saures Aufstoßen und sonstige auf den Magen 
hinweisende Beschwerden auftreten. Nach Modrakowski2) sind Zucker- 
lösungen schwache Sekretionserreger, welche, wenn nicht zu stark kon- 
zentriert, schon im Magen resorbiert werden. Da es mir ja nicht auf 
maximale Sekretionserregung ankam, gab ich 300 ccm einer 5proz. 
Rohrzuckerlösung. Die reine Kohlenhydratlösung wurde gern getrunken, 
bei der Ausheberung nach 20 Minuten war immer Mageninhalt zu 
erhalten. 

Tabelle IH. 5% Rohrzuckerlösung: 300 cem Wasser. 























T Säurewerte rn 
Si en freie HC1 | Ges. Acid. ' hr, 
1.| W. Q Tbe. pulm. +9 | +1 | 0912 
Pi B. © Graviditas. AR +11 | 0,085 
3. Kr. © Choleecyst. Ar7 3,00 0,128 
4. Krä. © Retrfl. uteri + 12 + 16 0,154 
B. K. 2 Gastroptose BSR 24 0,0284 
6. B. © Choleeyst. +9 +11 0,1501 
VE R. © Hysterie. IEN>O) + 14 0,13 
Bulk NEO 0sB. +5 + 8 0,127 
9, K. J' Bronchitis 3 155 0,081 
10. S. © Tbe. pulm. +5 + 7 0,076 








Nur zweimal erfolgte ein Gallenrückfluß, der sich schon an der Farbe 
kenntlich machte, ein weiteres Mal war der Saft etwas milchig-trübe, 
aber die Gmelinsche Probe fiel deutlich positiv aus. Diese schwache 
Zuckerlösung schloß also den Rückfluß nicht aus. Die Gesamtchlor- 


werte schwanken zwischen 0,0284 und 0,154%, und sind im Mittel 


1) Hetenyi und J. Vandorfy, Exper. Untersuch. über den Mechanismus der 
Regurgitation bei Menschen. Zentralbl. f. inn. Med. 1922, Nr. 30. 
2) Mohr und Stähelin, Handb. d. inn. Med., 3, 1. Teil. 1918. 


140 E. Woenckhans: 


0,10 g-%, demnach etwas niedriger als diejenigen der Alkohollösung. 
Beobachtet man weiter die Tabelle, so fällt auf, daß die maximalen und 
minimalen Chlorwerte viel weiter auseinanderliegen, als diejenigen 
des Alkoholprobetrunkes. Die Differenz beträgt bei der 
Alkohollösung und der Zuckerlösung 
0,073 0,1256. 
Ich habe den Eindruck gewonnen, daß die Zuckerlösung einen individuell 
sehr verschieden starken, sekretorischen Reiz auslöst und glaube hierin 
auch die Erklärung für die weniger konstanten Chlorwerte zu ersehen. 


Tabelle IV. 300 cem destilliertes Wasser. 



































e : Säurewerte. | ei 
a: j Pe freie HCl | Ges. Acid. | ER 
| | 

1.| W. © Te. pulm. ı +15 |: +77 0,07 
2. | K.,%9 Cholecyst. + '7 + 9 | 0,13 
3.!| Kr. © Retrofl. ut. + 12 + 16 0,1314 
4. | B. © Cystitis IUR + 8 | 0,131 
5.1 6. 2 Tbe. pulm. ARE 13.00 20,185 
6.1 0, Q,Tbe./pulm, +9 +11 0,094 , 
7.!1 0. Q Cystitis [rl +13 0,089 
8. | D. © Te. pulm. al 74 + 8 0,1018 
9.1 K. 0’ Tbe. pulm. I +5 + 9 0,064 
10. H. © Rheumat. + 8 +11 0,116 
11. G. © Bronchitis +11 | +16 0,141 
12.1. _M..Q Vit, cord. + 16 + 21 0,113 
16 R. 2 Cholecyst. | +9 +11 0,084 
14.1 "Sch. 2040. B: + 8 + 10 0,103 
19. DFSHorBD +6 + 7 0,099 
16. | BIC EO.UB, +9 + 13 0,12 
17.DoEB.ONThEN ulm +15 !| +1 0,0143 
18 NR. © Hysterie. +14 | +7 0,1514 
19. Kr. O Tbe. perit +12: #17 0,151 
20. H. © Hysterie 0) +12 0,076 

















In einer weiteren Versuchsserie gab ich 300 ccm destilliertes Wasser 
und heberte den so erhaltenen Mageninhalt nach 20 Minuten aus. 
Nach den Untersuchungen von v. Mering!) soll Wasser so gut wie gar 
nicht im Magen resorbiert werden, nach Modrakowski?) soll es unver- 
ändert den Magen passieren, aber eine schwache Sekretion auslösen. 
Auch nach Pawlow?), Ehrmann*), Fowler, Spencer, Rehfuß und Hawk*) 
erfolgt nach Einführung von Wasser in den Magen eine schwache 
Sekretion. 





!) v. Mering, Verhandl. d. 11. Kongresses f. inn. Med. 1893. 

2) Modrakowski, Handb. d. inn. Med. 3, 1. Teil. 1918. 

®) Pawlow, zit. nach Rosemann, Pflügers Arch. f. d. ges. Physiol. 142. 1911. 

4) Fowler, Spencer, Rehfuß und Hawk, Gastric analysis. Zentralbl. f. inn. Med. 
1922, Nr. 30. 





Zur funktionellen Magendiagnostik. 141 


Bei den Fällen 2, 18, 20 erfolgte Gallenrückfluß, so daß die Aus- 
heberung am folgenden Tage wiederholt werden mußte, bei weiteren 2 
nicht aufgezeichneten Fällen war auch bei der wiederholten Ausheberung 
der Magensaft gallig, so daß diese nicht zur Bestimmung verwertet 
wurden. Zweimal trat der Gallenrückfluß bei hysterischen Patienten 
auf. Dieses Zusammentreffen dürfte nicht zufällig sein, die Übererreg- 
barkeit im Nervensystem scheint auch den Rückfluß zu begünstigen. 
Demnach ist auch das Wasser kein geeignetes Mittel, um den Rückfluß 
weitgehendst zu verhindern. Rosemann!) hatte einmal, nachdem, er 


den Magen mit destilliertem Wasser spülte, den Eindruck, als ob unter 








dem Einfluß dieser Spülung ein Zurücktreten galligen Darminhaltes in 
den Magen stattfand. Die Chlorwerte sind beim Wassertrunk sehr 
konstant, im Mittel 0,10 g-% (gegen 0,11 g-% der Tab. I) und nur um 
0,0076 niedriger, als diejenigen des Alkoholprobetrunkes. Die höchsten 
und niedrigsten Werte differieren um 0,0874 (gegen 0,073 der Tab. TI). 
Die etwas höheren Werte des Alkoholprobetrunkes sind offenbar durch 
den größeren Reiz des Alkoholprobetrunkes bedingt. 

Sowohl der chlorfreie Alkohol- als auch der Wasserprobetrunk sind 
demnach wohlgeeignet zur Bestimmung des Gesamtchlorgehaltes im 
Magensaft. 

IV. 

Es fragt sich nun, ob die theoretische Erwägung richtig ist, daß der 
Chlorgehalt sich bei den verschiedensten Magenkrankheiten ändert. 
Es gibt genug Fälle, wo der Aciditätsbefund keine Abweichung von der 
Norm zeigt oder gar herabgesetzt ist, wo aber trotzdem aus sonstigen 
Anzeichen mit Sicherheit auf ein Ulcus geschlossen werden muß. Mit 
dieser Frage hat sich auch Kelling?) befaßt. Aber auch beim Magen- 
gesunden wird häufig das Fehlen jeglicher Säure beobachtet. [Bennet, 
Izoid und Dodds®)]. Über die suggestive Beeinflussung des Salzsäure- 
spiegels hat Heyert) vor kurzem seine Beobachtungen mitgeteilt. Deshalb 
lag es nahe, den Gesamtchlorgehalt mit den Säurewerten zu vergleichen. 

Zu diesem Zwecke bestimmte ich bei einer Reihe von Magensäften 
neben den sogenannten Säuregraden die Wasserstoffionenkonzentration 
und verglich diese mit den Gesamtchlorwerten. Durch die von Michaelis’) 
für die Untersuchung des Magens angegebene Indicatorenmethode 
(auf den Magensaft), welche hinreichend genaue Werte ergibt, war es 

1) Rosemann, Pflügers Arch. f. d. ges. Physiol. 118, 471. 1907. 

2) Kelling, Über das Vorkommen, die Beurteilung und Feststellung der Sub- 
acidität beim Ulcus ventriculi. Arch. f. Verdauungskrankh. 24, H. 1/2. 

3) Bennet, Izoid und Dodds, On certain conditions associated with deficient 
secretion in the upper alimentary tract. Lancet 202, Nr. 23. 1922. 
*) Heyer, Die Magensekretion unter besonderer Berücksichtigung der psychi- 


schen Einflüsse. Arch. f. Verdauungskrankh. 29, H. 1/2. 1921. 
5) Michaelis, Dtsch. med. Wochenschr. 1922, Nr. 8, 


142 E. Woenckhaus: 


mir auf einfache Weise möglich, diese Bestimmung vorzunehmen. In 
einer eingehenden Untersuchung hat sich Rosemann!) mit der Wasser- 
stoffionenkonzentration des reinen Hundemagensaftes befaßt. Er fand 
Werte zwischen 1,06—1,59 - 10-1, welche gegenüber anderslautenden 
Befunden hoch waren. Die früheren Bestimmungen waren offenbar an 
einem Gemisch von Speise, Speichel und Magensaft angestellt, welches 
ja eine weit geringere Wasserstoffionenkonzentration besitzen muß 
als der reine Magensaft. So erklärt Rosemann die Differenz damit, daß 
die früheren Ergebnisse sich auf den ‚„Mageninhalt“ und nicht auf 
„Magensaft‘‘ bezogen. 

In der folgenden Tabelle schreibe ich den auf Wasserstoffionen 
bezogenen Normalitätsfaktor des Magensaftes als Wasserstoffionen- 
exponent py auf. Der Magensaft wurde wieder mittels Alkoholprobe- 


trunk gewonnen. 
Tabelle V. Alkoholprobetrunk. 









































n R Säurewerte 2 
n es. freie HCI | Ges. Acid. | MER 
1.| Sch. © Vitium BERN „139 41,1,0 900.007 5 
2, | B. © Cystitis + 2 + 6 4,4 0,0641 
3. | R. © Hysterie + 14 + 28 1,6 0,103 
4. G. Q Neurasth. +7, +21 1,5 | 0,086 
5.| St. © Gastropt. + 4 + 10 2,1 -\: 0,1251 
6. K. © Bronchit. I..-412 7 1,.0746.25 2,8 0,0956 
£R G. © Neurasth. +12 + 18 1,6 0.11% 
SU aD OB, PRF18 2.26 1,9 | 0,135 
9. Kr. © Nephritis + 6 + 10 2,3 | 0,0841 
10. | M Q Hysterie + 19 + 22 1,5 0,1403 
11. || D. © Ischias. + 6 +12 1,9 0,0951 
12. | B. © Choleeyst. => 37 +45 1,3 0,1601 
13. | G. © Perniz. Anämie —5 +5 6,3 0,0708 
14% "Dr &S,- Tess tvent: PRSENDB + 38 1A), 208 
15.|  W. © Grippe | —10 +5 5,0 ! 0,087 
16.1 W. © Ulcus vent. "+19 + 33 1,5 | 0,2154 
17: B. © TUleus vent. + 50 2179 DE 0,2773 
18. Br. © Asthma + 14 + 17 1,9 0,117 
19. L. © Cholelith. A Ba re 1,8 0,113 
20. B. © Vitium +11 +16 1,9 0,1124 





Bei 16 Fällen, bei denen der Magen gesund war, schwankt die 
Gesamtcehlormenge wieder zwischen 0,0641 und 0,1601 und ist im 
Mittel 0,11 g-%. Die Gesamtsäuregrade bewegen sich zwischen 6 und 32, 
die Wasserstoffionenkonzentration zwischen 4,4 und 1,5 geht diesen 
annähernd parallel. Aus dieser Tabelle ist klar ersichtlich, daß die 
Säuregrade viel größeren Schwankungen unterworfen sind als die 
Gesamtchlorwerte. 


1) Rosemann, Pflügers Arch. f. d. ges. Physiol. 169. 1917. 





Zur funktionellen Magendiagnostik. 143 


Bei den Werten 14, 16, 17, bei denen mit Sicherheit klinisch ein 
Ulcus ventriculi diagnostiziert war, sind die Säurewerte und die Wasser- 
stoffionenzahlen entsprechend hoch, der Gesamtchlorgehalt aber höher 
als die bis dahin an Magengesunden gefundenen Werte, jedesmal über 
0,2g-%. Interessant ist noch der Fall 13, eine perniziöse Anämie: 
Säurewerte, Wasserstoffzahl und Chlorgehalt sind niedrig. 


V. 

Nunmehr berichte ich über Ergebnisse, die an Ulcus ventriculi- 
Kranken gewonnen wurden. Die Diagnose war in jedem einzelnen Fall 
durch die Anamnese, die Untersuchung, den laufenden Blutnachweis 
im Stuhl und den Erfolg der Ulcuskur gesichert. Als Probetrunk wählte 
ich die 5proz. Alkohollösung in destilliertem Wasser. Die Ausheberung 
wurde wieder nach 20 Minuten vorgenommen. 


Tabelle VI. Alkoholprobetrunk. 


























Nr. Diagnose ah She Clg-% 
freie HCl Ges.-Acid. 
| | 

1.|| K. J'Ule. vent. +95 + 30 0,17 
2.| B. ('Ule. vent. #09 + 38 0,1999 
3.| F. J'Ule. vent. + 19 + 27 0,15 
4.| B. J'Ule. call. +43 +51 0,2624 
5. Gl. Q@ Tle. vent. + 16 1.20 0,185 
6. M.Q Ule. vent. portio ca. + 24 + 34 0,2376 
7.\| H. J' Ule.vent. etduodeni 97 +31 0,146 
8.1 @.Q Tle. vent. 12 +16 0,2127 
9.| K.Q TUle. vent. + 41 +51 0,236 
10. | Kl. Q Ule. vent. 31 + 30 0,2546 
IL. D. Gille.vent. 1295 + 38 0,204 
12.| W.Q Ulc. vent. + 19 +33 0,2145 
13.| B.Q Ulec. vent. + 50 511977 0,1773 
14.| G.Q Tle. call. + 18 128 0,229 
15.| L. J'Ulc. vent. Ab, 19 0,1481 
10.0 H. Q Ulc. vent. +35 | +45 | 0,1873 


Im Mittel berechnet sich der Gesamtchlorwert auf 0,20 g % gegen- 
über 0,11g % bei Magengesunden. Die Grenze liegt bei 0,15, Werte 
darüber zeigen einen geschwürigen Prozeß im Magen an, Werte bis zu 
dieser Zahl werden unter gleichen Versuchsbedingungen bei Magen- 
gesunden gefunden. Nur die Fälle 3, 7 und 15 der vorigen Tabelle liegen 
in dieser Höhe. 

Um nun wirklich beweisende Fälle zu bekommen, bestimmte ich an 
einer Reihe von Magenkranken, die wegen Geschwürs in der chirurgischen 
Klinik!) zur Operation kommen sollten, die Chlor- und Säurewerte in 
der vorher angegebenen Art. 


1) Das Material wurde mir gütigst durch Herrn Geheimrat Poppert überlassen. 


























144 E. Woenckhaus: 
Tabelle VII. Alkoholprobetrunk. 
Nr. | Diagnose Säurewerte Clg-% Operationsbefund 5 
1.| ST Q' Ule. duodeni |-+22 + 37 0,0709 |1 cm hinter dem Pyl. liegt ein 
B.uV:/23; zehnpfennigstückgr. nichtin- 
filtr. Ulcus mit stark hyper. 
Serosa. Pyl. frei durchgängig. 
3.| Schm. J' Ule. vent. |+31 + 38 |0,2234 |2cm vor dem Pyl. liegt an der 
Davor kl. Kurvatur ein eben die 
Fingerkuppe aufnehmendes, 
flaches Ulcusmitinfiltr. Ran- 
de. Relative Pylorusstenose. 
3.| L. (' Ule. vent. —17 + 2[0,214 |Fingerbreit vor dem Pylorus 
16. V. 23. liegt ein napfförmiges, die 
Fingerkuppe aufnehmendes, 
derbes Ulcus mit entz. Umge- 
bung, stark geröteter Serosa. 
4.| K. /' Ulc. vent.? +12 +14|0,1276 |Kein Uleus. 
137312 23. 
5.| V. Q-Ulc. vent.? +36 + 40[0,1815 |Kein Ulcus. 
19. V. 23. 
6.|| H. J' Ule. duod. +23 +3110,248 [Dicht am Pylorus flaches Ulcus 
| ZEV 128: anderHinterwanddesDuode- 
| | nums. Pylorus nicht stenos. 
7.| Pr. J' Ule. eurv. min. | + 16 + 26 | 0,20567 |Napfförmiges, die Fingerkuppe 
BlaV: 23: eben aufnehm. Ulcus ober- | 
halb der Mitte der kl. Kurva- 
tur. Ulcuswand derb infiltr. 
Pylorus weit, bequem für den 
| Finger durchgängig. | 
8.| H. J' Ule. vent. +16 + 25 0,2726 |Am Magen u. Duodenum nihil. 
1277123, Dagegen breite,derbe Stränge 
des kl. Netzes z. Leberpforte. 
In der Blase ein Stein. 
9.| W. J' Ule. vent.? +12 +13/0,102 |Kein Uleus. 
vanvyle23% u 
10. | Schl. © Ule. vent.? |+19 + 21 0,1028 |Leber steht hoch. Gallenblase | 
Hysterie. prall gefüllt, im Halsteil ver- 
wachsen. Ektomie. Pankreas 
und Choledochus o. B. 
11.| Z. Q' Ule. vent. +32 -+ 390,209 |Magen und Darm angeblich 
6. VII. 23. ohne Besond. Cholecystitis. 
12.| K. J' Ule. vent. +40 + 49 0,212 |Uleus ventriculi et ulc. duodeni. 
6. VII. 23. Ersteres etwa.d. Fingerkuppe 
| aufnehmend. Totalresektion. 
13.| E. © Ule. vent. + 9 + 12[/0,1486 [Kein Ulcus. 
14.| Kl. 9 Ule. vent. +21 + 30 0,2546 |Fünfmarkstückgr. Ulcus ven- 
21. VIL:23, triculi an der kleinen Kur- 
vatur sitzend. 

















Zur funktionellen Magendiagnostik. 145 


Von diesen ÖOperierten hatten Nr. 2, 3, 7, 12 und 14 ein Magen- 
geschwür. Die Gesamtchlorwerte waren alle über 0,2%, im Mittel 
0,228 %. Für die klinisch als Ulcus angesprochenen, nicht operierten 
Fälle hatte sich ein Mittelwert von 0,20 g % ergeben (Tab. VI). Bei 
Fall 6, bei dem die Chlorwerte auch über 0,2 waren, deckte die Operation 
ein Ulcus duodeni dieht am Pylorus auf. Man kann sich hier eine Fern- 
wirkung des Ulceus duodeni im Sinne vermehrter Magensaftsekretion 
denken. So betont ». Bergmann!) den ursächlichen Zusammenhang von 
Magenneurosen mit Ulcus duodeni. Dahingegen saß im Fall 1 das Ulcus 
duodeni 1 cm jenseits des Pylorus, der Chlorwert ist mit 0,0709 sehr 
niedrig. Bei den Fällen 5, 8 und 11 sprachen die hohen Chlorwerte 
ebenfalls für ein Ulcus, die Operation bestätigte diese Annahme aber 
nicht. Im Fall 5 fanden sich im Magensaft mikroskopisch Speisereste, 
mit Rücksicht auf die schon festgesetzte Operation mußte leider eine 
nochmalige Ausheberung unterbleiben. Der Fall 11 war lange klinisch 
beobachtet, auf Grund der Untersuchung mußte mit Sicherheit ein Ulcus 
angenommen werden, es fiel uns deshalb schwer, hier an einen dia- 
- gnostischen Irrtum zu glauben. Bleibt noch die Annahme übrig, daß 
doch ein Schleimhautulcus von außen nicht erkennbar vorlag. 

Wodurch die Erhöhung der Gesamtchlorwerte beim Ulcus bedingt 
sind, bleibt so lange ungewiß, bis das Dunkel der Salzsäurebildung auf- 
gehellt ist. Die Fähigkeit der Magenschleimhaut, die molekulare Kon- 
zentration ihres Sekretes in gewissen Grenzen unabhängig von der des 
Blutes zu halten, ist eine sehr beachtenswerte Eigenschaft. Der Magen- 
saft enthält wesentlich mehr Chlor, als das Blutserum. In Rosemanns 
Versuch?) schied der Versuchshund in 3!/, Stunden annähernd ebensoviel 
Chlor mit dem Magensaft aus dem Körper aus, wie die gesamte Blut- 
menge enthielt. Nun wird ein erheblicher Teil des Chlors im Darm nach 
Alkalisierung rückresorbiert. So fand Heubner?) nur in relativ geringen 
Mengen das Chlor im Kot wieder. Auch nach Milowsorofft) ist die 
Chlormenge im Darm im Gegensatz zu derjenigen des Magens sehr niedrig. 
Alle diese Tatsachen sprechen dafür, wie wenig rein physikalische 
Vorgänge im Sinne der Osmose bei der Saftsekretion eine Rolle spielen. 
Der Hauptanteil der Saftbildung kann nur auf einer spezifischen Tätigkeit 
der lebendigen Drüsensubstanz beruhen. Rosemann?) denkt sich den 
Vorgang der Absonderung des Magensaftes in zwei Akte zerlegt: erstens 
muß von der Zelle eine Flüssigkeit mit bestimmtem Gesamtchlorgehalt 
als Arbeitsbestand aus dem Bestande des Körpers entnommen werden, 


!) v. Bergmann, Mitt. a. d. Grenzgebieten d. Med. u. Chirurgie, 4. Supplement- 
heft 1923. 

2) Rosemann, Pflügers Archiv f. d. ges. Physiol. 118. 1917; und 142, 1911. 

3) Heubner, Der Mineralstoffwechsel. Handb. d. Bal. med. Klim. u. Balneogr. 2. 

4) Milowsoroff, Die Neutral. d. sauren Inhaltes im Magen und Dünndarm. 
Zentralbl. f. inn. Med. 1915, Nr. 19. 


Z. f. klin. Medizin. Bd. 100. 10 





146 E. Woenckhaus: 


dann muß aus den Chloriden dieser Flüssigkeit die Salzsäure abgespalten 
werden. Die Chloride stammen aus dem Blute. Gewöhnlich verfügt 
der Mensch über einen Überfluß an Kochsalz, Veil!) spricht geradezu von 
einer Kochsalzplethora. Den Magendrüsen steht also genügend Material 
zur Verfügung, Salzsäure in erhöhtem Maße zu produzieren. Jede 
geschwürige Veränderung im Magen ist gleichzeitig-mit einer Sekretions- 
neurose verbunden, die Magendrüsen befinden sich also beim Ulcus in 
einer krankhaft erhöhten Funktionsbereitschaft. Inwieweit der Gesamt- 
chlorwert bei Magenkrankheiten nichtgeschwüriger Art verändert ist, 
konnte ich nicht entscheiden, da mir nur zu wenig einwandfrei gesicherte 
Fälle hierfür zur Verfügung standen. Bei den Magenneurosen, der 
Gastritis acida, mit vermehrter Säureabscheidung ist die Erhöhung der 
Chlorwerte ebenfalls zu erwarten. Über die toxische Einwirkung des 
Nicotins und seiner Oxydationsprodukte auf den nervösen Sekretions- 
mechanismus des Magens hat Skaller?) Untersuchungen angestellt und 
Supersekretion experimentell erzeugt. Ob die hohen Chlorwerte der 
Fälle 5 und 8 in den vorhin angedeuteten Möglichkeiten zu suchen ist, 
bleibt zunächst dahingestellt. 


YI 

Mit gleich großem Interesse bestimmte ich die Gesamtchlorwerte 
bei Magencarcinom, bei dem ja fast immer eine Verminderung oder ein 
Fehlen der Salzsäure gefunden wird. Hierüber liegt eine ältere, ein- 
gehende Arbeit von Reissner?) vor. Dieser hatte beim Magenkrebs neben 
der Salzsäure die fixen und flüchtigen Chloride bestimmt. Er fand die 
Chlormenge beim Magencarcinom nicht vermindert und kam, entgegen 
der Meinung, daß es sich um eine verminderte Abscheidung von Salzsäure 
handele, zu der Ansicht, daß der Magen zwar Salzsäure in genügender 
Menge abscheide, daß aber ein großer Teil derselben sofort von basischen, 
nicht eiweißhaltigen Körpern mit Beschlag belegt werde. Er glaubt, daß 
diese Körper fixe Alkalien aus dem Geschwulstsaft sind, welche von der 


Oberfläche des Magenkrebses abgesondert werden. Vor kurzem fand 


Wiener*) nach dem üblichen Probefrühstück beim Magenkrebs auffallend 
hohe Chlorwerte. Dieser Befund erschien ihm so ausgesprochen, daßerihn 
differentialdiagnostisch gegenüber benignen Anaciditäten verwenden will. 

Leider standen mir nur einige Fälle mit Magencarcinom zur Verfügung. 
Bemerken möchte ich noch vorweg, daß regelmäßig am Abend vor dem 

1) Veil, Biochem. Zeitschr. 91. 1918. 

2) Skaller, Zur Pathologie der Supersecretio nicotina. Zentralbl. f. inn. Med. 
1914, Nr. 28. 

3) Reissner, Über das Verhalten des Chlors im Magen und die Ursache des 
HCl-Mangels beim Magenkrebs. Zentralbl. f. inn. Med. 44. 1902. 

#) Wiener, Das Gesamtchlor des Mageninhaltes als diagnostisches Kriterium. 
Arch. f. Verdauungskrankh. 30, H. 5/6. Nach dem Referat in der Münch. med. 
Wochenschr. 1923, Nr. 22, S. 718. 





Zur funktionellen Magendiagnostik. 147 


zu gebenden Probetrunk der Magen mit mehreren Litern Wasser so lange 
gespült wurde, bis die Flüssigkeit vollkommen klar zurückfloß. Jeder 
Magensaft mit Speiseresten wurde verworfen. Auf diese Bedingungen 
möchte ich noch ganz besonders hinweisen, da wir es ja nur mit ganz 
geringen Mengen von Chlor zu tun haben, so daß Spuren von Speiseresten 
die Ergebnisse ganz wesentlich verschieben können. 


Tabelle VIII. Alkoholprobetrunk. 


























Nr. Diagnose ! Beyeomerte j Clg-% 
freie HCl | Ges.-Acid. 

1. F. 0' Großes Ca., gut | Br | EA 0,0792 
palpabel 

2.| L. J' Großer Pankreas- rn En 0,1 
tumor 

3.| 8. 2 Carc. d. card. in- +'8 +13 0,138 
cipiens + 14 + 16 0,11 





Öperierte Fälle. 

















Nr. Diagnose | Salzsäure Clg-% Operationsbefund 
4.| M. o' Ule. vent. —5 +38 | 0,0928 In Hintergrund d. Magens 
| permag. ca. mannhandtellergr. Geschwür 


| mit etwa 2cm hohem, wall- 
artig. Rande, dem Pankreas- 
schwanz fest aufsitzend u. 
fast bis an .d. Pyl.d. kl. Kur- 
vatur reichend. Pyl. gut £. 
Daumen durchgäng. Mehr. 
markig geschwollene Drüsen 
entlang gr. u. kl. Kurvatur. 
5.| J. J' Ule. ca. curvw.| —6 +2 10,12 |Nach Durchtrennung der Rec- 
| min. 14.V1l. 23. tusscheide kommt man auf 
'ödemat. Gewebe. Magen in- 
talergr. Bezirk mit vorderer 
Bauchwand verwachsen. An 
kl. Kurvatur kindshand- 
tellergr. Geschwür mit auf- 
geworfenem, hartem, wall- 
art. Rande. Drüsen in Um- 
geb. etwas geschwollen, nicht 
bes. derb. Pyl. frei durch- 




















gängig. 
6.| H. 0" Care. curv. mi- +3 +4 0,0284 |In der Mitte d. kl. Kurvatur 
noris. 13. VI. 23. ein gut pfirsichgroßer, hök- 


keriger Tumor, der das kl. 
Netz heranzieht. Die benach- 
barten Lymphdrüsen stark 
geschwollen, vergrößert, aber 
verhältnismäßig weich. Auch 
im gr. Netz vergr. geschwol- 
lene Drüsen. 


10* 








148 E. Woenckhaus: 


Diese niedrigen Werte überraschten. Nach den vorher angeführten 
Arbeiten hatte ich höhere Zahlen erwartet. Es dürfte keinem Zweifel 
unterliegen, daß Alkohol und Wasser einen sekretorischen Reiz ausüben, 
immerhin konnte mir der Einwand gemacht werden, daß bei diesen 
schweren, organischen Magenveränderungen mit dem Probetrunk kein 
Reiz mehr gesetzt wurde, sondern lediglich ein Abspülen der Magen- 
wände ausgeführt wurde. Deshalb spülte ich in Fall 3 mit 300 ccm einer 
5proz. Alkohollösung durch Heben und Senken des Trichters den Magen 
mehrere Male aus. Der so in dieser Spülflüssigkeit bestimmte Chlorgehalt 
betrug 0,018% und war also ganz wesentlich niedriger als die nach 20 Mi- | 
nuten gewonnenen Chlorwerte, welche im Mittel 0,09 g % betrugen. | 

An Hand dieser Ergebnisse muß also der Schluß gezogen werden, | 
daß, falls der Magen wirklich von Speiseresten frei ist, die nach einem | 
chlorfreien Probetrunk wiedergefundenen Gesamtchlorwerte beim Car- ' 
cinom sicher nicht höher sind als beim Magengesunden. | 

Bei der Durchsicht der Literatur fand ich nur eine gleichlautende | 
Angabe. Grund!) prüfte das fest gebundene Chlor im Magen bei Carcinom, | 
er kam zu der Ansicht, daß eine Insuffizienz der Chlorsekretion besteht. | 
Nach den experimentellen Arbeiten von Rosemann?) sinkt bei Versuchs- ) 
hunden im Hungerzustand bei Abnahme des Körpergewichtes die | 
Magensaftmenge. Wenn der Chlorvorrat des Körpers unter ein gewisses | 
Maß herabgeht (15—29%), sistiert die Salzsäureproduktion im Magen 
vollkommen. Interessant sind die Feststellungen von Leist und 
Weltmann?), welche bei hydropischen Prozessen auffallend oft Sub- und ' 
Anaciditäten fanden. Sie glauben, hierfür die Chlorretention im 
Organismus anschuldigen zu müssen. 

Der Krebs geht fast immer mit einer Reduktion des Körpergewichtes 
einher. Vielleicht ist dieses eine der Bedingungen der Chlorverminderung. 
Im Fall 2 obiger Tabelle handelt es sich um einen malignen Tumor | 
außerhalb des Magens, der auf die Magenwand übergegriffen hatte. 
Da das Mageninnere noch nicht ulceriert war, müssen hier die geringen 
Säure- und Chlorwerte allein in diesem Sinne ihre Erklärung finden. 

Auch andere nicht vom Magen ausgehende Ursachen können die 
Salzsäuresekretion herabsetzen. Hohlweg*) fand diese Verminderung 
bei Erkrankungen und nach Exstirpation der Gallenblase. Grünfelder>) 


1) Grund, Über das fest gebundene Chlor im Magensaft, speziell bei Magen- 
carcinom. Dtsch. Arch. f. klin. Med. 104, 560. 

”) Rosemann, Pflügers Archiv f. d. ges. Physiol. 142. 1911. | 

3) Leist und Weltmann, Zur Path. d. Magensekr. Wien. Arch. f. inn. Med. 2. 

4) Hohlweg, Über Störung d. HCl-Abscheidung d. Magens bei Erkrank. u. n. 
Exstirpation d. Gallenbl. Dtsch. Arch. f. klin. Med. 108. 

°) Grünfelder, Die Beeinfl. d. Magensaftsekr. durch Infektion u. deren Folgen 
auf die Magen-Darmstörungen d. Säuglings. Zeitschr. f. exp. Pathol. u. Therapie 
16, H.1. 1914. 














Zur funktionellen Magendiagnostik. 149 


kam auf Grund von Versuchen am Pawlowschen Blindsackmagen zu 
dem Ergebnis, daß durch akute Infektionen eine Verlangsamung der 
Magensaftabsonderung einsetzt. Dabei beobachtete er bei hohem Fieber 
eine auffallende Verminderung des Gehaltes an freier Salzsäure. Fischer!) 
stellte ebenfalls am Magenblindsackhund Versuche über die Beeinflussung 
äußerer allgemeiner und lokaler Wärmeapplikation an. Er fand jedesmal 
eine Abnahme der Menge des Magensaftes und eine Verminderung der 
Salzsäureproduktion. Die Röntgenstrahlen setzen nach Wachter?) und 
Bruegel?) ebenfalls die Salzsäuresekretion herab. 

Bei den Krankheiten der Gallenblase konnte ich keine Verminderung 
des Chlorspiegels feststellen. Der Übersicht halber gebe ich diese Fälle 
aus den einzelnen Tabellen hierunter gesondert wieder. 


Tabelle IX. 























| Nr. | Diagnose Säurewerte Clg-% 
Tab.I | 8.| Kr. Q Choleeyst. |+16 +17| 0,09 
Tab. III | 3.| Kr. 0 Cholecyst. TEEN 0TL2E 
Tab. III | 6. B. © ‚Cholecyst. +19 %-+11|0 0,15 
HABSIV 2, RK Cholecyst. + 7 .+ 9| 0,13 
Tab. IV || 13. Kar Cholecyst. +9 +11 0,084 
Tab v.’112; B. © Cholecyst. EiaT swrAST 0,16 
Tab. V | 19. L. & Cholelith. +9 +33 0,113 








Der Mittelwert der Gesamtchlormengen bei diesen Fällen beträgt 
0,12 g % und liegt nur etwas unter den Grenzwerten für Magengesunde. 
Es scheint mir viel wahrscheinlicher, daß die Salzsäure wohl in den 
"Magen ausgeschieden wird, durch die Erkrankung an dem Gallengangs- 
system aber ein vermehrter Rückfluß von Darmsaft in den Magen 
erfolgt. Hierdurch würde die Säure neutralisiert, so daß bei der Aus- 
heberung eine Anacidität gefunden wird, die Chlormengen aber in 
normaler Menge vorhanden sind. 

Die perniziöse Anämie ist immer mit einer Achylie vergesellschaftet, 
nach Martius und seinem Schüler Weinberg?) leitet sie das Krankheitsbild 
ein. Bei der histologischen Untersuchung der Magenschleimhaut wird 
meist eine mehr oder minder ausgedehnte Atrophie gefunden. Mir 
standen in der letzten Zeit nur zwei Fälle echter perniziöser Anämie zur 
Verfügung. 

1) Fischer, Zur Frage d. Beeinfl. d. sekretor. Magenfunktion durch äußere 


allgemeine und lokale Wärmeanwendungen. Schweizer med. Wochenschr. 1920, 
Nr. 50. 

?) Wachter, Der Einfluß der Röntgenstrahlen auf die Magensekretion. Strahlen- 
therapie 12, H. 2; Zentralbl. f. inn. Med. 1921, 49. 

2) Bruegel, Die Beeinflussung des Magenchemismus durch Röntgenstrahlen. 
Münch. med. Wochenschr. 1916, Nr. 19. 

#) Weinberg, Dtsch. Arch. 126, 447. 1918. 


150 E. Woenckhaus: Zur funktionellen Magendiaenostik. 


Tabelle X. Alkoholprobetrunk. 





























Nr. Diagnose mus b Clg-% 
j freie HCI | Ges.-Acid. 

1.! G. 2 permiz. Anämie ud a: 0,009 

2. J. © perniz. Anämie — 15 ze 0,101 





Wie zu erwarten stand, waren die Chlorwerte niedrig. 


Zusammenfassung. 


1. Chlorfreier Alkohol- und Wasserprobetrunk sind zur Bestimmung 
des Gesamtchlors im Magensaft geeignet. | 

2. Gallenrückfluß oder retinierte Speisereste machen den gewonnenen 
Saft zur Bestimmung ungeeignet. 

3. Die unter diesen Bedingungen erhaltenen Gesamtchlorwerte sind 
sehr konstant. 

4. Nach Verabreichung von 300 ccm einer 5proz. Alkohollösung in 
destilliertem Wasser wird beim Gesunden ein Magensaft ausgehebert, 
welcher im Mittel 0,11 g % Gesamtchlor enthält. 

5. Beim Magengeschwür sind die so im Magensaft gewonnenen 
Chlorwerte erhöht, im Mittel auf 0,20 g %. Dieser Befund ist viel aus- 
gesprochener und konstanter als die Säurewerte und ein wertvolles 
diagnostisches Hilfsmittel zur Differentialdiagnose der Magenkrank- 
heiten. | 

6. Beim Magencarcinom sind die Gesamtchlorwerte sicher nicht 
erhöht, sie liegen eher an der unteren Normalgrenze, und waren im 
Mittel 0,09%. 

7. Bei Erkrankungen am Gallengangssystem tritt keine Verschiebung 
des Chlorspiegels im Magensaft auf. 

8. Bei perniziöser Anämie liegen die Gesamtchlorwerte an der unteren 
Normalgrenze, sie sind im Mittel 0,10 g %. 











Sog. vitaminfreie Ernährung bei gesunden Menschen, nebst 
einigen kritischen Bemerkungen über Unterernährung. 
Von 


Dr. 6. Shinoda. 


(Aus der Med. Klinik von Prof. Irisawa der Medizinischen Fakultät der Kaiserlichen 
Universität zu Tokio.) 


(Eingegangen am 12. Januar 1924.) 


Die den ersten Teil des Themas betreffende Arbeit wurde schon im 
Oktober 1922 bei der Japanischen Beri-Beri-Studienkommission und 
Tokyo-Igaku-Kai als erste Mitteilung mit Sakamoto, Nishikata und Hosoya 
veröffentlicht (zwei Fälle) und im April dieses Jahres auf dem Japanischen 
Kongreß für innere Medizin eine umfangreiche zweite (drei Fälle). 

Über die Entstehung der Menschen-Beri-Beri ist seit langen Zeiten 
bekannt, daß besonders die Völker von ihr befallen werden, die vorzugs- 
weise polierten Reis, Sago und Tapioka als Hauptnahrung genießen. 
Innige Beziehungen zwischen Reis und Beri-Beri wurden schon von 
Wernich!) (1874) und van Leent?) (1880) behauptet. Takakı?) (1880 bis 
1890) wies nach, daß bei teilweiser Ersetzung der Reisnahrung durch 
Gerste, Brot, Fisch und Fleisch die Beri-Beri-Krankheit in der japanischen 
Marine zurückging; auch in der Armee wurde nach allmählicher Ver- 
besserung der Nahrung diese Beobachtung gemacht. Im Jahre 1897 
stellte Eykmant), der die Polyneuritis gallinarum zuerst untersucht hat, 
_ zusammen mit Vorderman?) gleichzeitig Ernährungsversuche mit z. T. 
vollständig, z. T. unvollständig poliertem Reis in Gefängnissen Nieder- 
ländisch-Indiensan. Es ergaben sich folgende Resultate: Beri-Beri-Kranke 
bei poliertem Reis 2,79% ; Beri-Beri-Kranke bei unpoliertem Reis 0,009%. 

Braddon®) bemerkte, daß auf den Malaiischen Inseln die Chinesen, 
die sich vorwiegend von poliertem Reis nähren, weit häufiger von Beri- 
Beri befallen wurden als die auf derselben Insel lebenden Tamilen, die 
den Reis als gedämpften Reis zu sich nehmen. 

Fletcher”) (1905—06) machte an den Irrenanstalten auf den Malaiischen 
Inseln auch vergleichende Versuche zwischen poliertem und unpoliertem 
Reis mit folgenden Resultaten: 








Versuchs- | Morbidität | Mortalität 








personen 
polierter Reis 120 36 18 
unpolierter Reis 123 2 (diese — 
waren schon 
bei der Auf- 











nahme krank) 


152 G. Shinoda : Sog. vitaminfreie Ernährung bei gesunden Menschen, 


Lucy auf den Malaiischen Inseln und Dubruel in Indochina berichten 
ähnlich. 

Fraser®) macht in Niederländisch-Indien an gesunden Arbeitern Ver- 
suche mit geschältem und gedämpftem Reis und hatte diese Resultate: 











| Personen | kant 


geschält | 220 20 
gedämpft || 275 








Ellis’) (1901 —1907) sagte nach Versuchen am Irrenhaus von Singa- 
pore, daß gedämpfter Reis prophylaktisch gegen Beri-Beri wirke. 

Chamberlain!®) (1908—1912) fand auf den Philippinen bei Soldaten 
nach Verbesserung der Nahrung (durch Zusatz von Bohnen, unpoliertem 
Reis) ohne gleichzeitige Änderung der hygienischen Zustände: 























| perrankte | Mortalität 
1908-1909 | 614 | 4,35), 
1910 50 | 0,55%, 
1911—1912 ||2 oder 3 | 0 


Die Besserung der Nahrung setzte im Jahre 1910 ein. 

Bei Heiser!!) in der Kulion-Lepra-Colony waren nach Ersetzung 
des polierten Reis durch unpolierten (ohne gleichzeitige hygienische 
Verbesserungen) die Erkrankungen an Beri-Beri bzw. Todesfälle durch 
sie viel geringer: 

—€— ee —_—_ 

| Gestorben 
1. II 1909 bis 28. II. 1910 | 329 
1 1V.71910 628231. 22.1971 | — 











Highet!2), Huot!3), Liesegang!%), Marty‘), Munday!), Schüffner!?), 
Kuenen, Primet!8) u.a. berichten in ähnlicher Weise. 

Nachdem Takaki in Japan zu dem bereits oben zitierten Ergebnis 
gelangt war, fand sich in der Marine!®) nach weiterer Ersetzung des 
polierten Reis in der Nahrung durch Gerste, Brot, Fleisch, Gemüse 
folgendes: 





| Morbidität | Mortalität 


18781884 | 300%/0 | 36%, 
18851892 | 0,9%, | fast 0 








Auch nach Nahrungsänderung bei der Armee??) in der Form, daß 
Gerste und polierter Reis im Verhältnis einmal 4:6 und weiter 3.27 
gegeben wurden, ließ sich folgende auffällige Tatsache feststellen: 








| Morbidität | Mortalität 








nebst einigen kritischen Bemerkungen über Unterernährung. 








1884 (Reisnahrung) | 236,7% 45 | 6,0%, 





| Morbidität | Mortalität 








1891—1893 | 2:30 | 0,047 0/,, 

















153 


1884 Nahrungsbesserung bei einzelnen Regimentern, 1891 bei 
sämtlichen Regimentern. 


Während einiger Jahre (1910—1912) nahmen Inoue?!), Tsuzukı?'), 
Inada2!), Shibayama?!) und Makita?) im Auftrage der Japanischen 
Beri-Beri-Studienkommission in verschiedenen Gegenden, sowohl an 
Bergarbeitern wie auch an Fischern Ernährungsversuche vor. 
gaben vergleichsweise polierten Reis, Gerste und Jukumai (gedämpfter 
Reis). Die Resultate sind in folgender Tafel zusammengestellt: 


Sie 















































ba Re er = fe! a 
| EEFIEPEIREGEIERE as| 338 
-3Elom4 3532713241988 2 
a) Datum b) Forscher | ec) Gegenden | 355 34 E Pr Fa: E ki 55 = = E 
S28 sa ats ARE 88. Als 
| = alssdsl.salssg| Das 
Page) a) © er & Kun 
| 1910 
IV.—31.X. Inoue Tadakuma 98 — 98 1 89 8 
Kohlen- 
bergwerk 
1910 | 
| IV.—X. Tsuzuki Yubari 92 1 86 24 
Karachi 110 B) 76 9 
| 1911 
| IV.—31.X. Inada Tadakuma 100 5 100 4 100 7 
BE Shibayama Yubari { g | { 103 | n N er | - 
VL—30.IX.| Makita Jukukura- 59 2 66 6 58 8 
shina, Fischer- 
dorf 
1912 
VL—10.X.| Makita | Jukukura- 37l 12 352 17 
'shina,Fischer- 
dorf | 
sammen | | 982 20(2%)| 477 |194%)| 1062 |80 (7,7%) 


Wie aus der Tafel ersichtlich ist, scheinen Jukumai und Gerste mit 

Reis prophylaktisch gegen Beri-Beri zu wirken, aber bevor nicht 
folgendes berücksichtigt wird, dürfen keine entschiedenen Schluß- 

| folgerungen aus den Zahlen allein gezogen werden: 


154 G. Shinoda: Sog. vitaminfreie Ernährung bei gesunden Menschen, 


1. Auch bei alleiniger (polierter) Reisnahrung entstanden nur wenig 
Beri-Beri-Erkrankungen, welche noch dazu nur leichte Fälle waren. 
2. Es wurde ganz allgemein wenig die Zuspeise von den Forschern 
berücksichtigt. 3. Der Vitamingehalt der einzelnen Nahrungsmittel 
war zu jener Zeit wenig bekannt. 

Andere japanische Autoren [Okasakı??), Shiga-Teruuchi?), Sato**), 
Inagakı?), Toyama?), Fujri?), Tasawa?”) usw.] studierten ebenfalls den 
Zusammenhang zwischen Nahrung und Entstehung der Beri-Beri- 
Krankheit und sagten, daß 1. Gerste und Jukumai prophylaktisch gegen 
Beri-Beri wirkten, 2.mit Gebrauch der Poliermaschinen die Erkrankungen 
an Beri-Beri zunahmen. 

Nach Taäasawa, Sarto und Sagakibara?) (1919—1920) kann der 
Gebrauch des wässerigen Kleieextraktes den Ausbruch der Krankheit 
verhindern. 

Hehir?°) (1917) berichtete, daß in diesem Kriege bei den englischen 
Truppen in Kut-el-Amara bei Ernährung durch Pferdefleisch, Büchsen- 
fleisch, Weißmehl nach 4!/, Monaten viele Fälle von Beri-Beri vorkamen. 

Riddel, Smith und /gravidez?!) (1919) teilten mit, daß bei den ameri- 
kanischen Truppen in Portorico durch ausschließlichen Genuß von 
poliertem Reis, Vegetabilien, Büchsenfleisch nach drei Monaten Fälle 
von Beri-Beri auftraten. 

Außer den aufgezählten Angaben über Massenversuche muß man 
die systematischen Studien an einzelnen Individuen berücksichtigen. 

Casparı und Moszkowski3?) (1911—1912) taten folgendes: der eine 
von ihnen (Moszkowski) nahm über 200 Tage lang unter völligem Aus- 
schluß von Fleisch, Eiern, Käse als Hauptnahrung polierten Reis, als 
Zuspeise vegetabilische Kost zu sich. (Über diese Nahrung sagt Funk, 
daß sie entsprechend unseren heutigen Kenntnissen nicht ganz vitamin- 
frei gewesen sei.) Casparı fand bei Moszkowskis Untersuchung diese 
Symptome: 

Appetitlosigkeit, Verstopfung und allgemeine Mattigkeit, danach 
Vollgefühl in der Magengegend mit häufigem Aufstoßen. Mit Zunahme 


dieser Beschwerden entstanden Parästhesien an den Waden und an den - 


Fußsohlen. Gleichzeitig Kopfschmerz und Schwindelgefühl, Druck- 
schmerz besonders am inneren Kopf des M. gastrocnemius. Nach 
1!/, Monaten stellte sich Präkordialangst ein und zunehmende Labilität 
des Pulses. Das Herz war noch normal, doch bestanden schon leichte 
Ödeme an den Füßen. Er klagte dann über allgemeine wandernde 
Nervenschmerzen und äußerst schmerzhafte Ergüsse in den Sehnen- 
scheiden an Hand und Kniegelenk; Kniegelenk war schlotternd, 
Patellar- und Achillessehnenreflex besonders gesteigert, die aber auch hier 
niemals zum Verschwinden kamen. Nach zwei Monaten folgender Herz- 
befund: Geringe Dilatation nach rechts und links (letztere bis 2cm 











En TEE EEE 


nebst einigen kritischen Bemerkungen über Unterernährung. 155 


außerhalb der Mamillarlinie),, Zwerchfellhochstand, Töne leise, der 
1.Ton an der Spitze unrein, 2. Pulmonalton akzentuiert. Körper- 
gewicht nahm anfangs zu, während die N-Bilanz negativ wurde. Bei 
Zugabe von Orymalt (vitaminhaltiges Präparat) verschwanden die 
Ödeme und nahm die N-Ausscheidung zu; der vorher herabgesetzte 
Gebrauch an O, nahm zu. | 

Aus all diesen Symptomen konnte man praktisch genommen eine 
Beri-Beri diagnostizieren, aber es war noch nicht die Identität mit der 
echten Menschen-Beri-Beri sichergestellt. Der Mangel an motorischen 
Störungen und das Vorhandensein von Ergüssen und dem Lasequeschen 
Symptom sprachen nicht unbedingt für Beri-Beri. Auch Baelz gab keine 
zustimmende Antwort. 

Strong und Crowell??) (1912) nahmen Untersuchungen an 29 Sträf- 
lingen, eingeteilt in 4 Gruppen, vor, unter hygienischen Vorsichts- 
maßnahmen. Als Nahrung gaben sie Reis, Speck oder Fett, Zwiebeln, 
Bananen, Zucker und Brot. 




















E 3 5 E) te 
2 2 2 Beri-Beri-Symptome Zeigende BER 
DR S K: nahme 
1. Gruppe. Geschliffener || 6 4 | 2 Frühsympt. von Beri-Beri | 3,94 kg 
Reis u. Reiskleieextrakt | 
2. Gruppe. Geschliffener | 6 | — | 4 typische Symptome, 2Früh- | 4,4 kg 
Reis symptome | 
3. Gruppe. Ungeschliffener | 6 4 | 1 ziemlich ausgesprochenes 4,1 kg 
Reis bzw. geschliffener Beri-Beri-Symptom 
Reis und Reiskleie 1 nur leichte kardiale Stö- 
rung 
4. Gruppe. (eschliffener | 11 3 | 4 typ. Beri-Beri, 1 deutliche 3,3 kg 
Reis Ödeme an Gesicht und Bei- 
nen, kardiale Störungen bis | 
zum Kollaps. 2 Frühsym- | 
ptome. 1 zweifelhaftes Beri- 
Beri-Symptom. | 














Die Versuchsdauer betrug je nach der Gruppe 570—117 Tage. 
Auffällig war, daß Begleitsymptome der typisch Beri-Beri-Kranken 
(Appetitlosigkeit nach längerem Genuß von Reiskost, allgemeine 
Schwäche, Erosionen an den Lippen und Mundwinkeln, zuweilen Er- 
brechen) sich auch bei denjenigen zeigten, die keine Beri-Beri-Symptome 
aufwiesen. 

In dem vorstehenden Versuch kann man nicht nur einen Mangel an 
Vitaminen, sondern auch einen Kohlenhydratüberschuß in der Nahrung 


156 @. Shinoda: Sog. vitaminfreie Ernährung bei gesunden Menschen, 


annehmen, in bezug auf den Eiweiß-, Fett- und Salzgehalt kann man 
nicht beurteilen, ob es genügend ist. Die starken Gewichtsabnahmen 
bei allen und der Sektionsbefund des im Kollaps zugrunde gegangenen 
(allgemeine Atrophie der Organe, keine deutliche Herzhypertrophie) 
sprechen für die Unzulänglichkeit der Nahrungszusammensetzung, auch 
wenn man von dem Vitaminmangel absieht. Noch folgendes ist zu 
berücksichtigen: Sowohl in Gruppe 1 wie in Gruppe 3 sind noch je 
2 Personen erkrankt (wenn auch leicht), trotzdem die Nahrung vitamin- 
haltig zu sein scheint. 

Es ist aber zu bedenken, daß die Reiskleie mit Alec. abs. extrahiert 
worden, mithin wenig vitaminhaltig ist und so vielleicht die beiden 
Erkrankungen in Gruppe 1 zu erklären sind. Aber die Tatsache, daß 
auch in Gruppe 3 zwei Erkrankungen erfolgten, ist durchaus bemerkens- 
wert; man kann noch nicht sagen, daß das allein auf dem Vitaminmangel 
beruht, denn diese leichten Beri-Beri-Symptome könnten auch durch die 
Unvollständigkeit der Nahrung, trotz des Vitamingehaltes, entstanden sein, 
wie ich später genauer in der Differentialdiagnose erörtern werde. 
Aus den oben angeführten zahlreichen Versuchen‘ der einzelnen Autoren 
geht wohl hervor, daß man mit unvollständig zusammengesetzter Nahrung 
(Reis als Hauptnahrung kann nach den heutigen Kenntnissen Vitamin- 
mangel bedeuten!) wohl künstlich einen Beri-Beri erzeugen kann, noch 
nicht aber, daß die echte Ätiologie der Beri-Beri allein der Vitaminmangel 
der Nahrung ist. 

Nur einen negativ ausgefallenen Versuch kann ich anführen, den- 
jenigen von Fraga?*) in Brasilien (1919). Er ernährte 9 Personen 43 Tage 
lang mit sterilisiertem Reis und sterilisierten Bohnen und konnte 


keinerlei Beri-Beri-Symptome feststellen. Dazu ist zu sagen: Die | 


Negativität allein beweist nichts, weil 1. die Dauer von 43 Tagen zu 
kurz ist, 2. nicht sicher ist, ob die durch die Sterilisation angestrebte 
Vernichtung des Vitamins eine vollkommene ist. 

Andererseits ist bekannt, daß Kleieextrakt (überhaupt Vitamin- 
präparate) sehr wirksam von vielen Autoren schon lange in der Therapie 
der Beri-Beri verwandt worden ist. Unsere Klinik von Irisawa®) be- 
hauptet seit 1917 die Wirksamkeit des Kleieextraktes gegen Beri-Beri 
und die Mitarbeiter der Klinik haben jährlich bis heute systematisch 
ihre Erfahrungen über die Beziehungen zwischen Kleieextrakt und 
Beri-Beri veröffentlicht. Sie kamen zu folgendem Resultate: /. Reis- 
kleveextrakt wirkt spezifisch gegen Beri-Beri, 2. Reiskleieextrakt wirkt 
prophylaktisch gegen Beri-Beri. 3. Die Beri-Beri-Erscheinungen ver- 
schlimmern sich noch bei Darreichung von absichtlich vitaminlos gemachter 
Nahrung. 

Bei Fütterungsversuchen an Hunden, die ich?#) früher unter der 
Leitung von Hayashi anstellte, fand ich, daß nach gemischter vitamin- 





er 


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nebst einigen kritischen Bemerkungen über Unterernährung. 157 


freier Nahrung auch bei Hunden deutlich ähnliche Kreislaufstörungen 
auftraten, wie sie bei der Menschen-Beri-Beri beobachtet werden. Darauf 
führte ich mit Sakamoto?”), Nishikata, Hosoya und Tadenuma in der 
Klinik von /risawa unter denselben Prinzipien die gleichen Ernährungs- 
versuche an gesunden Menschen aus. 

Gleichzeitig mit meinen Tierversuchen veröffentlichten Omori?®) 
und seine Mitarbeiter die Ergebnisse ihrer Versuche mit vitaminloser 
Nahrung an gesunden Menschen. Er gab 2 (später gleichzeitig mit 
meinem Versuche noch 3) Personen polierten Reis, Büchsenfisch (Katsuo), 
Kopfsalat, Bananen für die Dauer von 8—40 Tagen und fand folgende 
Symptome: Zuerst allgemeine Mattigkeit und Appetitlosigkeit, die sich 
bis zur Nahrungsverweigerung steigerte, häufiges Erbrechen. Schon 
nach ca. 10 Tagen trat Hypästhesie an den Waden auf, die sich auf die 
untere Bauchgegend verbreiterte. Pulslabilität und Palpitetio cordis, 
Druckempfindlichkeit der Wadenmuskeln, Schlotterknie. Am Herzen 
Töne unrein, 2. Pulmonalton akzentuiert, geringe Herzdilatation, 
Blutdruck herabgesetzt. Kniereflex abgeschwächt. Auf Grund dieser 
Symptome behauptete Omori, 1. eine echte Beri-Beri hervorgerufen zu 
haben, 2. daß die echte Ätiologie der Beri-Beri einfach die vitaminfreie 
Nahrung wäre. 

Gemäß den älteren Literaturangaben kann man annehmen, daß 
bei gesunden Menschen nach unvollständiger Nahrung Beri-Beri-ähnliche 
Symptome auftreten können. Aber nach meiner Meinung ist nicht sicher 
zu entscheiden, ob die Unvollständigkeit der Nahrung allein identisch mit 
Vitaminmangel vst, oder ob nicht die Unvollständigkeit noch andere Ent- 
stehungsmöglichkeiten einer Beri-Beri bzw. dieser ähnlichen Symptome 
in sich birgt. Die oben beschriebenen Beri-Beri-ähnlichen Symptome sind 
leider zu wenig eindeutig, um die entsprechenden Fälle ohme weiteres als 
Beri-Beri ansprechen zu können, da die motorischen und Kreislaufs- 
störungen, bei der echten Beri-Beri durchaus charakteristisch, in diesen 
Fällen mangelhaft ausgebildet sind. Die bei leichten und mittelschweren 
Beri-Beri-Fällen beobachteten Symptome können auch bei anderen 
Krankheiten auftreten, z.B. Noordensche enterogene Polyneuritis, 
Ödemkrankheit und Mehlnährschaden, Schiffs-Beri-Beri (die Fälle ohne 
skorbutische Erscheinungen) u. a. Um also eine künstlich bei gesunden 
Menschen erzeugte Beri-Beri als echte zu bezeichnen, muß man nach 
genauer umschriebenen Beri-Beri-spezifischen Symptomen suchen. Die 
in den beschriebenen Versuchen befolgten Methoden kann man nicht als 
geeignete bezeichnen, weil sie mit Bintönigkeit der Nahrung und zwangs- 
weiser Fütterung einhergehen. 

Mit Berücksichtigung dieser Punkte stellte ich meine eigenen Ver- 
suche unter Beachtung folgender Prinzipien an: 1. Vermeidung der 
Eintönigkeit der Nahrung mit dadurch bedingter Appetitlosigkeit, 2. Vitamin- 


158 6. Shinoda: Sog. vitaminfreie Ernährung bei gesunden Menschen, 


mangel der Nahrung, aber nicht völlige Vilaminlosigkeit, 3. längere Dauer 
der Versuche. In bezug auf die Nahrung sammelte ich möglichst viele 
japanische vitaminfreie Nahrungsmittel. Enthielten einige Mittel 
(Fisch, Fleisch, Gemüse) doch noch Vitamin, so suchte ich diese durch 
Zusatz von Natr. bicarbon. nach dreimaligem Kochen zu entfernen*). 
Die Speisefolge und Zusammensetzung wechselte täglich, wie folgende 


= Su 


Tafel zeigt: 








I. Probekost (Zuspeise). 



































Sonntag Montag Dienstag Mittwoch | Donnerstag Freitag Sonnabend 

Frühstück Misoshiru- Misosuppe | Misosuppe | Misosuppe | Misosuppe | Misosuppe | Misosuppe 

suppe mit |mit Rettich | mit Kürbis mit geröste-| mit Rettich |mit Wakame| mit Gurke 
Kürbis tem Seetang 
(Nori) 

Mittagessen | gedörrter gekochtes | gekochter Büchsen- Tsukudani | gedörrter gedörrter 
| Fisch Rindfleisch | Fisch(weißes| rindfleisch, (kleine Fisch Fisch ge- 
| Fischfleisch)| gekocht | Fische und kocht 
Muscheln 

mit Shoyu 
eingekocht) E 

Abendessen | Büchsen- gekochte Koyatofu | gesalzenes | Büchsen- gekochter | gekochte 
| lachs ge- Gurken mit getrock-, Fischfleisch| lachs ge- Agar Gurken 
| kocht netem Ge- gekocht gekocht (Konnyaku) 

müse (zen- 
mai)gekocht 























Nachtisch: Umeboshi (gesalzene Pflaume), gesalzene Gurke, gesalzener Rettich. 


Als Hauptnahrung wurde durch Maschinen möglichst rein polierter 
Reis gegeben. Der II. Probekost wurde im Gegensatz zur I. viel Fett, 
Eiweiß und das Vitamin A hinzugesetzt. Die angewandte Nahrung 
wurde stets durch gleichzeitige Verfütterung am Hunde als wenig 
vitaminhaltig befunden. Mit der I. Kost wurden zwei gesunde Personen 
von Juli bis Oktober (also Sommer bis Herbst) vorigen Jahres (1922) 
ernährt, mit der II. Kost eine gesunde Person von Februar bis April 
dieses Jahres (1923). | 

Von den Versuchsprotokollen, über die früher (siehe unsere Arbeit 
„Studien über Beriberi‘‘3”) genauer berichtet wurde, möchte ich hier 
nur zusammenfassend bemerken: 

Anfangssymptome: Sie sind je nach dem Fall nicht immer gleich. 
Bei Amano mit allgemeiner Mattigkeit und Schwergefühl in den unteren 
Extremitäten, bei Takuma und Koike mit erhöhter Pulsfrequenz und 
Pulslabilität beginnend. Die Inkubationszeit hängt ab von der per- 
sönlichen Disposition, von der Jahreszeit und von der Nahrung, aber 
es vergeht mehr als ein Monat, bis verschiedene Symptome zusammen 
hervortreten. 


*) Es ist nicht sicher, ob bei dieser Vernichtungsmethode nicht noch mehr 
als das Vitamin allein vernichtet wurde, es ist ferner fraglich, ob polierter Reis 
nur vitaminfrei ist. Daher die Überschrift: „‚Sog.‘“ vitaminfreie Ernährung. 








— 








——— | —hm— |1—— 





nebst einigen kritischen Bemerkungen über Unterernährung. 159 


1. Kreislaufstörungen: Labilität des Pulses, erhöhte Frequenz, 
vorübergehend Deutlicherwerden des Aschnerschen Phänomens und 
der respiratorischen Arrhythmie, welche Symptome auf Vagotonie hin- 


deuten. Schon früher wies ich3®) mit Omori darauf hin, daß man unter 


den leichten und mittelstarken Beri-Beri-Fällen viele Vagotoniker findet. 
Man konnte damals nicht entscheiden, ob die Vagotonie eine sekundäre 
Erscheinung der Erkrankung wäre oder ob Vagotoniker leichter zu 
Beri-Beri disponiert wären. Der maximale Blutdruck blieb in den drei 


. Fällen zu Anfang unverändert, um dann später zu sinken, während der 
"minimale Blutdruck bei allen dreien schon von Anfang an erheblich 


sank. Sowohl an der Femoral- wie auch an der Cubitalarterie sind die 
Töne leicht und deutlich hörbar, und durch die Auscultationsmethode 
ist es schwer möglich, den minimalen Druck zu messen. In der Puls- 
kurve, die mehrmals im Verlaufe des Ernährungsversuches aufgenommen 
wird, ist die Amplitude größer und die Rückstoßelevation deutlicher. 
Am Herzen findet sich außer einer Akzentuation des 2. Pulmonaltones 
Unreinheit sämtlicher Töne, besonders des 1. Tones über der Spitze, 
deutlich zwischen den Rippen sichtbare Undulation, subjektiv Palpitatio, 
besonders beim Laufen, und bei Amano Depression und Dyspnöe auch 
inder Ruhe. In zwei Fällen (Amano und Koike) wird durch Auscultation 
und Röntgendurchleuchtung eine Dilatation nach beiden Seiten fest- 
gestellt, die bei Amano besonders auffallend und sichergestellt ist durch 
den Vergleich der Photographie, die im Höhestadium der Krankheit 
und derjenigen, die im Heilungsverlaufe angefertigt worden ist. 

2. Motorische Störungen: Zuerst Schwergefühl in den unteren Extre- 
mitäten, bei langem Stehen Anschwellung derselben, Verhärtung und 
Schmerzhaftigkeit. Häufig bemerkt man Druckschmerz in den Waden, 


‚bei weiterem Verlauf Übergreifen des Druckschmerzes auch auf Ober- 
 schenkel und unteren Teil der Bauchdecken. Die Wadenmuskulatur ist 


selbst bei Ruhelage gespannt. Die Spannung läßt erst später nach, 
läßt aber Herde, die sich also härter als die Umgebung anfühlen, zurück. 
Kniereflex hat zuerst, entsprechend der Spannung der Beinmuskulatur, 
die Tendenz zur Steigerung, später zur Herabsetzung. Nur bei Amano 
wurde das vollständige Fehlen des Kniereflexes festgestellt. 

Der Gang kann natürlich bei der Schmerzhaftigkeit der Muskulatur 
gestört sein; aber mit solchen Störungen kann man noch nicht die 
typische Beri- Beri- Lähmung identifizieren. Bei einem Fall (Amano) 
konnte ich hochgradige motorische Störungen beobachten, nämlich 
schlaffe Lähmung der Beine, schlotternde Kniegelenke, beim Stehen 
Genu recurvatum, beim Gehen Neigung zum Fallen, ohne Stütze ist der 
Gang sehr erschwert. Zurück blieb eine mäßige Atrophie. 

3. Sensibilitätsstörungen: Beim Suchen nach Sensibilitätsstörungen 
muß man wegen einer möglichen Beeinflussung von seiten des Unter- 


160 €. Shinoda: Sog. vitaminfreie Ernährung bei gesunden Menschen, 


suchers sehr vorsichtig sein. Auf diese Weise konnten wir nur Störungen 
bei 2 Fällen konstatieren. Der Kranke klagt zuerst über Hypästhesie 
(Shibiregefühl) an den Unterschenkeln, von den Malleolen aufsteigend, 
die sich im weiteren Verlaufe auf den Oberschenkel, ja sogar bis auf 
den Rumpf bis über Nabelhöhe ausdehnen kann. Eine sichere Angabe 
über die Inkubationszeit der Sensibilitätsstörungen ist schwer zu 
geben, weil die Störungen ganz allmählich einsetzen. Bei Omoris®®) 
Fällen kamen Störungen schon nach 8—10 Tagen zum Ausbruch, bei 
unseren Fällen erst nach mehr als drei Wochen. Neuerdings berichtet 
die Klinik von Shimazono an der Universität Kioto, daß Sensibilitäts- 
störungen auch nach kurzer Zeit auftreten können. Nach den vor- 
stehenden Ergebnissen ist es ohne Frage, daß Sensibilitätsstörungen 
nach solchen Versuchen sich bemerkbar machen können. Nur ist noch 
nicht festgestellt, ob die echte Ätiologie der Störungen der Vitamin- 
mangel ist; man hat auch nach vitaminhaltiger Nahrung solche 
Störungen (leichten Grades) auftreten sehen. 

4. Zusammenhang zwischen avitaminotischer Nahrung und Appetit. 
Bei Tierversuchen ist es allbekannt, daß nach Zufuhr von vitaminarmer 
Nahrung. der Appetit sinkt, dagegen sich prompt wieder nach erneuter 
Darreichung von Vitamin hebt. Aber die Nahrungsverweigerung und 
Appetitlosigkeit bei der Avitaminose einfach auf den Vitaminmangel 
zurückführen zu wollen, wäre ungerechtfertigt. Eintönigkeit der 
Nahrung und Unnatürlichkeit in der Nahrungszufuhr bewirken leicht 
Nahrungsverweigerung, Nausea und Erbrechen. Solche Erscheinungen, 
die selten bei der natürlichen Entstehung einer Beri-Beri beobachtet 
werden, fanden sich häufig bei den früheren Versuchen der einzelnen 
Autoren. 

Die Beri- Beri-ähnlichen Symptome fanden sich sonst in früheren 
Versuchen erst nach Appetitlosigkeit usw., in auffallenden Fällen be- 
stand Nahrungsverweigerung neben einer Gier nach anderen Nahrungs- 
mitteln, z. B. beiOmori u.a. Hierfür muß man die Unvollkommenheit 


der Versuchsanordnung verantwortlich machen. Nun zu unserer An- 


ordnung (die bereits oben auseinandergesetzt worden ist). Unsere Ver- 
suchspersonen waren sich der Tatsache, daß sie zu einem Versuche 
gebraucht wurden, überhaupt nicht bewußt, und besonders bei 2 Fällen 
(Takuma und Koike) traten ohne die Verminderung des Appetits die 
verschiedenen Beri- Beri-Symptome auf. 

5. Körpergewicht und Ödem: In unseren 3 Fällen zeigte sich für 
die ganze Dauer des Versuches eine Gewichtszunahme, für die ich als 
Ursache 1. den bleibenden guten Appetit, 2. eine Ödembereitschaft 
annehmen möchte: Bei allen bestanden deutliche Ödeme (als Beispiel 
eine Photographie von Takuma), die nach Reiskleiezufuhr mit folgender 
vermehrter Harnausscheidung relativ rasch verschwanden, wobei dann 




















nebst einigen kritischen Bemerkungen über Unterernährung. 161 


auch das Körpergewicht wieder sank. Das Körpergewicht von Amano 
war zu diesem Zeitpunkt niedriger als vor dem Versuch. 

Differentialdiagnose: Folgende Krankheiten kommen in Betracht: 
1. Ödemkrankheit, 2. Mehlnährschaden, 3. Epidemic Dropsy, 4. ente- 
rogene Polyneuritis [Noorden?%)], 5. Schiffs-Beri-Beri, 6. chronischer 
Hunger oder allgemeine Unterernährung, 7. Beri-Beri. Ihre gegenseitige 
Abgrenzung ist fast nur bei typisch ausgebildeten Fällen möglich; bei 
leichteren Fällen ergeben sich große Schwierigkeiten wegen der vielen 
gemeinsamen Symptome, nämlich: Ödem, allgemeine Mattigkeit, 
Schwergefühl in den Beinen, Druckschmerz in den Beinmuskeln, 
Sensibilitätsstörungen (Hyp- und Parästhesien), Verdauungsstörungen, 
wie aus der beigefügten Tafel ersichtlich ist. Diese gemeinsamen Sym- 
ptome der angeführten Krankheiten kann man auf zweierlei Art erklären. 
1. ist zu bedenken, daß der Organismus auf verschiedene Momente stets 
in annähernd gleicher Weise reagieren kann, 2. ist für die gemeinsamen 
Symptome eine gemeinsame Ursache anzunehmen. 

Als für Beri-Beri ausschlaggebende Symptome sind vor allem zu werten 
die Kreislaufstörungen und die motorischen Lähmungen, mit deren Hilfe 
eine sichere Differentialdiagnose möglich ist. Bei den vielen schon oben 
beschriebenen Versuchen der Autoren zur Erzielung einer künstlichen 
Beri-Beri findet man auch nicht einen in der Literatur angeführt, bei 
dem diese beiden Kardinalsymptome gleichzeitig auffallend auf- 
getreten wären. 

- Moszkowskis Fall ist nur durch den Herzbefund von der enterogenen 
Polyneuritis zu unterscheiden, weil bei letzterer objektive Herz- 
veränderungen fehlen; selbst die motorischen Lähmungen waren in 
seinem Fall nur schwach ausgeprägt, weswegen er auch von den Beri- 
Beri-Autoren in Japan nicht absolut sicher als echte Beri-Beri an- 
gesprochen werden konnte. Bei Omoris Fällen kann man in bezug auf 
Herzbefunde und motorische Störungen nichts Spezifisches für Beri- 
Beri finden. 

In einem unserer Fälle ( Amano) waren Herz- und motorische Störungen 


- charakteristisch für Beri-Beri und er wurde darum auch von japanischen 


Beri-Beri-Autoren, Irisawa, Inada, Hayashi, als echte Beri-Beri an- 
gesehen. Bei dem 2. Fall (Takuma) fanden wir Ödeme, Hypästhesien, 


- Druckschmerz, Tachykardie, die vielleicht noch in weiterem Verlaufe 


charakteristischer geworden wären und im 3. Fall (Koike) bestanden 
eine geringe Dilatation des Herzens, Kardialschmerz und Ödem, welche 
Symptome zur Diagnose noch nicht genügen. 

Von allen Versuchen läßt sich sagen, daß bei unvollständiger Ernährung 
Beri-Beri-ähnliche Erscheinungen auftreten können und nur bei geeigneter 
Ernährungsweise auch noch typische kardiale Symptome und motorische 
Störungen hinzutreten. Bei unserem 1. Fall muß man noch, wenn er 

Z. f. klin. Medizin. Bd. 100. | 11 


162 





G. Shinoda: Sog. vitaminfreie Ernährung bei gesunden Menschen, 
































1. 1. IT. | va 

" | Tem TWSH | Rn | 

Beri-Beri Mehlnährschaden | Ödemkrankheit | Schiffs-Beri-Be 

Entstehungs- | chronisch oder nicht so ehronisch | chronisch chronisch od 
weise u. Verlauf chronisch | nicht so chr 

| | nisch 

Allg. Ernäh- nicht so schlecht schlecht | schlecht nicht so schlee] 
rungszustand | # 
Körpergewicht | anfangs Zunahme (Pseu- Zunahme [(Pseudo-]) Pseudozunahme Pseudozunahr 
'dozunahme), später Ab- durch Ödem) | i 

nahme | 5 

Ödem (ohne häufig häufig häufig (auffallend) häufig - 
Nephritis) || i 
Fieber ganz geringes Fieber Untertemperatur Untertemperatur nur bei Komp 


Störungen am 


Verdauungs- 
traktus 


Pulszahl 


Atemstörungen 


Herzbefund 


Blutdruck 


Augenstörungen 


Muskeltonus 


Lähmungen 


Muskelschmerz 


Sensibilitäts- 


störungen 


Kniereilex 


Psyche 


Nahrung 


Zur Beachtung für die Tafel! Wegen der Möglichkeit des Vorhandenseins verschiedener Formei 


‚ Erniedrigung, 


'nalininjektion zuweilen 


ästhesie und Parästhesie 


häufig 


Neigung zu Verstopfung, 
zuweilen Durchfall und 
Appetitstörungen 


Tachykardie,in d.Rekon- 
valeszenz Bradykardie 
Dyspnöe 


Dilatation, dann Hyper- 
trophie 
besond. 
|Minimaldruck. Bei Adre- 


paradoxe Erscheinungen 
zentrales Skotom und 
Hemeralopie (aber ganz 
selten) 
anfangs gesteigert, später 
hypotonisch 
schlaffe,  charakteristi- 
sche Lähmungen 


Druckschmerz 


charakteristische Hyp- 


| 
anfangs vorübergehend 
gesteigert, verschwindet 
später 
Intakt 


polierter Reis, vitamin- 
arm 








'Verstimmung u. Apathie, 


Kohlenhydrat- (bes. Ge- 
treide-) Überschuß vita- 
minarm, 


Appetitherabsetzung u. 
Erbrechen. HäufigeKom- 
plikation von seiten des 
Magendarmes (Diarrhöe, 
Stomatitis aphtosa, En- 
teritis) 
Bradykardie, selten 
Tachykardie 
zuweilen Dyspnöe 


Senkung 


zuweilen Hemeralopie 


Hypertonie, zuweilen 
spastischeErscheinungen 


nicht vorhanden 


zweifelhaft 


| 





erregbar 


I 
| 


Bewußtsein klar 
| 


Calorienmangel 








zültiges und Wichtiges zum Zwecke des Differentialdiagnose. 


‚häufig (abnorme Gärung)| selten 
selten Stomatitis u. Gin-|schmerzen 


givablutupgen 


Bradykardie 


zuweilen Dyspnöe 


Hypofunktion (Atrophie) Hypofunktion (Atrophie) | Dilatation Ei 


Senkung 


Adrenalinwirkung + 


Hypotonie 


nicht vorhanden 
weniger vorhanden 
| A 
‚Parästhesie und ganz|leichte Par- un 


leichte Hypästhesie 


‚normal, zuweilen abge- 


schwächt 


zuweilen soporös? 


Calorienmangel, Kohlen- 
hydratüberschuß; Man- 
Basenmangel,'gel an hochwertigen Ei- 
weißen, Fetten, frischem |Eiweißen,Fet 


(Gemüse 


kationen (Mal 
ria) 
Mag 





u 


BE 


ü 
Dyspnöe 







Hypertrop 
Senkung 









opie 
Hypotonie 


ganz vereinzel 
Paresen 


weniger voI- 
handen 





überschuß, Man 
gel an hochwert 


frisch. Gem 
Vitaminma 



































V. | VL. | VII, VII, | 12 
| Noordensche PER . . , Avitaminose durch 
Skorbut Epidemie Dropsy | enterog. Poly- EelbimrDISE a gemischte Nahrung 
FRE sächlich bei Tieren) Ale 
neuritis (haupts. bei Tieren) 
sch Bier Aieht; so Folatim plötzlich. u. chronisch chronisch ehronisch 
chronisch heftig | 
nicht so schlecht nicht so schlecht nicht schlecht schlecht nicht so schlecht 
Abnahme allg. Abmagerung oHB; ı hochgradige Abnahme geringe Abnahme 
häufig sehr auffallend 6, B£ selten (häufig bei selten (bei Menschen 
Menschen) häufig) 
‚mperatur normal, zu-im Beginn gewöhnl. 0/B3 Untertemperatur normal, zuweilen 
weilen Barlowsches remittierendes Untertemperatur, 
Fieber Fieber selten Fieber 
seröse u. gangränöse Initiale u. bisweilen Verstopfung Durchtälle häufig, zuweil. geringer 
matitis, Gingivaver-|langwierige Diarrhöe blutiger Stuhl 
änderung 
erhöhte Frequenz Tachykardie ? Labilität Labilität, Bradykardie | Labilität, Tachy- 
kardie 
Dyspnöe später. vor- Dyspnöe nicht vorhanden| Atemzahl vermindert häufig Dyspnöe 


handen 
Dilatation möglich 


Hemeralopie 


| ıskelschwäche, selten 


'Tetanie? (Richter) 





intraokulares Ödem 


Hypotonie? 


ht . vorhanden oder mechanische Parese 


hmerzhafte Paraple- 
ii bei Kindern 


fehlt od. zweifelhaft 


0. B. 


0. B. 


nicht vorhanden 


| 0. B. 


| 
\ 
Senkung 


Atrophie 


selten Xerosis 


Hypertonie 
und Hypotonie 


nicht vorhanden) spastische Lähmung; 


ı% Kindern Hyper- Hautbrennen und |leichte Hyp- u. 


ästhesie 


stumpfes Gefühlüber 


den hydropischen 
Teilen 


Kindern gesteigert | bisweilen gesteigert, 


äufig apathisch und 
lancholisch (leichtes 
'einen bei Kindern) 


selten erloschen 


gel an frischen Ge-|meistens nach Reis- 


müsen 





nahrung 


(Eiweiß- 
mangel?) 


Parästhesien 


Intakt 


schlaffe Lähmung ganz 
selten 

unbestimmt (bei 

schen häufig) 


Hyp- u. Parästhesie beim 
Menschen (bei Tieren un- 
bestimmt angeblich vor- 
handen) 
zuweilen gesteigert, spä- 
ter herabgesetzt 


Men- 


zuweilen 
thisch 


reizbar, apa- 


Kohlenhydratüberschuß 
Fett-, Eiweiß- usw, -Man- 
gel. Vitaminfrei 


Li® 








Dilatation, zuweilen 
Hypertrophie 
Senkung 


zuweilen Hypertonie 


selten vorhanden 


unbestimmt (beiMen- 
schen häufig) 
unbestimmt 

angeblich vorhanden 


(bei Menschen Hyp- 
und Parästhesie) 


ganz selten er- 
loschen 


o. B. 


gemischte Nahrung, 
Vitaminmangel 


kerhaib einer einzelnen Krankheit kann die Tabelle nicht vollständig sein; sie enthält nur Allgemein- 



































164 GG. Shinoda: Sog. vitaminfreie Ernährung bei gesunden Menschen, 
Tabell 
L II. | In. | IV. 
| 
Beri-Beri Mehlnährschaden | Ödemkrankheit Schiffs-Beri-Ber 
Vitaminwirkung |Prompt, besonders auf erfolgreich? (zu geringe|unbestimmt oder o. B. Prompt 
Kreislaufstörungen und|Anzahl von Versuchen) 
Ödeme 
Therapie Nahrungswechsel hochwertige Nahrung | hochwertige Nahrung, Nahrungs- 
Ruhe wechsel 
Prognose Atrophie u. Lähmungen — nicht schlecht nach Nahrungs 
bleiben zurück, Gefahr | | wechsel gut 
der Herzlähmung | 
Blutbefund |jkeine Anämie, Lympho-| Anämie Anämie u. Leukopenie -— 
cytose? Eosinophilie? u. Lymphocytose, Hy- 
drämie f 
Magensaft Sub- oder Anacidität am —_ Sub- od. Anaecidität — 
Schluß 
Indicanurie sehr häufig | häufig — en 
Blutzucker normal oder wenig ver- — Hypoglykämie, selten _ 
mehrt Hyperglykämie 
Serumindex |bei hydropischen For- — herabgesetzt (nicht nur - 
(Serumeiweiß) menu herabgesetzt durch Hydrämie) 
Acidosis im Endstadium der kar- vorhanden —_ | — 
dialen Formen vorhan- | 
den 
Rest-N und Am-| Zunahme von Rest-N im En Ammoniakzunahme ge- = 
monıak im Blut Endstadium ringe Zunahme von R-N. 
Stickstoffbilanz negativ negativ (durch Eiweiß-‚ Negativ (durch Eiweiß-| = 
zufuhr positiv) zufuhr positiv) 
Mineralstoff- | Zunahme derP-Ausschei-|K-Mangel, Na- u. Cl-Zu-|P-u. Kalkmangelim Blut; — 
wechsel dung nahme in der Leber. K-|vermehrte P- Ausschei- 
Überschuß, Na- u. Ca- dung 
Mangel in Muskeln 
Pathologisch- | keine Atrophie d. paren-| Atrophie d. parench. Or-| Atrophie d. parench. Or- — 
anatomische Be-  chym. Organe. Dilatation | gane. Herzatrophie, atro-|gane; keine Herzdilatat. 
merkungen u. Hypertrophie d. Her-|phie des Iymphat. Ge-|u. hypertroph. Glykogen- = 
zens, Hypertrophie desjwebes. Anämie u. Blut-|armut, Fettschwund, Ne- ki 
Nebennierenmarks, Hy-| pigmentablagerungen, | bennierenvergrößerung. 
‚perplasie d. Ilymphat. Ge-| keine Stauungen, keine Oligämie. Dysenterie- 


webes. Polyneuritis |Polyneuritis. Katarrh u./ähn'iche Veränderungen 
Suggillationen u. Erosio-d. Darmes häufig. Keine 
nen im Magen-Darm- Polyneuritis 


kanal } 








Zur Beachtung für die Tafel! Wegen der Möglichkeit des Vorhandenseins verschiedener Formen 
gültiges und Wichtiges zum Zwecke der Differentialdiagnose. — Der Gedankenstrich bedeutet unbestimmt. 


auch einwandfrei ist, erwägen, ob die Krankheit während des Ver- 
suches zufällig oder durch den Versuch entstanden ist. Zu unseren 
beiden anderen Fällen und in vielen Fällen anderer Autoren sah man 
jedoch Übergangssymptome, von denen sich erwarten ließ, daß sie 
später und bei geeigneter Ernährungsweise ein charakteristisches Bild 
liefern würden. Man wird also von dem ersten Fall (Amano) nicht 
leicht behaupten wollen, daß hier die Beri-Beri zufällig entstanden wäre. 
Es ist zu wünschen, daß noch weitere Versuche angestellt werden, denn 


nebst einigen kritischen Bemerkungen über Unterernährung. 


Fortsetzung). 


165 


u 


| v. 


Skorbut 


P = 





| v1. 


| Epidemie Dropsy 





Vitamin C prompt. 


Frische Gemüse 


| 


ıch Nahrungswechsel 
gut 


assehen anämisch,Blut- 
fund normal, bei chro- 
ischen Fällen Anämie 
i schweren Fällen voll- 
ständige Achylie 


2: 








| 0. 


di 


mittelmäßig 


negativ 





tention,dannAusschei- 
8 Ca-Mangel im Blut 
! 


| 


gemeine Atrophie d. 

(üsigen Organe, blutige 

Jathese, Nebennieren- 

pertrophie, teilweise, 

Inge Degeneration d. 

nde frei von Polyneu- 
ritis 





| 





| 





VI. 


Noordensche 
enterog. Poly- 


neuritis 


VIE IX. 





Avitaminose durch 
gemischte Nahrung 
(haupts. bei Tieren) 


Reiskrankheit (haupt- 
sächlich bei Tieren) 








Fleischzugabe ? 


gut 





Atrophie gewöhnlich 
frei von Polyneuritis 





abführende Mit- 


tel 


gut 


Häufig 


prompt, besonders auf 
ınervöse Symptome bei 
Tieren: 


Vitaminzufuhr u. hoch-|Vitaminzufuhr und 


Prompt 





| wertige Nahrung hochwertige Nah- 
| rung 
nicht gut gut 


Abmageruug zurück 


Anämie, Hyperchrom- |Anämie, nur selten 
ämie, Lymphopenie 


Subaeidität Subacidität 


Sehr häufig 


Erst Hypo- dann Hyper- 
glykämie 


Häufig 


zuerst normal, dann 
etwas vermehrt 


' Vorhanden bei Vögeln | 
| 


‚R-N Zunahme im End- 
| stadium 


‚negativ (durch Eiweißzu- | 
fuhr positiv) 


P- u. K-Mangel im Blut? 


negativ 


P- u. K-Mangel im 
Blut 





‚allgem. Atrophie d. pa-| Geringe Atrophie. 
' rench. Organe, Fett- |Herzdilatation ;nicht 
schwund, Hpypertrophie|selten. Hypertrophie. 
der Nebennierenrinde. |Lungenödem häufig, 
Keine Stauungserschein.|allgem. Stauungser- 
Anämie. Glykogenarmut/|scheinungen, Poly- 
in Leber und Muskeln. neuritis. 


Häufig Suggillat. u. Ero- 


sionen im Verdauungs- 





traktus. Polyneuritis. 


! einer einzelnen Krankheit kann die Tabelle nicht vollständig sein; sie enthält nur Allgemein- 


nur durch eine reiche Erfahrung, die sich auf lange Versuchsreihen 
stützt, kann man zu einem endgültigen Schluß kommen. Die Poly- 
morphie der Erscheinungen bei Avitaminose ist schon früher von mäür betont 
| worden und ferner, daß sie nicht nur von der individuellen Disposition, 
den veranlassenden Momenten, sondern auch von der Art und dem Misch- 


oder in langem Zeitraum) abhängig ist. Art und Mischverhältnis ihrerseits 
sind nun wieder, abgesehen vom Vitaminbedarf, deswegen wichtig, weil 


verhältnis der Nahrungsbestandteile, von der Ernährungsweise (in kurzem 
| 
| 


166 GG. Shinoda: Sog. vitaminfreie Ernährung bei gesunden Menschen, 


sie in sich und als solche die Ursachen zu verschiedenen Krankheits- 
erscheinungen tragen können. Beri- Beri-ähnliche Symptome findet 
man nämlich auch bei solchen Krankheiten, bei denen Vitaminmangel 
der Nahrung als ätiologisches Moment nicht in Frage kommt, wie aus 
der Tafel ersichtlich ist. Leichte Beri-Beri-Erscheinungen lassen sich 
nämlich allein durch eine gewisse Art und ein bestimmtes Misch- 
verhältnis von Nahrungsbestandteilen hervorrufen, selbst wenn gleich- 
zeitig Vitamine nicht vorenthalten werden. Gewisse Unwollständigkeiten 
in der Nahrungszusammensetzung können ähnlich wie Vitaminmangel 
wirken. Man muß bei Überlegungen, die man über die Entstehung der 
besprochenen Krankheitsbilder anstellt, stets diese beiden Punkte: 
Vitaminmangel und Art und Mischverhältnis der Nahrungsmittel 
gemeinsam berücksichtigen. 

Die Unterschiede in den Krankheitserscheinungen der Avitaminose 
nach Reisnahrung bzw. Kohlenhydratnährschäden [nach Ogata*)] und 
nach gemischter Nahrung werden nur durch die Art und das Mischverhältnis 
der gleichzeitig aufgenommenen Nahrungsmittel bestimmt. Das gilt nicht 
nur für die Tiere, sondern auch für den Menschen. Taguchi#2) stellte 
Ernährungsversuche mit poliertem Reis bei gesunden Menschen an mit 
folgendem Resultat: Herabgesetzter Ernährungszustand und Appetit, 
Pulsverlangsamung, Neigung zu Temperaturerniedrigung, aber auch 
dabei können leichte Sensibilitätsstörungen, Ödem und Druckschmerz 
der Muskeln beobachtet werden, und erst nach Übergang zur gewöhnlichen 
Nahrung (gemischte japanische Nahrung) sollen einige andere Beri-Beri- 
Symptome hinzutreten (erhöhte Pulsfrequenz, Herzdilatation [Nach- 
dilatation n. Taguchi] usw.). 

Noch eine Überlegung ist nicht überflüssig anzustellen in bezug auf 
Mehlnährschaden und Säuglings-Beri-Beri. Es ist denkbar, .daß bei 
ersterem der Vitaminmangel eine größere Rolle spielt als bei letzterem; 
trotzdem hält man letztere Krankheit für Beri-Beri-ähnlich. Wegen der 
Ähnlichkeit zwischen Beri-Beri und Säuglings-Beri-Beri und zugleich 
wegen des Unterschiedes zwischen letzterer und Mehlnährschaden kann 
man nicht nur den Vitaminmangel als Ursache der Beri-Beri angeben; 
denn auf Grund der übrigen verschiedenen Ernährung zeigen beide 
Krankheiten verschiedene Symptome. Der Mehlnährschaden bei 
Kindern ist im wesentlichen identisch mit der Polierten-Reiskrankheit 
bei Tieren (s. Tafel) und die Säuglings-Beri-Beri mit Beri-Beri der Er- 
wachsenen. e 

Außerdem ist aus der Tafel noch folgendes ersichtlich: Die auf- 
geführten Krankheiten zeigen viele gemeinsame Symptome. Besonders 
aber drei von ihnen, Mehlnährschaden, Ödemkrankheit, Reiskrankheit 
sind schwer voneinander zu unterscheiden, nicht nur wegen der Ähnlich- 
keit der klinischen und pathologisch-anatomischen Befunde, sondern 


3 














— de 


nebst einigen kritischen Bemerkungen über Unterernährung. 167 


auch wegen der diese verursachenden Nahrung, wobei man natürlich 
die wesentlichen Unterschiede zwischen Mehlnährschaden und Reis- 
krankheit einerseits und Ödemkrankheit andererseits berücksichtigen 
muß; indem man bei letzterer Hypotonie der Muskeln, bei ersteren 
dagegen Hypertonie der Muskeln und Übererregbarkeit der Nerven fest- 
stellt. Ferner kann man zwischen Ödemkrankheit und Epidemic 
Dropsy viel Ähnliches beobachten und hinwiederum in einer be- 
stimmten Form von Beri-Beri (hydropische Form) viel Übereinstim- 
mendes mit Epidemic Dropsy finden. Ein der gewöhnlichen Beri-Beri 
ähnliches Bild findet man nur bei Tieren nach avitaminotischer, ge- 
mischter Nahrung. Die Unterschiede zwischen letzterer Krankheit 
und Polierter - Reiskrankheit habe ich in einer früheren Arbeit be- 
schrieben [,,Experimentelle Untersuchungen über Avitaminose bei 
Hunden und Vögeln. Vergleich zur Menschen - Beri - Beri3%)“]. Die 
Menschen-Beri-Beri muß man von der Reiskrankheit trennen, wenn auch 
zu beiden gemeinsam das Vitamin B in enger Beziehung steht, und man 
muß vielmehr Menschen-Beri-Beri mit der „Avitaminose nach gemischter 
Nahrung‘ vergleichen. 

Es ist bekannt, daß das Vitamin B bei Beri-Beri, Vitamin C bei Skor- 
but eine Rolle spielt, für Mehlnährschaden und Ödemkrankheit dagegen 
kann man noch kein bestimmtes Vitamin als Ursache annehmen, wohl 
aber allgemeine Unterernährung. Die Tatsache, daß zwischen Menschen- 
Beri-Beri einerseits, Ödemkrankheit, Mehlnährschaden und anderen 
nicht durch Vitaminmangel erzeugten Krankheiten andererseits Ähnlich- 
keiten bestehen, kann man so erklären, daß man annimmt, daß Vitamin- 
mangel bei Beri-Beri Symptome hervorrufen kann, die denjenigen nach 
mangelhafter Nahrungszusammensetzung bei obigen Krankheiten 
ähneln. Ich möchte aber glauben, daß die in Rede stehenden Symptome 
der Menschen-Beri-Beri sowohl durch den Vitaminmangel wie auch 
durch die mangelhafte Nahrungszusammensetzung bedingt werden. 
Was die mangelhafte Nahrungszusammensetzung betrifft, möchte ich 
dazu folgendes sagen: Man muß bei Erörterung dieses Punktes berück- 
sichtigen 1. Art der Nahrung, 2. Mischverhältnis der einzelnen Nahrungs- 
mittel. ad 1: Die Art der Nahrung ist nicht nur vom chemischen Stand- 


' punkte aus zu betrachten (Kohlenhydrate, Fette, Eiweiße, Salze), 


sondern auch vom biologischen (die biologische Wertigkeit der Kohlen- 
hydrate, Fette, Eiweiße kann verschieden sein, je nach ihrer Herkunft). 
ad 2: Das Wesentliche ist nicht die absolute Menge, sondern ihr Mengen- 
verhältnis in der Nahrung zueinander. 

Für die Entstehung der Menschen-Beri-Beri ist nicht nur der Vitamin- 
mangel maßgebend, sondern auch die Tatsache, daß neben poliertem Reis 
als Hauptnahrung zu viel vegetabilische Kost (im Verhältnis zu Fett und 
Eiweiß) genommen wird, wobei noch außerdem eine Störung im Salzstoff- 


168  G. Shinoda: Sog. vitaminfreie Ernährung bei gesunden Menschen, 


wechsel besteht. Der Vitaminmangel spielt die größte*) Rolle bei der Ent- 
stehung der Menschen-Beri-Beri und besonders bei den schweren Fällen 
(schwer in bezug auf Kreislaufstörungen); für leichtere Fälle kann 
als verursachendes Moment auch der oben angeführte zweite Faktor 
ın Betracht kommen. 


Literatur. 


!) Wernich, Deutsch. Arch. f. klin. Med. 21. 1877; Arch. f. Schiffs- u. Tropenhyg. 
1910 (Ref.). — ?) van Leent, Communication sur la Beriberi 1879; Arch. f. Schiffs- 
u. Tropenhyg. Ref.).—?) Takaki, Sei-i-kooai 1885, 1886, 1887. — *) Eykman, Eine 
beri-beri-ähnliche Krankheit der Hühner. Virchows Arch. f. pathol. Anat. u. 
Physiol. 148. 1897. — °) Derselbe, Ein Versuch zur Bekämpfung der Beriberi. 
Virchows Arch. f. pathol. Anat. u. Physiol. 149. 1897. — °) Braddon, The Cause 
and prevention of Beriberi. Brit. med. journ. 1909. — ?) Fletcher, Rice and Beri- 
beri. Lancet 29. 1907. — °) Fraser, White rice as a causative agent of Beriberi. 
Lancet 1909. — °) Ellis and Gilmore, Uncured rice as a cause of Beri-beri. Brit. 
med. journ. 1909. — 10) Chamberlain, The study of tropical diseases in Philippine 
Islands. Journ. of the Americ. med. assoc. 58. 1912. — 11) Heiser, Practical experi- 
ences with Beriberi and unpolished rice in the philippines. Journ. of the Americ. 
med. assoc. 56. 1911. — 1?) Highet, Beriberi in Siam. Philippine Journ. of science 
3. 1910. — 1?) Huot, Extraits de rapport medical annuel sur le Gabon. Beriberi. 
Ann. du d’Hyg. et de med. Colon. 15. 1912. — 14) Liesegang, Aus dem ärztlichen 
Vierteljahrsbericht für die Zeit vom 1. I. 1911 bis 31. IIT. 1911. Neuguinea-Fried- 
rich-Wilhelmshafen, den 14. IV. 1911. — 15) Marty, Une epidemie de beriberi 
a la prison de Fianarantsoa (Madagascar). Ann. d’hyg. et de med. Colon. 14. 1910, 
— 16) Munday, Beriberi Transact. of the United St. med. soc., Jan. to March 1911 
{Ref.). Journ. of trop. med. a. hyg. 14, Nr. 11. 1911. — 17) Schüffner und Kneuen, 
Die gesundheitlichen Verhältnisse des Arbeiterstandes der Senembah-Maat- 
Schappy. Arch. f. Schiffs- u. Tropenhyg. 16. 1912. — 18) Primet, Report sur le 
Beriberi. Bull. de la soc. de pathol. exot. I, Nr. 4, $. 575. 1911. — 19) Marine, 
gedruckt durch japan. Beri-Beri-Stud.-Komm. — 20) Armel, ibidem. — 21) Inoue, " 
Tsuzuki, Jnada, Shibayama, Makita, alle diese Berichte gedruckt durch japanische 
Studien-Kommission. — 22) Okasaki, Gerichte der japanischen Reisnahrung. — 
23) Shiga und Teruuch, gedruckt durch japan. Beri-Beri-Studien-Kommission. — 
°*) Sato, ibidem. — ?°) Inagaki, ibidem. — *) Fujü, ibidem. — 27) Tasawa, Sujinams 
Shimitzu, ibidem. — ?®) Toyama, Forschung der Ätiologie der Beriberi. Kongreß- 
berichte der Gesellschaft für Mikroskopie zu Tokio 24, Nr. 4. — ?°) Tasawa, Saito 
und Sakagibara, Prophylaktische Versuche bei Beriberi. Gedruckt durch japan. 
Beriberi-Studien-Kommission 1921. — 3°) Hehir, A., Beriberi. Proc. Asiat. Soc. 
Bengal. 15. 1919. Mesopot. Rep. Appendix III. 1917. — 31) Riddee, Smith and 
Igravidez, Beriberi at U. S. Anny Base Hospital, San Juan, Portorico J. A. M. S. 
#2. 1919. — °2) Caspari und Moszkowski Weiteres zur Beri-Beri-Frage. Berl. klin. 
Wochenschr. 50.1913. — 33) Strong und Crowell, The etiology of beriberi. Philipp. 
Journ. soc. %, 1912; Arch. f. Schiffs- u. Tropenhyg. 1913 (Ref.). — 3%) Fraga, Beri- 
beri. Brazil Med. 33, 49. 1919. — 35) Berichte aus der Klinik von Irisawa. Über 
Therapie und Prophylaxie der Beriberi. Mitt. d. Med. Ges. zu Tokio 1921.1922.' — 
36) Shinoda, Über Tieravitaminose. II. Mitteil. lji-Koron. 1922, Dez.; Zeitsch. f. 





*) „Größte“ wegen des auffallenden Einflusses des Reiskleiextraktes auf die 
Kreislaufstörungen. 











nebst einigen kritischen Bemerkungen über Unterernährung. 169 


ges. exp. Med. 1924. — ?7) Sakamato, Shinoda, Nishikata, Hosoya, Studien über 
Beriberi. Mitt. d. Med. Ges. zu Tokio 1922, Dez. — 3%) Omori und Mitarbeiter, 
Ätiologie der Beriberi. Ikai-Jiho 1921. — 3%) Omori und Shinoda, Über die Kreis- 
laufstörungen bei Beri-beri. Gedruckt durch Beriberi-Studien-Kommission 1920. — 
#0) Noorden, Über enterogene Intoxicationen, bes. über interotoxische Polyneuritis. 
Berl. Klin. Wochenschr. 1913, Nr. 2, 51. — *!) Ogata und seine Mitarbeiter, Über 
Hakumai-byo der Vögel (1. Mitt.). Gedruckt durch Beriberi-Studien-Kommission 
1920. — *2) Taguchi und seine Mitarbeiter, Polierte Reis-Ernährung bei gesunden 
Menschen. Ikai-Jiho 1922. 

Außerdem ist die folgende Literatur zur Bildung der Tabellen benutzt: 

!) Nagayo, Beriberi (pathol.-anat. Teil. Kongreßbericht d. japan. pathol. 
Ges. %. 1913. — ?) Nagayo, Mehlnährschaden und sein Vergleich zur Tieravitaminose 
und Säuglingsberiberi. Jji-Shimbun. 1923, Nr. 1111. — ?) Kemeth. Macleod, Beri- 
beri and epidemie dropsy. Arch. f. Schiffs- u. Tropenhyg. 14. 1910. — ?) Hans 
Aron, Nährstoffmangel und Nährschaden. Ergeb. d. ges. Med. 3. 1922. — °) Ragner 
Berg, Vitamine. Übersicht der Lehre von den Ergänzungsstoffen. — ®) Schaumann, 
Ätiologie der Beriberi. Arch. f. Schiffs- u. Tropenhyg. 14. 1910. — ?) Schittenhelm 
und Schlecht, Die Ödemkrankheit 1919. — ®) Maase und Zondek, Hungerödem 1920. 
— 9) Pollak, Die Ödemkrankheit 1921. — !%) Funk, Vitamine. 





(Aus der IV. Med. Univ.-Klinik und dem Biochemischen Laboratorium im Städt. 
Krankenhause Moabit zu Berlin.) 


Vergleichende Untersuchungen über Röntgen- und 
Atophanbehandlung bei Leukämien. 


Beitrag zur Wirkungsweise des Atophans. 


Von 
Dr. Ernst Joel, 
Assistenzarzt. 


(Eingegangen am 25. Januar 1924.) 


In den folgenden Tabellen werden einige Daten über den Stoff- 
wechsel und den Blutbefund von 3 Leukämikern unter Röntgenbestrah- 
lung und Thoriumbehandlung einerseits und unter dem Einfluß von 
Atophan zu verschiedenen Zeitpunkten des Krankheitsverlaufes an- 
dererseits sowie schließlich Untersuchungsergebnisse gelegentlich einer 
spontanen Remission mitgeteilt. Es soll damit ein Beitrag zum che- 
mischen Bilde des Zellzerfalls und zum Wirkungsmechanismus des 
Atophans: gegeben werden. 

Von den bisher bekannten Tatsachen sei kurz berichtet, daß der 
Leukämiker, besonders der myeloische, gewöhnlich große Harnsäure-, 
Stickstoff- und Phosphorsäuremengen ausscheidet (Salkowski, Kühnau, 
Pribram und Rotky), die sich unter dem Einfluß der Röntgenbestrahlung 
noch erheblich steigern können, um mit einer Besserung des patholo- 
gischen Prozesses und Minderung der abnorm hohen Leukocytenwerte 
ihrerseits ebenfalls abzusinken. Dabei sind die verschiedenen Unter- 
sucher bezüglich der Regelmäßigkeiten in der Mehrausscheidung der 
Harnsäure und der Phosphorsäure und ihren Beziehungen zueinander 
allerdings zu so wechselnden Resultaten gelangt, haben zum Teil auch 
unter ungenügenden diätetischen Kautelen gearbeitet (vgl. hierzu . 
Rosenberger, Königer, Quadrone, Cavina, Lossen und Morawitz, Pribram 
und Rotky, White und Hopkins), so daß es sich vielleicht schon deshalb 
lohnt, derartige Untersuchungen wieder aufzunehmen. Immerhin 
kann es heute kaum einem Zweifel unterliegen, daß die in den Zeiten 
erhöhter Aktualität des Krankheitsablaufs oder in den Bestrahlungs- 
perioden vermehrt ausgeworfenen Stickstoff-, Harnsäure- und Phosphor- 
säuremengen aus einem gesteigerten Tempo des Zell- und Zellkern- 
untergangs zu erklären sind, und daß die allmählich unter der Be- 
strahlung erfolgende Verminderung der Harnsäureausscheidung auf 
einer Einschränkung der Leukocytenproduktion beruht. 








E. Joel: Vergleichende Untersuchungen usw. 171 


Wenn nun der Atophanwirkung mit ihren außerordentlichen Harn- 
säurewerten, wie es früher gelegentlich und neuerdings wieder von 
B. Mendel ausgesprochen wurde, ebenfalls ein Zellzerfall als Ent- 
stehungsmechanismus zugrunde liegen sollte, so müßte erwartet werden, 
daß das Atophan eine Senkung der Leukocytenzahl und neben einer 
vermehrten Harnsäureausfuhr eine ihr entsprechende Zunahme der N- 
und P,O,-Ausscheidung hervorrufe. In der Tat basiert Mendel seine 
Anschauung von der durch Atophan bedingten Leukolyse hauptsächlich 
auf einer derartigen von ihm beobachteten Leukopenie. Es soll hier 
im einzelnen nicht auf die Unzulässigkeit eingegangen werden, aus 
einer vorübergehenden Leukopenie den Untergang der fehlenden Zellen 
zu folgern. Ein derartiger Schluß ist ebenso unerlaubt wie der, aus 
einer vorübergehenden Leukocytose ohne weiteres eine Mehrproduktion 
von Leukocyten abzuleiten. Es sei hier lediglich auf die ausführlichen 
neueren Arbeiten von Kllermann und Erlandsen und Glaser verwiesen, 
aus denen hervorgeht, welche Fülle von Möglichkeiten Schwankungen 
der Leukocytenwerte nach dieser oder jener Richtung verursachen 
können: alimentäre, medikamentöse, zirkulatorische, statische Leuko- 
cytosen und Leukopenien, solche durch thermische und mechanische 
Hautreize, durch psychische Einflüsse und schließlich spontane, vor- 
läufig nicht weiter aufklärbare Verschiebungen der Leukocytenzahlen. 
Aus den erwähnten Untersuchungen geht jedenfalls hervor, daß diese 
Schwankungen mit Zellenzerfall nicht das geringste zu tun zu haben 
brauchen, wohingegen Konzentrationsänderungen im Blut oder ungleich- 
artige Verteilungen der Blutkörperchen im Gefäßsystem als nächst- 
liegende Erklärungen in Betracht kommen. 

In unserem besonderen Zusammenhang muß jedoch noch auf 
Dohrns neueste Befunde aufmerksam gemacht werden, nach welchen 
der Atophandarreichung durchaus kein Leukocytensturz und keine 
Vermehrung der P,O,-Ausscheidung im Harn folgte, ebenso wie eine 
Vermehrung des Harnstoffs oder Gesamtstickstoffs unter Atophan 
bereits von früheren Untersuchern vermißt wurde. Immerhin könnte 
noch der Einwand gelten, daß die im Zellzerfall freiwerdenden P,O,- 
und N-Mengen zu gering wären, um sich unter gewöhnlichen Verhält- 
nissen genügend auszuprägen (Biberfeld), oder aber, daß sie zwar zu- 
nächst in Freiheit gesetzt, aber im Körper retiniert werden. | 

Angesichts der Vieldeutigkeit der Blutkörperchenzahlen und der 
Unsicherheit in der Bewertung der Stickstoff- und Phosphorsäure- 
zahlen bei Normalen schien mir der Leukämiker mit seinen imposanten 
Leukocytenwerten ein geeigneteres Untersuchungsobjekt, zumal sich, 
wie Magnus-Levy gelegentlich seiner Studien über den Stoffwechsel 
bei Leukämie ganz allgemein bemerkt, nur bei so enormen Verhältnissen 
zweifelsfreie Steigerungen der Ausscheidungsgrößen deutlich heraus- 


T12 E. Jo@l: Vergleichende Untersuchungen 


heben können. Eine Beantwortung der hier aufgestellten Fragen war 
um so wünschenswerter, weil die bisher erhobenen Befunde über Ato- 
phanwirkung bei Leukämie — wir fanden lediglich die sogleich zu er- 
wähnenden 2 Arbeiten — noch keine klare Entscheidungen zulassen. 

Rösler und Jarczyk haben 2 Fälle von myeloischer Leukämie mit 
Atophan behandelt. Der Gesamtstickstoff hielt sich auf gleicher Höhe wie 
vorher oder sank ab, die Harnsäurewerte stiegen an, Phosphorsäure- 
bestimmungen fehlen, ebenso auch Befunde bei Röntgenbestrahlung 
der gleichen Fälle, die der an sich schon wichtigen Tatsache, daß es 
unter Atophan in beiden Fällen nicht zu einer Verminderung, sondern 
sogar zu einer Vermehrung der Leukocyten kam, erst den richtigen 
Vergleichswert geben könnten. Die beiden Patienten standen übrigens 
nur in ambulanter Beobachtung und erhielten keine purinfreie Kost. 
— Schittenhelm und Ullmann, die bei einem Fall von myeloischer 
Leukämie 6 Tage lang Atophan gaben, sahen eine Vermehrung der 
Harnsäureausscheidung von etwa 50%, bei gleichbleibender Stickstoff- 
ausfuhr und im Gegensatz zu den eben genannten Autoren einen Rück- 
gang der Leukocytenwerte von 472000 auf 264 000, wobei aber be- 
merkt werden muß, daß der Patient vor der Atophanperiode 2 Röntgen- 
bestrahlungen bekommen hatte, als deren etwas verspätete Folge der 
relative Leukocytenschwund auch nach den Erfahrungen anderer Auto- 
ren (zZ. B. Lossen und Morawitz) sehr wohl gedeutet werden kann, so 
daß die Ungunst der Versuchsanordnung ein scharfes Bild auch in diesem 
Falle nicht zustandekommen läßt. Phosphorsäurebestimmungen, deren 
Bedeutung für die Aufklärung eines Zerfallsprozesses früher von White und 
Hopkins, neuerdings wieder von Dohrn, betont werden, fehlen auch hier. 

Unsere eigenen Versuche betreffen zunächst einen Fall von mye- 
loischer Leukämie. 


Fall 1. E. L., 28jähr. Mann war bei Beginn der Behandlung schon 1!/, Jahre 
manifest krank und in dieser Zeit zwei Bestrahlungsbehandlungen unterworfen. 
Die derbe und druckempfindliche Milz reicht bis ins kleine Becken. Erhebliche 
Anämie und Abmagerung. Blutbefund: 310 000 Leukocyten; 31% Myeloeyten; 3%, 
Myeloblasten; 5% Lymphocyten. Der sehr gewissenhafte Pat. wird während des 
ganzen 62tägigen Versuches bei purinfreier Kost von annähernd gleicher Zu- 
sammensetzung gehalten, der Urin täglich oder in Perioden von 2—3 Tagen unter- 
sucht. Bestimmungen des Stickstoffs nach Kjehldal, der Harnsäure nach Folin, 
der Phosphorsäure nach Neubauer. Zellzählungen in der Bürkerschen Kammer. 

Die cytologischen Untersuchungen hatte Dr. Frantz dankenswerterweise 
übernommen. 


Der Versuch E.L. gliedert sich demnach in 3 Atophan-, 2 Röntgen- 
und 1 Thoriumperiode nebst entsprechenden behandlungsfreien Zeiten. 
In sämtlichen 3 Atophanabschnitten zeigt der Stickstoff eine Tendenz 
zur Abnahme, die Phoshporsäure verharrt ungefähr auf den Ausgangs- 
werten (die unwesentliche Steigerung in der 2. Atophanperiode ist auf 














über köntgen- und Atophanbehandlung bei Leukämien. 


Harn- 
menge 


Vers. 
Tage 





SP. 
Gew. 








Tabelle I. 








„| © 


173 








Leuko- 


eyten | 








1 |1180| 1015 
2 1000 | 1020 
3 1650 | 1016| 


6,44 | 0.799 
6,16 | 1,069 (4 





7,62 | 1,039 | 0,99 





1,46 | 300 000 | 








4 | 1175 | 1920 
1375 1020 
6 | 1200 | 1021 


7 11575 | 1020 | 
8 | 1230 | 1020 
9 1175 | 1020 


ao 





7,03 | 1,576 | 1,02 
6,55 | 0,880 | 0,87 
5,21 0,667 1,55 | 
7,22 | 0,835 | 1.36 
8,95 | 0,954 
7,56 | 1,219 





1,18 





310 000 


308 000 | 


260 000, 


Bemerkungen: 








 Atophan, 3 g 


Atophan, 3 g 
Atophan, 3 g 








10 | 1400 1019| 
11 | 1450 | 1016 
12 1500 | 1016 
13 | 1650| 1016 











8,82 | 1,260 
8.53 | 0,949 
12,29 | 2,212 
12,28 | 2,633 





1,47 
1,67 
3,12 
3,48 








265 000 | 


58 000 





Röntgen | kenstrecke. 
Röntgen ) 


Induktor. 38,5 cm Fun- 
2!/, M. A. 
HP EED. 


| Milz (5 Felder) Siemens- 








14 | 1700| 1017 
15 1600 | 1016 
16.1600 | 1016 
17 | 1430 | 1015 
18 1430 | 1015 
19 | 1525 10137 
20 |1525 1013 
21 | 1725 11015 
22 1725 | 1015 
23 2050 | 1012 
24 |2050 1012 
25 ,2050 | 1012 


26 |1775 | 1012 
27 | 1900 | 1011 
28 21001012 














13,69 
13,43 
13,43 
11,47 


2,296 | 3,30 
2,226 | 3,30 





1,662 | 2,30 
11,47 | 1,662 | 2,30 | 
10,03 | 0,971 | 1,81 





9,78 | 0,874 | 1,58 
9,78 | 0,874 | 1,58 
9,61 |:0,855 | 1,70 
9,61 | 0,855 | 1,70 
9,61 | 0,855 | 1,70 


2,531 | 3,65) 


40 000 
31 500 
32.000 


28 400° 





26 500, 





7.36 | 1.344 | 1,83 
6,38 | 1,133 | 2,34 


| 
| 
10,03 | 0,971 1,81 
6,91 | 1,276 | 2,10) 


38 000. 


Atophan, 3 g 
Atophan, 3 g 
Atophan, 3 





29 | 1600| 1015 | 
30 | 1600 | 1015 
31 | 1970 | 1014 
32 | 1970 | 1014 
33 |2125 | 1013 
34 |2125 | 1013 
35 | 1750 1015 
36 1175011015 


6,94 | 0,780 | 2,13 
6,94 | 0,780 | 2,13 
9,12 | 0,709 | 1,97 
9,12 | 0,709 | 1,97 
8,92 | 0,773 | 1,42 
8,92 | 0,773 | 1,42 
8,78 | 0,834 | 1,77 
8,78 | 0,834 | 1,77 








37 1970 | 1016 
88 | 1970 | 1016 
89 1850 | 1015 
40 | 1850 | 1015 
41 | 1850 | 1015 
42 \ 1725 | 1013 











8,85 | 0,948 | 2,17 
8,85 | 0,948 | 2,17 
9,84 | 0,769 | 2,03 
9,84 | 0,769 | 2,03 
9,84 | 0,769 | 2,03 
8,21 | 0,660 | 1,76 


64000| 


83 200 


105 800 


148 000 





Thorium X, 


75 Einh. intravenös 


97 600 | Thorium X, 125 Einh. intravenös 


174 








E. Joel: Vergleichende Untersuchungen 


Tabelle I. (Fortsetzung.) 





Harn- 
























































N ur N | 0421 PI0; a Bemerkungen: 
age menge) Gew. | eyten 

43 1197511012 | 10,93 | 0,888 |2,17| — | 

44 |1675 1012| 8,91 | 0,746 2,31) 76500, Thorium X, 150 Einh. intravenös 
45 | 1700/1012) 9,52 0516 2161| — | 

46 155011014 | 8,95 | 0,807 |2,19| 88000 

7 1670 | 1011 ed: 197. — | | 

48 | 1850 1010| 8,42 a 79 800 Atophan, 3 @ 
49 2000 1011| 8,94 | 1,055 | 1,66 — | Atophan, 3 & 
50 1860 11010 | 8,72 | 0,914 11,90, 95000, Atophan, 3 g 
51 1600 | 1011 ll = 

52 |1500 1012| 8,40 | 0,671 [1,98] 92 000 

53 1480/1011) 7,87 | 0,688 11,%4| — 

54 | 1800 | 1010| 10,08 | 0,668 | 1,60 | 132.000 | Röntgen } 

55 |1816 | 1015| 11,46 | 1,018 1130| — 

56 , 1800 | 1017 | 12,60 | 1,330 | 2,34 | 84.000 | Röntgen Milz. (5 Felder) 
57 2150 | 1015 | 12,79 | 1,489 1206| — '/aH.E.D. 
58 | 1570 | 1015 | 11,32 | 1,536 | 2,34 | 68.000 | Röntgen 

59 / 2000 11010 | 11,48 | 1419 1268| — ) 

60 | 2050 |1011 | 12,20 | 1,406 | 2,67 | 63 000, 

61 11420 1013| 10,93 | 1,066 [2,19 — 

62 2000 [1012| 11,06 | 0,921 | 2,06 | 58.000. 

















eine Gemüsezulage zurückzuführen), die Harnsäureausscheidung nimmt 
auf Atophan jedesmal deutlich zu, schwächt sich aber in der 1. und 
3. Periode außerordentlich schnell ab, um — wie wir das ja auch von 
Gesunden her kennen — sogar unter den endogenen Wert herabzu- 
sinken (6. Versuchstag). Gerade dieser Punkt erscheint für den Mecha- 
nismus der Atophanwirkung besonders beachtenswert. Man hat ja die 
spontane Abschwächung des Atophaneffektes vielfach aus einer Er- 
schöpfung des auszuscheidenden Harnsäurevorrates erklären wollen; 
hier aber, bei der Leukämie, kann unter der fortgesetzten Nachlieferung 
gespaltener Nucleine von einer solchen Erschöpfung, die für den Ge- 
sunden durchaus in Frage kommt, gar keine Rede sein, und trotzdem 
sieht man auch hier ein schnelles Nachlassen der Wirkung. Man könnte 
angesichts dieser Tatsache, wie dies früher von mir angedeutet wurde, 
sehr wohl an eine Abstumpfung des Schwellenwertapparates der Niere 
für die Harnsäureausscheidung denken. Besonders deutlich markiert 
sich nun, daß während sämtlicher Atophanperioden nicht der ge- 
ringste Abfall der Leukocytenzahl stattfindet. — Nunmehr vergleiche 
man den Einfluß der beiden Röntgenperioden mit ihren eminenten, 
tagelang anhaltenden Steigerungen des Stickstoffs bis über 50%, (in 








nn EEE 





über Röntgen- und Atophanbehandlung bei Leukämien. 175 


den 11 Tagen bis zum 2. Röntgentag werden 80 g N, in der darauf- 
folgenden l1tägigen Periode 156 g, in der nächsten l1tägigen 88 g N 


ausgeschieden), bis über 100% der Harnsäure- und Phosphorsäure- 


werte, mit ihrer Reduktion der Leukocytenzahl auf ein Zehntel bzw. 
in der späteren Röntgenperiode bis auf die Hälfte des Ausgangswertes, 
mit ihrer sichtbaren Einschmelzung des Milztumors. Die Thorium- 
periode mit ihrer mäßigen Verminderung der Leukocytenzahl und ziem- 
lich konstanten Ausscheidungsverhältnissen läßt weniger eine ver- 
mehrte Zerstörung als eine verringerte Neubildung weißer Zellen er- 
schließen, zumal die Differentialauszählungen des Blutbildes zu dieser 
Zeit nur einen sehr geringen Prozentsatz von Myeloblasten (0,5 gegen 
2—3 vorher), von Myelocyten 13 (gegen 17—20), und von Jugend- 
formen (3 gegen 6—8) erkennen ließen. 


Tabelle II. 
























































| | l. Leistengeg. ?/,H. 
12 |2620 |1013 | 7,34 | 0,796 | 2,78 


13 |1885 | 1018 | 12,16 | 1,210 | 2,68 | 32,500 
14 |1885 | 1018 | 12,16 | 1,210 | 2,68 | 
15 | 1670 | 1017 | 13,89 | 1,695 | 3,04 | 45,000 ı 
16 | 1670 1017 | 13,89 | 1,695 | 3,04 
17 | 1775 10121031 | — [1,74 
18 11775 |1012 10,31 | — [1,74 | 22,200 
19 2000 1011 | 9,84 |0,455 | 1,78 | 
20 2000 1011 | 9,84 0,455 | 1,78 | 
2] 1830 1012| 9,63 0,509 |1,30 | 20,600 
22 1830 1012| 9,63 |0,509 |1,30° | 
23 \1830/1012| 9,63 |0,509 |1,30 


ler]: | % role Bemerkungen 
1) 800 | 1022 7,50 | 0,780 | 1,07 | 42,000 | Atophan, 3 g 
"2 975|1023| 8,31 |0,880 |0,83 | Atophan, 3 g 
3 | 750|1023 | 6,67 0,644 1,20 55,000 Atophan, 3 g 
4 | — | — | u Atophan, 3 g 
5 |1300 |1019| 7,88 |0,468 |1,24 | 56,000 
6 ' 940 1021| 9,74 |0,468 | 0,91 
7 1400 |1017 | 9,10 |0,536 | 1,97 | 65,000 
8 11250 1020 8,05 0,445 |1,49 Röntgen) r. Halsseite !/, H.E.D. 
9 11700 1018| 9,04 | 0,593 | 1,77.) 60,000 | Röntgen | 1. Halsseite !/, H.E.D. 
r. Achselhöhle !/,H.E.D. 
10 2100 | 1014 .. 6,14 | 0,693 | 2,05 ı Röntgen [ 1. Achselhöhle!/,H.E.D. 
11 \1550 1017 | 9,77 |0,613 2,05 | 45,500 | Röntgen]| r. Leistengeg. ?/,H.E.D. 
E.D. 
D. 





Röntgen’ Unterkinngeg.!/,H.E 
































24 | 900 1020| 7,69 |0,824 [0,68 | 19,400 | Atophan, 3 g 
25 11700/1014 | 7,38 |0,784 | 1,14 | Atophan, 3 g 
26 1350 | 1015 | 7,09 | 0,478 |1,58 | 11,000 | LE Atophan, 3g i 




















27 11550/1013 | 8,03 | 0,296 |1,29 
28 11550/11013 | 8,03 |0,296 |1,29 | 


176 E. Joel: Vergleichende Untersuchungen 


Fall2. L. Z., 58jähr. Mann, seit 10 Jahren an lymphatischer Leukämie leidend. 
Gleichzeitig Aorteninsuffizienz auf luetischer Grundlage. Bohnen- bis pflaumen- 
große Drüsen in allen Körperregionen, besonders stark im Nacken; Milz eben 
tastbar, perkutorisch mäßig vergrößert. Geringe Anämie. 42000 Leukocyten. 
39% Lymphocyten. Anfangs fieberhafte Bronchitis, bei Beginn des Versuches 
abgeheilt, keine Temperaturen mehr. Diät und Methoden wie oben. 

Auch hier sehen wir bei der 1. Atophanperiode eine schnelle Er- 
schöpfung der Wirkung bezüglich der Harnsäureelimination bei ver- 
minderter Stickstoff- und gleichbleibender Phosphorsäureausfuhr, 
vor allem aber bei steigenden Leukocytenwerten und unverändertem 
Drüsenbefund. Bei der 2. Darreichungszeit ist der Atophaneffekt 
auf die Harnsäure mit seinem reaktiven Sinken unter den endogenen 
Wert noch typischer. Phosphorsäure bleibt unberührt, Stickstoff 
nimmt ab. Die Zellzahlen senken sich während der Nachwirkung der 
Strahlenbehandlung noch weiter. Unter der Röntgenbestrahlung da- 
gegen tagelang währende Ausscheidungssteigerungen des Stickstoffs bis 
zu 75%, der Harnsäure bis zu beinahe 200%, der Phosphorsäure bis 
zu 100% unter gleichzeitiger Senkung der Leukocytenzahl bis auf 
ein Sechstel des Maximalwertes, entsprechender Erweichung und Ver- 
kleinerung der Drüsen und einem Rückgang der Lymphocyten von 88% 
auf 52%. 

Tabelle III. 





Vers.- | Harn- Spez. = Po 


N ; | Leukocyten 
Tage | menge | Gew. B W 7 y , 








1050 | 1018 | 8,23 |1,427 |2,489 | 23 600 

1600 | 1012 | 9,47 |0,996 | 2,130 
1600 | 1012 | 9,47 10,996 | 2,130 
ı 1250 | 1015 | 7,60 |1,039 |1,262 | 12 800 
1250 | 1015 | 7,60 |1,039 | 1,262 
1600 | 1013 | 8,19 | 0,705 1,216 ' 12 300 


1400 | 1012 | 5,29 | 0,581 |0,980 | 10 000 
1400 | 1012 | 5,29 | 0,581 | 0,980 
10 1475 | 1012 | 6,72 |0,553 | 1,460 
11 |1475 1012 | 6,72 |0,553 | 1,460 8 400 
12 1800 | 1011 | 6,80 0,425 | 1,800 
13 || 1800 | 1011 | 6,89 |0,425 | 1,800 | 


SO IQ OGIPRPWID - 























Fall 3. Anhangsweise sei hier noch das Protokoll eines Falles von 
Iymphatischer Leukämie mitgeteilt, bei dem es im Anfang der Behand- 
lung (es war das 3. Rezidiv eines 54jährigen Mannes, das dann nach 
Monaten zum Tode führte) zunächst zu einer spontanen Remission kam. 

Ohne jede Medikation ging also hier in 11 Tagen ein Leukocyten- 
sturz von 24000 auf 8000 vor sich, wobei die Gesamtharnsäuremenge 
der letzten 6 Tage nur 50%, die Stickstoff- und Phosphorsäurewerte 
75% der in den ersten 6 Tagen ausgeschiedenen betragen. 














‚nebst einigen kritischen Bemerkungen über Unterernährung. 177 


Die angeführten Beispiele ergeben also außerordentlich markante 
‚Unterschiede zwischen der Röntgen- und der Atophanwirkung. Die 
Reaktion des Organismus stellt damit das Atophan nicht etwa als 
einen schwächeren, sondern als einen ganz anderen Reiz dar als die 
Strahlen. Wenn Dohrn vor Jahren die Möglichkeit erörterte, ob viel- 
leicht von dem stets vorhandenen Material an Harnsäurevorstufen unter 
der Atophanwirkung ein weit größerer Anteil als sonst gespalten und 
der Purinkomplex als Harnsäure aus dem Körper entfernt werde — 
und in ähnlichem Sinn argumentieren Schittenhelm und Ullmann — 
so wird man nach dem Ausfall unserer Versuche für die Atophanwirkung 
von den Harnsäurevorstufen ganz absehen und nur die beschleunigte 
und gesteigerte Ausscheidung der fertigen Harnsäure als den eigentlichen 
Atophaneffekt betrachten dürfen. Hierfür spricht vor allem auch. der 
Blutbefund. Denn wenn wir auch nicht in den häufig gemachten 
Fehler der Überschätzung der Blutzählungen verfallen wollen — an- 
gesichts der Tatsache, daß die drüsigen Organe, wie etwa die Leber, 
unvergleichbar größere Zellager darstellen als das zirkulierende Blut — 
so ist doch gerade beim Leukämiker ein außerordentlich zerfallsbereites 
Material im Blute vorhanden, und wegen dieser leichten Affizierbarkeit 
schienen uns ja die leukämischen Zellen ein so geeignetes Untersuchungs- 
objekt, gegen die sich nun das Atophan als zweifellos unwirksam erwies. 
Wenn Rösler und Jarczyk dem Atophan eine elektive Wirkung auf das 
Harnsäureausscheidungsvermögen der Niere absprechen wollen, da 
die leukämische Niere zur U-Ausscheidung hinreichend befähigt sei, so 
erscheint uns diese Bemerkung in Anbetracht der durch Atophan doch 
auch erheblich zu steigernden Ausscheidungsfähigkeit der normalen 
Niere wenig stichhaltig. Sicherlich würde sich analog den Fütterungs- 
versuchen mit nucleinhaltigem Material durch Atophandarreichung 
während einer Röntgenperiode sogar noch eine erhebliche Beschleu- 


 nigung der U-Ausfuhr erzielen lassen. 


Zusammenfassung. 


Aus unseren Versuchen, die gleichzeitig einige neue Belege für den 
Stoffwechsel des Leukämikers unter verschiedenen Einflüssen bei- 
bringen, ergibt sich einerseits, daß die Annahme eines Leukocyten- 
zerfalls nur da als erwiesen gelten kann, wo mit einer Abnahme der 
Leukocytenzahl eine deutliche Zunahme der ausgeschiedenen Stick- 
stoff-, Harnsäure- und Phosphorsäuremengen einhergeht; und dies 
scheint uns auch von Bedeutung für alle jene weitgehenden Schlüsse, 
die zuweilen aus Leukocytenschwankungen und Steigerungen der Harn- 
säureausfuhr im Sinne eines Leukocytenzerfalls gezogen werden. Ein 
Einfluß des Atophans auf die Leukocyten hat sich nicht feststellen lassen, 


Z. f. klin. Medizin. Bd. 100. 12 


178 E. Joel: Vergleichende Untersuchungen usw. 


so daß also andererseits durch die vorliegende Versuchsanordnung ein. 
erneutes Argument für die Wirkungsweise des Atophans als einer spe- 
zifischen Steigerung der Nierenleistung für die Harnsäureausscheidung 
gegeben ist. 


Literatur. 


Biberfeld, Zeitschr. f. exp. Pathol. u. Therapie 13, 301. 1913. — Cavina, Arch. 
f. klin. Med. 110, 585. 1913. — Dohrn, Klin. Wochenschr. 1923, S. 819. — Dohrn, 
Zeitschr. f. klin. Med. %4, H. 6. — Ellermann und Erlandsen, Arch. f. exp. Pathol. 
u. Pharmakol. 64, 28. 1911. — Glaser, Klin. Wochenschr. 1922, S. 1598. — Joel, 
Zeitschr. f. klin. Med. 95, 170. 1922. — Joel, Klin. Wochenschr. 1923, Nr. 48 u. 49. 
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28, 535. 1895. — Lossen und Morawitz, Arch. f. klin. Med. 83, 288. 1905. — Mendel, 
B., Dtsch. med. Wochenschr. 1922, Nr. 25. — Nikolaier und Dohrn, Arch. f. klin. 
Med. 93, 331. 1908. — Pribram und Rotky, Zeitschr. f. exp. Pathol. u. Therapie 
6, 75. 1909. — Quadrone, Zentralbl. f. inn. Med. 21, 521. 1905. — Rosenberger, 
Münch. med. Wochenschr. 1906, S. 209. — Rösler und Jarczyk, Arch. f. klin. 
Med. 10%, 573. 1912. — Salkowski, Virchows Arch. f. pathol. Anat. u. Physiol. 
50, 174. 1870. — Schittenhelm und Ullmann, Zeitschr. f. exp. Pathol. u. Therapie 
12, 360. 1913. — White und Hopkins, Journ. of physiol. 24, 42. 1899. 








(Aus der Medizinischer Abteilung des Landeskrankenhauses Braunschweig. 
[Oberarzt: Prof. Bingel].) 


Isthmusstenose der Aorta und septische Endokarditis. 


Von 
Ernst Focken, 
‚Assistenzarzt. 


(Eingegangen am 1. Februar 1924.) 


Im Jahre 1922 kamen auf der medizinischen Abteilung des Landes- 
krankenhauses zwei Patienten zur Beobachtung, bei denen neben einer 
Isthmusstenose der Aorta eine Endocarditis lenta bzw. Streptokokken- 
sepsis klinisch diagnostiziert und autoptisch festgestellt werden konnte. 
Ziemlich gleichzeitig berichtete Beneke!) über einen Fall von Endo- 
carditis lenta bei Isthmusstenose der Aorta, der unseren Fällen fast genau 
entspricht. Während Beneke an Hand seines Falles die Entstehung der 
Isthmusstenose der Aorta zu klären versucht, veranlaßt mich das Zu- 
sammentreffen der Endokarditis mit den Isthmusstenosen auf die Ur- 
sache dieses Zusammentreffens näher einzugehen. 

Das Krankheitsbild der Endocarditis lenta dürfte bei der Häufung 
der Fälle, die wir auch bei uns nach dem Kriege feststellen konnten, zur 
Genüge bekannt sein. Mit der Isthmusstenose der Aorta dagegen ist 
die Ärzteschaft im allgemeinen nicht so bekannt, obwohl ihr Vorkommen 
doch nicht so ganz selten ist. Meist wird sie — wie auch in dem Beneke- 
schen Fall — nicht klinisch diagnostiziert, sondern erst zufällig bei der 
Sektion gefunden. In der Literatur finden sich eine ganze Reihe von 
Berichten über diese Mißbildung. So veröffentlichte bereits 1886 Barie2) 
eine ausführliche Arbeit über 92 Fälle. Diesen fügte 1898 Brunner?) 
noch 13 weitere hinzu, so daß ihm zu seiner Arbeit, in der er den Ent- 
stehungsursachen der Isthmusstenose der Aorta nachgeht, im ganzen 
105 Fälle zur Verfügung stehen. Nach Vierordt!) waren im Jahre 1899 
im ganzen 130—135 Fälle bekannt. 

Unter der Isthmusstenose versteht man eine starke Verengerung der 
Aorta an einer schon normalerweise verengten Stelle des Gefäßes, die 
daher als Isthmus aortae bezeichnet wird. Der Isthmus aortae findet 
sich stets an typischer Stelle und erstreckt sich von der Übergangsstelle 
des Aortenbogens in die Aorta descendens, dicht unterhalb des Abgangs 
der Arteria subelavia bis unter die Einmündungsstelle des Ductus 


arteriosus Botalli. 
12° 


180 F. Focken: 


Besteht nun eine Verengerung des Isthmus aortae, so begegnet man 
gewöhnlich einer der beiden folgenden Formen der Stenose: Einmal 
entsteht sie durch ein diaphragmaartig in das Lumen vorspringendes 
Septum mit mehr oder weniger großer zentraler, häufig spaltförmiger 
Öffnung; das andere Mal zeigt die Aorta an dieser Stelle eine starke Ab- 
nahme ihres äußeren und inneren Umfanges, wie wenn sie durch eine 
Umschnürung verengt wäre. Oberhalb der Stenose ist die Aorta meist 
erweitert, häufig auch unterhalb. Die Erweiterungen werden in seltenen 
Fällen zu regelrechten Aneurysmen, von denen einige durch Ruptur den 
Tod herbeigeführt haben [nach Sella®) unter 100 Fällen der Literatur 
14 mal Ruptur]. Weiter nach abwärts sind Aorta und die von ihr ab- 
gehenden Gefäße meist stark verengt. Der Grad der Stenose wechselt in 
allen Übergängen, von einer eben bemerkbaren Einengung des Lumens 
bis zum vollständigen Verschluß (= Atresia aortae am Isthmus). Dem 
entspricht dann auch die Stärke des Kollateralkreislaufes, der. sich in- 
folge des Hindernisses ausbildet. Das Blut nimmt in diesen Fällen 
seinen Weg zur Aorta thoracalis bzw. abdominalis über die von der 
Arteria subelavia zur Rumpfwand abgehenden Gefäße, das sind die 
Arteriae mammariae interna, transversae scapulae, transversae colli 
und die intercostales supremae. [Diese Verhältnisse sind zuerst von 
Alexander Meckel®) 1827 ausführlich studiert und instruktiv abgebildet 
worden.] . 

Den Ductus arteriosus Botalli findet man bei Isthmusstenose der 
Neugeborenen gewöhnlich offen, bei Erwachsenen dagegen so gut wie 
stets geschlossen oder nur in so geringem Maße durchgängig, wie es auch 
bei Gesunden, ohne Aortenstenose und ohne Störungen zu verursachen, 
vorkommt. 

Der linke Ventrikel hypertrophiert meistens infolge des erhöhten 
Widerstandes, aber durchaus nicht in jedem Fall. Schließlich ist noch 
zu erwähnen, daß bei Isthmusstenose die Aorta häufig nur zwei Klappen 
aufweist. | 

Unter den klinischen Erscheinungen ist die wichtigste die starke 
Erweiterung der den Kollateralkreislauf vermittelnden oberflächlich 


gelegenen Arterien an Brust und Rücken. Man sieht sie in der Mehrzahl 


der Fälle zwischen und über den Schulterblättern und zu beiden Seiten 
des Sternums [s. Abb. bei Romberg?)]. Wird einmal am Lebenden eine 
Isthmusstenose diagnostiziert, so hat so gut wie ausnahmslos diese Er- 
scheinung bei dem Untersucher den Gedanken an diese Mißbildung auf- 
kommen lassen. Gelegentlich läßt sich am linken Sternalrand oder auf 
dem Rücken zwischen Wirbelsäule und Schulterblatt entsprechend der 
Stelle der Isthmusstenose oder schließlich auch über erweiterten Kollate- 
ralen ein systolisches Geräusch wahrnehmen. Von weiteren Symptomen 
sind noch zu nennen eine Verspätung des Femoralispulses gegenüber 











m—m—m— mm ng u nn 





Isthmusstenose der Aorta und septische Endokarditis. 181 


dem an der Radialis und außerdem häufig eine auffallende Kleinheit 
des Femoralispulses. Die Verspätung des Femoralpulses ist zurückzu- 
führen auf den Umweg, den der Blutstrom über die verhältnismäßig 


. engen Kollateralen zu nehmen gezwungen ist, die Kleinheit auf die ver- 


ringerte Stärke des Gefäßes. 

Beschwerden und Folgeerscheinungen der Isthmusstenose sind Pte 
überhaupt nicht vorhanden. Die Träger der Anomalie sind vielmehr 
nicht selten imstande, jegliche Arbeit, sogar Militärdienst zu leisten, und 
können ein sehr hohes Alter (nach Brunner 92 Jahre) erreichen. Diese 
Tatsachen tragen mit dazu bei, daß die Isthmusstenose so selten am 
Lebenden gefunden wird. Sind aber Folgeerscheinungen vorhanden, 
so bestehen diese zumeist in Kopfschmerzen, Schwindel, Mattigkeit in 
den Beinen, Neigung zu Apoplexien infolge hohen Blutdrucks in den 
Gehirnarterien. 

Über die Entstehung dieser kongenitalen Mißbildung gehen die An- 
sichten der Forscher weit auseinander. Eine Anzahl neigt zu der Hypo- 
these, daß die Stenose durch eine vom obliterierenden Ductus Botalli 
fortgeleitete Endarteriitis hervorgerufen wird, während Rokitanskys) 
annahm, daß der fragliche Abschnitt der Aorta im fötalen Zustand ver- 
harrt ist; er sprach deshalb von der ‚Persistenz des Isthmus aortae‘“. 
Beneke glaubt, daß die Isthmusstenose zustandekommt durch eine an- 
haltende Kompression des Thorax in seinen unteren Abschnitten durch 


die aufwärts geschlagenen Beine während der Embryonalzeit. Dieser 


Druck würde auch das Gebiet der Aorta thoracalis treffen und das Blut 
in die vom Aortenbogen abgehenden Gefäße hineintreiben. Beneke wird 
zu dieser Hypothese geführt durch das gleichzeitige Vorhandensein einer 
kongenitalen Trichterbrust bei seinem Fall, deren Zustandekommen 
er ebenfalls durch’ das Anpressen der Füße gegen die Brust erklärt. In 
den Fällen, in denen es nicht zu einer kongenitalen Trichterbrust ge- 
kommen ist, wäre der Druck für die Entstehung einer solchen nicht an- 
haltend genug gewesen, wohl aber für die Entstehung der Isthmus- 
stenose. Das gleichzeitige Vorkommen von Stenose und Trichterbrust 
ist jedenfalls mehrfach beobachtet worden?). 

Karl Gr., 20 Jahre alt, Rollkutscher. Aufgenommen am 30. XII. 1921. 

Anamnese: Früher angeblich gesund, bei schwerer körperlicher Arbeit jedoch 
oft Atemnot und Herzklopfen. Nie Gelenkrheumatismus. Im Sommer 1921 
mehrere Geschwüre am linken Oberschenkel, die nur schlecht heilten. Keine vene- 
rische Infektion. Anfang Dezember 1921 infolge Grippe bettlägerig, hat dann 
wieder gearbeitet.. Einige Tage vor der Aufnahme erneut Kopf-, Brust-, Rücken- 
schmerzen, Abgeschlagenheit und Schnupfen. 

Status: Großer mittelkräftiger Mann mit gerötetem Gesicht. Mittlerer Er- 
nährungszustand. Keine Odeme. An der Außenseite des linken Oberschenkels 
mehrere einmarkstückgroße, stark pigmentierte, glatte Narben. 


Zunge grau-weiß belegt, hintere Rachenwand gerötet, Tonsillen klein, am 
weichen Gaumen Schleimhautblutungen. 


18: E. Focken: 


Thorax: Am medialen Rand des rechten Schulterblattes tritt eine Arterie 
von der Stärke einer dicken Stricknadel aus der Tiefe und biegt am Scapulawinkel 
nach vorne um. Sie liegt dicht unter der Haut und pulsiert stark. Über dieser 
Arterie, zwischen Wirbelsäule und Schulterblatt, hört man ein lautes systolisches 
Geräusch. In der linken Fossa supraspinata sieht man ebenfalls ein regelwidriges 
Gefäß. 

Lungen: Beiderseits hinten unten leises Bronchialatmen und kleinblasiges 
Rasseln. 

Spärliches Sputum. Keine Tbe.-Bacillen. 

Durchleuchtung: Im Bereich beider Oberfelder geringe streifige Verschattung. 

Herz: Spitzenstoß im 7. Intercostalraum, fast in der vorderen Axillarlinie, 
hebend. Linke Grenze am Ort des Spitzenstoßes, rechte zwei Querfinger breit rechts 
vom rechten Sternalrand. 

An der Basis lautes systolisches und leises diastolisches Geräusch, stark be- 
tonter zweiter Ton. 

Puls: Celer et altus. Frequenz: 100—110. Die Milz überragt den Rippenbogen 
um zwei ne ziemlich derb, Leber nicht zu fühlen. 

Urin: Z: —, Eiweiß in Spuren, gelegentlich einige Leukocyten. 

eng 3840, 22: 

Blutkulturen: Keimfrei bei mehreren Untersuchungen. 

Am 17. II. 1922. Nach dem recht schweren Zustand während ddr ersten 
Wochen trat allmählich eine geringe Besserung des Allgemeinzustandes ein. Die 
Stauungserscheinungen über den Lungen schwanden, der Kranke blieb aber matt 
und kurzatmig, klagte über dauernden Hustenreiz und war infolge häufigen Nasen- 
blutens blaß geworden. Temperatur 37—39°. 

Rechtsseitige Otitis media purulenta mit Perforation des Trommelfells, die 
innerhalb weniger Tage ablief. 

Die WaR., die wegen der eigentümlichen Narben am linken Oberschenkel 
angestellt wurde, fiel stark positiv aus, daher antiluetische Kur (Neosalvarsan 
und Sublimat nach Linser). 

WaR. nach der ersten Salvarsaninjektion zweifelhaft, D.M. —, 8 Wochen 
nach Beendigung der Kur beide Reaktionen negativ. 


Am 25. III. Unter der antiluetischen Behandlung (Neosalvarsan 5,25 und 


Sublimat 0,13) trat eine deutliche Besserung des Allgemeinzustandes mit Gewichts- 
zunahme und Schwinden der Mattigkeit ein. Die Temperatur war allmählich 
abgesunken und näherte sich der Norm. Der Herzbefund hatte sich insofern 
geändert, als die Verbreiterung nach links zurückgegangen und ein lautes systo- 
lisches Geräusch an der Spitze aufgetreten war; das systolische und diastolische 
Geräusch an der Basis blieb unverändert. Nach dem Absinken des Fiebers waren 


die erweiterten Kollateralen auf dem Rücken nur noch zu fühlen, nicht mehr zu ° 


sehen, das systolische Geräusch blieb unverändert. 

Wie die Milz, so überragt jetzt auch die Leber den Rippenbogen um zwei 
Querfingerbreiten. 

17. IV. 1922. In der Folgezeit besserte sich der Allgemeinzustand sehr wesent- 
lich, so daß der Kranke aufstehen und zuletzt sogarim Garten spazierengehen konnte. 
Nach längerem Umhergehen stellte sich allerdings eine cyanotische Verfärbung 
im Gesicht, an Händen und Füßen ein, gelegentlich auch geringes Knöchelödem. 

Temperatur dauernd normal. 

Blutbild: Hämogl. 45%, Erythroc. 4,3 Mill., Leuk. 3900 (Neutr. 57, Ly. 31, 
Eos. 1, Überg. 5,5, Mono. 5,5%). 

Bei einer Spielerei erlitt der Kranke eine Verletzung der Nase. Es kam infolge- 
dessen in den nächsten 24 Stunden wiederholt zu starkem Nasenbluten und zum 


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| 











— EEE TE DEE LEGALE AA UN AL LEE ET a CE ET EEE 





Isthmusstenose der Aorta und septische Endokarditis. 183 


Erbrechen von ca. 800 ccm geronnenen Blutes. Hochgradige Anämie und Körper- 
schwäche. 

Puls vorübergehend sehr klein. 

Blutbild: Hämogl. 35%, Erythroc. 1,74 Mill., Leuk. 4920. Der Blutverlust 
brachte den Kranken erheblich zurück, auch stellte sich wieder Fiebersteigerung 
ein. Die Zeichen der Aorteninsuffizienz rückten mehr in den Vordergrund des Herz- 
und Gefäßbefundes. Das diastolische Geräusch über dem Sternum wurde laut und 
blasend, die sicht- und fühlbaren großen Schlagadern zeigten die charakteristische 
Höhe und Steilheit des Aorteninsuffizienzpulses. 

23. V. Gegen ärztlichen Rat verläßt der Kranke die Anstalt. 

Nach wenigen Tagen wird erin desolatem Zustand wieder eingeliefert und stirbt 
bald darauf. 

Die klinische Diagnose lautete: Endocarditis lenta, Aorteninsuffizienz, Herz- 
hypertrophie und Dilatation. Milztumor, Herdnephritis, Infarkte? Isthmusstenose 
der Aorta mit Arterienanomalien. 

Aus dem Sektionsprotokoll (Prof. W. H. Schultze) sei nur das Wichtigste 
angeführt: 

Längsdurchmesser des Herzens beträgt 15,5 cm. Das rechte Herz ist erweitert, 
besonders im Ventrikelteil, Dicke der Muskulatur 0,5 cm. Trabekel flach. Das 
linke Herz zeigt ebenfalls starke Hypertrophie und Dilatation. Die Muskulatur 
ist blaßbraunrot, zeigt hier und da feine weiße Streifen. Am Papillarmuskel mißt 
der linke Herzmuskel 2cm. Die Kranzgefäße sind zart. Herzgewicht 550 g. 

Die Mitralis ist stark geschrumpft, an den verdickten Rändern finden sich poly- 
pöse Auflagerungen, herausgewachsen aus deutlich sichtbaren Endokarddefekten. 
Ihre Durchgängigkeit ist leicht eingeschränkt, die Schlußfähigkeit anscheinend 
etwas behindert. Sehnenfäden etwas verdickt und verkürzt. 

Das Endokard zeigt im Aortenteil eine Weißfärbung und etwas unterhalb 
der Aortenklappen feine weiße Taschenbildung. Die Trabekel sind ebenfalls ab- 
geplattet. 

Die Aortentaschen, zwei an Zahl, sind sehr groß (die größere liegt genau 
unterhalb des Abgangs der hinteren Kranzarterie, während die andere unter dem 
Abgang der anderen Kranzarterie liegt). Die Klappen selbst sind schmal, stark 
verdickt, am freien Rande fast von Stricknadeldicke. Hier haben sie stark höckrige 


- Oberfläche. Teils sieht man blumenkohlartige Gebilde, teils geschwürigen Zerfall 


mit Bildung feiner Höcker von weißer und roter Farbe. Zwischen beiden Klappen 
sieht man eine starke Einziehung mit Intimadefekt, die für eine Erbse Platz bietet. 
An ihrem unteren Rande finden sich, wie an den Rändern der Mitralis, auf dem 
Endokard mehrere wärzchenförmige und polypöse Auflagerungen. Die Schluß- 
fähigkeit der Klappen ist stark beeinträchtigt, das Ostium infolge Klappenver- 
dickungen verengt. 

Die Aorta ist zart und glatt. Sie hat einen Umfang von 6 cm. An der Botallus- 
narbe findet sich eine hochgradige Verengerung, die sich schon von außen wie 
durch eine Umschnürung hervorgerufen darbietet. Der Umfang beträgt hier 
16 mm. Das Lumen ist an dieser Stelle für eine Sonde eben durchgängig. Nach 
Aufschneiden hat man nur einen schmalen Spalt vor sich, in der Tiefe nach der 
Pulmonalis zu einen etwa 3 mm tiefen, geschwürigen Zerfall der Intima mit wie- 


_ derum verrukösen und polypösen Auflagerungen auf dem Geschwürsgrund und 


der Gegend unterhalb der Stenose. Hier sieht man die Intima sich in einem keil- 
förmig bis zum Abgang der ersten I. C.-Arterie reichenden Gebiet plateauartig 
vorwölben; ihre Oberfläche ist hier spiegelnd. 

Die oberhalb der Stenose abgehenden Gefäße erscheinen nicht wesentlich 
erweitert. 


184 E. Focken: 


Der Ductus Botalli ist geschlossen. Das Foramen ovale ist offen, aber gut 


gedeckt. 


Bauchaorta zart und glatt. Maße der Bauchaorta und der Arteriae iliacae: 


Durchtritt durchs Zwerchfell 3,6 cm, Teilungsstelle 2,7 em, Iliacae 1,9 cm. 
Milz: Maße 21 :11:1,5cm Gewicht 725g. Kapsel blaugrau, glatt, gleich- 
mäßig. Schnittfläche schwarzrot, Follikel und Trabekel deutlich. 
Nieren: Die linke Niere ist groß, blaßbraun. Kapsel läßt sich von der glatten 
Oberfläche gut abziehen. An der Oberfläche verschiedene grubenförmige Ein- 


ziehungen. Venensterne deutlich. Auf der Schnittfläche treten die Glomeruli 


meist deutlich hervor. 


Die rechte Niere verhält sich wie die linke, nur daß sie wesentlich blutreicher ist. 


Histologisch zeigen beide Nieren das Bild der subakuten herdförmigen Glome- 
rulonephritis. 


Im klinischen wie im pathologisch-anatomischen Bilde haben wir 


hier also auf der einen Seite den charakteristischen Befund der Endo- 


carditis lenta vor uns, auf der anderen Seite den der Isthmusstenose der 


Aorta. Als Zeichen der Endocarditis lenta sehen wir klinisch langdauern- 
des, zeitweise remittierendes Fieber, Anämie, Nasenbluten, Milztumor, 


Herzgeräusche, Eiweißausscheidung. Der Nachweis des Streptococcus 
mitior gelang allerdings nicht, wie ja neuerdings öfter berichtet wird. 


Die Krankheit erstreckte sich über !/, Jahr; in ihrem Verlauf zeigte 


sie zweimal eine deutliche Remission, die erste im März vor dem Eintritt 


des plötzlichen starken Blutverlustes, die zweite Anfang Mai, als der 
Patient sich von dem Blutverlust erholt hatte. 


” 


Die Todesursache bildete zum Schluß eine Glomerulonephritis ver- - 


bunden mit einem Versagen des Herzens. 

Pathologisch-anatomisch finden wir verruköse Auflagerungen auf 
Aorten und Mitralklappen, einen etwa 3 mm tiefen geschwürigen Zerfall 
der Intima mit polypösen und verrukösen Auflagerungen auf dem Ge- 


schwürsgrund im Bereich der Stenose, septischen Milztumor, Glomerulo- 
nephritis, Infarkte oder Aneurysmen fanden sich dagegen nicht, weder 


in Milz noch Nieren. 

Dem klinischen Verlauf nach zu urteilen, hat die Endocarditis zuerst 
die Aortenklappen befallen, hernach erst die Mitralis; denn die Erschei- 
nungen der Aorteninsuffizienz (Pulsus celer et altus) bestanden schon 
bei der Aufnahme, wenn sie auch im weiteren Verlauf der Erkrankung 
mehr in den Vordergrund traten. Die Erscheinungen an der Mitralis waren 
im Beginn der Beobachtung noch nicht nachzuweisen, sondern traten 
erst später auf. Als Eintrittspforte der Infektion dürfen wir wohl 
die Geschwüre an den Unterschenkeln, die kurz vor Beginn der Er- 
krankung aufgetreten waren, ansehen. An einer Polyarthritis, die sonst 
so häufig in der Anamnese der Endocarditis-lenta-Kranken vorkommt, 
hat der Patient nie gelitten. 

Neben den Zeichen der Endocarditis lenta ergab sich der typische 
Befund der Isthmusstenose der Aorta. Klinisch stand, wie zumeist, im 


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Isthmusstenose der Aorta und septische Endokarditis. 185 


Vordergrund die abnorme Entwicklung von Arterien, die namentlich 
zwischen Wirbelsäule und Schulterblättern deutlich zu sehen waren. 
Hier hörte man rechterseits ein lautes systolisches Geräusch. Die Be- 
schwerden, die der Kranke von dieser Anomalie vor seiner septischen 
"Infektion hatte, waren relativ gering, war er doch mehrere Jahre hindurch 
imstande gewesen, schwere Lasten zu transportieren, wie es sein Beruf 
als Rollkutscher erforderte. 

Eine Trichterbrust fand sich nicht bei ihm. 

Pathologisch-anatomisch handelt es sich bei der ziemlich hochgra- 
digen Stenose um die zweite der beiden, oben geschilderten Haupt- 
formen der Isthmusstenose, bei der die Verengerung der Aorta wie durch 
eine Umschnnürung zustandegekommen zu sein scheint. 

Sodann ist auch der Sitz der Stenose um die Botallusnarbe ein ty- 
pischer. Eine Erweiterung der Aorta oberhalb oder unterhalb der Ver- 
engerung war nicht festzustellen. 

Besonders hingewiesen sei noch auf den unmittelbar unterhalb der 
Stenose befindlichen atheromatösen Herd. Der linke Ventrikel war, 
wie gewöhnlich bei Isthmusstenose, stark hypertrophiert und dilatiert, 

in geringem Grade auch der rechte. Der Ductus arteriosus Botalli war 
geschlossen. Die Aorta hatte nur zwei Klappen. 

Für eine überstandene Lues fanden sich trotz der stark positiv aus- 
‚sefallenen WaR. an der Leiche keine Anhaltspunkte. Ein positiver 
Ausfall der WaR. ohne Lues ist bei Endocarditis lenta nicht ganz selten, 
und war auch in dem Benekeschen Fall beobachtet worden. 

Ella Kr., 18 Jahre alt, aufgenommen am 21. XI. 1922. Anamnese: früher 
gesund, insbesondere nie irgendwelche Beschwerden von seiten des Herzens. Im 
August 1922 Mandelentzündung. Anfang November leichtes Saumgeschwür an 
der rechten großen Zehe. Am 13. XI. plötzlich erkrankt mit Frösteln, Kopf- und 
Rückenschmerzen, Abgeschlagenheit. Wegen Typhusverdacht eingeliefert. 

Status: Großes, kräftig gebautes, gut genährtes Mädchen. An der rechten 
großen Zehe ein in Abheilung begriffenes Saumgeschwür. Von der Mitte des 
Sternums ziehen zu beiden Seiten desselben nach abwärts divergierend bis zur 
Höhe des Nabels zwei etwa stricknadeldicke Arterien. Ebenso finden sich am 
lateralen Rande des rechten Schulterblattes dicht unter der Haut kleine 
Arterien. 

Die Pulse der Arteriae femorales, popliteae, tibiales ant. nd post. fehlen voll- 
ständig. Der Blutdruck in der rechten Brachialis beträgt 115, in der linken 
105 mm Hg (nach R. R.). 

Be, hinten oben, am deutlichsten zwischen Wirbelsäule und Schulterblatt, 
hört man ein lautes, blasendes, systolisches Geräusch. Klinisch und röntgenologisch 
ließen sich Veränderungen am Herzen nicht erkennen, auch nicht an der Aorta, 
obwohl, da die Diagnose „Isthmusstenose“ gestellt war, besonders darauf geachtet 
wurde. 

Mäßige Milzschwellung. Urin frei. 

Temperatur 39°. Leuk. 4600. Keine Eosinophilen. . Die Blutkultur ergab 


mehrmals hämolytische Streptokokken. 
WaR.: negativ. 


186 E. Focken: 


Verlauf: 31/, Wochen nach Beginn der akuten Erscheinungen erlag die Kranke 
der Sepsis. 

Die klinische Diagnose lautete: Streptokokkensepsis nach Saumgeschwür 
an der rechten großen Zehe. Isthmusstenose der Aorta mit Arterienanomalien. 
Endokarditis? Endaortitis. 

Auszug aus dem Sektionsprotokoll (Prof. W. H. Schultze): 

Herz faustgroß, Überzug glatt. Muskulatur nicht verdickt, keine Herde. 
Pulmonalklappen frei, ebenso die der Aorta, bis auf den hinteren Halbmond, wo 
sich ganz kleine Blutplättchenniederschläge finden. Schließungsränder der übrigen 
Klappen und das übrige Endokard vollkommen frei. Bei der näheren Betrachtung 
der Aortenklappen fällt außerdem auf, daß der linke und der rechte Halbmond 
in einer kleinen Strecke miteinander verwachsen sind, ferner der linke Halbmond 
auffallend klein ist. 

Aorta: Im Anfangsteil einige gelbe Flecke, Veränderungen, die sonst 
fehlen. 

Dicht unterhalb der Einmündungsstelle des Ductus Botalli läßt die Aorta 
am sog. Isthmus aortae eine deutliche, ringförmige Verengerung erkennen. Während 
die Aorta dicht oberhalb der Klappen 5 cm mißt, beträgt ihr Umfang an der Ver- 
engerung nur 2cm. Die Verengerung ist dadurch besonders hochgradig, daß eine 
ringförmige, ca. 2mm hohe Leiste wie eine Falte in das Lumen hineinragt und 
dieses dadurch bis auf eine Öffnung von knapp Linsengröße verengt. Unterhalb 
der Stenose ist die Wand etwas aneurysmatisch ausgebuchtet, die Aorta mißt 
hier wiederum 5cm, Brust- und Bauchaorta sind auffallend schmal, am Zwerch- 
felldurchtritt 2,5 cm, am Abgang der Nierenarterie 2 cm; ebenso die Schenkel- 
arterien. Dagegen sind die beiden Arteriae subelaviae sowie die beiden Arteriae 
mammariae int. auffallend weit. 

Der Ductus Botalli und das Foramen ovale sind geschlossen. 

Die an und für sich schon kleine Stenosenöffnung ist noch durch einen älteren 
— weist schon Organisation auf — 2'/, cm langen gemischten Thrombus verlegt. 
Der Thrombus sitzt unmittelbar unterhalb der Stenose auf. Unter dem Thrombus 
zeigt sich die Intima in einem linsengroßen Bezirk rauh, mißfarben, wie an- 
gefressen. 

Die Milz ist stark vergrößert: 17:12:6cm. Auf der Oberfläche erkennt 
man zahlreiche landkartenartige gelbe Flecken, die sich auf dem Schnitt als weiße, 
teils zentral erweichte Infarkte erweisen. 

Nieren: Oberfläche glatt, starke Füllung der Gefäße, punktförmige Blut- 
austritte und dunkelrote Flecken von Hanfkorngröße mit feinen gelben Zentren. 
Zeichnung der Nieren scharf. In den Nierenpapillen zahlreiche streifenförmige 
Herde, hier und da mit einem roten Hof umgeben. 

Histologisch: Eitrige Glomerulonephritis, Ausscheidungsherde. 


Auch bei dieser Kranken handelt es sich also um einen fast in jeder 
Beziehung typischen Fall von Isthmusstenose der. Aorta. Ihre Form ist - 
als eine Kombination der beiden oben beschriebenen Hauptformen 
anzusehen, indem die Verengerung nämlich einmal durch eine Ein- 
schnürung der Aorta — der äußere Umfang mißt hier 2 cm — hervor- 
gerufen wird, andererseits durch eine in das Lumen vorspringende 
Leiste. 

Aortenklappen finden wir im Gegensatz zu unserem ersten Fall 
diesmal zwar drei, jedoch sind zwei derselben eine Strecke miteinander 





Isthmusstenose der Aorta und septische Endokarditis. 187 


_ verwachsen, außerdem ist die eine von diesen auffallend klein, so daß 
_ funktionell in diesem Falle wohl nur zwei Aortenklappen in Frage 
kommen. 

Obwohl die Aorta doch in recht hohem Grade verengt ist, hat die 
Stenose auf den allgemeinen Körperzustand ihrer Trägerin bis zu ihrer 
Erkrankung keinen Einfluß gehabt. In der Nähe der Verengerung 
_ findet sich, wie so häufig bei Isthmusstenose, eine atheromatöse Ver- 
änderung der Intima, hervorgerufen durch die dort bestehenden ab- 
normen Strömungsverhältnisse. An der rauhen Intima kam es zum 
Niederschlag von Thrombocytenmassen mit Streptokokkenansiedlung. 
Sonst fanden sich nirgends im ganzen Körper, auch nicht in der rechten 
großen Zehe, der Eingangspforte der Bakterien, irgendwelche septischen 
Herde. 

In den beiden vorliegenden Fällen hat es sich also um jugendliche 
Individuen mit typischer kongenitaler Isthmusstenose gehandelt. Von 
ihrem Geburtsfehler hatten sie keine bzw. nur geringe Beschwerden. 
Beide erkrankten an Endokarditis bzw. Endarteriitis. 

Wie eingangs erwähnt wurde, beschreibt Beneke einen ganz ähnlichen 
Fall. Ist nun das Zusammentreffen von Isthmusstenose und septischer 
Endokarditis ein zufälliges oder nicht? Und welche Erklärungen lassen 
sich im letzteren Falle dafür finden ? 

Soweit mir die Literatur zur Verfügung stand, habe ich in den Ar- 
beiten, die über Isthmusstenose erschienen sind, nach Anhaltspunkten 
für septische Endokarditiden gefahndet, aber lediglich eine Erwähnung 
von Brunner?) festgestellt, wonach Lüttich und Barth „Vegetation“ auf 
der Aorta, Laennec und Quinguand auf Mitralis und Aorta gefunden 
hätten. | 

Hingegen fand ich bei der Isthmusstenose der Erwachsenen sehr häufig 
erwähnt (Brunner fand sie in einem Drittel seiner 105 Fälle von Isthmus- 
 stenose), daß atheromatöse Veränderungen der Aorta um die verengte 
Stelle bestanden, und zwar nicht nur bei älteren Individuen, sondern 
gerade bei Jugendlichen. Diese Veränderungen sind unbedingt als se- 
kundäre aufzufassen, hervorgerufen durch die besonderen Strömungs- 
verhältnisse (Wirbel u. dergl.) infolge der Stenose. An den atheroma- 
tösen Stellen ist der Anprall des Blutes abnorm stark. So ist in unseren 
beiden Fällen die Entstehung des keilförmigen bzw. des linsengroßen 
atheromatösen Herdes unmittelbar unterhalb der Stenose auf die Weise 
zu erklären, daß der dünne Blutstrahl, der durch die stenosierte Stelle 
mit großer Kraft hindurchspritzte, diese Stelle der Aortenwand dauernd 
besonders stark belastet und dadurch beschädigt hat. 

Schottmüller!®) betont bezüglich des Vorkommens der schleichenden- 
Sepsis (Endocarditis lenta), daß die betreffenden Kranken zumeist früher 
eine Polyarthritis durchgemacht haben. Die an sich wenig virulenten 


188 E. Focken: 


Erreger der End. lenta vermehren sich unter normalen Verhältnissen 
nicht im Blute, indem sie durch die bactericide Kraft desselben abgetötet 
werden. Gelangen sie einmal in den Kreislauf, so kommt es daher im 
allgemeinen nicht zur Ansiedlung. Geschieht es aber doch, so findet 
die Ansiedelung nach Schottmüller auf den Klappen statt. ‚Es ist ver- 


ständlich, daß diejenigen Menschen, welche infolge früher überstandener 


Polyarthritis an den Herzklappen verruköse Auflagerungen haben, den 
Kokken geeignete Haftstellen bieten und so mehr gefährdet sind. So 
erklärt es sich, daß die Mehrzahl unserer Endokarditiskranken früher 
mehrfach an Gelenkrheumatismus gelitten haben.“ 

Sollte nun nicht, wie die Polyarthritis durch die verrukösen Klappen- 
auflagerungen den Boden für eine spätere Viridanssepsis bereitet, so 
auch eine Isthmusstenose der Aorta die Ansiedelung von Sepsiserregern 


begünstigen? Es bestehen nämlich, wie wir gesehen haben, in einem be- 


trächtlichen Teil der Fälle von Isthmusstenose atheromatöse Verände- 
rungen der Aortenintima im Bereich der Stenose oder in deren Umge- 
bung. Auf diesen siedeln sich, so kann man sich vorstellen, die Erreger 
an und rufen von hieraus dann sekundär durch Toxinwirkung die endo- 


karditischen Veränderungen an den Klappen hervor. Ganz analog wie 


wir erklärt Mühlhaus!!) das Zustandekommen einer Viridanssepsis in 
einem Fall von offenem Ductus Botalli. Wir sehen darin eine Stütze für 
unsere Ansicht. 

Während in dem Mühlhausschen Fall die Klappen keinerlei Verände- 
rungen zeigten, fand sich die Innenfläche der Arteria pulmonalis rechts 
und vorn von der Teilungsstelle des Gefäßes in einem 1-Pfennigstück- 
großen Gebiet mit zottigen grauroten Auflagerungen bedeckt. Mühl- 
haus nimmt u. E. mit-Recht an, daß die endokarditischen Prozesse ent- 
standen sind auf dem Boden von atheromatösen Veränderungen, die 
ihrerseits zustandegekommen sind durch den Anprall des aus dem offenen 
Ducutus gegen die Wand der A. pulmonalis gerichteten Blutstrahles. Daß 
sich am offen gebliebenen Ductus Botalli häufig endarteritische Wuche- 
rungen bilden und sich auf diesen dann leicht Kokken ansiedeln, in gleiche: 
Weise wie auf den Herzklappen, dafür bringt Mühlhaus eine ganze Reihe _ 
von Belegen aus der Literatur. | b 

Aus unseren beiden und der Benekeschen Beobachtung geht hervor, 
daß die Isthmusstenose der Aorta die Entstehung einer Endokarditis 
bzw. Endarteriitis lenta begünstigt, und im Hinblick auf die Mühl- 
haussche Arbeit muß man sagen, daß überhaupt angeborene Anomalien 
des Kreislaufsystems diese Disposition abgeben, und daß sie einen ebenso 
wichtigen Punkt in der Anamnese und in dem Untersuchungsbefund dar- 
stellen, wie die von Schottmüller aufgeführten erworbenen, insbesondere 
die rheumatischen Schädigungen der Herzklappen. 





Isthmusstenose der Aorta und septische Endokarditis. 189 


Literatur. 


1) Sitzungsbericht des Vereins der Ärzte in Halle, Münch. med. Wochenschr. 
1922, S. 413. — ?) Barie, Du retrecissement congenital de l’aorte descendante. 
Rev. de med. 1886, S. 343, 408, 501. — ?) Brunner, Ein Fall von ÖObliteration der 
Aorta an der Einmündungsstelle des Ductus Botalli. Dtsch. med. Wochenschr. 
1898, S. 794— 798. — *) Vierordt, Angeborene Herzkrankheiten. Nothnagel spez. 


, Pathol. u. Therapie 1899, Bd. XV, I. 2, S. 166. — °) Sella, Aortenruptur und Aorten- 











aneurysma bei der Stenose am Isthmus. Zieglers Beitr. 49, H. 3. 1910. —®) Meckel, 
Alex., Arch. f. Anat. u. Physiol. 1827, S. 345. — ?) Romberg, Krankheiten des 
Herzens und der Blutgefäße 1921, S. 670. — ®) Rokitansky, Handbuch der patho- 
logischen Anatomie 2, 585. — ?) Lommel, Über angeborene Verengerung und Ver- 


, schließung des Aortenisthmus. Münch. med, Wochenschr. 1917, S. 190. — 


10) Schottmüller, Endocarditis lenta. Münch. med. Wochenschr. 1910, S. 617,(697. 
— 11) Mühlhaus, W., Über selbständige Persistenz des Ductus arteriosus Botalli. 


 (Inaugural-Dissertation. Göttingen 1923.) 


Über Poliomyelitis, besonders die differentielle Diagnose. 
Von 
Prof. 8. T. Sörensen, 
ehem. Direktor des Blegdamspitales in Kopenhagen. 
Mit 3 Kurven. 
(Eingegangen am 8. Dezember 1923.) 


Um das typische Bild der Krankheit nicht zu verwischen, habe ich 
von meiner früheren!) Zusammenstellung von 92 Poliomyelitisfällen 
4 Kranke, die einen etwas abweichenden Symptomenkomplex darboten, 
weggelassen, während 2, die nur geringere Abweichungen zeigten, mit- 
genommen sind. Diese 6 Fälle bieten in diagnostischer Beziehung Inter- 
esse dar, und ich werde deshalb die Krankengeschichten hier mitteilen. 

Einige allgemeine Bemerkungen über die differentielle Diagnose der 
Poliomyelitis möchte ich doch vorausschicken. 

Bei dieser können zwei Aufgaben vorliegen. 1. die gewöhnlichen 
Poliomyelitiden von Myelitiden anderer Art, 2. die cerebralen Formen 
der Poliomyelitis von anderen Encephalitiden zu trennen. 

Beiden Aufgaben ist es gemeinsam, daß die Unterscheidungsmerk- 
male hauptsächlich klinischer, mitunter epidemiologischer Art sind, 
indem wir durch die Untersuchungen einer Reihe von Forschern — 
Landsteiner und Popper, Flexner und Lewis, Levaditi u. a. — zwar 
wissen, daß die Krankheit auf Affen übertragbar ist, dieses bisher in 
der Praxis aber keine große Rolle gespielt hat, hauptsächlich wohl, weil 
es besondere Versuchstiere und geschulte Technik erfordert. 

Während die als 2. bezeichnete Aufgabe seit Strümpells Mitteilungen 
aus 1884 und 1885?) lebhaftes allgemeines Interesse erweckt hat, ist 
bei 1. das Pathologisch-Anatomische besonders diskutiert ‘worden. 

Medin?) behauptet doch in 1896, daß alle Lähmungen, die im An- 
schluß an Infektionskrankheiten entstehen, von Poliomyelitis zu trennen 
sind, und gibt an, daß er keinen Fall von akuter, idiopathischer trans- 
verseller Myelitis bei einem Kinde gesehen hat. 

Von dem letzten Verhältnis hat Verf., der weder Nervenarzt noch 
Kinderarzt in gewöhnlichem Sinne ist, keine Meinung. Bei den In- 
fektionskrankheiten, zu welchen eingehende Kenntnis vorhanden ist, 
habe ich, wie Medin, keine Poliomyelitiden getroffen. Dagegen habe ich 
bei Keuchhusten 4 Kinder mit encephalitischen Symptomen gesehen, 


!) Zeitschr. f. Hyg. und Infektionskrankh. 101, 1. 
*) Jahrbuch f. Kinderheilkunde. ®) Nord. med. Archiv. 


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S. T. Sörensen: Über Poliomyelitis, besonders die differentielle Diagnose. 191 


und da gleichzeitig Poliomyelitis in Kopenhagen häufiger als gewöhnlich 


vorkam, wäre möglich von anderen an eine cerebrale Form derselben 


gedacht. 

Die Trennung der Poliomyelitiden von anderen Myelitiden betreffend, 
behandelte ich gleichzeitig mit den erwähnten Poliomyelitiden einen 
Kranken und im Jahre 1902 einen anderen, wo die Diagnose zweifel- 
haft erschien. 

Der erste war ein 6jähriger Knabe, welcher am 24. X. 1908 auf- 
genommen, am 24. XI. entlassen wurde. 


Krankengeschichte Nr. I. Der Kranke hatte 14 Tage vor der Aufnahme an 
Angina gelitten, wurde 3 Tage vor derselben schlaff in allen Gliedern, hatte in 
den letzten 5 Tagen Schmerzen im Rücken und mitunter im Kopfe, die letzten 
2 Tage Fieber. Keine Krämpfe, kein Erbrechen. 

Bei der Aufnahme wird er von schmächtigem Körperbau, mager und sehr. 
kraftlos befunden. Pupillen sind egal, Schlund gerötet, innere Organe und Extre- 
mitäten natürlich. Am Rücken pustulöses Ekzem nach Einreibung mit Chloro- 
formöl, leichte Nackensteifigkeit und Trousseau. Patellarreflexe wurden nicht 
untersucht, da alle Bewegungen heftige Schmerzen verursachen, andere Reflexe 
normal. Temp. 37,9. 

25.X. 24 Uhr 38,3/38,1. Hat gewimmert, über Schmerzen in Armen und 
Beinen geklagt, immer Lagewechsel gefordert. Beim Aufrichten starke Schmerzen 
in den Armen. Patellarreflexe können nicht ausgelöst werden, N. recht stark. 
Durch Lumbalpunktion eine geringe Menge klarer Flüssigkeit ohne Bakterien und 
Leukocyten. 

26. 12 Uhr 38,6 Immer Klagen über Schmerzen in den Gliedern, reagiert 

18 ,„ 39,7 auf Anrede. 


24 „39,6 
6 Uhr 38,4 
27. 39 Ißt ganz gut, ist vollständig klar. N. immer vorhanden. 
39 
39,9 
38,6 


28. 38,5 Außer in den Gliedern heute morgen Schmerzen im Kopfe. Kann 
39 sich leichter aufrichten und ein wenig mit dem Kopfe nicken. 
40,1 Kernig immer deutlich, Leberrand und Milzspitze fühlbar. 


38,4 

29. 38,8 30. 38,4 Keine Klagen, gut geschlafen, kann den Kopf er- 
39,7 38,6 heben und einen Augenblick sitzen. 
38,8 38,8 


31.17 37,8 
3l. 37,8 Hat über Schmerzen in den Beinen, welche er nicht näher lokali- 
38,1 sieren kann, geklagt. Noch N. 
38,2 
37,4 
1. XI. 37,2 Temp. später normal. Hautreflexe nicht verändert, Sehnen- 
34 reflexe lassen sich nicht hervorrufen. 
36,9 
36,7 


1:99 S. T. Sörensen: 


2. Kann alle Extremitäten bewegen. 

4. Mitunter Schmerzen im l. Fuß, N. geringer, faßt gut mit den Händen, 
bewegt mit Beschwerden beide Beine, 

8. Die Bewegungen der Extremitäten geschehen langsam und zitternd, der 
Oberextremitäten in vollem Umfange, während Extension im Kniegelenke nur 
in geringer Ausdehnung möglich ist. 

11. Nur selten Schmerzen in den Beinen, welche er aber nur mit Mühe von 
der Unterlage erheben und nicht strecken kann. Ebenso kann er sich nicht auf- 
setzen; die Hände sind kraftlos und r. hat Neigung zur Ulnarflexion. N. geschwun- 
den. Appetit gut, Schlucken frei. 

15. Bewegt die Glieder besser, kann sich aufsetzen. 

22. Kann mit Stütze im Bett stehen. 

24. Entlassen. Übersicht des Fieberverlaufes gibt die folgende Kurve: 


















































Oktober November 
EVEN ZI LO TEEEZA I 30 EeT 7; 7 PA es} 
EDER TER, g 70. EIN TEE BUN DR] DER LL: 78. 

Zeseczzzzzzurrzuuuen = 
MSsSssssssssssssssnen 
geehaf FEseeHemee td 
(WW. nn on En EN Zi 
SU=S=SSSrE VEN ZERSSSSSESSZE5E 
NA STGESSSSSsSTetsseen. - 
EESZEEESEEBLESSSTESESSSSS 
pe 
a a en a Te a a a FE a a ET EEE FT HIT Si 
P=Z=ZZ2222szzs2annnn nn 


Kurve 1. Paul C. 


Das Besondere in diesem Falle ist seine Anfangsweise: erst universelle 
Parese, dann Schmerzen und zuletzt Fieber, welches sich die ersten 
Tage im Spitale steigert, und die hier hervortretenden Schmerzen. 
Übrigens ähnelt der Fall gewöhnlicher Poliomyelitis und ist deshalb 
in der früheren Zusammenstellung mitgenommen. Möglich hat die 
artifizielle Hautirritation zum Fieber beigetragen, dasselbe kam aber 
an einem ungewöhnlichen Zeitpunkt und fehlte — nach dem Bericht 
der Eltern — am gewöhnlichen. 

Der zweite Fall war ein 19jähriger Gymnasiast, Thomas Th., auf- 
genommen am 11. XI., nach einem anderen Krankenhaus verlegt am 
26. XI. 1902. 


Krankengeschichte Nr. II. Vater an unbekannter Krankheit, Mutter an Tuber- 
kulose, 3 Geschwister ganz klein gestorben, 5 lebende gesund. 

Früher gesund, erkrankte der Pat. 5 Tage vor der Aufnahme mit Schüttel- 
frost, Kopfschmerzen und Dedolationen. Keine Delirien, kein Erbrechen, keine 
Nackensteifigkeit. Später Temperatur immer über 40°, fortwährender Kopf- 
schmerz, nur in den Zehen leichte Krämpfe; in den letzten Tagen Nackensteifigkeit 
und Lendenschmerzen. Sensorium ganz frei, keine Erscheinungen seitens Ohren 
oder Augen, keine Hauthyperästhesie, leichte Zuckungen in den Beinen, welche 
aufhörten, da die Lendenschmerzen anfingen. Gleichzeitig wurde er lahm im 
r. Bein, erst zum Knie, später in der ganzen Extremität. Keine Sensibilitäts- 
störungen, Harnlassen frei. 


Über Poliomyelitis, besonders die. differentielle Diagnose. 193 


Ist in gutem Ernährungszustande, beim 1. Mundwinkel herpesähnliche Schorfen. 
Brust und Unterleib ohne Abnormitäten, Milz nicht vergrößert, Reflexe natür- 
lich, kein K., P. 120, etwas klein, Temp. 40,6. 

12. XI. Temp. 39,9/39,7. Hat nach Antipyrin etwas geschlafen, klagt über 
Kopfschmerz und Rückensteifigkeit, leichte N., K. und Tr. R. Unterextremität 
fast vollständig paralytisch, Patellarreflex in liegender Stellung auf keiner Seite 
auslösbar, gelingt aber an den über die Bettkante heraushängenden Beinen, Sen- 
sibilität für Berührung und Schmerz anscheinend unverändert, kalt wird aber 
als warm aufgefaßt. Hat keinen Harn gelassen. 

13. 39,9 Unruhiger Schlaf mit Zuckungen im Kopfe und den Extremitäten, 

40,1 die ihn erwecken, aber keine wahren Schmerzen geben. N. heute 
_39,6 stärker, Sensorium frei, P. regelmäßig, ganz kräftig, Wasserlassen 
90.14 unbehindert. 
14. 38,3 Ist wohler, hat etwas gegessen, mitunter Zuckungen i inden Händen 
38,2 gehabt. Immer fast vollständige Paralyse der r. Unterextremität, 
37,3 wo die Sensibilität jetzt normal erscheint. Auch l. Bein ist pare- 
37,8 tisch, kann nicht von der Unterlage erhoben werden. Geringe 
N. kein K. oder Tr. 
15. 37,7 ‘Später normal. Pupillen egal, reagieren schwach auf Licht, nicht 

37,6 auf Akkommodation. 

37,1 
/ 37,1 
I 17. Die Beine wie am 14. Druck auf den obersten Teil des r. Nervus ischia- 
ducis schmerzhaft. N. ausgesprochen, durch Lumbalpunktion ca. I ccm klarer 
Flüssigkeit. 

24. Jetzt keine Schmerzen im Rücken bei Erhebung des Kopfes, sitzen 
"vermag er aber noch nicht. L. Bein scheint kräftiger, r. unverändert. Am 26. XI. 
nach einem anderen Spitale verlegt. 

Bei einer febrilen Angina (—- D. B.) im Eebruar 1903 hatte er vorübergehend 
Atemnot, starken Schweiß und krankhafte Zuckungen im Rücken und den Armen 
mit Parästhesien auch in den Armen. Sonst Temp. normal. 

Den 8. II. ist vermerkt: Kann auf dem ]. Bein stützen. 

Den 8. IV. r. Bein atrophisch, fast vollständig paralytisch. Entlassen. 











In diesem Falle war zwar an verschiedenen Punkten Ähnlichkeit 
mit Poliomyelitis vorhanden, der Fieberverlauf am Anfange der Krank- 
"heit — 7 Tage über 40° —, eingeleitet durch Schüttelfrost, aber so ab- 

weichend von dem bei Poliomyelitis vorkommenden, daß ich den Fall 
"nicht dazu rechnen würde. Übrigens ist derselbe schon aus dem Grunde 
"von meiner Zusammenstellung weggelassen, weil diese nur Fälle aus 
den Jahren 1905—1914 umfaßt, und der vorliegende Fall im Jahre 1902 
vorkam. 

Das Vorkommen und die Symptome einer Poliomyelitis cerebralis 
betreffend, muß erinnert werden, daß ein Leiden bulbärer Kerne häufig 
bei Poliomyelitis getroffen wird, und daß die vorliegende Aufgabe des- 
halb bleibt festzustellen, in welchem Umfange auch andere Hirnteile, 
speziell Cortex, ergriffen werden, und wie solche Fälle von Encephalitiden 
anderer Art — wo bulbäre Symptome auch vorkommen — getrennt 
werden können. 

2. f. klin. Medizin. Bd. 100. Ä 13 


194 S. T. Sörensen: 


Für das Vermögen des Poliomyelitisvirus cerebrale (corticale) Zu- 
fälle zu geben, spricht in erster Reihe, daß typische poliomyelitische 
pathologische Veränderungen — hauptsächlich perivasculäre Infiltrate — 
auch in anderen Hirnteilen als Bulbus, speziell in Cortex und Zentral- 
ganglien — wie es aus den Arbeiten einer Reihe von Forschern (Harbitz 
und Scheel, Wickman u. a.) hervorgeht — vorkommen. Würde man da- 
gegen einwenden, daß diese Veränderungen weit geringer sind als die- 
jenigen in Bulbus und besonders dem Rückenmark, kann darauf ge- 
antwortet werden, daß die erstgenannten auch weit geringer sind als 
die letzten, die klinischen Folgen doch sehr schwer sein können. 

Wenn cerebrale Störungen mit poliomyelitischen Erscheinungen 
zusammen vorkommen, können dieselben deshalb zwanglos aus dem- 
selben Virus abgeleitet werden. Auf der anderen Seite ist es aber nicht 
ausgeschlossen, daß ein encephalitisches Virus nicht nur bulbäre — 
was ganz häufig ist — sondern auch myelitische Symptome geben kann. 

Wenn wir jetzt zur Trennung von poliomyelitischen und anderen En- 
cephalitiden in Praxis kommen, stellt es sich gleich heraus, daß die Zahl 
der Encephalitiden im Material der Epidermiologen weit von denjenigen 
im Erfahrungskreise der Nerven- und Kinderärzte abweicht. Strümpell, 
der eigentlich als erster die Frage von der poliomyelitischen Art einiger 
Encephalitiden erhoben hat, scheint zu der Auffassung zu neigen, daß 
dieses in recht großem Umfange stattfindet, schließt doch seine Ab- 
handlung aus dem Jahre 1885 mit der Aussprache, daß die Encephalitis 
der Kinder auch andere Ursache haben kann. Medin hat unter einigen 
und 60 Kranken aus den Epidemien in den Jahren 1887 und 1895 
4 Fälle, die auch nach meiner Auffassung als Encephalitiden zu be- 
zeichnen sind, welche er auf eine Poliomyelitisinfektion zurückführt. 
Dagegen soll nach Peabody-Draper-Dochez!) Wickman in der großen 
schwedischen Epidemie im Jahre 1905 keinen Fall dieser Art gesehen 
haben, Krause in der westfälischen Epidemie im Jahre 1909 1 Fall, 
Zappert in einer Zusammenstellung von 555 Kranken 5 Fälle. Unter 
ihren eigenen 183 Patienten (71 Spitals-, 112 poliklinischen) wollen 
Peabody-Draper-Dochez keinen typischen, aber doch einen — auch nach 
meiner Auffassung — recht guten Fall, und später einen, auf den wir 
im folgenden zurückkommen werden, gesehen haben. Persönlich habe 
ich unter fast 100 Poliomyelitiden eine typische (nicht poliomyelitische) 
und eine ätiologisch etwas zweifelhafte Encephalitis getroffen. 

Zur Trennung der verschiedenen Encephalitiden ist, wie schon er- 
wähnt, die rationelle ätiologische Methode nur selten benutzt. Peabody- 
Draper-Dochez gaben doch an, daß es bisher nicht gelungen ist, Polio- 
myelitis bei Affen durch Material aus Encephalitiden zu erzeugen, wie 


!) A clinial study of acute Poliomyelitis. New-York 1912. 











Über Poliomyelitis, besonders die differentielle Diagnose. 3195 


sie hervorheben, daß, obgleich die Affen gewöhnlich intrakraniell mit 
Poliomyelitisvirus geimpft werden, die Lähmungen doch immer spinale, 
niemals cerebrale sind. Eine andere, besonders von Anderson und 
Frost!) studierte biologische Probe, die virulicide Kraft des Polio- 
myelitisrekonvaleszentenserums, wurde von Peabody-Draper-Dochez in 
einem klinisch guten Falle von Encephalitis angewandt mit dem Re- 
sultat, daß die Versuchsaffen zur selben Zeit wie die Kontrolltiere an 
Poliomyelitis erkrankten und die Sektion die typischen Veränderungen 
dieser Affektion darlegten, der Krankheitsfall demnach nicht polio- 
myelitischer Art war. 

Derselbe ereignete sich an einem Zeitpunkte, wo Poliomyelitis in der 
Nachbarschaft verbreitet war, und illustriert demnach die Erfahrung, 
daß man in seinen Schlüssen aus gleichzeitigem Auftreten vorsichtig 
sein muß. In derselben Richtung zeigt ja auch die geringe Zahl von 
Encephalitiden in den recht häufigen Epidemien der Neuzeit. Schwerer 
fällt es natürlich in die Wage, wenn die Berührung sehr intim gewesen 
ist, wie in Peabody-Draper-Dochezs erwähnten erstem Fall, wo eine 
kleine Verwandte mit dem Kranken das Bett geteilt hatte und an Polio- 
myelitis erkrankte. 

Das wesentliche Mittel zur Trennung der Poliomyelitiden mit corti- 
calen Symptomen von anderen Encephalitiden bleibt demnach das 
klinische Verhalten. I 

Schon in der Abhandlung aus dem Jahre 1885 hebt Strümpell her- 
vor, daß die akute Encephalitis der Kinder hauptsächlich bei ganz kleinen 
solchen vorkommt, eingeleitet wird durch Fieber, Erbrechen und Krämpfe, 
die am häufigsten schwer und mit Bewußtseinsverlust begleitet sind, 
mehrere Tage fortdauern können. Die folgende Lähmung ist einseitig und 
ziemlich vollständig, nicht schlaff wie bei Poliomyelitis, verliert sich ge- 
wöhnlich zum größten Teile wieder. Die Sehnenreflexe sind als Regel 
gesteigert an der kranken, mitunter auch an der gesunden Seite, die 
Lähmungen geben nicht Atrophie- oder Entartungsreaktion, aber Epilep- 
sie oder Athetose stellen sich später mitunter, Intelligenzstörungen oder 
moralische Defekte seltener ein. Facialislähmung kommt selten, Strobis- 
mus etwas häufiger vor, rechtseitige Lähmung kann mit Sprech- 
störungen verbunden sein. Die Sensibilität war bisweilen normal, mit- 
unter ein wenig, niemals stärker herabgesetzt. Die Übereinstimmung 
zwischen dieser Affektion und Poliomyelitis besteht also in folgendem: 
kleine Kinder, ein febriles Vorstadium, ein darauffolgendes Leiden der 
grauen, motorischen Substanz bei Poliomyelitis des Rückenmarks, bei 
Encephalitis der Gehirnrinde. Die Unübereinstimmungen mit Polio- 
myelitis sind hauptsächlich: Krämpfe und Bewußtseinsverlust am An- 


!) Journ. of americ. med. Assoc. 1911. 
13* 


196 S. T. Sörensen: 


fange der Krankheit, ausgesprochen halbseitige Lähmung, bestehende 
Sehnenreflexe, der oft schnelle Schwund der Lähmung. 

‘Die Halbseitigkeit der Lähmung betreffend muß doch 
werden, daß dieselbe recht häufig bei Poliomyelitis vorkommt, und was 
die Sehnenreflexe betrifft, daß diese hier mitunter vorhanden sind sowohl 
bei leichter, schnell schwindender Lähmung, als auch am Anfange und 
Schlusse schwererer solcher. Hauptsächlich wie Strümpell spricht sich 
Medin im Jahre 1896 aus, nur daß er seine Encephalitiden besonders des- 
halb als poliomyelitische bezeichnet, daß 3 von den 4 während einer Polio- 
myelitisepidemie in Stockholm vorkamen. Übrigens hebt auch Medin 
hervor, daß die Prognose besser für die Encephalitiden als für die Poliomye- 
litiden sei, indem von den ersten nur 1 mit —- spastischer — Lähmung 
entlassen wurde, während die anderen genasen, 1 mit unbedeutender 
Lähmung, 2 vollständig. Abducenslähmung zeigten 2 Kinder, das eine 
von diesen — das mit spastischer Lähmung entlassen wurde — auch 
leichte Facialisparese auf der kranken Seite. 


In den 3 von meinen eigenen Fällen schien mir die Diagnose zweifel- 
haft, im 4. nehme ich eine nicht poliomyelitische Encephalitis an. 
Der erste Fall war ein 2jähriger Knabe — Svend G. —, welcher am 
24. X. aufgenommen, am 30. X. 1912 entlassen wurde. 

Krankengeschichte Nr. III. Früher gesund, erkrankte das Kind 3 Tage vor der 
Aufnahme mit Fieber und Erbrechen, war später benommen und schlaff. 

Bei der Aufnahme hält er den 1. Arm etwas fixiert, passiv kann derselbe ganz 
gut bewegt werden. Trousseau angedeutet, Kernig negativ, Reflexe lebhaft, 
Brust- und Unterleibsorgane o. B. 

25. X. 38/38. Im Schlafe Zuckungen in den Armen. 

26. 38,3/37,8. Kann ohne Hilfe gehen, stützt doch vorzugsweise auf dem 

27. 37,1/37,1. 1. Beine, faßt gut mit den Händen, ist fortwährend benommen, 
spricht nicht. Keine Krämpfe, keine Pupillenabnormitäten, keine Nackensteifig- 
keit oder Kernig, dagegen Hyperästhesie und Lumbalpunktion gibt 20 ccm klare 
Flüssigkeit. 

28. 37,4/37,1. Ist lebhaft, kann im Bette sitzen. 

30. Gang gut, geringes Schielen. Auf Wunsch entlassen. 

In diesem Falle können der fortdauernde Stumpfsinn, das fehlende 
Sprechen, die Zuckungen in den Armen, die lebhaften Reflexe für ein 
corticales Leiden sprechen, aber Krämpfe fehlten, die Benommenheit 
konnte durch die Meningitis, die unveränderten Reflexe durch die 
Geringfügigkeit der Lähmungen erklärt werden. Weiter waren diese 
gekreuzt, Verlauf und Fieber ähnelte Poliomyelitis, und der Fall ist 
deshalb unter diesen mitgenommen. 

Der zweite Fall war ein 1!/,jähriges Mädchen, Helga R., welches am 
4. I. aufgenommen, am 14. II. 1906 entlassen wurde. 


Krankengeschichte Nr. IV. Das Kind, das früher gehen und laufen konnte, 
wollte 12 Tage vor der Aufnahme nicht auf dem 1. Beine stützen, und ein zugerufener 


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—— ni 








Über Poliomyelitis, besonders die differentielle Diagnose. 197 


Arzt konstatierte Anästhesie der ganzen 1. Körperhälfte. Am ersten Tage schien 
das Kind leicht febril, später ist das Befinden normal gewesen. 

Bei der Aufnahme wird das Kind wohl entwickelt, in gutem Ernährungs- 
zustand befunden. Von einzelnen Ronchi abgesehen, sind Brust- und Unterleibs- 
organe normal. Die linksseitigen Extremitäten liegen schlaff nieder, das Kind 
kann aber beide erheben, dagegen nicht mit der 1. Hand fassen und nicht auf dem 
l. Beine stützen. Schmerzempfindung scheint erhalten, Reflexe links herabgesetzt 
aber nicht aufgehoben. Patellarreflex rechts sehr lebhaft, Temp. 37,8. 

5. 37,6. 6. 37,1/36/7. L. Augenspalt ein wenig kleiner als r. Patellarreflex 
links heute lebhaft. 

7. 37,7/36,8. Hat gut gegessen und geschlafen. Die Lähmung betrifft haupt- 
sächlich den peripherischen Teil der Glieder und ist nicht schlaff, indem die Mus- 
keln einen gewissen Tonus zeigen. Lumbalpunktion gibt nur einige Tropfen blut- 
gemischter Flüssigkeit ohne Besonderes. 

9. 37,7/37,2. Deutliche Parese der l. Gesichtshälfte und konvergentes Schielen 
am l. Auge. 

10. 37,6/37,1. Durch starke elektrische Irritation können Finger und Zehen 
flektiert und extendiert werden, ebenso reagieren Peronäen und Quadriceps femoris. 
Plantarreflex links anwesend, aber schwächer als rechts. 

11. 38,1/37,1. 12. 37,5/37,4. 13. 37,8/37,2. Durch Lumbalpunktion 12 ccm 
erst blutiger, später wasserheller Flüssigkeit, deren Zentrifugat einige große, 
amöboide Zellen enthält. 

15. 38,1/37,8. Kann heute einen Federhalter zwischen Daumen und Zeige- 


| finger fassen. 


16. 38,1/37,7. Lebhafter Patellarreflex an beiden Seiten; auf Faradisation 
reagieren alle Muskeln der ]. Seite. 

18. 38,1/37,8. Kann auf den Beinen stützen und gehen, hält 1. Knie etwas 
flektiert. 

25. 37,7/37,1. Hat heute zum ersten Male die Finger etwas ausgerichtet. 

27. 38/37,2. Facialisparese zum größten Teile geschwunden, Abducensparese 
noch anwesend. 

29. 37,6/37,1. Triceps brachii reagiert schlecht, die anderen Muskeln gut 
auf Faradisation. 

2. II. 37,7/36,8. Kann mit der l. Hand fassen und dieselbe von der Unterlage 
erheben. Noch Rest von Facialisparalyse und l. Augenspalt immer kleiner als rechter. 

5. Faßt besser mit der 1. Hand. 

7. Stützt ganz gut, beim Gehen hebt sie das 1. Bein mehr als das rechte und 
setzt die Fußspitze zu. 

9. Wohlbefinden. L. Auge steht stark nach innen gedreht, aber Rectus 
externus doch nicht ganz paralytisch. 

14. Braucht jetzt die Hand gut, nur sind die Bewegungen des Daumens 


etwas beschränkt. Geht gut mit Stütze, setzt doch immer 1. Fußspitze erst zu. 


Auf ein corticales Leiden deutet hier die halbseitige Anästhesie, die 
nicht ganz schlaffe halbseitige Paralyse, der schnelle Schwund derselben 
mit bald zurückkehrender Reaktion auf den faradischen Strom, der nur 
vorübergehend verminderte Patellarreflex. Für Poliomyelitis spricht der 
ganze Verlauf, besonders der Anfang ohne Hirnsymptome, die übrigens 
auch später fehlen. Am einfachsten scheint es mir, den Fall mit den 
von E. Müller mitgeteilten!) zusammenzustellen, wo corticale Sym- 


!) Die spinale Kinderlähmung. Berlin 1910. 


198 S. T. Sörensen: 


ptome zwar vorhanden sind, dieselben aber aus einem Leiden der 
Pyramidenstränge in Pons oder Bulbus abgeleitet werden können. In 
derselben Weise ist möglich der von Peabody-.Draper-Dochez mitgeteilte, 
als nicht ganz typisch bezeichnete Fall, der seine Kusine mit Polio- 
myelitis ansteckte, zu erklären. 

Der dritte Fall war ein 4jähriges Mädchen, Oda G., welches am 17. IX. 
aufgenommen, am 3. X. 1905 entlassen wurde. 


Krankengeschichte Nr. V. Das Kind hatte 3 Monate alt Keuchhusten gehabt, 
war sonst immer gesund gewesen. 5 Tage vor der Aufnahme kam plötzlich Erbrechen 
und Fieber, am nächsten Tage Krämpfe und danach Lähmung der linksseitigen 
Extremitäten mit Zuckungen in diesen und der 1. Seite des Körpers und Ge- 
sichtes. Weiter soll sie die letzten 2 Tage nicht sehen gekonnt haben. Erst 
heute morgen hat sie gewimmert und nach dem Kopfe mit der gesunden Hand 
gegriffen. 

Bei der Aufnahme wird sie bleich, aber in gutem Ernährungszustand befunden. 
Auf beiden Augen leichter Strobismus, Pupillen träge, linksseitige Facialisparalyse, 
Parese des I. Arm und Beines, Rasselgeräusche hinten unten, Temp. 39. 

18. IX. 24 Uhr 38,1/38,6. Hat gewimmert und ist benommen gewesen, hat 
den Harn ins Bett gehen lassen, keine Krämpfe gehabt. Macht jetzt einen ver- 
störten Eindruck, antwortet doch auf Anrede. Pupillen träge, Kopf rückwärts 
gebeugt, Steifigkeit doch gering, kein K. oder Tr. Bewegt nicht l. Arm, dieser doch 
nicht ganz schlaff, kein Patellarreflex. Beim 1. Angulus scapulae bronchöse 
Respiration mit Rasselgeräuschen. 

19. 38 Hat etwas geschlafen, nicht aufgeschrien, ganz gut getrunken, 

37,6 Schielen und Farbewechsel dargeboten, einen involontären Stuhl- 
36,4 gang gehabt, Harn nicht gelassen. Pupillen reagieren nicht auf 
36,9 Licht, r. größer als l. Kein Corneareflex, kein Sehvermögen, liegt 
komatös hin den Kopf nach rechts gedreht und mit konjungierter Deviation 
der Bulbi. Linksseitige Paralyse des Gesichtes und der Extremitäten, links- 
seitige Analgesie, Tr. positiv, Stethoskopie wie gestern, Vesica nicht über der 
Symphyse. 
20. 36,4 Nimmt nur Flüssiges zu sich, Schlucken frei, P. klein, Herzaktion 
36,6 doch kräftig, Stuhlgang und Harnlassen involontäre, Lumbal- 
36,2 punktion gibt nur etwas Blut ohne Bakterien bei Mikroskopie und 

36,5 Kultur. 

21. Temp. jetzt und später normal, gewöhnlich unter 37. Hat weniger ge- 
trunken, anscheinend mit Beschwerden, ist lebhafter gewesen, bewegt die Augen 
gut, schielt nicht, kann Gegenstände mit der Il. Hand fassen; die Bewegungen sind 
aber unsicher. (Sehen schwach.) | 

22. Kannte gestern die Mutter, scheint auch ein Glas mit Saftwasser sehen 
zu können. Die Augenreflexe immer schwache. 

23. Spricht gut, kann das Bein aufziehen, Exkretionen immer involontäre. 

24. Sehvermögen jetzt außer Zweifel, das Gespräch vernünftig, die Facialis- 
paralyse geringer. Beim Versuch, aufrecht zu sitzen, fällt aber der Kopf nach 
links. Stethoskopie gibt nichts Besonderes, Augengrund normal. * 

26. Exkretionen jetzt volontäre. 

27. L. Seite immer schwer paretisch, bei Versuchen zu sitzen, sinkt das Kind 
nach links über. 

28. Sehvermögen jetzt gut, die Pupillen reagieren, zwar etwas träge, auf Licht 
und Akkommodation, die Zunge wird gerade vorgestreckt. Die Muskeln der 1. 








| 
| 





| 





Über Poliomyelitis, besonders die differentielle Diagnose. 199 


Seite rigide, einige kleine Bewegungen des Armes möglich. Patellarreflex links 
vorhanden, dagegen fehlt hier Plantar-, Achillessehnen- und Abdominalreflex. 

1. X. Kann sich aufrichten und sitzen. 3. X. zum Allg. Krankenhaus. 

Es war hier Contractur der lahmen Glieder und verstärkter Patellarreflex. 
Bei der Entlassung, den 12. I. 1906, konnte sie ohne Stütze gehen, doch mit spasti- 


schen Bewegungen des 1. Beines. 


In diesem Falle sind cerebrale Erscheinungen hervortretend. Beim 
Beginne der Krankheit haben wir Krämpfe, Zuckungen in den lahmen 
Gliedern und der linken Seite des Gesichtes und des Rumpfes, die sich 
später paralytisch zeigen, weiter Stumpfsinn, sich zu Koma steigernd, 
Kopfschmerz, inegale, nicht reagierende Pupillen, fehlender Cornea- 
reflex und Blindheit. Der Verlauf ähnelt auch insoweit Encephalitis, 
als einige der schweren Zufälle sich schnell wieder verlieren, besonders 
das Sehvermögen schon nach einer Woche hergestellt und der Stumpfsinn 
geschwunden ist. An Poliomyelitis erinnern besonders die schweren, 


nicht schnell schwindenden Gliederlähmungen, das Wackeln des Kopfes 


und das Zusammensinken beim Versuche, aufzusitzen. Auch der An- 
fang konnte zu Poliomyelitis passen, indem Krämpfe hier mitunter, 
Benommenheit nicht selten getroffen werden, und die Krämpfe sich 


später nicht wiederholten. Nach meiner Auffassung würde die Diagnose 


am natürlichsten auf Encephalitis und Myelitis poliomyelitica lauten. 
Was die Blindheit betrifft, muß dieselbe wohl zu den encephalitischen 


(nicht bulbären) Symptomen gerechnet werden, besonders weil sie sich 


so schnell wieder verlor. Bei Poliomyelitis ist Blindheit — wenn über- 
haupt konstatiert — außerordentlich selten. Eben unter Harbitz’ und 
Scheels Fällen mit pathologischen Veränderungen in Thalamus opticus 
und Umgebung zeigte nur einer — 38jähriger Mann — 3 Tage vor dem 
Tode Sehschwäche unter der Form von Verdunklung des Sehfeldes, und 
bei diesem Kranken waren die Pupillen klein und schwach reagierend, 


aber gleiche. Wickmann referiert auch einen Fall — 24jährigen Mann —, 


wo Pia auf Chiasma reichliche Infiltration darbot, aber von Sehschwäche 
ist hier keine Rede. 

Über die im vorliegenden Falle (Oda G.) bei der Aufnahme notierten 
stethoskopischen Abnormitäten, die in den folgenden Tagen von keiner 
Temperaturerhöhung und keinen klinischen Brustsymptomen begleitet 


_ wurden, und 7 Tage später verschwunden waren, wage ich nicht mich 


auszusprechen, speziell nicht darüber, ob hier möglich der Ausgangs- 
punkt für die Hauptkrankheit vorliegen sollte. Wie man erinnert, war 
in meiner Krankengeschichte IIlam Beginne der Krankheit langdauerndes, 


' mit Schüttelfrost eingeleitetes hohes Fieber und bei der Aufnahme Herpes 


| 
| 


| 
| 


labialis anwesend. 
Der vierte Fall war ein 7jähriges Mädchen, Else O., welches am 


13. I. aufgenommen, am 9. II. 1909 entlassen wurde. 


200 S. T. Sörensen: 


Krankengeschichte Nr. VI. 2 Tage vor der Aufnahme zeigte das Kind Paralyse 
des r. Armes, war vorübergehend bewußtlos und konnte danach nicht sprechen. 
Gleichzeitig Kopfweh und Erbrechen. 


Ist bei der Aufnahme mitgenommen, versteht Anrede, antwortet aber nicht 


oder nur mit Ja oder Nein. Sie kann gähnen und die Zunge hervorstrecken, aber 


dieselbe deviiert ein wenig nach rechts und die r. untere Gesichtshälfte ist paretisch. 


Außerdem komplette Paralyse des r. Armes und anscheinend Parese des r. Beines, 


Zweifelhafte rechtsseitige Ptosis, kein Schielen, Pupillen natürlich, Armreflexe 


rechts wie links, Patellar- und Achillessehnenreflexe lebhaft an beiden Seiten, 
Babinski rechts, mitunter auch links vorhanden, Abdominalreflexe, die links lebhaft 
sind, rechts nicht deutlich. Temp. 39,4. 
14. I. 38,6. Ist unruhig und wimmernd gewesen, spricht nicht, scheint Anrede 
zu verstehen. R. Bein jetzt deutlich paretisch, keine N., Sensibilität normal. 
15. 39,1 Reflexe am r. Bein scheinen heute vermindert. 
39,1 
38,9 
37,8 
16. 383 17. 37,6 Bewegt r. Arm besser; die Zunge deviiert immer 
38,4 38 nach rechts. 
38,5 3757 
37,6 32:5 





18. 37,4 Seit gestern nachmittag gehäufte Krampfanfälle mit Nystagmus, | 
38,2 Deviation der Bulbi nach rechts und Rigidität der Extremitäten. 


38,1 Durch Lumbalpunktion keine Flüssigkeit. 
38,5 
19. 39,2 Bewußtseinsverlust und Krämpfe in den verflossenen 24 Stunden, 
38,2 die Zuckungen am meisten im Gesicht, mitunter auch in den 
39,4 Armen, besonders dem rechten, hervortretend. Bei Zuckungen in 
"38,1 der r. Seite deviieren die Augen nach rechts, in der linken nach 
links, mitunter Singultus. Jetzt sehr unruhig mit Aufschreien; die Pupillen reagieren 
auf Licht. 
20. 36,5 Später Temp. normal. Hat reichlich getrunken, die ganze Nacht 


37,7 sitzend zugebracht, hat geklagt, aber keine Krämpfe gehabt. 


_37,1 Macht bei der Visite einen gepeinigten, ängstlichen Eindruck, 


"37,5 erscheint aber recht klar und bewegt r. Arm ganz gut. 
Jarvor 21. Sitzt aufrecht im 
Ä A Ti 7 ha20,: 29, : ; 
Kronkheistag‘3 TERT = er 2. GIER S Bette und spielt. Soll, wenn 
m allein, ganz vergnügt sein, 


lächeln können. 























bewegen; dieses liegt doch 
nach außen rotiert in spa- 
stischer Contractur, der Fuß 
extendiert. Die Reflexe ver- 
mindert. 
25. en r. Arm über 
Kurve 2. Else O. den Kopf erheben, steht 
gut, die Glieder heute sehr 
schlaff, die galvanische Irritabilität ungefähr gleich an beiden Seiten. Abdominal- 
reflex fehlt immer rechts, Babinski positiv. 
1. H. Geht gut, dorsalflektiert r. Hallux und macht einige besondere Be- 
Bewegungen mit den Fingern. 









































22. Kannr. Bein etwas 











| 





Über Poliomyelitis, besonders die differentielle Diagnose. 201 


7. Gang normal, ebenso Gehirntätigkeit. 

9. Entlassen. 

Übersicht des Verlaufes gibt die Kurve 2: 

Schon am Anfange der Krankheit zeigte das Kind Zeichen von einem 
corticalen Gehirnleiden — Verlust des Bewußtseins und des Sprech- 


vermögens —, ein wenig später gesteigerte Reflexe und Babinski. Nach 


einer Remission traten aber die Gehirnsymptome noch stärker hervor 
mit einer langen Reihe von Krampfanfällen, begleitet von Bewußtseins- 
verlust, Nystagmus und konjungierter Deviation der Bulbi. Nachdem 
diese schweren, von Fieber begleiteten Zufälle einige Tage gedauert 
haben, verlieren sie sich aber schnell, 2 Tage später sitzt die Kranke 
spielend im Bette aufrecht, 1 Woche später geht sie gut, und bei der 
Entlassung, 1 Woche danach, ist vermerkt: die Kranke geht natürlich, 
ist psychisch normal. 

Dem Verlaufe zufolge hat der Fall demnach mit der Poliomyelitis 
nichts zu tun und ist deshalb wie die vorn erwähnte Odo G. mit cere- 
bralen Symptomen möglich poliomyelitischer Art — und Helga R. — 
in meiner früheren Zusammenstellung von Poliomyelitiden nicht auf- 
genommen. 

Außer dem Verlauf spricht für die genannte Behauptung das Fol- 
gende: Wie schon berührt, habe ich bei Keuchhusten 4 Fälle mit aus- 
gesprochenen Cerebralien — Krämpfe und Lähmungen — gesehen!), 
die einander und dem besprochenen Fall ganz ähnlich waren, wie es 
aus dem folgenden Beispiel hervorgeht. 


 Krankengeschichte Nr. VII. Thekla R., 4 Jahre alt, seit ungefähr 1 Monat an 
jetzt angeblich — siehe später — fast aufgehörtem Keuchhusten leidend, er- 


 krankte am Tage vor der Aufnahme (den 1. IX. 1907) mit Erbrechen, lallender 
"Sprache und am folgenden Tag Trismus und Krämpfen, vom Arme beginnend, 


in der r. Seite. Die Krämpfe stellten sich mitunter jede Minute ein, zwischen den- 


selben war das Kind komatös. Bei der Aufnahme wurde dasselbe wohlgenährt, von 


leicht skrophulösem Habitus befunden, machte einen verstörten Eindruck, ant- 
wortete nicht auf Anrede, reagierte doch darauf durch Wegdrehen des Gesichtes. 
R. Arm und r. untere Gesichtshälfte waren paralytisch, r. Bein paretisch, Sensibi- 
lität und Reflexe fast aufgehoben, Pupillarreflex doch vorhanden. Temp. 38,1. 
Am nächsten Morgen ist dieselbe 37,8; das Kind hat 6 Hustenanfälle, einmal 
universelle, einmal Krämpfe im r. Arm gehabt, ist unruhig und wimmernd ge- 
wesen, hat Harn ins Bett gehen lassen. Bei der Visite lassen sich schwache Reflexe 
am r. Bein hervorrufen; Lumbalpunktion gibt nur einige Tropfen klarer Flüssig- 
keit. Am folgenden Tag sind Krämpfe, teils im r. Arm, teils in der ganzen r. Seite, 
fast ununterbrochen vorhanden, Temp. abends 39,4; nach Chloral einige Stunden 
Schlaf, in der Nacht nur Zuckungen; 9 Hustenanfälle. Am nächsten Morgen ist 
die Temp. 39,6; bei der Visite klagt sie, zeigt Zähneknirschen, Flockenlesen, leichten 
Exophthalmus, dilatierte Pupillen und schwache Dermographie, aber keine Ge- 
nickstarre oder Kernig. Am folgenden Tag 6 Hustenanfälle, keine Krämpfe, 
Temp. abends 38,3, am nächsten Morgen 37,6, und sie ist dann fast klar. Bei der 


1) Veröffentlicht im Arch. f. Kinderheilk. Bd. 64, H. 5/6. 


202 S. T. Sörensen: Über Poliomyelitis usw. 


nächstfolgenden Visite ist das Sensorium ganz frei, besteht aber immer Hemiplegie 
und Paralyse des ganzen Facialisgebietes, wie die Augen nicht nach rechts gedreht 
werden können; Sprache unverständlich; Reflexe aufgehoben, Sensibilität an- 
scheinend normal. Nach der Visite 2 Stunden lang ununterbrochene Konvulsionen; 
abends ist aber die Temp. nur 37,4, in der Nacht schläft sie gut, ist bei der folgenden 
Visite ganz klar, kann sich im Bette aufrichten, r. Bein einigermaßen, r. Arm ein 
wenig bewegen, die Augen schließen und nach rechts drehen, kann auch lachen, 
die Sprache ist aber immer undeutlich. Am folgenden Tag ist die Temp. normal; 9 
September Hustenanfälle; bei der Visite 

£ % “ £ ©. Sprache natürlich, die Kraft 


SEES 
Don 















































































Hrankheitstag DA HE 

rc ZI re EESSES im r. Arm ganz gut. In den 
vos SSE=TE=E=s 4 folgenden 24 Stunden ist sie 
Ne m NSSS22SE2 lebhaft, hat Interesse für die 
3389 SRSSSEnESssens Umgebung, schielt nicht, be- 
SEINES Bern wegt dierechtsseitigen Extremi- 

zu zameriien = Pe n 
S PEN Sessenen täten besser, die Zunge deviiert 
370 SESssEsscsHern 2 aber immer nach rechts. Harn- 
ESESSESSee ee lassen jetzt volontär. Als sie 
een ar = — 6 Tage später (den 14. IX.) das 


Kurve 3. Thekla R. Spital verläßt, ist die Gesichts- 

paralyse geschwunden; siekann 

ohne Stütze gehen, faßt gut mit derr. Hand, hat in den letzten 24 Stunden 14 Husten- 

anfälle gehabt. Untersuchung 1 und 6 ‚Jahre später zeigt keine Schiefheit des Ge- 

sichts, kein Schielen oder Hinken, nur wird die r. Sohle schneller als die linke ab- 
genutzt. Übersicht des Verlaufes gibt die Kurve 3. 


Die 4 Fälle zeigten demnach ein von Poliomyelitis ganz abweichendes 
klinisches Bild, und gegen eine Verwandtschaft mit dieser spricht weiter, 
daß gleichzeitig unter den Keuchhusten kein Fall von Poliomyelitis 
vorkam. Dagegen ähneln alle 5 Fälle (die 4 Keuchhusten + Else O.) 
der von Strümpell geschilderten Encephalitis, indem der wesentliche 
Unterschied ist, daß meine Fälle anscheinend vollständig genasen, 
während in Strümpells die Genesung oft keine vollständige war. Dieses 
läßt sich aber unschwer erklären. Gerade der Folgezustände wegen 
wurden die Kinder dem berühmten Arzt zugeführt, und dieser sah so 
besonders die schwereren Fälle. 





Seuchen und Seuchenbekämpfung in Rußland. 


Von 
Professor Dr. med. et phil. €. Seyfarth, Leipzig. 


Mit 4 Textabbildungen. 
(Eingegangen am 1. Dezember 1923.) 


Als im Frühjahr 1921 erschütternde Hilferufe aus Rußland nach 
Westeuropa herüberdrangen und Kunde von furchtbarer Hungers- und 
 Seuchennot brachten, da waren die Deutschen die ersten, welche dem 
_ Hilferuf Folge leisteten. Unter der Leitung von Prof. Mühlens wurde 
vom Deutschen Roten Kreuz eine ärztliche Hiljsexpedition in die Hunger- 
_ gebiete entsandt. Mit vollem Erfolg war diese unter ihrem unermüdlichen 
- Führer im Herbst und Winter 1921/22 dort im Dienste der Menschlichkeit 
tätig. Nach Heimkehr des größten Teiles der Expedition sollte als eine 
dauernde deutsche Einrichtung in Petersburg ein Seuchenhospital übrig- 
bleiben. Die Wiedereinrichtung und Leitung des dafür ausersehenen 
ehemaligen deutschen Alexanderhospitals war mir vom August 1922 bis 
zum September 1923 anvertraut. An dieser Stelle möchte ich nicht über 
die Krankenhaustätigkeit berichten, sondern aus der Fülle des Erlebten 
nur einiges über Bewegung, Bekämpfung und den jetzigen Stand der 
Seuchen in Rußland mitteilen, mit besonderer Berücksichtigung meiner 
Erfahrungen in Petersburg. 

Noch im Mai 1922 richtete der von 400 Ärzten aus allen Teilen Ruß- 
lands besuchte VI. allrussische Bakteriologenkongreß in Moskau an die 
ärztlichen Organisationen Westeuropas und Amerikas folgenden Aufruf: 





„Der Hunger in Rußland verschlimmert sich. Die reichsten Gebiete ver- 
wandeln sich in Wüsten; die Städte und Dörfer sterben aus. Die Anzahl der 
Hungernden beläuft sich auf etwa 40 Millionen. Die bestehende Hilfe ist äußerst 
unzureichend. Die Cholera beginnt, und es mehren sich die übrigen Epidemien. 
Dieser Zustand bedroht wie ein Gewitter ganz Europa. Eine weitgehende, all- 
gemeine unverzügliche Hilfe ist erforderlich: eine Lebensmittel- und Sanitätshilfe. 
Der VI. allrussische Kongreß der Bakteriologen und Epidemiologen wendet sich 
an alle ärztlichen und sanitären Organisationen mit der Bitte, ihre Stimme er- 
tönen zu lassen zur Rettung des ersterbenden Landes!“ 


Furchtbar hat die Hungersnot in den Jahren 1920 und 1921 im weiten 
russischen Reich gehaust. Vieles mag in den üblichen Schilderungen 
maßlos übertrieben dargestellt sein. Nach den sachlichen Berichten 


204 C. Seyfarth : 


ruhiger Beobachter!) hat es Elend genug gegeben. Die Maßnahmen der 
russischen Regierung im Verein mit der Hilfe, welche die unter dem 
Namen Nansen-Mission zusammengefaßten ausländischen Hilfsorgani- 
sationen brachten, vor allem aber die nicht ungünstige Ernte des Jahres 
1922 erzielten verhältnismäßig schnell eine weitgehende Besserung. Es 
schien verfrüht, als die russische Regierung am 1. X. 1922 den Hunger 
amtlich „liquidierte“ und die staatliche Hungerhilfskommission (Pom- 
goll) in eine Kommission zur Bekämpfung der Hungerfolgen (Posled- 
goll) umorganisierte. Glück- 
licherweise trafen die daran ge- 
knüpften Befürchtungen nicht 
ein. Waren im Winter 1922/23 
in vielen Gegenden noch schwere 
Zeiten zu überwinden, 1923 
brachte eine gute Ernte die sehn- 
lich gewünschte Entlastung. 
Wenn auch Rußland noch viele. 
Jahre unter den wirtschaftlichen 
Folgen jener Hungerkatastrophe 
leiden wird, wenn auch hier und 
da in einzelnen Gouvernements 
die Lage noch schwierig ist, von 
einer Hungersnot in Rußland 
kann nicht mehr gesprochen wer- 
den. Auch in Zukunft wird der 
Hunger unter den heutigen Ver- 
hältnissen, wo der innerrussische 
Handel und Wandel wieder 
MEREBER Gesamtzahl der Erkrankungen. nahezu vollkommen im Gange 
Infektiöse Erkrankungen. ist, nicht abermals so schreck- 


NSS Gesamtzahl der Sterblichkeit, licheFormen annehmen wie 1921 
Infektiöse Sterblichkeit. Mit der Beseitigung der 


Abb. 1. Erkrankungen und Sterblichkeit in den K > ß 
Krankenhäusern Petersburgs 1918—1923. Hungersnot ist eine weitgehende - 


'  merkliche Besserung der all- 
gemeinen Gesundheitsverhältnisse, besonders eine Einschränkung und 
teilweise Unterdrückung der ganz Europa bedrohenden Seuchen möglich 
gewesen. 

Als gutes Beispiel für den Rückgang der Erkrankungen und der Sterblich- 
keit mag folgende Tabelle (Abb. 1), welche die Verhältnisse in der Stadt 


7478 °9.1919 19207 2. TGET ESITGE2I IG23 









") P. Mühlens, Die russische Hunger- und Seuchenkatastrophe in den Jahren 
1921—1922. Zeitschr. f. Hyg. 9, 145. 1923. — R. Abel, Von Hungersnot und 
Seuchen in Rußland. Münch. med. Wochenschr. 1923, Nr. 16, S. 485487 u. ° 
Nr. 20, S. 633635. 


“ Seuchen und Seuchenbekämpfung in Rußland. 205 


Petersburg widerspiegelt, dienen. Ich fertigte sie nach den amtlich vom 
Petersburger Gesundheitsamt herausgegebenen Zahlen an. 
Die Gesamtzahlen des Jahres 1923 liegen noch nicht vollständig vor. 


Sie sind aber nach den bisherigen Meldungen und nach meinen Erfah- 





) 


! 


| 








| 


rungen durchschnittlich mindestens um den vierten Teil niedriger als 
die Zahlen des Jahres 1922. RR 

Im folgenden will ich etwas näher auf die einzelnen Infektionskrank- 
heiten eingehen, welche in den Revolutionsjahren besonders an Aus- 
breitung gewannen oder sonst Bemerkenswertes darboten. 

Am verhängnisvollsten hat das Fleckfieber in Rußland gewütet. Zu 


"allen Zeiten trat diese Seuche als „Hungertyphus“ im Gefolge der Kriege 
‚ auf und griff unheimlich unter der durch Krieg und Hunger geschwächten 


Bevölkerung um sich. In Rußland war Fleckfieber auch in Friedens- 
zeiten endemisch verbreitet. Während der Kriegsjahre war es nicht 
zu größeren Epidemien gekommen. Erst im Revolutionsjahr 1917 
mit dem Rückfluten der aufgelösten Armee nahm das Fleckfieber 
bedeutend zu. Der Bürgerkrieg in den Jahren 1917—1921 gab dann 


‚den passenden Nährboden für die ungeheure Verbreitung der Epi- 
‚demie. 


In den Jahren 1918—1922 wurden im Gebiet der Sowjetrepublik 
etwa 10 Millionen Fleckfiebererkrankungen amtlich gezählt, die meisten, 


"mehr als 2!/, Millionen, allein im Jahre 1920. Da aber die Meldungen 
in vielen Orten sehr mangelhaft vorgenommen wurden, aus anderen 


Gegenden des weiten russischen Reiches überhaupt nicht eingingen, in 
wieder anderen Gebieten infolge des Bürgerkrieges unmöglich waren, 
so müssen diese Zahlen nach dem Urteil eines der erfahrensten Epi- 


demiologen Rußlands, Prof. Tarassewitch!), mit einem Irrtumskoeffi- 


zienten von 2!/,—-5 multipliziert werden, um der Wahrheit näher- 
zukommen. 
Die Gesamtzahl der Fleckfiebererkrankungen in der Zeit von 1918 


bis 1922 ist dann auf 30-35 Millionen zu berechnen. Bei Annahme 


einer Einwohnerzahl von 134 Millionen machte also etwa ein Viertel 
der gesamten Bevölkerung die Krankheit durch. Die Sterblichkeit der 


Erkrankten betrug durchschnittlich 7—12%. Etwa 3 Millionen Men- 








schen sind folglich dem Fleckfieber erlegen. 

Im allgemeinen wird auf Grund vergleichender Statistiken ange- 
nommen, daß die große Fleckfieberpandemie ihren Ausgang im De- 
zember 1917 von Petersburg genommen hat. 1918 kamen hier bereits 
Massenerkrankungen vor, ehe solche in anderen Gegenden auftraten. 
In der Stadt Petersburg wurden gemeldet: 


1) L. Tarassewitch, Epidemiological intelligence epidemics in Russia since 1914. 
Rep. to the League of nations H. S. Nr. 2 und Nr. 5. Genf 1922. 


206 ©. Seyfarth: 


ID aaa 517 Erkrankungen an Fleckfieber 


EEE NER 10 976 > “S » 
O1 36 357 ; ; 
SO2U SE 18 896 : 
192 LERNEN 4 304 ; s » 
1922 5: DIE 8 930 nr „ » 
1923 .:. etwa 1500 hs 


In der früheren Hauptstadt drängten sich 1917 und 1918 die zurück- 
tlutenden Heeresmassen zusammen. Die regellos, völlig verlaust heim- 
kehrenden Soldaten verbreiteten von hier, aber wohl auch gleichzeitig 
von anderen Brennpunkten aus die Fleckfieberepidemie in die Städte 
und Dörfer auch weit abgelegener Gegenden. 

Nach den Berichten von Augenzeugen erreichte die Verlausung der 
Bevölkerung vor allem in den Großstädten seit 1918 allmählich eine 
phantastische Höhe. Sehr trug zur Läuseverbreitung die teilweise vor- 
genommene zwangsweise Aussiedlung der bemittelten Klasse aus dem 
Inneren in die Außengebiete der Stadt, in die Arbeiterviertel, und die 
Übersiedlung der Arbeiter in die leergewordenen Wohnungen der inneren 
Stadt bei. Das Leben der Einwohner verlief in den schweren Jahren 
1918—1921 des Winters in ungeheizten Wohnräumen. Die Kälte zwang 
die Leute, z. T. mehrere Familien, sich in einem Zimmer zusammen- 
zupferchen. Holz, geschweige denn Kohlen, war fast nicht zu beschaffen. 
Leerstehende Häuser wurden als „Holzbergwerke‘ benutzt. Das spärlich 
ergatterte Holz wurde zur Zubereitung der nur mühsam zu beschaffenden 
Nahrung verwandt. An Waschen oder gar Baden, selbst an Umkleiden 
konnte kein Mensch mehr denken. Die öffentlichen Badeanstalten und 
Desinfektionseinrichtungen lagen still, da die Beschaffung von Heiz- 
stoffen und Reinigungsmitteln, besonders Seife, unerschwinglich war. 
Aut diesem Boden konnte sich das Fleckfieber mit rasender Geschwindig- 
keit ausbreiten. 

Die staatlichen Behörden bemühten sich sehr, der verheerenden 
Seuche Einhalt zu gebieten. Durch Einrichtung von Seuchenspitälern, 
durch großzügige Volksaufklärung, durch grellfarbige Plakate, durch 
Reinlichkeitsfeldzüge usw. versuchten sie die Seuche einzudämmen. 
Es gelang bis zum Jahre 1922 nicht. Noch war die psychische Depression 
weiter Bevölkerungskreise zu groß. Zu schwer waren noch die allge- 
meinen Lebensbedingungen. Noch konnte kein Mensch an Reinlichkeit 
und Schaffung primitivster hygienischer Verhältnisse denken. Nur die 
täglichen Nahrungssorgen bewegten die Gemüter, alles andere war 
ihnen vollkommen gleichgültig. Noch herrschte der Bürgerkrieg, und 
von zwei Brennpunkten, 1. von den Gefängnissen und 2. von den Eisen- 
bahnen aus gewann das Fleckfieber immer von neuem Verbreitung. 

Die Gefängnisse waren unglaublich überfüllt. Fabrikgebäude wurden 
als Hilfsgefängnisse benutzt. In ihnen herrschte eine unbeschreibliche 














Seuchen und Seuchenbekämpfung in Rußland. 207 


Verlausung. Sie bildeten noch 1921 und 1922 den Ausgangspunkt sehr 
vieler Erkrankungen. 

Die Hauptverbreitung des Fleckfiebers erfolgte durch die Eisen- 
bahnen. Hatte schon die zügellose Heimkehr der Soldaten 1917 und 
1918 eine geradezu unwahrscheinliche Verlausung der Eisenbahnwagen 
herbeigeführt, so war es in den folgenden Jahren die von panikartiger 
Furcht ergriffen hin- und herflutende Bevölkerung, welche die Eısen- 
bahnen verseuchte und so Läuse und Fleckfieber verbreitete. Teils 


_ flüchteten die Leute aus Gegenden, in denen der Bürgerkrieg wütete, 


teils wurden sie vom Hunger vonihren Wohnsitzen vertrieben. Die Eisen- 
bahnen konnten der Überflutung mit Reisenden nicht Herr werden. Die 
Volksmassen stauten sich auf den Bahnhöfen. Hier lagen Kranke und 
Gesunde zu Tausenden in den Gängen, den Wartesälen und in den 


Unterkunftshallen umher und warteten geduldig tagelang, bis sich bei 


dem beschränkten Zugverkehr eine Gelegenheit zur Weiterfahrt bot. 
Wochenlang hausten dann die Flüchtlinge oft zu 40 und mehr ohne 
jede Möglichkeit der Körperreinigung in den verlausten Güterwagen 
zusammen. Die tagelangen Eisenbahnfahrten spielen ja bei den riesigen 
Entfernungen in Rußland eine ganz andere Rolle als bei uns. 

Die Ansteckungsgefahr in den Eisenbahnwagen war sehr groß. Es 
war 1918—1921 ein gewagtes Unternehmen eine Eisenbahnfahrt zu 
machen, selbst wenn es auch nur eine kurze Hamsterfahrt in die Um- 
gebung von Petersburg war, um einige Nahrungsmittel zu erlangen. 
Gleichgültig, ob man die ‚„Tjepluschken‘‘ (Güterwagen), die „Holz“- 
oder ‚‚Polsterklasse‘‘ benutzte, man bekam mit ziemlicher Sicherheit 
Fleckfieber, Rückfallfieber, zum wenigsten aber Läuse. Die Erkran- 
kungszahl und Sterblichkeit der Eisenbahnarbeiter und -angestellten 


_ war ungeheuer. Etwa in einem Zehntel aller überhaupt vorgekommenen 


Fleckfieberfälle ist die Infektion auf der Eisenbahn zustande gekommen, 
In den Jahren 1920 und 1921 schien die Epidemie infolge weit- 


_ gehender Durchseuchung und dadurch Immunisierung der Bevölkerung 


abzuklingen. Da kam es im Herbst und Winter des Jahres 1921 zu den 
stärksten Ernährungsschwierigkeiten. Erneut brachte der Strom der 
Flüchtlinge aus den Hungergebieten Scharen Verlauster und Fleckfieber- 
kranker auf und entlang den Eisenbahnen nicht nur in die Städte, 


sondern auch in weitabgelegene Gegenden. Von neuem flammte auch 


in Petersburg die Seuche auf. 

Erst im Sommer 1922 trat ein anhaltender Rückgang der Erkran- 
kungen ein. In zähem, unsäglich hartem Kampfe gelang es endlich die 
Seuche vollkommen einzudämmen. Als die Einführung einer neuen 
Wirtschaftsform, der ‚‚Neuen Ökonomischen Politik‘, „Nep‘ genannt, 
der Gesamtheit bessere Lebensbedingungen schuf, als die Ernährungs- 
schwierigkeiten allmählich behoben wurden und die allgemeinen hy- 





208 CO. Seyfarth: 


gienischen Verhältnisse der Bevölkerung sich besserten, da hatten auch I. 
die Maßnahmen der Gesundheitsbehörden Erfolg. Die Gefängnisse 
leerten sich. Man konnte in Petersburg beobachten, daß die berüchtigte 
„Garochowaja‘‘ und die ‚Spalernaja‘“ gereinigt und vollkommen aus- | 
gekalkt wurden. Eine planmäßige Entlausung und Reinigung der 
Eisenbahnwagen und der Bahnhöfe begann. Die von der Eisenbahn- a 
verwaltung geschaffenen besonderen ärztlichen Organisationen konnten 
voll ihre Wirksamkeit: ärztliche Überwachung der Reisenden und der 
Eisenbahnangestellten, entfalten. Längs der Eisenbahnlinien entstanden 3 | 
Entlausungs-, Bade- und Untersuchungsstationen. Die Bäder, Bade- 
einrichtungen und Desinfektionsanlagen wurden wieder instand gesetzt. 
Überraschend schnell trat mit der allgemeinen Besserung der Ernährung 
und der Lebenshaltung ein Umschwung ein. Ende 1922 und im Jahre 
1923 konnte man ohne jede Gefahr die Eisenbahnen wieder benutzen. 

Ebenso war esin den Krankenhäusern, in denen während der Seuchen- 
jahre schauerliche Zustände geherrscht hatten. Noch im Winter 1921 
konnten die meisten Krankenhäuser aus Mangel an Heizmaterial ihre 
Räume nicht erwärmen. Die Kranken wurden selbst in den Seuchen- 
spitälern unentlaust und ungebadet aufgenommen. Infolgedessen war 
die Ansteckungsgefjahr innerhalb der Krankenhäuser ins Unermessene 
gestiegen. Fast ohne Ausnahme erkrankten die Ärzte und das Pflege- 
personal an Fleckfieber. Unzählige russische Kollegen wurden dahin- 
gerafft, betrug doch in Petersburg 1918—1920 die Sterblichkeit der 
fleckfieberkranken Ärzte 25%, und die des Krankenhauspersonals 10%, 
während die Fleckfiebersterblichkeit der übrigen Bevölkerung zwischen - 
7 und 12% schwankte. Auch ein Arzt der deutschen Hilfsexpedition, 
Privatdozent Dr. Gärtner, und ein italienischer Arzt der Nansen-Mission, 
Dr. Farrar, erlagen 1921 bei edelster Hilfstätigkeit dem tückischen 
Fleckfieber. 

Im’ Winter 1922/23 besserten sich die Verhältnisse auch in den 
Krankenhäusern wesentlich. Heizmaterial, Wäsche, Seife und Des- 
infektionsmittel konnten wieder beschafft werden. Die Spitäler wurden 
gereinigt und entlaust, die Räume ausgekalkt. Bäder und Entlausungs- 
anlagen wurden wieder in Betrieb genommen. I 

Im Jahre 1923 war Petersburg fast ganz seuchenfrei. Wohl kamen 
immer und immer wieder Fleckfieberfälle in den Nachtasylen, in den 
Gefängnissen und auf.den Eisenbahnen zur Beobachtung. Durchschnitt- 
lich wurden aber in Petersburg wöchentlich nicht mehr als 15 Fälle 
gezählt. Im Frühjahr 1923 wurden eine ganze Reihe Hilfskrankenhäuser 
geschlossen. Auch unser deutsches Krankenhaus konnte seinem eigent- 
lichen Zweck als Seuchenhospital aus Mangel an Infektionskranken nicht 
dienen und wurde bereits im Winter 1922/23 in ein allgemeines Kranken- 
haus umgewandelt. In gleicher Weise wurde uns von Augenzeugen von 


ein 


- 


Seuchen und Seuchenbekämpfung in Rußland. 209 


einer Besserung der Gesundheitsverhältnisse und der allgemeinen hy- 
gienischen Bedingungen und damit von dem fast völligen Abklingen des 
Fleckfiebers aus den meisten Gegenden Rußlands berichtet. 
Interessant war es die Ansichten der russischen Gelehrten mit ihren 
riesigen Erfahrungen über die Ätiologie des Fleckfiebers zu hören: 
Zabolotny!) (Petersburg) mißt ‚„Kokkoplasmen‘‘ die größte Bedeutung 
bei. So nennt er Leukocyteneinschlüsse, die er und seine Schüler seit 1914 
regelmäßig im Fleckfieber fanden. Barykin?) (Moskau) und seine Mit- 
arbeiter stellten umfassende ätiologische Untersuchungen an. Sie 
| glauben, daß ein ‚„Microbion typhi exanthemici‘“ genannter Mikro- 
organismus der gesuchte Erreger sei. Er läßt sich mit Regelmäßigkeit 
aus dem Blut und aus den Leichenorganen Fleckfieberkranker, ferner aus 
infizierten Meerschweinchen züchten und ist für diese pathogen. Mor- 
phologisch ähnelt dieses äußerst variable (kleine Kokken- bis Stäbchen- 
form) Mikrobion der Rickettsia Prowazeki. Kulturelle Vergleiche 
konnten nicht vorgenommen werden, da ja bisher eine kulturelle 

Züchtung der Rickettsia Prowazeki noch niemandem gelang. KRabino- 
witsch?) (Charkow) züchtete aus Blut und Leichenorganen Fleckfieber- 

kranker ein bipolares Doppelstäbchen. Er glaubt, in Tierversuchen nach- 
gewiesen zu haben, daß Meerschweinchen nach Infektion mit Rein- 
kulturen dieses bipolaren Stäbchens an Fleckfieber erkranken. Bei 
den Sektionen sollen dann dieselben pathologisch-histologischen Ver- 
änderungen an den kleinen Gefäßen beobachtet werden, die regelmäßiger 

Befund bei Fleckfieberkranken sind. Rabinowitsch glaubt, daß sämt- 
liche anderen, von verschiedenen Autoren in den Flecktyphusobjekten 
beobachteten und aus denselben gezüchteten „bipolaren Körperchen‘“, 
ebenso wie das Mikrobion Barykins und die Rickettsia Prowazeki 

mit seinem bereits 1908 entdeckten ‚Diplobacillus exanthematicus“ 

"identisch seien. 

All diesen ‚Erregern‘ des Fleckfiebers gegenüber muß vorläufig 
Skepsis bewahrt werden. Weitere Untersuchungen müssen deren Be- 
ziehungen zu den Rickettsien klären. M. E. ist die Rickettsia Prowazeki 

der Erreger des Fleckfiebers. Die Übertragungsversuche und die patho- 

logisch-histologischen Befunde Rocha-Limas wurden 1920 von einer in 
Polen tätigen, nıit den reichsten Mitteln ausgestatteten amerikanischen 
Fleckfieberuntersuchungskommission voll bestätigt. In einem 1922 er- 
schienenen, mit 34 Tafeln versehenem Prachtwerk legten Wolbach, Todd 








1) Vgl. Mühlens, Moskauer Kongreßbericht. Zentralbl. f. Bakteriol., Para- 
sitenk. u. Infektionskrankh. Ref. 74, 1—37. 1922. 

2) W. Barykin u. N. Kritsch, Microbion typhi exanthemici. Arch. f, Schiffs- 
und Tropenhyg. 27, 49—64. 1923. 

3) M. Rabinowitsch, Über den Flecktyphuserreger. Zentralbl. f. Bakteriol., 
Parasitenk. u. Infektionskrankh., Abt. I, Orig. 90, 497—561. 1923. 


Z. f. klin. Medizin. Bd. 100. 14 


210 C. Seyfarth: 


und Palfrey!) ihre umfangreichen Forschungsergebnisse nieder. Sie 
schließen: 

„Wir kommen zu dem Ergebnis, daß Rickettsia Prowazeki der Erreger des 
Fleckfiebers ist. Den wichtigsten Beweis dafür lieferten uns die Experimente, 
aus denen wir schließen konnten, daß der Fleckfiebererreger und die Rickettsia 
Prowazeki in den ansteckenden Läusen untrennbar sind. Nächst wichtig ist die 
Tatsache, daß in den krankhaften Veränderungen, welche das Fleckfieber im 
menschlichen Organismus hervorruft, mit großer Regelmäßigkeit Körperchen ge- 
funden wurden, die von Rickettsia Prowazeki nicht zu unterscheiden sind.“ 

| In neuester Zeit gibt Kuczynski-Berlin?) an, daß es ihm gelungen sei, 
aus infizierten Meerschweinchen den Proteus-Bacillus X, auf besonderen 
Nährböden wieder herauszuzüchten. Kuczynski glaubt, daß die X. 
Stämme zum Erreger des Fleckfiebers, zu den Rickettsien in naher 
verwandtschaftlicher Beziehung stehen. Er nimmt an, daß Rickettsia 
Prowazeki gewissermaßen eine andere gestaltliche Form des Proteus x 
sei. Die Rickettsia Prowazeki müsse in die Gruppe der Proteusbacillen 
eingeordnet werden. Er nennt daher den Erreger ‚Proteus Rickettsia 
Prowazeki‘. 

Auf Grund dieser Proteuszuchtversuche hat Kuczynski in Gemein- 
schaft mit E. Merck eine praktische Methodik des Impfschutzes gegen 
Fleckfieber und einen Impfstoff zur Serumtherapie ausgearbeitet, deren 
Wirksamkeit im Tierversuch von ihm geprüft wurde. Der mir von der 
Firma Merck-Darmstadt zur Erprobung nach Petersburg geschickte 
Fleckfieberimpfstoff wurde nach den von Kuczynski gegebenen Vor- 
schriften zunächst bei 6 Fleckfieberkranken in den Botkinseuchen- 
baracken angewandt. Von günstiger Beeinflussung des Krankheits- 
verlaufs durch 2- oder 3malige Injektion des Serums sahen wir nichts. 
Zwei injizierte Schwerkranke starben. Die Versuche werden von Iwa- 
schenzoff fortgesetzt. Weitere Ergebnisse müssen erst abgewartet werden. 

Auch sonst sahen und hörten wir wenig Ergebnisreiches von den 
Versuchen russischer Ärzte mit prophylaktischen und therapeutischen 
Impfungen gegen Fleckfieber. Zumeist wurden Impfungen mit in- 
aktiviertem Blut oder Serum von Fleckfieberkranken oder Rekon- 
valeszenten vorgenommen. Prophylaktische und therapeutische Hämo- 
vaccinationsversuche ergaben negative Ergebnisse [Zabolotny, Magat?) 
und andere]. Zlatagoroff (Petersburg) impfte prophylaktisch 4000 Men- 
schen, davon erkrankten 44, 5 von diesen starben. Auch die Behandlung 
mit Bekonvaleszentenserum ergab keine wesentlichen Erfolge. So sah 
Zabolotny in Petersburg bei 100 Fleckfieberfällen, bei denen er sie an- 
wandte, eine Sterblichkeit von nur 6%, gegenüber 10—12%, bei Nicht- 


*) Wolbach, Todd und Palfrey, The Etiology and Pathology of Typhus. 
Cambridge, Mass. 1922. 

2) Kuczynski, Med. Klinik 1922, Nr. 50, S. 1579. 

®) Magat, Klin. Wochenschr. 1923, Nr. 30, S. 1406. 


Seuchen und Seuchenbekämpfung in Rußland. | 211 


behandelten. Ebenso wird die Vaccinierung mit Proteus X,, fast ein- 
stimmig verworfen. 
Eine wesentliche Beeinflussung des Krankheitsverlaufs durch Reiz- 


| körpertherapie (sterile Milch, Aolan, Pferdeserum) sahen wir nicht. Schon 


| 


’ 





RT ne er EEE EEE 








| 





vorher hatten Lawrinowitsch und Skorodumoff in Petersburg diese Be- 
handlungsart versucht, ohne wesentliche Besserungen zu erzielen. 
Zu weiteren Versuchen. müssen die von Mühlens berichteten thera- 


‚ peutischen Erfolge mit intravenösen Injektionen von Novasurol oder 


anderen Quecksilberpräparaten auffordern. In einem Falle, bei einem 
fleckfieberkranken Chinesen, sahen auch wir im Krankenhaus eine 
überraschend schnelle abortive Heilung nach den Injektionen. Im 
übrigen fehlte es uns an geeigneten Fällen, da nach Mühlens der Erfolg 
nur bei sehr frühzeitiger Anwendung des Mittels zu erwarten ist, ebenso 
sind alle Fälle mit irgendwelcher Nierenbeteiligung von dieser Behandlung 
auszuschließen. Am günstigsten ist es, wenn die Injektionen (1 Ampulle 
intravenös) sofort nach Feststellung der Diagnose am 4. oder 5. Krank- 
heitstage beginnen und jeden 2. Tag wiederholt werden. 

Dort, wo das Fleckfieber herrschte, folgte ihm eine andere Seuche, 


das Rückfallfieber, auf dem Fuße nach. Seit 1917 war eine außerordent- 


liche Zunahme dieser Seuche und eine Verbreitung über das ganze Land 
festzustellen. Die Gesamtzahl der Rückfallfiebererkrankungen blieb aber 
im allgemeinen niedriger als die des Fleckfiebers. Sie ist auf etwa 15 
bis 20 Millionen zu berechnen. Zwar wurden in den Jahren 1918—1922 
in ganz Rußland amtlich nur etwa 3 Millionen Recurrenserkrankungen 
gemeldet; da aber die statistischen Fehler bei diesen Erhebungen weit 
größer als beim Fleckfieber waren — Recurrens wurde oft nicht richtig 
erkannt bzw. als ‚leichte Erkrankung“ nicht gemeldet —, so wird man 


‚ diese Zahl mindestens versechsfachen müssen, um annähernd der Wirk- 


lichkeit Rechnung zu tragen. 

Wie beim Fleckfieber spielten Eisenbahnen und Gefängnisse die 
größte Rolle bei der Verbreitung der Recurrens. Die vorhin erwähnte 
Besserung der allgemeinen hygienischen Verhältnisse im Jahre 1922, 
besonders die Bekämpfung der Läuseplage bewirkten auch das Zurück- 
gehen des Rückfallfiebers. Im Jahre 1923 kam in Rußland nicht mehr 
Recurrens zur Beobachtung als zu Friedenszeiten. Die russischen Städte 
mit ihren Nachtasylen und Herbergen niedrigster Art waren ja stets 
Hauptherde des Rückfallfiebers gewesen. 

Immer wieder hörte ich in Rußland von Ärzten, daß neben den 
Läusen auch Wanzen als Recurrensüberträger in Betracht kämen. Im 
Tierversuch gelingt allerdings die Übertragung der Spirochäten durch 
Wanzen. Daß diese aber in der natürlichen Epidemiologie eine erhebliche 
Rolle spielen, glaube ich nach meinen Erfahrungen ablehnen zu können. 
In bulgarischen Lazaretten beobachtete ich während des Weltkrieges 

14* 






Baar. C. Seyfarth: | 
mehr als 500 Rückfallfieberkranke. Obgleich diese Spitäler von Wanzen“ 
wimmelten und die Recurrenskranken nicht abgesondert wurden, kam 
niemals Übertragung auf Gesunde vor, da alle Kranken vor der A 
nahme peinlich genau entlaust wurden. Entsprechende Beobachtungen 
konnte ich auch in Rußland machen. 5 
Im allgemeinen konnten die Rückfallfieberkranken nur symptomatisch. 
behandelt werden. Es herrschte jahrelang fast vollständiger Mangel an 
Salvarsan. Erst seit 1922 wurden wieder Salvarsanpräparate in größerem 
Umfange eingeführt bzw. in Moskau hergestellt. Die therapeutischen 
Erfolge mit Neosalvarsan oder anderen Arsenpräparaten, z. B. Arsalyt, 
waren im allgemeinen günstig. Tuschinsky (Petersburg) erzielte sehr’ 
gute Behandlungsergebnisse, wenn er abweichend von den bisherigenl 
Anschauungen Neosalvarsan 0,6 am 4. oder 5. Tage nach der Entfieberung, 
also im ersten Intervallgab. Wir haben dieses Verfahren bei einer Anzahl 
Recurrenskranker nachgeprüft. Es ist eine wichtige Bereicherung der 
Recurrenstherapie, wertvoll m. E. jedoch nur für gewisse Fälle. Im’ 
allgemeinen ist es am günstigsten, wie bisher jedem Rückfallfieber- 
kranken sofort nach Sicherung der Diagnose durch ein Blutpräparat 
noch während des Fiebers Neosalvarsan zu geben. Geschieht dies un- 
mittelbar vor dem spontanen Fieberabfall, so werden die Rückfälle 
nicht verhindert. In solchen spät eingelieferten oder erkannten Fällen 
ist es besser, am 4. oder 5. Tage des folgenden fieberfreien Intervalls 0,6 Neo- 
salvarsan zu geben, denn dann sind Rezidive sehr selten. | 
Die Sterblichkeit an Rückfallfieber war auffallend groß. Sie betrug 
in Petersburg für das Jahr 1918: 8,1% und für 1919: 4,9%. Es war 
jedoch nicht nur der Mangel an Salvarsanpräparaten, welcher der Re- 
currensepidemie den Charakter eines sehr schweren Verlaufs gab, son-- 
dern vor allem 1920 und 1921 eine eigentümliche Komplikation des 
Rückfallfiebers, eine Mischinfektion mit Paratyphusbacillen. Über diese 
ist in den letzten Jahren in Rußland, besonders von Kulescha!) und 
Iwaschenzoff in Petersburg, sehr viel gearbeitet worden. Ich konnte 
die Forschungsergebnisse dieser beiden Gelehrten an typischen Krank- 
heitsbildern und Sektionen genau studieren. f 
Es handelte sich um sehr schwere Verlaufsformen des Rückfallfiebers, 
die klinisch, pathologisch-anatomisch und bakteriologisch nicht mit dem 
bekannten Krankheitsbild übereinstimmten. Diese schweren Recurrens- 
erkrankungen hatten eine Sterblichkeit von 50% und mehr. 
Klinisch verliefen diese atypischen Formen mit schwerstem Ikterus. Die 
Temperaturkurve verlor die Kennzeichen der Recurrenskurve. Sie wurde un- 


regelmäßig bezüglich der Remissionen und der Dauer des Fiebers. Es traten 
Temperatursteigerungen im Intervallstadium auf. In schweren Fällen ähnelte 


1) Kulescha und Titowa, Virchows Arch. f. pathol. Anat. u. Physiol. 241, 
319-351: 21923. 


Be EEE ee ET ET Er a — a a nn 











Seuchen und Seuchenbekämpfung in Rußland. 25 


der Fieberverlauf ebenso wie die Symptome septischen Krankheitsbildern. Zu- 
meist gingen sie mit schweren diarrhöischen Darmerscheinungen einher. Im Blut 
waren Obermeiersche Spirochäten, oft nur spärlich, nachzuweisen. 
Pathologisch-anatomisch wurden gewaltige infektiöse Milzschwellungen mit 
großen, keilförmigen anämischen Infarkten gefunden. Diese waren recht häufig 
in Vereiterung übergegangen und hatten vereinzelte oder multiple große Abscesse 
gebildet. In einigen Fällen war das Organ durch solche fast vollständig zerstört. 
Oft fanden sich daneben in der Milzpulpa kleine, mitunter miliare, gelbliche Herd- 
chen. Mit großer Regelmäßigkeit war das Nierenparenchym von gelblichen, 
punkt- bis hanfkorngroßen, Typhuslymphomen ähnlichen Infiltraten durchsetzt. 
Häufig bestand außerdem eine hämorrhagische Glomerulonephritis. Länger- 
währende Erkrankungen zeigten neben frischen Veränderungen kleine, pigment- 
haltige narbige Einziehungen nach solchen Infiltraten. Die Leber zeigte im all- 
gemeinen nur eine infektiöse Schwellung. Mit der Lupe waren aber ebenfalls kleine, 
gelbliche, diffus im Parenchym verstreut liegende Knötchen zu erkennen. Die 
Darmschädigungen zeigten bald das Bild eines mehr akuten hämorrhagischen Ka- 
tarrhs, bald das einer schweren, kruppösen, geschwürsbildenden Enteritis. — Eitrige 
Gelenkentzündungen und recht häufig Knorpel- und Knochenentzündungen, seltener 
kleine Eiterherde in Herzmuskel, Hirnhäuten und anderen Organen, sowie verTu- 
köse Endokarditiden vervollständigten das Bild der septico-pyämischen Erkrankung. 
Todesursache war in den meisten Fällen eine eitrige Peritonitis, die sich im 
Anschluß an den Durchbruch von Milzabscessen gebildet hatte — in anderen Fällen 
ausgedehnte bronchopneumonische, seltener herdförmig abscedierende Lungen- 


 erkrankungen. 


Mikroskopisch waren vor allem die Nierenveränderungen charakteristisch. 
Ich konnte diese bei Prof. Kulescha studieren, wo prachtvolle mikroskopische 
Schnitte unter Ermangelung fast aller Hilfsmittel mit den einfachsten Farblösungen 
hergestellt wurden. In den Nieren fanden sich, entsprechend den Infiltraten in 
Mark und Rinde, knötchenförmige Anhäufungen von Rundzellen in der Umgebung 
der Glomeruli, zwischen den Harnkanälchen und entlang den Blutgefäßen. Teil- 
weise konnte man degenerative und nekrotische Erscheinungen in oiesen Infiltraten 
sehen. Daneben bestand oft das Bild einer hämorrhagischen Glomerulonephritis. 
Mit Bakterienfärbung ließen sich inmitten dieser Infiltrate, teilweise auch innerhalb 
der Harnkanälchen und Blutgefäße kolonieförmige Anhäufungen kleiner, kurzer, 
gramnegativer Bacillen feststellen. An manchen Stellen waren Verstopfungen 


der Glomerulicapillaren durch diese Bacillen zu sehen. Entsprechende multiple 


bacilläre Embolien der Capillaren und Bildung von knötchenförmigen, mitunter 
in Eiterung übergehenden Rundzellinfiltraten wurden nicht nur in den Nieren, 
sondern auch in anderen Organen, vor allem in Milz, Leber, Gelenken und in den 
Knorpeln und Knochen beobachtet. 

Kulescha, Iwaschenzoff und vielen anderen ist es nun gelungen, aus 
den Leichenorganen, aber auch aus Blut, Urin und dem Eiter der sehr 
häufigen Perichondritiden dieser Kranken einen Bacillus heraus- 


 zuzüchten, der nach seinen morphologischen und biologischen Eigen- 


schaften zur Paratyphusgruppe gehört. Er zeigt jedoch ein abweichendes 
serologisches Verhalten gegenüber Paratyphus A undB. Meerschweinchen 


_ gingen nach Infektion mit diesen Bacillen bald unter septischen Er- 


scheinungen zugrunde. Da auch das klinische Bild des Paratyphus A 


_ und B beim Menschen mit seinem zumeist leichtem Verlauf in keinem 


Verhältnis zu der beobachteten Krankheitsform stand, nahmen die oben- 


214 C. Seyfarth: 


genannten Forscher nach eingehenden Untersuchungen an, daß essichum 


einen neuen Erreger handelte, den Kulescha ‚Bacillus septicopyaemicus 
hominis“ und Iwaschenzoff „Paratyphus N“ nannte. Iwaschenzoff unter- 
schied wieder zwei Untergruppen, die untereinander nicht agglutinieren 
und meint, daß beide je einem besonderen Krankheitsbild entsprechen. 

Dieser russische Mikroorganismus hat — worauf Mühlens aufmerk- 
sam machte — große Ähnlichkeit mit dem von Neukirch und Schiff!) 
während des Weltkrieges aus Kleinasien beschriebenen Bacillus der 
Paratyphusgruppe, sowie mit dem Bacillus Glässer- Voldagsen — ferner 
auch mit den von Anigstein in Polen und Cantacuzene in Rumänien be- 
obachteten Bacillen. 

Durch Vergleiche des serologischen und kulturellen Verhaltens 
dieser verschiedenen Bakterienstämme konnte dann Sätterlin?) im 
bakteriologischen Laboratorium des deutschen Alexanderhospitals in 
Petersburg feststellen, daß sich die in Rußland gefundenen Stämme 
kulturell wie Paratyphus B verhalten. Eine besondere Bezeichnung 
dieser Bacillen ist also abzulehnen. 


Die meisten russischen Forscher sind der Ansicht, daß die oben 


skizzierte Erkrankung nicht mit Griesingers ‚‚biliösem T’yphoid‘ identisch 
sei, vor allem nach /waschenzoff pathologisch-anatomisch nicht. Nach 
meinen vergleichenden Studien ist dies der Fall. Diein Rußland klinisch 
und pathologisch-anatomisch beobachteten Krankheitsbilder stimmen 
im allgemeinen überein mit den von Griesinger?), Ponfick®) u. a. in der 
zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts bei Rückfallfieberepidemien 
beschriebenen. Es handelt sich nicht um eine ‚‚neue septische typhus- 
artige Erkrankung‘ (Marzinowski), sondern um eine Neubeobachtung 
und um eine Erweiterung unserer Kenntnis der zuerst von Griesinger im 
Jahre 1857 als ‚‚biliöses T’yphoid‘ beschriebenen Krankheit. Damals waren 
bakteriologische Untersuchungen noch nicht möglich. Durch die neuen 
Forschungen ist aber festgestellt worden, daß es sich dabei um eine 
Meschinfektion, verursacht einerseits durch die Spirochaeta Obermeieri, 
andererseits durch einen Paratyphusbacillus handelt, der m. E. der 
Paratyphus-B-Gruppe angehört. 


Daß dieser Paratyphus ausschließlich als Komplikation einer Re- 


currensinfektion, bzw. als Folgeerkrankung kürzere oder längere Zeit 
nach einer solchen auftritt, wie Kulescha, Iwaschenzoff u. a. meinen, ist 
nicht bewiesen. Es sind während der Hungerjahre selbständige Er- 


!) Neukirch, Zeitschr. f£ Hyg. u. Infektionskrankh. 85, 103—144. 1917 
u. Berl. klin. Wochenschr. 1917, Nr. 15, S. 360. 

2) Sütterlin, Zentralbl. f. Bakteriol., Parasitenk. u. Infektionskrankh., Abt. I, 
Orig. 90, 419—424. 1923. 

®) Griesinger, Infektionskrankheiten in Virchows Handb. der spez. Pathologie. 
2. Aufl. 1863. Bd. II. 

*) Ponfick, Virchows Arch. f. pathol. Anat, u. Physiol. 60, 153—190. 1874. 


| 





Seuchen und Seuchenbekämpfung in Rußland. 215 


krankungen an Paratyphus B in Rußland beobachtet worden. Es ist 
möglich, daß die Rückfallfieberinfektion einen ganz besonders günstigen 
Boden für diese Paratyphuserkrankung schafft. Die schon vorher im 
Darm befindlichen Bacillen gelangen in die Blutbahn. Die Zugesellung 
der schweren septischen Paratyphusinfektion zum Rückfallfieber ändert 


' dann dessen Krankheitsbild in bestimmter Weise, so daß es unter dem 


klinischen Bilde des biliösen Typhoids verläuft. 
Mühlens wirft die Frage auf, ob nicht auch Fälle von Weilscher 
Krankheit unter diesen septischen Ikterusfällen versteckt seien. Er 


selbst konnte in Rußland keine Weilschen Erkrankungen kulturell 


oder durch Leptospirennachweis bestätigen. Auch wir hörten nichts 
von dieser Erkrankung. Nach Zabolotny soll aber deren Vorkommen in 
Petersburg nachgewiesen sein. 

Unter den sehr zahlreichen Ikterusfällen verbargen sich jedoch 
mehrfach Erkrankungen an akuter gelber Leberatrophie. Zumeist wurden 
diese nicht erkannt. Alle pathologischen Anatomen, die ich befragte, 


' bestätigten mir die auffällige Häufung von Sektionen Ikterischer mit 


dem Befund einer mehr oder weniger vorgeschrittenen a. g.L. Wichtig 


"ist, daß diese Erkrankungen in den Hungerjahren nie mit Salvarsan in 
Verbindung gebracht werden können. Ich erwähnte ja schon oben den 


‚ völligen Mangel an diesem Heilmittel in Rußland. Es wäre sehr ver- 


Ni 
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dienstvoll, wenn Untersuchungen russischer Forscher zur Klärung: der auf- 


fälligen Häufung und der Ätiologie dieser Erkrankung beitragen würden. 


Gegenüber den ungeheueren Verheerungen, welche Fleckfieber und 
Rückfallfieber anrichteten, trat der Unterleibsiyphus zurück. In den 
Revolutionsjahren stieg die Ziffer der Erkrankungen wohl etwas an. 


 Nirgends kam es jedoch zu größeren Typhusepidemien. Als ganz auf- 


fallend muß die Abnahme der Typhuserkrankungen in Petersburg bezeichnet 
werden. Von jeher war Petersburg eins der Hauptzentren Rußlands, 


‚in denen der Typhus endemisch auftrat. 


Nach den Angaben des Petersburger Gesundheitsamtes wurden fol- 
gende Fälle von Typhus abdominalis gemeldet: 


Stadt Petersburg Landkreis Petersburg 


1912 16 189 4931 
1913 13 979 4104 
1914 10 089 2839 
1915 9 373 1937 
1916 4 441 1003 
1917 1 043 441 
1918 1112 1338 
1919 432 955 
1920 210 368 
1921 327 390 
1922 340 430 


1923 etwa 200 etwa 300 


216 C. Seyfarth: 


In ärztlichen Kreisen Petersburgs wurde mir bestätigt, daß diese 
Zahlen ungefähr stimmen. Es wurde allgemein der Verwunderung Aus- 


druck gegeben, daß Erkrankungen an Typhus abdominalis bei den 


Zuständen während der Umsturzzeit beträchtlich abnahmen. Wurde 
doch teilweise ungereinigtes Newawasser in die Wasserleitung geleitet. 
Das Röhrensystem der Wasserleitung war an vielen Stellen zerstört, 
in sehr schlechtem Zustand befanden sich auch die Kanalisationsanlagen. 
Jede hygienische Überwachung der Nahrungsmittelverkaufsstellen hatte 
aufgehört. Erst seit 1922 setzte wieder eine starke Chlorierung des 
gesamten der Newa entnommenen Leitungswassers ein, und erst 1923 
wurde begonnen, in planmäßiger Weise die sehr zerstörten Wasser- 
leitungsanlagen und das Kanalisationsnetz auszubessern. 

Es ist schwierig zu erklären, warum sich unter den obenerwähnten 
Bedingungen der Unterleibstyphus nicht viel mehr ausbreitete. Von 


manchen wird die Abnahme der Bevölkerungszahl der Stadt Petersburg. 


als Grund für das Herabsinken der Erkrankungszahl angegeben. Die 


Bevölkerungszahl belief sich 1916 auf 2415 700 Seelen und sank von 


dieser Höhe im Volkszählungsjahr 1920 auf 722 229 herab. 1923 hatte’ 
Petersburg etwa 1 100 000 Einwohner. Wenn aber auch die Einwohner- 
zahl Petersburgs jetzt 3mal so gering ist als früher, wird dadurch nicht 
das Herabsinken der Typhuserkrankungen um. das 30- oder 40fache 
erklärt. | 

Meines Erachtens hat mehreres zusammengewirkt, um dieses Er- 
gebnis zu zeitigen. In erster Linie ist es der seit 1917 daniederliegende, 
auf ein Mindestmaß beschränkte Verkehr auf den Wasserwegen Petersburgs, 
besonders auf der Newa und dem Kanalnetz, das diese mit der Wolga 
verbindet. Das Wasser der im Vergleich zu Friedenszeiten fast gar nicht 


mit Barken und Flößen belebten Newa war lange nicht mehr so ver- 


unreinigt wie früher. 

Ferner war der Typhus vor dem Kriege in Petersburg so verbreitet, 
daß ein großer Teil der Bevölkerung durch Überstehen der Krankheit 
für sein ganzes Leben immun geworden war. Ein anderer Teil wird 


dadurch sich bereits ehedem eine Immunität erworben haben, daß er 


in früherer Zeit Bacillenträger gewesen war. Ein wesentlicher Anteil 
muß endlich der in sehr großem Maßstabe angewandten T’yphusschutz- 
impfung zugeschrieben werden. Bereits seit 1915 war diese in der Armee 
eingeführt worden. Viele männliche Einwohner Petersburgs waren also 
schutzgeimpft. In der roten Armee wurde die Impfung ebenfalls streng 


durchgeführt, teilweise auch in der Zivilbevölkerung (Arbeiterinnen in 


Fabriken usw.). | 

Man impfte anfänglich in Rußland mehrere Jahre mit einer Tetra- 
‘ vaceine, d. h. zu gleicher Zeit mit abgetöteten Kulturen von Cholera, 
Typhus, Paratyphus A und B. Jetzt braucht man jedoch ausschließlich 





Seuchen und Seuchenbekämpfung in Rußland. 917 


eine Divaccine gegen Typhus und Cholera. Die Tetravaceine war 
schwieriger in großem Maßstabe herzustellen und war nicht solange 
haltbar wie die jetzt in Petersburg im Institut für experimentelle Medizin 
(Prof. Wladimiroff) hergestellte Divaccine. 

Die Cholera hat während des Weltkrieges in Rußland keine wesent- 


liche Bedeutung gehabt. Erst im Frühjahr 1918 trat sie in Erscheinung. - 


> 








Ausgehend von Astrachan, überzog sie die an der Wolga gelegenen Ge- 
biete und verbreitete sich nach Westen. Auch Petersburg wurde befallen. 
1918 wurden hier 8470 und 1919 918 Erkrankungen gezählt. Die 
Sterblichkeit an Cholera betrug in Petersburg 1918 43,4%, und 1919 
35,5%. Nach Sternberg!) war im klinischen Verlauf der Cholera im 
Vergleich zu früheren Epidemien (5jährige Epidemie 1892—1896 und 
3jährige 1908—1910) kein wesentlicher Unterschied zu erkennen. Die 
Choleramortalität für Petersburg schwankte immer zwischen 30 und 62%. 

In den folgenden Jahren blieb Nordrußland und damit auch Peters- 
burg von dieser Seuche fast völlig verschont. Nur im Süden, besonders 
in der Ukraine, herrschte 1921 eine schwere Choleraepidemie. Es wurde 
die höchste jährliche Erkrankungzziffer (insgesamt 183 000) des letzten 
Jahrzehnts gemeldet. Die im Sommer 1922 erwartete allgemeine Aus- 


_breitung der Seuche trat jedoch nicht ein. 1923 blieb ganz Rußland von 


Choleraepidemien verschont. 
Daß die Cholera in den Hungerjahren im Vergleich zu anderen 


Seuchen zurücktrat und große Neigung zum spontanen Erlöschen zeigte, 


war in erster Linie dem Umstande zu verdanken, daß die Epidemien 
der Jahre 1920 und 1921 ausschließlich durch Kontaktinfektionen ver- 
breitet wurden. Infektionen auf dem Wasserwege wurden von allen 
Beobachtern ausgeschlossen. Das Daniederliegen des Verkehrs auf den 
Wasserstraßen verhinderte, daß diese infiziert wurden. Die Verbreitung 
erfolgte aus den Cholerazentren im Inneren Rußlands auf dem Land- 


wege — meist entlang den Eisenbahnen. Nach Tarassewitch kamen 1921 


auf den Eisenbahnen bei Flüchtlingen und Eisenbahnangestellten 
20 017 Cholerafälle zur Meldung. Als auf Flußschiffen und Wasser- 
straßen erkrankt wurden 3111 Fälle verzeichnet. In Gefängnissen 
erkrankten 338 Personen. 

Die seit 1922 planmäßig durchgeführte Säuberung der Eisenbahn- 
wagen und Bahnhöfe hat neben der Besserung der allgemeinen Er- 
nährungslage die weitere bzw. erneute Verbreitung der Cholera ge- 
hemmt. Namhafte russische Bakteriologen messen ferner vor allem 
einer größeren Immunität der Bevölkerung, sowie einer Abnahme der 


 Virulenz der auch morphologisch veränderten Vibrionen einen wesent- 


lichen Anteil an der Einschränkung der Seuche bei (Lewitzki). Kritsch 


1) Sternberg, Dtsch. med. Wochenschr. 1922, S. 581. 


218 C. Seyfarth: 


und Kasarnowskaja wiesen auf die große Bedeutung der derzeit ver- 
änderten Nahrungsbeschaffenheit für die Biologie und besonders für 
die Degeneration der Choleravibrionen hin. Ob diese Beobachtungen 
tatsächlich richtig sind, müssen erst weitere Untersuchungen fest- 
stellen. 

Alle Beobachter sind jedoch einig über den Wert der mit bestem 
Erfolge in großem Umfange, vor allem im Heer, durchgeführten Schutz- 
impfungen. Diese sind sehr volkstümlich geworden. In Petersburg 
konnte ich beobachten, daß 
auch bei vielen einfachen Leu- 
ten eine große „Impffreudig- 

keit‘ herrschte. Einen guten 
Teil dazu, wie überhaupt an 
der erfolgreichen Bekämpfung 
der Seuchen mögen die überall 
auf Bahnhöfen, in Versamm- 
lungsorten usw. aufgehängten 
buntfarbigen Aufklärungspla- 
.kate beigetragen haben. Sie 
sind von packender Deutlich- 
keit. Eins (Abb. 2) zeigt z. B. 
die Cholera als Würgengel und 
davor die Choleraimpfung. Es 
trägt die Inschrift: ‚Bürger, 
laßt euch gegen Choleraimpfen. 
Nur gegen das Impfen ist der 
Tod machtlos.“ Welchen Wert 





u pa Bi au ‚at Senalre 0666 


NPOTNBOKONSPHERIE NDHBNEHN. beimißt, zeigt der weitere Ver- 

- .. Tonkko nporne npuBuBHn merk: ‚Wer dieses Plakat ver- 
un SPPENTENEMEBIRN klebt oder abreißt, begeht eine 
Abb. 2. kontrerevolutionäre Handlung.“ 


Ein anderer Anschlag (Abb. 3) 


zeigt, wie Cholera verbreitet wird, und weist durch Darstellung einer 


Kochsalzinfusion bei einem Cholerakranken auf den Wert der Spital- 
behandlung hin. Er trägt die Inschrift: ‚‚Proletarier aller Länder ver- 
einigt euch. Die Cholera ist eine ansteckende Krankheit. Sie befällt 
hauptsächlich Menschen, die gedrängt, unordentlich und arm leben. 
Der große Gelehrte Robert Koch hat entdeckt, daß die Cholera usw. 
usw.... Im Falle einer Choleraerkrankung legt euch sofort ins Kranken- 


haus, denn nur dort kann euch die nötige Hilfe erwiesen werden. 


Das Unterbringen eines Cholerakranken in ein Krankenhaus schützt 
seine Nächsten vor Erkrankung.“ 


die Regierung diesen Plakaten 





me 








und wieder wurden jedoch Zu: 


Seuchen und Seuchenbekämpfung in Rußland. 219 


Was die Dysenterie anbetrifft, so war sie im Vergleich zu den bisher 
erwähnten Seuchen von geringerer Bedeutung. Neuerdings flammte 
die Ruhr in den Großstädten, z. B. 1923 in Petersburg, während der 
wärmeren Jahreszeit epidemisch auf. Vermehrte Infektionsgelegenheit 
gab der Mangel einer hygienischen Überwachung der Nahrungsmittel- 


' verkaufsstellen, die unhygienische Fäkalien- und Müllabfuhr, sowie die 


starke sommerliche Fliegenplage. Bakteriologisch wurden zumeist Pseudo- 


senteriebacillen nachge- 
dy = NPONETAPHH BEEX DTPAH, COEAHHRHTECH! = 


wiesen. Auch klinisch und »6e B g> a 


‚pathologisch-anatomisch 
ER BONES BArPTAaAZEn mare, 
bot die Dysenterie in Pe- onAnNoPAMKAET NPEHNYINECTBEHHO NI0AEN, 
IKHBYILNN CKYYEHHO,HEONPATHO » BEANO, 
tersburg das gleiche Bild nf n 
wie bei den in unserer Hei- sus 
mat in den Nachkriegs- === 
jahren beobachteten Fällen. 
Amöbenruhr spielte bei 
den gegenwärtigen Epi- 
demien keine Rolle. Hin 











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einzelne Erkrankungen von zu = 
eingeschleppter, aber auch “== 


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Die Pocken zeigten in un BR 
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denBürgerkriegsjahrensehr au. , Rn. Ba 


hohe Erkrankungszahlen, +. _— SupsaRIP res MaRenn. Tape TB rosa EN 
besonders in den nördlichen ME 5 | 
Gouvernements. In der HAPOAHBIR | u -OTAEN- 
Mat Petersburg wurden RUMSHNMT E CARKTAPHOTO 
SAPABODKAREHHR | NPOCBELLENNR 


1917: 860; 1918: 1263; » 
2919: 5658; 1920: 969; 
1921: 420 Fälle gemeldet. 
Die 1922 und 1923 noch 
auftretenden vereinzelten Pockenerkrankungen konnten fast ausschließ- 
lich auf eingeschleppte Fälle aus den Gouvernements Wjatka und 
Wologda zurückgeführt werden. Deren strenge Isolierung in den Botkin- 
seuchenbaracken, wo uns von Iwaschenzoff mehrfach sehr lehrreiche 
Pockenfälle gezeigt werden konnten, und die Durchimpfung der Um- 
gebung der Erkrankten usw. drückten 1923 die Pockenerkrankungen 
auf eine geringe Zahl herab. 


1) Yakimoff, Bull. de la soc. de pathol. exot. 1917, H. 10, S. 125. 


220 Ö. Seyfarth: 


Ad 


Im April 1920 war in der Sowjetrepublik die allgemeine Impfpflicht 
gegen Pocken eingeführt worden. In der roten Armee wurde sie streng 
gehandhabt — nach Möglichkeit auch in der Bevölkerung. Von Impf- 
gegnern habe ich nichts gehört. Im Gegenteil war der Andrang zu den 
öffentlichen Impfstellen in Petersburg nach meinen Beobachtungen 
sehr stark. Grelle, farbige Aufklärungsplakate trugen sehr dazu bei. 
Eins (Abb. 4) z. B. stellt Pockennarbige und von Pocken Erblindete dar. 
ONIONEONNEROR Ä an . Es trägt die Aufschrift: „An 
Abs den Pocken sterben viele 
Menschen, viele erblinden, 
und die Genesenen bleiben 
narbig. — Sich vor Pocken 
zu schützen ist leicht: man 
muß sich ein paarmal im’ 
Leben impfen lassen. — Es 
ist Pflicht jedes Bürgers der 
Republik, das Dekret der 
Pockenimpfung zu befolgen. 
— Laßt euch impfen gegen 
Pocken und wiederholt das 
Impfen nicht seltener als alle 
5 Jahre.‘ 

Die Beulenpest blieb auf 
kleine Herdeim fernen Osten, 
im Südosten Rußlands (in der 
Kirgisensteppe) und auf ver- 
einzelte eingeschleppte Fälle 
im Schwarzmeergebiet be- 
schränkt. Ursache dafür war 
wahrscheinlich das infolge 
der Hungersnot weitverbrei- 
tete Verzehren von Ratten, 
Zieseln und anderen kleinen 
Nagetieren. Diese sind in Rußland die Träger der Pestbacillen und die 
Quelle der Infektion des Menschen und somit der Epidemieausbrüche. 

Eine der weitverbreitetsten ansteckenden Krankheiten istin Rußland 
die Malaria geworden. Zahlen über die Verbreitung des Wechselfiebers 
anzugeben ist unmöglich, da deren Registrierung und Bekämpfung erst 
jetzt ernstlich in Angriff genommen worden ist. Droht doch gerade 
gegenwärtig eine neue Malariaepidemie das gewaltige russische Reich 
zu überziehen. Mitten im mühseligen Wiederaufbau tritt der Bauern- 
schaft ein neuer Schrecken, die Malaria, entgegen. Aus den Wolga- 
gebieten kamen in diesem Sommer Berichte, „daß Hunderte und aber 








Abb. 4. 








Seuchen und Seuchenbekämpfung in Rußland. 227 


Hunderte die Ambulatorien, Krankenhäuser und Feldscherpunkte um- 
lagern, um Chinin zu erbetteln. Denn der Malariatod ist unerbittlich 
und hat manchen mitten in der Ernte gefällt!)“. 
Während der Kriegs- und Revolutionsjahre haben die Malaria- 
erkrankungen im Kaukasus, im Don- und Wolgagebiet und vor allem 


‘in Westsibirien eine erhebliche Zunahme erfahren. Bis weit in nördliche 








> re ng > 10027 ET EEE. 





Gebiete ist die Malaria vorgedrungen. Im Archangelskschen Gouvernement, 
an der nördlichen Dvina und in der Stadt Archangelsk selbst, stellte 
Ivanov 1921 zahlreiche Malariafälle fest. Der Krieg mit seinen Truppen- 
bewegungen und Bevölkerungsverschiebungen hat die Verbreitung in 
bisher noch malariafreie Gegenden bewirkt. Wärmere Sommerzeiten 
als gewöhnlich begünstigten die Verbreitung der Anophelen und der 
Plasmodien. Aus den südlichen Gebieten, aus Kaukasus und Turkestan, 
werden sehr schwere Malariaformen berichtet. Oft wurden die Kranken 
in komatösem Zustande aufgefunden und starben innerhalb 24 bis 
48 Stunden (Tarassewitch, Strodowsky, Lindtrop). 

In Petersburg wurden von dort, aus den Wolgagebieten und be- 
sonders aus Sibirien zahlreiche Fälle eingeschleppt. In der Mehrzahl 
handelte es sich um Malaria tertiana. Wir sahen aber in unserem Kran- 
kenhaus auch mehrere Erkrankungen an Tropica, an Quartana und 
Mischinfektionen. Auffallenderweise waren die drei ersten in den kalten 
Spätherbsttagen des Jahres 1922 in unserem Spital aufgenommenen 
Malariakranken atypische aus Sibirien eingeschleppte Quartana- 
erkrankungen. Diese sollen in Petersburg sehr selten sein. Die von 
einigen russischen Gelehrten bei der Demonstration dieser Fälle vor- 
gebrachten Zweifel an der Richtigkeit dieser Diagnose konnten durch 
Einsendung der Blutpräparate an das Tropeninstitut in Hamburg und 
durch die Bestätigung M. Mayers behoben werden. 

Wir konnten ferner Fälle von in der Stadt Petersburg selbst erworbener 


- Malaria tertiana feststellen, eine Beobachtung, die in den Revolutions- 


jahren zuerst von Schingarowa, der verdienstvollen Leiterin des staat- 
lichen Malariainstituts in Petersburg, später auch von anderen Forschern 
gemacht worden war. Der Genannten gelang es, in Petersburg selbst 
Anophelesbrutplätze aufzufinden, eine Feststellung, von deren Richtigkeit 
wir uns selbst überzeugen konnten. In Moskau sind von Pletnew und 
anderen sogar einheimische Tropicaerkrankungen beobachtet worden. 


Auffallend häufig waren in Petersburg in den ersten Monaten 1923 


Fälle von Frühjahrsmalaria, von Malariainfektionen, die im Sommer 


1922 in den südlicheren Gegenden erworben und nach mehrmonatiger 
Inkubationsdauer im Frühjahr 1923 erstmalig zum Ausbruch kamen. 

Über hartnäckige, jeder Chininbehandlung widerstehende Malaria- 
erkrankungen wurde von russischen Kollegen viel geklagt. Ich habe 


1) Münch. med. Wochenschr. 1923, Nr. 37, S. 1188. 


222 C. Seyfarth: Seuchen und Seuchenbekämpfung in Rußland. 


solche nicht finden können. In mehreren mir vorgestellten Fällen 
handelte es sich um Mischinfektionen mit anderen Infektionskrankheiten, 
Es konnte entweder das gleichzeitige Bestehen typhöser Erkrankungen 
oder das Vorhandensein tuberkulöser oder syphilitischer Prozesse bzw. 
von Grippefolgen festgestellt werden. 

Planmäßige Bekämpfung der Malaria und zielbewußte Sanierungs- 
maßnahmen waren bis vor kurzem im Hinblick auf die wichtiger er- 
scheinende Bekämpfung der typhösen Erkrankungen nicht vorgenommen 
worden. Es war das Verdienst Mühlens, 1921 und 1922 in zahlreichen 
Lichtbildervorträgen auf deren Notwendigkeit hingewiesen zu haben. 
Unter der fachkundigen Beratung von Malariaforschern, wie Marzi. 
nowsky (Moskau) und Schingarowa (Petersburg), haben die russischen 
Gesundheitsbehörden diese jetzt in Angriff genommen. Gelingt es dem 
Volkskommissariat für Gesundheitswesen genügend Geldmittel und 
Chinin bereitzustellen, so wird auch die ungeheuere Aufgabe der Malaria- 
bekämpfung im weiten russischen Reich bewältigt werden können. 

Zum Schluß möchte ich unserer russischen Kollegen, der praktischen 
Ärzte und der Wissenschaftler, gedenken. Sie haben sich im Verein mit 
dem ärztlichen Unterpersonal in diesen schweren Jahren unermeßliche 
Verdienste um ihr Volk erworben. Ihre zähe Ausdauer und ihre un- 
ermüdliche Arbeit war bewunderungswürdig. Trotz ihrer wirtschaftlichen 
Notlage, trotz Fehlens der ausländischen medizinischen Literatur, trotz 
des unendlich großen Mangels an anderen Hilfsmitteln wurde wissen- 
schaftlich gearbeitet. Mit mehr als einfachen, selbstgefertigten Behelfs- 
mitteln, in ungeheizten Arbeitsräumen, vielfach ohne Gas und Elek- 
trizität (die Petersburger Gasanstalten haben seit 6 Jahren bis heute 
ihren Betrieb noch nicht wieder aufgenommen), wurden hervorragende 
Forschungsergebnisse erzielt. 








| 











Aus der Fakultätsklinik für inn. Krank. des Petersburger mediz. Institutes 
[Dir.: Prof. @G. Lang].) 


Über den Einfluß der Wasser- und Nahrungsaufnahme auf den 
Blutdruck, speziell bei Hypertonie. 


Von 
Dr. N. Tolubejewa und Dr. L. Pawlowskaja. 


Mit 6 Kurven. 
(Eingegangen am 2. Januar 1924.) 


Bekanntlich ist die Hypertonie nicht nur durch Erhöhung des 
Blutdruckes, sondern auch durch seine große Labilität gekennzeichnet. 
Beständig finden wir bei den Autoren Hinweise darauf, daß der Blut- 
druck der Hypertoniker große Schwankungen aufweist, sowohl unter 
dem Einfluß physiologischer im Organismus ablaufender Prozesse als 
auch unter dem Einfluß einer ganzen Reihe äußerer Einwirkungen. 
Es gibt in der Literatur viele solche allgemeine Hinweise, jedoch ver- 
hältnismäßig wenig genauere Beobachtungen dieser Labilität. Mehr 
oder weniger genau festgestellt sind nur die Schwankungen, welche von 
der Tageszeit abhängig sind (Israel, Kylin, Fahrenkamp) und speziell 
die Blutdruckerniedrigung während des Schlafes in der Nacht (C. Müller, 
Katsch und Ponsdorf). Bei der klinischen Erforschung der Hypertonie 
interessierte uns unter anderem der Einfluß auf den Blutdruck eines 
wichtigen physiologischen Prozesses — der Verdauung, da dieselbe be- 
kanntlich von der Erweiterung derjenigen Gefäße begleitet ist, deren 


"Bedeutung für den Blutdruck besonders hoch bewertet wird. Die Mehr- 


zahl der Arbeiten, welche der Frage nach dem Einfluß des Verdauungs- 
prozesses auf den Blutdruck gewidmet sind, sind im Zeitraum von 1880 
bis 1905 publiziert und nur eine von ihnen, die Arbeit von Loeper, im 
Jahre 1912. Die Verfasser aller dieser Arbeiten setzen sich als Ziel der 
Forschung die Lösung der Frage über den Einfluß der Nahrungsaufnahme 
auf den Blutdruck beim Menschen, nicht nur beim gesunden, sondern auch 
beim kranken, gehen dabei aber auf den Einfluß speziell der Verände- 
rung des Herz- und Gefäßsystemes auf die Blutdruckschwankungen in- 


‚ folge der Nahrungsaufnahme nicht näher ein. Die Ergebnisse dieser 


Arbeiten sind ziemlich widerspruchsvoll. Einige Verfasser (Zadek, 
Bouloumie) finden nach Nahrungsaufnahme eine Blutdruckerhöhung, 
andere wieder (Colombo, Weiss u. a.) beobachten eine Blutdruckerniedri- 
gung. Diese Widersprüche können teilweise dadurch erklärt werden, dab 


GEH 


224 N. Tolubejewa und L. Pawlowskaja: Über den Einfluß der Wasser- 


unmittelbar nach der Nahrungsaufnahme von diesen Autoren keine Blut- 
druckmessungen ausgeführt wurden und dieselben fernerhin in zu 
selterenen Zeitinterwallen erfolgten. Andererseits wieder kann der 
Widerspruch einzelner Ergebnisse dieser Verfasser auch durch eine 
völlige Unterlassung der Bezugnahme auf den Gefäßzustand in ihren 
Fällen erklärt werden. Es gelang uns nur eine Arbeit, genauer, ein kurzes‘ 
Referat einer Arbeit Federns, wo der Zustand der Gefäße berücksichtigt 
ist, zu finden; die Resultate dieser Arbeit sind in einer Sitzung der 
Wiener medizinischen Gesellschaft im November 1917 mitgeteilt worden. 
Der Verfasser erforschte die Blutdruckveränderungen bei alten und jun- 
sen Leuten, wobei es sich erwies, daß sich der Blutdruck bei Arterio- 
sklerotikern nach der Nahrungsaufnahme erhöht, bei gesunden und 
jungen Leuten hingegen unverändert bleibt. 

Um der Frage über den Einfluß des Verdauungsprozesses auf den 
Blutdruck näherzutreten, beschlossen wir anfänglich die gewöhnliche 
Wasserprobe, wie sie zur Prüfung der Nierenfunktion üblich ist (Ein- 
führung von 1,5 1 Wasser von Zimmertemperatur), auszunutzen, in der 
Hoffnung, einen allgemeinen Eindruck von der Blutdruckreaktion auf 
die Magenanfüllung an und für sich zu gewinnen. Dann gingen wir 
zur Untersuchung der Blutdruckschwankungen nach Nahrungsaufnahme 
über, um den Einfluß des Verdauungsprozesses selbst auf den Blutdruck 
zu bestimmen. 

Die Nahrung bestand bei den verschiedenen Proben aus: 


1. 1,51 Wasser und 100,0 g Zucker. 

231501 Ü „200,0 g Weißbrot und 200,0 g Fleisch. 

Bela 2 » 200,08 s „ 100,0 g Butter. 

4, 1,51 a » 200,08 s 

5. 200,0 g Weißbrot und 200,0 & Fleisch. 

6. 200,0 8 ” „ 100,0 g Butter. 

7.- 200,0 g > 


Was die Technik der Versuche betrifft, so wurde in jedem einzelnen 
Falle auf nüchternen Magen (um 10 bis 10 Uhr 30 Minuten morgens) der 
Puls und der Blutdruck gemessen.. Vor der Messung befand sich der. 
Kranke in völligem Ruhezustand mindestens während einer Viertelstunde 
Unmittelbar nach der ersten Blutdruckbestimmung bekam der Kranke 
Wasser oder eine oder die andere von den angegebenen Nahrungsproben. 
Das Wasser wurde im Verlaufe von 15 Minuten, die Nahrung im Verlaufe 
von 20 Minuten aufgenommen. Die erste Puls- und Blutdruckbestim- 
mung wurde 1 Minute nach der Nahrungsaufnahme ausgeführt; später- 
hin wurden die Messungen je nach 3, 5, 8, 10, 15 Minuten (nach der 
Nahrungsaufnahme) und darauf alle 15 Minuten wiederholt. Bei den 
Wasserproben dauerten die Beobachtungen von 3—4 Stunden, bei 
Nahrungsaufnahme wurden sie im Verlaufe von 5—6 Stunden fest- 














ersten Gruppe weist einförmige 2% a 
Ergebnisse auf. Als Muster 


und Nahrungsaufnahme auf den Blutdruck, speziell bei Hypertonie. 225 


gesetzt. Während des ganzen Versuches lagen die Kranken zu Bett bei 
völliger Ruhe und jegliche neue Wasser- und Nahrungszufuhr blieb aus- 
geschlossen. Der Blutdruck wurde mit dem Apparat von Riva-Rocei 
mit der breiten Manschette nach von Recklinghausen mittels der Aus- 
kultationsmethode von Korotkow, der maximale Blutdruck außerdem 
noch palpatorisch bestimmt. Im ganzen wurden von uns 50 Fälle 


untersucht. Alle Fälle 
Kurve Nr. 18. Spondylitis tbc. 


sind in 2 Gruppen 18a. 18d. 
eingeteilt. Die erste 1!/, Liter Wasser. 1!/, Liter Wasser u. 200,0 
e. -Weißbrot u. 200,0 Fleisch. 
| Gruppe umfaßt 20 Fälle 


” S i | j r 5 

junger Personen im Al- 4% Mur %_7 ehe 3 
druck 

ter von 17—23 Jahren 720 

mit gesundem Gefäß- 7 





E { 80 80. 
system, die zweite sole 
Uru 
Gruppe umfaßt 30 er 
Fälle. Zu derselben 20 20 500 


gehören Kranke im 000 
vorgeschritteneren Al- 

ter von 44—81 Jahren, zum größten Teil mit Hypertonie und diesen 
oder jenen Erscheinungen der Arteriosklerose. Die Gesamtzahl der von 
uns ausgeführten Versuche beträgt 102; von denselben fallen 58 auf 
die Wasser- und 44 auf die Nahrungsaufnahme. Von 102 Versuchen 
gehören 37 zur ersten Gruppe, 65 zur zweiten Gruppe. Bei den an- 
geführten Kurven entspricht der Abszisse die Zeit, der Ordinate der 


Abb. 1. 


Blutdruck, die Pulszahl und die Kurve Nr. 3. Kurve Nr. 15. 
| s | Polyarthr. chr. Sten. 0. v, sin. 
21 F R ’ 
Urinmenge e sa. 152. 
Die Mehrzahl der Kurven der ‘»1!/, Liter Wasser. 1!/, Lit. Wasser. 


4 140 
führen wir nur 2 für diese Gruppe 120 
typische Kurven an. Bei der zo m 
Mehrzahl, und zwar in zwei %@ & 
Drittel unserer zu dieser Gruppe ” 
ee ° “0 401000 
gehörender Versuche erhielten 
! ; | 20 20 500 
wir nach der Wasseraufnahme „9 
Kurven analog derjenigen von 


Nr. 18a. In einem Drittel aller Fälle dieser Gruppe Kurven, welche 











derjenigen von Nr. 3a entsprachen. Beide angeführten Kurven 18a 
und 3a zeigen einen unbedeutenden Anstieg unmittelbar nach der 
 Wasseraufnahme, wobei auf der letzteren Kurve derselbe etwas höher 


ist. Nur eine Kurve dieser Gruppe — 15a — bildet anfänglich einen 


 schroffen Anstieg, worauf sie bedeutend sinkt. Von den Kurven 


nach Nahrungsaufnahme der ersten Gruppe wäre nur Kurve 18d 
Z. f. klin. Medizin. Bd. 100. 15 


226 N. Tolubejewa und L. Pawlowskaja: Über den Einfluß der Wasser- 


anzuführen, da die übrigen ihr sehr gleichen. Diese Kurve steht der 
Kurve 18a sehr nahe, zeichnet sich aber durch eine spätere, wenn 
auch geringfügige Senkung aus. Von den der zweiten Gruppe zu- 
gehörenden nach der Wasseraufnahme erhaltenen Kurven führen wir 
Kurve Nr. 23. Hypertonie. Arteriosklerose. 
23a. 23h. 23. 


1'/, Liter Wasser. 1'/, Liter Wasser 1!/, Liter Wasser u. 200,0 
u. 100,0 Zucker. Weißbrot u. 200,0 Fleisch. 


a NND ZT 07 PR 
me druck 






























































































ZI NUAREREE: BERIEECHN 
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BREEREREBRRSTEERBVEUENT 2. 
00 200 a 
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A RERBBER nm RE 
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Bun fs]. ee 
Abb. 3. 
Kurve Nr. 25. Hypertonie. Arteriosklerose. 
252. 25h. 35. 
1?/s TEN. 200,0 Weißbrot. 12/4 her wein 
£uis Bluf- EN NAT  Baaike 3 
Far druck 
700 200 
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50 200 Er ere 
EIKE BEER 
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ee I I4-- een. 
ET BERBERERBE 


Abb. 4. 


nur 3 an, die Nr. 23a, 25a, 35a. Die beiden ersten beziehen sich auf 
Fälle hochgradiger Hypertonie, die Kurve 35a wurde bei weniger aus- 
seprägter Hypertonie erhalten. In den nach Einnahme manigfaltiger 
Nahrungsstoffe erhaltenen Kurven (23h, 23d und 25b) ist die dem An- 
stieg folgende Senkung bedeutend ausgesprochener. Die nach Aufnahme: 











und Nahrungsaufnahme auf den Blutdruck, speziell bei Hypertonie. 227 


anderer Nahrungsstoffe erhaltenen Kurven unterschieden sich wenig 
von der letztgenannten, weshalb wir es auch nicht für nötig finden, sie 
hier anzuführen. Wir führen noch 2 Kurven der Tagesschwankungen 
des Blutdruckes an. Eine derselben bezieht sich auf einen jungen Men- 
schen mit gesundem Gefäßsystem (Nr. 41), die 2. Kurve (Nr. 42) auf 
einen Hypertoniker von 68 Jahren. In diesen beiden Fällen wurde der 
Blutdruck im Laufe des ganzen Tages alle halbe Stunde bestimmt. Nach 
den Nahrungsaufnahmen wurde er nach ebensolangen Zeitinterwallen 


Kurve Nr. 41. Polyarthritis chr. 
Tagesschwankungen des Blutdrucks. 


as an a tt 












































Kurve Nr. 42. Hypertonie. Arteriosclerose. 
a des Blutdrucks. 














MR a 
Puls Blur 
Bus Bl De: 
Ar) 
ee ST 


90 180 
80 760 
70 740 
60 720 
50 700 
40 80 
30 60 
20 40 












































wie bei unseren speziellen Versuchen gemessen. Wir sehen, daß die 
Kurve eines jungen gesunden Menschen fast gar keine Schwankungen 
nach den Nahrungsaufnahmen aufweist. 

Auf Grund der ersten und zweiten Gruppe kann auf folgendes auf- 


 merksam gemacht werden: Auf allen Blutdruckkurven, die während des 


Verdauungsprozesses gewonnen werden, kann man 1. eine anfängliche 
Blutdrucksteigerung, 2. eine darauf folgende Senkung und 3. eine 


schwach ausgeprägte später auftretende Blutdruckerhöhung wahr- 


nehmen. Alle diese Schwankungen sind in den Fällen der ersten Gruppe 

schwach, in den Fällen der zweiten Gruppe sehr stark ausgeprägt. 

Zwei Drittel der Gruppe 1 weisen kaum merkbare, ein Drittel der Fälle 
19° 


228 N. Tolubejewa und L. Pawlowskaja: Über den Einfluß der Wasser- 


dieser Gruppe etwas ausgesprochenere Schwankungen auf. Fall 15 er- 
scheint als Ausnahme in der Gruppe 1, denn seine Kurve nähert sich 
denjenigen der zweiten Gruppe. Er bezieht sich auf eine Frau von 
32 Jahren mit kompensierter Mitralstenose und augenscheinlich labilem 
Gefäßsystem. Wir können annehmen, daß wir im gegebenen Fall eine 
denjenigen der Gruppe 2 nahestehende Kurve erhielten, weil wir es mit 
einem Fall des latenten Zustandes der Hypertonie zu tun hatten. Was 
die Fälle der zweiten Gruppe anbetrifft, so beziehen sie sich, wie wir es 
schon erwähnten, auf Kranke mit Hypertonie und mehr oder weniger 
ausgesprochener Arteriosklerose, jedoch ohne ausgeprägte Nieren- 
erscheinungen. Auch in dieser Gruppe sind 2 Typen zu unterscheiden: 
die Fälle mit stärker ausgeprägter Hypertonie zeigen größere Blutdruck- 
schwankungen nach Nahrungsaufnahme als diejenigen mit weniger 
ausgesprochener Hypertonie. 

Die Analyse aller Fälle dieser Gruppe hinsichtlich des anatomischen 
und funktionellen Zustandes ihrer Gefäße schien uns im hohen Grade 
interessant und wichtig. Diese Aufgabe wurde uns aber schwer, eventuell 
unlösbar, da das Vorhandensein und den Grad der sklerotischen Ver- 
änderungen, sowohl der peripheren Gefäße wie besonders auch der 
Gefäße der inneren Organe, klinisch zu bestimmen eine bis jetzt noch nicht 
gelöste Aufgabe ist. Periphere Sklerose auf Grund der Palpierbarkeit 
eines Gefäßes außerhalb der Pulswelle und auf Grund seiner Härte und 


Verdickung festzustellen, ist nicht ohne weiteres zulässig. Die For- 


schungen Rombergs und seiner Schüler haben festgestellt, daß einer 
fühlbaren Verdiekung und Verhärtung der Arterienwand oft nicht 
anatomische, sondern funktionelle Veränderungen zugrunde liegen. Da 
uns diese grobe Methode bei der Bestimmung der Arterienveränderungen 
nicht genügen konnte, konnten wir unsere Fälle vorläufig in dieser Hin- 
sicht nicht genau differenzieren. Dieser Teil der Arbeit wird erst dann 
ausgeführt werden können, wenn der Klinik vollkommenere und feinere 
Methoden zur Feststellung der anatomischen und funktionellen Gefäß- 
veränderungen zur Verfügung stehen werden. In unserer Klinik be- 
mühen wir uns an ebendemselben Material, welches dieser Arbeitzugrunde 


liegt, zur Lösung dieser Frage beizutragen und werden über unsere Re- 


sultate seinerzeit berichten. Vielleicht werden wir dann die Möglichkeit 
haben, unsere Fälle hinsichtlich ihrer Gefäßveränderung genauer .zu 
differenzieren. Vorläufig müssen wir uns darauf beschränken, festzustel- 
len, daß unsere Fälle insgesamt zu der Gruppe der sogenannten essentiel- 
len Hypertonie und zur arteriosklerotischen Hypertonie gehören. Auf 
eine Trennung dieser beiden Formen, welche ja überhaupt problematisch 
ist, müssen wir aber vorläufig jedenfalls verzichten. 

Um der Erklärung der Einwirkung der Nahrungsaufnahme auf den 
Blutdruck näherzutreten, muß vor allem darauf hingewiesen werden, 


Zen Im mn 


und Nahrungsaufnahme auf den Blutdruck, speziell bei Hypertonie. 229 


‚daß der anfängliche Kurvenanstieg am deutlichsten ist bei den reinen 
| Wasserversuchen, während er bei den reinen Nahrungsversuchen fast 
völlig ausbleibt. Es ist anzunehmen, daß die Ursache dieses Anstiegs ein 
‚Reflex von seiten des Magens auf den vasomotorischen Apparat ist. 
Die Physiologie zeigt, daß die Reizung der Magenwand eine Blutdruck- 





| erhöhung zur Folge hat. Durch Versuche an curarisierten Katzen und 


‘Hunden haben Mayer und Pribram festgestellt, daß eine Sondenreizung 
‚der Magenwand den Blutdruck erhöht. Das gleiche wurde von den- 
‚selben Autoren durch Magenaufblasung erzielt, wobei ein starkes und 
‚schnelles Aufblasen den Blutdruck stärker erhöhte als ein schwaches 


‚und langsames. Diese physiologischen Versuche werden durch unsere 
ı Beobachtungen bestätigt, da die stärkste Blutdruckerhöhung nach Auf- 


nahme großer Wassermengen erfolgte, welche ihrem Umfang nach (1,5 1) 
‚als eine rein mechanische Reizung der Magenwand durch Dehnung 


angesehen werden kann, während dies für Nahrungsstoffe kleineren 
Umfanges nicht gilt. Um die Richtigkeit dieser Annahme zu kontrollieren, 


‘machten wir bei Menschen Magenaufblasungsversuche mittels der 


Duodenalsonde. Die Ergebnisse waren folgende: Bei Einführung der 
Duodenalsonde erhöhte sich der Blutdruck bei den Hypertonikern sofort 
um 40 mm, darauf sank er allmählich im Laufe eines lstündigen Ver- 
weilens der Sonde im Magen bis zu der ursprünglichen Höhe. Hierauf 
wurde die Magenaufblasung rasch ausgeführt, worauf der Blutdruck 


‚ sich sofort wieder um 40 mm im Durchschnitt erhöhte. Solche Versuche 
an jungen Personen mit gesundem Gefäßsystem ergaben fast gar keine 


Blutdruckschwankungen: nach Einführung der Duodenalsonde und nach 
der Magenaufblasung erhöhte sich der Blutdruck nur um 6—8 mm. 





Die Resultate dieser Versuche bestätigen also unsere Annahme voll- 
kommen, daß die anfängliche Blutdruckerhöhung nach der Nahrungs- 
aufnahme durch einen Reflex von der Magenwand infolge ihrer Aus- 


 dehnung bewirkt wird. Was die Senkung des Blutdruckes, die auf die 





erste Erhöhung folgt, anbetrifft, so kann dieselbe wohl ohne weiteres 
auf die mit der Magen- und Darmverdauung verbundene Erweiterung 
der Bauchgefäße zurückgeführt werden. Die später auftretende Blut- 
drucksteigerung ist das Resultat der Rückkehr dieser zur ursprüng- 
lichen Weite oder einer kompensatorischen Verengerung anderer Gefäß- 


‚ gebiete. 


Es kann noch darauf hingewiesen werden, daß auf Grund unserer 


Versuche ein wesentlicher Unterschied in dem Grade der Blutdruck- 
 senkung oder Steigerung in Abhängigkeit von der Art der Nahrung 


‚ (Zucker, Brot, Butter, Fleisch) und von der Temperatur derselben nicht 
‚ festzustellen war. Jedoch halten wir es für möglich, daß bei einer 


spezielleren Versuchsanordnung vielleicht: doch wesentliche Unter- 
schiede zu beobachten sein werden. 


230 N. Tolubejewa und L. Pawlowskaja: Über den Einfluß der Wasser- 


Für die Genauigkeit unserer Versuche spricht unter anderem folgende 
Tatsache: es wurden bei denselben Personen (Hypertonikern) Versuche 
mit Aufnahme von 1,51 Wasser allein und Versuche mit Aufnahme 
von 200 g Brot allein angestellt. Bei Wasser erfolgte eine Erhöhung, 
bei Brot allein — eine Senkung des Blutdruckes. Die aus solchen bei ein 
und derselben Person gewonnenen Kurven berechnete mittlere Kurve 


stimmte genau mit derjenigen überein, welche bei derselben Person nach 


Einführung von Wasser und Brot zusammen (in denselben Mengen) er- 
halten wurde. 

Wie erklärt sich der Unterschied in der Blutdruckreaktion auf 
Nahrungsaufnahme bei Personen mit gesundem Gefäßsystem einerseits 
und bei denjenigen Kranken, bei welchen diese oder jene funktionellen 
oder anatomischen Veränderungen der Gefäße, mit Blutdrucksteigerung 
verbunden, vorhanden waren ? 

Hinsichtlich dieser Frage muß vor allem darauf hingewiesen werden, 
daß zwisehen unseren Resultaten und denjenigen der entsprechenden 
Beobachtungen von ©. Müller, Katsch und Ponsdorf über die Einwirkung 
des Schlafes auf den Blutdruck bei gesunden Personen und bei Hyper- 
tonikern eine vollkommene Übereinstimmung besteht. In unseren Re- 
sultaten haben wir eine neue genau festgestellte Tatsache einer gestei- 
gerten Labilität des Blutdrucks im hypertonischen Gefäßsystem. Zu+ 
nächst könnte man daran denken, daß diese ungewöhnlich starken 
Blutdruckschwankungen auf alle den Blutdruck beeinflussenden Ein- 
wirkungen sich rein mechanisch durch die verminderte Dehnbarkeit 
und herabgesetzte Contractilität der durch den erhöhten Innendruck 
stärker gespannten oder arteriosklerotisch starken Gefäße erklären 
ließen; denn dieselbe Verengerung oder Erweiterung eines Gefäßgebietes 
muß natürlich um so größere Druckschwankungen im ganzen Gefäß- 
system hervorrufen, je weniger dehnbar die Gefäßwände in den anderen 
(sebieten sind und je weniger vollkommen sie sich zusammenziehen. 
Ersteres — eine verminderte Dehnbarkeit — kann man ohne weiteres 
von den hypertonischen Gefäßwänden annehmen; letzteres — eine ver- 


minderte Contractilität — wohl kaum. Es widerspräche dies unserer 


ganzen auf Grund klinischer Beobachtungen gewonnenen Vorstellung 
von dem funktionellen Zustande der Gefäße bei Hypertonie, für welche 
eine erhöhte Contractilität viel wahrscheinlicher angenommen werden 
muß. Jedoch nur durch eine verminderte Contractilität könnte man die 
starken Blutdrucksenkungen, wie sie für die Hypertonie im Schlaf und 
nach der Nahrungsaufnahme charakteristisch sind, erklären. Oder man 
muß annehmen — und daß erscheint viel wahrscheinlicher —, daß das 
ganze vasomotorische System sich bei den Hypertonikern in einem Zu- 
stande der erhöhten Reaktionsbereitschaft befindet und alle entsprechen- 
den Einflüsse sowohl gefäßverengernde als auch gefäßerweiternde eine 














und Nahrungsaufnahme auf den Blutdruck, speziell bei Hypertonie. 231 


übernormale Reaktion hervorrufen. Darin liegt ja wohl das Charakte- 
ristische der Hypertonie. Wenn der Blutdruck dabei immer auf einem 
höheren Niveau eingestellt ist, so ist das die Folge der auch physiologisch 
größeren Stärke der Gefäßverengerer im Vergleich zu den Gefäß- 
erweiterern. Damit wird das Hauptproblem der Hypertonie — das 


Problem ihrer Pathogenese — in das Gebiet der vegetativ-nevösen und 
' innersekretorischen Erscheinungen verwiesen. 


Obgleich wir unsere Arbeit nicht für abgeschlossen ansehen können, 
scheint es uns immerhin möglich, auf Grund derselben folgendes fest- 
zustellen: 

1. Der Blutdruck zeigt unter dem Einfluß der Nahrungsaufnahme 
und der Verdauung folgende Schwankungen: a) eine anfängliche Er- 
höhung, die man durch einen Reflex von der Magenwand infolge ihrer 
Dehnung erklären kann; b) eine darauf folgende Senkung infolge der 
starken Erweiterung der Bauchgefäße während der Verdauung; c) eine 
spätere Erhöhung. 

2. Bei Personen mit gesundem Gefäßsystem und normalem Blut- 
druck sind diese Schwankungen ganz gering, bei Personen mit erhöhtem 
Blutdruck und diesen oder jenen arteriosklerotischen Gefäßveränderungen 


' sind diese Schwankungen sehr stark ausgeprägt. 


3. Je ausgesprochener die Erscheinungen der Hypertonie sind, um so 
bedeutender sind die Schwankungen des Blutdrucks in Abhängigkeit 


vom Verdauungsprozeß. 


4. Große Blutdruckschwankungen während der Verdauung sind als 
frühzeitiges Kennzeichen der Hypertonie anzusehen. 


Literatur. 
Lichtwitz, Zeitschr. f. ärztl. Fortbild. 1922, Nr. 20; 1923, Nr. 6. — Külbs, 


" Dtsch. med. Wochenschr. 1922, Nr. 22. — Federn, Münch. med. Wochenschr. 





1918, Nr. 2. — Rieder und Maximowitsch, Dtsch. Arch. f. klin. Med. 46. — Müller, 
Fr., Münch. med. Wochenschr. 1923, Nr. 1. — Karrenstein, Zeitschr. f. klin. Med. 
50. — Strauß, Therapie d. Gegenw. 1903. — Zadee, Zeitschr, f. klin. Med. %, 1881. — 
Bouloumie, Gaz. des höp. civ. et milit. 1902, Nr. 65. — Hensen, Dtsch. Arch. f. 
klin. Med. 6%. — Edgren, Zeitschr. f. physikal. u. diätet. Therapie 1902, Nr. 5. — 
Müller, E., Med. Klinik 1923, Nr. 17. — Fischer und Schayer, Dtsch. Arch. f. 
klin. Med. 98. — Brodzki, Dtsch. Arch. f. klin. Med. 93. — Loeb, Dtsch. Arch. 
f. klin. Med. 85. — Kylin, Zentralbl. f. inn. Med. 1923, Nr. 6 u. 7. — Katsch 
und Ponsdorf, Münch. med. Wochenschr. 1922, Nr. 50. — Loeper, Arch. des maladies 
du cour, des vaisseaux et du sang. 1912, Nr. 4. — Lang, Arch. d. Petersb. Kl. 
Inst. f. ärztl. Fortbild. 1922, Nr. 1. 


(Aus der Medizinischen Universitätsklinik zu Rostock [Direktor: Prof. Dr. Hans 


Curschmann).) 


Klinisches und Experimentelles über das intra- und 
extrakardiale Mühlengeräusch. 


Von 


Privatdozent Dr. Rudolf Stahl, und Dr. Werner Entzian. 


Oberarzt der Klinik. 
Mit 1 Textabbildung. 
(Eingegangen am 15. November 1923.) 


Das schon seit über 40 Jahren bekannte nach Brustverletzungen 
gelegentlich auftretende Mühlengeräusch des Herzens wurde besonders 
in den letzten Jahren mehrfach diskutiert. Dabei haben hauptsächlich 
die Arbeiten Gundermanns fördernd auf unsere Anschauungen über die 
Entstehung dieses Phänomens gewirkt. Hat er es doch durch eine breite 
Aufrollung der ganzen Frage, durch eine kritische Beleuchtung der 
bisher beschriebenen Fälle und Berücksichtigung des Tierexperiments 
verstanden, uns davon zu überzeugen, daß in den typischen Fällen dieses 
auf größere Entfernung vom Kranken wahrnehmbare, mit der Herz- 
aktion synchrone Geräusch im wesentlichen durch eine Luftansammlung 
im rechten Herzen zustande kommt, daß die sogenannten ‚extra- 
perikardialen“ Typen dieses Geräusches (Regniers) eigentlich kaum 
vorkommen, und daß die ‚unter abnormen Verhältnissen vom Herzen 
ausgelöste Succussio Hippocratis‘“ (Hörnike) in der Tat noch nicht mit 
Sicherheit festgestellt worden ist. Einzelne besonders geartete an unserer 
Klinik gemachte Beobachtungen veranlassen uns zu dieser kurzen 
Mitteilung. 

Sljähriger Arbeiter. Familienanamnese o. B. Früher immer gesund. Am 


22. Mai nachmittags 2 Uhr sollte Pat. eine Torfpresse verladen helfen im Gewichte 
von ungefähr 28—30 Zentnern. Dabei kippte die Presse um und stieß Pat. mit 


einer Ecke in die linke Brustseite. Angeblich wurde ihm schwarz vor Augen, keine’ 


Bewußtlosigkeit. Nach 7 Minuten konnte er die Presse weiter verladen, dabei 
Stiche in der Brust. Beim Umziehen, eine Stunde danach, bückte sich Pat. beim 
Händewaschen. Dabei empfand er plötzlich einen Stich in der linken Brustseite, 
als ob ein Messer ihm in die Brust schnitte. Gleichzeitig trat Atemnot ein. Zur 
Linderung der Schmerzen mußte Pat. sich auf die linke Seite legen. Er wurde unter 
großen Schmerzen nach Hause geleitet und mußte auch weiter stets auf der linken 
Seite liegen, da sonst heftige Schmerzen eintraten. Gegen 6 Uhr abends wurde seine 
Frau auf ein eigentümlich knackendes Geräusch aufmerksam, daß aus der Herz- 
gegend des Pat. herrührte und in der ganzen Stube zu hören war. Dabei Schmer zen 
in eb Herzgegend. 

Klinikaufnahme am 25. Mai. Befund: Mittelkräftig gebauter Mann in gutem 
Ernährungszustande, mit kräftiger Muskulatur. Brustkorb kräftig und symme- 














- R. Stahl und W. Entzian: Klinisches und Experimentelles usw. 233 


trisch gebaut. Das Zwerchfellphänomen ist rechts sehr deutlich, links nicht sehr 
deutlich sichtbar. Bei der Einatmung wird die linke Lunge etwas geschont. Lungen- 
grenzen vorne rechts 6. Rippe, 2 querfingerbreit verschieblich, hinten unten beider- 
seits 11. Brustwirbeldornfortsatz, gut verschieblich. Klopfschall überall regelrecht. 
Atemgeräusch vesikulär, keine Nebengeräusche. Am untern Rand der 4. Rippe 
in der vorderen Axillarlinie eine ziemlich druckempfindliche, deutlich infiltrierte 
Perioststelle. Rippen sonst völlig intakt; keine Infraktion festzustellen. In der 
Herzgegend ist der Brustkorb etwas stärker hervorgewölbt. Im 5. Interkostalraum 
in der Mamillarlinie links hört man in der Rückenlage bei der Atmung deutlich 
oberflächliche laut knackende Reibegeräusche. Herzgrenzen rechts: rechter Ster- 


' nalrand; oben: oberer Rand der 4. Rippe; links: in der Mamillarlinie. Spitzenstoß 


in Rückenlage nicht fühlbar. Herztöne leise, keine Geräusche. In linker Seitenlage 
hört man in handbreiter Entfernung synchron mit dem Herzschlag ein lautes kurzes 
Knacken, uls wenn ein gespannter Sehnenfaden angerissen würde. In Exspirations- 
stellung treten dazu noch einzelne rauhe Geräusche. Bei aufgelegter Hand spürt man 
deutlich etwas hebend den wenig nach links verlagerten Herzspitzenstoß und den 
Geräuschen entsprechende reibende Erschütterungen. Mit dem Hörrohr ist fest- 
zustellen, daß dieselben Geräusche synchron mit dem ersten Tone sind. Bei völliger 


 Ausatmung hört man gleichzeitig mit dem zweiten Tone leises Schaben. Bei der 


Einatmung werden die Geräusche leiser, die tastende Hand kann dann kein Reiben 
mehr fühlen. Puls kräftig und regelmäßig, von guter Füllung und Spannung. 
Arterienrohre etwas verdickt. Das Abdomen ist in Brustkorbhöhe, weich, nirgends 
druckempfindlich. Keine Resistenzen fühlbar. Die Temperatur war wenig über 
36 Grad, Pulszahl 72. Blutdruck 81 zu 133 ınm Hg. nach Riva-Rocci. WaR. nega- 
tiv. Nervenbefund o. B. 

Am 27. Mai kein Mühlengeräusch mehr wahrnehmbar. Pleuritisches Reiben 
in Rückenlage unterhalb der linken Mamillarlinie bedeutend geringer, nach wenigen 
Atemzügen vollständig verschwunden. In linker Seitenlage hörte man innerhalb 
der Systole ein dreifaches Knacken, das letzte fiel schon in den Beginn der Diastole. 
Bei Inspiration war das Knacken jedoch nicht hörbar. Am 28. war auch bei linker 
Seitenlage kein Knacken mehr festzustellen. Beim Liegen keine Beschwerden mehr, 


‚ nur beim Aufsitzen und Ausstrecken beider Arme noch Stiche in der Brust. Am 


31. waren die Beschwerden fast völlig verschwunden, das Klopfen war nicht mehr 
wahrnehmbar. Nur bei angestrengten Bewegungen, ferner bei vollständiger Aus- 
atmung noch geringe Schmerzen in der Herzgegend. Lungen und Herz ergaben 


perkutorisch und auskultatorisch normalen Befund. 


Am 1. Juli Befinden gut, Röntgenbefund: Lungen und Herz o. B. Oberhalb 
des linken Zwerchfells geringe Trübung. Bei der Entlassung am 5. Juli war der 
Allgemeinzustand gut. Pat. klagte nur noch beim Bücken und schwerer Arbeit 
zeitweise über geringe Stiche in der linken Brustseite. 

Herzgrenzen regelrecht, Töne rein, kein Knacken oder andere Geräusche mehr 
zu hören. Alle übrigen Organe ohne Befund. Bei späteren Untersuchungen klagte 


‘Pat. dauernd über Herzklopfen und Schwindelgefühl. Außer Tremor der Finger 


und starkem Schwitzen (nervös bedingt) kein pathologischer Befund mehr. 


Epikrise: Ein sonst gesunder Mann erhielt einen heftigen Schlag 
durch die Ecke einer schweren Torfpresse gegen die linke Brustwand. 
Er konnte zunächst, obgleich mit Stichen in der Brust, noch weiter 
arbeiten. Eine Stunde später empfand er beim Bücken zum Hände- 
waschen einen besonders heftigen Bruststich, er konntenur mit Mühen ach 
Hause geleitet werden. 3 Stunden später bemerkte seine Frau ein in der 


234 R. Stahl und W. Entzian: Klinisches und Experimentelles 


ud 


ganzen Stube wahrnehmbares Geräusch aus der Herzgegend des Kranken, 
das 4 Tage anhielt. Bei genauerer Untersuchung fanden sich später noch 
Reibegeräusche an der Herzspitze, die das laute Geräusch um ca. 2 Tage 
überdauerten. 

Daß wir es in unserm Falle mit dem Mühlengeräusch zu tun haben, 
kann keinem Zweifel unterliegen. Auch hier verdankt es einem Trauma 
seine Entstehung; doch meist handelte es sich in den bisher veröffent- 
lichten Fällen um schwere Brustquetschungen mit Rippenbrüchen, 
Blutergüssen, Hautemphysem, ferner um Brustschüsse (Regniers, 
Hörnike), oder um offenbare Gefäßverletzungen (Weil, Wagner, Struma- 
operation); es ist kein Zufall, daß die meisten Veröffentlichungen solcher 
Fälle von chirurgischer Seite ausgingen. Ferner war einmal die An- 
legung eines Pneumothoraxes (Albert- Bodenweiler), einmal eine Hämoptoe 
(Boye-Danmenfels) die Ursache. In 2 von Hans Curschmann beobachteten 
Fällen handelte es sich in einem ebenfalls um das Auftreten des 
Phänomens bei einer cavernösen Phthise des linken Oberlappens nach 
Hämoptos, beim anderen, einem 40 jährigen Herz- und Lungengesunden, 
um Entstehen des Mühlengeräusches nach einer heftigen körperlichen 
Anstrengung; der Entstehungsmechanismus des sehr laut gewesenen Ge- 
räusches blieb hier unklar. Sonst ist der einzige, der ebensowenig wie der 
oben dargelegte direkt erkennbare Symptome einer Rippen-, Lungen- 
oder Blutgefäßverletzung bot, der von Specht beschriebene; doch 
war auch bei ihm das Trauma ein schwereres als bei uns, der Kranke 
war längere Zeit besinnungslos. Unser Kranker machte noch eine Stunde 
nach der Verletzung schwere Arbeit, und erst danach beim Bücken zum 
Zwecke der Händereinigung trat die anzunehmende innere Verletzung 
vollständig ein, die zu dem Mühlengeräusch führte. 

Bei dem gänzlichen Fehlen von Zeichen eines Ergusses, einer Luft- 
ansammlung in Pleurahöhle oder Mediastinum spricht auch unser Fall 
gegen die auf Regniers zurückgehende Erklärung, daß ein vom Herzen 
bewegtes Luft-Flüssigkeitsgemisch in Mediastinum, Perikard oder 
Pleurahöhle die Ursache des Geräusches abgäbe. Auch sind die aus- 


kultatorischen Phänomene bei Pneumoperikard, wie u. a. Hans Cursch- 


mann in 3 Fällen feststellte, von denen des Mühlengeräusches verschieden, 
wie wir auch weiter unter sehen werden. Wir müssen vielmehr mit 


Gundermann annehmen, daß in den rechten Ventrikel gelangte Luft, 


durch den Herzschlag in der Systole gepeitscht, die eigenartigen Er- 
scheinungen auch in unserm Falle erzeugte. 


Um uns selbst ein Urteil zu bilden, haben wir mehrere, bereits von 


andern Autoren angestellte Tierversuche nachgeprüft. Einige seien 
wiedergegeben: | 
l. Injektion von 40 ccm eines Luft-Flüssigkeitsgemisches in die 


Pleurahöhle eines Hundes: es sind weder mit bloßem Ohr in der Ent- 


ze... 


über das intra- und extrakardiale Mühlengeräusch. 235 


fernung, noch mit: dem Stethoskop pathologische Geräusche wahr- 
nehmbar. 
2. 30ccm Luft-Flüssigkeitsgemisch ins Mediastinum eines Hundes: 
‚ dasselbe Ergebnis. 
' 3. 50 cem Luft-Flüssigkeit ins Mediastinum einer Katze: nach kurzer 
Zeit schwaches knisterndes Geräusch mit dem Stethoskop hörbar, das 
' beim Aufrichten des Tieres verschwand. Nach 10 Minuten Exitus. 
4. 20cem Luft-Flüssigkeit ins Perikard eines Hundes: keine Geräusche. 
5. 20 ccm Luft in die Vena jugularis eines Hundes. Nach kurzer 
‚ Zeit leises quatschendes Geräusch synchron der Herzaktion, in handbreiter 
‚ Entfernung vom Thorax hörbar. Nach weiterer Lufteinblasung von 20 com 
‚gleichartiges, erheblich deutlicheres, in \/,;, m Entfernung wahrnehmbares 
‚@eräusch, das nach 6 Minuten vollständig verschwand. Bald trat eine 
Parese beider Hinterbeine ein, die nach 6 Stunden behoben war. 
Daraus ergab sich auch für uns: Die bei Vorhandensein einer grö- 
Beren Luft-Flüssigkeitsmenge in der Umgebung. des Herzens einmal 
gelegentlich auftretenden leisen, eben mit dem Stethoskop hörbaren 
Geräusche (Versuch 3) können in keiner Weise in Vergleich gesetzt wer- 
den mit dem mit großer Sicherheit nach Belieben stets durch Luft- 
injektion in eine zum rechten Herzen führende Vene zu erzeugenden 
‚typischen Mühlengeräusch. Luftinjektionen ins linke Herz, die keine 
Geräusche machen sollen, jedoch durch Verstopfung der Coronararterien 
nach@undermann schnell zum Tode führen, wurden von uns nicht gemacht. 
_ Überdenken wir nun die Entstehung des Mühlengeräusches bei unserm 
Kranken, so kommen wir zu folgendem Ergebnis. Bei dem Stoß gegen die 
Brust muß eine zum rechten Herzen führende Vene verletzt worden sein. 
Verletzung und Luftzutritt zu einer zum rechten Herzen führenden 
_Intercostal- oder sonstigen größeren Vene ist bei der Art des Aufnahme- 
befundes kaum möglich. Man muß daher an eine intrapulmonale Vene 
denken, durch die Luft direkt aus der Lunge ins Herz abgesogen wurde. 
Da aber nach Gundermann außer den Pulmonal- auch die vorderen 
Bronchialvenen ins linke Herz münden, so hat wahrscheinlich der Krinke 
das Glück gehabt, daß er eine Verletzung einer hinteren Bronchialvene 
erhielt, die als einzige intrapulmonale Venen in den rechten Vorhof 
münden. Nach Albert liegen die Dinge noch etwas komplizierter inso- 
fern, als auch von den Vv. bronchiales anteriores durch kleinere Seiten- 
Zweige eine gewisse Blutmenge ins rechte Herz, von den Vv. bronchiales 
 posteriores etwas Blut auch ins linke Herz gelangt. Die beim kranken 
Menschen in Pleuraverwachsungen manchmal auftretenden zahlreichen 
' Gefäßverbindungen zwischen Pulmonal- und Bronchialvenen haben für 
unsern Fall keine Bedeutung. Jedoch können sie, wenn sie ausgebildet 
‚sind, schon beim Eindringen einer Nadel auch ohne Luftzuführung von 
außen (Anlegung eines Pneumothoraxes) zu einer Verbindung von Vene 











236 R. Stahl und W. Entzian: Klinisches und Experimentelles 


mit lufthaltigem Teil der Lunge und damit zur Luftembolie ins rechte 
Herz (Mühlengeräusch), oder ins linke Herz (plötzlicher Tod, den man 
vielfach als ‚‚Pleuraschock‘ auffaßte) führen, wie Albert zeigte. 

Eine letzte noch erhalten gebliebene Scheidewand zwischen Lungen- 
alveole und Vene, mit der der Patient noch eine Stunde arbeitete, muß 
dann bei Aufblähung der Lunge beim Bücken eingerissen sein, so daß 
das Ansaugen der Luft stattfinden konnte. Bei jedem Atemzuge wurden 
nun wohl ständig kleine Mengen von Luft in den Ventrikel eingepumpt. 
Als ca. 3 Stunden nach Beginn die Luftmenge groß genug war, wurde 
das Geräusch hörbar, das dann durch den ständigen Nachschub von 
Luft 4 Tage lang bestehen blieb. Zu dieser Annahme muß man gelangen 
bei Berücksichtigung der Tatsache, daß im Experiment wenige Minuten 
nach Sistieren der Luftzufuhr das Geräusch verschwunden war, wohl 
da die Luft aus dem Herzen in die Lunge ausgeworfen und dort resor- 
biert worden ist. Gundermann meint, daß bei fortgesetzier Aspiration ' 
von Luft aus abgeschlossenem Raum, bei sogenannter gedeckter Luft- 
embolie, der atmosphärische Druck fehlt und daher, zumal bei der Enge 
der betroffenen Venen, stets relativ kleine Luftmengen aspiriert werden, 
die das Geräusch tagelang unterhalten. 

Streng von dem Mühlengeräusch zu trennen sind in unserm 
obigen Fall die wahrscheinlich traumatischen pleuroperikardialen 
Reibegeräusche, die auch an der Herzspitze fühlbar waren und das 
laute Mühlengeräusch noch um 2 Tage überdauerten. 

In allerletzter Zeit nun hatte der eine von uns (Stahl) noch Gelegen- 
heit zu folgender in diesem Zusammenhang besonders interessierenden 
Beobachtung: 


Eine 27 jährige, seit November 1922 an den Folgen einer Grippe leidende Frau 
wurde uns zur Untersuchung und Behandlung am 6. IX. 1923 eingewiesen. Die 
kleine Frau in dürftigem Ernährungszustand litt an Heiserkeit, vorübergehenden 
Ödemen mit Herzbeschwerden. Es wurde eine ausgedehnte Kehlkopftuberkulose 
festgestellt, bei geringgradigem linksseitigem Lungenspitzenbefund. Die Perkussion 
der Herzfigur ergab eine stark nach rechts und links erweiterte Herzfigur etwa 
nach Art des Münchener Bierherzens, volle Bestätigung durch die Röntgen- 
aufnahme. Bei Durchleuchtung Pulsaticn kaum sichtbar, Spitzenstoß unfühlbar, . | 
ganz leises Schaben synchron mit der Herzaktion in der Gegend der Herzspitze 
hörbar, gering auch über der Aorta. Pulsus irregularis, parvus, rechts besser 
als links palpabel. In dem äußerst spärlichen Sputum Tuberkelbazillen +-. 

10. IX. Punktion des Herzbeutels links 4. Intercostalraum außerhalb der 
Mammillarlinie aber innerhalb der Dämpfungsgrenze, Entleerung von 860 ccm 
trübserösen Exsudates mit Leukocyten und Lymphocyten etwa zu gleichen Teilen, 
7% Eiweiß, Tbe. —. Mit Pneumothoraxapparat Einblasung von 120 ccm Luft. 
Noch während der Lufteinblasung wurde deutlich ein klatschendes Geräusch aus der 
Herzgegend hörbar, das noch in 2 m Entfernung vom Lager deutlich wahrnehmbar war 
und bei Aufsetzen an Stärke nachließ. Die sofort vorgenommene Thoraxdurch- 
leuchtung ließ das klare Bild eines Seropneumoperikards erkennen, in dem die 
verbliebene Flüssigkeitsmenge durch das stark pulsierende Herz gepeitscht wurde, 





" Borsäurelösung und Einfüllung von 30 


| 











‘ 


über das intra- und extrakardiale Mühlengeräusch. 204 


und auch im Stehen wurde das Geräusch zeitweise schwach hörbar. Schon vom 3. 
Tage ab konnte es nur noch mit dem Stethoskop wahrgenommen werden. 

25. IX. Das Perikardialexsudat hat sich vollständig wieder angesammelt, 
kaum noch Spuren von Luft röntgenologisch sichtbar. Wiederholung der Punktion. 
Entleerung von 800 cem dünnflüssig eitrigen Exsudates in dem Tbe. nachweisbar 
waren. Da uns bei der Behandlung tuberkulöser Empyeme die Nachspülung mit 
300 ccm Pregl’scher Lösung so gute Dienste 
geleistet!), wurde sofort durch den Troikar 7 mal mit im ganzen 2100 cem Bor- 
säurelösung durchgespült ?)und 30 ccm Preglscher Jodlösung eingefüllt, sowie 200 ccm 





Luft. Diesmal wurde das Mühlengeräusch nicht wieder so deutlich hörbar. 


A 


Br‘ ve 
® 3% 





Abb. 1. 


Was uns an diesem Fall der an sich sehr seltenen Pericarditis exsu- 
dativa tuberculosa hier besonders interessiert ist, daß die von Hörnike 
als noch unsicher angenommene vom Herzen im Perikardialraum aus- 
gelöste Succussio Hippocratıs hier tatsächlich zum ersten Male einwandfrei 
beobachtet worden ist. In Fällen grober Thoraxverletzungen mit kompli- 
zierten unübersichtlichen Verhältnissen wird man nie mit Sicherheit 
ausschließen können, daß ein eventuelles Mühlengeräusch durch Luft- 
eintritt in den rechten Ventrikel bedingt ist, wie es experimentell stets 
leicht und sicher darstellbar ist. Bei uns waren zufällig bei einem Men- 
schen Bedingungen gegeben, wie sie sonst nur im Tierexperiment zu er- 
langen sind, zumal bei dem relativ gering gestörten Allgemeinbefinden 


1) Stahl und Bahn, Münch. med. Wochenschr. 1923, Nr. 41. 

2) Vorsicht bei unkontrolliertem Einsaugenlassen von Luft, da evtl. bei folgen- 
dem Einlassen der Spülflüssigkeit leicht Herzbeuteltamponade und Tod er- 
folgen kann! 


238 R. Stahl und W. Entzian: Klinisches und experimentelles usw. 


der Kranken die Lufteinblasung und Beobachtung in aller Ruhe ausge- 
führt werden konnte. Damit wurde der Beweis geliefert, daß auch ein 
perikardiales Mühlengeräusch möglich vst. Daß hier Luft in eine Vene 
eingedrungen sein kann, ist so gut wie unmöglich. Dazu unterschied 
sich dieses perikardiale von unsern intrakardialen Mühlengeräuschen noch 
durch den Klang. Letztere ähnelten mehr dem kurz abgerissenen Ton 
einer gespannten Seite, ersteres war ein mehr oberflächlich entstehendes, 
deutlich als kurzes Plätschern erkennbares Geräusch. 

Zur Entstehung des perikardialen Mühlengeräusches müssen offen- 
bar bestimmte Bedingungen bezüglich des Mengenverhältnisses von 
Flüssigkeit und Luft, vielleicht auch bezüglich der Wandspannung des 
Perikards obwalten, denn bei unsern Tierversuchen hatten wir durch 
Flüssigkeits-Luftinjektion ins Perikard kein in einiger Entfernung 
vom Körper hörbares Geräusch beobachtet, und auch bei unserer Kran- 
ken trat es bei der zweiten Punktion und Luftfüllung nicht wieder so 
deutlich und einwandfrei auf. 


Zusammenfassung: 


Es wird ein Fall von Mühlengeräusch beschrieben, das durch ein 
Trauma mit außergewöhnlich geringgradiger Verletzung zustande kam, 
mit der Patient noch eine Stunde arbeitsfähig war. Hier, wie wohl in den 
meisten typischen Fällen von Mühlengeräusch, ist die Entstehung 
durch Eintritt von Luft in den rechten Ventrikel zu denken. Wahr- 
scheinlich handelte es sich um Verletzung einer hinteren Bronchial- 
vene, durch die tagelang während der Dauer des Geräusches Luft aus der 
Lunge ins rechte Herz gelangte. Auch im Tierexperiment konnten wir 
ein Mühlengeräusch am Herzen nur durch Luftembolie in den rechten 
Ventrikel erzeugen, nicht aber durch pleurale, mediastinale oder peri- 
kardiale Lufteinblasung. Dagegen beweist ein Fall von Pericarditis 
exsudativa tuberculosa, bei dem wir punktierten und Luft einließen, 
daß auch perikardiale, in größerer Entfernung vom Lager des Kranken 
hörbare Mühlengeräusche auftreten können, die in Klang gewisse Ähn- 
lichkeit mit den intrakardialen haben, jedoch vielleicht nicht ganz so 


kurz abgerissen klingen als die intrakardialen. Zu ihrer Entstehung’ 


bedarf es offenbar besonderer Gesamtmengen- und Spannungsver- 
hältnisse von Flüssigkeit und Luft. 


Literatur. 


Gundermann, Mitt. a. d. Grenzgeb. d. Med. u. Chirurg. 1921, S. 78 und 261. — 
Hörnike, Münch. med. Wochenschr. 1922, Nr. 22. — Specht, Münch. med. Wochen- 
schrift 1920, Nr. 39. — Wagner, Münch. med. Wochenschr. 1922, Nr. 44. — Weil, 
Zentralbl. f. Chirurg. 1919, Nr. 45. — Albert, A., Beitr. z. Klin. d. Tuberkul. 52, 
H. 3/4, S. 284—296. 1922; daselbst, sowie bei Gundermann ausführlichere 
Literaturangaben. 





"(Aus der 1II. Medizinischen Klinik in Budapest [Direktor. Prof. Baron 4. von 
Koränyt).) 
Die Hyperaeidität als Störung des Koehsalzstoffwechsels. 


Von 
Dozent Dr. B. Molnär und Dr. L. (säki. 





(Eingegangen am 12. November 1923.) 


| Der Umstand, daß das mit der Nahrung eingeführte Kochsalz: 
im Gegensatze zu den anderen Nährstoffen den Organismus unverändert 
verläßt, erweckt den Anschein, daß es im intermediären Stoffwechsel 
überhaupt nicht teilnimmt. Daß wenigstens ein Teil des eingeführten 
Kochsalzes im Organismus doch chemische Veränderungen erleidet, 
beweist am besten die Erzeugung der Magen-Salzsäure. Die Salzsäure 
muß als intermediäres Produkt des Kochsalzstoffwechsels betrachtet 
werden, ganz gleichgültig, ob wir auf den Standpunkt stehen, daß das. 
Chlor der Magen-Salzsäure vom Blutchlor, oder unmittelbar von Chlor 
der Nahrung entsteht [Koeppet)]. Außer diesem chemischen Prozesse 
weisen wir noch auf die physikalisch-chemische Bedeutung des Koch- 
salzes hin (Adsorption, Osmose, Resistenz). 





| Gewisse Zusammenhänge zwischen Magen-HCl-Sekretion und Koclısalz- 
ausscheidung sind schon längst bekannt, so wissen wir, daß während der Zeit: der 
Salzsäureproduktion die Kochsalzausscheidung im Urin abnimmt. 

Liehtwitz?) wollte dieses Verhalten der Kochsalzausscheidung währerd der 

Verdauung zur indirekten Bestimmung der Magensekretion benützen, um den 

Gebrauch des Magenschlauches zu vermeiden. Lichtwitz hat nämlich bei Anaciden 

den Chlorgehalt des stündlich entleerten Urins bestimmt und gefunden, daß die 
einzelnen Werte gleich sind. Hingegen konnte er in jenen Fällen, bei welchen die 
Salzsäuresekretion nicht fehlte, beim Beginn der Verdauung die Verminderung 
und später die Steigerung der Chlorausscheidung beobachten. 

Es ist ganz natürlich, daß in jenen Fällen, in welchen viel Salzsäure produziert 
wird (Hyperacidität), die während der Verdauung stattfindende Salzretention 
die höchsten Grade erreicht, wie dies auch die Untersuchungen von Jaworski und 
Gluzinski zeigen?). | 

Die erwähnten Untersuchungen beziehen sich auf den Zusammenhang, welcher 
zwischen der Salzsäuresekretion und der, während der Verdauung auftretenden 
Kochsalzretention besteht. Außerdem besteht ein gewisser Zusammenhang zwi- 
schen dem in den Magen eingeführten Kochsalz und der Salzsäuresekretion. Nach 
den Untersuchungen von. Pawlow, Bickel und ihren Schulen wird die Magen- 
sekretion durch kleine Dosen von Kochsalz gesteigert, hingegen durch große Dosen 
vermindert. Auf diesen Umstand hat übrigens schon früher Lereches?) hingewiesen, 
als er seine Beobachtungen, die er an einem Pat. mit Magenfistel gewonnen hat,. 





240 B. Molnär und L. Osäki: 


mitteilte. Zu ähnlichen Resultaten ist im Jahre 1888 Reichmann?) gekommen, 
indem er fand, daß nach Verabreichung von 200 ccm einer 1—-10 proz. Na 
Lösung per os die Salzsäuresekretion sich verminderte. 

Schüle®) (im Jahre 1896) fand, daß mittlere Dosen (5 g) von Kochsalz eine 
indifferente Wirkung haben, hingegen die Dosen von 10—16g die Salzsäure- 
sekretion stark vermindern. Diese Wirkung wird teilweise durch die hervor- 
gerufene Transsudation und teilweise dadurch erklärt, daß das Salz die Parenchym- 
zellen in ihrer Funktion direkt lähmt. Wenn das Salz nicht per os, sondern intra- 
venös dem Organismus zugeführt wird, so ist die Wirkung nach den Untersuchungen 
von Braun, Grützner und Boas’) von der Menge des Salzes unabhängig. In diesen 
Fällen kommt nämlich das Salz in stärkere Konzentration mit den Magenzellen 
nicht in nähere Berührung. 

Ein anderer Teil der Untersuchungen, welche sich mit den Beziehungen 
zwischen Kochsalz und Magen-Salzsäuresekretion beschäftigten, bezieht sich auf 
dem Zusammenhang zwischen Blutchlor und Sekretion. Die diesbezüglichen 
Angaben der Literatur sind nicht einheitlich®). Unsere eigenen Untersuchungen, 
die sich darauf bezogen, ob bei Hyperaciden die Verteilung des Blutchlors zwischen 
Zellen und Plasma nicht ein vom Normalen abweichendes Verhalten zeigt, ergaben, 
daß bei Hyperaciden die Chlorwerte der Blutkörperchen und Serums niedriger 
sind, als bei Normalen (im Serum 0,50 bis 0,54%, im Blutkörperchen 0,32%, NaCl), 
hingegen sind die Werte bei Anaciden etwas höher, als bei Normalen (im Serum 
0,59 bis 0,60%, im Blutkörperchen 0,38 bis 0,40% NaCl). Im allgemeinen müssen 
wir bemerken, daß man bei der Bewertung der Befunde sehr vorsichtig sein muß 
und nur solche Wertverschiebungen in Betracht nehmen darf, welche die Grenzen 
der physiologischen Schwankungen und methodischen Fehlerquellen über- 
schreiten. 

Jene Tierversuche?), welche nach usque ad finem divrolzornn ne Chlorent- 
ziehung eine hochgradige Verminderung des Blutchlors festgestellt haben, können | 
natürlich auf die menschliche Pathologie und, Klinik nicht übertragen werden. 

Bilina!®), dessen russische Arbeit uns nur aus einem kurzen Referat bekannt 
ist, hat bei Hyperaciden eine Verzögerung der Kochsalzausscheidung beobachtet. 
Bilina führt dieses Verhalten der Hyperaciden auf eine Insuffizienz der Niere in 
der Kochsalzausscheidung zurück. | 


Die erwähnten Untersuchungen zeigen, daß bei Hyperaciden eine 
Herabsetzung der Chlorausscheidung vorzukommen pflegt. Uns hatten 
zuerst die Fragen interessiert, wie sich das Kochsalzausscheidungs- 
vermögen der Patienten bei verschiedenen Magenchemismus gestaltet, 
welche die Bedingungen des Auftretens der etwaigen Störung in.der 
Kochsalzausscheidung, welche die klinischen Beziehungen dieser Störung 
besonders vom Standpunkte der Diagnostik und Therapie sind. 


Methodik. In unseren Untersuchungen gingen wir derart vor, daß wir uns 
durch mehrmaliges Probefrühstück nach Boas-Ewald über die Magenaciditäts- 
verhältnisse orientierten. Bei der Bestimmung der freien Salzsäure haben wir als 
Indicator das Töpfersche Reagens bei der Gesamtacidität das Phenolphthalein 
benützt. Auf Grund der Probefrühstücksuntersuchungen haben wir zu den Hyper- 
aciden jene Fälle gerechnet, deren Gesamtacidität wenigstens 60 erreichte (die 
verbrauchten Kubikzentimeter ”/;, NaOH auf 100 ccm Mageninhalt berechnet). 
Wir haben unsere Pat. durch einige Tage bei kochsalzarmer Diät (täglich 3—4g 
Kochsalz) gehalten, bis bei ihnen das Kochsalzgleichgewicht eintrat, was gewöhn- 
lich in 3—4 Tagen geschah. Wir wollten uns noch überzeugen, ob das höhere 





Die Hyperacidität als Störung des Kochsalzstoffwechsels. 241 
| 
Salzgleichgewicht keinen Einfluß auf den Gang der Chlorausscheidung habe; wir 
gaben deshalb in einzelnen Fällen während der Untersuchungsperiode noch separat 
eine abgewogene Menge (3—8 g) von Kochsalz. Die Salzgleichgewichtswerte sind 
übrigens in den Tabellen aufgezeichnet; wir bemerken aber schon jetzt, daß höhere 
‚Salzgleichgewichte auf die Untersuchungsergebnisse ohne Einfluß waren. Nachdem 
die Pat. in Salzgleichgewicht kamen, erhielten sie in der Früh nüchtern 10 g Koch- 
‚salz in Oblaten. Natürlich bekam der Pat. an diesem und an den folgenden Unter- 
|suchungstagen die bisherige kochsalzarme Diät. Der Verbrauch der Flüssigkeits- 
‚menge war den Pat. ihrem Durstgefühl gemäß freigestellt, denn sowohl unsere 
‚eigenen Untersuchungen, wie die Angaben der Literatur!!) zeigen, daß die Menge 
‚der eingeführten Flüssigkeit auf die Menge des ausgeschiedenen Kochsalzes keinen 
‚wesentlichen Einfluß ausübt. Der 24stündige Urin wurde von 8 Uhr früh bis zum 
|anderen Tag 8 Uhr morgens gesammelt. 

| Die Bestimmung des Kochsalzes wurde nach der Methode von Koranyi"?) 
ausgeführt, welche von allen übrigen Methoden die einfachste, dabei die exakteste 
‘ist und deren Ergebnisse auch durch die Gegenwart von Eiweiß, wie z. B. im Blut- 
serum, nicht beeinflußt werden. 

| Zu 5cem Harn, welcher auch eiweißhaltig sein kann, geben wir in einem 200 ccm 
‚ Erlenmeyer-Kolben 5 ccm konzentrierte Salpetersäure und 15 ccm "/,, Arg. nitric. 
‚ Unter vorsichtigem Aufkochen geben wir krystallweise Kaliumhypermanganat 
‚dazu, solange |der AgCl-Niederschlag gut ausfällt, schneeweiß und die oberhalb 
befindliche Flüssigkeit wasserklar wurde. Nachher titrieren wir das nicht gebun- 
‘dene AgNO, mit (HN),SCN nach Volhard zurück, als Indicator Ferriammonsulfat 
‚benützend. Die Berechnung geschieht nach der Formel: NaC1% = die ver- 
brauchten AgNO, ccm x 0,00585 x 20. 





f 
‚Bei der Mitteilung unserer eigenen Untersuchungen gehen wir nach 
‚der Reihenfolge der einzelnen Fragen vor. 

1. Frage. Zeigt sich überhaupt und wenn ja, inwiefern ein Unterschied 
in der Ausscheidung des Zusatzes von 10 g Kochsalz bei den Magenkranken 
‚verschiedener Acidität? 

Wir wählten natürlich zu den Untersuchungen nur solche Patienten, 
bei welchen jene Faktoren (Herz, Nieren, Thyreoidea, usw. Erkran- 
| kungen) fehlten, die schon allein die Kochsalzausscheidung beeinflussen 
‚ könnten. 

Wir haben unsere Untersuchungsergebnisse in der Tab. I zusammen- 
gefaßt, und zwar in der Reihenfolge der zunehmenden Acidität.. 


| Wir mußten wegen Platzmangel von der Mitteilung unserer ausführlichen 
' Tabellen, welche den vollen Gang der Untersuchungen, alle Daten und die mehreren 
tausend Chlorbestimmungen enthalten, leider absehen und waren gezwungen, 
unsere Tabellen so zusammenzustellen, daß sie in leichter Übersicht nur die End- 
‚ resultate unserer Untersuchungen enthalten. 


| Aus der Tab. I ist die auffallende Tatsache festzustellen, daß die 
 Kochsalzausscheidung der Hwyperaciden, gegenüber den Nicht-Hyper- 
 aciden in jedem Falle eine ausgesprochene Verzögerung erleidet. Indem 
nämlich die Nicht-Hyperaciden (Norm-, Hyp- und Anaciden) das ein- 
geführte 10 g Kochsalz binnen 24 Stunden ausschieden, und sogar 


’ 
l 


Fälle waren, bei welchen die ausgeschiedene Kochsalzmenge viel größer 
Z. f. klin. Medizin. Bd. 100. | 16 


242 B. Molnär und L. Üsäki: 












































Tabelle I. 
RR Die Anz. d.|,___ 
N Name Klinische < 5: Gleich. er, drZeit aus | Bemerkungen 
Diagnose & © gewicht 10 8 Na. Cı. geschied. 
SS |m | a8 Inotw. waren] NaCl ing 
7 |Fr. J. T.| Anaemia perniciosa | 3| 015 a 11 
8 |'Fr. P. A. | Oysta pancreatica 44.0163 1 18 
20 ,L.Ö. _ Nephrolithiasis 41.015 | Trial 
34 |Fr. H. B.| Asthenia 2214 <] 11!/, 
56 |Gy. M. |Ulcus duodeni 28| 8/12 1 10 
14 \Fr. L. J. |Careinoma ventr. 281.103 San 1er 
15 | Fr. H. J.| Asthenia DONRLITND 12275 
12 |Fr. B.M.|Periostitis luetica | 34| 18| 7 al rm 
2 |IMK. Oxyuriasis 35| 19| 61), 1 10 
97 \A.G.  \Catarrh..apic. ı45| 95|° 4), 1 10 
3 Hyperaciditas 60146 6 >» 81/, 
32 |K.J. _ |Hyperaciditas 167151| 5 Al 
| + Hyperaciditas Uleus | 
ze RE En a 69 a A sr 2 
13 Aa Hyperaciditas 7075873 3 10 
72 |F.L.T. Hyperaciditas 7153| 4 a le 
DI rer Hyperaciditas "714.50, Am: >» H 
25 aSz, Hyperaciditas Bear None! ei) 8 
4 |B.S. 'Hyperaciditas 7173| 64| 31), 3 10 
26. |.J. Os. Hyperaciditas 75| 59| 5i/, 3 10 
13 | Jan Hyperaciditas 76\ 57 31/5 2 410 
| | | | mit 5 Liter Wa 
46 IJ.H ' Hyperaciditas SIT RS 7 >3 5 Urin Q=4200 
| Gewichtszunal 
| O,Tke. 
ss |KD. na Ulecus 68 3 | = 8 9 
77 De ee ue Elnsle a, AS 4 
duodeni er) 
99 |J. H. °-, | Hyperaciditas 881 78] 67.109 8 
33a |J.E.: .Hyperaciditas 941.841 41.1... >3 2 | 
33b J.E.  Hiyperaciditas 94184) 4 | ee 3 nach einer Woche 
6aıJ.S.  Hyperaciditas 105 1.63 | 44/, | 3 10 
6b \J.S. Hyperaciditas 1051 63| 41, | 3 10 

















nach zwei Woche) 


als die eingeführte Menge war (wahrscheinlich die diuretische Wirkung 

des Salzes), konnten die Hyperaciden 10 g Kochsalz binnen 24 Stunden 
in keinem einzigen Falle zur Ausscheidung bringen, ja sogar trat die 
volle Ausscheidung in den meisten Fällen auch nach 3 Tagen nicht ein. j 
Das verschiedene Verhalten der beiden wird durch die zwei letzten 
Kolumnen unserer Tabelle illustriert. eı 





Die Hyperacidität als Störung des Kochsalzstoffwechsels. 243 


Aus diesen Untersuchungen folgt, daß bei Hyperaciden eine Störung 
des Kochsalzstoffwechsels besteht, der zufolge die Kochsälzausscheidung 
eine wesentliche Verzögerung zeigt. 

Wir haben in den Tabellen außer den Sekretionsverhältnissen auch 
die etwaige klinische Diagnose angegeben. 

Bekanntlich kann die Hyperacidität oft in der Form einer selbstän- 
_ digen Erkrankung auftreten, oder sie ist nur ein Begleitsymptom ver- 
 schiedener anderweitiger Erkrankungen (Uleus, Cholelithiasis, appen- 
dieitis, Obstipation, verschiedene Nervenleiden usw.). Nach unserer 
Erfahrung verhalten sie sich bei der Gruppe der Hyperacidität aus dem 
Gesichtspunkt der Salzausscheidung gleich. 

Im Anschluß an unsere Untersuchungen wollten wir auch die Frage 
entscheiden, ob die Kochsalzausscheidung der Hyperaciden durch die 
Menge der eingeführten Flüssigkeit beeinflußt wird. Unsere Unter- 
suchung ergab, daß die Menge der eingeführten Flüssigkeit auf die 
Kochsalzausscheidung ohne Einfluß ist. 





So z. B. in unserem Falle Nr. 46 haben wir am Tage der Salzzufuhr dem 
Pat. 51 Wasser trinken lassen, trotzdem war die Menge des 24stündigen Urins 
4200 ccm, der Pat. hat am 1. Tag nicht einmal die Hälfte (5 g Kochsalz) aus- 
geschieden und das Körpergewicht nahm trotz der großen Diurese um 700 g 
noch zu. 


Nachdem wir festgestellt haben, daß die Hyperaciden gegenüber 
den Nicht-Hyperaciden in der Kochsalzausscheidung ein so entschie- 
denes und konstantes Verhalten zeigten, hielten wir es für äußerst 
interessant zu ermitteln, wie sich jene eigenartigen Fälle benehmen, 
bei welchen trotz hyperaciden Beschwerden die Magenfunktionsprüfung 
nicht nur keine Hyperacidität, sondern im Gegenteil sehr oft Hyper- 
acidität, ja sogar auch Anacidität findet. | 


Talma'‘?) war der erste, der bereits im Jahre 1884 zuerst die Aufmerksamkeit 
- darauf lenkte, daß es Pat. gibt, die typische hyperacide Beschwerden haben, ohne 
daß die funktionelle Untersuchung hyperacide Werte ergibt. Talma erklärt dies 
damit, daß die Magenschleimhaut dieser Fälle schon der normalen oder hyperaciden 
Mageninhalt gegenüber hyperästhetisch ist. Kaufmann!) brachte die Hyper- 
ästhesie des Magens mit dem Fehlen des die Magenwand bedeckenden Schleimes 
in Zusammenhang. Bereits Talma hat darauf aufmerksam gemacht, daß .der- 
‚artige Beschwerden trotz der subaciden Werte auf Alkalien prompt verschwinden. 
Sirauss!°) beschäftigte sich unter dem Namen: Hyperaciditas larvata mit diesen 
Fällen. Später wurden immer mehr derartige Beobachtungen [.Boas!%), Schüler!‘), 
Verhaegen '®), Pick!?), Einhorn ?°), Leo?! )] veröffentlicht. Seitdem wir diesbezüglich 
die Pat. mit Aufmerksamkeit verfolgen, können wir uns der Auffassung von 
‚Schüler anschließen, ‚daß derartige Fälle ziemlich häufig vorkommen. ', 

Ein Teil der Untersucher, so besonders Boas, rechnet diese Fälle zu den Hyper- 
‚aciden, nachdem er nur jenen Umstand für wichtig hält, ob hyperacide Beschwer- 
den bestehen, oder nicht, und die Diagnose nicht von der Höhe. des gefundenen 
‚Hyperaciditätsgrades abhängig hält. Ein anderer Teil der Untersücher, so Tabora 23) 
und neuerdings besonders Kuttner®) vertritt den Standpunkt, daß diese Fälle 


16* 


244 B. Molnär und L. Csäki: 


nicht zu den Hyperaciden gehören, nachdem in diese Gruppe nur solche Fälle 
gehören können, bei welchen die funktionelle Untersuchung tatsächlich hyperacide 
Werte aufzeigt. Aus dieser Divergenz der Meinungen ergibt sich unsere 2. Frage. 


2. Frage. Wie verhält sich die Kochsalzausscheidung bei jenen Pa- 


tienten mit hyperaciden Beschwerden, bei denen die funktionelle Magen- 


untersuchung Normacide oder noch niedrigere Werte aufweist ? 

Zur Untersuchung dieser Frage haben wir solche Patienten gewählt, 
bei welchen die hyperaciden Beschwerden im Sodbrennen, saurem 
Aufstoßen bestanden, und deren Beschwerden auf Nahrungsaufnahme 
oder Alkalien aufhörten und das Probefrühstück keine Hyperacidität, 
ja sogar Salzsäuremangel ergab. In diese Gruppe nahmen wir keine 
Patienten auf, deren scheinbare hyperacide Beschwerden durch Milch- 
säuregärung verursacht waren. 
































Tabelle II. 
Ss | oO | Nacı er ‘ “ Während 
Nr. Name Klinische « 5 Gleich- Ausscheid.r. d.Zeit aus- Bemerkungen 
Diagnose ö "2 gewicht 10 g NaCl geschied. 
o 5 | in & \notw. waren) NaCl ing 2 
San Pa Rz Dr Catarrh. apic. 5.0 126 > 81/, 
Bla JH. Catarrh. ap. 151 WI ART 5 
5lb | J. A. Catarrh. ap. 15 200.4 ee 9 nach 4 Tagen 
| wiederholt 
5lc || J. A. Catarrh. ap. 15120174 1 11 nach 2 wöchiger 
| Thyreoid.-Behandl 
233 | Fr. 8. F. | Asthenia 2351|12| 2 =. 9 
31 Gy. Cz. |Gastritis chron. |32 119 | 3 3 10 
37 \ Fr. E.B. | Tabes dors. 38 |12| 4 2 10 
3D R..J: Catarrh. ap. 44 !18| 4 2 10 
43 G.M. Tabes dors. Ay. BANED 2 6 
48 || J.D. „ \Catarrh. ap. 501191 7 2 10 einige Tage Thyı 
| oid. genommen 
EIN). T Herpes zoster |53 |29| 4"); 2 10 




















Wie wir sehen, zeigt die Kochsalzausscheidung dieser Patienten eine 
ebensolche Verzögerung, wie bei den. hyperaciden Fällen der Tab. 1. Das 
heißt, daß 10 g Kochsalz in keinem Falle binnen 24 Stunden ausge- 
schieden werden, sondern es zeigte sich eine Verzögerung von 2—3 Tagen, 
und die vollständige Ausscheidung trat in den meisten Fällen auch in 
3 Tagen nicht ein. 

Wir halten die Feststellung dieser Tatsache für besonders wichtig. 

Vor allem liefern diese Untersuchungen zum erstenmal eine objektive 


Grundlage zur Beurteilung der Pathologie dieses eigenartigen Sym- 


ptomenkomplexes. Aus unseren Untersuchungen ist eben ersichtlich ge- 
worden, daß diese Hyp- und Anacide-Patienten mit hyperaciden Be- 


— nn 





Die Hyperacidität als Störung des Kochsalzstoffwechsels. 245 


schwerden und solche mit nach dem Probefrühstück nachweisbare 


Hyperacidität ganz dieselbe Störung der Kochsalzausscheidung zeigen. 
Diese Feststellung hat nicht nur theoretische Bedeutung, sondern 
zwingt zur Annahme, daß diesen Fällen mit den Hyperaciden nicht nur 
die Beschwerden und ihre Beeinflußbarkeit durch Alkalien gemein sind. 
Diese Untersuchungen zeigen auch, daß bei der Bestimmung und 


Deutung des klinischen Begriffes der Hyperacidität nicht die Aciditäts- 


grade des Probefrühstückes maßgebend sind, sondern ob der Patient 
typische hyperacide Beschwerden hat oder nicht. Kuttner gegenüber, 
der die Diagnose der Hyperacidität nur in dem Falle aufstellt, wenn 
die funktionelle Untersuchung hyperacide Werte aufweist, liefern 
unsere Untersuchungen zur Auffassung von Boas neue und wichtige 
Beweise, nach welchen die Zusammengehörigkeit der Fälle durch die 
Beschwerden und nicht durch die gefundenen Titrationswerte ent- 


schieden wird. 


Daß übrigens nicht die Titrationswerte maßgebend sind, zeigt anderer- 
seits auch die Erfahrung, daß es — wie längst bekannt — Patienten 
gibt, die nie hyperacide Beschwerden haben und bei denen die funk- 


tionelle Magenuntersuchung dennoch hyperacide Werte zeigt. 


Wir haben in 30 Fällen Untersuchungen angestellt, ob bei der Negativität 
der funktionellen Untersuchung die hyperaciden Beschwerden nicht etwa dadurch 
verursacht werden, daß in diesen Fällen vielleicht der neutrale Chlorgehalt des 
Mageninhaltes gesteigert ist? Zu diesem Zwecke haben wir im ausgeheberten 
Mageninhalt außer der Aciditätsbestimmung auch die Menge des Gesamtchlors 
bestimmt und von diesem das in der Salzsäure enthaltene Chlor abgezogen, um 
so den neutralen Chlorwert erhalten zu können. 

Das Untersuchungsergebnis zeigt, daß auf 100 ccm Mageninhalt bezogen die 
Acidität in ®/,-Lösung ccm berechnet zwischen 0—94 schwankte, hingegen be- 
wegte sich das Gesamtchlor in engeren Grenzen: 41—152. Der Durchschnittswert 
des neutralen Chlors war bei An- und Hypaciden 42, bei Normaciden 34, bei 


 Hyperaciden 37 und bei Hyp- und Normaciden mit hyperaciden Beschwerden 39. 


Es zeigten sich also ähnliche Werte. Die hyperaciden Beschwerden im Falle der 


Negativität der funktionellen Untersuchung können also nicht auf den neutralen 
Chlorgehalt zurückgeführt werden. 

3. Frage. Wie beeinflussen die Atropinpräparate die oben erwähnte 
Verzögerung der Kochsalzausscheidung der Hyperacidität? 

Zu unseren Untersuchungen gebrauchten wir das Novatropin (die 
Wirkung dieses Präparates ist der die Eumydrins entsprechend, ist 
chemisch ein Homatropin-Methyl-Nitrat). Vom Präparat gaben wir 
dem Patienten täglich 3mal 2!1/,mg in subeutaner Injektion, einen 
Tag vor der Kochsalzabgabe beginnend. Am zweiten Tage morgens 
nach der Injektion bekam der Patient das übliche 10 g Kochsalz. 

Wir untersuchten Fälle mit hyperaciden Beschwerden und ver- 
zögerter Salzausscheidung, ob die Salzsäurewerte nach dem Probe- 
frühstück über 60 waren oder nicht. 


246 B. Molnär und L. Osäki: 


Tabelle III. 












































= ® Nacı en. = Während 
Nr. Name Klinische < A Gleich- Ausscheid.y.d-Zeit aus- Bemerkungen 
Diagnose = 2 gewicht 10 Nacl geschied. 
> e ing notw. waren NaCl ing 
Hyperac. larvata f 
27a || J.L. Catarrh. ap. 5 0) 6 =. 8 9 
Hyperac. larvata mit Novatropin 
27b | IL. Catarrh. ap. N d 02 u 3X 2!/.mg 
fe Hyperac. larvata 1 2 
37a || Fr. E.B. ik 38|112| 41) 2 10 
Hyperac. larvata . mit Novatropin 
37b | Fr. E.B. Tabes d. ; 381.12 4 Ja Be 6 3x 2), mg 
Hyperac. larvata i 
62 1) Heresizoster 255 297 All, 2 10 
Hyperac. larvata mit Novatropin 
36b | J.T. Herpes zoster 53 | 29|' 4), >3 3 3x A/,me 
4a | B.S. Hyperacid. 13 | 041 205) 25 8 | 
? r mit Novatropin 
4b | B.S. Hyperacid. 73 |64| 31), >. 0 3X 2/,mg 
mit Novatropin 
4c || B.S. Hyperacid. 73164| 3! >38 6 3x 21), E. 
4% mit Novatropin 
98 |IM. “ Hyperaciditass [74 57| 11 2 10 3x 2, mg 
' mit Novatropin 
g AH, Hyperacid. 76 PbINz ei} 4 3X My, mg 





Wie aus der Tabelle ersichtlich ist, wird durch Atropin in der genannten 
Dosis die Verzögerung der Kochsalzausscheidung in jedem Falle gesteigert. 
Dieser Befund ist um so auffallender, da man a priori glauben könnte, 
daß das Atropin, welches durch die Hemmung der Sekretionsnerven 
die gesteigerte Salzsäuresekretion vermindert, auch die Verzögerung 
der Kochsalzausscheidung der Hyperaciden vermindern wird. Doch 
ist eben das Entgegengesetzte eingetreten. 

4. Frage. Wie beeinflussen die Alkalien die Verzögerung der Koch- 
salzausscheidung der Hyperaciden ? 

Bei einem Teil unserer Fälle gaben wir NaHCO,, bei einem anderen 
Magnes. usta in der Weise, daß der Patient einen Tag, bevor wir das 
Kochsalz eingaben, begonnen, täglich 3mal 10 g Natriumbicarbonicum, 
bzw. 2mal 5g Magnesia usta bekam und den 2. Tag das übliche 10 g 
Kochsalz. | 

Wie wir sehen, wird durch Alkalien (Na HCO, und Magnesia usta) 
in der genannten Dosis die Verzögerung der Kochsalzausscheidung der 
Hyperaciden in jedem Falle noch mehr gesteigert, also ein dem Atropin 


ähnliches auffallendes Benehmen, was um so auffallender ist, da doch 


die Alkalien imstande sind die hyperaciden Beschwerden zu beheben. 





| 
\ 



















Tabelle IV. 


"Die Hyperacidität als Störung des Köchsalzstoffwechsels. 



























































= |2]8 |a0cı [Bene =Toanrna 
Name Klinische « ® Gleich- Ausscheid.v.d-Zeit Se Bemerkungen 
Diagnose Su = |gewicht 10 g Nacl geschied. 
5 = ing notw. waren Nacıin g 
Hyperac, larvata 
Ta|Gy. Cz Gastritis chron. 32|10 3 3 10 
Bay.cz, |Hyperac.larvata | 29 | 10| 3 >3 |. 7  |mit NaH00,3%X10g 
| Castritis chron. 
Eid. J Hyperacid. 66 | 54 | 41), a NEN IEPER YU, 
5a E.T. |Hyperacid. 7155| 4%, | >3 7 Ä 
5bIE.T. Hyperacid. 71 155|.41/, is 1), mit NaHCO,3xX10g 
9 Hyperanslarväta | 75.118 |" 4 2 110 
M Catarrh. ap. 
| / t mit Novatropin 
BbII.R. De LE a 5 3X, mg u. 
| 2 | NaHC0O, 3x10g 
2a|J: K. Hyperacid. 67 |51[°5 2 10 
2b\J.K. Hyperacid. 67/515 = 4 . |mit Me. usta 2x5 g 
5&|Fr. Sz. | Hyperacid. 72 1474 >3 8 | 
5b\Fr.Sz. |Hyperacid. 73 |47| 4 —>ä 3 mit Mg. usta 2x5 g 
5c\Fr. Sz. |Hyperacid. 72|47| 4 >3 6 mit Me. usta 2x5 g 
6a|/J. Cs. _|Hyperac. 75 159 | :51% 3 10 
6b1J. Cs. Hyperac. 7559| 5, | >3 5 mit Mg. usta 2x5 g 
Tabelle V. 
i en Die Anz. d. 
o oO | NaCl Während 
27 = ß Tage, d. z. i 
Nr. | Name Klinische < 4 Gleich- atisscheidy. ERABREER Bemerkungen 
Diagnose e 3 ‚gewicht 10 8 Nacl geschied. 
5 A in g notw. waren NaClin’g 
7 a Fr. J. T.| Anaemia permic., 3) 0|5 a 11 
it Novatropi 
Tb|Fr. J. T.| Anaemia peric.| 3| 015 >3 41), as a, EN, 
4a|Fr. B. H. Asthenia 22|4|41 el El lesi 
4b| Fr. B.H. Asthenia El A als =.o 8 mit Mg. usta 2x5 g 
7a|A.G. Catarrh. ap. 45. 125° 4l/s 1 10 
mit Novatropin 
'Tb A.G. Catarrh. ap. 4531 251: Allı 2 10 3X, mE 
it NaHCO 
TelA.G. [Catarrh.ap alla, | >3 | 9 an 











‚9. Frage. Wie verhält sich die Kochsalzausscheidung unter der Ein- 
wirkung des Atropins und der Alkalien bei den Nicht-Hyperaciden? 
Wie wir sehen, wird die sonst normale Kochsalzausscheidung der 
Nicht-Hyperaciden durch Atropin und Alkalien in jedem Falle verzögert, 
so daß auf Einwirkung dieser Mittel die normaciden Patienten bezüglich 


248 B. Molnär und L. Osäki: 


der Kochsalzausscheidung sich ähnlich verhalten, wie die Hyperaciden 
ohne diese Mittel. 


Ergänzend müssen wir noch bemerken, daß unsere Atropin- und Alkalien- 
versuche, die wir bei Pat. mit verschiedener Sekretion anstellten, auch gezeigt 
haben, daß die durch diese Mittel bedingte Kochsalzretention nach Aussetzung 
dieser Mittel aufhört und die retinierten Kochsalzmengen am Ende doch zur Aus- 
scheidung gelangen. 


Unsere bisherigen Untersuchungsergebnisse durchdenkend, fällt der 
Umstand auf, daß diejenigen Mittel (Novatropin und Alkalien in der 
obigen Weise angewendet), welche diehyperaciden Beschwerden beseitigen, 
die mit dem Wesen der Hyperacidität zusammenhängende Kochsalzstoff- 
wechselstörung nicht nur nicht bessern sondern im Gegenteilnoch steigern! 

Dies scheint vielleicht ein Widerspruch zu sein, doch sind die vor- 
übergehende Linderung der subjektiven Beschwerden einer Krankheit 
und die Beeinflussung der wesentlichen Stoffwechselstörung zwei ver- 
schiedene Dinge. Wir finden hierzu übrigens auch bei anderen Krank- 
heiten Analogien, so lindert z.B. das Opium durch die Herabsetzung 
der Darmperistaltik die Schmerzen des Patienten, obgleich es auf das 
Wesen der Krankheit vielleicht sehr nachteilig wirken kann. In unserer 
Frage müssen wir auch Unterschied zwischen der Linderung der sub- 
jektiven Beschwerden und der objektiven Veränderungen machen. 
Die Linderung der subjektiven Symptome ist: vorübergehender Natur, 
während die Beschwerden nach kürzerer oder längerer Zeit vielleicht 
noch mit größerer Intensität wieder auftreten. | 

Wenn wir nun in Betracht ziehen wollen, welche praktischen Folge- 
rungen wir aus unseren Atropin- und Alkalienversuchen gewinnen können, 
so müssen wir sagen, daß wir eine Art der Dosierung herauszufinden 
haben, bei welcher nicht nur die subjektiven Beschwerden behoben 
werden, sondern auch das durch unsere Untersuchungen festgestellte 
Wesen der Krankheit: die Störung des Kochsalzstoffwechsels günstig 
beeinflußt wird. (6. Frage.) 

Bei unseren bisherigen Novatropin- und Alkalienversuchen haben 
wir deshalb relativ so große Dosen angewendet, weil wir zuerst eine 
möglichst intensive Wirkung dieser Mittel auf den Kochsalzstoffwechsel 
studieren wollten. Diese Wirkung war aber bei täglich 3mal 2'/, mg 
Novatropin und 3mal 10 g Na HCO, auf den Chlorstoffwechsel schädlich 
und konnte daher in der therapeutischen Anwendung nicht in Frage 
kommen. 

Die Dosis, bei welcher sowohl die subjektiven Beschwerden, wie der 
Kochsalzstoffwechsel günstig beeinflußt werden, war beim N ovatropin 
täglich 2 mal 1 mg, beim Natrium bicarb. täglich 3 mal I—1!/, 9. 

Unsere Untersuchungen haben auch gezeigt, daß die genannte 
Dosis des Natr. bicarb., welche die Salzretention günstig beeinflußt, 





| 


| 








Die Hyperaeidität als Störung des Kochsalzstoffwechsels. 249 


die Acidität des Harns herabsetzt, aber den Harn noch nicht alkalisch 
macht. 

Unsere Untersuchungen mit den kleinen Dosen von Atropin und 
Alkalien sind in der folgenden Tab. VI zusammengestellt. 
































| Tabelle VI. 
a 
ZArliremı Die Anz. d. 
I o NaCl Während 
RR = 5 Tage, d. z. i 
Nr. Name Klinische < ö Gleich- Ausscheid,v.4-Zeit sid Bemerkungen 
Diagnose & | z |gewicht!| jo & NaCl geschied. 
5 | & | IRB Inotw. waren] NaCling 
5al E.T. |Hyperacid. 711\55| 4 >3 7 
5b| E.T. |Hyperacid. ze) ale a NEE 
3x10g 
| 1 ' mit Novatropin 
'5e| E.T. |Hyperacid. 11155 | 4!) 3 1010 ns 
1/ mit Novatropin 
9a! J.H. |Hyperacid. 76|61| 9°% 3 | ale 3x2, mg 
Te toleilaını 2 | 10 | mit Ronatepit 
u, Hyperncie Dion ag aa a, | >3 | a 
Hyperacid. Ulcus 4 | mit Novatropin 
Zen) L. Sz. ud: 86 168 | 3%/e 2 10 | xl me 
19 | J.K. |Hyperacid. 75 |59 | 21, 2 KL) ER 
: Hyperacid. Ulcus 
6 m). 
| 9a = 86 168 | 3 >. | 2 | 
696 g.n. 9 Beracid: Vleus gg | eg! 3 2» | 15 mit NaH0O, 3x1g 





| 


Nachdem wir diese Befunde erhoben haben, interessierte es uns 
zu untersuchen, ob bei der Kochsalzausscheidung der N ephritiker ihre 
verschiedene Magenacidität keine Rolle spielt. (7. Frage.) 

Wir wählten 4 Hyp- und normacide und 3 hyperacide Glomerulo- 
nephritiker aus, bei welchen wir auf Grund der ausgeführten funktionellen 
Nierenuntersuchungen (Harnbefund, Eintagsversuch, Blutdruck, Rest- 
nitrogen, usw.) annehmen konnten, daß sie zu solchen vergleichenden 
Versuchen geeignet sind. 

Die Untersuchungen zeigten, daß die Hyp- und Normacidenfälle 
109 Kochsalz in 2—3 Tagen ausgeschieden haben, also ein solches Ver- 
halten zeigten, wie die nichtnephritischen Hyperaciden. Hingegen war 
die Kochsalzausscheidung der hyperaciden Nephritiker in jedem Falle 
viel stärker verzögert, sie haben in 3 Tagen nicht einmal die Hälfte des 
Kochsalzes ausgeschieden. 

Wir hielten es noch für interessant zu untersuchen, ob die Kochsalz 
ausscheidung der Nephritiker durch kleine und große Dosen von Natr. 


250 B. Molnär und L. Usäki: 


bicarb. beeinflußt wird? Die Untersuchungen zeigten, daß die Koch- 
salzausscheidung durch täglich 3mal 10g Na HCO, wesentlich ver- 
schlimmert wurde, hingegen wurde auf die Dosis von täglich 3 mal 1g 
80—90% des 10 g Kochsalzes schon am ersten Tage ausgeschieden, und. 
die Kochsalzausscheidung der darauf folgenden Tage überstieg auch die 
Werte der vorherigen Tage. 

Aus diesen Untersuchungen bei Nephritikern, welche wir noch 
fortsetzen möchten, glauben wir schon jetzt den Schluß ziehen zu können, - 
daß bei der Beurteilung des Cl- Ausscheidungsvermögens der Nephritiker 
der Magenchemismus in Betracht gezogen werden muß, denn ein Teil 
der Kochsalzretention wäre vielleicht bei gleichzeitiger Hyperacidität. 
auf die Rechnung der Hyperacidität zu schreiben. | 

Die Frage der therapeutischen Anwendung, diese Untersuchungs- 
ergebnisse, namentlich ob die Kochsalzretention der Nephritiker durch 
Verabreichung von kleinen Dosen Alkalien vermindert werden kann, 
ist noch Aufgabe weiterer Untersuchungen. 

8. Frage. Wie könnte die Kochsalzretention der Hyperaciden erklärt 
werden? 

Da bei der Hyperacidität es sich um Magenbeschwerden handelt, 
fragt es sich, ob die Kochsalzretention nicht eine Folge der gestörten 
Magenfunktion ist? Aber es ist sofort einzusehen, daß die Kochsalz- 
retention weder durch sekretorische, noch durch motorische Störungen 
des Magens hervorgerufen werden kann. Unsere Untersuchungen 
beziehen sich doch auf die Bestimmung des im Laufe von 24 Stunden 
ausgeschiedenen Kochsalzes, während die Sekretionsstörung des Magens 
höchstens den zeitlichen Verlauf der Salzausscheidung innerhalb dieser 
Frist beeinflussen könnte und das durch die Hypersekretion provisorisch 
entzogene und gebundene Cl nach einigen Stunden doch zur Resorption 
und Ausscheidung gelangen müßte. 

Was speziell die Motilität betrifft, können wir dasselbe sagen, da 
wir solche Fälle überhaupt nicht untersuchten, in welchen ein durch 
motorische Insuffizienz bedingtes Erbrechen zu Cl-Verlust führen 
könnte, und andererseits kompensierte motorische Störungen bei auf 
24 Stunden ausgedehnten Untersuchungen keine Rolle spielen können. 

Da wir die Ursache der Kochsalzstoffwechselstörung der Hyper- 
aciden nicht im Magen selbst suchen können, müssen wir an die Nieren 
und die Gewebe denken. Andere Erkrankungen, welche ebenfalls 
mit Kochsalzretention einher zu gehen pflegen (Herz-, Nierenkrankheiten 
Fieber, Pneumonie, Myxödem usw). können bei der Beurteilung unserer 
Frage nicht in Frage kommen, da wir solche von unseren Untersuchungen 
ausschließen. 

Zur Klärung der Rolle der Nieren haben wir bei Hyperäciden in 
zahlreichen Fällen funktionelle Nierenuntersuchungen teilweise in der 














> TE ENTER EEE 


Die Hyperacidität als Störung des Kochsalzstoffwechsels. 251 


Form des bekannten Eintagsversuches, teils mit Farbenproben ausge- 
führt. 

Unter den Farbstoffen haben wir erstens mit Methylenblau ge- 
arbeitet, nachher gingen wir auf Fluoresein über, um die bekannte 
störende Wirkung der Leukobasen zu vermeiden. Vom Methylenblau 
gaben wir intravenös 0,68 in 5cem phys. Na Cl-Lösung gelöst, vom 
Fluorescin per os 1g, in subeutaner Injektion !/, ccm von der 5 proz. 
Lösung in physiol. NaCl. Die Ausscheidung trat bei den Patienten 
unabhängig davon ein, ob sie hyperacid waren oder nicht; bei der 
intravenösen Verabreichungsform der Farbstoffe in 5—10 Minuten, 
per os oder subcutan gegeben, 15—20 Minuten. 

Sowohl die Eintagsversuche, wie die Farbenproben zeigten, daß 
bei Hyperaciden in dieser Funktion der Niere kein Ausfall zu konsta- 
tieren sei. 

Nachher haben wir untersucht, ob die Kochsalzausscheidung der 
Hyperaciden sich verschieden verhält, wenn die Patienten das Salz 
nicht per os, sondern intravenös bekommen. Zu diesem speziellen Zwecke 
sind wir bei einem Normaciden mit hyperaciden Beschwerden (Probe- 
frühstückswerte 34—49) und bei einem Hyperaciden (51—69) folgender 
Weise vorgegangen: Nach dem Eintritt des Salzgleichgewichtes haben 
wir die Ausscheidung des per os verabreichten Kochsalzes beobachtet. 
In diesen Fällen gaben wir anstatt des üblichen 10 g nur 6g Kochsalz, 
weil wir die intravenöse Verabreichung unter identischen Bedingungen 
durchführen wollten und wir bei der intravenösen Injektion mit möglichst 
kleinen Salzmengen auskommen wollten. Wir gaben den Patienten 
nüchtern auf 3 gleiche Dosen verteilt 6& Kochsalz binnen 1 Stunde. 
Damit wir die etwaigen kleineren Differenzen der Ausscheidung be- 
obachten können, sammelten und analysierten wir den Harn 2stündlich. 
Der Normacide mit hyperaciden Beschwerden hat 69 Kochsalz in 2 mal 
24 Stunden ausgeschieden, der Hyperacide aber nicht einmal in 3 mal 
24 Stunden. Nachher warteten wir einige Tage bis zum Eintritt des 
Salzgleichgewichtes und gaben dann die gleiche Kochsalzmenge in einer 
10 proz. Lösung und zwar in denselben Zeitintervallen, wie im vorigen 
Versuch. Das Untersuchungsergebnis war, daß in der 24stündigen Aus- 
scheidung des per os und intravenös verabreichten Kochsalzes kein Unter- 
schied nachgewiesen werden konnte. Die Analyse der 2stündig ge- 
sammelten Harnportionen ergab sogar noch ein langsameres Ausschei- 
dungstempo bei intravenöser Verabreichung des Kochsalzes. 

Aus diesen Untersuchungen können wir den Schluß ziehen, daß 


die Kochsalzausscheidung der Hyperaciden auch dann eine Verzögerung 


zeigt, wenn wir das Kochsalz intravenös den Nieren zur Verfügung 
stellen; dieser Umstand weist sicherlich auf eine extrastomachale Ent- 
stehung der Kochsalzretention. 


252 B. Molnär und L. Usäki: 


Außer den Nieren müssen wir auch die Rolle der Gewebe berück- 
sichtigen, um so mehr, da das retinierte Salz sicherlich in den Geweben 
zurückbleibt, wobei die Salzretention, wie vorauszusehen war, mit 
Flüssigkeitsretention einhergeht. 

Die pathologische Steigerung der Salz- und Flüssigkeitsretention 
kann — wie wir wissen — namentlich bei jenen Krankheiten zur Ent- 
stehung von Ödemen führen, welche mit ‚„„Ödembereitschaft‘‘ einher- 
sehen. Deshalb erschien es notwendig zu untersuchen, ob bei unseren 
salzretinierenden hyperaciden Patienten eine Ödembereitschaft nach- 
weisbar ist. Um dies zu erfahren, haben wir hypacide, normacide und 
hyperacide Patienten in der Weise untersucht, daß wir ihnen nach Ein- 
tritt des Salzgleichgewichtes eine Woche lang täglich in der Früh nüchtern 
10 & Kochsalz und nach 'Belieben Wasser gaben, da nach unseren mit- 
geteilten Versuchen die Salzretention durch die Flüssigkeitszufuhr 
unbeeinflußt bleibt. Außer den Kochsalzbestimmungen haben wir 
täglich auch das Körpergewicht gewogen. 

Das Ergebnis dieser Untersuchungen war, daß die hyp- und normacide 
Patienten das verabreichte Salz ohne Körpergewichtsveränderung 
total ausgeschieden haben, ja sogar in einem normaciden Falle eine 
Verminderung des Körpergewichtes um 1!/,kg zu verzeichnen war. 
Dagegen haben die Hyperaciden ausnahmslos einen wesentlichen Teil, 
in einem Falle sogar die Hälfte des Salzes retiniert, wobei das Körper- 
gewicht bis zum 1—2 kg so lange zunahm, bis die diuretische Wirkung 
des Salzes zum Übergewicht kam, was in unseren Fällen am Ende 
der Woche eintrat. Wir erwähnen hier, daß unsere hyperaciden Patienten 
auch bei der einmaligen Verabreichung des 10 g Kochsalzes an demselben 
Tage eine Körpergewichtszunahme von !/,—1!/,kg zeigten, und zwar 
gewöhnlich im Verhältnis zum Grade der Retention. Die Patienten aber, 
welche kein Salz retinierten, zeigten auch keine Körpergewichtsver- 
änderung. | 

Mit dieser Frage hängt die in letzter Zeit mitgeteilte Erfahrung 
von Alkan?*), daß die hyperaciden Patienten nach Einstellung auf eine 
salz- und flüssigkeitsarme Diät mehrere Kilogramm ihres Körper- 


gewichtes verlieren. Alkan bringt. dies mit dem Verlassen der früher 


genommenen NaHCO, in Zusammenhang. Auf Grund unserer Unter- 
suchungen führen wir dieses Verhalten der Hyperaciden auf das Ein- 
schränken der Kochsalzzufuhr. 

Die nachgewiesene Wasserretention der Hyperaciden bedeutet aber 
nicht, daß die Hyperacidität zu manifesten Ödemen führen. Einer 


bedeutenden Wasserretention steht die Tatsache im Wege, daß sobald 
die Salzretention eine gewisse Grenze überschritten hat, eine diuretische | 
Wirkung eintritt, durch welche der Organismus vom Überschuß befreit 


wird. 











Die Hyperacidität als Störung des Kochsalzstoffwechsels. 253 


Bei diesen Vorgängen, namentlich bei der Kochsalzretention und 


‚Abgabe der Gewebe, spricht der innersekretorische Apparat sicher eine 


Rolle und hier weisen wir besonders auf die Versuche Eppingers”) 
über die Schilddrüse hin, aus welcher bekannt wurde, daß in jenen Fällen, 
in welchen die Funktion der Schilddrüse mangelhaft ist (Myxödem, 
in Tierversuchen die Entfernung der Schilddrüse) Cl und Wasserretention 


zu beobachten ist. Diesen Beobachtungen folgte die praktische Fest- 


stellung, daß Thyreoideapräparate gegen gewisse hartnäckige Ödeme 
mit Erfolg angewendet werden können. Die Wirkungsweise der Thyreoi- 
deatherapie hat Eppinger so erklärt, daß die Thyreoidea die Cl-Auf- 
nahmefähigkeit der Gewebe, namentlich des Unterhautzellgewebes, 
vermindert. 

Aus dem Gesichtspunkte unserer speziellen Frage interessierte 
es uns zu erfahren, wie die Thyreoideaverabreichung die Cl-Retention 
der Hyperaciden beeinflußt und zweitens, welche Wirkung die Thy- 
reoidesverabreichung auf die Sekretionsverhältnisse des Magens ausübt. 

Aus unseren Untersuchungen stellte sich heraus, daß die Salzretention 
Hyperacider durch Schilddrüsenzufuhr beseitigt werden kann. 

Dieses Verhalten wird z.B. durch einen unserer Fälle mit hyper- 
aciden Beschwerden auffallend illustriert. In diesem Falle haben wir 
2mal festgestellt, daß der Patient das gebräuchliche 109 Kochsalz 
auch in 3 Tagen nicht zur Ausscheidung bringt. Nach dem neuerlichen 
Eintritt des Salzgleichgewichtes gaben wir täglich 3mal 0,58 Thy- 
reoideatabletten. Am 12. Tage des Thyreoideagebrauches gaben wir 


10 g Kochsalz und fanden, daß es bereits in einem Tage gänzlich aus- 


geschieden wurde, ja sogar in den nächsten 3 Tagen, während welcher 
Zeit der Patient die Thyreoideatabletten weiter bekam, die Menge 
des ausgeführten NaCl eine viel größere, als die des Eingeführten war. 

Die Wirkung der Thyreoideatabletten auf die Acidität des Magens 
haben wir inan-,hyp-,norm-undhyperaciden Fällen untersucht (18 Fälle). 
Nach der funktionellen Magenuntersuchung bekam der Patient täglich 
3mal 0,5, 1,1,5g Thyreoidea, an jedem 3. Tage um je 0,58 steigend. 
Die Probefrühstücksuntersuchungen wurden an jedem 3. Tage wieder- 
holt. 

Unter den untersuchten 7 an- und hypaciden Fällen trat die Stei- 
gerung der Magenacidität in 2 Fällen ein: 1. Asthenie von 12—25 auf 


22-41, dann auf 34—50. 2. Cat. apie. von 0—15 auf 25—45. Unver- 


ändert blieben 5 Fälle. Eine Herabsetzung der Acidität ist in keinem 
Falle eingetreten. Wir müssen noch bemerken, daß die Acidität in 
jenen Fällen unverändert blieb, in welchen die Anacidität von einer 
schweren Erkrankung begleitet war (Carcinom, Phthise). 

Wir untersuchten 8 hyperaeide Fälle. In unseren Fällen haben wir 
am 3. Tage nach der Thyreoideaverabreichung eine noch etwas gestei- 


254 B. Molnär und L. Osaäki: 


gerte Acidität bekommen, aber am 6., 9. und in einem Falle am 12. Ta ge 


fielen die Werte des wiederholt Hinsehen Probefrühstückes auf das 
Normale herab. 
Die Werte unserer 3 normaciden Patienten blieben während der 


Thyreoideadarreichung bis zum Ende normal, zwar zeigten sie ähnlich, 


wie die Hyperaciden am 3. Tage eine kleine Steigerung, welche aber 
am 6. und am 9. Tage wieder zum ursprünglichen normalen Wert 
herabfiel. 

Leider können wir wegen Platzmangel unsere ausruhrlichen Tabellen 
nicht mitteilen und so führen wir zur Illustration des Verhaltens der 
einzelnen Gruppen je einen Fall an. 

So z. B. der anacide Fall Nr. 51 (klinische Diagnose Cat. apic. incip.) zeigte 
bei der ersten Untersuchung eine Acidität von 0—15, welche am. 6. Tage auf 
25—45 anstieg. Unser hypacider Fall Nr. 23 (klinische Diagnose Asthenie, Ob- 
stipation) hatte vor der Untersuchung Werte 15—25, am 9, Tage der Thyreoidea 
Verabreichung 22—41 und am 12. Tage 34-50. Die Werte unserer Pat. Nr. 53 
(klinische Diagnose Hyperacidität) waren vor dem Gebrauch der Thyreoidea 
52—67, nach 3 Tagen 63—82, nach 9 Tagen 17—40, nachher nach Aussetzung 
der Thyreoidea nach 3 Tagen 17—35. 

Während unsere Untersuchungen im Gange waren, sind die Arbeiten 
von Boenheim?) erschienen, der gegen verschiedene Sekretionsano- 
malien verschiedene innersekretorische Präparate (Thymus, Pankreas, 
Hypophysis, Thyreoidea) empfiehlt. 

Boehnheims Thyreoideaversuche zeigen dasselbe Resultat, wie die 
unserigen. 

Wir halten es vorläufig noch für früh aus diesen Untersuchungs- 
ergebnissen für die Praxis geeignete therapeutische Schlüsse zu ziehen, 
um so mehr, da die Frage der Dauer der Thyreoideawirkung noch un- 
entschieden ist, und es bedenklich wäre wegen einer nur vorübergehenden 
Wirkung zum Thyreoideagebrauch zu greifen. 

Es ist sehr schwer eine bestimmte Antwort auf die Frage zu geben, 
wie die Salzretention der Hyperaciden zustande kommt. Wenn wir 
uns auf den renalen Standpunkt stellen, welcher durch unsere erwähnten 





intravenösen Salzuntersuchungen berechtigt erscheinen könnten, so 


müssen wir annehmen, daß die sonst gut funktionierenden Nieren 
der Hyperaciden die Ursache der Salzretention sind. Diese Erklärung 
wird jene Forscher, die bei :der Kochsalzretention in einzelnen Fällen 


dem Gewebe eine ausschließliche Rolle zuschreiben, sicherlich nicht 1 


befriedigen. Den Geweben schreiben wir Wichtigkeit zu, wenigstens 
insofern, da auch nach unseren Untersuchungen. die Stelle der Salz- 
und Flüssigkeitsretention der Hyperaciden in den Geweben zu suchen ist. 

Es fragt sich nun, wie wir uns die Salzretention beeinflussende Wirkung 


des Atropins und der Alkalien bei Norm- und vorstellen. 


können? (9. Frage.) 








Die Hyperacidität als Störung des Kochsalzstoffwechsels. 255 


Wie unsere Untersuchungen zeigten, müssen wir sowohl beim Atropin, 
wie bei den Alkalien einen Unterschied zwischen kleinen und großen 
Dosen machen. Die Kochsalzretention wird nämlich durch große Dosen 
gesteigert, hingegen durch kleine Dosen vermindert. 

Die Wirkung der großen Atropindosis beruht sicherlich auf der 
sekretionshemmenden Wirkung des Atropins, welche Feststellung 
nicht nur auf die Magensekretion, sondern auch auf die Funktion anderer 
Organe Gültigkeit hat. Daß diese hemmende Wirkung bei der An- 
wendung der kleinen Dosen wegfällt, entspricht sicherlich jenem all- 
gemeinen pharmakologischen Prinzip, nach welchem die großen und 
kleinen Dosen im allgemeinen eine entgegengesetzte Wirkung haben. 
Ebenso können wir uns die entgegengesetzte Wirkung der kleinen und 
großen Dosen der Alkalien vorstellen. Daß die Kochsalzretention 
der Hyperaciden durch große Dosen von Alkalien, — wie unsere Unter- 
suchungen gezeigt haben — gesteigert wird, kann ebenso erklärt werden, 
wie bei anderen Kochsalzretentionen, bei welchen Widal und seine 
Schule nachgewiesen haben, daß die Salzretention durch Natr. bicarb. 
mächtig gesteigert wird und als Ort der Wirkung die Nieren anzusehen 
sind. 

Wenn wir nun die praktischen Folgerungen unserer Untersuchungen 
zusammenfassen, müssen wir sagen, daß die Hyperacidität nicht nur 
als eine einfache Magenerkrankung, sondern als eine allgemeine Ver- 
änderung, namentlich als eine Störung des Kochsalzstoffwechsels betrachtet 
werden muß, bei welcher die Hyperacidität zwar die auffallendste Teil- 
erscheinung ist, aber nicht die Wesentlichste. 

Aus dieser Auffassung folgt von selbst, daß bei der Behandlung der 
Hyperacidität die kochsalzarme Diät, als die rationellste Therapie ganz 
in den Vordergrund gestellt werden muß. Praktisch haben wir auch selbst 
in zahlreichen Fällen die Überzeugung gewonnen, daß die durch längere 
Zeit durchgeführte kochsalzarme Diät die Hyperacidität dauernd 
herabzusetzen imstande ist. Die Ordination einer kochsalzarmen Diät 
hat also nicht nur den Sinn, daß die gesalzenen Speisen — wie allgemein 
bekannt — als Sekretionserreger zu meiden sind, sondern sie erlangt 
auch dadurch Bedeutung, daß die Kochsalzstoffwechselstörung ebenfalls 
günstig beeinflußt wird. 

Unsere Atropin- und Alkalienversuche haben gezeigt, daß große 
Dosen dieser Arzneien zu meiden sind, da sie die Störung des Kochsalz- 
stoffwechsels noch vermehren. Dem therapeutischen Zwecke entsprechen 
wirklich nur die kleinen Dosen, die nicht nur die subjektiven Hyper- 
aciditätsbeschwerden mindern, sondern auch die Kochsalzausscheidung 
günstig beeinflussen. ar 

Unsere Untersuchungen liefern zum erstenmal eine objektive Grund- 
lage dafür, daß Patienten mit hyperaciden Beschwerden, aber mit hyp- 


ar 


256 B. Molnär und L. Csäki: Die Hyperacidität usw. 


aciden und anaciden Werten zu den Hyperaciden gehören, da sie dieselbe 
charakteristische Stoffwechselstörung aufweisen. Diese Feststellung 
hat nicht nur eine pathologische, sondern auch eine wichtige thera- 
peutische Bedeutung, da solche Patienten sowohl symptomatisch, 
wie ätiologisch nur dann mit Erfolg behandelt werden können, wenn 
dies nach den Prinzipien der Hyperaciditätstherapie geschieht. 


Literatur. 


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Pathologie und Therapie des menschlichen Ödems. Berlin 1917. — ?%) Boenheim, 
Boas Arch. 26, 74. 

















(Aus der III. medizinischen Klinik der kgl. ung. Pasmäny-Universität in Budapest 
[Dirsktor: Prof. Baron A. v. Koränyi).) 


Über Indikationen und Kontrolle der Leukämiebehandlung 
auf Grund neuer Prüfungsmethode. 
Von 


F. Sternberg und St. v. Göncezy. 
(Eingegangen am 12. November 1923.) 


Die charakteristische Eigenschaft der Verteilungsblutbilder ist die 
schnell eintretende, aber auch ebenso schnell verschwindende, größere 
quantitative Verschiebung, ohne eine qualitative Verschiebung im Sinne 
Arneths. Auf experimentellem Wege konnten zuerst Seyderhelm und 
Veraguth bei Verwendung des elektrischen Stromes niederer Spannung 


_ und niederer Intensität das Leukocytenbild schnell und wesentlich be- 


einflussen. 
In den folgenden Untersuchungen wurde der Wechselstrom hoher 


Frequenz, die Diathermie auf ihre Wirkung auf die Verteilung der 


weißen Blutkörperchen untersucht. 


1 
Zuerst wollten wir den Einfluß des Wechselstromes hoher Frequenz 
auf das normale qualitative und quantitative Blutbild, sodann den 
Wirkungsmechanismus der Veränderung und schließlich die evtl. Rolle 


der Leber klären. 


Die Untersuchungen wurden bei liegenden Patienten in nüchternem 


‚Zustand ausgeführt. Was die Technik der Diathermie anbelangt, 


so war die eine Bleielektrode 350 cm?, die indifferente 560 cm? bei 
1,5—2,0 Amp. Stromstärke. 

Wir zählten die Blutzellen unmittelbar vor der Behandlung, sodann 
in der ersten Halbzeit der Stromapplikation, unmittelbar nach deren 
Unterbrechung und hiernach in Zeitintervallen von 15, resp. 20 Minuten. 

Die Untersuchungen wurden an Gesunden, Neurasthenikern, Hyste- 
rikern, sowie an Patienten, welche an Ischias, Sklerose en plaques 
und anderen Krankheiten litten, vorgenommen, bei denen eine Leber- 
schädigung auszuschließen war. Wir überzeugten uns übrigens durch 
die hämoklasische Krise über die normale Leberfunktion unserer Pa- 
tienten. 


Z. f. klin. Medizin. Bd. 100. KR 


258 F. Sternberg und St. v. Gönezy: Über Indikationen und Kontrolle 


In diesen Fällen führten wir den Strom mit der sog. lokalen Dia- 
thermie entweder in den oberen Teil des Bauches oder direkt durch die 
Leber. In 12 Fällen trat nach einer dauernden Durchströmung von 
wenigstens 40 Minuten eine bedeutende Leukopenie ein, welche in einem 
Falle sogar eine Abnahme von 60% erreichte. Die Abnahme der Leuko- 
syten erfolgte entweder allmählich, indem die Abnahme während der 
Durchströmung erfolgte und sich durchschnittlich in 60 —80 Minuten 
ausglich, oder sie erfolgte plötzlich. Es soll jedoch erwähnt werden, 
daß wir bei einigen Kranken während des Durchströmens eine, kaum 
nennenswerte, geringe Vermehrung der weißen Blutzellen beobachten 
könnten. Wir möchten im folgenden die Kürze halber, nur einige Fälle 
mitteilen, wobei wir ausdrücklich hervorheben, daß alle 12 untersuchten 
Fälle eine gleichsinnige Reaktion auf die Diathermiebehandlung zeigten, 
und daß sich diese in einer Leukopenie offenbarte. 


Fall N. N. Sine morbo. 50 Min. Leberdurchströmung. Vor dem Versuche 
L: 5300, nach 15 Min. L: 5700, nach 30 Min. L: 4300. Nach 50 Min. Unterbrechung 
der Durchströmung. Sofort demnach L: 4250, nach weiteren 15 Min. L: 2750, 
nach 30 Min. L: 2750, nach 60 Min. L: 3750, nach 90 Min. L: 5000. Hämoklasische 
Krise: Auf nüchternem Magen L: 5050, 200 cem Milch. Nach 20 Min. L: 5000, 
nach 40 Min. L: 4750, nach 60 Min. L: 4750, nach 80 Min. L: 4850. 

Bei Leukoeytosen kamen wir zu demselben Resultate: Fall F. K. Poly- 
arthritis. Auf nüchternem Magen L: 13100. 40 Min. Leberdiathermie. Sofort 
nach Unterbrechung der Durchströmung L: 9000, nach 20 Min. L: 7300, nach 
40 Min. .L: 9100, nach 60 Min. L: 10 500, nach 80 Min. L: 13 300. Eine Leber- 


schädigung konnte nicht festgestellt werden. Die Widalsche Leberprüfung ergab 


folgende Resultate: L: 12500 200cem Milch. Nach 20 Min. L: 12 900, nach 
40 Min. L: 12 100, nach 60 Min. L: 11 900. 

Leberkranke reagierten auf eine mindestens 40 Min. dauernde Durch- 
strömung der oberen Bauchgegend oder der Leber selbst ebenfalls mit einer 
Leukopenie. e 

In einem Falle von Cholelithiasis mit Ikterus und tastbarer Gallenblase 
sowie Lebervergrößerung (2 Fingerbreit unterhalb des Rippenbogens) betrug die 
Zahl der weißen Blutzellen 7000. 

40 Min. Leberdiathermie. Nach Beendigung der Durchströmung L: 3900, 
nach 20 Min. L: 3700, nach 60 Min. L: 6000, nach 80 Min. L: 7400. Hämokla- 


ns 


sische Krise: L: 6000, 200 cem Milch. Nach 20 Min. L: 5550, nach 40 Min. L:#| 


4000, nach 60 Min. L: 4950, nach 80 Min. L: 5800. 


Der Umstand, daß sowohl Leberkranke als auch gesunde Individuen 
nach der Durchströmung mit Wechselstrom hoher Frequenz eine Leu- 
kopenie auswiesen, beweist, daß die Leber bei dem Leukocytensturz 
keine Rolle spielt. Die Richtigkeit dieser Annahme beweisen zum Teil 
diejenigen Fälle bei denen auf die Extremitäten Lokaldiathermie ap- 


pliziert wurde, zum Teil diejenigen Fälle bei denen eine sog. allgemeine - 


Diathermie [Kowarschik 1.] vorgenommen wurde. Auch solche Appli- 
kationen riefen sowohl bei gesunden, als auch bei Leberkranken ähnliche 
Leukopenien hervor. 





der Leukämiebehandlung auf Grund neuer Prüfungsmethode. 259 


Als Beispiel seien folgende Fälle erwähnt: 

Falll. T.J. Sine morbo. L: 5350. 40 Min. Diathermiebehandlung des rechten 
Schenkels, 20 Min. nach der Diathermie L: 3500, nach 40 Min. L: 3600, nach 
80 Min. L: 3850. 
| Fall 2. Frau F. H. Cholelithiasıs. L: 7100. 40 Min. Leberdurchströmung 
(während der Durchströmung L: 7050). Unmittelbar nach Beendigung der Durch- 
strömung L: 5600, nach 20 Min. L: 5600, nach 40 Min. L: 6600, nach 60 Min. 
| L: 7000. In demselben Falle bei Durchströmung des Schenkels, vor dem Versuch 
L: 7000, 40 Min. Lokaldiathermie. Sofort nach Unterbrechung der Durchströmung 
| L: 5200, nach 20 Min. L: 5300, nach 40 Min. L: 6100, nach 60 Min. L: 7100. 





| Es soll an dieser Stelle erwähnt werden, daß unterdessen Berliner 


ebenfalls das Verhalten der weißen Blutzellen nach der Leberdiathermie 
untersuchte, und feststellen konnte, daß bei Gesunden Leukocytose 
und bei einem Teil der Leberkranken Leukopenie auftrat. Diese Leuko- 


ı penie lief nicht immer mit der hämoklasischen Krise parallel und er- 
‚reichte im allgemeinen nicht diejenigen Grade, welche wir bei unseren 


Kranken beobachten konnten. Dieser Umstand dürfte wahrscheinlich 
damit zusammenhängen, daß Berliner die Diathermie bzw. die Leber- 
‚ durchströmung durch 15 Minuten , wir dagegen durch 40 Minuten 





| ausführten. 


Es ist erwähnenswert, daß die qualitativen Blutbilder keine Arneth- 
sche Verschiebungen zeigen. Daher ist diese Leukopenie wie Schilling 


j . . . 
‚resp. Worms und auch Schreiber betonen nicht als eine myelogene, 
sondern als eine Verteilungsleukopenie aufzufassen. Die neutrophilen 


ı Lymphocyten verhielten sich insofern verschieden, daß sich die Zahl 


der Leukocyten in jedem Falle bedeutend und andauernd verminderte, 


die Lymphocyten dagegen entweder ein ähnliches Verhalten wie die 


Leukocyten zeigten oder ihre Zahl sich nur vorübergehend verminderte, 





um sodann wieder die normalen Werte zu erlangen. Es konnte ferner 


beobachtet werden, daß sich die Lymphocyten im Gegensatz zu den 
 Leukocyten vermehrten und hiernach im großen und ganzen, entweder 
wieder zur Norm zurückkehrten oder aber im Anschluß daran eine 
_ Verminderung — Lymphopenie — erfolgte. Es ergaben unsere Unter- 


suchungen, daß das Verhalten der Leukocyten und der Lymphocyten 


insofern eine verschiedene ist als erstere viel eher eine quantitative 


Abnahme zeigen als letztere. 
Wenn wir diese durch elektrische Reizung hervorgerufene Leuko- 


' penie erklären wollen, können wir feststellen, daß der direkte Grund 


nicht in der gestörten Funktion der Leber gesucht werden kann. Auch 
die zellenvernichtende Wirkung der Elektrizität kann nicht, wenigstens 


nicht ausschließlich in Frage kommen, da ihr keine Arnethsche Ver- 


schiebung folgte und weil lokale Reizung der verschiedenen blutreichen 

Organe, bzw. Gewebe (Bauchhöhle, Leber, Extremitäten, allgemeine 

Diathermie) eine ähnliche Reaktion auslöste. Wenn wir noch in Er- 
11: 


360 F. Sternberg und St. v. Gönezy: Über Indikationen und Kontrolle 


wägung ziehen, daß die Elektrizität bei lokaler Diathermie sich nicht 
über den ganzen Organismus verbreitet, so liegt die Folgerung am 
allernächsten, daß diese leukopenische Reaktion reflektorisch zustande 
kommt. Für die Richtigkeit unserer Annahme scheinen auch die Unter- 
suchungen E.F. Müllers, Ritters und Glasers zu sprechen. Müllers 
Verdienst ist, daß er auf die wichtige Rolle der Haut bei Verteilung 
der weißen Blutzellen hinwies. Nach einer intracutanen Injektion von 
oanz wenig Eiweiß oder Kochsalz (hypertonische oder isotonische 
Lösung 0,6—1,0 ccm) trat ein akuter Leukocytensturz ein. (Die Zahl 
der Lymphocyten verminderte sich nicht). Sie subcutane Injektion 
eines größere Quantums derselben Substanzen beeinflußte die Zahl 
der weißen Blutzellen nicht. Auf Grund dieser und anderer Versuche 
stellte er mit Recht fest, daß von der Haut aus reflektorisch ein Leuko- 
cytensturz hervorgerufen werden kann. Neuerdings beobachtete Ritter 
auch nach der Injektion chemisch verschiedener Stoffe, wie 5% Milch- 
zuckerlösung, 01, oliv. und Mohrrübensaft, eine ähnlich akute Leuko- 
penie. In diesem Falle konnte er den Leukocytensturz nur mit intra- 
cutaner Injektion auslösen, während nach subcutaner Anwendung 
die Leukocytenzahl nicht beeinflußt wurde. Glasers interessante Unter- 
suchungen beweisen die Rolle des vegetativen Nervensystems bei der 
Regulierung der Verteilung der weißen Blutzellen. Wir glauben nicht 
zu weit zu gehen, wenn wir auf Grund dieser Erfahrungen bei der Ent- 
stehung der durch die elektrische Reizung hervorgerufenen Verteilungs- 
leukopenie zum größten Teil einen dem Müllerschen Hautreflex ähn- 
lichen Mechanismus annehmen. Nicht nur durch chemische, sondern 
auch durch physische (elektrische) Reizung der Haut kann akute Leuko- 
penie ausgelöst werden. Selbstverständlich ist der Müllersche und 
Rittersche einwandfreie Beweis — ‚nach welchem sich die Zahl der 
weißen Blutzellen bei subcutaner chemischer Reizung nicht ändert —, 
bei der Diathermie nicht zu erbringen. Wenn wir jedoch berücksichtigen, 
daß unter ähnlichen Bedingungen von einem beliebigen Teil der Haut- 
oberfläche aus eine akute Leukopenie auslösbar ist, die im großen und 
ganzen dem Müllerschen Leukocytensturz entspricht, weiter, wenn 
wir das Fehlen der Verschiebung des Blutbildes nach links, in Anbetracht‘ 
ziehen, so glauben wir annehmen zu dürfen, daß sich die auf elektrische 
Reizung eintretende akute Leukopenie hauptsächlich nach dem Müller- 
schen Mechanismus vollzieht. 


2 


Seyderhelm und Veraguth untersuchten die Wirkung des elektrischen 
Schwachstromes an Leukämikern. Ihre Untersuchungen führten zu 
dem interessanten Resultat, daß auf diese Weise bei Leukämikern ein 
hochgradiger Leukocytensturz hervorgerufen werden kann. Bei einem 








| 
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| 


der Leukämiebehandlung auf Grund neuer Prüfungsmethode. 261 


ihrer Kranken gelang es binnen !/,—!/, Stunde pro mm3 361 000 weiße 
Blutzellen aus dem Blutstrome verschwinden zu lassen. Später bemerk- 
ten Seyderhelm und Kratzeisen einen noch bedeutenden Sturz. In einem 
Versuche verminderten sich die weißen Blutzellen während einer 60 
Minuten dauernden Durchströmung um 604 000 pro mm3. In 2 Fällen 


_ von leukämischer Myelose (unbehandelte Fälle) verhielten sich die 


Myelocyten und Leukocyten verschieden. Während sich nämlich im 
1. Falle die Zahl der Myelocyten jedesmal bedeutend verringerte, 
änderte sich die der Leukocyten nicht, resp. vermehrte oder ver- 
ringerte sie sich etwas im Verlaufe späterer Untersuchungen. Im 
anderen Falle verschwanden ebenfalls hauptsächlich Myelocyten, wäh- 
rend sich die Leukocyten nach 4 galvanischen Packungen bedeutend 
vermehrten, nach 3 galvanischen Packungen jedoch bedeutend ver- 
minderten. 

Nach Anwendung des Wechselstromes mit hoher Frequenz nahmen wir 
in unbehandelten Fällen leukämischer Myelose jedesmal einen hoch- 
gradigen Leukocytensturz wahr, der binnen durchschnittlich 1 Stunde 
zurückging. 

_ Fall W. Zs. Unbehandelte leukämische Myelose. L: 418 000 sofort nach 40 Min. 
Bauchdiathermie L: 268 000, nach 20 Min. L: 296 000, nach 40 Min. L: 350 000, 
nach 60 Min. L: 391 000, nach 80 Min. L: 405 000. Die Zahl der weißen Blutzellen 
fällt also binnen einer Stunde um 150 000. Die Myelocyten und Leukocyten ver- 
hielten sich insofern verschieden, da sich die Myelocyten immer bedeutend ver- 
ringerten, während in 2 anderen unbehandelten Fällen einmal (Fall M. G.) die Leu- 
kocyten sich ungefähr wie die Myelocyten verhielten (My.: — 32000, L: — 27730, 
siehe Tabelle), das andere Mal aber nach einer langsamen vorübergehenden Ver- 


minderung sich etwas vermehrten (My.: 33 648 bis 20 160, — 19 510, — 7825, 
L: — 2850, — 1586, — 10 266, + 6345). 


Seyderhelm und Kratzeisen berichten noch über folgende interessante 


_ Versuche: 


‚Bei leukämischen Myelosen nahmen sie 7, jeden 2. Tag wiederholte, 


galvanische Packungen vor, während welcher sie eine bedeutende 


leukopenische Reaktion erzielten. Hierauf bekamen die Kranken 


therapeutische Röntgenbestrahlungen, sodann neuerdings 6 galvanische 
Packungen. Auf die galvanische Reizung nach der Röntgenbestrahlung 


war die leukopenische Reaktion geringer und weniger ausgesprochen. 


_ Bei einer anderen leukämischen Myelose änderten sie die Reihenfolge 


der Versuche. Nach 6 elektrischen Sitzungen (1. Periode) wurden die 
galvanischen Packungen wiederholt, (2. Periode) hierauf folgten Röntgen- 
bestrahlungen (3. Periode). Aus dem Resultate ihrer Untersuchungen 


folgern sie: „Auch in diesem Falle erweist sich das weiße Blutbild gegen- 


über dem elektrischen Strom (d.h. in der 2. Periode) ganz erheblich 
weniger beeinflußbar als in der 1. Periode‘. Zur Erklärung. dieses 


 eigenartigen Verhaltens nehmen sie an, daß der Organismus auf die 


262 F. Sternberg und St. v. Gönezy: Über Indikationen und Kontrolle 


Wirkung der elektrischen Reizung der Elektrizität gegenüber seine 
Reizbarkeit verliere. Es stellt sich also eine Art ‚„Immunität“ ein. 
Doch möchten wir aus der mitgeteilten Tabelle nicht denselben Schluß 
ziehen. Bei der 1. elektrischen Sitzung, in der 1. Periode, verminderte 
sich die Zahl der weißen Blutzellen um 13 000, bei der 2. um 80 800. 
Der Leukocytensturz war bei der 6. elektrischen Sitzung am größten, 
weil sich die Zahl der weißen Blutzellen um 312 000 verringerte. Doch 
fand auch in der 2. Periode eine Verminderung um 102 000 statt. Bei 
der vorletzten elektrischen Sitzung fiel die Zahl der weißen Blutzellen 
noch immer um 46 000. Die Frage, ob eine Elektroimmunität existiere 
oder nicht, hat sowohl ihre biologische, wie ihre praktische Wichtigkeit. 
Wir trachteten ihr näher zu treten. Wir verwendeten anstatt des gal- 
vanischen Stromes den Wechselstrom hoher Frequenz und zählten 
die weißen Blutzellen nicht nur vor der Durchströmung und direkt 
nach dieser, sondern verfolgten in Zeitintervallen von 20 Minuten, 
die ganze Kurve der Leukocytenschwankungen. 

Fall M. G. Ohron. leukämische Myelose. Die Zahl der weißen Blutzellen 
war vor der Behandlung (1. Periode) 160 000. Nach Beendigung einer durch 
4 Wochen fortgesetzten Benzoltherapie war sie 130 000. Im Laufe der nächsten 
4 Wochen verminderten sich die weißen Blutzellen ohne Behandlung langsam 
bis auf 80 000. Nun nahmen wir die 2. Untersuchung (2. Periode) vor. In den 
nächsten 4 Wochen blieb die Zahl der weißen Blutzellen ungefähr 80 000. Jetzt, 
also 8 Wochen nach Beendigung der Benzolbehandlung, erhielt der Kranke thera- 
peutische Röntgenbestrahlungen. Nunmehr verminderte sich die Zahl der weißen | 


| 
| 
Blutzellen auf 46 000, worauf die 3. Untersuchung (3. Periode) folgte. Die Daten | 
zeigt folgende Tabelle. | 


Tabelle I. Fall M. @. 















































Periode I. 
| Gesamt- My- Myelocyten Leukocyten 
zahl elobl. N. E. B. N. | E. 

Vor d. Diath. | 160000 | 160 | 84800 | 800 | 1440 | 67360 | 640 
45 Min. Diath. — — u _— —_ — — 

0 Min.n.d. D. | 108000 | 100 52426 757 1082 49630 1082 
20 Min.n.d.D. | 129000 | 100 60361 700 950 63400 1650 
40 Min.n. d D. || 151000 | 80 72400 906 2718 69769 2718 
60 Min. n.d.D. || 163000 | 150 80100 904 2200 73102 2668 

Periode II. 

Vor d. Diath. 78400 | 156,8 | 54331,8 940,8 784 18816 1332,8 | 1332,8 
45 Min. Diath. _ = _ = — _— = — 

O0 Min.n.d.D. | 52700 | 105.4 | 28352,6 368,9 52,7 21396 897,9 | 843,2 
20 Min.n.d.D. | 52800 | 105,6 | 34161,6 158,4 52,8 17212,8 | 528.0 | 316,8 
40 Min.n.d.D. || 52000 | 52,0 | 30836,0 52,0 52,0 | 17732,0 | 416,0 | 936,0 
60 Min.n.d.D. || 50000 | 100,0 | 27000 750,0 700,0 | 20500 250,0 | 200 











- m Da u u mu 





































































































der Leukämiebehandlung auf Grund neuer Prüfungsmethode. 263 
Fortsetzung Tabelle I. Fall M. @. 
Periode III. 
| Gesamt- | My- Myelocyten | Dans ERUNSEHERL, ; Be 
| Gablun elobl N. E. B. N. B. B. | eyten 
ed. Diath. | 46000 | — | 20746 598 552 20194 598 506 11012 
Min. Diath. —_— | — > _ -_ — — — — 
Min.n.d.D. | 32000 | — | 14048 128 384 16192 192 128 918 
Min.n.d.D. | 42000 | — | 17388 294 630 | 22596 |.) 84 336 672 
(Min.n.d.D. || 46000 | — | 17066 506 230 27048 |: 230 184 736 
| Fall B. R. 
Periode II. 
ır. d. Diath. | 34000 — | 10200 | 272 340 22236 102 272 578 
Min. Diath. — — — = E= _ _ = — 
Min.n.d.D. | 41000, — | 11603 123 369 27306 287 369 11025 
(Min.n.d.D. | 435000 °°— | 13158 344 344 28466, | 172 86 430 
Min.n.d.D. | 30000 | — | 12000 30 180 17070 , | 120 180 200 
Min.n.d.D. | 34000 | — | 12988 68 340 19788 60 68 11680 
Fall P. @. 
Periode II. 
rd. Diath. | 40000 |1680 | 20240 104,0 | 480 | 19080 |ı1440 | 320 | 720 
Min. Diath. | — | — — — — —. | — | — 
Min.n.d.D. | 42000 1764 | 29316 1764 1092 6552 | 252 336 929 
Min.n.d.D. | 39000 11560 | 24208 624 2106 5616 | 390 11489 858 
Min.n.d.D. | 36000 11872 | 23328 648 2016 5624 360 |.2088 936 
(Min.n.d.D. | 40000 11680 | 26960 640 1200 6960 240 880 11940 
| Fall A. J. 
| Periode II. 
br d. Diath. || 63000 °— [16065 315 501 44289 378 252 | 1260 
70000 | —.:| 15820 70 420 50400 770 630 | 1890 
51000 | — 9384 204 102 38454 714 102 | 1938 
43000 | — 8342 86 86 32594 344 258 | 1290 
47000 | — 5648 0 0 35438 546 546 | 1222 
Periode III. 
3r d. Diath. || 31000 | — 5704 621 41867. 23312 310 248 | 1178 
Min. Diath.  — | _ — = _ = — || 
Min. n.d.D. | 27000 | — 4698 216 216 19656 378 432 | 1404 
‚Min.n.d.D. | 34000 | — 6460 68 136 | 24208 816 272 | 2040 
v Alle 30000 | — 6180 180 60 20640 120 420 | 2400 
| Fall 8z. N. 
| Periode II. 
pi d. Diath. | 91000 | — 145955 637 657 42324 546 273 128 
‚Min. Ban. — == — — — 10 — - 
Min.n.d.D. | 80000 ° — | 37920 160 80 40640 400 160 640 
Min.n. d.D. | 82000 | — 138768 492 656 45100 164 104 656 
Min.n.d.D. | 91500 | — 141358 1006,5 | . 843,5 1 46390,5 | 274,5 | 366 | 1281 

















264 F. Stemberg und St. v. Gönezy: Über Indikationen und Kontrolle 


Zur Differenzierung des Blutbildes wurden stets 1000—3000 Zellen aus- 
gezählt. Zu den Myelocyten sind die Promyelocyten, die reifen Myelocyten und 
die Metamyelocyten (bis zur sog. Jugendform des Schillingschen Blutbildes) ge- 
rechnet worden. 

Die Röntgenbestrahlungen wurden durch Herrn Assistenten Dr. N. v. Ratkoczy 
ausgeführt. Apparatur: 2 parallel geschaltete Induktoren, Lilienfeld-Zusatz- 
apparat, Lilienfeldröhre, 4M. A. Belastung, 28cm par. Funkenstrecke. 


Wie wir aus der Tabelle sehen, stürzt vor der Behandlung die Gesamt- 
zahl der weißen Blutzellen auf elektrische Durchströmung und nimmt 


die Zahl sowohl der n. Myelocyten, als der neutr. Leukocyten ab. Nach 


der Benzolbehandlung — der zufolge die Zahl der weißen Blutzellen 
um die Hälfte fiel: verminderte sich auf elektrische Durchströmung 
die Gesamtzahl noch immer, — wenn auch nicht in dem Grade wie vor 
der Behandlung — andauernd. Im großen und ganzen verhielten sich 
die Myelocyten ähnlich. Die neutr. Leukocyten verbleiben nach einer 


mäßigen, rasch vorübergehenden Erhöhung auf ihrem ursprünglichen _ 


Niveau. Nach der Röntgentherapie, als deren Erfolg die weißen Blut- 
zellen auf !/, fallen, vermindert sich die Gesamtzahl der weißen Blut- 
zellen nach elektrischer Durchströmung kaum und kehrt sozusagen 
sofort auf ihr anfängliches Niveau zurück. Auf ähnliche Weise ver- 
halten sich die n. Myelocyten. Auch die Zahl der neutr. Leukocyten 
sinkt auf kurze Zeit und kehrt sofort auf ihren ursprünglichen Stand 
zurück, um sich sodann etwas zu erhöhen. 


Der nächste unbehandelte Fall ist Sz. N (Leukämische Myelose), deren weiße 
Blutzellenzahl 1 Monat vor der Aufnahme auf die Klinik 350 000 betrug. Röntgen- 
behandlung außerhalb der Klinik, hierauf erfolgt nach 4 Wochen die Aufnahme. 
Zahl der weißen Blutzellen 120 000. Leider konnten wir aus technischen Gründen 
sowohl in diesem, wie auch in folgenden Fällen vor der Behandlung keinen elek- 
trischen Durchströmungsversuch anstellen. Davon ausgehend, daß wir außer 
den eben erwähnten Fällen auch bei derzeit unter unserer Behandlung befind- 
lichen 2 Kranken vor der klinischen Behandlung einen ähnlich hochgradigen 
Leukocytensturz auf Diathermie beobachteten (pro Kubikmillimeter über 100 000) 
glauben wir voraussetzen zu dürfen, daß derselbe Sturz auch in diesem Falle zu- 
stande gekommen wäre. Dieser Pat. erhielt nach der Aufnahme eine Milzbestrah- 
lung in 2 Sitzungen (35 cm, F.-Distanz, 3 mm. Al. Filt., 9—9 Min. !/,—!/, H.E.D.). 
Die Zahl der weißen Blutzellen blieb bei 90 000 stehen. Auf eine energische Rönt- 


gentherapie fiel sie auf ca. !/,. Wie aus der Tabelle ersichtlich, sinkt die Gesamt- 


zahl der weißen Blutzellen sowie die der Myelocyten auf elektrische Reizung kaum. 
Dasselbe Verhalten war nach 8 Tagen noch auffallender. 

Bei einem unserer Kranken (B. R., leukämische Mwyelose) war die Zahl der 
weißen Blutzellen 274 000. Röntgenbestrahlung auf die Milz 45cm F. D., 3 mm 
Al. Filt., 10 Min. (1/),H. E. D.). Hierauf schwankte die Zahl der weißen Blut- 
zellen zwischen 235000 und 242 000. Nach 6 Tagen neuerliche Röntgenbestrahlung 
auf die Milz: 45cm. F. D. 3 mm Al. Filt., 15 Min. (!/, H.E.D.). Die Zahl der 
weißen Blutzellen blieb unverändert. Nach 7 Tagen 3. Röntgenbestrahlung auf 


die 3 Felder der Milz. 40cm. F. D. 3 mm Al. Filt. 3 x 12 Min. (!/, H.E.D.). 
Nachdem die Zahl der weißen Blutzellen auch in den nächsten 10 Tagen durch- 


schnittlich 200 000 war, begannen wir eine Benzoltherapie: 4 gm pro die per os. 











der Leukämiebehandlung auf Grund neuer Prüfungsmethode. 265 


Nach 4wöchiger Benzoldarreichung stabilisierte sich die Zahl der weißen Blut- 
zellen zwischen 30 000 und 40 000. Nach der nunmehr vorgenommenen elek- 
trischen Durchströmung verringerte sich die Gesamtzahl nicht, sie zeigte sogar 
im Gegenteil eine mäßige Zunahme. Eine ähnlich mäßige Zunahme zeigten die 
n. Myelocyten und auch die Leukocyten. Es wäre natürlich erwünscht gewesen 
festzustellen ob die leukopenische Reaktion auf die Diathermie vor der Benzol- 
behandlung bzw. nach der erfolglosen Röntgentherapie zustande gekommen wäre. 

Fall A. J. (Leukämische Myelose). Sie bekam schon in der Provinz eine Milz- 
bestrahlung. Trotz unserer brieflichen Anfrage konnten wir keine näheren Daten 
bekommen. L: 305 500, E: 1 780 000. Hb: 41%. Milzbestrahlung: 45 cm. F. D., 
3mm Al. F., 8Min. = !/,H.E.D. In den nächsten 10 Tagen fielen ihre weißen 


 Blutzellen bis auf 60 000. Nach der Diathermie verminderte sich die Gesamtzahl 


der weißen Blutzellen wie die der n. Myelocyten dauernd und erheblich. Nach 
5 Tagen Wiederholung der Milzbestrahlung: 35cm. F.D. 3mm. Al. F. 6Min. 


' —1/, H.E.D. Binnen 2 Wochen betrug die Zahl der weißen Blutzellen 30 000. 


Nach der Diathermie hat sich diese Re sowohl wie die der Myelocyten 
kaum geändert, resp. blieb sie nach einer kurz dauernden Senkung und der folgen- 
den Erhöhung auf der gleichen Höhe. Von einer wiederholten Bestrahlung wurde 
vorläufig abgesehen. 

In folgendem möchten wir einen Fall mitteilen, bei dem der Leuko- 
cytensturz nach einer Benzolbehandlung nicht auszulösen war. Dieser 
Fall kann zum Beweis dessen herangezogen werden, daß für das Zu- 
standekommen der leukopenischen Reaktion nicht eine spezifische Wir- 
kung der Röntgenstrahlen, sondern andere Faktoren, welche selbst 
im Organismus unter den Einfluß von verschiedenen Eingriffen zu- 
stande kommen, verantwortlich zu machen sind. 


Fall F. G. (leukämische Myelose). Zahl der weißen Blutzellen ca. 200 000. 
Nach einer im Spital fortgesetzten Benzoltherapie fiel die Zahl der weißen Blut- 
zellen des in gutem allgemeinen Zustand befindlichen Pat. auf 40 000. E: 2700 000. 
Wie aus der Tabelle zu ersehen ist steigerte sich die Gesamtzahl der weißen Blut- 
zellen nach Leberdiathermie nur wenig, um dann nach kurzer Abnahme auf das 
ursprüngliche Niveau zurückzukehren. Auffallend ist nur, daß gelegentlich der 
Differenzialzählung bei den Myelocyten eine dauernde ausgesprochene Vermehrung 
zu konstatieren war. In den nächsten 3 Wochen bewegten sich die weißen Blut- 


‚zellen bei dem sich wohl befindenden Kranken (E: 2 020 000) zwischen 40 000 


bis 60 000. Jetzt wurde zur Röntgenbehandlung geschritten (40 cm F. D., 3 mm 


Al. Filt., 6 Min. !/, H.E.D.). Hierauf verschlimmerte sich der Zustand des Kranken 


auffallend und es entwickelte sich bei ihm eine Anasarka und Ascites. Die Zahl 
der weißen Blutzellen sank bis 11 600. Nach 10 Tagen erfolgte der Tod. 


Wenn wir die Gesamtzahl der Leukocyten, sowie das Verhalten der 
Myelocyten betrachten, gelangen wir zu folgender Konklusion: In unbe- 


_ handelten Fällen sinkt nach der Diathermie sowohl die Gesamtzahl der 
- Weißen, wie die der Myelocyten bedeutend und für längere Zeit. Wenn 


auf therapeutische Eingriffe eine andauernde Abnahme eintritt (und zwar 
sowohl auf Benzol-Fall M.G., wie auf Röntgen-Fall A. J.) erzielen wir 


' nach der Diathermie eine sog. positive leukopenische Reaktion, welche 
_ jedoch im Vergleich zu derjenigen vor der Behandlung schwach ist. 


Der zweite therapeutische Eingriff hat keine ernsten Folgen. Die Kran- 


266 F. Sternberg und St. v. Gönezy: Über Indikationen und Kontrolle 


ken fühlen sich vollkommen wohl. In diesem Stadium wird aber die 
leukopenische Reaktion negativ und besteht darin, daß sowohl die Gesamt- 
zahl, als die der Myelocyten mehr oder weniger ansteigt. Als wir nun 
in unserem unglücklich verlaufenen Falle in Unkenntnis der Bedeutung 
dieses Verhaltens, die Therapie fortsetzten, wurde sie verhängnisvoll. 
Von dieser Erfahrung ausgehend hofften wir in der leukopenischen 
Reaktion eine biologische Reaktion zu besitzen, welche zur Beurteilung 
der Zulässigkeit einer fortgesetzten Therapie herangezogen werden 
könnte. Auch die untenstehenden Beobachtungen scheinen diese An- 
nahme zu unterstützen. 


Die Zahl der weißen Blutzellen eines Iymphatischen Leukämikers, der seit 
3 Jahren einer chronischen Röntgenbehandlung unterworfen wurde, überschritt 
nie 62 000. Gelegentlich der letzten Untersuchung war die Zahl seiner Weißen 
22 600. Der Kranke ist in gutem Zustand und arbeitsfähig. Nach der Diathermie 
ist noch die Leukopenie schwach auszulösen (L: 22 600) L: 19 000, nach 20 Min. 
L: 20 000, nach 40 Min. L: 21 800, nach 60 Min. L: 22 900. Hier kann uns leider 
* das qualitative Blutbild (wie bei der Myelose) nicht zu Hilfe kommen. Der Kranke 
fühlt sich nach der Röntgenbestrahlung (!/; H.E.D.) auch weiter wohl und ist 
arbeitsfähig. 

Ein anderer Kranker (H. M., leukämische Lymphadenose) bekam seit 1'/, Jahr 
10 therapeutische Bestrahlungen. Vor der letzten Bestrahlung (2 nacheinander 
folgenden Tagen 30 cm. F. D. 3 mm Al. F. 6—6 Min. 1/,—!/, H.E.D.) L: 34 500, 
E: 3 850 000, Hb. 72. Nach der Bestrahlung L: 33 700. Nach 6 Wochen stellte 
sich der Kranke wieder ein, da sich seine Halsdrüsen vergrößerten. L: 50 200, 
E: 4 002 000, Hb. 58%. Mit Rücksicht darauf, daß der Kranke vor 6 Wochen 
eine Röntgenbestrahlung erhielt, sein Allgemeinbefinden schlecht war, sein Hb. 
fiel, und daß auf seiner Mundschleimhaut kleine Blutungen zu sehen waren, nahmen 
seine behandelnden Ärzte von einer weiteren aktiven Therapie vorläufig Abstand. 
Da er sich einer Anstaltsbeobachtung nicht unterwerfen wollte, wurde er zu einer 


Kontrolluntersuchung nach 3 Wochen bestellt. Die leukopenische Reaktion be- 





kräftigte uns in der Auffassung, daß eine energische Therapie verfehlt wäre. Nicht 
nur, daß sich die Zahl der weißen Blutzellen nach der Diathermie nicht verminderte, | 


sondern sie stieg entschieden und dauernd (L: 49 800, sofort nach 40 Min. Durch- 


strömung L: 59200. nach 20 Mir. L: 54 800, nach 40 Min. L: 57 000, nach 60 Min. 
L: 52 000). 


Freilich wäre es verfrüht, wollten wir schon jetzt die letzten Konse- | 


quenzen aus unseren Erfahrungen ziehen. Wir glauben aber vom prak- | 
tischen Standpunkt aus, folgendes festzustellen zu können: Bei un- 


behandelten Leukämikern bekommen wir nach der Diathermie einen 


bedeutenden Leukocytensturz, an welchem bei leukämischer Myelose 
die neutr. Myelocyten stets teilnehmen. Wenn wir nach einer Benzol- | 
oder Röntgentherapie die nämliche Reaktion erhalten, so können 


wir die Behandlung ohne Bedenken fortsetzen. Wenn aber nach einer 
fortgesetzten Behandlung die leukopenische Reaktion nur unbestimmt, 


sogar in entgegengesetzter Richtung ausfällt, so ist es empfehlenswert 
mit der weiteren Behandlung zu warten. Führt aber die Diathermie | 


zu einer dauernden und ausgesprochenen Zunahme der n. Myelocyten, 




















der Leukämiebehandlung auf Grund neuer Prüfungsmethode. 267 


so ist einstweilen ein therapeutisches Eingreifen kontraindiziert. Wir 
glauben, daß bei Durchführung der Leukämiebehandlung — sei es 
durch die Röntgenbestrahlung, Benzol usw. — außer dem allgemeinen 
Zustande des Kranken und außer dem Blutbilde auch durch die leuko- 
penische Reaktion geleitet werden können. Nach dem wir bisher auf 
dem außerordentlich schwierigen Wege der Leukämiebehandlung 
außer dem Blutbilde keine andere biologischen Wegweiser besitzen, 
so dürfte die leukopenische Reaktion auf Diathermie, wenn sie sich, 
wie wir glauben bewähren sollte, als eine neue Methode zur Indikations- 
stellung der Therapie willkommen sein. 

E.F. Müller erwähnt in seiner letztveröffentlichten Mitteilung 
den bedeutenden Leukocytensturz, welcher nach intracutaner Injektion 
eines kleinen Eiweißquantums bei 3 Leukämikern auftrat. Wir selbst 
hatten die Gelegenheit bei 2 Leukämiekranken die Leukocytenkurve 
außer nach erfolgter Diathermie auch nach intracutaner Injektion 
von Olivenöl (3x0,20 ccm) zu verfolgen. In beiden Fällen beobachteten 
wir ein. ähnliches Verhalten der leukopenischen Reaktion. Sollten 
die weiteren Untersuchungen zu ähnlichem Resultat führen, so würde 
die intracutane Methodik die klinische Brauchbarkeit der leukopenischen 
Reaktion bedeutend vereinfachen. 


(Aus der III. medizinischen Klinik der kgl. ung. Pazmäany Peter-Universität in 
Budapest [Direktor: Prof. Baron A. v. Koranyi).) 


Funktionsstörungen der Schilddrüse und durehsehnittliches 
Volum der roten Blutkörperchen. | 


Von 
Dr. E. Földes. 


(Eingegangen am 12. November 1923.) 


Nachdem ich im Zusammenhange mit dem acidotischen Zustand 
der Diabetiker charakteristische Schwankungen des Durchschnitts- 
volums der roten Blutkörperchen (D.-V.) gefunden habe!), ging ich dazu 
über, zu prüfen, ob nicht vielleicht auch andere pathologische Zustände 
mit derartigen Veränderungen in der Größe des D.-V. einhergehen. 
Um dies ausführen zu können, sollte zuerst die normale Größe des D.-V. 
an einem größeren Material noch einmal bestimmt werden. Da mir 
jedoch Gesunde nicht in genügender Zahl zur Verfügung standen, 
bestimmte ich das D.-V. an solchen Kranken, bei denen keine Ursache 
vorhanden war, eine Abnormität im D.-V. anzunehmen, es blieben also 
bei diesen Untersuchungen Kranke mit Anämien, mit acidotischem 
Diabetes usw. ausgeschlossen. In der Absicht, die möglichen Abweichun- 
gen in den D.-V.-Werten bei Kranken mit Funktionsstörungen der 
Schilddrüse zu prüfen, sollten außerdem zuerst auch diese letzterwähnten 
Fälle aus den Untersuchungen scheiden. Dabei ließ die vorher gemachte 
Beobachtung!), daß unter Verhältnissen, welche nach den bisherigen 
Kenntnissen das D.-V. nicht beeinflussen, dasselbe zwischen 83 u? 
und 93 u? schwankt, sich nicht ausnahmslos bestätigen. Es kamen 


nämlich seltener auch kleinere Werte bis 75 «?® und größere Werte . 


bis 104 u vor. Der Mittelwert von 50 untersuchten Fällen war 90 u°, 
Männer und Frauen zeigten keinen Unterschied. Wurde nun weiterhin 
die Verteilung dieser 50 Fälle zwischen den Grenzwerten beobachtet, 
so stellte sich heraus, daß das D.-V. in 4 Fällen zwischen 75 —84 u?, 
in 36 Fällen zwischen 8S5—94 u3 und in 10 Fällen zwischen 95 —104 u? 
lag. Andere Werte wiesen Kranke mit Hyperthyreosen und Kranke 
mit Hypothyreosen auf, unter diesen Begriffen nicht nur M. Basedow 
und Myxödem, sondern alle jene Fälle zusammengefaßt, bei welchen 
deutliche klinische Zeichen einerseits einer Überfunktion und anderer- 








Funktionsstörungen der Schilddrüse usw. 269 


seits einer Unterfunktion der Schilddrüse nachweisbar waren. Von 
Hyperthyreosen hatte ich bei 19 Fällen eine Bestimmung auszu- 
führen Gelegenheit. Dabei fand ich die Grenzwerte zwischen 68— 101 u3 


und die Verteilung in den obigen 3 Gruppen derart, daß das D.-V. 


in 10 Fällen unter 85 «3, in 5 Fällen zwischen 85 —94 3 und in 4 Fällen 
über 94 u3 lag. Es kann also bei Hyperthyreosen, gegenüber den in 
obigem Sinne als normal bezeichneten Fällen, eine Verschiebung der 
Grenzwerte — besonders der unteren — nach unten und jene Tat- 
sache beobachtet werden, daß nicht die mittlere, sondern die untere 
Gruppe die Mehrzahl der Fälle enthält. Dagegen waren bei 7 unter- 
suchten Fällen von Hypothyreosen die Grenzwerte 97 u? und 110 43, 
also deutlich nach oben verschoben, und zwar derart, daß sämtliche 
Fälle in die über 94 u? befindliche Gruppe fallen. Hyperthyreosen, 
Hypothyreosen und Normale (richtiger: klinisch weder Hyper- noch 
Hypothyreosen) verhalten sich also in Bezug auf das D.-V. untereinander 
verschieden derart, daß Hyperthyreosen eine Neigung zu unternormalem 
D.-V., Hypothyreosen eine Neigung zu übernormalem D.-V. aufweisen, 
wobei die Normalen eine Mittelstellung einnehmen. Beigefügte Tabelle 


‚soll zur Veranschaulichung dieser Verhältnisse dienen. 





























Es entfallen in die Gruppe 
unter 85 «°| zwischen 85-94 u? | über 9 «® 
BER % Wu) 
Hyperthyreosen . . 52,5 | 26,5 21,0 
Normale ©. 80 | 72.0 20,0 
Hypothyreosen . . 0,0 | 0,0 100,0 


Diese Beobachtungen, denen einerseits in der Diagnostik der Schild- 


drüsenfunktionsstöorungen eine Bedeutung zukommen könnte, könnten 


andererseits noch in einer anderen Hinsicht Interesse beanspruchen. 
Nach Limbeck?), Hamburger?), neuestens besonders Ege*) u.a. ist nämlich 
das Volum der roten Blutkörperchen eine Funktion der Wasserstoffzahl 
der umgebenden Flüssigkeit derart, daß die Blutkörperchen zwischen 
gewissen Grenzen mit zunehmender Wasserstoffzahl anschwellen. 
mit abnehmender Wasserstoffzahl schrumpfen. Solange nun keine 
andere Bedingung der Änderungen des D.-V. bewiesen ist, kann mit 
Wahrscheinlichkeit angenommen werden, daß — wie in den obigen 
invitro-Versuchen Limbecks, Hamburgers und Eges — die Änderungen 
des D.-V. auch in vivo durch Änderungen der Plasmawasserstoffzahl her- 
vorgerufen werden können, daß also von der Größe des D.-V. auf die 
Wasserstoffzahl des Plasmas geschlossen werden kann, wie ich dies in dem 
Falle der diabetichen Acidose schon versuchte!). Es müßte dann an- 
genommen werden, daß Hyperthyreosen mit kleinem D.-V. eine alkalischere, 


270 E. Földes: Funktionsstörungen der Schilddrüse usw. 


Hypothyreosen mit großem D.-V . eine sauerere blut-, richtiger Plasmareaktion 
besitzen, daß also bei Hyperthyreosen eine Neigung zu einer alkalischeren, bei 
Hypothyreosen dagegen eine Neigung zu einer sauereren Plasmareaktion 
vorhanden ist. In diesem Falle könnte die alkalischere Plasmareaktion 
des Hyperthyreotikers durch die größere, und die sauerere des Hypothy- 
reotikers durch die geringere Lebhaftigkeit des Eiweißstoffwechsels 
bedingt sein. Die Lebhaftigkeit des Eiweißstoffwechsels dürfte näm- 
lich auf die Menge des Ammoniaks — also auf die Menge des einen 
der Endprodukte des Eiweißstoffwechsels —, welche in gegebenem 
Falle zur Neutralisation der Säuren zur Verfügung steht, einen Ein- 


fluß haben. Dadurch könnten aber in der (aktuellen) Blutreaktion 


die angedeuteten Verschiedenheiten entstehen. 


Literatur. 
1) Földes, Diabetisches Oedem und Acidose, Wiener Archiv f. inn. Med. III. 
2) Limbeck, Pathologie des Blutes. ?) Hamburger, Otmotischer Druck und Ionen- 
lehre. *) Ege, Biochemische Zeitschrift 109. 


« 
Pa GE da 


m 7 —————— ln 7 m mn 0.00 = = 
er ———— 











(Mitteilung aus der III. Medizinischen Universitätsklinik Budapest [Direktor 
| Prof. Dr. Baron Alexander v. Koränyi].) 
| 


| Über den diagnostischen und prognostischen Wert 

der Bestimmung des Chlor- und Zuckergehaltes und des 

‚ Refraktionswertes im Liquor cerebrospinalis mit besonderer 
Rücksicht auf Meningitis'). 





| 


| 
| Von 
| Dr. Ladislaus Csäki. 


| (Eingegangen am 12. November 1923.) 


In der Praxis sind naturgemäß nur Liquoruntersuchungen ver- 
 wertbar, die mit relativ einfachen Mitteln und in wenigen Kubik- 
‚ zentimetern des Liquors anzustellen sind. Diesen Bedingungen ent- 
| sprachen die Globulinreaktionen, die Wassermannreaktionen, die 
Untersuchung des Zentrifugats usw. 

‘Die chemische Durcharbeitung des Liquors wurde dadurch verhindert, 
daß sie sehr viel Liquor benötigte und die chemischen Methoden zu 
kompliziert und für praktische Zwecke noch nicht ausgearbeitet waren. 
Mit der Verbreitung der exakten und einfachen Mikromethoden 
ist es nun möglich geworden, von den chemischen Veränderungen des 
 Liquors diejenigen herauszufinden, die dem Kliniker aus diagno- 
 stischem Gesichtspunkte den gleichen Nutzen bringen: wie die anderen, 
‚ schon allgemein gebrauchten Liquoruntersuchungen. 


I. Chlor-Untersuchungen. 


In der Literatur sind nur ganz vereinzelte Angaben zu finden?). Eskuchens 
' kleine, wohlbekannte Monographie: „Die Lumbalpunktion‘“ gibt als normalen 
, NaCl-Wert im Liquor 0,70 bis 0,80%, an und betont, daß zwischen den Wert- 
‚ angaben der einzelnen Autoren große Unterschiede zu beobachten seien. Einzelne 
, Untersuchungen zeigten, daß bei Meningitiden meistens niedrigere Werte zu finden 
‚sind; diese Mitteilungen aber stützten sich auf ältere Untersuchungen französischer 
‚ Autoren, die nicht mit einwandfreier Methodik ausgeführt worden sind und bald 

in Vergessenheit gerieten. 


1) Vorgetragen im Kgl. Budapester Ärzteverein am 3. II. 1923. 
| 2) Die letzthin veröffentlichten Arbeiten von Depisch- Richter (Wien. Arch. 
f. inn. Med.) und Neuda (Wien. klin. Wochenschr.) sind erst erschienen, nachdem 
_ ich meine Untersuchungen abgeschlossen und im Ärzteverein vorgetragen hatte. 
' (Siehe Orvosi Hetilap, 10. II. 1923.) 





219) L. Osäki: 


Letzthin veröffentlichte Fräulein Richter - Quitiner!) einige Untersuchungen“ 
über den Cl-Gehalt des Liquors. Sie fand denselben normalerweise 0,368 bis 
0,424% Cl (d. h. 0,61 bis 0,70% NaCl) niedriger bei Nephrosen, höher bei 
Hypertonie. 

Zu meinen Untersuchungen benutzte ich ausschließlich die Koranyi- 
sche Chlorbestimmungsmethode in der von Rusznyak zur Mikromethodik 
ausgearbeiteten Form?). Ich möchte hier betonen, daß, falls die Bestim 
mung nicht im frischen Material durchgeführt wird, dasselbe luftdicht 
verkorkt aufbewahrt werden muß, da die durch Verdunstung verursacze , 
Eindickung des Liquors zu bedeutenden Fehlern führt. 

Meine Ergebnisse sind in der Tab. I zusammengefaßt: 


Tabelle I. Liquor-NaCl-%. 


Grenzwerte 
Normale Fälle (20) (hauptsächlich negativer Luesverdacht und funktio- 
nelle Nervenfälle): 0,684 — 0,689 — 0,700 (2 Fälle); — 
0,701 — 0,707 — 0,713 — 0,715 — 0,719 (2 Fälle) — 0,723 
(2 Fälle) — 0,724 (2 Fälle) — 0,725 (2 Fälle) — 0,726 
(2 Fälle) — 0,728 — 0,731...» . 2. 2. nr 23... 0,684 055 
Meningitis tbe. (15 Untersuchungen): 
LI Ar 11171022 EN E,580 
15..111791922 199207805577 
2,4503 V31922,74255204..0,541 
12:,1V...19227 7,2, 2250,578 
183172219222. 272701,536 
19,1 V.21 922 79 291457 
>. 14. IV 1.1923 9770 770429 
IOHV.L192370KUN GE 20,641 
19. V1..1923 . 0,558 
4—9. 0,525—0, 556 
0,560—0,571 
0,592 0,595 N 2 sn a) Pe 
Serumchlor stark vermindert. (Serum NaCl : 0,481—0,505%) 
Meningitis epid. (3. Untersuchungen): 
8.111, 21922 70 72222270659 
10.1 117192250°7707272.20.033 
13..111219223 us 0 DO EI en . : 0,509—0,659 
Meningitis luetica (4 Untersuchungen): 
2,.X 1741022 BE 290632 
18. 111022 01 170 
22IXIEN1922 al ‚220560632 e 
(Nach Genesung 8. 11.1923: 0,752%) u 2%. .... 0,632—0 ‚682 


Be NaCl : 0,59%) 
Meningitis serosa (2 Untersuchungen): 
18.051922 21005608 
25. V. 1922 ;....0674 0. nn Se 





1) Biochem. Zeitschr. 133, 417. 1922. 

2) Biochem. Zeitschr. 114, 23. 1921. 

?2) Vom 14. VI. 1923 an täglich 10—20 ccm 10 proz. NaCl- Lösung intravenös. 
Die Cl-Veränderung wird aber dadurch — wie ersichtlich — nur in den ersten Tagen 
nicht größer. 











—— IE en 





Dn. 








Über den diagnostischen und prognostischen Wert usw. 273 


Klinisch Meningitis-verdächtige Fälle (4): 


‚l. Gehirnabsceß . . . 0,694 

2. Parotitis epid. ... 0,710 

Belber Dulm.ı. 2, „0,780 
EI I A EEE 0,694—0,730 
- Encephalomeningitiden (3): 0,634—0,643—0,667 . 2: 2 2 22.0. 0,634—0,667 
| (Serumchlor aber normal!) (Serum NaCl: 0,56%—0,579%) 
Encephalitiden (5): 0,723 — 0,733 — 0,734 — 0,736 — 0,760. . .: 0,728—0,760 


Lues des zentralen Nervensystems (20): 
a) Lues cerebri: 0,706 — 0,720 — 0,766 
b) Tabes dors.: 0,709 — 0,711 — 0,714 — 0,715 — 0,721 — 0,726 — 
0,738 — 0,742 (2 Fälle) — 0,757 — 0,772 
. c) Paralys. pr.: 0,701 — 0,723 — 0,730 — 0,745 


d) Meningomyel. lu.: 0,714 — 0,750. . . 2.22.22... .. 0,706—0,772 
In Anamnese Lues, aber WaR. im Blut und Liquor negativ (3) 

Bl BODEN, 0,749—0,806 
Nephritiden (4): 0,708 — 0,716 — 0,747 — 0,813. . . 2. 2... 0,708—0,813 
Diabetes (5 Untersuchungen): 

BRES1T. 9519227... > 0,885 

5.11.1922 ..... 0,744 (Nach Diät!) 

BEUTE ODE a N 0,707—0,835 

ET TRETEN TEE U ERTELDER, 0,707 


Spinaltumor (2): 0,639 — 0,645 

(Serumchlor aber normal oder sogar erhöht!) (Serum NaCl: 0,5%2—0,645) 
Jackson-Epilepsie (2 Fälle 11 Untersuchungen im fraktion. unters. Liquor). 

1. In 6 Portionen & 10 ccm zwischen 0,715 und 0,722 


2. In 5 Portionen & 10 ccm zwischen 0,724 und 0,727 . . 0,715—0,727 
Sclerosis polyins (4): 0,706 — 0,715 — 0,722 — 0,724. . 2... 0,706—0,724 
TAN ERD LP Bor EB RETERERE aa 0,7 


Vor allem ist es ersichtlich, daß der Cl-Gehalt des normalen Liquors 
im Gegensatze zu den oben genannten Angaben — nur zwischen engen 


‚Grenzen schwankt, wie auch der Cl-Gehalt des normalen Serums; 


während aber letzterer dem Werte 0,55—58%, NaCl entspricht, fand 
sich im Liquor der Wert von 0,68—0,72% NaCl, d.h. nun etwa 25% 
mehr, eine Tatsache, die vielleicht durch den geringeren Eiweißgehalt 


“des Liquors (Donnansches Gleichgewicht) zu erklären ist. 


Abweichungen von diesen Normalwerten fanden sich — im Sinne 
eines erhöhten Cl-Gehaltes — bei verschiedenen Krankheiten, so bei 


‚ einigen Encephalitiden, bei dekompensierten Nephritiden, bei einigen 
' Diabetikern und sehr oft bei den luetischen und metaluetischen Er- 


krankungen des zentralen Nervensystems. 
Etwas vermindert fand ich die Werte bei einigen Encephalomenin- 


' gitiden und Rückenmarkstumoren; bedeutend subnormaler Cl-Gehalt 


fand sich dagegen nur in den Fällen von Meningitis basilaris, gleich 

ob tuberculosa, luetica oder epidemica. Es ward aber durch die gleich- 

zeitig durchgeführte Serumchloruntersuchung die Unterscheidung dieser 

Cl-Verminderungen dadurch ermöglicht, daß es sich herausstellte, daß 

bei den Meningitiden die Cl-Werte im Blutserum ebenfalls vermindert 
Z. f. klin. Medizin. Bd. 100. 18 


274 L. Osäki: 












sind, bei Encephalitiden und Rückenmarkstumoren dagegen blieben 
sie völlig normal oder sind sogar erhöht. Ei 

Die Verminderung des Liquorchlors erreichte bei meinen Meningitis- 
fällen einen so hohen Grad — die Werte sanken am Ende der Krankheit Ä 
bis zu 0,45% NaCl! — wie ich sie bei keiner anderen Krankheit finden 
konnte; bei Meningitis war sie dagegen immer nachweisbar. AM 

Die CI-Gehaltsbestimmung des Liquors kann daher bei Ver- 
dacht auf Meningitis die Diagnose in positiver oder negativer Weise 
entscheiden; bei einem Cl-Gehalt geringer als 0,60 0,62% NaCl, isb 
die Diagnose auf primäre Meningitis gesichert. Andererseits spricht 
in zweifelhaften Fällen das etwas verminderte Liquorchlor mit nor. 
malem Serumchlorwert für Encephalitis. : 

Wir haben den diagnostischen Wert dieser Untersuchung in mehreren 
Fällen geprüft, eine‘ viel weitere Verbreitung kann sie aber in der 
Kinderpraxis erreichen, wo das Krankheitsbild der Meningitis von 
mehreren Krankheiten nachgeahmt wird. u 

Auch Matthes erwähnt in seinem bekannten Lehrbuche mehrere 
Fälle, in denen die Differenzierung der Meningitis von Gehirnabsceß ode 
Gehirntumor nur durch eine längere klinische Beobachtung ermöglicht 
wurde; er betont aber auch, daß die Differentialdiagnose in gewissen 


‘X 
® 


Fällen sozusagen ‚unmöglich ist. I 
Unten führe ich kurz einige Fälle vor, bei denen am ersten Beob- 
achtungstage auf Grund der klinischen Untersuchung der Verdacht. 
auf Meningitis auftauchte und die sofort ausgeführte Liquor- und evtl. 
Blut-Cl-Gehaltsbestimmung die Frage gegen Meningitis entschied, 
in anderen Fällen dagegen diese Diagnose sicherte. 
Wir müssen nun bedenken, was es für den Kranken und seine 
Angehörigen in zweifelhaften Fällen bedeutet, wenn wir durch unser 
Untersuchungen Meningitis rasch und mit Sicherheit ausschließen 
können! | 
In allen Serienuntersuchungen meiner Meningitisfälle konnte ich 
feststellen, daß das Liquorchlor mit der Progression der Krankheit 
stufenweise herabsinkt, auch unter den Wert des normalen Serumchlor- 
sehaltes. Ich betone aber, daß in diesen Fällen die Verminderung 
des Liquor-Cl-Gehaltes stets mit einer bedeutenden Abnahme des. 
Serumchlorgehaltes (bis 0,48 —0,50% NaCl) einhergeht. Im Gegensatz 
dazu steht das Verhalten des Zuckers, wie dies jüngst der japanische 
Autor Kokichi Mifuji nachwiest!). Er konnte nämlich zeigen, daß 
in seinen Meningitisfällen der Liquorzucker subnormale, der Blutzucker 
dagegen erhöhte Werte aufwies. 
Ich muß noch bemerken, daß in meinem Falle von Meningitis basil. 
luetica die Verminderung des Liquorchlors von keiner Abnahme des 





1) Tokyo igakkwai zashi 1921, Nr. 11. 


| 











t 


| 
! 


| 





Über den diagnostischen und prognostischen Wert usw. 275 


Serumchlors begleitet wurde und bei der Heilung der Krankheit das 
Liquorchlor ziemlich über den normalen Wert gestiegen war; welche 
Daten übrigens aus der Krankengeschichte ersichtlich sind. 

Diese Untersuchungen machen auch die Annahme von Haan und 
Creveld!), daß- das Liquor als das Dialysat oder Ultrafiltrat des 
Serums zu betrachten sei, sehr unwahrscheinlich. Die Tatsache, daß 
einzelne Substanzen im Liquor in ganz anderen Mengenverhältnissen 
enthalten sind als im Blutserum, könnte zwar für Stoffe, die im Liquor 
in geringerer Menge aufzufinden sind, noch damit erklärt werden, 
daß die sog. „gebundenen Stoffe“ des Serums — wenn wir diese Hy- 
pothese überhaupt gelten lassen wollen — dasselbe nicht verlassen 
und in den Liquor hineindringen können. Der Umstand aber, daß 
im Liquor um etwa 25% mehr Cl als im Blutserum sich befindet — 
die Hypothese des ‚‚nicht lösenden Raumes‘ würde auch nur einen Unter- 
schied von höchstens 8%, erklären —, ferner daß unter pathologischen 
Verhältnissen diese Konzentrationsdifferenzen noch bedeutend zu- 
nehmen — der Liquor-Cl-Gehalt nimmt ab, der Globulingehalt stark 


| zu —, ist mit dieser Annahme keineswegs zu erklären. Vieleher müssen 
‚ wir den Liquor als ein wahres Sekret ansehen, welches von der Zusammen- 


setzung des Serums, besonders in pathologischen Fällen, so sehr differiert, 
daß wir dies mit einfacher Änderung der Permeabilität nicht erklären 
können. Es müßte doch in letzterem Falle die Konzentrationsänderung 


‚ einer jeden Substanz von gleicher Richtung und von annähernd gleichem 


Grade sein. Als am wahrscheinlichsten können wir annehmen, daß 
bei dem Unterschied der Werte zwischen Blutkörperchenehlor und 
Plasmachlor, andererseits zwischen Plasmachlor und Liquorchlor, das 
Donnansche Gleichgewicht die Hauptrolle spielt. 

Nun bleibt noch die wichtige Frage, nach der Ursache der Liquor- 
chlorverminderung der Meningitisfälle offen. Nachdem ich in meinen 
Fällen auch den Cl-Gehalt des Serums stark erniedrigt fand, erschiene 


es vielleicht angebracht, die Verminderung des Liquorchlors als die 


einfache Folge der Abnahme des Serumchlors zu betrachten. Hier 
müssen wir aber bedenken, daß die Abnahme des Serumschlors höchstens 
15% erreicht, während der Cl-Gehalt des Liquors um 35 —40%, sinken 
kann. Außerdem kennen wir Krankheiten, wo der Cl-Gehalt des Serums 
erniedrigt ist (Diabetes), während das Liquorchlor sich normal verhält. 
Andererseits sinkt das Liquorchlor bei Encephalomeningitiden ohne 
eine Erniedrigung des Serumchlors. 

Als Ursache könnte auch die gesteigerte Chloravidität der Gehirn- 


 substanz in Betracht gezogen werden. Darüber könnte die Bestimmung 


des prozentualen Cl-Gehaltes des meningitischen Gehirns Aufklärung 
geben. 


1) Biochem. Zeitschr. 123, 190. 1921. 
18* 













276 L. Csäki: 
Desgleichen steht auch die Frage offen, weshalb der Liquor-Cl- 
Gehalt in den Fällen von gewissen Encephalitiden, Diabetes, Lues 
erhöht ist. 
Als erwähnenswert führe ich hier den Fall einer 33 jährigen Kranken 
an, deren Mann an Paralysis progressiva starb und deren einziges Kind 
an Lues congenita litt. Die wiederholt ausgeführte Wassermannreaktion % 
in dem Blute des Kranken gab immer negatives Ergebnis, ebenso war 
auch bei uns diese Reaktion im Blute wie auch im Liquor negativ, 
Die üblichen Liquorreaktionen zeigten auch keine Abweichung vom 
Normalen, das NaCl gab dagegen einen so hohen Wert — 0,751% —E 
welchen ich in normalen Fällen nie beobachtete. 2 
Gleichfalls fand ich in 2 Fällen einen höheren Liquor-NaCl-Wert | 
(0,749 —0,806%), wo in der Anamnese Lues und antiluetische Behandlung 
vorlag, und es waren doch alle Blut- und Liquoruntersuchungen (auch 
Wassermann) negativ. Es scheint daher, dab nach luetischer Infektion 
der Liquor-Cl-Gehalt öfter auch dann noch einen höheren Wert 
aufweist, wenn die Wassermannreaktion schon negativ ist. Daß der höhere“ 
Cl-Gehalt und die Wassermannreaktion im Liquor zueinander in keiner 
unmittelbaren Beziehung stehen, zeigt auch der Umstand, daß ich 
wassermannpositive Liquoren mit normalem Cl.-Gehalt fand. ; 
In einem Falle von Diabetes fand ich bei der Aufnahme nebst Hyper- 
olukämie (0,286%) einen hohen Liquor-Cl-Gehalt (0,835% NaCl) 
und nach 5tägiger diätetischen Behandlung die Abnahme beider Werte 
(0,182%, Glucose bzw. 0,741% NaCl). Wie aus den diesbezüglichen An- 
saben der Literatur bekannt, ist das Serumchlor bei der diabetischen 
Hyperglukämie verringert und steigt während der diätischen Behandlung 
auf den normalen Wert. Die Liquor- und Blut-Ci-Werte der Diabetiker 
ändern sich also während der Behandlung in entgegengesetzter Richtung. 
Der Befund von Mestrezat und Legroux!), daß die Demineralisation des Liquors 
auf Meningitis spezifisch sei, ist zweifellos mit der Cl-Verminderung erklärbar. Mit 
derselben hängt auch die Beobachtung Palmegianos?) zusammen, daß die Gefrier- 
punktserniedrigung des meningitischen Liquors im Anfange der Krankheit abnimmt. 
Er fand aber auch, daß im späteren Verlaufe der Krankheit die ö des Liquors 
sogar über den normalen Wert ansteigt; eine Tatsache, die wir nur mit der An- 
nahme erklären können, daß dann die Achloriden im Liquor sehr stark zunehmen, 
nachdem unsere Beobachtungen zeigten, daß das Liquorchlor bis zum Ende der 


Krankheit stets abnimmt. 

Hier möchte ich nun einige Fälle anführen, bei welchen die Liquor-Cl-Bestim- 
mung die Entscheidung der Diagnose rasch ermöglichte. 

1. Fall. Georg W., 40 Jahre. Plötzlich mit Fieber, Erbrechen und starken 
Kopfschmerzen erkrankt. Noch bei der Einlieferung (7. II. 1922) ständiger Brech- 
reiz und große Kopfschmerzen. Die Bewegungen des Kopfes sind schmerzhaft. 
Steifer Nacken. Fieber 40°. Pulsus 80! Leukocytengehalt 7400. Qualitatives 


1) Cpt. rend. des seances de la soc. de biol. 83, 524. 1920. 
2) Zit. nach Kongr.-Zentralbl. 6,.620.71923. ie; 


Über den diagnostischen und prognostischen Wert usw. 277 


Blutbild normal. Im Urin Albumen in Spuren. Die unverzüglich ausgeführte 

Liquoruntersuchung ergab normalen Befund, NaCl = 0,710%, also normalen Wert. 
_ Der weitere Verlauf ließ die Diagnose einer Parotitis epidemica unschwer stellen. 
Die scheinbare Genickstarre wurde durch die schmerzhafte Parotis verursacht, 
deren Schwellung im Anfang nicht nachweisbar war. 

2. Fall. Im April des Jahres 1922 bekam ich von auswärts den Liquor eines 
jungen Mädchens mit der Bemerkung zugeschickt, daß die Diagnose auf Grund der 
klinischen Symptome zwischen Gehirnabsceß und Meningitis schwanke, aber nicht 
mit Bestimmtheit entschieden wäre. Die Liquor-Cl-Bestimmung gab normalen Wert: 
0,694%, und da die Kranke nicht am Anfang ihrer Krankheit war, glaubte ich 
' Meningitis ausschließen zu können. Bei der bald stattgefundenen Operation fand 
_ der Chirurg den Absceß und die Kranke genas. 

3. Fall. G. F., 22 Jahre, Beamtin. Steht seit 3 Jahren als Lungenkranke in 
ständiger Behdlene Im Anfang Februar des Jahres 1923 Beginn einer Tuber- 
kulinkur. Am 20.1I. klagt die Kranke über unerträgliche Kopfschmerzen, die 
bisherigen subfebrilen Temperatursteigerungen werden von Temperaturen bis 
über 39° abgelöst. Nächsten Tag trübes Sensorium, Opisthotonus, Erbrechen, 
Doppeltsehen, Kernig positiv. Auf Grund dessen stellte ihr Arzt die Diagnose 
auf Meningitis tbc. Die Untersuchung des Lumbalpunktats zeigte aber normale 
Verhältnisse, und zwar war das Liquor-Na(l eher etwas höher als normal: 0,730%. 
Daher konnte ich Meningitis tbc. ausschließen, obzwar das klinische Bild diese 
Diagnose bestätigen schien. Nach 2—3 Tagen sind alle meningitischen Symp- 
tome verschwunden, die Kranke wurde wieder subfebril und ist noch jetzt, nach 
2 Monaten, in dem gleichen Zustand!). 
| 4. Fall. Frau Gr. B., 48 Jahre. Angeblich schon seit dem Februar 1922 krank. 
Beginn mit Schüttelfrösten, Fieber, Brechreiz, Appetitlosigkeit, Kopfschmerzen. 
 Derselbe Zustand bis zur Aufnahme am 16. IV. 1922. Sensorium trüb, somnolent. 
_Pupillen reagieren. Linksseitige zentrale Facialis und Hypoglossuslähmung. 
_ Linksseitige spastische Hemiparese mit positivem Babinsky. Brust und Bauch- 

organe o. B. Milz nicht palpabel. Im Urin Albumen in Spuren. "Temperatur 
37,8°. Pulsus 100. Leukocytenzahl 10 500. Blutbild im Sinne von Schilling nach 
links verschoben, relative Lymphopenie. Augenhintergrund o. B. Wassermann- 
reaktion negativ. Kein Kernig, kein Opisthotonus. Auf Grund dieser Symptome 
stand die Annahme eines Gehirnabscesses sehr nahe. Im wasserklaren Liquor 
fielen alle üblichen Reaktionen negativ aus; aber der NaCl-Gehalt ist 0,598% ! 
d. h. ein ganz ausdrücklich meningitischer Wert. Nach der Lumbalpunktion bessert 
sich der Zustand der Kranken auffallend; das Sensorium klärt sich. Die am 25. V. 
‘wiederholte Lumbalpunktion zeigte einen NaCl-Gehalt von 0,671%, also beinahe 
normalen Wert, worauf wir die Diagnose auf heilende Meningitis serosa stellten, 
als Komplikation ihrer‘septischen Grundkrankheit. Die Kranke ging später mit 
den Symptomen einer septischen Endokarditis zugrunde und die Sektion konnte 
im Gehirn und seinen Häuten nichts auf Meningitis oder Absceß Verdächtiges 
nachweisen. 
5. Fall. Frau St. A., 38 Jahre. Krank seit dem 28. II. 1922. Beginn mit 
Kopfschmerzen, Erbrechen, Fieber, wurde am 8. III. 1922 in besinnungslosem 
- Zustande eingeliefert. Linksseitige spastische Parese. Beiderseits etwas gesteigerte 
Patellarreflexe. Links Babinsky positiv. Pupillen reagieren; Augenbewegungen frei. 
Kernigsches Symptom nicht nachweisbar, kein Opisthotonus. Temperatur 37,7°. 
Pulsus 84. Der Liquor-Cl-Gehalt noch an demselben Tag bestimmt; er war 0,659% ; 
nach 2 Tagen 0,637%, und nach 4 Tagen 0,509%, also ein bestimmt meningitischer 
Wert. Bald konnten wir im Liquor auch intracellulare gramnegative Diplokokken 








1) In letzter Zeit haben wir noch einen ganz analogen Fall beobachtet. 


278 L. Csäki: 


nachweisen, und auch der klinische Verlauf und die Sektion rechtfertigten die 
Diagnose einer Meningitis epidemica. 

6. Fall. P. L., 25 Jahre, Diener. Vor 6 Monaten luetische Infektion. 2 voll- 
ständige Hg-Salvarsankuren. Seit 3 Wochen nächtliche Kopfschmerzen. Fieber 
bis 38°. Aufnahme am 26. X. 1922. Brust und Bauchorgane o. B. Neuritis n. 
optiei 1. u. Pupillen reagieren. Kernig negativ. Starker Opisthotonus. Leuko- 


cytenzahl 7600, relative Lymphopenie. Wassermannreaktion im Blute negativ. 


Temperatur 38°. Pulsus 90. Lumbalpunktion am 2. XI. 1922: Liquor trüb, Globulin- 
reaktion stark positiv. Pleocytose, überwiegend Leukocyten. Wassermannreaktion 
im Liquor stark positiv. NaCl ist 0,682%, also an der Grenze des normalen, so daß 
wir Meningitis tbe. ausschließen konnten. — In den nächsten Tagen Kopfschmerzen, 
Erbrechen, Fieber bis 38°. Trotz der eingeleiteten Schmierkur keine Besserung. 
Lumbalpunktion am 18. XII.: NaCl ist 0,647%. Von nun an bekam der Pat. auch 
Jod. Allgemeinbefinden schlecht; der Kranke ist sehr schwach, somnolent. Die 
Wassermannreaktion wurde auch im Blute stark positiv. Liquor NaCl am 28. XII. 
0,632%, also ein entschieden meningitischer (nicht tuberkulöser !) Wert (Blutserum- 
NaCl ist normal: 0,579%,). Der Nervenzustand änderte sich derart, daß wir licht- 
starre Pupillen, Anisochorie, beiderseitige Abducensparese feststellen könnten mit 
positivem Kernigschem Symptom. Im Januar 1923 Beginn einer sehr behutsamen 
Salvarsankur (insgesamt 31/, g), worauf rasche Besserung eintrat. Am 8. II. 1923 
fühlt sich der Kranke kräftig, ohne Schmerzen, fieberfrei. Die Globulinreaktionen 
im Ligor noch stark positiv. L.-NaCl ist 0,752%! also bedeutend höher als normal, 
Nach einigen Tagen wurde der Kranke als arbeitsfähig entlassen. 


II. Untersuchungen über den Zuckergehalt des Liquors und Glukolyse. 


Die Literatur der Liquorzuckeruntersuchungen ist ziemlich alt und groß. [Aus- 
führlich behandelt in den Arbeiten von Löwy!), Haan und Creveld?), Kahler?), 
Steiner?).] y 

Französische und englische Autoren [Sicard, Mestrezat, Fine und Myers, 
Weston usw.5)] haben schon in ihren älteren Untersuchungen betont, daß bei 
Meningitiden der Liquorzuckerwert so weit herabsinkt, daß am Ende der Krankheit 
im Liquor überhaupt kein Zucker mehr nachweisbar ist. Die Angabe Löwys, daß bei 
Meningitis der Liquorzucker normal und sogar erhöht ist, steht allein in der 
Literatur. Zuletzt wies Steiner an großem Material nach, daß die alten, vergessenen 
Untersuchungen standhaltig sind und die Bestimmung des Liquorzuckergehaltes 
in der Pädiatrie besondere diagnostische Bedeutung hat. 


Die Untersuchungen ergaben bei Encephalitis, Epilepsie, Diabetes höhere 


Werte, bei Meningitis niedrigere. 


Meine eigenen Untersuchungen bestätigen die Angaben der Literatur 


mit der Bemerkung, daß bei den Meningitiden die Verminderung 
des Liquorzuckers zwar immer nachweisbar, aber in einigen Fällen 
doch so nahe der unteren Grenze des normalen Wertes steht, daß 


| 


| 
| 


| 
| 


wir dieselbe für die Diagnose nicht als entscheidend betrachten können. | 
Andererseits ist die einfache Cl-Bestimmung nach Koranyi der Bang- 
schen Zuckerbestimmung auch aus methodischen Gründen durchaus | 





überlegen. 
1) Zeitschr. f. klin. Med. 83, 285. 1916. ap 1 
3) Wien. klin. Wochenschr. 1922, 8. 4) Orvosi Hetilap 1923, 73. | 


5) Zit. nach Haan und ÜOreveld. 





Über den diagnostischen und prognostischen Wert usw. 279 


Tabelle II. Liquorzucker. 





| mg% (50 = 0,050%). Grenzwerte 
Normale Fälle (8): 41, 48 (2 Fälle), 50 (2 Fälle), 56, 57, 60. . . 0,041—0,060 
Meningitiden (5): 20, 38, 41, 43 (2Fäll) .. .... 2220. 0,020—0,043 
78): 108, 114,123, 131, 136,.139, 148, 1870.70 2 Wu 0,105—0,187 
ee 0,004 
Lues des zentralen Nervensystems (5): 47, 55, 65, 67, 77... ..  0,047—0,077 


\ Jackson-Epilepsie (2 Fälle; 11 Untersuchungen) im fraktion. Liquor): 
1. In 6 Portionen & 10 ccm 84-89 
Ben Portionen & 10:00m 79-87. sen a un ea ske 0,079—0,089 


Es wurden auch einige Untersuchungen zur Entscheidung der Frage 
‚ angestellt, wieweit die Glukolyse bei Zuckerbestimmung in nicht frischem 
| Liquor als Fehlerquelle in Betracht kommen kann. Die Ergebnisse 
der diesbezüglichen Untersuchungen sind bisher nicht eindeutig. Des- 
halb wiederholte ich die Liquorzuckerbestimmungen nach 3—48stün- 
digem Stehen teils bei Zimmertemperatur, teils im Thermostat bei 37°C. 





Tabelle III. Glukolyse. 









































| Bipgnore | ger EN3 N | en pri Knakk 4 Stunden| Bemerkungen 
 Fö., Diabetes 0,105 0,055 | a nn — : | Zimmertemp. 20° 
Diabetes 0,143 DISK2 5 0.27 — 0,114 | Zimmertemp. 
E Diabetes 0,143 ee ei 0,133 | Zimmertemp. 
‚ Diabetes 0,143 0,141 | — 0,126 0,124 | Thermostat 37° 
> En betes 0,187 — | 0,173 — Zimmertemp. 
N., Diabetes 0,187 — | — 0,213 — Thermostat 
E St., Mening. epid. | 0,043 0,025 En — — Zimmertemp. 
Sc., Normal 0,060 — 0,065 — — Zimmertemp. 
Tabes d. 0,067 0,068 — —_ — Zimmertemp. 
= ‚ Mening. tbe. | 0,038 0,035 ER _ ek Zimmertemp. 


Wie aus Tab. III ersichtlich, blieb der Zuckerwert in 3 Fällen unver- 
‚ ändert, bei 3 Fällen von Diabetes zeigte er nur eine ganz langsame 
und geringfügige Verminderung, in 2 Fällen sank er aber schon nach 
' 3 Stunden bis zur Hälfte, weshalb die Liquorzuckerbestimmung sofort 
' nach der Punktion auszuführen unerläßlich erscheint. 

‚ Die Ergebnisse der gleichzeitigen Blut- und Liquorzuckerunter- 
suchungen Diabetiker und Gesunder hat Rusznyak!) in einer mit mir 
gemeinsamen Arbeit an anderer Stelle veröffentlicht. Hier erwähne 
ich nur, daß wir bei unseren Diabetikern, die glucosurievermindernde 
Wirkung der Lumbalpunktion — wie es in letzter Zeit Z’hermitte?) 
und Bickel?2) betonen, nicht beobachten konnten. 








!) Biochem. Zeitschr. 133, 355. ®) Zit. nach Kongr. Zentralbl. %4, 174. 
3) Zit. nach Kongr. Zentralbl. %3, 362. 


280 L. Csaki: 


III. Untersuchungen über den Refraktionswert des Liquors. 


Nur einige Angaben sind in der Literatur bekannt. Babes und Jliescu!) fanden 
im Jahre 1913 und Löwy?) im Jahre 1914 die Refraktion des normalen Liquors 


zwischen 1,3350—1,3352. Nach Taussig ist die Refraktion bei organischen Nerven- Pr 


krankheiten hoch, bei funktionellen normal. 


Meine Untersuchungen (ausgeführt mit dem Abbeschen Refrakto- 
meter) führten zu dem auffallenden Ergebnis, daß die Refraktionswerte | 


des Liquors in normalen wie auch in pathologischen Fällen zwischen 
ziemlich engen Grenzen, 1,3350—1,3358, schwanken und von der In- 


tensität der Globulinreaktionen ganz unabhängig sind, wie es auch | 


Tab. IV klar zeigt. 
Tabelle IV. Liquorrefraktion. 




















Zahl der Fälle 1.834749 1,8350—52] 1,8358—55| 1,8356—58| 1,885962| p1 at, 
Globulinreaktion positiv . Wit 16 5 8 3 2 
Globulinreaktion negativ.| 5 33 13 4 4 1 

Zusammen en De 18 12 7 a 























Da aber der erhöhte Globulingehalt den Refraktionswert erhöht, 
müssen wir mit größter Wahrscheinlichkeit annehmen, daß in den Fällen 


positiver Globulinreaktion der Albumin-Globulinquotient des Liquors | 
erheblicher Änderung unterliegt, da sonst der Refraktionswert unmöglich 


unverändert bleiben könnte?). 
Zur selben Annahme kam jüngst auf Grund seiner Untersuchungen 


auch Alex. Molnar*). Ich erwähne hier, daß unsere normalen Liquor- 
refraktionswerte übereinstimmen; er betrachtet aber die Werte, die 
über 1,3353 liegen, als sicheres Gehirntumorzeichen. Dies kann ich jedoch 


nicht im allgemeinen bestätigen. In einem Falle von ‚Gehirntumor 
fand ich den Liquorrefraktionswert 1,3351, und ich fand zahlreiche 
Fälle mit 1,3353 — 1,3365, in denen die Diagnose nicht auf Gehirntumor 
zu stellen war, — mit einer Ausnahme: ein Fall von Rückenmarkstumor, 
dessen Liquor ein positives Froin-Syndrom (Xanthochromie, Spontan- 
serinnung, sehr starke Globulinreaktionen) zeigte, hatte den Refraktions- 
wert von 1,3414. 


Zusammenfassung. 


1. Der Chlorgehalt des normalen Liquors schwankt — gleich dem des 
normalen Blutserums — zwischen engen Grenzen; ersterer ist aber 
bedeutend höher (0,68—0,72% NaCl). 


1) Zit. nach Schade, Phys. Chemie in der inneren Medizin. 
2) Dtsch. Arch. f. klin. Med. 115, 318. 1914. 

3) Siehe Orvosi Hetilap, 11. II. 1923. 

4) Orvosi Hetilap, 25. III. 1923. 














Über den diagnostischen und prognostischen Wert usw. 281 


2. Höhere Werte (bis 0,835%) zeigten einzelne Diabetesfälle, de- 


 kompensierte Nephritiden, Encephalitiden und die luetischen und 


metaluetischen Erkrankungen des zentralen Nervensystems. 
3. Niedrigere Werte zeigen nur diejenigen Fälle, bei denen die Me- 


 ningen in den Krankheitsprozeß einbezogen worden sind, so alle primäre 
| Meningitiden (tuberculosa, epidemica, luetica), wie auch — in viel 
geringerem Grade — die Encephalomeningitiden, Spinaltumoren. 


Während aber bei der Meningitis tuberculosa auch eine Verminderung 
des Serumchlors stets nachweisbar ist (bis 0,48—0,50% NaCl), bleibt 
bei jenen das Blutchlor immer normal, (0,55 —0,57%). Auch ist die 
Verminderung bei der Meningitis tuberculosa und epidemica so hoch- 


_ gradig (der Liquor-NaCl geht bis zu 0,50—0,45% hinunter), daß wir 
_ der Cl-Bestimmung im Liquor — und gleichzeitig auch im Serum — in 
zweifelhaften Fällen den größten diagnostischen und prognostischen Wert 


glauben beimessen zu können. 

4. Bei Meningitiden ist auch der Liquorzucker stets vermindert, 
aber die Grenze zwischen dem höchsten meningitischen und niedrigsten 
normalen Wert ist verschwommen und die exakte COl-Bestimmung 
nach Koränyi — die mit der einfachsten Ausrüstung durchführbar, — 
ist der Zuckerbestimmung nach Bang auch aus methodischen Gründen 


"überlegen. Außerdem kann die Glucolyse als Fehlerquelle in Betracht 


kommen. 

5. Bei den progressiven Meningitisfällen ist die Verminderung 
des Liquorchlors immer bedeutender, in den heilenden Fällen steigen 
die Werte wieder zum Normalen empor. 

6. Der Refraktionswert des Liquors ist von der Intensität der Globu- 
linreaktionen unabhängig, daher muß notwendigerweise die Globulin- 
vermehrung von der Veränderung des Albumin-Globulinquotienten 


begleitet sein. 


7. Die Liquorzuckerbestimmung muß sofort nach der Punktion 


durchgeführt werden. 


8. Der Liquor kann nicht als Ultrafiltrat oder Dialysat des Serums 


betrachtet werden; er ist vielmehr als ein aktives Sekret aufzufassen. 





(Aus der III. med. Klinik der Königl. Ungarischen Päzmäny Peter Universität 
Budapest. [Direktor: Prof. Dr. Baron A.v. Koränyil].) 
Magenbelastungsprobe bei Hyperaeiditätsfällen. 


Von 
Dr. J. Vändoriy. 


(Eingegangen am 12. November 1923.) 


Unter der Bezeichnung ‚„Hyperacidität“ fasse ich hier die Fälle Hi 
zusammen, bei welchen man in dem ®/, Stunde nach einem einfachen | 
Probefrühstück ausgeheberten Mageninhalt die freie HCl höher als 40, 7 
die Gesamtacidität als 60 findet. Wenn man aber diesen Begriff „Hyper- 
acidität“ näher betrachtet, wird man wohl darauf bewußt sein, daß 


es nur ein Sammelbegriff von ganz verschiedenen Zuständen und Ur- 
sachen bedeutet. Die erhöhte Aciditätskonzentration des Magen- 
inhaltes hängt nämlich nicht nur von der Sekretionsintensität ab, 
sondern deutet das Resultat von vielen mehr-weniger bekannten Fak- 
toren des Magenfunktionsmechanismus an. 

Im allgemeinen könnte man da folgende Kategorien aufstellen: 
I. Der Sekretionsvorgang des Magens ist verändert, und zwar: 1. Die 
Reizbarkeit der spezifischen Magenschleimhautdrüsen ist durch eine 
organische Läsion des Magens (Entzündung, Geschwür usw.) erhöht; 


das Resultat ist eine organisch bedingte Hypersekretion. 2. Die Über- 


reizbarkeit kommt bei anatomisch gesundem Magen durch nervöse 


(besonders sich in dem vegetativen Nervensystem abspielende) oder. 


reflektorische Vorgänge zustande; funktionelle (nervöse oder reflek- 
torische) Hypersekretion. 3. Aus konstitutioneller asthenischer Grund- 
lage reagiert der Magen auf den erfolgten Reiz stärker als gewöhnlich, 


ermüdet aber rasch, so daß die sezernierte Saftmenge nicht größer ist 


als unter normalen Verhältnissen. II. Bei normalen sekretorischen 
Verhältnissen kann eine Hyperacidität dadurch hervorgerufen werden, 
daß die Motilität des Magens erhöht ist. Der Mageninhalt verläßt den 
Magen rascher als normalerweise, die Sekretionskurve bleibt aber 
normal, so daß die Magensaftmenge im ausgeheberten Mageninhalte 
prozentuell einen größeren Teil ausgibt. III. Bei normaler sekretorischer 
und motorischer Funktion des Magens kann eventuell die physiologische 
Regurgitation des Duodenalsaftes aus recht verschiedenen Gründen 


kleiner sein oder ausbleiben, womit der Salzsäurespiegel des Magen- 





3 
Ei 
R "| 


3 





Magenbelastungsprobe bei Hyperaciditätsfällen. 283 


inhaltes nicht mehr auf einem normalen Niveau erhalten bleiben kann. 
(Siehe auch die Untersuchungen betreffs der Regurgitation von Jarnö 
und Vändorfy!) und Hetenyi und Vändorfy?).) IV. Schließlich können 
die Verdünnungssekretion im Sinne von Strauss und die Resorptions- 


‚ verhältnisse des Magens derart verändert sein, daß sie zu einer erhöhten 





t 


Aciditätskonzentration des Mageninhaltes führen. 

Die Aufgabe der folgenden Untersuchungen war eben, festzustellen, 
ob es nicht möglich ist, bei den verschiedenen Hyperaciditätsfällen 
mittels Belastung der Magenfunktion Unterschiede zu finden. Zu 
diesem Zwecke verwandte ich die von mir beschriebene Belastungs- 


‚ probe?), 4), die wesentlich darin besteht, daß man das Resultat der 


Mageninhaltuntersuchung nach einem einfachen Probefrühstück mit 
dem nach einem zweimal nacheinander gereichten vergleicht. Die 
Bestimmung der Aciditätswerte mittels Titration geschieht nicht 
sofort nach der Ausheberung, sondern nach zweistündigem Stehenlassen 


des gewonnenen Mageninhaltes. Bei den meisten Fällen ist sowohl das 


\ 





| 
| 





einfache, wie das Doppelprobefrühstück zweimal ausgeführt worden, 
immer unter denselben Bedingungen. Nach der Ausheberung habe ich 
immer den Magen mit wenig Wasser ausgespült, um festzustellen, ob 
nicht nennenswerte Mengen zurückgeblieben sind, in welchem Falle 
der Versuch nicht verwertet wurde. Es wurde auch eine Sondierung 
auf nüchternen Magen und eine Röntgenuntersuchung zur Feststellung 
der Magenmbotilität ausgeführt. 

Von 31 derart untersuchten Fällen waren bei 17 die erhöhten Aci- 
ditätswerte nach dem DPF nur unwesentlich oder gar nicht verändert 
worden. Die Aciditätskonzentration des Mageninhaltes, obzwar erhöht, 
war konstant zu finden, wie bei den normalen Fällen. Die Menge des 
ausgeheberten Mageninhaltes war aber, im Gegensatz zu den normalen 
Fällen, in 50% der Fälle großen Schwankungen unterworfen. Die 
Entleerung des Magens wird also in diesen Fällen bei der Belastung 


‘derart verändert, daß die Aciditätskonzentration des Mageninhaltes 


beständig bleibt. Z. B.: 


Fall Nr. 1. K.V. Zeitweise, nur auf kurze Zeit auftretende Gesichtsödeme; 
Oxalurie, sonst Urin normal; periodische Durchfälle; allgemeine nervöse Symptome. 
PF.: 70 ccm, gut verdauter Mageninhalt. Schichtungsquotient (nach Strauß) 


| 70/35, ohne abnorme Bestandteile, freie HCl 40. GA.: 64. 


DPF.: 180 ccm, gut verdaut, Sch. qu. 180/70, freie HCl: 40, GA.: 57. 
Röntgen: Normaler Befund. 


Von den übrigen 14 Fällen war die Aciditätskonzentration des 
Mageninhaltes nach der größeren Belastung bei 8 wesentlicher (mit 
mehr als 10) erhöht worden. Darunter waren 4 Magen- und Duodenal- 
geschwüre, 1 katarrhalische Gelbsucht, 1 Magenkatarrh, 1 Fall von 
Hyperacidität und 1 Neurasthenie. Die ausgeheberte Mageninhalts- 


284 J. Vändorfy: 


menge ist auch hier manchmal recht schwankend, und zwar in dem 
Sinne, daß man nach der größeren Belastung eine kleinere Menge 
aushebern kann. Z.B.: 


Fall Nr. 49. L. A. Hypersecretio ventriculi. Nach 2 Monaten stechende, 
3/,—1 Stunde nach der Nahrungsaufnahme erscheinende, gegen die Wirbelsäule 
ausstrahlende Schmerzen in der Magengegend. Appetitlosigkeit; oft Brechreiz; 
hat nie erbrochen; Stuhl in Ordnung. 

PF.: 225 ccm, gut verdaut, Sch. qu. 225/50; enthält Schleim und Galle; freie 
HCl: 49, GA.: 62. 

PF. (wiederholt): 200 cem, gut verdaut, Sch. qu. 200/45, enthält nur Schleim, 
freie HCl: 58, GA.: 70. 

DPF.: 170 ccm, gut verdaut, Sch. qu. 170/50, enthält wenig Schleim, freie 
HOLE 7OAGAF SL 

DPF. (wiederholt): 125 ccm, gut verdaut, Sch. qu. 125/25, enthält wenig 
Schleim, freie HCl: 60, GA.: 76. 

Auf nüchternen Magen entleert sich zuerst 25 ccm aus Flüssigkeit bestehender, 
nur einige Schleimflocken enthaltender Mageninhalt mit 40 freie HCl und 52 GA. 
Nach einem Magengurren entleert sich noch 15 ccm sehr viel Galle enthaltender 
Mageninhalt von 28 freie HCl und 41 GA. 

Röntgen: Der Magen entleert sich in 3!/, Stunden, also etwas verzögert, 
sonst normaler Befund. 


In diesen Fällen scheint also die Entleerung des Magens von den 
Aciditätsverhältnissen des Mageninhaltes ziemlich unabhängig zu er- 
folgen, so daß die intensivere Saftabsonderung von der Motilität nicht 
kompensiert wird, wie in der ersten Gruppe. Manchmal scheint aber 
auch die Motilität des Magens primär geschädigt zu sein, was ebenso 
zu großen Schwankungen der Aciditätskorzentration nach der größeren 
Belastung führen kann, wie es der folgende Fall zeigt: | 


Fall Nr. 56. M.P. Seit 5 Wochen stechende, nach hinten ausstrahlende 
Schmerzen in der Magengegend, die von der Nahrungsaufnahme unabhängig zu 
sein scheinen. Kein Erbrechen. Appetit gut. Verstopfung. St.: In dem Epi- 
gastrium umgeschriebene Empfindlichkeitsstelle; hinten links Boasscher Druck- 
punkt. 

PF.: 80 ccm, gut verdaut, Sch. qu. 80/20, enthält keine abnormen Bestand- 
teile, freie HCl: 48, GA.: 59. 


PF. (wiederholt): 60 ccm, von demselben Befund, Sch. qu. 60/20, freie HCl: 


44, GA.: 58. 

DPF.: 5 ccm, enthält wenig Schleim, freie HCl: 64, GA.: 74. 

DPF. (wiederholt): 8 cem, enthält Schleim und Galle, freie HCl: 28, GA.: 50. 
Auf nüchternen Magen ist kein Inhalt zu gewinnen. 

Röntgen: In der Nabelhöhe liegender, hypertonischer Magen, an dessen 
großer Kurvatur eine kaskadenartige, ständige Einziehung zu sehen ist, daselbst 
Druckempfindlichkeit; Magenentleerung normal. 


Nach dem 2. Probefrühstück wird also die Entleerung des Magens 
bei diesem Falle nicht nur nicht verlangsamt, sondern sogar bedeutend 
beschleunigt. Das Resultat ist eine exzessive Erhöhung der Aciditäts- 
konzentration. In dem wiederholten Versuch des DP.F. kommt 











Magenbelastungsprobe bei Hyperaciditätsfällen. 285 


nach dem 2. Probefrühstück eine ausgiebige Regurgitation des al- 
kalischen Duodenalsaftes zustande, welche die Acidität bedeutend 
niederdrückt. 

Auffallend ist in dieser Gruppe der größere Prozentsatz der Ulcus- 
fälle (50%), um so mehr, weil dieselben in der 1. Gruppe von konstanter 
‚Aciditätskonzentration nur mit 3 Fällen vertreten sind. 

In der 3. Gruppe (6 Fälle) ist die Aciditätskonzentration des aus- 
geheberten Mageninhaltes nach der größeren Belastung niedriger ge- 
funden worden. Die Schwankung der Mageninhaltsmenge war hier 
nicht so ausgesprochen wie in den vorigen. Z.B.: 


Fall Nr. 3. L.Cp. Gastritis chronica. Seit 3 Jahren bestehende Völle und 
Druckgefühl in der Magengegend gleich nach dem Essen. Appetitlosigkeit. Häu- 
figes Aufstoßen. 

PF.: 105 ccm, gut verdaut, enthält Galle; Sch. qu. 105/65; freie HCl: 44, 
GA.: 70. 

DPF.: 110 ccm, von demselben Befund; Sch. qu. 110/80, freie HCl: 28, GA.: 48. 

Röntgen: Normaler Befund. 


Bemerkenswert ist in dieser Gruppe die Häufigkeit der Gelbsucht- 
fälle (3 unter 6 Fällen). 

Man kann also nach diesen Untersuchungen zusammenfassend 
folgendes bemerken: In der größeren Zahl der Hyperaciditätsfällen 
wird die erhöhte Magensaftausscheidung von der Motilität, Regurgi- 
tation usw. derart kompensiert, daß der Aciditätsspiegel des Magen- 
inhaltes, obzwar erhöht, konstant bleibt. Wenn aber diese Kompen- 
sation gestört ist, sei es, daß die Sekretionsstörung so groß ist, daß 
die übrigen Faktoren des Magenfunktionsmechanismus nicht mehr 
imstande sind sie auszugleichen oder die Motilität, Regurgitation usw. 
selbst primär geschädigt sind, so kann die Aciditätskonzentration des 
Mageninhaltes nach der größeren Belastung nicht mehr beständig sein, 
sondern wird der Störung entsprechenderweise verändert. Eine wesent- 
liche Erhöhung der Acidität nach dem größeren Reiz kommt verhält- 
nismäßig oft bei Geschwürkranken, wesentliche Erniedrigung bei mit 
Gelbsucht einhergehenden Fällen vor. 





Literatur. 


1) Jarno und Vändorfy, Über das Regurgitieren von Duodenalinhalt in den 
Magen. Dtsch. med. Wochenschr. 1921, Nr. 14. — ?) Hetenyi und Vändorfy, Ex- 
perimentelle Untersuchungen über den Mechanismus der Regurgitation beim 
Menschen. Wien. Arch. f. klin. Med. 3, H.2. 1922. — °) Vändorfy, Eine. Be- 
lastungsprobe zur Funktionsprüfung des Magens. Klin. Wochenschr. 1922, Nr. 45. 
— 4) Vändorfy, Belastungsprobe bei sekretorischer Minderleistung des Magens. 
Klin. Wochenschr. 1923, Nr. 17. 


(Aus der III. med. Klinik der kgl. ung. Universität in Budapest. [ Vorstand: 
Prof. Baron A. v. Koränyıt).) 


Über die Wirkung des Pilocarpins auf das eosinophile Blutbild, 


speziell bei experimenteller Eosinophilie. 


Von 
Dr. Eugen Baräth. 


(Eingegangen am 12. November 1923.) 


Nachdem Neußer schon 1892 eine starke Vermehrung der eosino- 
philen Blutzellen nach Pilocarpininjektionen beschrieben hatte, haben 
Berterelli, Falta und Schweeger die Veränderung des weißen Blutbildes 
nach Anwendung dieses Alkaloids in Menschen- und Tierversuchen 
eingehend studiert und folgendermaßen gekennzeichnet: Kleine Dosen 
des Pilocarpins bewirkten bei den Versuchstieren und in einigen Ver- 
suchen an Menschen eine charakteristische Verschiebung des weißen 
Blutbildes, dessen Hauptmerkmale eine starke Leukocytose mit rela- 
tiver Neutropenie und Lymphocytose, Eosinophilie und Mononucleose 
waren. Da diese Veränderungen auch im Blutbilde der sogenannten 
vagotonisch stigmatisierten Menschen aufzufinden sind, die im Sinne 
der Eppinger-Hessschen Lehren eine sehr starke Reaktion auf Pilo- 
carpineinspritzung zeigen, wurde dieses Verhalten als eine Stütze der 
Vagotonielehre aufgefaßt. Später, mit der Erschütterung der Neurosen- 
lehre von Eppinger und Hess, hat man auch die spezifischen Blut- 
wirkungen des Pilocarpins angezweifelt und es häuften sich die Mit- 
teilungen, nach denen die oben erwähnten Veränderungen des Blut- 
bildes nicht aufzufinden sind. Auch in den letzten Zeiten finden wir 
manche Mitteilungen, die sich mit dieser Frage beschäftigen und die 
diesbezügliche Literatur enthält divergierende Angaben. 

Harvey hat noch vor Berterelli, Falta und Schweeger eine starke 
Leukocytose mit Lymphocytenvermehrung nach Pilocarpineinspritzun- 
gen beobachtet. Dieser Befund wurde von manchen Autoren bestätigt. 
Da uns in dieser Mitteilung hauptsächlich die Veränderung der Eosino- 
philen des Blutbildes interessiert, beschränke ich mich auf eine kurze 
Wiedergabe der Ergebnisse solcher Arbeiten, in welchen die qualitativen 
Veränderungen des weißen Blutbildes sorgfältig verfolgt wurden. 


Die von Berterelli, Falta und Schweeger geschilderten Veränderungen kamen 
schon nach einigen Milligrammata des Pilocarpins zustande. Die Wirkungsdauer 











Über die Wirkung des Pilocarpins auf das eosinophile Blutbild usw. 287 


war eine kurze: die Reaktion war meistens in 21/,—3 Stunden bereits im Ab- 


- klingen. Schwenker und Schlecht konnten sich von keiner auffallenden Veränderung 


überzeugen; die an Hunden und Meerschweinchen angestellten Versuche zeigten 
im Gegenteil eine Verminderung der eosinophilen Zellen, manchmal sogar ein 
völliges Verschwinden derselben aus dem Blutbilde. Auch Scorezewsky und Wasser- 
berg fanden keine Pilocarpineosinophilie, weder bei Meerschweinchen, noch bei 
Menschen. Die direkte Reizung des freigelegten Vagus war in ihren Versuchen 
von keinem Einflusse auf das Blutbild. Sie lehnen daher jede spezifische Vagus- 
wirkung auf das Blutbild ab. Die Untersuchungen von Aschenheim und Tomono 
an Kindern, und von Maryan Franke an menstruierenden Frauen endeten eben- 
falls mit negativem Resultat. Port und Brunow beobachteten zwar eine Leuko- 


- eytenvermehrung mit absoluter und relativer Lymphocytose, aber keine Eosino- 


philie nach Pilocarpininjektionen. Auch Schenk fand oft eine vorübergehende 
absolute und relative Lymphocytose, aber keine Beeinflussung der Eosinophilen. 
Friedberg hat nach Pilocarpin- und Adrenalineinspritzungen ähnliche Bilder ge- 
sehen; die Reaktion hat nach ihm 2 Phasen: 1. Vermehrung der Lymphocyten, 
2. Verminderung der Lymphocyten und Erhöhung der Leukocytenzahl. Die 
Eosinophilen verfolgen die Schwankungen der Lymphocyten. Die Reaktion ist 
aber als eine nicht spezifische zu betrachten. Wollenberg lehnt die Anschauungen 
von Berterelli, Falta und Schweeger direkt ab. Das Pilocarpin besitzt nach seinen 
Untersuchungen keine spezifischen Eigenschaften. Er hat unter 20 sorgfältig 
beobachteten Fällen nur einmal eine mäßige Eosinophilie hervorrufen können. 
Platz findet manchmal Verringerung, manchmal Vermehrung der Leukocytenzahl 
nach subeutan und intravenös gegebenen Pilocarpininjektionen. Die Zahl der 
Erythrocyten nimmt mäßig zu, auch die Zahl der eosinophilen Zellen. Die Zu- 


_ nahme der letzteren liegt aber noch innerhalb der Fehlergrenzen. Die Lympho- 


cyten vermehren sich mäßig. Die Untersuchungen von Zuntz und Vogel zeigen, 
daß die Leukocytenzahl sowie der Hämoglobingehalt des Blutes nach Pilocarpin- 
einspritzungen zunimmt. Die Lymphocyten, Mononucleären und Übergangs- 
formen verhalten sich uncharakteristisch. Es ist keine Eosinophilie, sondern im 


Gegenteil eine Verminderung der Ecsinophilen zu finden. Die Reaktion beginnt 


sehr bald, erreicht den Höhepunkt in einer Viertelstunde nach erfolgter Injektion 
und klingt in einigen Stunden ab. Die Ergebnisse ihrer an Hunden und Menschen 
angestellten Versuche stehen daher im Gegensatze zu den Anschauungen von 
Berterelli, Falta und Schweeger. Adler und Blumberg bezeichnen eine absolute 
und relative Zunahme der Eosinophilenzahlen als Charakteristikum der Pilocarpin- 
wirkung. Sie konnten manchmal Vermehrung, manchmal Verminderung der 
Gesamtleukocytenzahl beobachten. 


Wie diese kurze Übersicht der Literatur zeigt, herrscht noch keine einheitliche 
Auffassung über das Wesen der Pilocarpinwirkung. Besonders die angebliche 
Eosinophilenvermehrung scheint problematisch zu sein, da dies kaum einige von 
den aufgezählten Autoren gefunden haben. Naegeli stellt übrigens in seinem 
Buche jede spezifische Blutwirkung des Pilocarpins in Abrede. — Die Autoren, 
die eine Lymphocytenvermehrung annehmen, deuten den Mechanismus der 
Reaktion verschiedenerweise. Harvey und Frey glauben, daß durch den Pilo- 
carpinreiz die in den Lymphfollikeln der Milz präformierten Lymphoeyten aus- 
geschwemmt werden. Schenk hält diese Auffassung für wenig stichhaltig. Er. 
glaubt in Anlehnung an die Versuche von Roux, der eine Vermehrung der Lympho- 
eyten in der Lymphe des Ductus thoracicus nach Pilocarpininjektionen sah, daß 
durch den Pilocarpinreiz die Lymphocyten der abdominellen Lymphknoten ver- 
mittels Vasodilatation im Splanchnikusgebiete in größeren Mengen in den Blut- 
strom gelangen. Zuntz und Vogel sahen jedenfalls keine Wirkung der Milzexstirpa- 


Y 


288 E. Baräth: Über die Wirkung des Pilocarpins 


tion auf den Ausfall des Pilocarpinversuches, im Gegensatze zu den Anschauungen 
von Harvey und Frey. Daß keine Vagusreizung bei der Anstellung des Versuches 
im Spiele sei, halten Scorezewsky und Wasserberg nach ihren Untersuchungen für 
erledigt. 

Zur Entscheidung der Frage, ob die Pilocarpinwirkung durch eine 
Eosinophilenvermehrung gekennzeichnet ist, habe ich folgende Ver- 
suche ausgeführt. Ich habe Untersuchungen an solchen Personen 
angestellt, die hohe Eosinophilenzahlen im Blutbilde aufwiesen, mit 
der Überlegung, daß vielleicht in diesen Fällen eventuelle größere 
Schwankungen der Eosinophilenzahlen sich leichter verfolgen lassen . 
werden; denn der sich in einem Reizzustande befindliche Organismus 
läßt sich vielleicht leichter zu stärkeren Reaktionen bewegen als der 
normale. Zu diesem Zwecke habe ich teils sogenannte Vagotoniker mit 
hoher Eosinophilenzahlen im Blutbilde (Asthma bronchiale usw.), 
teils solche Personen, die nach Behandlung mit einem Typhusimpfstoff 
von starker eosinophilotaktischer Wirkung erhöhte Eosinophilenzahlen 
bis 8—-11%, (500-600 absolut) aufwiesen, als Versuchspersonen ge- 
wählt. Diese bekamen frühmorgens nüchtern 0,01 g Pilocarpin subeutan 
oder intramuskulär. Vor der Injektion und nach der Injektion in 
Abständen von 5—20 Minuten habe ich die Leukocytenzahlen be- 
stimmt sowie Blutanstriche gemacht, die nach Jenner-Giemsa gefärbt 
und nach der Schillingschen Methode ausgezählt wurden. Ich habe 
immer mindestens 400 Leukocyten gezählt, in einigen Fällen auch die 
Erythrocytenzahlen fortlaufend bestimmt. Insgesamt habe ich 10 Fälle 
untersucht. 





Pilocarpinversuche an Menschen mit höherem Eosinophilengehalt im Blute I 


finden wir in einigen Fällen der obengenannten Autoren. So fand ich bei Berterelli, 
Falta und Schweeger einen Fall mit 7%, Eosinophilen, wo es nach 1 mg Pilocarpin 
subeutan zu einer Erhöhung der Eosinophilenzahl bis 11% kam. Auch die Arbeit 
von Scorezewsky und Wasserberg enthält einen Fall mit 9% Eosinophilen; die 
Pilocarpinwirkung drückte sich da in einer bis 24 Stunden anhaltenden Senkung 
der Eosinophilenzahl aus. Zuntz und Vogel geben einen Fall an, wo es sich eine Ver- 
minderung der vorher erhöhten Eosinophilenzahl nach der Pilocarpineinspritzung 
einstellte. In der Arbeit von Adler und Blumberg finden wir eine starke Vermeh- 
rung der Eosinophilen nach Pilocarpin bei solchen Personen, die schon vor der 
Injektion hypernormale oder erhöhte Eosinophilenzahlen aufwiesen. 

Bei meinen Versuchspersonen konnte ich nie Eosinophilenvermehrung fest- 
stellen; im Gegenteil fand ich immer starke Senkung der Eosinophilenzahlen. 
Ich gebe die Ergebnisse meiner Versuche in Tabellenform wieder. 


Wie es aus den Tabellen zu ersehen ist, fand ich regelmäßig eine 
Vermehrung der Gesamtleukocyten. Diese Vermehrung tritt sehr bald 
auf; sie beginnt schon 5—10 Minuten nach erfolgter Injektion und 
klingt in einigen Stunden ab. Eine stärkere Beeinflussung des Blut- 
bildes in der Richtung Lymphocytose und Mononucleose ist nicht zu 
finden. Es herrschen mehr die Polymorphkernigen bei der Leukocyten- 








289 


auf das eosinophile Blutbild, speziell bei experimenteller Eosinophilie. 

















































































































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291 


auf das eosinophile Blutbild, speziell bei experimenteller Eosinophilie. 



































































































































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292 E. Baräth: Über die Wirkung des Pilocarpins usw. 


vermehrung vor. Verschiebung des Blutbildes nach links im Sinne von 


Schilling ist nicht festzustellen; dieser Umstand spricht gegen die 
Annahme einer stärkeren Knochenmarksreizung durch das Pilocarpin. 

Von besonderer Wichtigkeit erscheint uns das Verhalten der eosino- 
philen Zellen.. Wie es die mitgeteilten Fälle zeigen, finden wir keine 
Vermehrung, sondern im Gegenteil eine ausgesprochene Reduktion der 
Zahl der acidophilen Zellen. Die Verminderung der Eosinophilen tritt 
fast gleichzeitig mit der sich einstellenden Leukocytose ein, überdauert 
aber die letztere und klingt in einigen Stunden ab. Dieses Verhalten 
der Eosinophilen haben auch Schwenker und Schlecht gefunden; sie 
konnten sogar ein völliges Verschwinden der Eosinophilen aus dem 
Blutbilde feststellen. Es wäre hierbei auch an die Feststellung von 
Stäubli zu denken, nach welcher bei der Vermehrung der Gesamt- 


leukocyten durch artifizielle Eingriffe (Injektionen von pyrogenen 
Stoffen usw.) stets eine entsprechende Reduktion der eosinophilen | 


Zellen erfolgt. 


Die Zahl der roten Blutkörperchen zeigt eine mäßige Erhöhung 
nach den Pilocarpininjektionen, wie es schon andere Autoren fanden. 
Wie es meine Untersuchungen zeigen, vermag das Pilocarpin das | 
in die Richtung einer Eosinophilie verschobene Blutbild von behan- 


delten und nichtbehandelten Personen nicht weiter zu beeinflussen. 
Der sich im Reizzustande befindliche Organismus zeigt keine eosino- 


phile Reaktion, es kommt im Gegenteil sogar zu einer beträchtlichen | 


absoluten und relativen Verminderung der eosinophilen Zellen, während 
die Gesamtleukocytenzahl stets steigt. | 


Literatur. 


Ausführliche Literatur bei Schenk, Dtsch. med. Wochenschr. 1920, Nr. 43, | 
S. 1192. — Zuntz und Vogel, Zeitschr. f. d. ges. exp. Med. 29, 159. 1922. — Adler 


und Blumberg, Zeitschr. f. klin. Med. 95, 109. 1922. 











(Aus der III. med. Universitätsklinik in Budapest [Vorstand: Prof. Baron 
A.v. Koränyt).) 


Beiträge zur Jodzahl des Harnes. 


Von 
Dr. Zoltän Rausch. 


(Eingegangen am 12. November 1923.) 


Unter der Jodzahl des Harnes verstehen wir nach Weltmann das 
Maß der Fähigkeit des Harnes, Jod zu binden. Wenn man einem Harne 
eine abgemessene Menge einer Jodlösung zusetzt, so wird bei der Zurück- 
_titration immer weniger Thiosulfatlösung verbraucht, um die auf freie 
Jodion deutende blaue Farbe der Jodstärke zum Verschwinden zu 
bringen. Weltmann unterscheidet eine prozentuale und eine absolute 
Jodzahl. Die prozentuale Jodzahl gibt er mit der Menge einer "/,-Jod- 
lösung in Kubikzentimeter an, welche von 10 ccm Harn gebunden werden. 
Die absolute Jodzahl bekommt man, wenn man die %-Jodzahl mit der 
Tagesmenge multipliziert. Obzwar vom Verfasser nachdrücklich betont 
wird, daß die Jodzahl von sehr vielen Faktoren abhängig ist und ihre 
Größe bei den verschiedenen Harnen in so weiten Grenzen schwankt, 
daß die Bestimmung der jodbindenden Eigenschaft eines Harnes auf 
diesem einfachen Wege als unverläßlich zu betrachten ist, weckte der 
Umstand, daß das spezifische Gewicht des Harnes mit der Jodzahl 
einen gewissen Parallelismus aufweist, unser Interesse doch zum Nach- 
prüfen auf. Die Anpassungsfähigkeit der Nieren wird heutzutage 
entweder durch die Kryoskopie oder durch die einfachere Bestimmung 
des spezifischen Gewichtes geprüft und ermittelt. Beide Methoden 
fordern mindestens 10—15 ccm Harnmenge, die aber von einer kranken 
Niere nicht immer ausgeschieden wird, wenn die einzelnen Portionen 
in kürzeren Zeiträumen gesammelt werden. Wir versuchten deshalb, 
mit Hilfe der Jodzahl eine Methode auszuarbeiten, durch welche die 
Feststellung der Konzentrationsänderungen auch in sehr kleinen Mengen 
eines Harnes möglich wäre. Die so erhaltenen Werte können selbst- 
verständlich nur vergleichend beurteilt werden, sie liefern kein ab- 
solutes Maß wie die zwei oben genannten exakten Methoden. Damit 
wir unsere Werte doch mit den von Weltmann angegebenen Jodzahlen 
vergleichen können, haben wir mit ganz geringen Harnmengen ge- 


294 7. Rausch: 


arbeitet, dünnere Lösungen angewandt und die Zahlen später um- 
gerechnet. 

Zu lccm Harn werden 5cem einer "/,oo-Jodlösung und 3 Tropfen 
einer 1 proz. Stärkelösung als Indicator zugesetzt. Man titriert danach 
tropfenweise mit ?/,oo-Thiosulfatlösung bis zur Entfärbung. Der so 
erhaltene Wert wird mit 5 multipliziert, das heißt auf eine "/,,- Lösung 
bezogen. 

Die folgende Tabelle zeigt, daß die mit 1 ccm Harnmenge erhaltenen 
Werte mit den mit 10 ccm gewonnenen Resultaten gut übereinstimmen: 




















| %/,-Jodzahl %/-Jodzahl 
Nr 10 ccm Harn l ccm Harn 
+ M/gp-Jodlösung | + R/]n0-Jodlösung 

l 9,5 50:5=10 

2 30 170 :5=34 

3 20 110 :5=22 

4 30 150 : 5=30 

15) 36 190 :5=38 

6 32 160 : 5=32 

Zi 19 90:5=18 

8 16 80 :5=16 

9 15 70:5=14 

10 22 110 : 5=22 








Besonders lehrreich erscheint uns das Ergebnis folgenden Eintags- 
versuches, wo die einzelnen Portionen kaum einige Kubikzentimeter 
ausmachten, so daß das spezifische Gewicht nur noch durch das um- 
ständliche Verfahren mit Pyknometer bestimmt werden konnte. Da half 
uns die Bestimmung der Jodzahl durch unsere Methodik sehr gut aus: 


6 Uhr 20 cem Harn 1044 spez. Gewicht 51 %-Jodzahl 


7 „ 14 ” ” 0 ” ” 57 % ” 
8 } 4 „9 2 1%) „9 2 74 2 „ 
9 >) d „7 , d „ „, 74 YA 
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1 „’ 6 er) „ d >, “2 84 0% Pr „9 
4 „ 5 } „ 8 Li 27 72 SR „ 
1 >>} 3 „9 «99 1%) „ ’ 87 9% „ 
nachts 100 ,, Se l(dlze gs er: 








Da schwankt nämlich die Jodzahl zwischen 51 und 87, dasheißt 1:1,7. 


Weltmann nennt dieses Verhältnis ‚‚die Amplitudo der Jodzahl‘‘, und 
er fand sie bei normaler Nierentätigkeit höher als 1: 8. Werte unter 
diesem wurden von ihm als Zeichen der pathologischen Nierenfunktion 
gedeutet, was auch unsere Untersuchungen bestätigen können. 


Es ist ein allbekanntes Übel, daß beim Uretherkatheterismus die 


Katheter oft lange Zeit in den Urethern gelassen werden mußten, damit 





Beiträge zur Jodzahl des Harnes. 295 


zur Bestimmung der Anpassungsfähigkeit der Nieren genügend Harn 
erhalten werden kann. Da konnten wir nach unserer Vorschrift die 
Jodzahl in ganz wenigem Harn bestimmen. Wir erhielten außerdem gut 
brauchbare vergleichende Werte auch dort, wo die geschädigte Nieren- 
tätigkeit nur ganz wenige Kubikzentimeter Harn lieferte. Bei normalen 
Menschen bekamen wir in den von beiden Nieren isoliert aufgefangenen 
Urinen auch nach einer Verdünnung vollkommen übereinstimmende 
Jodzahlen, und es zeigte sich sofort die Abnahme der Verdünnungs- 
fähigkeit bei einseitigen Nierenerkrankungen: 























| Gesund | Erkrankt | 

ll 
Sofort | 22 31 %.Jodzahl 
Verdünnt | 8 9. SF ERIR 


Bei Nierenfunktionsprüfung mit Uretherkatheterismus erhielten wir 
aber nur dann von beiden Seiten übereinstimmende Jodzahlen, wenn 
der so gewonnene Harn klar war. Die Werte wichen voneinander ab, 
wenn den Harnproben Blut beigemengt war. Da Weltmann dem Ei- 
weißgehalt des Urins keine Bedeutung zuschreibt, haben wir uns ent- 
schlossen, die jodaffinen Substanzen, unter diesen auch das Blutserum, 
einer Nachprüfung zu unterziehen. 

Das Citratblut besitzt eine Jodzahl von 70. Blutserum hat ebenfalls 
eine beträchtliche Jodbindungsfähigkeit. Wir stellten nun verschiedene 
Eiweißlösungen in verschiedene Konzentrationen und fanden folgende 





























Ergebnisse: 
Konzentrat. | Eieiweiß | Casein Serumeiweiß Pepton 

9/00 °/,-Jodzahl °%/,-Jodzahl %/,-Jodzahl %/,-Jodzahl 

10 15 20 19 12 
9 12 16 15 9 
8 10 14 12 8 
7 8 12 9 6 
6 8 10 9 6 
5 8 8 5 6 
4 6 6 d 5 
3 5 6 5 ö 
2 5 4 3 3 
1 3 2 E 3 
0,8 2 0 1 ' 
0,6 0 0 0 1 
0,4 0 0 0 1 
0,2 0 0 0 0 





Wenn wir einen eiweißhaltigen Harn enteiweißen, so sinkt die 
Jodzahl immer, manchmal sehr tief: 


296 Z. Rausch: 























Nr. Nativ. Desalb. | Esbach. 
%/,-Jodzahl 0%/,-Jodzahl 00 
8 sl 27 40 
101 41 32 1,3 
105 24 22 0,25 
55 42 37 0,25 
91 15 9 2 
130 40 32 0,2 


Also das Harneiweiß, wie auch die anderen Eiweißstoffe, besitzt 
eine Affinität zum Jod. Wir haben hier höchstwahrscheinlich keine 
‘chemische Verbindung vor uns, sondern das Jod wird von dem Eiweiß- 
molekül adsorbiert, was man einerseits daraus schließen kann, daß die 
Jodzahlerniedrigung nicht mit dem Grade der Verdünnung parallel 
geht, andererseits daß die jodbindende Fähigkeit derselben eiweiß- 


haltigen Flüssigkeit bei Erhöhung des Jodzusatzes entschieden größer 


wird. i | 
Wenn man den Harn, wie dies schon Weltmann feststellte, durch 
Tierkohle entfärbt, büßt er seine Jodbindungsfähigkeit ein. Das dürfte 
auf die wichtige Rolle der großmolekulären Harnfarbstoffe und Chromo- 


gene hinweisen. Wir fanden, daß einige Harne ihre niedrigste Jodzahl 


nach einem einmaligen Entfärben bereits erreichten, wogegen andere 


auch nach mehrmaliger Entfärbung immer noch, wenn auch immer 


niedrigere, Werte aufwiesen. 


























Nr. Farbe des Harnes .. Auer ee 
0/-Jodz| I | Te@eree IT | IV | v 

91 strohgelb 13 5 5 5 — — 

105 | weingelb 28 16 9 4 4 — 

162 strohgelb 28 15 11 10 5 5 

126 weingelb 32 14 6 0 0 — 
65 strohgelb 21 5 2 0 0 — 

108 hellgelb 15 4 4 2 2 — 

147 weingelb Fl 17 11 11 11 — 

130 ockergelb 43 21 973 8 8 — 





Dunkle, hochgestellte Harne geben fast immer eine hohe Jodzahl. 
Die pathologischen Harnfarbstoffe, wie Urobilinogen, Bilirubin, erhöhen 
die Jodzahl merklich. Diese Befunde stimmen mit Weltmanns Be- 
obachtungen überein, der bei Lebererkrankungen und verschiedenen 
Ikterusfällen das Ansteigen der Jodzahl fand. 

Wie schon oben erwähnt wurde, hört die Jodbindungsfähigkeit 
nach der Entfärbung nicht auf, so daß man annehmen muß, daß auch 
noch andere Bestandteile des Urins eine Jodaffinität besitzen. Marnung 








Eu ZDNet 0-00. 
u 





Beiträge zur Jodzahl des Harnes. 297 


erwähnt schon die Jodaffinität der Harnsäure. Wir stellten fest, daß 
eine 16-mg-proz. Harnsäurelösung eine Jodzahl von 4, eine 8-mg-proz. 


: die von 2 hat. Wenn wir den normalen Harnsäuregehalt mit 20 bis 


40 mg-%, annehmen, so fällt ihr in der Höhe der Jodzahl bei Pneumonie, 
Typhus, Leukämie und zerfallenden Neoplasmen zweifellos ein großer 
Anteil der Harnsäure zu. 

Urea bindet kein Jod, und auch der Harnzucker besitzt nicht die 
Fähigkeit, Jod zu binden. Aceton bindet besondersin dem ammoniakalen 
Harne Jod. Auch Kreatinin kann bis zu einem gewissen Grade Jod 
binden; einer 0,öproz. Lösung entspricht z.B. eine Jodzahl von 2, 
eine 0,25 proz. Lösung hat aber keinen Einfluß mehr auf die Jodzahl. 
So müßte die tägliche Kreatininausscheidung mehr als 2,5 g betragen, 
um in der Jodzahl eine wesentliche Verschiebung verursachen zu können. 
In einem ganz beträchtlichen Maße ist aber Ammoniak jodaffin. 
In der freien Luft wird beim Stehen, besonders in alkalischen Harnen, 
immer mehr Ammoniak als Produkt der Bakterientätigkeit der am- 
moniakalischen Gärung gebildet. Es wird eine verschieden lange Zeit 
in Anspruch genommen, bis das Maximum erreicht wird, manchmal 
nach 6 Stunden und manchmal nach ein paar Tagen. Die Jodzahl 


_ geht parallel mit der Alkalizität und dem Ammoniakwerte höher bzw. 


tiefer. Bei saurem Harn, wo die ammoniakalische Gärung durch die 
Säure verhindert wird, bleiben die Ammoniakwerte ebenso wie die 
Jodzahl unverändert, ja sie sinken sogar manchmal allmählich. 















































Stat. | 24 St. | 48 St. | 72 St. | 96 St. | 120 St. | 144 st. 168 St. | 192 St. 
Säurewert I 18 0 0 0 0 0 0 0 0 
Alkaliwert I 18 78 284 292 290 244 254 240 230 
Ammoniakwert, 0,058 | 0,147 | 0,259 | 0,319 | 0,326 | 0,292 | 0,240 | 0,277 | 0,276 
%-Jodzahl 14 23 53 54 54 56 56 63 50 
Säurewert 0 22 | 20 24 18 26 26 | 24 26 
Alkaliwert 113 142 155 166 120 30 40 | 32 30 
Ammoniakwert! 0,130 | 0,130 | 0,155 | 0,180 | 0,186 | 0,186 | 0,165 0,163 | 0,156 
%-Jodzahl 16 16 12 1l 10 6 2 3 3 
eh N re hrs 
Säurewert 64 48 | 46 46 40 28 30 24 16 
Alkaliwert 27 29 40 60 64 25 25 40 44 
Ammoniakwert| 0,132 | 0,149 | 0,149 | 0,153 | 0,173 | 0,170 | 0,170 | 0,173 | 0,176 
%-Jodzahl | 25 19 14 12 16 20 20 22 21 





Wir verfolgten außerdem zwischen den die ammoniakalische Gärung 


- beeinflussenden Momenten auch den Einfluß der Temperatur, indem 


wir denselben Harn bei Zimmertemperatur, im Thermostat und auch 
im Eisschrank stehenließen. 


































































298 Z. Rausch: 
Nr. | Stat. | 2 St.| 6 St. | 128t. | 24 8t. Säurewert | Alkaliwert nz 
7 laolsılsı| a Zimmertemp. 
97 | 37 | 39 | 47 | 66 | 88 | Thermostat 19% 75% 037 
SIND ELTA Eisschrank 
15- |'16.). 16 | 19,172 Zimmertemp.: 
108 | 15 | 17 | 25 | 39 | 25 | Thermostat 20% 13% 0,061 
Inanio 17 Eisschrank 
Zimmertemp. 
67 Thermostat 0,068 





99 || 37 

















821 100 0 
114 98,110 21.21253312 
8% 108212217712 





13 
13 





Eisschrank 


Zimmertemp. 
Thermostat 
Eisschrank 





Zimmertemp. 
Thermostat 
Eisschrank 


8% 


10% 









35% 





1 









0,14 


0,10 


Aus dieser Tabelle ist ersichtlich, daß auch hier die alkalischen 
Harne viel größere Jodzahlsteigerung aufweisen als die sauren. Diese 
Erhöhung ist besonders im Thermostat groß, die Zahlen schwanken 
im Eisschrank am wenigsten. | 

Wenn man die ammoniakalische Gärung mit Sublimatzusatz ver- 
hindert, so bleibt die Jodzahlerhöhung aus, oder aber es sinkt gar die 





























Jodzahl. 
l Stat. | 24 St. | 48 St. | 72 St. | 96 St. 
34 66 154 350 360 | Alkaliwert 
Nativ. 16 4 0 0 0 Säurewert 
ı 0,044 |. 0,078 | 0,149 | 0,326 | 0,275 | Ammoniakwert 
57 55 60 78 | 63 | %o-Jodzahl 
40 44 29 28 30 Alkaliwert 
Sublimat 4 4 8 8 8 Säurewert 
0,034 | 0,040 | 0,068 | 0,026 | 0,040 | Ammoniakwert 
38 34 | 38 22 | 27 %-Jodzahl 











Auch Säurezusatz hebt die Jodzahlerhöhung vollkommen auf. 

Es ist also ganz sicher anzunehmen, daß die Jodzahl des Harns 
kein absolutes Maß bildet, da sie beim Stehen immer höher wird. Der 
Grad und die Schnelligkeit der Erhöhung steht mit der ammoniakalischen 
Gärung im engen Zusammenhang, die wieder vom Basen- und Säure- 
gehalt und Temperatur sehr beeinflußt wird. 





Beiträge zur Jodzahl des Harnes. 299 


Weltmann weist darauf hin, daß die Jodzahl, wenn man den Harn 
mit Jodzusatz stehenläßt, ganz erhebliche Erhöhung erleiden kann, 
welche nach 6 Stunden ihr Maximum erreicht. Nach meinen Unter- 
suchungen dauert diese Erhöhung auch nach 6 Stunden noch weiter 
fort und ist wahrscheinlich ebenfalls von der ammoniakalischen Gärung 
bedingt, da dieselbe Reaktion im Eisschrank viel langsamer und in 
weit geringerem Maße zustande kommt. 
| Nach Weltmann ist die Jodzahl, wenn sie extrem groß oder klein 
ist, wenn man sie mit der Tagesmenge und spezifischem Gewicht in 
_ Zusammenhang bringt, auf einige Nierenkrankheiten charakteristisch. 
_ Wir haben an dem sehr großen Material unseres diätetischen Labora- 

toriums, welches zur systematischen quantitativen Harnuntersuchung 
unserer sämtlichen Nierenkranken eingerichtet ist, monatelang tag- 
täglich die Jodzahlbestimmungen durchgeführt, konnten aber die von 

_ Weltmann vermuteten Beziehungen nicht bestätigen. Wir konnten 
z.B. bei ein und demselben Harn ohne einem annehmbaren Grunde 
ungeheuer große Schwankungen nicht nur in der prozentualen, sondern 
auch in der berechneten absoluten Jodzahl feststellen. Der einzige 
sichergestellte Befund ist nur, daß die Jodzahl mit dem spezifischen 
Gewicht sinkt und steigt, sie ist aber nie eindeutig und kann nur in 
vergleichender Weise zur Feststellung einer Konzentrationsänderung 
dienen. 

Wir können unsere Resultate in folgendem zusammenfassen: 

1. Die Jodzahl ist von vielen Bedingungen abhängig; da sie mit 
der Konzentration des Harnes steigt und sinkt, kann sie nur bei ein 
und demselben Harn, also nur vergleichend, verwertet werden. »ie 
kann also weder der Bestimmung der molekulären Konzentration noch 
der Bestimmung des spezifischen Gewichtes gleichgestellt werden. 

2. Da zur Bestimmung der Jodzahl bloß l1ccm Harn nötig isv, 
können wir durch sie die Konzentrationsänderung auch dort feststellen, 

_ wo uns zu der Bestimmung nur sehr wenig Harn zur Verfügung steht. 
Wir denken in erster Reihe an die Nierenfunktionsprüfungsmethoden 
beim Eintagsversuch und Uretherkatheterismus. 

3. Die Jodzahl ist auf gewisse pathologische Krankheitsgruppen nie 
charakteristisch, da sie von sehr vielen Faktoren und Urinbestandteilen 
beeinflußt wird. 





Literatur. 


Marnung, Inaug.-Diss. Rostock 1901. — Weltmann, Wien. Arch. f. inn. Med. 
1921, Nr. 2. — Lange, Biochem. Zeitschr. 1919, Nr. 95. — Klemperer, Berlin. klin. 
Wochenschr. 1903, Nr. 14. — Stepp, Münch. med. Wochenschr. 1918, Nr. 21. — 
Weiß, Biochem. Zeitschr. 1917, Nr. 81. — Schur, Wien. klin. Wochenschr. 1920, 
Kr, 31. 





(Mitteilung aus dem I. pathol.-anat. Institut [Direktor: Prof. Koloman Buday] 
und aus der III. med. Klinik [Direktor: Prof. Baron Alexander v. Koränyi] der 
kgl. ung. Pazmäny Peter-Universität in Budapest.) | 


Beiträge zur Histopathologie des sympathischen 
Grenzstranges. 
Von 
Dr. Ludwig Paunz. 
(Eingegangen am 12. November 1923.) 


Die Histopathologie des vegetativen Nervensystems gehört zu den 
weniger bearbeiteten Gebieten der Neurologie. Trotz dem großen 
Interesse, welches die Funktionsprüfungen des vegetativen Nerven- 
systems in der letzten Zeit erweckten, wurde ein Fortschritt auf histo- 
logischem Gebiete längere Zeit hindurch vermißt. Erst die jüngsten 
Jahre brachten uns auch in dieser Hinsicht weiter. Die Arbeiten von 
Spiegel und Adolf, Abrikosoff, Mogilnitzky bedeuten diesen Fortschritt. 
Alle diese Autoren führten ihre Untersuchungen an menschlichem 
Leichenmaterial aus. Sie beschäftigten sich mit der Histopathologie des 
sympathischen Grenzstranges, welcher den der histologischen Unter- 
suchung am meisten zugänglichen Teil des vegetativen Nervensystems 
darstellt. Gleichzeitig mit diesen Untersuchungen gelangte jenes sich 
auf 50 Fälle erstreckendes Material zur Verarbeitung, dessen einzelne 
Ergebnisse ich im folgenden beschreiben möchte. 

Die Normalhistologie der sympathischen Ganglien wird durch 
L. R. Müller, ferner durch Spiegel und Adolf eingehend behandelt. 
Das vorliegende Material bestätigte ihre Feststellungen in jeder Hin- 
sicht so, daß es überflüssig erscheint, die normalen Verhältnisse noch 
einmal zu schildern. Dasselbe gilt auch bezüglich der allgemeinen 
Histopathologie dieser Ganglien, welche ebenfalls durch Spiegel und 
Adolf, ferner durch Abrikosoff ausführlich behandelt wird. Die patho- 
logischen Veränderungen der Ganglienzellen und des interstitiellen 
Gewebes unterscheiden sich in allgemeinpathologischer Hinsicht keines- 
wegs von den ähnlichen Veränderungen der übrigen Teile des Nerven- 
systems. 

Histopathologische Veränderungen wurden bisher beschrieben: 

bei Intoxikationen (Salvarsan, Schwefelkohlenstoff, Bleiacetat); 

bei Autointoxikationen (Verbrennen, Kachexie); 














Beiträge zur Histopathologie des sympathischen Grenzstranges. 301 


Infektionskrankheiten (Typhus, Pneumonia crouposa, Broncho- 
pneumonien, Septikämien, Febris recurrens, Paratyphus, Diphtherie, 
Scharlach, Masern, Dysenterie, Cholera, Miliartuberkulose, Poliomyelitis, 
Peritonitis, Lues, Paralysis progressiva, Lyssa); 

Stoffwechselerkrankungen (Diabetes mellitus, Morbus Addisonii, 
Morbus Basedowi, Arteriosklerose, Pellagra). 

Bei Psychosen beschrieben Laignel-Lavastine, Obregio et Pitulesku 
Veränderungen der sympathischen Ganglien. 

Es handelte sich in all diesen Fällen mehr oder weniger immer um 
dieselben Veränderungen, nämlich: Chromatolyse, Aufblähung oder 
Schrumpfung des Zelleibes, Kernschwund oder Pyknose, Neuronophagie 
und interstitielle Entzündungen. 

In einem Fall von Lebercirrhose sah Abrikosoff eine Sklerose der 
großen Bauchganglien. 

Geschwülste der sympathischen Ganglien, namentlich Ganglio- 
neurome, sind ebenfalls keine Seltenheit. 

Zur Ergänzung dieser pathologischen Befunde sollen folgende Fälle 
unseres Materials dienen: 

1. 48jährige Frau. Klinische Diagnose: Lyssa. Sektionsbefund: 
Hyperämia meningum et cerebri. Degeneratio parenchymatosa myo- 
cardii et renum. 

Die histologisch bearbeiteten Ganglien des Hals-, Brust- und Bauch- 
grenzstranges bieten ein charakteristisches Bild dar. Sie weisen in erster 
Reihe eine starke Rundzelleninfiltration auf. Dieselbe ist teilweise 
diffus, teilweise erscheint sie aber in Form umschriebener, sehr dichter 
Herde, welche um Gefäße und Nervenzellen gruppiert sind und eine 
vollständige Analogie mit den Rabiesknötchen des Zentralnerven- 
systems aufweisen. Die Ganglienzellen selbst zeigen schwere regressive 


 Ernährungsstörungen. Ihr Protoplasma färbt sich mit der Lenhossek- 


schen Thioninfärbung äußerst blaß, homogen. In vielen Zellen fehlt 
der Kern vollständig, in anderen ist er zwar vorhanden, aber sehr blaß 
gefärbt und besitzt verwaschene Grenzen. In einigen Zellen sind hyper- 
chromatische Kernmembrane zu beobachten, welche mit Falten die blaß- 
gefärbten Kerne bedecken. Mit Hämatoxylin-Eosin-Färbung erhalten wir 
ein ganz anderes Bild. Das Protoplasma erscheint hier homogen lebhaft 
rot gefärbt. In den meisten Zellen ist auch bei dieser Färbung kein Kern 
zu sehen und auch dort, wo derselbe vorhanden ist, ist er sehr schwach 
gefärbt und besitzt verwaschene Grenzen. Die Weigertsche Fibrin- 
färbung läßt den homogenen Zellkörper ungefärbt, dunkelschwarz wird 
aber derselbe durch die Heidenhainsche Eisenhämatoxylinfärbung 
gefärbt. Durch dies letztere färben sich auch die Zellfortsätze vielfach 
auf ziemlich langer Strecke. Der Neuronophagie entsprechende Bilder 


_ werden in großer Anzahl gefunden. 


302 L. Paunz: 


Wie erwähnt, dehnt sich die Veränderung auf alle Teile des Grenz- 
stranges aus, fehlt aber auch an den großen prävertebralen Ganglien 
nicht. Die Läsion der Ganglienzellen ist überall gleichmäßig, während 
die Rundzelleninfiltration eine wechselnde Intensität zeigt. Am inten- 
sivsten war dieselbe im Halsgrenzstrange vorhanden. 

Geringere Veränderungen der Grenzstrangganglien bei Lyssa wurden 
auch von früheren Autoren schon beschrieben. Die Bedeutung des eben 
beschriebenen Falles wird durch die eigentümliche schwere Ganglien- 
zellveränderung gegeben. 

2. 68jähriger Mann. Klinische Diagnose: Paralysis agitans. 
Bronchopneumonia. Sektionsbefund: Bronchopneumonia confluens 
lobi inferioris pulmonis utriusque. Arteriosklerosis aortae ascendentis 
et arteriarum periphericarum et baseos cerebri. Emphysema senile 
pulmonis utriusque. Decubitus ad os sacrum. 

An zahlreichen mikroskopischen Schnitten zeigen die histologisch 
bearbeiteten Ganglien so gut wie keine Veränderung. Die Form der 
Ganglienzellen ist regelrecht, ihre Nissl-Schollen gut gefärbt, ihr Kern 
blasenförmig mit gut gefärbtem Kernkörperchen. Auch das Inter- 
stitium zeigt keine Veränderung. An anderen Schnitten fallen zwischen 
den gesunden Zellen einige homogen blaß gefärbte, Kernfärbung kaum 
oder überhaupt nicht zeigende Ganglienzellen ins Auge. Ihr Zellkörper 
ist unregelmäßig aufgetrieben, abgerundet. Ihre verdickten, ebenfalls 
homogen gefärbten Fortsätze sind auf weite Strecken zu verfolgen; 
sie liegen teilweise vereinzelt, teilweise in kleineren Gruppen. In ihrer 
Nähe befinden sich hier und da kleinere perivasculäre Rundzellenherde. 
An einigen Schnitten spärlich, sind sie an anderen in beträchtlicher 
Zahl vorhanden. In größter Anzahl befinden sie sich in den Hals- 
ganglien, in den unteren Teilen des Grenzstranges hingegen viel spär- 
licher. An den Gefäßen der Ganglien selbst war keine Veränderung 
zu finden. Abe 

Die beschriebenen Veränderungen stehen denjenigen nahe, welche 
durch Staemmler bei Arteriosklerose ermittelt wurden. Dieser Autor 
betrachtet die Ganglienzellveränderungen als Ursache der Arterio- 
sklerose. Es erscheint uns aber viel wahrscheinlicher, daß dieselben 


eher die Folgen der Gefäßerkrankung als deren Ursache darstellen. 


Unserem Falle verleiht die Anwesenheit der Paralysis agitans ein 
besonderes Interesse. Wie bekannt, kann ein Teil der Paralysis-agitans- 
Fälle mit der Erkrankung des Linsenkerns erklärt werden. In anderen, 
und zwar recht zahlreichen Fällen konnte aber weder hier, noch an 
irgendeinem anderen Teile des Körpers eine anatomische Veränderung 


nachgewiesen werden, obwohl es kaum ein Organ gibt — von dem 


Zentralnervensystem angefangen bis zu den quergestreiften Muskeln 


und den innersekretorischen Drüsen —, das nicht untersucht worden - 





Beiträge zur Histopathologie des sympathischen Grenzstranges. 303 


wäre. Auch den Ganglien des sympathischen Grenzstranges wurde 
Aufmerksamkeit geschenkt. Einen positiven Befund konnte jedoch nur 
Borgherini: im Jahre 1898 aufweisen. Aber auch sein Befund, welcher 
in einer Verminderung der Zahl der Ganglienzellen bestand, ist schwer. 
zu verwerten. 

Unser Fall weist dagegen nachdrücklich auf die Bedeutung der 
systematischen Untersuchung des sympathischen Grenzstranges hin. 
Bei herdförmigen Erkrankungen können wir durch eine ganze Reihe 
der mikroskopischen Schnitte normale Bilder erhalten, während der 
nächste Abschnitt Sitz der schwersten (wenn auch mit freiem Auge 
nicht erkennbaren) Veränderungen sein kann. 

Bei der Paralysis agitans wären solche Befunde um so wichtiger, 
da diese Krankheit in neuerer Zeit durch gewisse Autoren auf eine 
Störung der vegetativen Innervation der quergestreiften Muskeln 


zurückgeführt wird (Frank). 


Seit den Untersuchungen Boeke, Boer, Frank usw. ist die Frage der 
vegetativen Innervation der quergestreiften Muskulatur auf der Tages- 
ordnung. Nach der Ansicht dieser Forscher erhalten die quergestreiften 
Muskeln außerhalb der cerebrospinalen Nerven auch vegetative — nach 
einzelnen Forschern sympathische, nach anderen parasympathische — 


Fasern, welche zur Regelung des Muskeltonus dienen würden. Im 


Linsenkern wird das höhere Zentrum dieser vegetativen Bahnen ge- 
sucht und die Erkrankung dieses Zentrums würden diejenigen Linsen- 
kernveränderungen darstellen, welche anläßlich mehrerer Fälle von 
Paralysis agitans gefunden wurden. In jenen Fällen aber, welche sich 
durch die Unversehrtheit des Linsenkernes auszeichnen, müßte man 
nach diesem Gedankengang in erster Reihe auf eine Läsion der peri- 
pherischen Bahnen denken. Veränderungen, die den eben beschriebenen 
gleichen, könnten wohl als solche peripherische Läsionen aufgefaßt werden. 

Eine Entscheidung, ob ein ursächlicher Zusammenhang zwischen 
den Veränderungen und dem Krankheitsbild tatsächlich besteht, wird 


man erst auf Grund eines größeren Materials treffen können. Unser 


Befund weist zunächst nur auf die Wichtigkeit hin, eine systematische 


‚Untersuchung des sympathischen Systems in allen solchen Fällen vor- 


zunehmen. Es wäre dies um so wichtiger, da wir uns beim Krankenbett 
bei Paralysis agitans sympathischen Reizerscheinungen oft begegnen. 

3. 2jähriges Kind. Klinische Diagnose: /diotia amaurotica. Sek- 
tionsbefund: Tracheobronchitis diffusa catarrhalis cum broncho- 
pneumonia hypostatica 1. d. Atrophia, anämia universalis. 

Es wurden aus äußeren Gründen nur die Ganglien des Halsgrenz- 
stranges bearbeitet. Die Zellen derselben zeigen aber ein durchaus 
charakteristisches Bild. Ihr Zellkörper ist stark aufgetrieben, von ab- 


_ gerundeter G>stalt. Das Protoplasma färbt sich äußerst blaß, besitzt 


304 NL. Paunz: Beiträge zur Histopathologie des sympathischen Grenzstranges. 


eine wabige Struktur. Die Nissl-Schollen sind aus den meisten Zellen 
so gut wie verschwunden. Der Kern ist meistens hyperchromatisch, 
hat seine blasige Gestalt in den meisten Zellen verloren, färbt sich mit 
den üblichen Kernfarbstoffen diffus dunkel. Ein Kernkörperchen ist 
in ihnen nur hier und da zu erkennen. Das Interstitium zeigt keine 
Veränderung. 

Obwohl es in Mangel an Imprägnationsbildern nicht völlig genau 
identifiziert werden kann, so scheint das beschriebene Bild denjenigen 
Zellveränderungen, welche bei dieser Krankheit in der Hirnrinde be- 
sonders durch Schaffer eingehend studiert worden sind, doch sehr 
nahe zu stehen. 


Nach den früher beschriebenen zweifellos erworbenen Erkrankungen 


des sympathischen Grenzstranges, lernen wir in der familiären amauro- 
tischen Idiotie eine hereditäre Erkrankung kennen, welche mit einer 
Läsion desselben verbunden sein kann. 

Zusammenfassung: Durch die systematische Untersuchung eines 
größeren Leichenmaterials konnten bei gewissen Erkrankungen (Lyssa, 
Paralysis agitans, Idiotia amaurotica) charakteristische Veränderungen 


der sympathischen Grenzstrangganglien beobachtet werden. Durch 
dieselben werden die Befunde, welche verschiedene Autoren anläßlich 
Infektionskrankheiten, Toxikosen, Stoffwechselkrankheiten erhoben, 


ergänzt. Die Wichtigkeit der systematischen Untersuchung des sym- 


pathischen Grenzstranges müssen wir auf Grund dieser Erfahrungen 


nachdrücklich betonen. 











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(Aus der III. Med. Klinik der Königl. Ungarischen Päzmäny Peter Universität 
Budapest. [Direktor: Prof. Dr. Baron A. v. Koränyi).) 


Die klinische Bedeutung der optischen Aktivität 
des Blutserums. 


Von 
Dr. Stephan Hofhauser. 


(Eingegangen am 12. November 1923.) 


Die optische’ Aktivität einer Lösung hängt von der relativen Menge 
und der spezifischen Drehungsfähigkeit des Lösungsmittels und der 
darin gelösten Substanzen ab, vorausgesetzt, daß sie in der Lösung 
keine chemische Veränderung erleiden. 

Auf die Drehungsfähigkeit der Sera übt ihr Eiweißgehalt den größten 
Einfluß aus. Die Serumeiweiße drehen die Ebene des polarisierten 
Lichtes, außer dem rechtsdrehenden Hämoglobin, nach links. (Hämo- 
lisierte Sera sind zu polarimetrischen Untersuchungen nicht geeignet.) 

Außerdem sind in viel geringerer Menge noch andere optisch aktive 
Substanzen vorhanden, deren Rolle später besprochen wird. 
Das Wasser, das Lösungsmittel der Serumbestandteile, ist zwar 


selbst inaktiv, beeinflußt aber die Drehungsfähigkeit der Sera be- 


deutend, je nach seiner vorhandenen relativen Menge. Die optische 
Aktivität der Sera ist somit auch von ihrem Wassergehalte in hohem 
Maße abhängig. Um bei den Serumuntersuchungen diesen Wasser- 
fehler auszuschließen und um hierdurch zu einheitlichen Resultaten 
bzw. Konstanten gelangen zu können, müssen wir auch den Trocken- 
substanzgehalt der Sera in Betracht ziehen. 

Die einfachste Methode zur Bestimmung der Konzentration des 
Serums bietet die Refraktometrie dar, denn wie Reiss nachgewiesen 
hat ist der eiweißfreie Rest des Serums von beinahe konstantem 
Brechungsindex. Dieser setzt sich aus dem Index des Wassers und 
der Größe 0,00277 zusammen. Diese Berechnung darf als eine sehr 
gute Annäherung an den wirklichen Wert betrachtet werden; Fehler, 
die 0,4%, übersteigen, kommen nur ausnahmsweise vor. 

Subtrahiert man aus dem Refraktionsindex des Serums denselben 
des destillierten Wassers, so bekommt man den der im Serum gelösten 
Substanzen; dividiert man mit diesem den Drehungsgrad des Serums, 
so bekommt man eine Zahl, die unabhängig von dem Wassergehalte 

Z. f. klin. Medizin. Bd. 100, 20 


306 St. Hofhauser: 


des Serums, nur von der spezifischen Drehungsfähigkeit der im Serum 


vorhandenen optisch-aktiven Substanzen abhängt. Wir bezeichnen 
diese Zahl als den optischen Quotienten (OQ) des Serums. 

Zur Prüfung der Annahme, ob dieser OQ wirklich eine für das be- 
treffende Serum charakteristische und zum Vergleich geeignete Basis 
darbietet, habe ich folgende Versuche angestellt: 1. Ich habe in ver- 
schiedenen Zeitpunkten, aber unter denselben Verhältnissen, von einem 





Patienten Serum genommen; 2. aus diesen Serumportionen mehrere 
beliebige Verdünnungen gemacht und aus dem Drehungsgrade und 


aus dem Refraktionsindex der einzelnen Teile den optischen Quotienten 
bestimmt. Die so erhaltenen Werte stimmten bis auf 2—3% Fehler 


miteinander überein. Hier erwähne ich, daß in starken, 6—8fachen 


Verdünnungen dieser Fehler 10%, oder mehr erreichen kann. 
Bekanntlich ist die spezifische Drehungsfähigkeit der im Serum 
gelösten Substanzen verschieden. Wenn unter pathologischen Ver- 


hältnissen die Menge gewisser Serum:bestandteile anwächst oder sinkt, 


oder aber die Menge anderer optisch aktiver Stoffe sich verändert, 
muß auch der optische Quotient eine Veränderung erleiden. 


Das Ziel meiner Untersuchungen ist, festzustellen, ob diese Über- 


legungen sich in der Praxis bewähren und ob man wirklich auf gewisse 
Krankheiten charakteristische optische Quotienten bekommen kann, 


Methodik. 


Das Serum wird mit Aqua destillata 1:3 verdünnt, in ein 20 mm langes 
Polarisationsrohr eingegossen und in dem Landolischen Apparat polarisiert. 
(Ich habe immer 10 Ablesungen gemacht und den Mittelwert genommen.) Es | 
ist sehr empfehlenswert, vor einer jeden Untersuchung erst den Nullpunkt des 
leeren Rohres zu bestimmen und den so erhaltenen Wert dem Serumwerte zu 
subtrahieren bzw. addieren. (Als Lichtquelle diente eine Auerlampe, deren Licht 
durch Kaliumbichromatlösung filtriert wurde.) Nachher stellt man den Brechungs- 
index der Serumverdünnung fest und bestimmt den optischen Quotienten. Z.B. 


Nullpunkt des leeren Polarisationsrohres . . .. 2.222.200. +0,027° 
Drehungswinkel des mit der Serumverdünnung gefüllten Rohres . —0,225 
Drehungswinkel der Serumverdünnung = —(0,027 + 0,225). . .= —0,252 
Befraktion der Serumverdünnung. 9.) ‚ERIK N WINE Er 1,3380. 
Refraktion der zur Verdünnung benutzten Aqua destillata . . . . 1,3332 | 
Refraktion der in der Serumverdünnung vorhandenen Bestandteile | 

(1,3380 — 1,3332) 110/804” ee u ale a ae LE ee = 0,0048 | 
Drehungswinkel der Serumverdünnung . 0,252 | 











9 . 


Refraktion der darin vorhandenen Substanzen 0,0048 | 
So ist der OQ: 52,9. | 
Im folgenden teile ich die Resultate meiner Untersuchungen mit. 
Bei dem Zusammenwählen meines Materials habe ich den Luesfällen 


mm A 





—— 





Die klinische Bedeutung der optischen Aktivität des Blutserums. 307 


eine besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Im allgemeinen ist der OQ 
der Luesseren bedeutend höher als derselbe von anderen Seren: 


Bei Luetikern Bei Nichtluetikern 


Der Mittelwert des OQ. 49,7 39,5 
Der kleinste Wert des OQ. 43,3 24,9 
Der größte Wert des OQ. 62,6 e 44,1 


Ikterische Seren geben teils größere, teils kleinere Werte als es zu 
erwarten wäre. 
- (Als nichtluetische Fälle sind vorgekommen: Catarrhus apicum, 
Nephrosklerose, Hysterie, Polyarthritis rheumatica, Ce. pylori, Ce. 
pancreatis, Appendicitis chr., Arteriosklerose, Insuff. vv. bicusp., peri- 
cardiale Adhaesionen, Diabetes mellitus, Otitis med. chron., Chole- 
Ethiasis, Ulcus duodeni, Hyperaciditas ventriculi, Pneumonia und 
einige normale Fälle.) | | 

Außer dem Lues war auch bei den 6 Tbe. pulmonum der OQ sehr 
hoch (Mittelwert 49,0, Grenzwert 48,2 und 52,2; die WaR bei 3 negativ, 
bei den übrigen nicht gemacht worden). 

Einige Fälle müssen einzeln besprochen werden: 


Nr. 19. Pneumonia crouposa, fiebernd. Man fand bei ihm weder anamnestisch 


noch klinisch luesverdächtige Momente. WaR. im fiebernden Zustande ++++, 


nach abgelaufener Krankheit negativ. OQ.: 43,8. 

Nr. 27. Crises gastriques, Lues in der Anamnese. WaR. negativ, OQ.: 44,7. 

Nr. 28. Lues (klinisch und anamnestisch), WaR. negativ, OQ.: 44,8. 

Nr. 29. Anaemia secundaria, der Ehegatte luetisch. WaR. negativ, OQ.: 44,8. 

Nr. 30. Arthropathia mit jeder Behandlung trotzend; nach antiluetischer 
Kur gebessert. WaR. negativ, OQ.: 45,0. 

Nr. 40. Arteriosklerose, vergrößerte Lymphdrüsen, Hepar tastbar. WaR. 
negativ, OQ.: 46,9. 

Nr. 65. Anämie. Vor 4 Jahren ein Geschwür auf dem Penis. WaR. wieder- 
holt negativ, OQ.: 51,3. 

Nr. 70. Rheumatische Schmerzen, 10 Kinder, teils totgeboren, teils im Säug- 
lingsalter gestorben; 2 lebend, gesund. Anisochoria. WaR. zweimal negativ, 


I0.: 52,7. 


Nr. 76. Magenbeschwerden, Lues vor 12 Jahren (behandelt). WaR. negativ, 
DQ.: 55,0. 

Meine Resultate stimmen mit denen Rondonis einigermaßen gut 
überein. Er hat nämlich gefunden, daß die Linksdrehung des Lues- 
serum dem des normalen überlegen ist, er hat aber den verschiedenen 
Trockensubstanzgehalt der einzelnen Sera außer Acht gelassen und 
nur den rohen Drehungswinkel in Betracht genommen. Dies verursacht 
bei Seren von mittlerer Konzentration keinen besonderen Unterschied, 
aber bei solchen von niedrigerem oder von höherem Trockensubstanz- 
gehalte entstammen daraus bedeutende Fehler. 

Der Mittelwert der Drehung der von mir untersuchten Luesseren 
ist 0,759, der nichtluetischen 0,646; die betreffenden Mittelwerte des OQ 

20* 


308 St. Hofhauser: Die klinische Bedeutung der optischen Aktivität usw. 


sind 49,7 bzw. 39,5. Dies entspricht bei dem Drehungsgrade einem 
15,54 proz., beim OQ einem 20,5 proz. Unterschiede. Mit anderen 
Worten: Der OQ der normalen und der luetischen Sera zeigt eine 
bedeutend größere Wertdifferenz als die rohe Drehungsfähigkeit der- 
selben; dies spricht auch neben der besseren Anwendbarkeit des 
optischen Quotienten. 


Literatur. 


Bencze, J, in Koränyi-Richter, Physikalische Chemie und Medizin 2. Verlag 
G. Thieme, Leipzig. 1908. — Gastaldi, G., Giorn. d. R. accad. di med. Torino %6, 
241. Ref. Kongreßzentralbl. 5, 660. — Heudorfer, Zeitschr. f. klin. Med. %9, 103. 
1913. — Löwy, J., Dtsch. Arch. f. klin. Med. 115, 318. — Reiß, E., Ergebn. d, 
inn. Med. u. Kinderheilk. 10, 531. Genaue Literaturzusammenstellung. — Veil, 
Fiongreß f. inn. Med. Wiesbaden 1913. Ref. Kongreßzentralbl. 6, 427. — Rondoni,P, 
Zsitschr. f. Immunitätsforsch. 43, 416423. — Winternitz, Arch. f. Dermatol. u. 
Syphilis 101. | 


me. ann nn men nenn m men __ en umbunn mr 2 mn mm nennen nennen 
E 














(Aus der III. Med. Klinik der kgl. Universität in Budapest 
[Direktor: Prof. Baron A. v. Koränyi).) 


Untersuchungen über stomachale und rectale Sensibilisierung. 


Von 
Dr. Karl Hajös. 


(Eingegangen am 23. Januar 1924.) 


Seit der Mitteilung von Ehrlich über Rieinimmunisierung bei Mäusen 
durch Verfütterung ricinhaltigen Cakes wurde die Fütterungsimmuni- 
sierung öfters zum Studium gemacht. Besonders seit auf dem Gebiete 
der experimentellen Anaphylaxie in weiten Kreisen so viel gearbeitet 
wurde, hat die Frage der Fütterungsanaphylaxie immer wieder zu neuen 
Untersuchungen veranlaßt. 

Richet, Rosenow und Anderson, Besredka, Eukuhare usw., später 
Ichikawa, Maie hatten sich mit der Möglichkeit einer enteralen Sensi- 
bilisierung beschäftigt. Die Angaben der Literatur sind aber trotz so 
vielen Untersuchungen nicht eindeutig gewesen. Nach Doerr sollen 
positive Befunde als Ausnahmen betrachtet werden, welche auf das 
Konto gewaltsamer Versuchsbedingungen gesetzt werden müssen. Auch 
nach anderen Autoren sind die Resultate sehr inkonstant. Es wurde 
hervorgehoben, daß z. B. eine orale Sensibilisierung mit Pferdeserum 
nur bei Herbivoren leicht gelingt, dagegen lassen sich Omnivoren und 
Carnivoren schwer sensibilisieren. 

Diese auffallende Inkonstanz der Resultate hat mich veranlaßt, die 
Frage wiederholt zu überprüfen. 

Seit den neueren Anschauungen über die Pathogenese des Asthma 
bronchiale, der Urticaria, Migräne, Enteritis anaphylactica, also über 


die sog. anaphylaktischen Erkrankungen, ist die Möglichkeit einer oralen, 


enteralen Sensibilisierung, sowie auch der enteralen Auslösung von ana- 
phylaktischen Erscheinungen von großer Wichtigkeit. Der Mechanismus, 
welcher zum Zustandekommen dieser Erkrankungen führt, ist ohne eine 
enterale, stomachale oder von anderen Schleimhäuten aus stattfindende 
Resorption artfremder, unveränderter Eiweißkörper kaum zu verstehen. 

Ichikawa hatte in seinen Untersuchungen als Antigen Bakterien und 
Hammelserum verfüttert, die Resultate wurden mit der Fiebermethode 
von Friedberger und Mita kontrolliert. Aus dieser Mitteilung ist zu 
entnehmen, daß zur Reinjektion große Antigenmengen nötig waren, 
um die anaphylaktische Reaktion zu erhalten. Nach Hammelserum- 
fütterung wurden weniger konstante Resultate verzeichnet als nach 
Bakterienfütterung. Maie fand, daß die orale Sensibilisierung von Meer- 


310 K. Hajos: 


schweinchen mit Pferdeserum und Hühnereiweiß möglich ist. Die Mög- 


cr 


lichkeit einer rectalen Sensibilisierung ist nicht ganz eindeutig, so gelang " 


mit Hühnereiweiß keine Präparierung der Meerschweinchen, das Hühner- 
eiweiß erwies sich rectal gegeben als primär toxisch. $. Maie verwendet 
zur Reinjektion 1 ccm des spezifischen Antigens. 

Aus Angaben der Literatur ist zu entnehmen, worauf mehrere Autoren 
aufmerksam machen, daß in erster Linie eine Durchlässigkeit der Darm- 
wand für artfremdes unverändertes Eiweiß nötig sei, um die Sensibili- 
sierung des Tieres zu ermöglichen. 

Außer der Magen-Darmschleimhaut muß auch der normal-funktio- 
nierenden oder in ihrer Funktion geänderten Leber eine größere Rolle 
zugeschrieben werden. Sowohl in Menschenversuchen wie auch in Tier- 
experimenten ist das Alter der Versuchsindividuen von Wichtigkeit, es 
ist anzunehmen, daß das Darmepithel von ganz jungen und von älteren 
Individuen durchlässiger ist als normalerweise. Ascoli, Kentzler haben ge- 
zeigt, daß. der Organismus in der Magensalzsäure so eine Schutzvor- 
richtung. besitzt, welche imstande ist die spezifische Natur der Nahrungs- 
eiweißkörper zu verändern; wenn die Salzsäure aus irgendeinem Grunde 
abgesättigt wird oder überhaupt fehlt, so können unveränderte Eiweiß- 
körper in den Kreislauf gelangen, ohne ihre artspezifischen Eigenschaften 
zu verlieren. Solche Eiweißkörper wirken als Antigene, können mit der 
Präcipitationsmethode, mit Komplementablenkung und mit dem aller- 
empfindlichsten anaphylaktischen Versuche nachgewiesen werden. 

Auf Grund von klinischen Beobachtungen ist es auffallend gewesen, 
daß Patienten, welche an einer anaphylaktischen Krankheit litten und 
gegen gewisse Eiweißkörper eine cutane Überempfindlichkeit zeigten, 
auf orale oder rectale Verabreichung des fraglichen Eiweißkörpers nicht 
regelmäßig mit den anaphylaktischen Symptomen reagierten. Es gelingt 
nur in Ausnahmefällen die Fütterungsanaphylaxie experimentell zu er- 
zeugen. Selbstverständlich ist hier der natürliche Schutz der Magen- 
salzsäure, der intakten Epithelschicht der Magen- und Darmschleimhaut, 
sowie der Schutz einer normal funktionierenden Leber anzunehmen. 

Um diesen Ausnahmefällen experimentell nachzugehen, bediente 
ich mich des Meerschweinchenversuches und verwendete als sensibili- 
sierende Substanz das Pferdeserum. Es sollte künstlich eine Magen- 
Darmschleimhautschädigung und eine Leberfunktionsstörung hervor- 
gerufen werden, um zu sehen, ob auch in diesen Fällen die bekannte 
Inkonstanz der Symptome zum Vorschein tritt, oder ob auf diese Weise 
‘eine Regelmäßigkeit der Resultate zu verzeichnen wäre. 

Die Meerschweinchen wurden durch einen weichen N elaton-Katheter 
Nr. 9 oder 11 oral oder rectal gefüttert; Ich habe äußerst sorgfältig 
darauf geachtet, daß das Einführen der Schlundsonde leicht gelingt, 


die Katheter waren sehr gut eingefettet, Tiere, bei welchen die Son- 


——— 


_— 











Untersuchungen über stomachale und rectale Sensibilisierung. 311 


dierung schwer ging, wo demgemäß eine Schleimhautläsion angenommen 
werden könnte, wurden aus der weiteren Beobachtung ausgeschieden. 

Die Untersuchungen, welche unter der Mitwirkung von cand. med. 
Enyedy und Läszlö ausgeführt wurden, umfassen folgende Gruppen, 
um die einzelnen, in Frage kommenden Punkte näher zu erklären. 

I. Die Meerschweinchen wurden mit 3—4 ccm Pferdeserum 2 bis 
3 Tage lang täglich zweimal durch die Schlundsonde gefüttert; die 
Reinjektion fand statt nach 3 Wochen mit 0,3 ccm Pferdeserum, intra- 
venös gegeben. 
II. Orale Präparierung wie bei I., doch nach der vierten Fütterung 
wurde die Bauchgegend der Meerschweinchen mit Röntgenstrahlen 
5—10 Minuten lang, bei 45 cm Focusdistanz, durch 3-mm-Aluminium- 
filter bestrahlt!). | 

III. Orale Präparierung wie oben, doch kurz nach der Fütterung 


mit Pferdeserum wurde das Tier mit Chloroform narkotisiert. Eine 


längere Narkose ist nicht gelungen, einige Tiere gingen während. der 
Narkose ein, die Überlebenden kamen zwar zur Reinjektion, doch zeigten 
sie keine Spur von einer anaphylaktischen Reaktion. 

Die I. Gruppe diente als Kontrolle, um die in der Literatur be- 


 schriebene Unregelmäßigkeit der Fütterungsanaphylaxie zu studieren. 


Die Gruppe II und III wurde auf Grund der Auffassung eingeschaltet, 
daß infolge einer vorübergehenden Leberfunktionsstörung die resor- 
bierten, aus irgendwelchem Grunde nicht zersetzten Eiweißkörper in 
den Kreislauf gelangen und so den Organismus sensibilisieren können. 
Diese vorübergehende Störung der Leberfunktion wurde auf klinischem 
Material und im Tierexperiment studiert. Das Arbeiten mit Chloroform, 
welches bekanntlich eine Leberschädigung hervorruft, wurde dadurch 


erschwert, daß die Meerschweinchen sehr empfindlich gegen Chloroform 
sind. In weiteren Versuchen bediente ich mich zur Erzeugung einer 


Leberschädigung des Alkohols, in Form von Kognak. 
In Gruppe IV wurden 6 Meerschweinchen durch 3 Tage mit 


' 3ccm Kognak und 3 ccm Pferdeserum gefüttert, nach 3 Wochen er- 
‚hielten die Tiere die gewöhnliche Reinjektion von 0,3 ccm Pferdeserum. 
, Der Alkohol wirkt als Lebergift, er wurde verhältnismäßig in so einer 


großen Menge verabreicht, daß auch die vasodilatatorische Wirkung 


‚ mit in Betracht gezogen werden muß, welche auf die Darmschleimhaut 


und im portalen Gebiete ausgeübt wird. Durch diese starke Hyperämie 
kann auch die Resorption von der Darmschleimhaut so verändert 
werden, daß Eiweißkörper in den Kreislauf gelangen. 


1) Über Untersuchungen der Röntgenbestrahlung im Zusammenhange mit 
der Leberfunktionsstörung und Anaphylaxie siehe die Arbeit in der Zeitschr. f. 
d. ges. exp. Med. 1923. Die Röntgenbestrahlungen hatte Herr Dr. Ratköczy aus- 
geführt. 


3r2 "K. Hajos: 


In Gruppe V wurden sechs Meerschweinchen 3 Tage hindurch mit 
Pferdeserum und Fel tauri depuratum siccum gefüttert (auf 3cem Serum 
0,5 g Gallenpulver). Reinjektion nach 3 Wochen in der geübten Weise. 

Besredka fand, daß durch Galle die Resorption eines Antigens aus 
dem Darm künstlich beeinflußt werden kann, es ist nur eine leichte Rei- 


zung des Darmes dazu notwendig. Besredka fand in der Galle ein ein- 


faches und unschädliches Mittel, den Darm in den nötigen Reizzustand 


zu versetzen, um die Resorption eines Antigens zu erzielen. Nach 


Besredka führt die Galle zu einer anatomisch nachweisbaren "Verände- 
rung der Darmschleimhaut. Besredka benützt die Gallensensibilisierung 
zur oralen Immunisierung gegen verschiedene Bakterien. 

In Gruppe VI wurden Meerschweinchen per rectum sensibilisiert. 
Da aus den obenerwähnten Arbeiten die Unverläßlichkeit und Unregel- 
mäßigkeit der Resultate bekannt war, habe ich von Anfang an die 
Meerschweinchen mit einem Gemisch von Pferdeserum und Kognak 
oder Pferdeserum und Galle sensibilisiert. Pferdeserum allein gegeben 
wirkte nicht sensibilisierend. Reinjektion mit 0,3 ccm Pferdeserum nach 
3 Wochen. 

Zur Reinjektion wählte ich absichtlich kleinere Dosen des Antigens 
als z. B. Maie, da ich die Absicht hatte den Verlauf der anaphylaktischen 
Reaktion mit der Fiebermethode zu verfolgen. In den Beobachtungen 
wurde die Temperatur vor der Reinjektion und 10, 20, 40, 60 Minuten 
nach der Reinjektion, dann nach 4 Stunden und am anderen Tage 
(nach 20—24 Stunden) gemessen. 

In jeder Gruppe wurden 6—8 Tiere untersucht. Es erscheint mir 


überflüssig alle Versuchsprotokolle wiederzugeben, und ich beschränke 


mich nur auf die Registrierung einiger erklärender Beobachtungen: 


1. Unter 6 Meerschweinchen vom Gewichte von 250—300 g bekam nur eines 
anaphylaktische Erscheinungen, Krämpfe, Atemnot und Temperatursturz. - - 

Nr. 8. Temperatur vor der Reinjektion: 36,7°; nachher: <34°, <(34°, 
35,8°, 37°. | 

ll. 8 Meerschweinchen wurden der Röntgenbestrahlung ausgesetzt. Eines 
ausgenomngaen (Nr. 10) wurden alle anaphylaktisch. 

Nr. 11. Temperatur vor der Reinjektion: 38,8°; nachher: 34,6%, <(34°, 
30,9, 810. 


FICHER 


Nr. 10. Temperatur vor der Reinjektion: 37,2°; nachher: 34,6°, 36,8°, 37°, 37,5°. 


Nr. 11b. Temperatur vor der Reinjektion: 37,6°; nachher: 34,9°, <34°, <34°, 
34.47.87. 10% 

Nr. 25c. Temperatur vor der Reinjektion: 36,9°; nachher: 36°, <34°, 34,6°, 
BT291:Dr. 

In Gruppe III kamen 2 Tiere zum Exitus während der Narkose, 2 Tiere konnten 


nur ganz kurz (4—5 Min.) chloroformiert werden. Den negativen Ausgang des 


Versuches zeigt z. B. 
Nr. 12. Temperatur vor der Reinjektion: 36,6° ; nachher: 36,5°, 37°, 36,9°, 37,1°. 
IV. Alle 6 behandelten Tiere zeigten Temperatursturz, 2 Tiere bekamen auch 
Krämpfe und Atemnot. Z. B.; 








| 





Untersuchungen über stomachale und rectale Sensibilisierung. 313 


Nr. 21d. Temperatur vor der Reinjektion: 37,9°; nachher: 35,2°, Krämpfe 
40 34°, 34,3°, 36°, 36,2°. 

Nr. 24c. "Temperatur vor der Reinjektion: 36,8°; nachher: <34°, <34° 
34,8°, 35,4°, 36,8°. 

V. Alle 6 Tiere zeigten Temperatursturz, 1 Tier bekam Krämpfe, doch erholte 
es sich in einigen Minuten. 

Nr. 94. Temperatur vor der Reinjektion: 36,9°; nachher: <34°, <34°, 
u5°,.35.3°,36,5°. 

Nr. 95. Temperatur vor der Reinjektion: 37,2°; nachher kratzt sich das Tier, 
starke Atemnot, Krämpfe; Temperatur: <34°, <34°, 34,9°, 35,4°. 

VI. 5 Tiere wurden mit Galle-Serum-Gemisch rectal sensibilisiert. 2 bekamen 
tödlichen Schock, 2 nur Krämpfe mit Temperatursturz, Ein Tier zeigte keinerlei 
Symptome. Beispiele: 

Nr. 93. Temperatur vor der Reinjektion: 36,1°; nachher sofort Atemnot, 
Krämpfe, das Tier fällt um, springt einigemal, erholt sich doch; Temperatur: 
27349, 85,3°, 36,1°., 

Nr. 97. Temperatur vor der Reinjektion: 36,8°; nachher in 2 Min. Schock, Tod. 

Nr. 99. Temperatur vor der Reinjektion: 36,9°; nachher: 35,2°, 35,5°, 36,4°, 
ur4r237% 

3 Meerschweinchen rectal mit Kognak-Pferdeserum behandelt zeigten Tem- 
peratursturz. 


VII. Es ist bekannt, daß nach einer parenteralen Sensibilisierung durch 


’ 


’ 


_ enterale Verabreichung des Antigens nur äußerst selten die anaphylaktischen Er- 


scheinungen experimentell hervorzurufen waren. Die Ursache liegt darin, daß im 
Tierexperimente gewisse Beschwerden, welche bei der anaphylaktischen Reaktion 
vorkommen, dem Beobachter entgehen. Diese flüchtigen Erscheinungen sind dem 
Kliniker bekannt und können auf kleine Mengen des in den Kreislauf gelangenden 
Antigens zurückgeführt werden. In der letzten Gruppe meiner Untersuchungen 
hatte ich Meerschweinchen intraperitoneal mit 0,01 ccm Pferdeserum sensibilisiert 
und nach 2 Wochen mit 1g Trockengalle und 4 ccm Pferdeserum durch die 


' Schlundsonde gefüttert. 3 Tiere zeigten anaphylaktischen Temperatursturz. Die 


Meerschweinchen wurden vor der Fütterung einige Tage hindurch täglich 4 mal 
gemessen, um die normalen Temperaturschwankungen zu bestimmen; es ist anzu- 
nehmen, daß die Erscheinungen nach der Fütterung nicht so explosionsartig auf- 
treten können. Z. B.: 


Nr. 81. Temperatur vor der Fütterung: 37°, 36,6°, 36,5°, 36,6°; nach der 


Fütterung alle 20 Min. gemessen: 35,9°, <34°, 34,5°, 35,9°, 36,5°, 37,2°. 


Nr. 83. Temperatur vor der Fütterung: 36,4°, 36,5°, 36,4°; nach der Fütterung 
u 34,6°, 34,1°, 36,6°,. 37,1°. 

Dieses Experiment scheint mir am wichtigsten, da es am besten die in der 
Natur vorkommenden Verhältnisse nachahmt. In der Klinik ist ja größtenteils 
eine stomachale, enterale Sensibilisierung oder von anderen Schleimhäuten aus in 
den Kreislauf gelangendes, Anaphylaxie auslösendes Agens anzunehmen. Es ist 
aus den eigenen Befunden ersichtlich, daß eine veränderte Resorptionsfähigkeit 
der betreffenden Schleimhaut nötig ist, welche das unveränderte Hineinlangen des 
Antigens in die Blutbahn ermöglicht. 


Zusammenfassung. 


1. Auf stomachalem Wege gelingt eine Präparierung der Meerschwein- 
chen mit Pferdeserum nur dann regelmäßig, wenn gleichzeitig Galle 
oder Alkohol verabreicht wird. 


314  K. Hajös: Untersuchungen über stomachale und rectale Sensibilisierung. 


3. Röntgenbestrahlung der Bauchgegend erleichtert die enterale Prä- 
parierung (Leberfunktionsstörung). 

3. Mit der Gallemethode können Meerschweinchen auch per rectum 
sensibilisiert werden. 

4. Es wird gefolgert, daß zur enteralen Sensibilisierung eine ange- 
borene oder künstlich erzeugte Veränderung der Leberfunktion oder der 
Darmschleimhaut nötig ist. 


Literatur. 


Ascoli, zit. nach Kentzler. — Besredka, zit. nach Doerr und Ann. de l’Inst. | 


Pasteur 33. 1919. — Doerr, Kolle-Wassermann. Handbuch. 2. Aufl. II. Bd. 
S, 979 u. £. — Ehrlich, Dtsch. med. Wochenschr. 1891, 8. 976. — Friedberger- Mita, 
zit. nach Friedberger: Anaphylaxie in Kraus-Brugsch. — Fukuhara, Zeitschr. f. 


Immunitätsforsch. u. exp. Therapie, Orig., 1910, 8. 378; ebenda 9, 11. 1911. — 
Ichikawa, Zeitschr. f. Immunitätsforsch, u. exp. Therapie, Orig., 22, 517. 1914. — 


Kentzler, Serologie. (Ungarisch.) — Maie, Biochem. Zeitschr. 13%, 311. 1922. — 


Richet, zit. nach 'Doerr-Friedberger. — Rosenow- Andersen, zit. nach Doerr-Fried- 


berger. 








Untersuchungen über das Myelin und die im Auswurf vor- 
kommenden Zellen, insbesondere die Alveolarepithelien. 
Von 
Dr. R. Engelsmann, 


Kreismedizinalrat in Kiel. 


\ Mit 7 Textabbildungen. 





(Eingegangen am 29. September 1923.) 


In Zieglers!) Lehrbuch, Abb. 540, ist der Schnitt aus einem frischen, 
durch Aspiration von Mundinhalt entstandenen bronchopneumo- 
‚nischen Herde abgebildet. In den Alveolarräumen liegen teils kern- 
'haltige, teils kernlose Epithelzellen einzeln und in zusammenhängenden 
ı Fetzen. In einem Teil der Epithelzellen sind Fetttröpfchen sichtbar, die 
bei den kernhaltigen Zellen in der Umgebung des Kernes liegen. Neben 
‚diesen größeren Epithelzellen sieht man kleinere protoplasmatische 
‚ Lungenepithelien, die alle kernhaltig und zum Teil abgestoßen kaum ver- 
‚ändert oder von Fettkörnchen und -Kügelchen durchsetzt sind, die den 
‚Kern völlig verdecken. Drittens sieht man farblose Blutkörperchen 
| zwischen den in den Alveolarsepten liegenden gefüllten Gefäßen und im 
Alveolarlumen. Diese zeigen durchweg die gleiche Größe. Der Durch- 
messer der kleineren Lungenepithelien ist ungefähr 2!/,mal, der der grö- 
 ßeren abgerundeten Epithelzellen 3—4 mal so groß als der der Leukocyten. 

Ziegler führt dazu aus, daß bei Beginn der Exsudation infolge 
eines Entzündungsreizes die Abhebung des Epithels erfolgt. Zeitlich 
‚ später treten die Leukocyten auf, die dann zusammen mit den Epithel- 
‚zellen gefunden werden. In Abb. 5312) sind desquamierte, zum Teil 
Kohlepigment einschließende Lungenepithelien bei Lungenödem ab- 
gebildet. Diese sind teils rund, unregelmäßig begrenzt und enthalten 
einen epithelianen Kern. Ziegler beschreibt 3 Arten des Lungenödems. 
Das erste ist das Stauungsödem und findet sich vorwiegend in den 
abhängigen Teilen der Lungen. Hier finden sich häufig rote Blut- 
| ‚ körperchen. Bei der 2. ebenfalls häufigen Form können alle Teile der 
‚ Lungen befallen sein. Das Ödem ist zurückzuführen auf eine gegen 
Ende des Lebens auftretende abnorme Durchlässigkeit des Gewebes, 
das meist blutarm ist. Dieses Ödem soll auf eine septisch-toxische 
Einwirkung zurückzuführen sein, da es sich auch bei Vergiftungen 
2 B. Kohlenoxydgas, Chlordämpfe) findet. Bei der 3. der entzünd- 





| 





e 2) E. Ziegler, Lehrbuch d. spez. path. Anat. Jena 1902, 8. 7 13. 
A) Ebenda. 700. | 


316 NR. Engelsmann: Untersuchungen über das Myelin und die im Auswurf 


lichen Ödemform ist die Desquamation des Lungenepithels besonders 
reichlich. Diese Ödemform ist nach Ziegler nicht scharf von der 2. Form 
zu trennen und geht auch ohne scharfe Grenze in die katarrhalische 
Form der Lungenentzündung über. Erst bei stärker ausgesprochener 
Entzündung treten in der Ödemflüssigkeit auch Leukocyten auf. 

Beitzke*) gibt in Aschoffs Lehrbuch an, daß bei der katarrhalischen 
Pneumonie sich anfangs abgestoßene Alveolarepithelinen neben Leuko- 
cyten und Erythrocyten in wechselnder Menge finden. Die abgebildeten 
Zellen entsprechen den von Ziegler in Abb. 531 wiedergegebenen Zellen, 
nur fällt auf, daß die größeren Zellen mehrere Kerne enthalten. 

Nach Kaufmann?) findet man beim chronischen interstitiellen Ödem 
mikroskopisch verfettete Zellen (Epithelien, Leukocyten). 

Von den pathologischen Anatomen hat meines Wissens allein Orth?) 
auf die Untersuchung der Sputa in einem besonderen Abschnitt hin- 
gewiesen. Orth sagt: „Eine 3. Epithelform, welche auch schon im 
einfachen katarrhalischen Bronchialsputum vorkommt, bilden rund- 
liche glatte Zellen mit großen bläschenförmigen Kern und Kern. 
körperchen, wie sie den Epithelzellen zukommen. Diese Zellen stammen 
aus den Lungenalveolen, resp. den respirierenden Bronchiolen und 
können bei allen möglichen entzündlichen Lungenaffektionen gefunden 
werden, haben also keine spezifische diagnostische Bedeutung. Sie 
enthalten häufig eckige schwarze Kohlenpartikelchen oder sonstige 
Staubteilchen, Fettkörnchen oder Myelintropfen (blasse, häufig un- 
regelmäßig konzentrisch geschichtete, rundliche Klümpchen). Diese 
Zellen sind am reichlichsten vorhanden, wenn stärkere akut entzünd- 
liche Veränderungen in den Lungenalveolen sitzen.“ = 

Am beachtenswertesten sind die Untersuchungen von Fr. Langet). 
Ein entblutetes Kaninchen wurde vom Herzen aus mit NaCl-Lösung 
durchspült. Die aus.dem Trachealstumpf abfließende trübe Flüssig- 
keit wurde stark zentrifugiert: In dem Bodensatz fanden sich große 
Mengen isolierter und im Verbande liegender, abgestoßener Alveolar- 
epithelien, außerdem polymorphkernige Leukocyten, Gefäßendothelien 
und.stets eine gewisse Menge roter Blutkörperchen. Außerdem wurden 
von den Lungen dünne Gefrierschnitte angelegt, mit Neutralrot ge 
färbt und in Glycerin eingebettet. Im Schnitt erscheinen die das 
Lumen der Lungenbläschen begrenzenden Zellen flach im ganzen 
rundlich von 11/,—2facher Größe eines Leukocyten. Der Kern ist in 
den meisten Zellen mehr oder weniger rundlich, sehr hell, mit deut- 


1) Beitzke, in Aschoff, Path. Anatom. Jena 1913, 2%, 293. 
2) Kaufmann, Lehrb. d. spez. path. Anatom. 1, 272. 1911. 
3) Orth, Path.-anat. Diagnostik. Berlin 1909, S. 336. | 
4) Fr. Lange, Untersuchungen über d. Epithel d. Lungenalveolen. Frankf. 
Zeitschr. f. Path. 1909. 8. 170. - | 


vorkommenden Zellen, insbesondere die Alveolarepithelien. 317 


‚lichem Chromatinnetz. Einige von den Zellen sind kleiner, mehr drei- 
‚eckig oder oval; der Kern ist dann dunkler und chromatinreicher. 
Lange meint, daß es sich bei den kleinen Zellen um Jugendformen der 
‚ Alveolarepithelien handelt. Bei mit akuten Katarrhen einhergehenden 
| Affektionen des Lungengewebes fand Lange sowohl im Auswurf als 
‚auch im Abstrich von frischen Schnitten (z.B. bei croupöser und 
‚katarrhalischer Pneumonie) in den ersten Stadien der Erkrankung 
vorwiegend ja fast ausschließlich die großen runden Zellen. Späterhin 
erst traten die kleineren Zellen mit stärker färbbaren Kernen auf. 
Übergänge zwischen beiden Zellgrößen fand Lange immer, so daß 
Lange nicht der Ansicht ist, daß es sich um zwei verschiedenartige 
Zellarten handelt. 

Aus der ersterwähnten Abb. 540 von Ziegler geht hervor, daß beide 
Zellgrößen zusammen vorkommen und aus dem Text ist ersichtlich, 
‚daß Ziegler mit „den großen Epithelplatten‘ und ‚den kleinen Lungen- 
HBithelien“ die beiden normalerweise vorkommenden Epithelien der 
Lungenbläschen meint. Gute Abbildungen finden sich bei Böhm und 
, Davidoff") und bei Stöhr?). Böhm und Davidoff nehmen es an, Rauber 
‚und Kopsch?) sprechen es in der neuesten Auflage bestimmt aus, daß 
| die großen dünnen kernlosen hellen Platten aus kernhaltigem Epithel 
‚ hervorgegangen sind. 

‚ Es ist aber auffallend, daß man im Sputum und auch in Schnitten 
‚nur kernhaltige Alveolarepithelien findet, wie man aus sämtlichen 
‚Abbildungen ersehen kann. Es sind viele Beweisgründe gegen die 
Abstammung ‚‚der großen runden Zellen“ im Sputum aus den Alveolar- 
| epithelien geltend gemacht worden; niemand hat aber auf diesen merk- 
würdigen Umstand hingewiesen, daß die im Sputum erscheinenden 
Ben Zellen stets kernhallig sind. Man kann das nur so erklären, 
‚daß die ursprünglichen kernlosen Platten sehr frühzeitig abgestoßen 
werden und die nachfolgenden Zellformen im Jugendzustand, also mit 
‚Kernen desquamieren. Ein Grund für die Annahme Langes, daß die 
ven Zellen Jugendformen sind, läßt sich aus den histologischen 
‚ Verhältnissen nicht ableiten. 
| Ein Einwand, daß man es sich nicht Vorstellen En daß Lungen- 
‚alveolarepithelien sich in so großer Zahl bei geringfügigen Krank- 
‚heitszuständen abstoßen sollten, kann auch nicht als stichhaltig an- 
gesehen werden. Schon der Name Alveolar,,epithelien‘‘ deutet darauf 
‚hin, daß es sich bei diesen Zellen in gleicher Weise um Desquamations- 
| vorgänge auf geringe Reize handeln kann wie bei vielen anderen 

















1) Böhm und Davidoff, Lehrb. d. Histol. d. Menschen. Wiesbaden 1903. 
8, 210. 
; 2) Ph. Stöhr, Lehrb. d. Histologie. Jena 1903, S. 274. | 
| ®) Rauber-Kopsch, Lehrbuch d. Anat. d. Menschen. Leipzig 1914, Abt. IV. 





318 R. Engelsmann: Untersuchungen über das Myelin und die im Auswurf 


Epithelien. Es darf auf die Haut, vor allem aber auf die großen Massen 
abgestoßener Blasenepithelien hingewiesen werden, die man bei jungen 
gesunden Mädchen und bei Frauen finden kann, wenn man bei amt- 
lichen Untersuchungen jedesmal den Harn weiblicher Anwärter unter- 
sucht. Wenn man diese Massen von Epithelzellen im Mikroskop ge- 
sehen hat, findet man die Desquamation der Alveolarepithelien nicht 
mehr verwunderlich. 

Im Gegensatz zu diesen eindeutigen Befunden der Histologen und 
pathologischen Anatomen streiten sich die Kliniker seit langem über 
die Spezifität der „großen runden Epithelien‘“ (Colberg) im Auswurf. 

Geigel!) schreibt in dem neuesten Lehrbuch der Lungenkrankheiten; 
„Mit der Diagnose Alveolarepithel muß man vorsichtig sein.“ Er 
meint, daß, wenn man die Epithelien im Auswurf mustert, es sich 
bald herausstellt, daß auch Epithelien dabei sind, die aus dem Rachen, 
dem Nasenrachenraum, aus der Nase und von der Mundschleimhaut 
stammen. 

v. Hoeßlin?) äußert sich zu den beiden Hauptfragen folgender- 
maßen: E 

13) ,„...ist man bald über ihre Herkunft in Zweifel geraten und 

schließlich auf den Standpunkt angelangt, daß Alveolarepithelien über- 
haupt nicht mit Sicherheit zu erkennen sind, es daher überhaupt 
fraglich ist, ob man in diesen Gebilden Alveolarepithelien vor sich 
hat.“ . 
Il.) ‚Man kann schon hieraus erkennen, wie schwierig, ja unmöglich 
es oft ist, die Herkunft solcher Epithelien zu bestimmen, die von ihrer 
Basis losgelöst und, dem Verfall zugehend, ihre ursprüngliche Form 
wesentlich verändert haben.‘ 

Es mußte also erneut geprüft werden, ob die von den Histologen 
und pathologischen Anatomen eindeutig bestimmten Zellformen im 
Auswurf überhaupt oder nur bei besonderen krankhaften Verände- 
rungen der Lungen vorkommen und ob diese Zellen eindeutig im 
Auswurf als Alveolarepithelien bestimmt werden können. 

Die Anfänge dieser Untersuchungen liegen weit zurück. In dem 
Lungensanatorium von K. Turban in Davos wurde jeder Krankheits- ° 
fall eingehend untersucht. Folgende Paralleluntersuchungen liefen in 
jedem Falle nebeneinander her. Erstens klinische Untersuchungen mit 
Auskultation und Perkussion, zweitens die Untersuchung des Aus- 
wurfes, drittens die Röntgenuntersuchung. Daß eine genaue Tempe- 
raturmessung nicht fehlte, ist selbstverständlich. Der Auswurf wurde 
zur Untersuchung trocken in eine schwarze Dose entleert, und zwar 


!) R. Geigel, Lehrb. d. Lungenkrankh. München-Wiesbaden 1922, S. 38 ft. 
®) H. v. Hoeßlin, Das Sputum. Berlin 1921. 
3) 8.2.0. 82127 #0 4.29.2075,41 22, 





ar 





nun 














vorkommenden Zellen, insbesondere die Alveolarepithelien. 319 


erhielt jeder Patient eine solche Schale mit der Weisung, daß, was 
morgens an Schleim usw. herausbefördert würde, hineinzuspucken. 
Der Auswurf wurde frisch auf seine Zellbestandteile und gefärbt 
untersucht. 

Je aktiver der Prozeß war, um so eitriger war der Auswurf. Neigte 
der Prozeß zur Vernarbung oder handelte es sich um leichtere Fälle, 
so überwogen mehr oder weniger schleimige Beimengungen die eitrigen 
Bestandteile. War der Prozeß vernarbt, so wurde noch längere Zeit 


(Monate und Jahre) froschlaich- oder kaviarartiges, grauweißlich- 


gelbliches Sputum entleert, in dem niemals Tuberkelbacillen, fast nur 
Alveolarepithelien und wenige Leukocyten gefunden wurden. Diese 
Alveolarepithelien waren im schleimig-eitrigen Auswurf, im schleimigen 
Teil reichlicher, im eitrigen Teil in geringer Anzahl vorhanden und 
fehlten im rein-eitrigen Auswurf entweder vollkommen oder waren 
nur in einzelnen Exemplaren aufzufinden. Hier lag ein zyklischer 
Verlauf vor und die Parallele zwischen dem cytologischem Befund im 
Auswurf und dem pathologischem Grund des Krankheitsverlaufes war 
gegeben. Dieses Material war um so wertvoller, da diese Untersuchungen 
bei jedem Patienten periodisch wiederholt wurden und die intelligenten 
Patienten erzogen wurden — sit venia verbo — „reinlich“ zu spucken. 
Dadurch konnten die sonst üblichen Rachenbeimengungen meistens 
ausgeschaltet werden. Damit kann schon der Einwand gegen die 


‚ Spezifität der Alveolarepithelien (Geigel) beseitigt werden, der sich 


darauf stützt, daß neben den Alveolarepithelien noch andere z.B. aus 
dem Rachen stammende Epithelien zu finden sind. Das sind Ver- 
unreinigungen, die nicht gegen die Spezifität der erwähnten Zellen 


sprechen können. Dies zeigte sich auch, als die in Turbans Sanatorium 


erhobenen Befunde an dem großen Material der Heilstätten in Beelitz 
nachgeprüft wurden. 

Es wurde dort der Auswurf von 112 Patienten untersucht und die 
Ergebnisse 


l. nach dem Charakter des Sputums (aber nicht jedes eitrige Sputum 
stammt aus der Lunge), 

2. nach der Zahl der Bacillen (diese ist unseres Erachtens mehr 
abhängig von der Intensität als von der Extensität des Prozesses), 

3. nach den uns angegebenen Stadien (aber die Stadieneinteilung 
besagt nichts über die Intensität des Prozesses) geordnet. 


Alle diese Einteilungen können nicht die individuelle Beurteilung 
des Einzelfalles, wie es bei T’urban möglich war, ersetzen. Diese Be- 
funde sollen in einer Fachzeitschrift veröffentlicht werden. Hier kann 
nur kurz das Ergebnis angeführt werden. 

Es fanden sich folgende Werte: 


320 R. Engelsmann: Untersuchungen über das Myelin und die im Auswurf 

















Beschaffenheit Alveolarepithel wurde gefunden 
der Sputa En 
schleimig .... 7 5 mal 
schleimig-eitrig . 6 5mal (4 mal im schleimigen, 1 mal im eitrigen Teil) 
eitrig-schleimig . 26 28 mal (20 mal im schleimigen, 8 mal im eitrigen Teil) 
BitrID >. 2 ae ji 20 mal (6mal in einzelnen Exemplaren zusammen 


mit elastischen Fasern) 


Diese Aufstellung beweist, daß die Alveolarepithelien in den 


schleimigen Partien häufig, in den eitrigen Sputumteilen seltener 


gefunden werden. Wir stimmen also in den Befund mit v. Hoeßlint) 


überein, seine Schlußfolgerungen können wir nicht anerkennen. 
Nahm man die Bacillen als Maßstab, so ergab sich: 























Zahl der 
Anzahl der Bacillen | Unter- Alveolarepithel wurde gefunden 

suchten 
negaliyi.... . .. x 11 | 5 mal 
spärlich .. .... 21 9mal (und 2ma] vereinzelt mit elastischen Fasern) 
TNADIOmeELN. 32 12 mal (und 6mal vereinzelt mit elastischen Fasern) 
es Ts 48 13mal (und 13 mal vereinzelt mit elastischen Fasern) 





In dieser Zusammenstellung ist auch das Vorkommen von einzelnen 
(2—6) Alv.-Epith. zusammen mit elastischen Fasern in Klammern 
angeführt. 

Das soll besagen: die cytologischen Untersuchungen müssen quali: 
tativ und quantitativ bewertet werden. Berücksichtigt man die Fälle, 
in denen Alv.-Epith. in größerer Zahl gefunden wurden, so sieht man 
ein Absinken mit steigender Bacillenzahl. 

Bei der Einteilung nach Stadien konnte man feststellen: 

















Zahl der 
Stadien Unter- Alveolarepithel wurde gefunden 
| suchten 
1. ae 13 | 7 mal 
lirz SoaWaE 32 | 12mal (und 8mal vereinzelt mit elastischen Fasern) 
EN; 3 67 | 22 mal (und 14 mal vereinzelt mit elastischen Fasern) 


Unter Berücksichtigung des oben Gesagten findet man ein Ab- 
sinken vom I. zum II. und III. Stadium, doch ist der Unterschied zwischen 
2. und 3. Stadium nicht erheblich. Dem entspricht unsere Anschauung, 
daß die Stadienbezeichnung nicht die Intensität des Prozesses aus- 
drückt. 


1) a: a. 0.78.1120, 


























vorkommenden Zellen, insbesondere die Alveolarepithelien. 321 


19mal fanden sich neben den Alveolarepithelien kleinere ‚‚bräun- 
liche Zellen‘, pigmenttragende Zellen, seltener Zylinderzellen und selten 
Plattenepithelien. Fast regelmäßig fand sich zusammen mit den 
Alv.-Epith. sog. „Myelin‘ in wechselnder Menge. Weder bei der Ein- 
ordnung nach der Menge der Bacillen noch nach Stadien konnte bei 
den bräunlichen Zellen ein charakteristisches Verhalten (Absinken) 
festgestellt werden. Da «. Hoeßlin auch aus dem Grunde die Spezifität 
der Alveolarepithelien leugnet, weil sie sich ‚überhaupt in jedem 
Sputum, besonders in den schleimigen Teilen vorfinden‘ können, auch 
z. B. Klemperer den Alveolarepithelien keine diagnostische Bedeutung 
beimißt, war eine frühere (Tab. I) Serienuntersuchung an 141 Soldaten, 
die sich im Lazarett nicht wegen Lungenkrankheiten befanden, wertvoll. 


99 mal war der Auswurf schleimiger Natur, 
23 mal fanden sich allein Alv.-Epith.; 12mal auch mit anderen Zellen, 
14 mal fanden sich Alv.-Epith. u. Myelin, 4 mal auch mit anderen Zellen 


37 mal fanden sich Alv.-Epith. = 53 mal und 16mal auch mit anderen Zellen. 
Bräunliche Zellen fanden sich allein 12 mal; zusammen mit anderen Zellen 20 mal, 
Plattenepithelien fanden sich allein 19mal; zusammen mit anderen Zellen 6 mal, 
Zylinderepithelien fanden sich allein Omal; zusammen mit anderen Zellen 4 mal, 
8 mal wurden im schleimigen Sputum keine Zellen gefunden. 


Aus diesen Zahlen geht das eine hervor, daß nicht in allen schleimigen 
Sputa Alveolarepithelien gefunden werden, sondern nur etwa in der 
Hälfte der untersuchten Fälle. War das Sputum rein-schleimig, so 
fanden sie sich sehr selten (von 52 Fällen nur 13mal\. Wurde nur 
Speichel geliefert, so fehlten sie ganz. War der Auswurf schleimig- 
glasig, schleimig-krümelig oder schleimig-flockig, -glasig, -froschlaich- 
artig, so fanden sich Alveolarepithelien häufig; sie waren selten in 
den schleimig-eitrigen und eitrigen Sputa. In den Fällen, in denen 
ein geformtes schleimiges Sputum, knolliger- oder froschlaichartiger 


Natur abgesondert wird, handelt es sich nach unserer Erfahrung 


immer um einen Reizzustand im Bereich des Lungengewebes. Wir 
stimmen ganz mit Orth überein, der sehr fein zum Unterschied von 
Klemperer sagt, daß den Alveolarepithelien keine ‚spezifische‘ dia- 
gnostische Bedeutung zukommt, da sie bei allen möglichen entzünd- 
lichen Lungenaffektionen gefunden werden. Damit ist die Spezifität 
der Zellen betont. 

Es ist immerhin bemerkenswert, daß in einem Falle mit reichlichen 
Alv.-Epith. wenige Tuberkelbacillen; einmal bei ganz vereinzelten Alv.- 
Epith. zusammen mit elastischen Fasern viele Tuberkelbacillen bei 
Männern mit scheinbar gesunden Lungen gefunden wurden. 

Daraus ergibt sich als die 2. Schlußfolgerung, die wir ziehen: Bei 
allen Fällen, in denen im schleimigen Auswurf, besonders wenn er 
geformt schleimig ist, Alv.-Epith. gefunden werden, ist diese Unter- 

Z. f. klin. Medizin. Bd. 100. 21 


322 NR. Engelsmann: Untersuchungen über das Myelin und die im Auswurf 


















































































































































































Tabelle I. Analyse von 141 Spuda von nicht lungenkranken Männern. 
5 3 218 sss@leisiäls 2]» 2 @les 
E= = 2|=21815|1818 Ss |218 212 Ss 12138 
Beschaffenheit 5 |" | 2 512 SIE| |S/E EI ISlElgE|s 
Zahl BE EEE er res er: 
2 5|5 E 8 | Alveo- | bräun- | Zyl.- SUSE 8 
2/5218 |8|2 | larepi- | liche | Epi- 6332 [F= | 
= = thelien | Zellen | thel. > ESI=®Nn 
schleimig* 52 |6** | 7 Ar 2) 11 1|—| 2I— ll 1I—!8| *6mal 
Speichel 
(2 mal Platt.- 
Epith., 4 mal 
bräunl. Zell.) 
** ] mal Tub- 
Bac. pos. 
schleimig- 5 
krümelig 3 | 21 — 1 — | — 1-4] 1 — 
glasig- 
schleimig* 24 | 5| 5| 4— 1 31 1/——|— 11—| 1] — |—* 4 mal grau- 
schwärzlich 
(3 mal bräunl. 
Zell., 1 mal 
bräunl. Zellen 
schleimig- u. Myelin). 
flockig 15 | 6| 3 —— 1 
froschlaich- 
artig 51 4I—| 1)—)— Ze 
_ Summe 99 ||23 |14]12|—19| 4 1 |8]| 
schleimig- 7 H 3I— — |—| Die Quersum- 
eitrig art 2 e — | 8 me ist um 5 zu 
hoch,da5 Zell- 
| gruppen zu 
viel gezählt 
werden. 
eitrig 5 | 24 —/—| 11 — |—ı*] mal wenige 
Detritus-elas- 
tische Fasern 
und viele Tub- 
Bac. | 
tlsckig1.%, 634] 3212312 - — 
glasig ls 4 | 2, —| 1— — 
frosch- 2 | 
| 11 11—|—|— Bad ie. 
* Quersumme 
Summe’ >40r 1a 161143 1 or — 8 ıum 5 zu hoch, 
siehe oben. 
blutig, 109, 1a ee a 
Summe. 2 j | 1 mr eRmen 
= 141|37 1518| ı[28| 71 3] Jo] a] sfıl ıla 16| = 146 
Einmal wurde kein Auswurf geliefert 1 























_— 








| 


| 


| 








vorkommenden Zellen, insbesondere die Alveolarepithelien. 323 


suchungsprobe genau auf Tuberkelbacillen zu untersuchen, da eben ein 
großer Teil der chronisch-entzündlichen Reizzustände der Lungen 
‚durch tuberkulöse Einwirkung verursacht werden. Ganz im Gegensatz 
sagt v. Hoeßlin!) von dem trockenen körnigen Auswurf, der treffend 
mit Froschlaich verglichen wird; ‚Jedermann weiß auch, daß dieser 
Auswurf, der sich in der Regel durch Pigmentierungen verschiedener 
Art und Stärke auszeichnet, nichts zu bedeuten hat.“ Ganz anders 
unseres Erachtens zutreffend äußert sich @eigel?): ‚Der gesunde Mensch 
hat keinen Auswurf‘“ und später?): ‚Jede Beimengung zu dem normalen 
Schleim der Bronchien muß als Krankheit angesehen werden.“ Aller- 
dings unterläßt es Geigel, daraus, wenigstens was die Zellbeimengung 
betrifft, die Folgerungen zu ziehen, die C©. 8. Engel“) früher in die 
klare Form gebracht hat. Aus der Verschiedenheit der im Auswurf 
vorhandenen Epithelzellen, „Leitzellen‘‘, kann im großen und ganzen 
ein Schluß auf die Herkunft des Auswurfs gezogen werden. Schon 
früher hatte Sahliö) es ausgesprochen: „Aus der Art der im Sputum 
gefundenen Epithelzellen kann geschlossen werden, aus welchem Teil 
des Respirationstractus ein mikroskopisches Präparat stammt.‘“ Dieser 
Ausdruck ‚der Leitzelle“ hatte sich mir, unabhängig von Engel, bei 


‚meinen Untersuchungen herausgebildet. Die Leitzelle ist zugleich der 


einzig mögliche Leitstern für alle, die gewohnt sind nach den Grund- 
regeln der pathologisch-anatomischen Technik, wie jedes Material, so 
auch den Auswurf stets zuerst frisch zu untersuchen. 

Das Vorkommen von Plattenepithelien im Auswurf wird unbestritten 
dahin gedeutet, daß dieser Teil aus dem Rachenraum stammt. Hieraus 
ergibt sich, daß, wenn sich nur Plattenepithelien finden, es sich um 
Rachenauswurf handelt. Enthält ein Auswurf aus tieferen Teilen der 
Lunge auch Partien mit Plattenepithelien, so interessiert dieser Teil 
des Sputums nicht. Aber auch der Kehlkopf zeigt zum Teil (Epiglottis- 


rand, Stimmfalte, Teil der Giesbeckenknorpel) geschichtetes Pflaster- 
‚ epithel. 


Unter den 112 von Tuberkulösen stammenden Sputa fand ich 
4 mal bei zahlreichen Plattenepithelien reichlich Tuberkelbacillen. In 
diesen Fällen konnte mit Bestimmtheit auf eine Kehlkopftuberkulose 
geschlossen werden. Andererseits folgert es aus dem Satze von der Leit- 
zelle: hat man bei klinischem Verdacht auf Lungentuberkulose mikro- 
skopisch ein Sputum mit vorwiegend Plattenepithelien und finden sich 
keine Tuberkelbacillen, so gilt dieser Auswurf nicht als beweisend, da 
die Leitzellen besagen, daß der Auswurf nicht aus der Lunge stammt. 


OD: S. 35. ya ar ORRE 3: Ya. a. 0:84 

#) 0.8. Engel, Diagnost. Leitf. f. Sekret- u. Blutuntersuchungen. Leipzig 1920, 
S. 137 ff. 

5) H. Sahli, Lehrb. d. klin. Untersuch.-Method. Leipzig-Wien 1905, S. 623. 


21* 


324 NR. Engelsmann: Untersuchungen über das Myelin und die im Auswarf 


Zylinderzellen und Becherzellen können aus der Nase oder den 
Bronchien bis zu den Bronchioli respiratorii stammen. 

Das schleimige Nasensekret erkennt der Geübte an seiner olasigen, 
weißlichen Beschaffenheit. Bei akuten und chronischen Entzündungen 
der Bronchien findet man im frischen Präparat durchaus nicht so selten 
einzelne mitunter sehr gut erhaltene Zylinderzellen mit guterhaltenem 
Flimmerbesatz, aber peitschenschnurartigem Basalfortsatz. Aus Tab. I 
(S. 322 dieses Abdruckes) und der Zusammenstellung auf S. 321 ist er- 
sichtlich, wie selten Zylinderzellen in Vergleich zu den anderen Zellarten 
gefunden werden. 

Auch bei den 112 Sputa von Tuberkulösen wurden Zylinderzellen 
nur 1mal allein und 5mal zusammen mit anderen Epithelien gefunden. 
In Fällen von Bronchiektasie, von chronischen eitrigen Bronchitis 
können in dem geballten eitrigen Sputum Zylinder- und Becherzellen 
ganz fehlen. Andererseits kann man bei akuten Reizzutsänden mit- 
unter Haufen dieser Zellen zusammenliegen sehen; allerdings in keinem 
Verhältnis zur Ausdehnung des Prozesses. Fr. Müller!) hat in seiner 
erschöpfenden Abhandlung über die Erkrankungen der Bronchien auf 
Grund von genauen pathologisch-anatomischen Untersuchungen be- 
tont, daß in denjenigen Fällen akuter Bronchitis, welche rasch nach 
dem Tode zur Obduktion kamen und sorgfältig konserviert wurden, 
eine erhebliche Abstoßung der Zylinderepithelien, namentlich in den 
größeren und mittleren Bronchien, nicht festzustellen war. 

Nach G@Geigel?) spricht alles dafür, daß selbst bei Krankheiten der 
Bronchialschleimhaut, das Zylinderepithel eine ‚‚merkwürdige‘“ Wider- 
standskraft zu haben scheint, da selbst an stark entzündeten Stellen 
unter dem Eiter noch unverletztes Epithel gefunden wird. 

Man kann daraus schon folgern, daß die Zylinder- und Becherzellen 
für die Entstehung der in so großer Zahl im Auswurf gefundenen 
Alveolarepithelien nicht in Frage kommen. 

In einem gewissen Widerspruch zu diesen Feststellungen stehen 
die Befunde von A. Fränkel?). Dieser wies nach, daß bei Bronchial- 
asthma massenhafte Abstoßung von Zylinderepithel stattfindet und. 
meint, daß durch wirbelnde Drehungen im Bronchiallumen aus diesen 
Zellen die Ourschmannschen Spiralen entstehen. 

Dies ist aber nur ein scheinbarer Widerspruch; denn bei diesen 
Vorgängen handelt es sich um außergewöhnlich starke lokale Ein- 
wirkungen, unter denen auch ein an und für sich widerstandsfähiges 
Epithel zur Ablösung kommen kann. Bekanntlich konnte sich Mar- 


!) Fr. Müller, Die Erkrank. d. Bronchien. Dtsch. Klinik 4. 245, 1907. 
’) a. a. O. 8. 38f. 
3) Fränkel, Über Bronchialasthma. Dtsch. Klinik 4, 33. 1907. 


vorkommenden Zellen, insbesondere die Alveolarepithelien. 325 


chand‘) dieser Ansicht über die Entstehung der Curschmannschen 
Spiralen nicht anschließen. ' 

Die Alveolarepithelien werden von den Skeptikern „große runde 
Zellen“ genannt. Auf S.319 wurde angegeben, in welchen Teilen des 
Sputums diese Zellen hauptsächlich vorkommen. Auf 8.320 wurde 
angegeben, bei welcher Beschaffenheit des schleimigen Auswurfes diese 
Zellen gefunden werden. Ein Vergleich von unserer Abb. 1 und 11 bei 
v. Hoeplin ist geeignet, das Auge zu schulen. Auf den ersten Blick 
ähnliches Bild, doch grundverschieden. Bei v. Hoeplin?) eitrige Pla- 
ques, die flach dem Untergrund aufliegen, zwischen eitrigen Zügen; 





Abb. 1. 


vermischt mit reichlich Luftblasen. Auf unserer Abbildung 13): Im 
serösen Grunde, der sich im ganzen von der Unterlage abhebt, weiß- 
liche einzelne grauweiße Knollen oder in Gruppen gelagerte Inseln 
von derselben Beschaffenheit. Einzelne Inseln sind leicht gelblich bis 


| grüngelblich durch Einlagerungen von Eiterkörperchen gefärbt. Die 
‚ grauweiße Farbe einzelner Gruppen im Gegensatz zu der schleimig- 


hellen Färbung der einzelnen Flöckchen deutet darauf hin, daß diese 
Zellen eigentümliche Veränderungen erlitten haben, die später be- 
schrieben werden. Untersucht man aus solchen Auswurfteilen etwas 
frisch unter dem Mikroskop, so sieht man zahlreiche rundliche Zellen. 


‚ Die Form ist kreisrund bis oval; einzelne zeigen eckige Ausbuchtungen. 


. Bei einer Vergrößerung von etwa 56 mal (Obj. AA, Okul.2 beihalber Ab- 





!) Marchand, Zur Path. u. path. Anatom. d. Bronchialasthma. Beitr. z. pa- 


‚ thol. Anat. u. z. allg. Pathol. 61, 251. 1915. 


Be 8. 0.8.39. 
?) Alle Zeichnungen stammen von Frl. @. Schlichting-Kiel. 


326 R. Engelsmann: Untersuchungen über das Myelin und die im Auswurf 


blendung und gesenkten Abbee) sieht man, daß diese Zellen einzeln 
oder in Gruppen zusammenliegen, zum Teil helle oder dunkle (leicht 
bräunliche) Einlagerungen und tief schwarze Einschlüsse aufweisen. 
Zwischen diesen Zellen und im Verhältnis in ihrer Menge findet man 
freiliegende, perlmutterartig aufleuchtende Tropfen von runder, läng- 
licher oder hammerartiger Form. Vergrößert man stärker (Zeiß 8 mm, 
Comp. Ok.4, Abb. 2), so sieht man, daß der Durchmesser von 2—3facher 
Größe eines Leukocyten ist (im Bilde kein Leukocyt). Auch da, wo 
die Zellen dicht aneinanderliegen, läßt sich eine polygonale Abplattung 





nicht feststellen. Die Zellen sind meistens vollgepfropft mit groben 
hellglänzenden Körnern, die bei einigen Zellen schwärzlich, bei Ab- 
blendung fettig-weiß erscheinen. Je nach der Beschäftigung und 


Herkunft der Leute findet man in diesen Zellen feinere oder gröbere 


eckige schwarze Einlagerungen (Pigment). 

An dieser Beschaffenheit des Plasmas sind diese Zellen stets ein- 
deutig zu erkennen. Der Kern ist an den ungefärbten Zellen meistens 
nicht zu unterscheiden. 

Die oben beschriebenen freien Tropfen gleichen morphologisch den 
hellglänzenden Körnchen in den Zellen; sie liegen zum Teil auf diesen 
Zellen. Drückt man das Deckgläschen etwas an, so scheinen die Tropfen 
aus den Zellen zu quellen. | 

Die Betrachtung der beschriebenen Zellen im fixierten Zustand stößt 
auf große Schwierigkeiten. Streicht man Auswurfflöckchen, die im frischen 








vorkommenden Zellen, insbesondere die Alveolarepithelien. 327 


Präparat zahlreiche Alveolarepithelien enthalten, z. B. zur Färbung auf 
Tuberkelbacillen zwischen 2 Objektträgern aus und färbt z. B. nach Ziehl, 
so sieht man keine erhaltene Zelle, nur einige Zelltrümmer im gefärbten 
Präparat. Durch das Ausstreichen werden die empfindlichen Zellen zer- 
quetscht, der Inhalt durch Salzsäurealkohol aufgelöst. Aus diesem Grunde 
wird diesen Zellen von den Tuberkuloseärzten so wenig Beachtung ge- 
schenkt. Man muß das Flöckchen mit 2 Nadeln ganz vorsichtig ausein- 
anderbreiten und langsam lufttrocken werden lassen. Färbt man nach 
Giemsa, um den Kern und evtl. Granula darzustellen, so tritt, da in 





Abb. 3. 


diesen Präparaten die Tropfen (Fettsubstanzen!) geschwunden sind, 
ein zierliches Gittergerüst zutage. In Abb. 3 ist eine deutliche Waben- 
struktur sichtbar und an 2 Zellen ist deutlich der Ausfall der Körnchen 
aus diesen Maschen zu sehen. Vergleicht man Abb. 3 mit Abb.1 bei 
Ernst!), so sieht man, daß es sich um identische Zellbilder handelt, 
Ernst?) sagt denn auch: „Wir sehen zuweilen vorzügliche Wabenbilder, 
wie z. B. im Alveolarepithel der Lunge nach Myelinextraktionen durch 
Alkohol.“ Ernst macht in diesem Zusammenhange darauf aufmerksam, 
daß die Bütschlische Schaum-(Waben-)Theorie und die Altmannsche 
Granulatheorie sehr wohl vereinbar sind. Gerade bei den Alveolar- 





1) P. Ernst, Pathol. d. Zelle. Handb. d. Allgem. Path. Krehl-Marchand 3, 23. 
1915. 
er 8.0: 8:46; 


328 R. Engelsmann: Untersuchungen über das Myelin und die im Auswurf 


epithelien wird jeder, der diese Zellen studiert hat, erstaunt sein, einmal 
die grobe beschriebene Körnung, das andere Mal die staubförmige, 
feine Hämosiderineinlagerung in derselben Zellform zu beobachten. 
Ungezwungen erscheint da die Arnoldsche!) Anschauung, der auch 
Ernst?) zuneigt, daß die innere Struktur der Zelle sehr veränderlich 
und stets im Flusse ist. ‚Je nach dem augenblicklichen Funktions- 
zustand kann dieselbe Zelle in ihrem Bau schaumig, wabig oder gitterig, 
fädig, stäbchenhaltig, granular, fein punktiert oder endlich ganz homogen 
erscheinen.“ Der Kern ist groß, chromatinarm; einige Zellen haben 
mehrere Kerne und die meisten ein deutliches Kernkörperchen. Die 
Lage des Kernes neigt zur Randständigkeit, ist aber nicht ausgesprochen 
randständig. 

Abbildungen von Alv.-Epith. finden sich, um nur einige zu nennen, 
bei Daiber?), Sahli?), C. 8. Engel’), Beitzkes) (Aschoff) — gut — und 
bei Ziegler’), Ernst®) — schematisch —. Vorzüglich sind die Darstel- 
lungen bei Bacmeister®) Taf. I Abb.4. Aus allen diesen Abbildungen, 
so verschieden sie auch ausgeführt sind, geht klar hervor, daß es sich 
bei diesen Zellen mit diesen Kernen und Kernkörperchen (Bacmeister, 
Sahlı, Verf.) nur um Epithelzellen handeln kann. 

Es blieb also der Beweis zu erbringen, daß alle diese Zellen epi- 
thelialer Natur sind, und daß dieselben sich tatsächlich bei krankhaften 
Veränderungen der Lungen im Auswurf finden bzw. nur von dem 
Epithel der Lungenalveolen abstammen. 

Hoeplin!®), der in seinem erwähnten Buche versucht hat, aus den 
bisher gültigen Anschauungen das Ergebnis zu ziehen, hat zusammen- 
fassend gesagt: 

1. Kommen, nach Cohn, zweierlei pigmentführende Zellen vor, große 
und kleine. Die kleinen Formen sind granuliert und, nach v. Noorden, 
leukocytärer Natur. 

2. Es sprechen außer experimentellen Untersuchungen klinische 
Erfahrungen entschieden dagegen, daß es sich regelmäßig bei den 
großen ungranulierten Zellen, die gewöhnlich als Alveolarepithelien 
bezeichnet werden, um und nur um Alveolarepithelien handelt. 
Denn diese großen Zellen werden nach v. Hoeßlin am reichlichsten . 
gefunden bei Zuständen, bei denen nicht der mindeste Anlaß besteht, 
eine Beteiligung des Alveolarepithels anzunehmen, z. B. beim einfachen 





1 


J. Arnold, Anat. Anz. 43. 1913, zit. b. Ernst. 


) 

EIER OMEDAAO: 
?) A. Daiber, Mikroskopie des Auswurfs. Wiesbaden 1898, Abb. 3. 
Sc HS Sch. BB 202540623} 5) 0. 8. Engel, a. a. O. S. 139. 
P\a.beilzkbra.,3.2055293, °) E. Ziegler, S. 700 u. 713. 
") Pe Benst ia as 075229, 


9 


) A. Bacmeister, Lehrb. d. Lungenkrankh. Leipzig 1916, S. 89, Taf. 1. 
10) 9. Hoeßlin, a. a. O. S. 135 u. 137. 





vorkommenden Zellen, insbesondere die Alveolärepithelien. 329 


Rachenkatarrh. Sie werden vermißt jedenfalls in größerer Zahl bei 
Erkrankungen, die gerade das Alveolarepithel betreffen. Bei der 
croupösen und katarrhalischen Pneumonie, beim Lungenödem. Hoeßlint) 
stützt seine Ansicht nämlich, daß es unmöglich ist, im Sputum .nach 
Form und übrigen Eigenschaften ihre Herkunft zu erkennen, auch 
auf histologische Befunde. Hoeßlin weist auf Arbeiten von Fischer 
aus den 80er Jahren und »v. Birmer aus den 60er Jahren hin, nach 
denen in den erweiterten Acinis der Schleimdrüsen in der Trachea 
Epithelien anzutreffen sind, die sich in Form und Größe und sonstiger 
Beschaffenheit vom Alveolarepithel nicht unterscheiden. 

Diese Ansichten, die in dem lange erwarteten Lehrbuch ausgesprochen 
sind, entsprechen nicht dem jetzigen Stande der Wissenschaft; die 
Unrichtigkeit derselben hätten sich leicht durch eigene weitere Unter- 
suchungen beweisen lassen. Es soll daher an Hand obiger Einwände das 
gesicherte Material und die noch ungeklärten Fragen in Kürze zu- 
sammengestellt werden. 

Daß die Alveolarepithelien am reichlichsten im Rachenauswurf 
gefunden werden, kann nur behaupten, wer alveolarepithelhaltigen 
Auswurf als Rachensputum bezeichnet. Wir haben aber an eindeutigen 
Untersuchungen bei Lungentuberkulösen festgestellt, daß dieser Aus- 
wurf in engster Beziehung zu dem Lungenprozeß steht. Wer die erste 
Behauptung aufstellt, verneint die Gültigkeit des Leitzellensatzes in 
nicht logischer Weise für eine Zellform [vgl. ©. 8. Engel?), Sahli?), 
Orth*)]. Oder sollten wir die Beweiskette anerkennen, Plattenepithelien 
aus dem Rachen, Zylinderepithelien aus Nase oder Bronchien, Alveolar- 
epithelien nicht aus der Stelle, an der ihre Existenz durch pathologisch- 
anatomische Feststellungen erwiesen ist? Kann gegen die Abbildungen 
von Ziegler, gegen die Feststellungen von Kaufmann, Beitzke, vor allem 
gegen die exakten Untersuchungen von Lange irgendein stichhaltiger 
Einwand erhoben werden? Nach übereinstimmendem Urteil der ge- 


nannten Pathologen werden diese Zellen bei Lungenödem reichlich 


desquamiert. Somit wäre ein positiver Einwand von Hoeßlin negativ, 
ein negativer Einwand positiv entkräftet. Im übrigen hat @eigeP) 
klar die physikalischen Unterlagen für die immerhin überraschend 
leichte Desquamation der Alveolarepithelien gegeben, die experi- 
mentell Lange in seinen schönen Versuchen bewiesen hat. @eigel führt 
aus, daß normalerweise in den Bronchiolen von lmm Durchmesser 
von einigen Becherzellen noch ein Sekret geliefert wird. Von da 
an ist das Sekret gasförmig. CO, und Wasserdampf schützt das Lungen- 
epithel vor Austrocknung und hält es in einem leicht gequollenen Zu- 
stand, der für die Funktion des Gasaustausches unerläßlich ist. Daß 


m32..8.0: 8.122. an. 0 SRAEL LS 502 
ra.8. 0.8.2837. ar OBERE 





330  R. Engelsmann: Untersuchungen über das Myelin und die im Auswurf 


solche Epithelschicht auf Reize von außen und innen ganz besonders 
leicht reagiert, ist verständlich. Was nun die fraglichen Zellen selbst 
betrifft, so ist zu erwarten, daß im Auswurf erscheinen: 

1. Größere und kleinere Lungenalveolarepithelien, die je nach den 
Verhältnissen Pigment enthalten können oder nicht. Im Anschluß 
daran ist die Frage zu stellen: Was ist das sog. Myelin? Woher stammt 
es? Insbesondere, sind die Zellkörnchen in den Alveolarepithelien mit 
dem freien Myelin identisch ? 

2. Herzfehlerzellen, von denen zu erweisen ist, ob sie identisch mit 
den Alveolarepithelien sind oder ob neben diesen auch Leukocyten 
in Frage kommen. 

3. Eigentliche Pigmentzellen, für die festzustellen ist, ob es sich 
um Alveolarepithelien oder um Epithelzellen überhaupt oder um 
leukocytäre Gebilde handelt. 

So klar wie die Fragestellung lautet, läßt sich die Beantwortung 
nicht immer trennen, da vielfach Zusammenhänge bestehen. 

Den Grund zu dieser Arbeit bilden Untersuchungen über die Natur 
der als Alveolarepithelien im Sputum erkannten Zellen. Ich wollte 
durch die Vitalfärbungen versuchen, festzustellen, ob es möglich sei, 
diese Zellen im frischen Präparat leicht kenntlich zu machen. 


Die Technik: Alle Vitalfärbungen an Zellen des Sputums sind schwierig aus- 
zuführen und zu beurteilen, da das schleimige Medium die Aufnahme der Farb- 
stoffe sehr erschwert. 

Man kann die Farblösung entweder auf das frische Sputumflöckchen auf den 
Objektträger bringen und das Deckgläschen darauf legen. Man hebt dann ein 
Kante des Deckgläschen vorsichtig an und läßt es wieder fallen; so saugt sich der 
Farbstoff besser ein. Durchsaugen mittels eines Fließpapieres führt zu keinem 
Ergebnis. Man kann das Sputumflöckchen, welches immer recht klein, grobschrot- 
korngroß sein soll, auch in die Farblösung bringen. Man kann, dem Vorschlage von 
Gross!) folgend, das Sputumflöckchen auf dem Deckgläschen mit heißen Formalin- 
dämpfen fixieren. 

Die erste Methode gab für unsere Untersuchungen die besten Ergebnisse. Den 
Nachteil, daß die Farblösung nicht gleichmäßig einwirkt, beseitigt die Formalin- 
fixierung nicht, da immer einzelne dickere Züge bestehen bleiben und das ange- 
trocknete Präparat den Farbstoff auch im ganzen schlechter annimmt. Diese 
Schwierigkeiten bestehen in fast ausschließlichem Maße für die leicht verletzlichen 
und stets in Schleim eingebetteten Alveolarepithelien. 

Zur Kernfärbung wurde wäßrige und alkoholische Methylenblaulösung und 
das von Goldmann?) besonders empfohlene Trypanblau verwendet. 

Bei alkoholischer Methylenblaulösung werden die Protoplasmakörnchen 
gelöst, die Kerne sind wenig deutlich; bei alkalischer Methylenblaulösung bleiben 
die Zellkörnchen erhalten, die schwachgefärbten Kerne werden verdeckt. Mit Try- 
panblau erhält man vorzügliche Kernfärbungen und kann sie mit den durch 





') Gross, Beitr, z. pathol. Anat. u. z. allg. Pathol. 51. 1911 und Verhandl. d, 
dtsch. pathol. Ges. 1%. 1914 (zit. n. Ernst). 

2, Goldmann, Beitr. z. klin. Chirurg. 64. 1909; %8, 1911; Verhandl. d, dtsch. 
pathol, Ges. 1910; Akad. d. Wissensch. Berlin 1913 (zit. n. Ernst). 














vorkommenden Zellen, insbesondere die Alveolarepithelien. 331 


Giemsalösung am fixierten Präparat dargestellten Kernen vergleichen. Die Proto- 
plasmaeinlagerungen bleiben bei Trypanblaufärbung erhalten. Vergleicht man 
dieselbe Färbung am Präparat, das mit Formoldämpfen fixiert ist, so fällt bei Be- 
nutzung des gleichen Materiales die schlechtere Kernfärbung auf. 

Man sieht am frisch gefärbten Präparat in jeder Zelle 1—2 deutlich 
abgegrenzte Kerne, die analog den in Abb. 4 dargestellten geformt 
und gelagert sind. 

Die Möglichkeit, am frischen Präparat die Zellkerne zu färben, ist 
nach Ernst ein Beweis dafür, daß die Zellen abgestorben sind. Ernst!) 


-) = 


Neutralrot 





Nilblau- 
sulfat 





Abb. 4. 


führt aus, daß am überlebenden Gewebe die Kerne sich erst mit Beginn 
des Absterbens färben und daß sich die Färbung des Kernes umkehrt, 
so daß bei unfixierter Zelle der Kern sich nicht, bei fixierter der Kern 
sich färbt. Dieser Autor?) meint, daß es zur Zeit noch gar nicht möglich 
sei, zu entscheiden, was man eigentlich unter Vitalfärbung versteht, 
und empfiehlt den Ausdruck Färbungsarten am lebenden Gebilde, 
Andererseits scheint es nach Ernst?) festzustehen, daß sich tote oder 
absterbende Dinge innerhalb von lebenden Zellen vital färben lassen, 

Jedenfalls besteht die große Wahrscheinlichkeit, daß es sich bei 
den Alveolarepithelien um abgestorbene Zellen handelt, was von be- 
sonderer Bedeutung in mehrfacher Hinsicht ist. 


3. 0.0.8: 65, 7) 24.:9,.10, 8 52% > 8>31..0,.80.64. 


332  R. Engelsmann: Untersuchungen über das Myelin und die im Auswurf 


Bei dem Versuch, das Zellplasma bzw. die Zelleinlagerungen zu färben, ergab 
sich folgendes (Abb. 4). Mit Neutralrotfärbung färbt sich die Mehrzahl dieser Epi- 
thelien im Untergrund gelbrötlich, die Zellkörnchen ausgesprochen rot. Die um- 
liegenden freien Tropfen färbten sich nicht oder einzeln leicht gelblich. Einzelne 
Zellen, und zwar die dunkelgekörnten (bei Abblendung weißlich erscheinenden) 
Zellen blieben ungefärbt. Färbte man mit Sudan III, so zeigte sich folgendes Ver- 
halten. Nur eine Anzahl dieser Zellen und wie es schien nur die dunkelgekörnten, 
färbten sich diffus orange und einzelne Zellen zeigten tieforange Körnchenfärbung, 
während der größte Teil derselben infolge der alkoholischen Lösung geschwunden 
war. Die freiliegenden Tropfen waren geschrumpft, zeigten ein schichtartiges 
Äußeres und wurden leicht gelblich getönt. Die Färbung mit Sudan III bereitet 
erhebliche Schwierigkeiten, da aus der alkoholischen Lösung Niederschläge ent- 
stehen und das Sputumteilchen schrumpft. Eine Simultanfärbung Neutralrot- 
Sudan III gelang nicht wegen der Gleichheit des Farbtons, so daß nicht sicher 
entschieden werden konnte, ob die mit Neutralrot nicht gefärbten Körnchen sich 
mit Sudan III färben und umgekehrt. 

Bei Färbung mit Nilblausulfat tritt eine Färbung aller körnchenhaltigen 
Zellen ein; diese sind intensiv blau, der Zellgrund diffus bläulich gefärbt. Die freien 
Tropfen sind ungefärbt oder leicht bläulich getönt. Nach Wasserzusatz läßt sich 
eine abnorme Quellbarkeit weder in den Zellen noch an den freiliegenden Tropfen 
feststellen; sie bleiben unverändert ebenso bei Zusatz von Essigsäure. Nach NaOH- 
oder KOH-Zusatz treten die Körnchen in den Zellen, vor allem die freiliegenden 
Tropfen, scharf hervor. Benzin oder Äther löst die Körnchen in den Zellen ganz, 
die freien Tropfen fast ganz auf; in den Alveolarepithelien bleibt eine staubförmige 
Körnung des Protoplasmas zurück. Nach Jodzusatz werden die Zellen kanarien- 
gelb bis bräunlich, die freien Tropfen zitronengelb gefärbt. Nach H,SO,-Zusatz 
werden die Zellen braun, die Kerne werden deutlich, aber nicht dunkler, die freien 
Tropfen bleiben unverändert. Jod H,SO, nacheinander einwirkend gibt keine 
Violettfärbung, die Zellen bleiben braun. Mit Osmiumsäure färben sich auch die 
dunklen Körnchen nicht schwarz, auch nicht die freien Tropfen; einzelne Tropfen 
werden gelegentlich graubräunlich gefärbt. Die Oxydase-Reaktion, die nach 
Ernst!) nach dem heutigen Stand unserer Kenntnisse am einwandfreiesten die 
Unterscheidung der granulierten Zellen (Leukocyten) von Gewebszellen ermöglicht, 
fiel bei allen untersuchten Auswurfproben bei den Alveolarepithelien negativ aus. 
Auch hier verließen wir uns nicht auf die Formolfixierung, sondern brachten die 
Flöckchen in die Lösungen ein und untersuchten dann. 

Im Polarisationsmikroskop zeigten weder die Alveolarepithelien mit glänzen- 
den noch schwärzlichen (fettähnlichen) Körnchen noch die freien Tropfen bei 
wiederholten Versuchen an verschiedenen Präparaten Doppelbrechung. 


Vergleicht man diese Befunde mit den üblichen Angaben, so findet 
man auffallende Unterschiede. Z. B. gibt Hoeßlin?) an, daß das im 
Sputum vorkommende Myelin in Wasser quillt, bei Essigsäurezusatz 
koaguliert, nach Einwirkungen von H,SO, rotviolett gefärbt wird. 
Besonders wichtig ist die Behauptung von Schultze?), daß das aus den 
Alveolarepithelien stammende Myelin doppelbrechend ist, ferner die 
Bemerkung, daß das, was Verfettung der Alveolarepithelien genannt 
wird, doppeltbrechende Substanz ist. 





LER ASERSS 125. EB 3: 08.148, 
°) Schultze, W., Über doppelbrechende Substanzen in den Lungen von Er- 
wachsenen. Verhandl. d. dtsch. pathol. Ges. XV. Tagung 1908, 8. 226. 





._— =. 


—. 


_— —_ a nn a > 


m Lan 














vorkommenden Zellen, insbesondere die Alveolarepithelien. 333 


Die ersten diesbezüglichen Untersuchungen stammen von Kaiserling 
und Orgler!), die angeben, häufig doppelbrechende Tropfen im Schleim 
der Bronchien und deren Epithelzellen in Abstrichpräparaten gefunden 
zu haben, ferner reichlich bei der fibrinösen Lungenentzündung, ebenso 


' in den fettig metamorphosierten Epithelzellen bei chronischer Broncho- 


pneumonie und bei tuberkulösen Prozessen. 

Hochheim?) hat in der Zusammenstellung seiner ausgeführten Reak- 
tionen die Doppelbrechung nicht angegeben, schreibt aber zum Schluß: 
„Nach Müller ist das Protagon doppelbrechend, die in den Lungen- 
alveolarepithelien Neugeborener gefundenen Tropfen ebenfalls.“ Es ist 
immerhin möglich, daß Hochheim sich auf die Autorität von Müller 
verlassen hat. | 

Um das Myelin ist fast so heftig gekämpft worden wie um die Ab- 
stammung der Alveolarepithelien. Leider scheint es der grundlegenden 
Arbeit von Aschoff?) ebenso ergangen zu sein wie der Arbeit von 
F. W. Beneke, über die Aschoff die Bemerkung gemacht hat, daß sie 
viel zu wenig bekannt sei. Aschoff, auf dessen Arbeit noch öfter Bezug 
genommen werden muß, führt bei einer Zusammenstellung an, daß 
von folgenden Autoren in den Lungenalveolarepithelien doppelbrechende 


Substanzen gefunden wurden: von Schmidt und Müller!) im Sputum; 


Kaiserling und Orgler®) bei Pneumonien und Tuberkulose; Hochheim®) 
in den Lungen Neugeborener; Schultze’) bei Buhlscher Desquamativ- 
pneumonie. 

Die Ansichten über die Myeline gingen von der Morphologie 
(Virchow) aus. Später wurde versucht, durch die Doppelbrechung 
eine Scheidung zu ermöglichen [Kaiserling und Orgler; Dunin Kar- 
vicka®)]; un“ schließlich hat Aschoff, auf Benekes Arbeiten fußend, mit 
sicherem Blick das chemische Prinzip als maßgebend herausgearbeitet. 
Dabei blieben freilich die eigentlichen Myeline, die in postmortale und 


 autolytische geschieden worden, noch vielfach Stiefkinder. Es fragt 


sich, ob die von uns gewonnenen eindeutigen färberischen Resultate 
uns Aufschlüsse über die in den Zellen vorhandenen fettähnlichen 
Tröpfchen gegeben haben. Daß es sich um eine Fettart handelt, ergibt 





1) Kaiserling und Orgler, Über das Auftreten von Myelin in Zellen und seine 
Beziehung zur Fettmetamorphose. Virchows Arch. f. pathol. Anat. u. Physiol. 
16%, 296. 1902. 

?) Hochheim, H., Über einige Befunde in den Lungen Neugeborener. Festschr. 
f. Orth. Berlin 1903, S. 421. 

%) Aschoff, L., Zur Morphol. d. lipoid. Subst. Beitr. z. pathol. Anat. u. z. 
allg. Pathol. 4%, 1ff. 1910. 

*) Schmidt und Müller, Berl. klin. Wochenschr. 1897, Nr. 4 (zit. bei Aschoff). 

ER TEOLOR DATA D: ara 

8) Dunin Karvicka, Über d. physik. Verh. u. d. physiol. Vorkommen d. 
doppeltbrechenden Lipoida. Beitr. z. pathol. Anat. u. z. allg. Pathol. 50, 483. 1911. 


334 NR. Engelsmann: Untersuchungen über das Myelin und die im Auswurf 


sich ohne weiteres aus den chemischen Reaktionen. Um welche Art 
von Fett handelt es sich? Das negative Verhalten gegenüber der 
Osmiumsäure weist dieser Substanz ohne weiteres den Platz unter 
den Neutralfetten ein. Das negative Verhalten der Osmiumsäure 
gegenüber hat mit uns durch eigene Untersuchungen Hochheim!) fest- 
gestellt. Fr. Müller?) sagt ‚eine Umwandlung des Myelins in ein mit 
Osmiumsäure sich schwärzendes Fett habe ich in den Alveolarepithelien 
niemals nachweisen können“. Auch die mit den dunklen (fettähnlichen) 
Tröpfchen gefüllten Alveolarepithelien gehen keine Veränderungen 
durch Osmiumsäure ein. ‘Betrachtet man die Aufstellung, die Aschoff2) 
in seiner erwähnten Arbeit gibt, so kommen unter den Neutralfetten 
nur die Fettsäuren oder Seifen in Betracht. Aschoff gibt als charakte- 
ristisch an: Neutralrot-tiefrot, Sudan-rot, Nilblausulfat-blau, Ca, Si 
und Kupferung = Hämatoxylin Lackbildung. 

Schmorl*) gibt in seiner neuesten Auflage etwas abweichend an: 
Sudan-gelb. Übereinstimmend geben beide Autoren an, daß bei Färbung 
nach Fischer eine tiefschwarze Färbung auftritt. Hochheim) hat nach 
Formol-Müller-Härtung mit Hämatoxylin-Sudanfärbung alle Epithelien 
der Lungenalveolen mit schwarzblauen Massen gefüllt gesehen. Da- 
neben konnte er in vielen Zellen nach Sudan III gefärbte Tröpfchen 
nachweisen. Hochheim betont ausdrücklich, daß diese Fetttröpfchen 
auf resorbierte Fettmassen zurückzuführen seien und daß sie fehlten, 
wenn Aspiration von Milch auszuschließen war. Färbungen mit Neutral- 
rot hat Hochheim nicht ausgeführt, aber seine, was die Vorbehandlung 
anbetrifft, modifizierte Färbung läßt ebenfalls den Schluß zu, daß 
es sich um freie Fettsäuren handelt. Hier sind die Untersuchungen 
Langes®) ergänzend anzuführen, der als Schüler Albrechts Neutralrot 
zur Färbung verwendete und so die myelinartige „Entmischung“ des 
Zellprotoplasmas sehr deutlich darstellen konnte. Aschoff?), der diese 
Untersuchungen Langes zitiert, meint, daß diese Langeschen Tropfen 
scharf von den in den Alveolarepithelien bei Buhlscher Desquamativ- 
pneumonie auftretenden anisotropen Tropfen getrennt werden müssen, 
Da ich durch verschiedene Färbmethoden eindeutig feststellen konnte, 
daß es sich bei den in den Alveolarepithelien auftretenden Tropfen um ° 
Fettsäuren handelt, war es klar, daß das Fehlen der Doppelbrechung 
bei allen Untersuchungen nur verständlich ist. Aschoffs Verdienst ist 
es ja, darauf hingewiesen zu haben, daß die Doppelbrechung einzig 
und allein abhängig ist von dem Vorkommen von Cholesterin. Da 
Cholesterin in diesen Tröpfchen sicher nicht enthalten ist (Jod-H,SO, 
negativ, Neutralrot positiv), so ist auch hierdurch das Fehlen der 


3)52,°8,'0.° Pan ONS.: 275.86 Bin, a0, 8 Are 
*) Schmorl, G., Untersuchungsmethoden. Leipzig 1918, S. 197. 
ara! N ala..O; 7) 8.240.840; 


5 











vorkommenden Zellen, insbesondere die Alveolarepithelien. 335 


Doppelbrechung begründet. Ich habe dieselben Alveolarepithelien bei 
akuter und chronischer Tuberkulose, bei eroupöser Pneumonie, bei 
Stauungsprozessen, bei Neugeborenen untersucht, und immer dasselbe 
Verhalten festgestellt. Ich stehe daher nicht an zu behaupten, daß 
Kaiersling und Orgler sich geirrt haben müssen und Schultzes!) Ver- 
allgemeinerung nicht richtig ist. In den Fällen, die Schultze?) selbst 
untersucht hat und von denen Abbildungen beigefügt sind, handelt 
es sich offensichtlich um ganz besondere Fälle; um Bildung von Krystalle, 
deren Ursprung ebensowenig geklärt sein dürfte wie die Beobachtungen 
von Marchand?), der bekanntlich seltsame krystallförmige Gebilde 
in den Alveolen von Stauungslungen gefunden hatte. 

Die Tröpfchen, die in den Alveolarepithelien bei den verschiedensten 
Krankheitsprozessen der Lungen im Sputum auftreten, sind nicht 
doppelbrechend und stets mit Neutralrot färbbar. Hochheim und 
Lange haben genau dieselben Tröpfchen, wie ich in den Lungen- 


‚alveolarepithelien festgestellt, und daher bilden diese Beobachtungen 


auch ein einheitliches Ganzes, sind also nicht, wie Aschoff4) meint 


‚(der diese Angaben nicht selbst nachgeprüft hat), zu trennen. 


Ergänzend muß noch darauf hingewiesen werden, daß diese Alv.- 


Epith. bei Jodfärbung eine bräunliche Färbung annehmen. Da bei 
‚ nachträglicher Einwirkung von H,SO, keine Farbänderung eintritt, 


die für Amyloid oder Cholesterin je nach der Farbnuance typisch wäre, 
kommt nur Glykogen in Frage. Nach Ernst’), auf dessen Ausführungen 


‚hier verwiesen werden kann, bestehen zahlreiche Parallelen zwischen 


Auftreten und Verschwinden von Fetten und Kohlenhydraten in der- 
selben Zelle. 

Es muß hier gleich die Besprechung der freiliegenden sog. „Myelin- 
tropfen“ angeschlossen werden, da ihr Verhalten aus der obigen Zu- 
Sammenstellung ersichtlich ist. Auffallend ist die geringe Färbbarkeit 


dieser Substanz, die nur insoweit geklärt werden konnte, daß keine 
Myelinfiguren gebildet werden und keine Doppelbrechung besteht. 
Außerdem zeigen diese freien Tropfen ein analoges Verhalten gegen 
Wasser, NaOH, Essigsäure gegen Benzin. Eine Farbtönung ent- 
sprechend der Färbung der Tröpfchen in den Zellen kann man an 


vielen Tropfen feststellen. Ich glaube daher, daß es sich um dieselbe 


‚ Substanz handelt, aus der die Tropfen in den Zellen bestehen. Diese 
| freien Tropfen liegen aber im Schleim gewissermaßen eingebettet und 


| 1) Schultze, W., Über das Vorkommen von Myelin im normalen und kranken 


Organismus. Ergebn. d. allg. Path. u. path. Anat. Lubarsch u. Ostertag 13, 
‚II, 253. 1909. 


9)a,a.:0. 
®) Marchand, F., Über eigentümliche Pigmentkrystalle in d. Lungen. 


Verhandl. d. dtsch. pathol. Ges. X. Tagung 1906, S. 223. 


Era. 2. 0. 8,40, °®) a. a. O. 8. 193, Zeile. 14; S. 194, Zeile, 28, 


336 AR. Engelsmann: Untersuchungen über das Myelin und die im Auswurf 


dadurch wird die Färbmöglichkeit in noch viel höherem Maße erschwert 
als für die Zellen. In diesen fällt die Färbeschwierigkeit fort, wenn die 
Zellgrenze erreicht ist. So glaube ich, daß auch diese Schwierigkeit 
befriedigend überwunden ist. 

Über die Abstammung der freien Myelintropfen haben sich besonders 
geäußert Panizzat) und Knauff?). Beide nehmen auf Grund experi- 
menteller Untersuchungen an, daß das Myelin aus der Tracheal- und 
Bronchialschleimhaut stammt. Knauff meint, daß das Myelin direkt 
ein Produkt der Becherzellen ist, Panızza, daß das Myelin aus Schleim 
entsteht, durch Zellen, gelegentlich auch durch Alv.-Epith. phagoeytiert 
und in Myelin umgewagdelt wird. 

Auch Ad. Schmidt?) glaubt, daß das Myelin erst im Sekret gebildet 
wird, während die ursprüngliche Substanz, das Protagon aus der Lunge 
stammt. 

Zoja*), Kaiserling und Orgler, Friedrich Müller sind der Ansicht, 
daß das freie Myelin aus den Alveolarepithelien stammt. Buhl), 
Guttmann und Smith®), Hochheim, Albrecht’) und Lange äußern sich 
bestimmt dahin, daß die in den Alveolarepithelien gefundenen sog. 
Myelintröpfehen in diesen Zellen gebildet werden. Nach Hoeßlin ist 
der Hauptgrund gegen die Abstammung des Myelins aus der Lunge 
wiederum der, daß das Myelin besonders häufig bei chronischen Rachen- 
katarrhen vorkommt. Hoeßlin zitiert die Befunde von Panizza®), der 
500 gesunde Leute untersucht hatte. 

In 54% der Fälle wurden im Früh- oder Tagesauswurf pigment- 
haltige oder -freie Myelinzellen und freies Myelin gefunden. | 

Im serös-schleimigen Sekret wurden diese Gebilde in 60%, wenn 
es sich in diesen Fällen um Frühsputa handelte in 75%, im geringen, 
zähen Morgensekret in 86%, im Auswurf von Schmieden, Schlossern, 
Schreinern, Bäckern und Köchinnen in 93% der Fälle gefunden. Diese 





1) Panizza, O., Über Myelin, Pigment und Epithelien im Sputum. Arch. | 
klin. Med. 28, 343#f. 1881. | 

2) Knauff, Das Pigment der Respirationsorgane. Virchows Arch. f. pathol. | 
Anat. u. Physiol. 39, 442ff. 1867. | 

3) A. Schmidt, Über Herkunft und chemische Natur der Myelinformen des | 
Sputums. Berl. klin. Wochenschr. 1897, Nr. 4. | 

4) Zoja, L., Über Leeithin in den Alveolarzellen der Lungen und über die 
diagnostische Bedeutung der Myelintropfen in Sputum. Ref. Malys Jahresb. über 
d. Fortschr. d. Tierchem. %4, 694. 1894. 

5) Buhls, Lungenentzündung, Tuberkulose und Schwindsucht. Zwölf Briefe 
an einen Freund. München 1873. 

6) Guttmann und Shmith, Über Vorkommen und Bedeutung d. Lungen- 
alveolarepithelien in d. Sputis. Zeitschr. f. klin. Med. 3, 124. 1881. 

?) Albrecht, Die Bedeutung myelogener Stoffe im Zelleben. Verhandl. d. 
dtsch. pathol. Ges. IV. Tagung 1893, S. 95. 

8), a. :8..0..8, 355. 








vorkommenden Zellen, insbesondere die Alveolarepithelien. 337 


Befunde sprechen an sich nicht dafür, daß das Myelin ein dem normalen 
Respirationssekret aller Menschen zukommender Befund ist. 54%, ist 
eben nur etwas mehr als die Hälfte der Fälle. Es fehlt die Angabe 
über Alter der Untersuchten und die Menge des aufgefundenen Myelins. 

Ich konnte bei 99 gesunden Soldaten nur 18 mal im ganzen Myelin, 
also in 18% der Fälle nachweisen. Wie man aus der Tab. I ersieht, 
steigert sich das Verhältnis beim schleimig-flockigen auf 3:6, beim 


' glasig-schleimigen Sputum auf 5:5. 


Es ist also nicht verwunderlich, daß Panizza, sowie er geformtes 
Schleimsekret bekam, die hohen Zellen fand. Außerdem sind die 


‚ Berufsgruppen, die er anführt, reizenden Einflüssen auf das Atmungs- 
system besonders ausgesetzt. Fr. Müller!) beurteilt infolge seiner 


pathologisch-anatomischen Einstellung die Frage wesentlich anders. 
„Der Umstand, daß im Sputum der Katarrhe stets so große Mengen 


‚ von Alveolarepithelien angetroffen werden, spricht dafür, daß auch 


! 


das Lungengewebe an dem chronischen Reizzustand teilnimmt.“ 
Fr. Müller hat auch niemals eine Ausscheidung des Myelins durch die 
Becherzellen des Bronchialepithels gesehen, wie seiner Ansicht nach 
„Panizza irrtümlicherweise annahm“. 

Ja Fr. Müller?) geht so weit, bei Probepunktionen des Pleura- 
inhaltes dem Befund von Myelinkugeln eine große diagnostische Be- 
deutung dahingehend zuzuschreiben, daß die Lunge verletzt wurde. 


Auch Sahli?) weist in seinem Lehrbuch darauf hin, daß der Befund 
' von Myelinkörnern im Punktionssaft (Punktion intrathorakischer Tu- 


! 
N 





‚ moren) sicher darauf schließen läßt, daß der punktierte Teil der Lunge 


angehört. Sahlv ist allerdings mit Schmidt und Müller der Ansicht, 


‚ daß das Myelin hauptsächlich aus Protagon bestehe. Aschofft) weist 


darauf hin, daß dieser Begriff chemisch nicht haltbar ist und darum 
durch ‚‚sog. Lecitine‘“ zu ersetzen sei. 

Ich glaube gezeigt zu haben, daß schwerwiegende Gründe dafür 
sprechen (bzw. es als gesichert erscheinen lassen), daß die großen 
runden Zellen im Sputum Alveolarepithelien sind, die vermöge ihrer 


epithelialen Natur und ihrer physikalischen Verhältnisse auf geringe 


Reize besonders leicht desquamieren und myeline Einlagerungen zeigen. 
Da diese Zellen sehr verletzbar sind, treten die Tröpfchen aus der 


| Zelle aus und bilden die freien Myelintropfen. 


| 
| 


| 
| 


Wie soll man nun die Tröpfchen benennen ? 

Wie entstehen sie? Innerhalb der Zelle, durch intravitale, auto- 
Iytische oder postmortale Vorgänge ? ! 

Aschoff?) hat vorgeschlagen, den Namen Myelin fallen zu lassen 


_ und von isotropen oder anisotropen Fetttropfen zu sprechen, solange 


8.30. 8. 275. ara Od ie 8 VEN 100. 
E7B22.:0. 82:3. 5) a. 2.0. 8.734: 


Z. f. klin. Medizin. Bd. 100. 22 


338 R. Engelsmann: Untersuchungen über das Myelin und die im Auswurf 


man die chemische Frage noch nicht für endgültig erledigt anzusehen 
glaubt. Aschoff unterscheidet eine Cholesterinesterverfettung (aniso- 
trope Fetttropfenbildung) und eine Glycerinesterverfettung (eine iso- 
trope Fettropfenbildung). Aschoff!) löst die alte Streitfrage über 
exogene und endogene Fettbildung dahin, daß bis jetzt nur die exogene 
Bildung der Glycerin- und Cholesterinester im Sinne Arnolds, d.h. die 
Fettinfiltration, sei sie einfacher oder degenerativer Natur, sicher- 
gestellt oder wahrscheinlich gemacht ist. Auch Ernst?) spricht dieser 
Bildungsweise die Hauptrolle zu, erörtert gleichwohl die endogene 
Lipogenese. Aschoff?) will von dieser ersten Form ‚scharf trennen“ 
die myeline Zersetzung der toten Zelle (Myelinbildung aus phosphatid- 
artigen Kern-Protoplasmabestandteilen und der in ihren etwa vor- 
handenen intra vitam gespeicherten Glycerin- und Cholesterinfette 
(Paramyelinbildung). 

Danach kommen wir zu der Frage der postmortal oder autolytisch 
entstehenden Myeline. 

Dem Gedankengange von Ernst folgend, war anzunehmen, daß die 
Zelltröpfehen erst autolytisch oder postmortal entstehen, da die Mög- 
lichkeit der Kernfärbung am frischen Präparat die starke Schädigung, 
ja den Zelltod andeutet. 

Diese Frage ist praktisch von großer Bedeutung, denn wenn es 
sich um Zellen handelt, die im abgestorbenen Zustand aus dem Zell- 
verband ausscheiden, dann ist es erstens ausgeschlossen, daß diese 
Zellen etwa das Myelin noch auf der weiteren Wanderung aufnehmen 
können, und zweitens, daß sie imstande wären, Pigment nach Ver- 
lassen ihres Sitzes aufzunehmen, also phagoeytär tätig zu sein. 

Nun haben sich die Begriffe intravitale und postmortale Myeline 
vollständig verschoben. 

Es ist sehr auffallend, wie aus der Zusammenstellung von Dunin 
Karvicka hervorgeht, die doppelbrechenden Lipoide besonders häufig 
in der Nebenniere, Hypophyse, Schilddrüse, Epithelkörperchen und 
Hoden gefunden wurden, Organen, die in bekannter Beziehung zur 
inneren Sekretion stehen. In diesem Sinne lehnt Dunin Karvicka 
für das Auftreten dieser Tröpfehen einen degenerativen Vorgang ab. 
Aschoff hat ja auch vorgeschlagen, von Cholesterinesterverfettung zu 
sprechen und den Namen intravitale Myeline fallen zu lassen. Den- 
selben Standpunkt vertritt auch Ernst. 

Andererseits führt Ernst!) aus, daß die Autolyse nicht auf die Zeit 
nach dem Tode beschränkt ist, sondern auch bei Nekrobiosen an 
Geweben, die von der Ernährung ausgeschlossen sind, durch Wirkung 
intracellulärer Fermente möglich ist. 


En ERAMII SEA aaa. DES IOARELSO, 
RABEN Ach RU ER ECHT: 





vorkommenden Zellen, insbesondere die Alveolarepithelien. 339 


So empfiehlt es sich, auch hier von isotropen Lipoidtröpfcehen, die 
autolytisch entstehen, und wenn es gelingt, die chemische Natur fest- 
zustellen, von autolytisch auftretenden Fettsäuretröpfchen zu sprechen 
und den Ausdruck „postmortale Myeline‘“ aufzugeben. 

Wesentlich ist, daß bei allen diesen Veränderungen objektiv die 
Veränderungen am Kern am wichtigsten sind. Die trübe Schwellung 
und die großtropfige Degeneration war wiederherstellbar, die diffuse Farb- 
barkeit der ganzen Zelle durch Farbstoffe (Tolidinblau) bei gleichzeitiger 
Kernschädigung nicht [Groß zit. bei Ernst!), Cesar Bianchi, zit.bei Möncke- 
berg?)]. Albrecht, Dietrich und Hegler®) führen die Bildung von Myelinen 
auf den Kern zurück. Aschofft) glaubt auch, daß die Rotfärbung der 
postmortalen Myeline auf das Auftreten von Säuren, wahrscheinlich 
ungesättigten Fettsäuren beruht. Diese können entweder aus den 
Phosphatidien des Kernes oder aus den Albrechtschen Liposomen oder 
nach Aschoff durch Konfluenz kolloidal im Protoplasma gelöster 
myelinogener Substanzen gebildet werden. Fr. Lange hatte festgestellt, 
daß bei ganz frischem Material die Körnchen in Alv.-Epith. sich ganz 
schwach gelblichrot mit Neutralrot färbten. Nach mehreren Stunden 
und Tagen trat eine ganz besonders starke Rotfärbung auf, während 


gleichzeitig der Kern ungefärbt blieb bzw. nur mit Mühe einige Struk- 


turen erkennen läßt. Würde die Durchspülung der Lunge längere Zeit 
fortgesetzt, dann zeigten alle körperwarm untersuchten Alv.-Epith. 
großtropfige Entmischung. 

Hochheim ist der Ansicht, daß die im Zellteil auftretenden Körnchen 
auf einen degenerativen Vorgang zurückzuführen sind, der sicherlich 
zum Untergang der Alv.-Epith. führen kann, aber nicht muß. Hoch- 
heim meint, daß gegen eine postmortale Bildung des Myelins in den 
Zellen spricht, daß bei einem Kinde, daß 21/, Stunden gelebt hatte 
und 2 Stunden nach dem Tode seziert worden war, reichlich Myelin- 


' tropfen gefunden wurden. 


Im fixierten Präparat zeigten die Kerne alle möglichen Stadien 


| des Kernschwundes bis zum Kernzerfall. 


Zusammenfassend folgert Hochheim, daß das Auftreten von Myelin- 


| tropfen ein gewöhnlicher Vorgang ist, teilweise postmortal erfolgt. 





Durch Fruchtwasseraspiration kann die Myelindegeneration schon intra 
vitam auftreten. 
Hochheim nimmt nicht Stellung zu der Frage, ob die Alv.-Epith. 


' das Fett (bei Milchaspiration) nur solange sie im Zellverband liegen, 
‚ aufnehmen, oder auch als freiliegende Zellen. | 


1) Gross, zit. bei Ernst a. a. O. 8. 329. 
2) Cesar Bianchi, Frankfurt. Zeitschr. f. Pathol. 3. 1909, zit. bei Mönckeberg. 


 Handb. d. allg. Path. Krehl-Marchand. Leipzig 3,420, 1915. 


3) Zit. bei’ Aschoff a. a. O. 8. 39. MWara8 0. 8. Al: 
22* 


340 NR. Engelsmann: Untersuchungen über das Myelin und die im A uswurf 


Beide Untersucher konnten demnach zugleich mit dem Auftreten von 
mit Neutralrot färbbaren Körnchen schwere Kernschädigungen nach- 
weisen. Einen grundsätzlichen Unterschied zwischen Myelinen, die im 
Körper gebildet werden, und denen, die im Brutschrank (Albrecht) 
erzeugt werden, vermag ich nicht anzuerkennen. Im letzteren Fall 
werden im Experiment die Bedingungen nachgeahmt, unter denen eg 
im Körper zu einer Bildung von sog. Myelinen auf autolytischem Wege 
kommt. Ich konnte im Schaum der Trachea eines während der Geburt 
verstorbenen Neugeborenen Zylinderzellen mit tadellos erhaltenen 
Flimmerfortsätzen und zahlreiche in Gruppen zusammenliegende Al- 
veolarepithelien mit deutlichen Kernen und glänzenden fettähnlichen 
Tröpfchen finden. Hoeßlin!) hatte, wie schon bemerkt, als Einwand 
gegen die großen runden Zellen als Alv.-Epith. geltend gemacht, daß 
sie bei der croupösen Pneumonie und dem Ödem nur spärlich gefunden 
würden und jedenfalls nicht entsprechend der massenhaften Abstoßung 
in den Alveolen. 

Kurz vorher hatte Hoeßlin?) die Untersuchungen von Guttmann und 
Schmidt zitiert; Autoren, die sich durch einen besonders kritischen 
Gedankengang auszeichnen. Um so wertvoller sind die Ergebnisse. 

„In allen von uns untersuchten Fällen haben wir während der 
ganzen Dauer der Erkrankung Alv.-Epith. gefunden... In dem rein 
eitrigen Sputum findet man die Alv.-Epith. (natürlich!) nur zu- 
fällig... Sie finden sich am dichtesten in den grauen Partien um die 
rostbraunen Partien, in den ersten Tagen in geringen Mengen. Es ist 
in diesen frisch gequollenen Gebilden die Fettdegeneration(?) vor- 
wiegend, sehr häufig ist dieselbe so stark, daß die Epithelzellen zu 
wirklichen Körnchenkugeln werden; in denen vor lauter Fetttröpfchen 
der Kern unsichtbar wird. Bald, schon nach wenigen Tagen, gesellt 
sich Myelindegeneration hinzu, die dann in der Rekonvaleszenz 9a 
ganze Gesichtsfeld erfüllt.“ 

Es war daher erforderlich, Hoeßlins negative Angaben nachzuprüfen; 
andererseits bot der eyclische Verlauf der Pneumonie die Gelegenheit, fest- 
zustellen, ob Änderungen in bezug auf die Farbreaktionen an den Alv.- 


Epith. auftreten, je nach dem Grade der zu erwartenden Zellschädigung. - 


Die Nachuntersuchungen wurden in dem Laboratorium an Kranken 
der Med. Klinik und in der Prossektur der städtischen Krankenanstalt 
in Kiel vorgenommen. Herrn Prof. Schittenhelm und Herrn Dr. Em- 
merich bin ich für freundliches Entgegenkommen zu Dank verpflichtet. 

Eine Schwierigkeit bestand darin, daß man in der Klinik ganz 
frische Fälle von croupöser Pneumonie nicht zur Beobachtung be- 
kommt. Andererseits waren im letzten Jahre lobäre Pneumonie selten. 
Ich mußte mich also gewissermaßen mit Ausschnitten begnügen. 

1) a. a. O0. 8. 19. 2) a. a. 0. 8. 129, Zeile 2ff, 





vorkommenden Zellen, insbesondere die Alveolarepithelien. 341 


FallI. Zunächst wurde bei einem 36 Jahre alten Pat. Z., der am 6. Tage der 
Erkrankung an Pneumonie in die Med.-Klinik eingeliefert wurde, der Auswurf 
fortlaufend untersucht. 19, IV. rostbraunes Sputum. In den rötlichen Inseln rote 
und weiße Blutkörperchen und Alv.-Epith. in Gruppen zusammenliegernd. Das 

_ Plasma ist fein punktiert, es zeigt einzelne gröbere Tröpfcheneinlagerungen. Freie 
Fetttröpfchen spärlich. In diesem Flöckchen viele Pneumokokken. 

Die Neutralrotreaktion ist pos. alkoholische Sudan III, neg. desgl. Nilblau- 
sulfat. 

20. IV. Sputum rostbraun-eitrig. In den eitrigen Teilen Eiterkörp. u. Platten- 
Epith., im rostbraunen Teil rote und weiße Bl.-K. und stark schwärzlich pigmentierte 
Alv.Epith. In der Umgebung dieser Zellen freie Fetttropfen. Die Alv-Epith. sind 
mittelgrob gekörnt, die Kerne sind sichtbar. 

22. IV. Sputum bräunlich-rötlich. In diesen Teilen mäßig reichliche Alv-. 

‚ Epith. mit schwärzlichem Pigment. Das Plasma ist fein gekörnt. Neutralrot- 
 färbung an allen Zellen pos. Nilblausulfat erst nach einiger Zeit. Sudan III neg. 
| 23. IV. Sputum unverändert. Neutralrottfärbung pos. Mit Nilblausulfat 
‚ werden einzelne Zellen deutlich gefärbt. In einzelnen Zellen sind gröbere, mit 
Sudan III goldgelb gefärbte Tröpfchen sichtbar. 

| 24. IV. Sputum mehr eitrig, daneben rötliche Züge. Im eitrigen Teil nur 


, E.-K. im rötlichen Teil viele Alv.-Epith. Neutralrotfärbung nicht an allen Zellen 
‚ pos. Nilblausulfat stark pos. Mit Sudan III färben sich einzelne Tröpfchen elektiv 
‚ goldgelb, gleiche Tröpfchen sind in Mehrzahl der E.-K. sichtbar. 
| 25. IV. Die eitrigen Plaques nehmen zu, sie enthalten E.-K.-und Platten-Epith.; 
‚ daneben graurötliche Streifen, in denen zahlreiche stark pigmentierte Alv.-Epith. 
| liegen. Die Eisenreaktion ist neg. Neutralrotfärbung pos.: Nilblausulfat u. Sudan 
HI an mehreren Zellen pos. Die Pneumonie hatte sich nicht kritisch gelöst; der 
' Temperaturabfall erfolgte 1ytisch. 
| 26. IV. Wenig Eiter. Einzelne blutig gefärbte Partien enthalten Alv.-Epith. 
‚ Diese werden z. T. mit Neutralrot, z. T. mit Sudan III stark gefärbt. 
| 27. 1V. Inden eitrigen und blutigen Partien Alv.-Epith. von verschiedener Größe 
‚und in verschiedener Menge. In den eitrigen Partien wenige Alv.-Epith. Bei Neutral- 
 rotfärbung diffuse Färbung des Zellteiles, in dem z. T. ungefärbte Partien ver- 
bleiben. Dasselbe Verhalten bei Nilblausulfatfärbung; hierbei ist in vielen Zellen 
‚ punktförmig angeordnetes schwarzes Pigment sichtbar. Mit Sudan III werden 
mäßig reichliche grobe Tröpfchen goldgelb gefärbt. 
| 28. IV. Blutige Streifen; darin Züge von Alv.-Epith., die in Gruppen zusammen- 
liegen; dazwischen rote Blutkörperchen. Die Alv-Epith. sind z. T. schwärzlich pig- 
mentiert und sind von verschiedener Größe. Färberisches Verhalten wie am 
21. IV. 
1. V. Viele eitrige Piaques; in denen neben E.K. einzelne mehr oder weniger 
| stark pigmentierte Alv.Ep. liegen, welche grobe Tröpfchen im Zelleib aufweisen. 
Die Konturen dieser Zellen sind unscharf; sie sehen gequollen aus. Kerne sind 
‚undeutlich. Färbung mit Neutralrot schwach, desgl. mit Sudan III und Nilblau- 
‚sulfat. 
| 2. V. Entfieberung. In den eitrigen Plaques nur einzelne Alv.-Epith. wie 1. V., 
_ 9. V. Eitrig geballtes Sputum. Einzelne pigmentierte Alv.-Epith. ohne deutliche 
Plasmastruktur. Färbung mit Neutralrot neg.; mit Nilblausulfat und Sudan III 
nur z. T. pos. | 
10. V. Stellenweise zahlreiche Alv.-Epith., die viel Pigment enthalten und sich 
‚mit, Neutralrot färben. Auch mit Sudan III und Nilblausulfat werden einzelne 
Zellen elektiv gefärbt. Freie Fetttropfen, schwache Färbung aufweisend, liegen 
‚in der Umgebung der Alv.-Epith. 








| 


349 NR. Engelsmann: Untersuchungen über das Myelin und die im Auswurf 


Zusammenfassend: Bei einer durch Pneumokokken verursachten 
Pneumonie, die nicht typisch entfiebert, finden sich während der 
ganzen Beobachtungszeit und zwar stets in den graurötlichen Teilen 
des Sputums Alveolarepithelien. 

Zunächst tritt Färbung mit Neutralrot auf; zeitlich später gelingt 
“teilweise Färbung mit Nilblausulfat und Sudan III. Gegen Ende der 
Krankheit 1. V. (16. Krankheitstag) treten unscharf konturierte Alv.- 
Epith. auf, die schlechte Färbbarkeit aufweisen (irreperable Zellschädi- 
gung nach Ernst!)]. 

Nach Ablauf des Krankheitsprozesses treten wieder zahlreicher 
Alv.-Epith. auf, die sich zum großen Teil färberisch so verhalten, wie 
zu Beginn der Erkrankung. | 

Sehr beachtenswert ist, daß die Alv.-Epith. während der Dauer 
der Erkrankung schwärzliches Pigment bei ruß- und staubfreiem 
Aufenthalt aufweisen. 

Im weiteren Verlauf der Beobachtung mußte an Stichproben die 
Richtigkeit obiger Ergebnisse nachgeprüft werden. 


Fall II. In einem Falle von croupöser Pneumonie (frischer Fall) (Med. Kl.) 
fanden sich im rostbraunen Auswurf neben w. u. r. Bl.-K. Alv.-Epith., einzeln und 
in Zügen. 

Die Zellen ließen sich mit Neutralrot stark pos. färben, die Färbung mit 
Sudan III und Nilblausulfat ist negativ. (Dieser Befund entspricht dem Befund 
vom 22. IV., Fall I. 

Fall III. Ungelöste Pneumonie. (Med. Klinik.) 

Alv.-Epith. mäßig reichlich. Färbung mit Neutralrot deutlich, mit Sudan III 
und Nilblausulfat negativ. Die Körnchen sind im Polarisationsversuch isotrop. 
(Dieser Befund entspricht ebenfalls Fall I am 22. IV. 

Fall IV. Pneumonie, 3 Tage nach der Krise (städtische Krankenanstalt). 
Auswurf schleimig, weinfarben. E.-K. mäßig reichlich; Alv.-Epith. mäßig reichlich, 
gequollen, groß und bloß. Das Plasma ist kleinkörnig getrübt. Färbung mit 
Neutralrot diffus und schwach (entsprechend dem Befund von 1. V., Fall I. 

Fall V. Es wird ein braungefärbter Auswurf bei einer fraglichen Pneumonie 
(Städt. Krank.-Anst.) vorgelegt. Mikroskopisch wird Mageninhalt, kein Blut 
festgestellt und so durch Mikroskopie des frischen Auswurfes Aufklärung geschafft. 

Bei drei Pneumonien, die z. Zt. dieser Untersuchungen in der städt. Krank.- 
Anst. seziert wurden, konnte in Schnitten folgendes festgestellt werden. Für die 
Herstellung der Schnitte, die mit Hämatoxylin — Sudan III gefärbt wurden, bin 
ich Herrn Prosektor Dr. Emmerich zu Dank verpflichtet. 

Bei Sektion 90 und 94/22 handelte es sich um croupöse, bei Sektion 122/22 
um eine käsige Pneumonie. 

S. 90. Rote Hepatisation. 

Schwache Vergrößerung: Die Alveolen sind ausgefüllt mit blaugefärbten Massen, | 
die in größerer oder kleinerer Zahl Zellen enthalten, die rot gefleckt sind. | 

Starke Vergrößerung: Zwischen blauen fädigen Streifen (Fibrin) liegen kleine 
Rundzellen mit dunklen Kernen. Außerdem sieht man große runde Zellen, die 
meistens wandständige, schwach blau gefärbte (epitheliale) Kerne enthalten und | 


1) a. a. O. 8. 253 Zeile 42. 





an er — 


—— 





! 





| 


} 
I 





| 


1 
| 


vorkommenden Zellen, insbesondere die Alveolarepithelien. 343 


hell gefärbtes Plasma aufweisen. In dem Plasma sieht man an verschiedenen 
(wenigen) Zellen einzelne mit Sudan III rot gefärbte Tröpfchen. 

S. 9. Graue Hepatisation. 

Schwache Vergrößerung: Die Alveolarräume sind mit blauen Massen gefüllt, 
in denen zahlreichere rot gefleckte große Zellen liegen; z. T. sind die Alveolar- 


| räume nur mit solchen Zellen gefüllt. 


Starke Vergrößerung: Die großen runden Zellen lassen in größerer Zahl rot 


gefärbte Tröpfchen erkennen. Z. T. liegen diese Zellen eingebettet in ein blaues 


fadenartiges Gerüst (Fibrin), in dem auch Rundzellen liegen, welche kleine rot 
gefärbte Tröpfchen enthalten. An einzelnen Stellen des Schnittes sieht man tief- 
schwarze Pigmentansammlungen im interalveolären Gerüst. Die Alveolarepithelien 
der anliegenden Alveolen enthalten schwärzliches Pigment; einzelne sind im Begriff 
sich von der Basis abzulösen, andere frei im Alveolarlumen liegende schwarz 
pigmentierte Alv.-Epith. sind sichtbar. 

S. 122. Käsige Pneumonie. 

Starke Vergrößerung. Die Grenzen der Alveolarräume sind zum größten Teil 
noch erkennbar. 

Dem inneren Alveolarraum sitzen zahlreiche große Zellen auf, die einen blau 
gefärbten (epithealen Kern) und zahlreich mehr gelblich gefärbte Tröpfchen (Sudan 
III) im Plasma aufweisen. Ein Teil dieser Zellen ist im Begriff sich von der Unter- 
lage abzulösen; ein großer Teil derselben Zellen füllt das Alveolarlumen neben 
kleineren Rundzellen, die einen dunklen Kern und feinere Tropfen im Plasma 
enthalten, aus. 


Diese Befunde sprechen durchaus dafür, daß erst im späteren 
Stadium der Pneumonie (graue Hepatisation) Tröpfehen in größerer 
Zahl in den Alveolarepithelien und den deutlich von diesen unter- 
scheidbaren Rundzellen auftreten, die sich nach Sudan III färben. 
' Der im Sputum erhobene Befund deckt sich mit den Ergebnissen der 
_ Untersuchungen an Schnitten. 

Außerdem läßt sich an den Schnitten mit Sicherheit feststellen, 


‚daß diese mit Sudan III färbbaren Tropfen schon vor der Ablösung 


in den Alveolarepithelien auftreten, daß es sich hier also genau so, wie 


‚ bei den mit Neutralrot färbbaren Tröpfchen um autolytische und nicht 
| um postmortale Vorgänge handelt (vgl. Ernst!). Daß ebenso gut sich an 
‚ abgelösten Zellen dieser Vorgang abspielen kann, also postmortal auf- 
‚treten kann, ist ohne weiteres zuzugeben, nur scheint mir für die 


Alveolarepithelien ausschließlich der erste Vorgang in Betracht zu 


‚ kommen. 


Wir sind der Ansicht, und diese Untersuchungen scheinen es zu 
beweisen, daß die Art der Färbbarkeit — Neutralrot oder Sudan III — 
die Grade der Zellschädigung anzeigt, die die Zelle vor ihrer Ablösung 
aus dem Zellverband erlitten hat. Es müssen also immer schwerere 


‚ degenerative Prozesse, meistens auf toxischer Grundlage in der Zelle, 


_ die im Zellverband liegt, eingewirkt haben, wenn die abgelöste Zelle 
_ Färbbarkeit mit Sudan III aufweist. 


!)a. a. O. S. 191 Zeile 28. 


344 R. Engelsmann: Untersuchungen über das Myelin und die im Auswurf 


Fall VII. In einem weiteren Fall R. (Med. Kl.) bei dem eine springende 
Pneumonie mit unregelmäßigem Fieberverlauf vorlag, ließ sich folgender inter- 
essanter Befund erheben. 

Zunächst gesetzmäßiger Verlauf. 

1. V. rostbraunes Sputum mit grauen Inseln. 

Mikroskopisch weiße und rote Bl.-K.; z. T. einzeln, z. T. in Gruppen zusammen- 
liegende Alv.-Epith. Bei schwacher Vergrößerung zeigen alle Alv.-Epith. eine aus- 
gesprochene Rotfärbung durch Neutralrot. Bei starker Vergrößerung erkennt man 
nach Färbung mit Sudan III einzelne gelbe Tropfen und schwärzliches Pigment 
in dem Plasma. 

2. V. Dasselbe Verhalten; aber weniger zahlreiche Alv.-Epith. 

4. V. Spärliches blutiges Sputum, verhält sich wie am 1. V. 

5. V. Größere rotgraue Schleimpartien, die rote und weiße Bl.-K. und Alv.- 
Epith. enthalten. 

Diese Zellen färben sich nur z. T. mit Neutralrot, einzelne elektiv mit Sudan III. 
Die Eisenreaktion ist negativ. 

8. V. Frisches, eben blutig gespucktes Sputum. 

Zahlreiche derbweißliche Streifen (Fibrin) und blutige Stellen. In letzteren 
rote und weiße Bl.-K. und vereinzelte Alv.Epith. mit auffallend hell glänzende 
Tröpfchen; die sich elektiv mit Neutralrot färben. Dieser im Vergleich zum Befund 
am Vortage auffallende Befund erklärte sich, wie ich nachträglich erfuhr, dadurch, 
daß eine Punktion wegen Verdachts wegen Pleuraexsudates vorgenommen und 
dabei (da das Ergebnis negativ) die Lunge angestochen worden war. [Vgl. 
Fr. Müller!) und Sahli]?). 

Wenn man an frischen Lungen einen Abstrich des Gewebes macht, findet 
man stets Alv.-Epith. in diesem Zustand der Plasmaveränderung (vgl. auch die 
Befunde von Fr. Lange und Hochheim). Dementsprechend fanden sich in einem 
Falle (Fall VI) von Asthma Fr. K. (Med. Klin.) im schleimigen Auswurf stellen- 
weise zahlreiche Alv.-Epith. mit stark lichtbrechenden Tröpfchen, die sich aus- 
gesprochen mit Neutralrot färben, während freiliegende Fetttröpfehen nur 
schwach rötlich gefärbt wurden. Hier fehlt die Gifteinwirkung auf die Al.-Epithel- 
zelle, die noch im Zellverband ruht. Es sind mechanische Reizwirkungen, die 
zur Desquamation führen. 

9. V. Sputum schaumig; rötlich schleimig. 

E.-K. und Alv.-Epith. stark wie 5. V. nach Sudan III färbbar. 

10.—12. V. Dasselbe Bild. 

15. V. Schleimig, glasiges Sputum. In diesen Partien zahlreiche Alv.-Epith. 
mit dunkeln Plasmatröpfehen (bei Abblendung weiß). Die Alv.-Epith. sind z. T. 
mit Neutralrot, z. T. mit Sudan III elektiv gefärbt. 

Der Pat. war noch nicht entfiebert, eine weitere Untersuchung war aus äußeren 
Gründen nicht möglich. | 


Hier fehlt das Auftreten der gequollenen Degenerationsnormen, 
vor Ablauf der klinischen Genesung treten wieder Zellen im Zustand 
frischerer Veränderung auf (Neutralrot) entsprechend dem Befallen- 
werden neuer Gebiete! 

Wir glauben durch diese Studien; die durch geeignete Methoden 
es erlauben, den Lebensablauf der Zelle zu belauschen im Sinne der 
klassischen Ausführungen von Ernst, der wiederum auf Schritt und 


!) a. 3a O. 8. 297. 2)58..8. 10. 8,0708 














vorkommenden Zellen, insbesondere die Alveolarepithelien. 345 


Tritt den grundlegenden Untersuchungen J. Arnolds folgt, zu klareren 
Ergebnissen gekommen zu sein, als Hoeßlin!). Wenn dieser schreibt, 
daß es sehr wohl möglich ist, daß ein Teil der myelinhaltigen Zellen 
erst in den obersten Teilen des Respirationstractus, vornehmlich im 
Rachen auf die Oberfläche desselben ausgewandert ist, es sich also 
um Wanderzellen handelt,die bei einer Reizung der Schleimhaut dort 
auftreten, dann tritt die Hypothese an Stelle der Beobachtung. Wir 


‚finden auch nirgends einen Versuch, basierend auf das bedeutende 


Werk von Ernst, über die Pathologie der Zelle auf die Zellphysiologie 
eingehend, eine Klärung zu finden. 

Wir vermissen auch eine gründliche Auseinandersetzung mit der 
klassischen Arbeit von J. Arnold?) (der nur einmal kurz erwähnt wird), 
in der so grundlegend alle Fragen experimentell geprüft wurden, wie 
es der Name des Autors verbürgt. Die daraus sich ergebende Unsicher- 
heit macht sich vor allem bei der Frage über Art und Abkunft der 
Pigmentzellen bemerkbar. Am meisten umschritten sind wiederum 
die Herzfehlerzellen. 

Überblickt man die sich widersprechenden Autoren, von denen 
Fr. Müller?), Bacmeister*), Sahlö5), Klemperer®), Engel’), F. A. Hoff- 
mann®), Orth?), Sommerbrodt!°) die Herzfehlerzellen für umgewandelte 
Alv.-Epith.; Hoeßlin!!), Lenhartz!?2), Neumann), Tehistowitsch"*), 
v. Noorden‘>) in der Hauptsache für veränderte Leukocyten ansehen, 
dann stellt man mit Genugtuung fest, wie es durch eindeutige Zell- 
reaktion gelingt, Vermutungen durch Tatsachen zu ersetzen. Ernst!) 
schreibt: ‚Die Herzfehlerzellen sind auf Grund der Reaktion (Oxydase- 
reaktion) nur zum kleinen Teil Leukocyten‘ und einige Zeilen früher !”): 
„Ablehnend verhalten sich. (gegen die Oxydasereaktion)... die Zellen 


2.2. 0. S. 147. 
J. Arnold, Staubinhalation und Staubmetastase. Leipzig 1885. 
a. a. 0. S. 299. ar Er OR BREIT: sy a.8. 0.8. 624: 
Klemperer, Klinische Diagnostik 1908, S. 135. 

?), C. 8. Engel, a. a. O. S. 144. 

®) F. A. Hoffmann, Die Bedeutung der Herzfehlerzellen. Arch. f. klin. Med. 
25, 252. 1889. | 

BIERLOrih, a, a:.0. 8.337. 

10) Sommerbrodt, Über Genese und Bedeutung der sog. Herzfehlerquellen. 
Berl. klin. Wochenschr. 1889, Nr. 47, S. 1025. 

2) a. 2.0.8. 135f. 

12) 7. Lenhartz, Über Herzfehlerzellen. Dtsch. med. Wochenschr. 1889, Nr. 51, 
8. 1039. 

13) Neumann, zit. bei Lenhartz Mikroskopie u. Chemie am Krankenbett 1913, 
2221. 

14) T'schistowitsch, zit. bei Lenhartz. Dtsch. med. Wochenschr. 1889. 

15) ». Noorden, Beiträge zur Patholog. d. asthmabronchial. Zeitschr. f. klin. 
Med. 20, 98f. 1892. 

16) 2. a. O. 8. 125 Zeile 44. 17) a. a. 0. 8. 125 Zeile 43. 


346 R. Engelsmann: Untersuchungen über das Myelin und die im Auswurf 


der desquamativen Pneumonie“! Hoeplin!) zitiert die Befunde von 


v. Noorden?) und T'schistowitsch?) als beweisend, und es läßt sich 
doch leicht beweisen, auf wie unsicheren Stützen diese Beweise ruhen. 
v. Noorden?) hatte wie Cohn*) u. a. erkannt, daß die Pigmentzellen 
in zweierlei Größen auftreten. v. Noorden hatte bei einem Fall von 
Asthma versucht, die Genese dieser Zellen durch Granulafärbung zu 
klären. 

Er strich Sputumflöckchen auf einem Deckgläschen aus, trocknete, 
fixierte durch Erhitzen und färbte mit Ehrlichs Säurefuchsin — Methyl- 
grün — Orangegemisch; nach Abspülung kam das Deckgläschen kurz in 
eine Mischung von Salzsäure und Ferrocyankalium. v. Noorden schreibt 
wörtlich: ‚‚Die meisten der so gefärbten Präparate gingen in der Salz- 
säure zugrunde; einzelne, die elegante Färbung des Ehrlich-Gemisches 
in prägnanter Form, die blauen Pigmentschollen im Zelleib darbietend 
erhielt ich jedoch. Gelingen und Mißlingen hängen ..offenbar von Kon- 
zentration der Säure und der Dauer des Verweilens in ihr ab.“ 

ie diesen Bemerkungen folgert v. Noorden: 

. „Ein Teil der Pigmentzellen enthielt die neutraphile Kömund 
d. n sie waren Leukocyten. Nach Schätzung waren es in den gefärbten 
Präparaten fast die Hälfte der Pigmentzellen.“ 
„Ein kleiner Teil enthielt die eosinophile Körnung... 
„Ein dritter Teil, ungefähr die Hälfte der Gesamtheit, enthielt 
Ko Kantıng und war, da nichts für ihre Natur als Leukocyten 
sprach, Epithelien.“ 

Es ist allen Untersuchern bekannt, daß bei diesem quellenden 
Verfahren (Salzsäure) sich vornehmlich die alveolarhaltigen Flöckchen 
ablösen. Dann muß aber der Anteil der leukocytären Formen zu hoch 
erscheinen, der übrigens auch nur schätzungsweise bestimmt wurde! 

Die Untersuchungen von Tchistowitsch?) sind ernsthafter zu be- 
werten. 

Dieser spritzte Tusche oder Carmin in die Schleimblase neugeborener 
Fische und Frösche, deren Epithel im embryonalen Zustand dem 
Lungenepithel höherer Versuchstiere entsprechen soll. 


c« 


Er setzte ferner neugeborene Meerschweicnhen der Einatmung 


von Lampenruß aus. Nie fand er in diesen Fällen Pigment innerhalb 


der Epithelien. Ferner führte T'schistowitsch Kaninchen intratracheal 


eine Rotlaufkultur ein. Gleichzeitig wurde eine Carminaufschwemmung 
in die Jugularvene gespritzt. Nach 24 Stunden fand T'schistowitsch 


1) a... 0.001400 

2) ». Noorden, Beiträge zur Patholog. d. asthmabronchial. Zeitschr. f. klin. 
Med. 20, 98f. 1892. 

3) T’schistowitsch, zit. bei Lenhartz. Dtsch. med. Wochenschr. 1889. 

4) Cohn, Über Herzfehlerquellen. Inaug.-Diss. Würzburg 1890. 























vorkommenden Zellen, insbesondere die Alveolarepithelien. 347 


einmal carminhaltige Leukocyten, zum anderen große bacillenhaltige 
Zellen, welche durchaus ‚‚für desquamierte Alveolarepithelien gehalten 
werden konnten, die aber dadurch, daß sie gleichzeitig Carmin ent- 
hielten, den leukocytären Charakter bewiesen“. Daß die baeillen- 
haltige Aufschwemmung stark entzündlich wirkt und somit carmin- 
haltige Leukocyten in die Alveolen auswandern, ist nur natürlich. 
Wenn ein Teil dieser Zellen nach Phagocytose größer erscheint, so 
beweist das noch nichts, daß es „eigentlich Alveolarepithelien‘‘ sein 
müßten. Im Gegenteil, der Reiz zur Desquamation von Alveolar- 
epithelien ist in diesen Versuchen gar nicht gegeben. 

Fall VIII. Ich konnte in der Med. Klin. einen ausgesprochenen Fall von Stau- 
ungssputum bei Myocarditis und Myodegeneratio untersuchen. In dem rein 
blutigen Auswurf waren einzelne blasse Partien eingelagert, welche zahlreiche 
Herzfehlerzellen enthielten. Diese wurden auch den Studierrenden demonstriert. 

Diese Zellen glichen in Form und Größe vollkommen den Alveolarepithelien. 
Das Plasma zeigte eine staubförmige feine Körnung. Die Reaktion auf Eisen 
war stark positiv. Diese Zellen und zwar sämtliche färbten sich stark mit Neutral- 
rot positiv, nicht nach Sudan III. 

Lenhartz!) führt noch Neumann als Zeugen an. Dieser fand, daß 
die im Rachenauswurf nachweisbaren Staubzellen völlig den Herz- 
fehlerzellen glichen und folgerte daraus, daß die Herzfehlerzellen nicht 
aus der Lunge stammen könnten. | 

Neumann sagt allerdings nicht, welche Staubzellen er meint, die 
kleinen oder die größeren. Andererseits ist bekannt, daß neben Al- 
veolarepithelien Plattenepithelien zu finden sind. Das zeigt aber nur 
an, daß der Lungenauswurf verunreinigt ist und läßt keine Schlüsse 
gegen die Spezifität der Alv.-Epith. zu. 

Sommerbrodti?) hat die Herzfehlerzellen zuerst beschrieben und sie 
kurz und bündig ‚braune Alveolarepithelien‘‘ genannt. 

Fr. Müller®), dessen Schlußfolgerungen immer durch pathologisch- 
anatomische Untersuchungen gestützt sind, spricht von ‚sog. Herz- 


fehlerzellen, d.h. von Alveolarepithelien, welche neben Myelin noch 


ein rotgelbes Pigment in Form eckiger Körnchen, oder in der einer 
diffusen Imprägnation (vgl. oben Fall 8) enthalten“. Derselbe Autor 
zitiert Galdi*), der pneumonische Veränderungen bei Stauungszuständen 
im kleinen Kreislauf untersucht hatte. Er fand, daß ein großer Teil 


‚ der Alveolen von abgestoßenen Alveolarepithelien dicht erfüllt war. 
, Daneben kamen auch spärliches Fibrin, rote Blutkörperchen und 


„einzelne Leukocyten‘ in den Lungenbläschen vor. 





!) a. a. OÖ. Mikr. u. Chem. am Krankenbett. 

?) Sommerbroddt, Virchows Arch. f. pathol. Anat. u. Physiol. 55. 1872. 

era. a. 0.8.:298., 

*). Galdi, Über die Pneumonie bei Stauung im kleinen Kreislauf. Dtsch. Arch. 
f. klin. Med. %5, 256, zit. bei Fr. Müller a. a. O. S. 302. 


348 R. Engelsmann: Untersuchungen über das Myelin und die im Auswurf 


Auf Ernsts Ansicht wurde schon hingewiesen. Es kann also fest- 
gestellt werden, daß die Herzfehlerzellen zum größten Teil Alveolar- 
epithelien sind und daß, wenn hämosiderinhaltige Leukocyten eben- 
falls auftreten, diese mit Sicherheit von den epithelialen Zellen unter- 
schieden werden können. 

Bei der Betrachtung der eigentlichen Pigmentzellen, d.h. der- 
jenigen Zellen, die exogen einwirkendes Pigment aufgenommen haben, 
überläßt man sich am besten der Führung von J. Arnold!). 

Dieser Autor kam zu folgenden Ergebnissen: 

Der Staub?) dringt bis zur Lunge vor und wird durch die Trachea 
peripherwärts und durch Lymphbahnen in die Bronchialdrüsen zentral- 
wärts abtransportiert. 

Die Staubzellen?) haben zweierlei Abkunft; es sind größere epi- 
theliale und kleinere Iymphoide Zellen. 

Nach?) der Inhalation von Ruß treten die epithelialen Zellen zahl- 
reicher als die Ilymphoiden Zellen auf. Letztere werden in größerer 
Zahl nach Inhalation von reizenden Staubarten, Schmirgel und Sand- 
steinstaub gefunden. Von den epithelialen Zellen?) heißt es, sie sind 
recht groß, ihr Kern, sofern er überhaupt kenntlich ist, „färbt sich 
schlecht; sie machen den Eindruck, als wäre ihre Lebensfähigkeit 
beschränkt“. 

In der Trachea®) findet man nach Rußinhalation, Schleim, ab- 
gestoßene Becherzellen und Wanderzellen. Die Desquamation?) der 
Alveolarepithelien läßt sich in Schnitten mit Sicherheit feststellen. 

Die Staubzellen®) stammen aber nicht ‚alle‘ aus den Alveolen, 
sondern können vielleicht, wenn auch nur zum kleinen Teil, lymphoide 
oder epitheliale Zellen sein, die aus der Schleimhaut der Bronchien 
stammen. 

Der Eintritt des Staubes erfolgt bei Tier und Mensch hauptsächlich 
an der Stelle der Lungenalveolen und zwar zwischen den Epithelien, 
von da gelangt er in die Saftbahnen der Alveolenwände und die 
Bronchialdrüsen. 

Die desquamierten Epithelien?) können vor oder nach der Des- 
quamation den Staub in sich aufgenommen haben. f 

Aus der dauernden und ausgiebigen Abfuhr!) von Staubmassen 
wird mit Recht auf eine tiefer greifende Veränderung der Lunge ge- 
schlossen. Im Auswurf!!) kann man 4 verschiedene Arten von Staub- 
zellen antreffen. 

1. Epithelien, die aus der Trachea-Bronchialschleimhaut, 

2. Alveolarepithelien, die aus den Lungenalveolien stammen. 


11ama,a0): 2) Derselbe 8. 3. 3) Derselbe S. 18. 


2). Derselbe 8.8 0.48.0191} 75; Es ker B)79,.4127) ?).8. 74. 
ABS reh BL, 2) 213] Zins BZ 











| 





vorkommenden. Zellen, insbesondere die Alveolarepithelien. 349 


3. Außerdem wird auch die Möglichkeit zu ‚berücksichtigen sein, 
daß diese großen Sputazellen umgewandelte trachealbronchiale oder 
alveolare Wanderzellen sind. Arnold bezieht sich da auf Unter- 
suchungen von Tillmann!) und Senftleben?), die beweisen, daß diese 
Zellen quellen und größer werden können. Es ist sehr beachtenswert, 
wie vorsichtig sich dieser bedeutende Forscher ausdrückt, dabei aber 
klar alle Möglichkeiten erschöpft. Arnold) fährt aber fort: ‚Die Frage 
nach der Herkunft der Sputazellen ist demnach eine viel verwickeltere, 
als man von vornherein erwarten sollte. ‚So lange es nicht gelungen ist, 


‚ für die einzelnen Formen zuverlässigere Kennzeichen aufzufinden, wird 


meines Erachtens bei der Beurteilung und diagnostischen Verwertung 
derselben die größte Vorsicht geboten sein.“ | 

Sehr häufig findet man nach Arnold*) in sonst normalen Lungen, 
ohne daß diese zuvor einer besonders dichten Staubatmosphäre aus- 
gesetzt gewesen wären, vereinzelte oder selbst zahlreichere staub- 
führende Zellen, namentlich epitheliale, seltener Iymphoide.... 

Dies sind in Kürze die Hauptergebnisse der Untersuchungen, die 
viel zu wenig bekannt sind und in den 140 bis dahin erschienenen 
Arbeiten kritisch verarbeitet wurden. Diese Arbeit bildet eine kritische 


Fermate in der großen Zahl der damaligen Untersuchungen. Eine 


ähnliche Bedeutung hatte Aschoffs kurze Abhandlung „Zur Morpho- 


| logie der Iypoiden Substanzen“. Fast will es scheinen, als sollten wir 


wieder aufs uferlose Meer der Hypothesen treiben. 

Ich möchte das größte Gewicht darauf legen, daß im Auswurf 
2 Arten von Pigmentzellen unterschieden werden können: 
1. die Lungenalveolarepithelien, welche häufig bei mittelstarker 
Vergrößerung ein schwarzes Pigment stets in beschränkter Menge 
erkennen lassen, 

2. die eigentlichen Staubzellen, die ich ‚„‚bräunliche Zellen‘ nennen 


möchte, die von den ersteren nach Form, Größe und Farbe ver- 
schieden sind. 


' Die größeren pigmentführenden Zellen sind rußhaltige Alveolar- 
epithelien. 

Betrachtet man die Alv.-Epith. im Auswurf genau, so findet man 
fast: immer im heller glänzenden oder dunkel gekörnten Plasma schwarze 
Punkte und Streifen. Diese schwärzliche Fleckung weisen die Zellen 
vermehrt auf, wenn das Individuum in einer rußhaltigen Umgebung 
gelebt hat; man findet sie noch längere Zeit, nachdem der Betreffende 
in rußfreie Umgebung verbracht wurde (vgl. besonders Fall 1, $. 341). 





!) Tillmann, Veränderung der Leber- und Lymphdrüsen. Arch. f. Heilk. 1876. 
2) Senftleben, Über den Verschluß der Blutgefäße nach d. Unterbindung. 


Virchows Arch. f. pathol. Anat. u. Physiol. 4%. 1897. 


2 30. 8.133. Mar. 2:10, 85134, 


350 KR. Engelsmann: Untersuchungen über das Myelin und die im Auswurf 


Wie kommt das Pigment in die Zellen hinein? Diese Frage wurde 
zum Teil schon bei der Frage nach der Entstehung der Tröpfchen 


im Plasma beantwortet. Wenn unsere Ansicht richtig ist, daß die 


Alv.-Epith. im abgestorbenen Zustand bzw. schwer, d.h. irreparabel 
geschädigten Zustand die Basis verlassen, kann eine phagocytäre Auf- 
nahme auch von Ruß nicht stattfinden. 


Auf 8.348 wurde die Beobachtung von Arnold angeführt, daß der 
eingeatmete Ruß zwischen den Alv.-Epith. eindringt und von da in 


die Saftbahnen der Alveolarenwände gelangt. 


Hiermit deckt sich auch die Beobachtung von T'schistowitsch, der 
nach offenbar kurz dauernder Rußinhalation in den Alveolarepithelien 





kein Pigment fand (vgl. diese Arbeit S. 346). So ist der Befund 


Sekt. 94 auf 8. 343 zu verstehen. Es fanden sich schwarze Pigment- 


anhäufungen im interalveolären Gerüst. Arnold meint, daß die Alv.- 


Epith. desquamieren, indem sie vor oder nach der Ablösung den Staub 
in sich aufgenommen haben. | 
Wir sind der Ansicht, daß der Kohlenstaub unter gewöhnlichen 


Umständen in sehr geringer Menge in die Lungen gelangt. Wir nehmen 


an, daß er nur auf dem von Arnold angegebenen Wege in die Saft- 


bahnen der Alveolenwände eindringt und zum Teil dort sich ansammelt, 
vielleicht in pulmonalen Lymphknötchen, auf deren Vorkommen und Be- 
deutung für die Staubretention Arnold!) hingewiesen hat. Die Alveolar- 
epithelien müssen ihre Nährstoffe von der Basalseite erhalten, sie können 


auf demselben Wege toxisch beeinflußt werden und können auch den Ruß 


aus diesen Anhäufungen in feinster Form auf diesem Wege in den Zelleib 
aufnehmen. Dafür spricht die Beobachtung bei Sekt. 94, s. o. S. 343. Die 


Alv.-Epith. der angrenzenden Alveolarräume enthielten Pigment, des- 


gleichen die abgelösten Alv.-Epith. Nur so erklärt sich die allgemein 
anerkannte Tatsache, daß die Alv.-Epith. noch so lange schwärzliches 
Pigment enthalten, nachdem die Rußeinwirkung aufgehört hat. 

Die auffallende Ansicht vieler schon der ältesten Beobachter ist 
hier anzuführen, daß das Auftreten von Pigment im Sputum von 
schlechter Bedeutung vor allem bei Tuberkulose sei. 


Nach Birmer ist das schwarze Pigment diagnostisch wichtig, wenn’ 


es ın Verbindung mit elastischen Fasern und Bindegewebsfasern vor- 
kommt, weil es dann den Ursprung dieser Teile aus dem Respirations- 
traktus beweist. Wenn man das schon öfter erwähnte Präparat Sekt. 94 





betrachtet, ist es klar, daß bei schnell verlaufenden Ulcerationsprozessen 


das im Lungengewebe befindliche Pigment in größerer Menge in den 
Auswurf gelangen kann | Strübing?)]. Hier sieht man, wie falsch es ist, 
ein Symptom herauszugreifen und zu hoch zu bewerten. 


!) a. a. O. 8. 93ff. u. 8. 97. 
®) Strübing, Über Husten und Auswurf. Die Deutsche Klinik 4, 16. 


vorkommenden Zellen, insbesondere die Alveolarepithelien. 351 


Schwarze Sputa können bei Kohlenarbeitern auftreten und hängen 
dann nur mit der vermehrten Aufnahme zusammen. Sputa können 
schwärzlich gefärbt sein, wenn bei Entzündungen im Lungengewebe 
die Saftströmung beschleunigt ist und so die Rußteilchen schneller 
vermehrt ausgeschieden werden; worauf schon Birmer!) hingewiesen hat. 

Nur wenn der Befund von elastischen Fasern im Sputum anzeigt, 
daß Lungengewebe zerstört ist, kann man aus dem gleichzeitigen 
Befunde von Pigment auf einen destruktiven Prozeß schließen. Das 
Wesentliche ist aber der Nachweis der elastischen Fasern. 








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Abb. 5. 


v. Hoeßlin?) vertritt allerdings die Ansicht, daß die Alveolarepithelien 
in der Regel dann erst Pigment aufnehmen, wenn sie von ihrer Unter- 
lage losgelöst sind. Wir schließen uns dem ebenfalls von Hoeßlin 
zitierten Heubner an, der angibt, daß spärliche Kohleteilchen deutlich 
auf oder in Alveolarzellen, die noch im Verbande der Auskleidung 
der Alveolen verblieben sind, gefunden wurden. 

Von besonderer Bedeutung sind noch die Angaben von Arnold?), 
daß nach Rußinhalation die epithelialen Zellen zahlreicher auftreten 
als die Iymphoiden; und daß in sonst normalen Lungen, ohne daß 
diese zuvor ‚einer besonders dichten Staubatmosphäre‘““ (d. h. unter 
gewöhnlichen Lebensbedingungen) ausgesetzt gewesen wären, ver- 
einzelte oder selbst . zahlreichere staubführende Zellen, namentlich 





!) Birmer, Die Lehre vom Auswurf. Würzburg 1855. 
8,2. 0285 137; 2) 3:°2..02 8.219175. 





352  R. Engelsmann: Untersuchungen über das Myelin und die im Auswurf 


epitheliale, seltener Iymphoide gefunden werden. Von diesen schwärz- 
lichen Pigmentzellen oder pigmentierten Alveolarepithelien grundsätz- 
lich verschieden sind die eigentlichen Staubzellen oder die bräunlichen 
Zellen, wie ich sie nennen möchte. 

Betrachtet man mikroskopisch ein 
sog. Rauchersputum, so sieht man, daß 


EI Fr, es knollig-schleimige Beschaffenheit auf- 
”r Na e 53 i weist und deutlich bräunlich gefärbt ist. 
Be 8 Betrachtet man ein Flöckchen bei 
®. RE a schwacher Vergrößerung (Abb. 5), so sieht 
u man fischzugartig angeordnet zahlreiche 
Bor diffus bräunlich gefärbte Zellen, die zum 
eg Pr Teil schwärzliche Flecke aufweisen, im 

@ a .  schleimigen Grunde. 
e 38 Vergrößert man stärker (Abb. 6), so 
er ar Gr sieht man, daß diese Zellen von ungleicher 
g Es Größe und Form sind und dicht neben- 
an einander, zum Teil übereinander liegen. 
a RS ® Der Durchmesser beträgt 1—2 mal soviel 


wie der Durchmesser eines Leukocyten. 

Man sieht hier die diffuse bräunliche Färbung und die stellenweise 
eingelagerten schwarzen Flecke noch deutlicher. Von Tröpfehen im 
Plasma und einem Kern ist an den ungefärbten Zellen nichts zu sehen. 





Abb. 7. 


Nur vereinzelte freie Fetttröpfchen sind sichtbar. Das Zellenproto- 
plasma ist fein gekörnt; diese Körnung verschwindet nicht nach Essig- 
säurezusatz. Färbt man mit Methylenblau oder Trypanblau im frischen 
Präparat, so erkennt man bei starker Vergrößerung einen großen 





Kern, der oft den ganzen Zellteil auszufüllen scheint. Nach Fixierung 


vorkommenden Zellen, insbesondere die Alveolarepithelien. - 353 


‚ und Giemsafärbung erkennt man bei Betrachtung mit Immersion (Abb. 7 ) 
‚ dunkelgefärbte Kerne, die ein Kerngerüst und Kernkörperchen ver- 
ı missen lassen. Die Kerne sind mitunter sehr groß, mitunter wandständig. 
‚ Nicht selten finden sich 2 Kerne in derselben Zelle. Die Kerne sind 
‚ bald rund, bald länglich oder gelappt. 

Granula konnte in dem Plasma nicht festgestellt werden. 

| Bei Färbung des frischen Sputumflöckchens mit Neutralrot erhält 
man keine Färbung; nur der Kern zeigt eine leichte Farbaufnahme. 
Mit Nilblausulfat werden diese Zellen ziemlich gleichmäßig gefärbt, 
‚ mitunter kann man die Kerne etwas deutlicher gefärbt unterscheiden. 
| Die Färbung mit Sudan III fällt negativ aus. Mit J odlösung (Lugol) 
' färbten sich die Zellen bräunlich. Auffallend ist, daß bei einzelnen 
Untersuchten die Kerne etwas dunkler gefärbt zu erkennen waren: 
bei anderen sich nicht färbten. H,SO, nach J odeinwirkung verursacht 
eine dunklere Braunfärbung der Zellen. Das Pigment läßt sich durch 
| H,SO, nicht zerstören. 

Der braune Farbton ergibt sich aus der dünnen Schicht. Die Zelle 
| sieht aus wie bestäubt. Liegt der Staub dichter, so tritt Schwarzfärbung 
auf. Andererseits sieht das rein schwarz erscheinende Pigment in den 
Alv.-Epith. bei Betrachtung und Immersion in dünner Schicht braun 
‚aus (Abb. 4). 

2 Die Oxydasereaktion fiel an allen untersuchten Zellen negativ aus. 
Jeder wird bei Beschreibung dieser bräunlichen Zellen daran denken, 
| daß schon vielen Untersuchern die verschiedene Größe der Staubzellen 
aufgefallen war und sie daher geneigt waren, eine doppelte Abkunft 
"anzunehmen (Cohn, v. Noorden, Arnold, v. Hoeplin). 

Die meisten Autoren glaubten auch, daß es sich bei den kleineren 
Formen um leukocytäre Gebilde handelte. Auch ich habe diese Ver- 
'mutung bezüglich dieser Zellen gehabt, die bei meinen Aufzeichnungen 
stets als kleinere Form der Pigmentzellen aufgeführt wurden. Es fiel 
‚stets auf, daß diese beiden Arten von Pigmentzellen in keiner engeren 
Beziehung zueinander zu stehen schienen. Im Auswurf, in dem Alveolar- 
epithelien in großer Zahl gefunden wurden, vermißte man die bräun- 
lichen Zellen und umgekehrt. 

Unter den 141 untersuchten Soldaten, die allerdings zur Zeit der 
Untersuchung wenig rauchten, fanden sich Alv.-Epith. und bräunliche 
‚Zellen zusammen nur 15mal; während sich Alv.-Epith. allein 37 mal, 
‚bräunliche Zellen allein 18mal fanden. Die Anordnung dieser beiden 
Zellarten im Auswurf, wenn sie zusammen vorkamen, war auch so, 
daß die eine Gruppe in einem Teil, die andere Gruppe im anderen Teil 
des Auswurfes gefunden wurden. Zwischen den in Häufchen zusammen- 
liegenden Alv.-Epith. fand man niemals einzelne bräunliche Zellen 
‚beigemischt und umgekehrt. 

Zt. klin. Medizin. Bd. 100 23 

















354 R. Engelsmann: Untersuchungen über das Myelin und die im Auswurf 


Bei der Untersuchung der 112 von Tuberkulösen stammenden 
Sputa, fanden sich bräunliche Zellen zusammen mit Alv.-Epith. 14 mal. 
Dies spricht gegen die Abstammung beider Zellarten aus einer gemein- 
samen Reizstelle. J. Arnold hat sich, wie schon betont wurde, am 
eingehendsten auf Grund experimenteller Studien über diese beiden 
Zellformen geäußert. Arnold stützt seine Ansicht von der Iymphoiden 
Natur der kleinen Staubzellen auf die Morphologie und die zahlreichen 
von ihm überall festgestellten Lymphknötchen. Auf die früher ge- 
machten Angaben muß hier Bezug genommen werden. Ergänzend 
ist noch hinzuzufügen. 

Arnold!) schreibt z. B.: ‚‚Manche derselben stimmen in jeder Hin- 
sicht mit Iymphoiden Zellen überein und unterscheiden sich von ihnen 
nur durch eine beträchtlichere Größe.“ 

„Die?) einen sind kleiner, haben eine mehr kugelige Gestalt und 
bestehen aus einem intensiv sich färbenden Kern sowie aus einem 
körnigen Protoplasma, insofern dies neben dem Staub überhaupt nach- 
weisbar ist... Während die ersteren ihrem ganzen Verhalten nach 
mit Iymphoiden Zellen übereinstimmen.“ 

Nach3) Rußinhalation fanden sich diese lymphoiden Zellen spärlich; 
zuerst traten die epithelialen Formen auf. Bei anscheinend normalen 
Lungen wurde eine Desquamation vorwiegend von epithelialen Zellen 
beobachtet. 

Es ist klar, daß bei den intensiveren, experimentell erzeugten Reiz- 
zuständen leukocytäre Zellarten auftreten und zu erwarten sind. 
Weniger verständlich ist es, daß ausschließlich Lymphocyten aus- 
wandern sollten. 

Auch an dieser Stelle äußert sich Arnold!) sehr vorsichtig. „Das 
Vorkommen der Auswanderung darf aus dem Befund von Zellen er- 
schlossen werden, welche durch Form, Größe und Struktur, wie oben 
ausgeführt worden ist, von den desquamierten Alveolarepithelien sich 
unterscheiden.“ Damit sind direkte Anhaltspunkte für die Art dieser 
Zellen nicht gegeben. Arnold meint ja auch, daß bei der Beurteilung 
der im Auswurf gefundenen Zellen so lange die größte Vorsicht geboten 
sei, als es nicht gelungen ist, für die einzelnen Formen zuverlässige 
Kennzeichen aufzufinden. Die Aufgabe der vorliegenden Arbeit ist 
es gewesen, die Zellformen der Alv.-Epith. im Auswurf genau zu be- 
schreiben und abzugrenzen und hinsichtlich ihres Ursprungs zu klären. 

Was die bräunlichen Zellen betrifft, ist es mir nicht gelungen, auch 
diese Zellform eindeutig zu erfassen. Die Herkunft dieser Zellen ist 
meines Erachtens noch nicht geklärt. | 
Mn ent d 

1) a 20, 18 an. 0, 3) a. a. 0. 8. 19 u. 75. 

4) 2.% S 


vorkommenden Zellen, insbesondere die Alveolarepithelien. BBD 


Auch diese Zellen befinden sich in einem Zustande schwerer Schädi- 
gung, was aus der Färbbarkeit mit Nilblausulfat (Fettsäurebildung ?) 
‚und der Möglichkeit der Kernfärbung an der unfixierten Zelle hervor- 
\ geht. 
| Andererseits fehlt eine tropfige Entmischung, und eine Möglichkeit 
hierzu scheint auch nicht vorzuliegen. 
| Nehmen diese Zellen den Staub in situ oder nach Ablösung von 
‚ihrer Entstehungsstelle auf? Es ist wohl möglich und wahrscheinlich, 
daß diese Zellen besonders dazu beauftragt sind, den eingedrungenen 
Staub aufzunehmen und wieder herauszubefördern. Dafür spricht das 
ausschließliche Vorkommen dieser Zellen bei Rauchern und bei Leuten, 
die stark reizendem Staub ausgesetzt sind, z. B. in einer Eisengießerei. 
Es kann sich um 4 Möglichkeiten handeln: 





l. es sind Iymphoide Elemente; 

2. es sind Gefäßendothelien bzw. Lymphgefäßendothelien; 

3. es sind Epithelien aus den kleinsten Bronchien, den Bronchioli 
respiratori; 

4. es sind umgewandelte Brchählaltehlsw. 


A priori ist nicht anzunehmen, daß es sich bei dem Pigment in den 

Alveolarepithelien und in den bräunlichen Zellen um verschiedenes 
Pigment handelt. Es scheint aber aus meinen Untersuchungen hervor- 
zugehen, daß das Pigment in die Alv.-Epith. passiv hineingelangt und 
nur durch ihren Zelltod herausbefördert wird. Demgegenüber handelt 
es sich bei den bräunlichen Zellen mit großer Wahrscheinlichkeit um 
Zellen, die aktiv den Staub aufzunehmen befähigt sind. Demgemäß 
handelt es sich nicht um verschiedenen Staub, sondern um Staub, der 
in 2 verschiedenen Zellarten eingeschlossen ist. 
Fr. Müller!) hat darauf hingewiesen, daß man an feinen Schnitten 
‚durch die normale Lunge erkennen kann, daß Kohlepartikelchen in 
den Interalveolarsepten zum Teil in großen Zellen aufgenommen sind, 
die in das Lumen der Alveolen auswandern zu können scheinen. 
Fr. Müller meint, man müßte einen Teil der mit Pigment beladenen 
großen runden Zellen mit bläschenförmigem Kern als Abkömmlinge 
der Bindegewebszellen auffassen. Auch bei anderweitigen Entzündungs- 
prozessen können nach Fr. Müller jugendliche Bindegewebszellen als 
Makrophagen auftreten. 

Die Leukocyten des Sputums fand Fr. Müller dagegen fast stets 
frei von Ruß und anderen Fremdkörpern. Arnold?) hat auch diese 
Frage in den Kreis seiner grundlegenden Betrachtungen gezogen. 
Nach Arnold kann kein Zweifel darüber bestehen, daß Staubzellen 
im Gewebe und in den Lymphbahnen vorkommen. Arnold meint, 





Da. 2.058,24 2a. 0. 887 
23* 


356 NR. Engelsmann: Untersuchungen über das Myelin und die in Auswurf 


daß diese Staubzellen in loco durch Aufnahme des Staubes entstehen 


können. Andererseits glaubt Arnold die Möglichkeit zugeben zu müssen, 


daß solche Zellen von den Alveolen aus eintreten können. Schultzet) 


hatte in einem Fall bei einem bronchopneumonischen Herd Krystalle 
in den Lymphbahnen gefunden und dicht neben den Krystallen häufig. 


Kohlepigment. 

Schultze glaubt an dieser Stelle 2 Möglichkeiten erörtern zu müssen. 
Entweder sind die Krystalle durch Zerfall der Alv.-Epith. entstanden 
und in die Lymphgefäße gelangt, oder es handelt sich um eine Trans- 
formation der Lymphgefäßendothelien. Löhlein vertrat in der Dis- 
kussion den zweiten, Beneke den ersten Standpunkt. In seinem Sammel- 
referat bespricht Schultze?) folgende Ansichten. Merkel glaubt, daß 
die großen myelinhaltigen Zellen Endothelien sind. Löhlein hält diese 
epitheloiden Zellen in der Niere, Schultze in der Lunge für Lymph- 
gefäßendothelien. Störck für einkernige Wanderzellen. Pick ist der 
‘Ansicht, daß Endothelien und Wanderzellen eine Rolle spielen. Letztere 
scheinen bei den entzündlichen Vorgängen eine größere Rolle zu spielen. 
Die Lagerung der Zellen um die Gefäße herum in Niere und Lunge 
spricht nach Schultze für eine Beteiligung der Lymphgefäße mit ihren 
Endothelien. Andererseits gibt Schultze zu, daß Epithelien selbst- 
verständlich auch myelinhaltig sein können. | 

Ich lehne für die Alveolarepithelien eine Abkunft aus Gefäß- 
endothelien ab. Die Einheitlichkeit dieser Zellen, die Art ihrer Reaktion, 


ihr morphologisches Verhalten (Kerne!) spricht durchaus und nur für 


ihre Natur als Epithelzellen. 


Für die rätselhaften bräunlichen Zellen (die übrigens bei Prüfung 


auf Hämosiderin sich negativ verhalten), möchte ich diese Entstehungs- 
weise ernstlich erwägen. Das morphologische Verhalten der Zellen, 
vor allem die Art und Größe der Kerne entspricht durchaus den ‚großen 


Mononucleären oder Übergangszellen‘‘ des Blutes. Die phagocytäre 


Fähigkeit gegenüber dem Staub wäre so durchaus verständlich. Der 
Grund, der gegen die Identifizierung mit Blutzellen spricht, ist 


| 


Fehlen der Granula und negativer Ausfall der Oxydasereaktion. 
Gesicherte Kenntnisse von gestern geraten in der Medizin, be- | 
sonders der Zellforschung, heute ins Wanken. Herzog?) hat in einer 


neuesten Arbeit unsere Kenntnisse über die Gefäßwandzellen zu- 
sammengestellt. 


Auf die große Bedeutung dieser Abkömmlinge besonders bei ent 


zündlichen Vorgängen wird hingewiesen. 


!) Verhandl. d. dtsch. pathol. Ges. 1908, S. 226. 

*) Erg. d. allg. Pathol. u. pathol. Anat. 13, 1909. 

3) Herzog, Über die Bedeutung der Gefäßwandzellen in der Pathologie. Klin. 
Wochenschr, 1923, Nr. 15 u. 16, S. 684. 





nn 





— — 














vorkommenden Zellen, insbesondere die Alveolarepithelien. 357 


Bei entzündlichen Vorgängen können sich häufig morphologisch 
verschiedenartig, genetisch aber gleichartige, lymphoide Agranulo- 
eyten zu granulierten Elementen umwandeln. 

„Ferner sind — nach H erzog — schon frühzeitig im entzündlichen 
Gewebe, oft massenhaft, weniger stark basophile Wanderzellen mit 
hellerem, meist gebogenem oder auch unregelmäßig gebuchteten Kernen 
zu erkennen, die den Mononucleären und Übergangszellen des Blutes 
gleichen; ‚sie entstehen sicherlich zum größeren Teil aus den Wand- 
zellen von Capillaren und auch größeren Gefäßen, namentlich Arterien“. 
Es wäre, wenn man sich dieser Ansicht anschließt, auch erklärlich, 
daß, solange diese bräunlichen Zellen agranulär sind, auch die Oxydase- 
reaktion negativ ausfällt. 

Herzog weist auf die interessanten Untersuchungen von Oeller!) hin. 
Dieser konnte im Tierversuch nach intravenöser Injektion von Hühner- 
blutkörperchen eine plötzlich auftretende Phagocytose der Capillar- 
endothelien beobachten, namentlich an den Lungen. Die phago- 
cytierenden endothelialen Zellen sollen bald nach Ablösung von der 
Wand Kernlappung und Granulierung des Protoplasmas zeigen. 

Diese neuesten Untersuchungen werfen ein Licht auf die bisher 


"noch ungeklärte Stellung der eigentlichen Staubzellen?). 


Arnold?) hat sicher recht, wenn er auf Grund seiner Beobachtungen 


‚ angibt, daß Iymphoide (leukocytäre) Zellen bei den stärker reizenden 
‚ Staubarten, Schmirgel, Sandsteinstaub, in erhöhtem Maße auftreten. 


Da es hier zu entzündlichen Vorgängen kommt, ist das Auftreten 
von Wanderzellen erklärlich. 

Ob es sich bei den Rußinhalationen Arnolds um Iymphoide Zellen 
aus dem Blute oder aus Endothelzellen aus den Blut- vielleicht Lymph- 
capillaren handelt, läßt sich nicht feststellen, da Arnold Zellreaktionen, 
die er später in grundlegender Weise ausgebaut hat, damals noch nicht 


angestellt hat. Jedenfalls besteht die Möglichkeit, so den auffallenden 


Befund zu erklären, daß nur Iymphoide Zellen von Arnold beobachtet 
wurden und daß diese durchschnittlich größer als Lymphocyten waren 
und Staub enthielten. Im Einklang damit stände auch die Beobachtung 
von Müller‘), daß die Leukocyten im Sputum fast immer frei von Ruß 
und anderen Fremdkörpern gefunden werden, was ich aus eigener 
Erfahrung bestätigen kann. 


1) Oeller, Münch. med. Wochenschr. 1922, Nr. 51, S. 1774, zit. bei Herzog. 

2) Anm. bei der Korrektur. Nur hinsichtlich dieser Staubzellen kann die 
Frage erörtert werden, ob es sich um Histiocyten, insbesondere um Blut- 
histioceyten im Sinne Aschoffs handelt. Die Untersuchungen von Werthues 
(Beitr. z. pathol. Anat. u. z. allg. Pathol. 30. 1922) der sich auf Priscoe be- 
zieht, können die hinsichtlich derAlveolarepithelien in dieser Arbeit festgestellten 
Tatsachen nicht erschüttern. 

Br 0875. 0 A) a. a. 0.8284. 


358 R. Engelsmann: Untersuchungen über das Myelin und die im Auswurf 


Es wäre auch drittens möglich, daß es sich um die Abstoßung der 


cilienlosen niedrigen Zellgruppen aus den Bronchioli respiratoriit) 
handelt. Es wäre aber kaum verständlich, daß der Staub einmal zur 
Abstoßung von Alv.-Epith., zu anderen Malen um Abstoßung des 
Zellbelages kurz vor den Alveolen führen sollte. 

Verständlich erscheint unsere Auffassung, wenn man annimmt, daß 
bei geringfügigen und quantitativ geringen Mengen der Ruß in den 
Lungenalveolen abgefangen, abgelagert und erst herausbefördert wird, 
wenn ein Reizzustand, der das Lungenepithel trifft, die Alv.-Epith. 
desquamieren. 

Andererseits ist es mit den Lehren der pathologischen Histologie 
vereinbar, daß, wenn der Reiz stärker (Staubart) und massiger wird, 
dann außerdem eine phagocytäre Tätigkeit der Gefäßwandendothelien 
einsetzt. 

Was endlich die Umwandlungsmöglichkeit aus Zellen der Bronchial- 
schleimhaut betrifft, kann wieder auf die Untersuchungen von Fr. Mül- 
ber*) hingewiesen werden. Dieser fand bei akuter Bronchitis das Zylinder- 
epithel der Bronchien wohl erhalten, nirgends abgestoßen. Die Zahl 


Zahl der Becherzellen bei den akuten Bronchitis war gewaltig ver- 


mehrt. In einigen Fällen von chronischer Bronchitis fand Fr. Müller?) 
auffallend viele Bronchialepithelzellen mit wohl erhaltenem Flimmer- 
saum im Sputum. Es waren also diese Zellen einwandfrei hinsichtlich 
ihrer Genese festzustellen. 

Arnold*) hat bei seinen Inhalationsversuchen bei Tieren beobachtet, 
daß neben Schleimabsonderung und starker Vermehrung von Becher- 
zellen, Proliferations- und Desquamationsvorgänge an den Epithelien, 
Auswanderung von Zellen und zellige Infiltration der Schleimhaut 
stattfindet. Arnold schließt aus den katarrhalischen Erscheinungen 
beim Menschen auf ein analoges Verhalten. 

Ich bin auch der Ansicht, daß man im allgemeinen die von der 
Bronchialschleimhaut stammenden Zylinder- evtl. Becherzellen leicht 
als solche im Auswurf erkennen kann. 


Fr. Müllers) erklärt bestimmt, ‚‚daß er im Bronchialepithel niemals 


solche pigmenthaltige Zellen (Staubzellen) gesehen hat und daß es 
bestritten werden muß, daß diese sog. Pigmentzellen aus dem Zylinder- 
epithel hervorgehen oder diese auch nur durchwandern; sie stammen 
seiner Ansicht stets aus den Alveolen. 


| 





Fr. Müller erwähnt allerdings die ‚kleinen‘ Staubzellen nicht. 1 


Dieser Autor hat unter Hinweis auf Baraban*) darauf aufmerksam 


1) Rauber-Kopsch a. a. O. 2) 9,3. 0).ID. 245, ?) 2.8. ‚0, So 

4) ..,.8:30.:8:/132 21.,8:8.:,.0,8.4264. 

6) M. L. Baraban, Cigarette Smoking and the Epithelium of the Trachea and 
Bronchi ref. Brit. med. journ. Suppl. 1890, S. 32. 





Zr EEE EEE 








| 





vorkommenden Zellen, insbesondere die Alveolarepithelien. 359 


gemacht, daß der eingeatmete Staub auf der Bronchialschleimhaut 
einen chronischen Reizzustand hervorruft und auch zu einer Ver- 
änderung des Zylinderepithels nämlich zu einer inselförmig angeordneten 
Umwandlung in Plattenepithel führen kann. Baraban hatte Ge- 
legenheit, das Bronchialepithel eines soeben Hingerichteten zu unter- 
suchen. Dieser hatte längere Zeit vor dem Tode leidenschaftlich 
Zigaretten in seiner Zelle geraucht und lebte in einer mit Rauch ge- 
schwängerten Luft. Der Autor gibt an, daß es sich nicht um Ent- 
zündungsvorgänge, sondern um einen chronischen Reiz gehandelt hat. 
Die oben angegebenen Veränderungen wurden nur in den gröberen 
Bronchien gefunden; in den feineren bestand Verlust der Cilien. 
Baraban meint, daß diese anatomischen Veränderungen häufiger vor- 
kommen und selten beobachtet werden. In einzelnen Fällen hat man 
tatsächlich den Eindruck, daß diese bräunlichen Zellen kleine Platten- 
epithelien sind, polygonale Abplattung zeigen, und für diese Fälle wird 
man die oben erwähnte Genese im Auge behalten müssen. 


Zusammenfassung. 


I. Im Auswurf lassen sich eindeutig bestimmbare „große runde 


Zellen“ nachweisen. Es handelt sich um Alveolarepithelien. Die 


Genese ist auf Grund histologischer, pathologisch-anatomischer und 
klinischer Befunde gesichert. 

II. Die Zellen zeigen fast regelmäßig eine tropfige Entmischung 
des Protoplasma. Es handelt sich um freie Fettsäuren, nicht um 
Myelin. Diese Tropfen sind entsprechend ihrem chemischen Verhalten 
isotrop. Die freien Fetttropfen im Sputum (sog. Myeline) zeigen chemisch 
und optisch dasselbe Verhalten. 

Die Fetttröpfchen in den Zellen entstehen autolytisch, während die 
Zelle noch im Verbande sitzt. Die abgelöste Zelle ist tot und kann 


‚nicht mehr phagocytär tätig sein. Aus geplatzten Zellen gehen die 


freien Fetttröpfchen hervor. 
III. Der Name postmortale oder autolytische Myeline muß für 


diese Tröpfchen aufgegeben und durch „autolytisch entstandene isotrope 


Fettsäuretröpfchen‘‘ ersetzt werden. 

IV. Das in diesen Zellen enthaltene Pigment (Ruß) wird diesen 
Zellen von der Basalseite vor der Ablösung zugeführt. 

V. Außer diesen Zellen findet man bei stärkerer und vermehrter 


_ Reizeinwirkung (z. B. Rauchersputum) „zahlreiche bräunliche Zellen‘ 


(Staubzellen) im Auswurf. Es ist wahrscheinlich, daß diese Zellen 
phagocytär nach ihrer Ablösung aus dem Zellverband tätig sind und 
dann zum größten Teil zugrunde gehen. 

VI. Für die Genese dieser Zellen kommt in Frage 

1. Abstammung aus den Endothelzellen der Gefäße (Lymphgefäße), 


360 R. Engelsmann: Untersuchungen über das Myelin und die im Auswurf 


2. umgeändertes Bronchialepithel (Plattenepithel), 

3. abgestoßenes Epithel der Bronchioli respiratoriüi. 

Die größte Wahrscheinlichkeit spricht für die erste Entstehungsart. 
Diese scheint, wenn auch die anderen in Frage kommen können, die 
wichtigere und häufigere zu sein. 


VII. Zur Klärung dieser Frage sind noch weitere Untersuchungen 


erforderlich. 
Herrn Prorektor Dr. Emmerich in Kiel, der diese Arbeit in liebens- 
würdiger Weise unterstützt hat, spreche ich meinen Dank aus. 


Literatur. 





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vorkommenden Zellen, insbesondere die Alveolarepithelien. 361 


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‚H., Lehrb. d. klin. Untersuchungsmethoden. Leipzig-Wien 1905, 4. Aufl. — 
' Schmidt, Ad., Über Herkunft u. chem. Natur d. Myelinformen d. Sputums. Berlin. 
klin. Wochenschr. 1897, Nr. 4. — Schmorl, S., Untersuchungsmethoden. Leipzig 
1918, 8. Aufl. — Schmidt und Müller, Berlin. klin. Wochenschr. 1897, Nr. 4 zit. bei 
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Schultze,W., Über doppelbrechende Substanz in den Lungen Erwachsener. Verhandl. 
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Sommerbrodt, Virchows Arch. f. pathol. Anat. u. Physiol. 55. 1872. — Stöhr, Ph., 
Lehrb. d. Histol. Jena 1903, X. Aufl. — Strübing, Die Lehre vom Auswurf. Die 
‚Deutsche Klinik 4. 1907. — Tillmann, Veränderungen d. Leber u. Lymphdrüsen 
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les pumons. Ann. d. l’inst. Pasteur 1899, Nr. 9 zit. bei Lenhartz, Dtsch. med. Wochen- 
schrift 1889 — Ziegler, B., Lehrb. d. spez. Path. Anatom. Jena 1902, 10. Aufl. — 
‚Zoja, Über Lecithin i. d. Alveolarzellen u. über d. diagnostische Bedeutung d. 
Myelintropfen im Sputum, ref. Maly’s Jahresber. d. Tierchemie 24. 1894, 

















Besprechungen. 


Der Dr. Sofie A. Nordhoff-Jung-Krebspreis für die beste Arbeit der 
letzten Jahre auf dem Gebiet der Krebsforschung wurde für das Jahr 
1923 durch einstimmigen Beschluß der mit der Verteilung des Preises 
betrauten Kommission dem Professor der Pathologischen Anatomie an 
der Universität Kopenhagen, Johannes Fibiger, zuerkannt. Professor 
Fibiger ist es als erstem gelungen, durch systematische Untersuchungen 
Krebs bei Versuchstieren experimentell hervorzurufen und hierbei die 
Bedeutung von Parasiten für die Krebsentstehung klarzulegen. Seine 


Arbeiten stellen einen Markstein in der Geschichte der Lehre vom Krebs 


dar, und sie haben insbesondere der experimentellen Krebsforschung 
unserer Tage neue Anregung und neuen Aufschwung gegeben. Die 
Kommission setzte sich zusammen aus den Professoren der Universität 
München: Borst, Döderlein, v. Romberg, Sauerbruch. 


Y 


I 


| 
| 





(Aus der Physiko-chemischen Abteilungder Medizinischen Universitätsklinik zu Kiel 
[Dir.: Prof. Schittenhelm].) 


Der onkotische Druck des Blutplasmas und die Entstehung 
der renal bedingten Ödeme'). 


Von 
H. Schade und F. Claussen. 
Mit 11 Textabbildungen. 
(Eingegangen am 6. Januar 1924.) 


In früheren Arbeiten?) hat der eine von uns, z. T. in Gemeinschaft 


' mit H. Menschel, die allgemeinen Gesetzmäßigkeiten der Gewebsquellung 
‚ festgelegt und auf Grund der so erreichten Klärung einen Einblick in 


die Entstehung einiger ersten Formen der Ödeme ermöglicht. Es wurde 
‚gezeigt, daß die physiko-chemische Entstehungsweise der Ödeme keine 
einheitliche ist und daß insbesondere den Alkaliödemen, den Stauungs- 
ödemen und den Entzündungsödemen eine grundsätzlich verschiedene 
Art ihres Zustandekommens eigen ist. Diese Ödemarten verkörpern 
3 Sondertypen der Ödementstehung: nach dem physiko-chemischen 
Hauptfaktor ihrer Genese sind sie von uns als onkotische Ödeme, als 
mechanische Ödeme und als vorwiegend osmotische Ödeme unterschie- 
den. In Fortsetzung dieser Untersuchungen hat die vorliegende Arbeit 
die renal bedingten Ödeme zum Gegenstand. 

Mehr als je ist heute die Entstehung gerade dieser Ödeme umstritten. 
‚Die letzten Jahre haben ein starkes Anschwellen der Literatur dieses 


Gebietes gebracht. Eine vorzügliche kritische Zusammenstellung des 


bisher Erreichten ist kürzlich von M. H. Veil®) geliefert. In der Er- 
kenntnis der Vorgänge bei der Entstehung der renalen Ödeme ist man 
über einen Widerstreit von Meinungen nicht wesentlich hinausgekommen. 
Die alte Auffassung von der Hydrämie als Ursache der nephritischen 
Ödeme ist hinfällig geworden dadurch, daß zahlreiche Beweise für die 


1) Vorgetragen und demonstriert in der medizinischen Gesellschaft zu Kiel 


am 5. XI. 1923. 


®) Schade H., Zeitschr. f. exp. Pathol. u. Therapie 14, 1. 1913; H. Schade und 
H. Menschel, Kolloidzeitschrift 31, 171. 1922; dieselben, Zeitschr. f. klin. Med. 


 %, 279. 1923; vgl. ferner Verhandl. d. deutsch. Gesellschaft f. innere Medizin, 





ı 29. Kongreß, S. 526. 1912; 34. Kongreß, $. 283. 1922. 


®2) Veil, M. H., Ergebn. d. inn. Med. u. Kinderheilk. 23, 648. 1923. 
Z. f. klin. Medizin. Bd. 100. 24 


364 NH. Schade und F. Claussen: Der onkotische Druck des Blutplasmas 


Divergenz zwischen Hydrämie und Ödemen erbracht sind. Die Annahme 
einer abnormen Capillarwanddurchlässigkeit als Ödemursache scheint 
sich einer erheblichen Beliebtheit zu erfreuen, wenn auch trotz aller 
aufgewandten Mühe die experimentellen Unterlagen nur dürftig ge- 
blieben sind. Eine große Zahl der neueren Autoren sucht eine Erklärung 
auf kolloidehemischem Gebiet. Die M.H. Fischersche Theorie der Säure- 
entstehung der Ödeme, welche als erste den Gedanken einer patholo- 
oischen Quellungsänderung der Körperkolloide in die Lehre vom Ödem 
hineintrug, muß heute als mit zwingenden Gründen!) abgelehnt gelten; 
gleichwohl findet sie noch vereinzelt, so auch neuerdings wieder in 
A. Fodor und @. H. Fischer?), ihre Vertreter. Bei der Auffassung der 
Ödembildung von W. Hülse?) steht die quellungsbegünstigende Wirkung 
seitens der retinierten Salze resp. deren Ionen im Vordergrund. H. Ep- 
pinger*) spricht dagegen den Eiweißen, welche beim Ödem vom Blut 
zum Gewebe übertreten (,‚Albuminurie‘ ins Gewebe), eine Hauptrolle 
beim Zustandekommen der Flüssigkeitsanreicherung im Gewebe zu. 
Die Arbeiten von A. Ellinger und seinen Schülern’) sind die einzigen, 
welche den Versuch enthalten, die bei der Ödembildung von den 
Eiweißen des PBlutserums ausgeübten Wirkungen quantitativ zu 
erfassen. Da zu einer direkten Messung des ‚Quellungsdruckes“ der 
Serumkolloide kein klinisch gangbarer Weg verfüglich schien, haben 
diese Autoren angestrebt, durch Messung von Lösungseigenschaften, 
von denen sie ein Parallelgehen mit dem ‚‚Quellungsdruck‘ vermuteten, 
so durch Viscosimetrie in Kombination mit der Refraktometrie und 
durch Messung der Filtrationsgeschwindigkeit in Ultrafiltern Aufschluß 
über den Quellungsdruck zu bekommen. Eine Klärung der Verhält- 
nisse ist auf diesen Wegen nicht erreicht und konnte, wie wir jetzt 
nachträglich urteilen können, auch nicht erreicht werden, da die von 
Ellinger angenommene quantitative Beziehung dieser Eigenschaften 
zum Quellungsdruck für das Blut im lebenden Körper nicht zu Recht 
besteht. Alle bislang in der Frage der Ödementstehung vertretenen 
kolloidehemischen Hypothesen der Autoren haben gemeinsam, daß 
am Ort des Ödems eine krankhafte Steigerung des Quellungsvermögens 





1) Vgl. H. Schade, Die physikalische Chemie in der inneren Medizin. 3. Aufl., 
S. 399 ff. 1923. 

2) Fodor, A., und @. H. Fischer, Zeitschr. f. d. ges. exp. Med. 29, 465 u. 509. 
1922. 

3) Hülse, W., Virchows ‘Arch. f. pathol. Anat. u. Physiol. 225, 234. 1918. 

4) Eppinger, H., Zur Pathologie und Therapie des menschlichen Ödems. 
Berlin: Julius Springer 1917. 

5) Hllinger, A., und P. Heymann und Klein, Arch. f. exp. ‚Pathol. u. Therapie 
90, 336; 94, 28. 1921; ferner A. Ellinger und Neuschloß, Biochem. Zeitschr. 127, 
241. 1922. Vgl. auch A. Ellinger, Verhandl. d. deutsch. Gesellschaft f. innere Medi- 
zin, 34. Kongreß, S. 274. 1922. 


und die Entstehung der renal bedingten Ödeme. 365 


der Gewebskolloide angenommen wird. Die hier folgende Arbeit, welche 
_ den „Quellungsdruck“ des Blutes für die klinischen Verhältnisse einer 
direkten Messung zugängig macht, bringt den Nachweis, daß für die 
' renal bedingten Ödeme — gerade entgegengesetzt zu den bisherigen 
| Vermutungen — eine Herabsetzung der kollofden Wasseranziehung die 
' Ursache ist, und zwar sind es nicht die Kolloide des Gewebes, sondern 
‚ die Kolloide des Blutplasmas, an denen sich diese Veränderung zeigt. 
Die Beweisführung sei in zwei Teile gegliedert. 





I. Teil. Die Messung des onkotischen Druckes im Blutplasma 
und ihre Ergebnisse. 


’ 
| Eine kurze Bemerkung über die Nomenklatur sei vorangestellt. Unter Quel- 
‚ lungsdruck wird in der physikalischen Chemie derjenige Druck verstanden, mit dem 
‚ ein Gel Wasser aufzunehmen bestrebt ist; dieser Druck ist in seiner Größe demjenigen 
‚ Druck gleich, der erforderlich ist, um aus dem Gel gerade eine erste kleinste Menge 
‚ Wassers abzupressen. Auch in flüssiger Lösung bewirken hydrophile Kolloide 
' einen Druck, der einem Quellungsdruck ähnlich ist. Auf Grund dieser Ähnlichkeit 
| hat man auch in Lösungen von „Quellungsdruck“ gesprochen, und doch steht fest, 
daß die Art des Zustandekommens der wasseranziehenden Wirkung seitens der 
' Kolloide in der Flüssigkeit nicht mit derjenigen im Gel identisch ist. Die Über- 
‚ tragung des Begriffs „, Quellungsdruck“ auf flüssige Systeme birgt demnach Ursache 
8 Beanstandung. Von anderen Gesichtspunkten aus ist dieser selbe Druck als 
, „osmotischer Druck“ der Kolloide bezeichnet; doch auch solche Auffassung ist 
‚nicht einwandfrei, zumindest nicht erschöpfend. Um dem wiederholt hervor- 
‚ getretenen Bedürfnis nach einer voraussetzungslosen Benennung zu genügen, ist 
‚vom Verfasser in einer früheren Arbeit als ein allgemeiner Sammelbegriff alles 
‚ dessen, was jeweils von den Kolloiden ausgehend, sei es in der Lösung oder im Gel, 
‚als wasseranziehender Druck vorhanden ist, die Bezeichnung ‚‚onkotischer Druck“ 
'in Vorschlag gebracht. Wir werden uns auch hier dieser Benennung bedienen. 
| Messungen der wasseranziehenden Kraft der Kolloide des Serums 
| sind bislang für das menschliche Serum, soweit uns bekannt, noch 


‚nicht durchgeführt. E. H. Starling!) hat als erster, schon 1898, den 
'„osmotischen Druck“ der Kolloide, also das, was uns hier interessiert, 
‚am tierischen Serum mit Einzelwerten gemessen: er fand einen Druck 
‚von etwa 3cm Hg. Die von ihm benutzte Methode (Messung der maxi- 
‚malen Steighöhe des Wassers beim Angrenzen des Serums an eine 
‚durch Ultrafiltration gewonnene artgleiche, aber eiweißfreie Vergleichs- 
lösung) hat für klinische Zwecke den großen Übelstand, daß etwa 3 bis 
‚4 Tage zur Messung erforderlich sind, so daß in der Zwischenzeit ein- 
tretende Zustandsänderungen nicht auszuschließen sind. 1919 ist die 
‚Methodik solcher Druckmessungen durch $. P. L. Sörensen?) wesentlich 
verbessert und vor allem auch zeitlich erheblich, d. h. auf etwa 1!/, bis 


‚2 Tage abgekürzt. Diese Methode ist an dem im Zitat genannten Ort 


} 
r 





1) Journ. of physiol. 24, 317. 1899. 
?) Zeitschr. f. physiol. Chemie 106, 1. 1919. 


366 NH. Schade und F. Claussen: Der onkotische Druck des Blutplasmas 


ausführlich beschrieben. Als wir unsere Arbeit begannen, hofften wir, 


mit dieser Methode zu ausreichend sicheren Werten für den onkotischen 


Druck des Serums bei den in Frage stehenden klinischen Verhältnissen 
kommen zu können. Wir haben nach dieser Methodel) 23 verschiedene 
menschliche Sera untersucht. Die erhaltenen Werte zeigt die Tabelle 1. 


Tabelle 1. 
Werte des onkotischen Druckes menschlicher Sera, gemessen mit der Methode nach 
Sörensen. 
1X LK 22 2,100,0,°%. 11.2200 >70 81 Ze 2,9 1:28..1L 23m 1,9 
12. XI 22a 2,55 LOL 22 TIER 2,311/IE 37 u 29 | 
187XT, 227 2 1,0 IT DT EZ 29) 1.112280 3,2 
IHK IN22EE 2,5 10-1223 23 2,12 Dauer 2,6: 2:11 237 2 2,8 
DIALER NE ER N 2,0228, 23 03 2,4.1. 2. DIL 2377 75 2,8 
DAX LIDO mE oT S) Zn 2,930.22.. 17 2402 2,5 











18 dieser 23 Werte liegen zwischen den Grenzen von 2,3—2,9cm Hg. 


Ohne Zweifel kommt hierin ein dichtes Zusammenliegen der normalen 
onkotischen Serumwerte zum Ausdruck. Dreimal fand sich ein höherer, 
mal ein niedrigerer Wert für den onkotischen Druck. Wir haben 
nicht gewagt, diese abweichenden Werte, die wir bei 30—40 Stunden 


alten Seren erhielten, als real anzusprechen, d. h. auch für den frischen 


Zustand des Serums als sicher gültig zu betrachten. Wie Kontrollen 


zeigten, waren die Resultate am Serum nicht streng reproduzierbar. 
Jedenfalls war sicher, daß wir von einer Methodik, die erst am alterndem 


Serum eine onkotische Druckzahl zu liefern vermochte, keine einwand- 
freie Klärung für die Verhältnisse des lebenden Körpers erwarten 
konnten. Wir haben daher diese Methodik verlassen und uns bemüht, 
auf selbstgeschaffenem Wege zu besseren Resultaten zu gelangen, 
Dieses Ziel wurde erreicht. Wir beschreiben im folgenden eine Methode 


zur Messung des onkotischen Druckes in Flüssigkeiten, welche zur 


Ausführung etwa 3—4 Stunden benötigt und dabei außerordentlich 


sichere Resultate gibt, so daß wir diese Messungsart allgemeinhin als 


eine klinisch gut brauchbare Laboratoriumsmethode empfehlen können. 


A. Beschreibung der Methodik der Flüssigkeitsonkometrie 
nach H. Schade und F. Claussen. 


Das Prinzip der Methodik läßt sich am besten in Gegenüberstellung. 
zu den Methoden von E.H. Starling und von S. P. L. Sörensen erläutern, 
wobei die Abb. 1 mit ihren schematischen Skizzen als Grundlage diene. 

Die Figur A zeigt die Wirkung des onkotischen.. Druckes in der 
Kolloidlösung des Steigrohres, wenn die Möglichkeit besteht, durch 
eine dialytische Membran Flüssigkeit aus der umgebenden Lösung 


!) Mit z. T. modifizierter Konstruktion der Apparatur. 








und die Entstehung der renal bedingten Ödeme. 367 


aufzunehmen; die Steighöhe gibt dabei ein Maß des onkotischen Druckes 
(Prinzip der Methode Starlings). So einfach auch dies Prinzip, so schwie- 
tig ist doch die Ausführung solcher Messung. Wir nehmen das Blut- 
serum als Beispiel. Der onkotische Druck der Serumkolloide ist gegen- 
über dem osmotischen Druck der, sonstigen im Serum vorhandenen 
, Stoffe ganz außerordentlich klein, er macht weniger als ! /1o0 des letzteren 

aus. Die Messung des onkotischen Druckes an einer Dialysiermembran 
‚ ist daher nur möglich, wenn die Innen- und Außenlösungen in ihrem 
, osmotischen Gesamtdruck und in allen ihren osmotischen Partiardrucken 
bis aufs letzte genau übereinstimmen. Es ist verständlich, daß hieraus 





C; 1% 





A 
| Nach Starling. Nach Sörensen. Nach Schade u. Claussen. 
Abb. 1. Schema der verschiedenen Methoden der Flüssigkeitsonkomettrie, 


‚sehr erhebliche Schwierigkeiten resultieren, die nur bei Vorhandensein 
großer Serummengen durch Herstellung eines Dialysats resp. Ultra- 
filtrats zu überwinden sind. Schon der Zeitfaktor allein aber ist ent- 
'scheidend. Bei der Messung nach Starling wird das Steighöhenmaxi- 
 mum abgewartet; einschließlich der Vorbereitungen dauert die Messung 
stets mehrere Tage. Bei Kolloidmessungen am Serum, die sich tagelang 
hinziehen, wird man etwaigen zu beobachtenden Differenzen kaum noch 
Vertrauen entgegenbringen dürfen. EN, 
Die Figur B veranschaulicht das Prinzip der onkotischen Druck- 
 messung von Sörensen. An Stelle des Abwartens eines Steighöhen- 
 maximums ist eine Momentanmessung getreten: es wird der Druck 
"bestimmt, der gerade hinreicht, um entgegen dem onkotischen Druck 
eine erste kleinste Menge Flüssigkeit aus der Kolloidlösung nach außen 
hin abzupressen. Die von Sörensen ausgearbeitete spezielle Messungs- 
‚art ermöglicht die Gewinnung sehr exakter Werte für den bestehenden 
Druck. Trotz der so erreichten Zeitersparnis bei der Druckfeststellung 
'sind immerhin für die Gesamtausführung einer Blutserummessung 
‚nach der Methodik von Sörensen noch mindestens 1!/, Tage erforderlich, 
so daß die Gefahr störender Spontanänderungen der Serumkolloide 











368 H. Schade und F. Claussen: Der onkotische Druck des Blutplasmas 


nicht beseitigt ist. Auch ist die Notwendigkeit der Beschaffung einer 
im osmotischen Druck absolut übereinstimmenden Außenlösung mit 
ihren für klinische Zwecke nur schwer überwindbaren Schwierigkeiten 
bestehen geblieben. 

Das Prinzip der von uns ausgearbeiteten Methodik ist in den Fi- 
guren CO, und CO, enthalten. Der onkotische Druck einer Kolloidlösung 
hat nicht das Vorhandensein einer angrenzenden Außenlösung zur 
Voraussetzung, er ist in völlig demselben Betrage vorhanden, wenn 
man die Außenlösung ganz fortläßt, wie es die Figur C, zeigt. Solche 
Vereinfachung bringt den für die klinische Brauchbarkeit entscheiden- 
den Doppelvorteil, daß die Beschaffung einer dem Serum osmotisch 
genau gleichen zweiten Flüssigkeit fortfällt und daß die Untersuchungs- 
zeit sich auf wenige Stunden reduzieren läßt. Es stand für uns die Frage 
zu prüfen, ob die Messung bei solcher Vereinfachung noch praktisch 
mit zuverlässigem Ergebnis durchgeführt werden kann. Es ist leicht 
verständlich, daß bei Fortfall der umspülenden Außenlösung nur noch 
Preßdrucke aufgesetzt werden dürfen, bei denen in der Dialysier- 
membran ein Flüssigkeitsstrom von innen nach außen vor sich geht oder 
im Grenzfall gerade Ruhe besteht. Die Ausführbarkeit der Messungen 
und die Sicherheit des Resultats wird durch diese Beschränkung der 
Druckwerte an sich nicht in Frage gestellt. Gleichwohl ist die Messung 
mit einem der Figur C, entsprechenden einfachen Apparat nicht durch- 
führbar, da zufolge Verdunstung an der Membran capillarmechanische, 
osmotische und andere Störungen interkurrieren. Durch einen Kunst- 
griff gelang es uns, in geradezu idealer Weise dieser Störungen Herr 
zu werden. Die Figur C, zeigt das Prinzip der Messung in seiner prak- 
tisch brauchbaren Form: die Dialysiermembran ist durch übergeschich- 
tetes Quecksilber gegen die Luft abgeschlossen. In dieser Art wird nicht 
nur die Verdunstung mit ihren capillarmechanischen und osmotischen 
Störungen beseitigt, sondern zugleich auch weiterhin noch ermöglicht, 
daß die Dialysiermembran durch Passieren eines Erstanteils des Serums. 
bereits vor Beginn der eigentlichen Messung zu einer adsorptiven Gleich- 
gewichtseinstellung mit dem Serum gebracht werden kann, ohne dab 
diese durchgetretenen Erstanteile des Serums später stören, da sie je 
weils automatisch dank der größeren Schwere des Quecksilbers stets 
sofort von der Membran entfernt werden. Die Abweichung im Druck- 
betrag, welche aus der Hg-Überschichtung resultiert, ist exakt meß- 
bar und beim Resultat als eine Konstante in Abzug zu bringen. Die 
Dauer einer Messung mit dieser Methodik beträgt einschließlich 
der Vorbereitungen für den Geübten ca. 3 Stunden; auch die Ge- 
fahr der zeitlichen Kolloidänderung ist somit auf ein Mindestmaß 
zurückgeführt. 





und die Entstehung der renal bedingten Ödeme. 369 


| 


Beschreibung des Flüssigkeitsonkometers nach H. Schade und F. Olaussen. 


Die Abb. 2 zeigt den Apparat in gebrauchsfertiger Form, wie er 
käuflich von dem Universitätsmechaniker Schweder, Kiel, Fleckenstr. 16, 
bezogen werden kann. 

Der Metallblock B enthält in seinem Innern eine Kammer (Hohl- 
raum), welche durch die aufschraubbare Platte A geschlossen wird. 
Diese Platte trägt an ihrer Unterseite | 
eine Collodiummembran; wo die Mem- 

 bran die Lichtung des Glases F über- 
spannt, ist sie durch ein festes Draht- 
netz versteift und gestützt. C ist eine 
mit dem Kammerraum kommunizie- 
rende Capillare, an welcher die bei den 
angewandten Preßdrucken eintretenden 
Höhenänderungen der kolloiden Lösung 
abgelesen werden. Das Glasrohr D dient 
als Behälter zur Erstfüllungresp. Flüssig- 
keitsauswechslung des Kammerraums: 
E ist ein Abstellhahn an der Verbin- 
dung zwischen D und der Kammer. 
‚ Das Glasrohr F zeigt in seinem unteren 
‚ Teil die Kuppe der zur Membranab- 
schließung dienenden Quecksilbermasse. 
Der Abpreßdruck wird einem beweg- 
lichen Druckflaschensystementnommen, 
welches, kontrolliert durch ein Wasser- 
manometer, mit der Capillare © durch 
einen Schlauch verbunden wird. Die 
| Verschiebung des Höhenstandes der Abb. 2. Flüssigkeitsonkometer nach 
Eu. FRE e r & H. Schade und F. Claussen (*/, natürl. 
Flüssigkeit in der Capillare wird mit Größe). 
_ Hilfe eines Ablesemikroskops gemessen, 
bei dem etwa 40 Teilstriche des Mikrometers einem Millimeter an der 
| Capillare entsprechen. Dieses Ablesemikroskop ist zusamt der zugehörigen 
kleinen elektrischen Lampe verstellbar an einem Stativ montiert: die 
 feinere Einstellung geschieht am Fuß des Stativs durch Schrauben, welche 
ihrerseits auf einer einwandfrei festliegenden Glasplatte aufstehen. Der 
oben abgebildete Apparat wird in ein mit Wasser gefülltes Mantelgefäß ein- 
gesetzt und sodann dieses Gefäß mit einem Deckel geschlossen, welcher für 
den Abstellhahn Z und für die Capillare sowie für ein noch hinzuzufügendes 
Beckmannthermometer passende Durchbohrungen besitzt. Die Messungge- 
Schieht nach Einbringung des Ganzenin einen Ostwaldschen Thermostaten. 
_ Die Abb. 3 gibt unter Fortlassung des Motors zum Rühren des Thermo- 
Statenwassers ein Gesamtbild der zur Messung dienenden Apparatur. 


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370 H. Schade und F. Claussen': Der onkotische Druck des Blutplasmas 


Vorbereitung und Ausführung der Messungen. 


Die Herstellung der dialytischen Membran für den Kammerraum 
geschehe wie folgt: Auf das mit Alkohol und Äther sorgfältig gereinigte 
metallische Netzwerk der Membranplatte A wird von der Kammer- 
seite her mit weichem Haarpinsel schnell eine Schicht 3 proz. Eisessig- 
collodiums aufgetragen und ihr Abfließen durch ständiges Umkehren 
der Membranplatte verhindert. Nachdem dieses Collodium in etwa 





Abb. 3. Gesamtbild der zur Onkometrie erforderlichen Apparatur. 


10 Minuten leicht angetrocknet ist, werden auf dieser Grundlage nach- 
einander etwa 10 dünne Schichten 4 proz. offizinellen Äthercollodiums 


aufgepinselt. Man läßt dabei jede einzelne Schicht zunächst etwas 


antrocknen, nicht zu wenig, da man sie sonst mit der folgenden wieder 


auflöst, und nicht zu viel, da sonst keine in sich einheitliche Membran 


zustande kommt. Die Herstellung der Membran soll zur Verhütung 
von Blasenbildung bei niedriger Temperatur (nicht über 18°) vor- 


genommen werden. Zum Schluß wird der Rand der Membranplatte 
mehrmals dick bepinselt, damit ein dicker Ringwulst entsteht, welcher 
beim Zusammenschrauben hernach die Dichtung besorgt. Nachdem 
die letzte Schicht lufttrocken geworden ist, läßt man die Membran für 


12—24 Stunden in Aqu. dest. härten. 











und die Entstehung der renal bedingten Ödeme. 371 


Jede neu hergestellte Membran muß — frühestens 24 Stunden nach 
der Herstellung — auf ihre Eiweißdichtigkeit hin genau geprüft werden. 
Man dialysiert zu diesem Zweck mit der in den Apparat eingesetzten 
Membran unter insgesamt etwa 60 cm Wasserdruck ein beliebiges Serum. 
Das im Rohr F erscheinende Dialysat darf bei empfindlichster Probe 
keine Eiweißreaktion geben. Ergänzend lasse man auch eine Hämo- 


 globinlösung dialysieren; das Dialysat muß völlig farblos erscheinen. 


Vor der Verwendung zur Messung von Blutplasma oder ähnlichem bringe 
man die Membran, beiderseitig umspült, für 24 Stunden in Normosal- 
lösung. Auch die Aufbewahrung geschehe ständig in Normosal- 
lösung, nachdem man mit kräftigem Wasserstrahl das anhaftende Serum 
abgespült hat. Zur Sterilhaltung können in dem Normosal einige 
Tropfen gelösten (nicht überschüssigen) Toluols enthalten sein. Eine 
so hergestellte und weiterbehandelte Membran ist, wenn man sie sorg- 
fältig vor Eintrocknung schützt, mehrere Wochen bis Monate brauch- 
bar. In den ersten Tagen nimmt ihre Durchlässigkeit für Echtgelöstes 
schnell, dann nur mehr langsam ab; diese Veränderung der Durch- 
lässigkeitsgeschwindigkeit hat auf die Lage des Nullpunktes bei der 
Messung keinen Einfluß. 

Der Apparat, ganz besonders die Capillare ©, bedarf sorgsamster 
Reinhaltung. Während der Zeiten des Nichtgebrauchs ist die Capillare 
am besten mit einer Reinigungsflüssigkeit aus konz. Schwefelsäure 
und Kaliumbichromat (cave: Benetzung der Metallteile!) gefüllt zu 
halten. Vor jeder Messung wird die Capillare nach Entfernung des 


 Schwefelsäuregemisches mit einer Wasserstrahlpumpe verbunden und 


von der Kammer her nacheinander Aqu. dest., Alkohol absol., Äther 
und schließlich Luft bis zur völligen Trocknung en Geringes 
Einfetten der Hähne ist zur Erzielung eines absolut dichten Verschlusses 


_ erforderlich. 


Nach geschehener Vorbereitung wird die Untersuchungslösung in 


das Glas D gebracht. Von hier aus läßt man sodann durch Öffnen des 


Hahnes E die offene Kammer so weit vollaufen, daß die Lösung kuppel- 
artig über den Rand vorwölbt. Auf diese Flüssigkeit wird die Membran- 
platte unter strengster Vermeidung von Luftblasen aufgesetzt und fest- 
geschroben. Unter nochmaliger Öffnung des Hahnes E saugt man nun 
die Capillare bis fast zum oberen Rand voll; dann wird der Hahn E 
definitiv geschlossen. Die obere, dem Glasrohr F einsitzende Seite der 
Membran wird jetzt (oder auch schon vor Füllung der Kammer) mit 


 Filtrierpapier von den Resten der aufstehenden Normosallösung ge- 
_ trocknet und dann sofort genau 12,00 g Hg, welches exakt gereinigt und 
' trocken sein muß, aufgegossen. Es ist nützlich, zur bequemen Abmes- 
' sung solcher Menge ein geeignet geformtes kleines Glasgefäß von abge- 
' paßtem Volumen vorrätig zu halten. Nach beendeter Füllung werden 


372 H. Schade und F. Claussen: Der onkotische Druck des Blutplasmas 


beide Glasrohre (D und F) mit leicht eingekerbtem, d.h. nicht völlig 
schließendem Korken bedeckt. 

Apparat und Mantelgefäß werden zunächst eine Weile getrennt 
im Thermostaten vorgewärmt, dann erst wird der Apparat in das mit 
Thermostatenwasser zu 3/, gefüllte Mantelgefäß eingesetzt und mit 
Deckel verschlossen, wobei der Querstift am Schaft des Hahnes E 
vorübergehend herausgezogen werden muß. Bis zur 'Temperaturein- 
stellung, die bei unseren Messungen in etwa einer halben Stunde erfolgte, 
wird durch wiederholtes Heben und Senken des Apparates im Mantel- 
gefäß für ein Umrühren des Wassers gesorgt. Während der Messung 
dürfen die Temperaturschwankungen nicht mehr als höchstens einige 
Tausendstel Grade betragen. Schon während des Abwartens der Tem- 
peratureinstellung wird auf die Kammerflüssigkeit von der Capillare 
her nach Verbindung mit dem Druckflaschensystem ein Gegendruck 
von etwa 60 cm Wasser aufgesetzt, um zunächst die in der Membran 
noch vorhandene Normosallösung durch Serumwasser zu ersetzen und 
auch sonst die Membran auf eine Gleichgewichtseinstellung zum Serum 
(betreffs Adsorption usw.) zu bringen. Solche Vorbereitung der Membran 
vor jeder Serummessung ist unbedingt nötig. Wie wir in Kontrollen 
fanden, ist sie sicher in etwa 11/,—2 Stunden beendet, wenn während 
dieser Zeit bei dem aufgesetzten Druck in sehr langsamem Durchstrom 
ungefähr 5—7 cm in der Capillare (etwa 1—2 Tropfen Flüssigkeit) ab- 
gepreßt sind. Man kann nun von dem Glasrohr D aus bei Belassung des 
Apparates im Thermostaten vermittels Saugdruckes an der Capillare © 
eine Neufüllung des Kammerraumes mit Flüssigkeit vornehmen; doch 
ist die durch die obige Membranvorbereitung eingetretene Konzen- 


trationsänderung des Kammerserums so gering, daß sie sich für unsere 


Zwecke praktisch bei der Messung nicht bemerkbar macht. Wir haben 
daher bei unseren Messungen von dieser Flüssigkeitsauswechslung Ab- 
stand genommen. 

Ist diese Abpressung beendet und Temperaturkonstanz vorhanden, 
so kann die eigentliche Messung beginnen. Es läge am nächsten, durch 
Ausprobieren denjenigen Preßdruck herausfinden zu wollen, bei dem 


gerade keine Abpressung von Flüssigkeit mehr statthat. Die so erhält-. 


lichen Resultate sind aber recht ungenau. Sehr exakt wird dagegen, 
wie S. P. L. Sörensen bei seiner Apparatur nachwies, die Bestimmung 
eines solchen Nullpunktes der Abpressung, wenn man — anstatt einer 
Einzelmessung am Nullpunkt selber — für 3—4 oder mehr beliebige 
Druckwerte, bei denen noch deutlich eine Abpressung von Flüssigkeit 


erfolgt, die durch den jeweiligen Druck abgepreßten Flüssigkeitsmengen | 
(auf eine gleiche Zeiteinheit bezogen) bestimmt. Denn innerhalb einer 
erheblichen Breite um den Nullwert der Abpressung herum besteht 


strenge Proportionalität zwischen den Preßdruckwerten und den ihnen 











und die Entstehung der renal bedingten Ödeme. 373 


zugehörigen abgepreßten Flüssigkeitsmengen, derart, daß sich mit vor- 


züglicher Genauigkeit rechnerisch oder graphisch die dem Abpressungs- 
wert Null entsprechende Preßdruckgröße und damit der onkotische 
Druck der Kolloidlösung selber ermitteln läßt. An und für sich sind zu 
diesen Messungen sowohl die Preßdruckwerte oberhalb als auch unterhalb 
des Abpressungsgleichgewichtes geeignet; unsere Apparatur aber bringt 
die Beschränkung, daß lediglich Preßdrucke benutzt werden können, 


die oberhalb solchen Einstandes liegen, da beim Ersatz der Außen- 


lösung durch Quecksilber jede Einsaugwirkung von außen nach innen 
sorgfältigst zu vermeiden ist. Für die Verhältnisse unseres Apparates 
ist die Breite der am besten geeigneten Preßdruckwerte mit den Zahlen 
5—30 cm H,;O-Überdruck gegeben. In diesem Spielraum können die 
Preßdrucke beliebig gewählt werden, doch empfiehlt es sich mit Rück- 
sicht auf die elastische Membraneinstellung, die Drucke nur schritt- 
weise und nur in einer Richtung zu verändern, d. h. bei den Einzel- 
messungen stets nur mit etwa 5cm H,O-Unterschied von den höheren 
Drucken zu den niederen Drucken abzusteigen. Dabei ist es nötig, 


nach einer neuen Druckeinstellung jedesmal zunächst eine ganz bestimmte 


Zeit mit dem Beginn der Ablesungen zu warten; wir haben mit unseren 


"Membranen!), wenn wir die Messungen nach genau 10 Min. begannen, 


stets strenge Proportionalität der Werte erhalten. Zur Sicherheit, be- 
sonders zum Ausschluß von Störungen durch Membranfehler oder 
sonstige Undichtigkeiten an der Apparatur sind fast alle unsere Unter- 


suchungen in Doppelmessungen (zwei Apparate nebeneinander im 


Thermostaten) durchgeführt; wie das gleich unten mitgeteilte Protokoll- 
beispiel ersehen läßt, ist der Mehraufwand an Zeit bei geeignetem In- 
einandergreifen der Messungen sehr gering. 

Hinsichtlich der Größe des Preßdruckes ist noch folgendes zu be- 
achten. Der Druck, welcher an der Membran im Sinne einer Flüssigkeits- 
abpressung wirkt, setzt sich zusammen aus dem Druck der in der Capil- 


lare befindlichen Flüssigkeitssäule (von Membranhöhe an gemessen) 


und dem vom Druckflaschensystem her noch außerdem hinzugebrachten 
Druck; dieser Druck kommt aber an der Membran nicht mit seinem 
vollen Betrage zur Geltung, er wird vielmehr durch zwei entgegengesetzt 
gerichtete Wirkungen verringert, und zwar 1. um den Betrag der capil- 
laren Steighöhe im Rohr C' und 2. um den kompliziert sich zusammen- 
setzenden?) Betrag, der aus der Membranüberschichtung mit 12,00 g Hg 


!) Dies gilt für unsere Membranen bei einem Alter von 2 Tagen an. Bei noch 
jüngeren Membranen kann sich eine Zeit von 15 Minuten als erforderlich erweisen; 
doch tut man besser, dann mit der Benutzung zu warten. 

2) Vor allem ist es die Wirkung des Capillarraums zwischen dem Quecksilber 
und der Membran resp. dem Glas, welche hier eine Berechnung des Druckes unmög- 


lich, macht. 


374 NH. Schade und F. Claussen: Der onkotische Druck des Blutplasmas 


resultiert. Beide Beträge sind experimentell leicht bestimmbar. Die 
capillare Steighöhe der Flüssigkeit ist bei frei kommunizierendem Röh- 
rensystem ohne weiteres aus der Höhenstandsdifferenz der Capillare © 
gegenüber dem Rohr D in cm-H,0-Druck zu entnehmen. Die Größe 
des Gegendruckes, welcher durch die Hg-Überschichtung an der Membran 
bewirkt wird, erhält man, wenn man unter Berücksichtigung der eben 
genannten Höhenstandsdifferenz eine Lösung von bekanntem onkotischen 
Druck mit dem Apparat mißt. Es ist am einfachsten, eine Lösung 
von dem onkotischen Druck = 0, also z. B. eine 0,85 proz. NaCl-Lösung 
zu wählen. Führt man bei einer solchen Lösung in gleicher Art wie sonst 
die Messung durch, so gibt die hierbei erhaltene Abweichung vom Null- 
wert die Differenz der Apparatmessung gegenüber dem richtigen Wert 
an. Für die zwei von uns benutzten Apparate, die völlig gleichmäßig ge- 
arbeitet waren, betrugen die beiden hier in Frage kommenden Werte 
laut häufig wiederholter Messung übereinstimmend 3,0 cm und 4,5 cm 
H,O = insumma 7,5cm H,0. Diese Größe bleibt sich für alle on- 
kotischen Messungen an denselben Apparaten gleich und stellt eine 
spezifische Abzugskonstante des Apparates dar. Es ist wünschenswert, 
daß die onkotischen Druckablesungen gleich so geschehen können, daß 
diese Konstante bereits subtrahiert ist. In einfacher Weise wird dies 
dadurch erreicht, daß man die durch Messung gefundene Abzugsgröße 
direkt an der Capillare abmißt und dort eine Marke anbringt, von wo 
an für den betreffenden Apparat die Höhe des Flüssigkeitsstandes in 
der Capillare C als ein positiv verbleibender Wert gezählt werden kann. 
Dadurch ist man jeder Abzugsrechnung bei allen weiteren Messungen 
enthoben. 

Die einer bestimmten Druckbelastung zugehörige Abpreßmenge 
wird in 5 Einzelablesungen des Flüssigkeitsstandes in der Capillare C 
gemessen. Genau 10 Min. nach der Einstellung des betreffenden Druckes 
hat die Messung zu beginnen; das verstellbare Ablesemikroskop wird 
daher so gehandhabt, daß möglichst genau zu dieser Zeit die absinkende 
Flüssigkeitssäule mit ihrem Meniscus einen bestimmten Teilstrich 
der Mikrometereinteilung (wir haben stets [siehe unten] auf Teilstrich 
90 abgepaßt) passiert. Im Moment des Passierens wird die Stoppuhr _ 
in Gang gesetzt und nun nach je 1 Min. die Ablesung wiederholt. Die 
Assistenz einer zweiten Person ist hierbei im Anfang erforderlich, nach 
Einübung in die Methodik ist sie jedoch zu entbehren. Die weiteren 
Einzelheiten der onkotischen Druckmessung sind am besten aus einem 
Protokollbeispiel zu ersehen: 


Protokollbeispiel einer onkotischen Druckmessung mit zwei Apparaten bei 37°. 

8 Uhr 30 Min. Vorbereitung beendet und (abgelesen am Manometer) ein Druck 

von 30 cm H,O auf die fast bis oben mit der Versuchslösung gefüllten Capillaren 
aufgesetzt. . 











und die Entstehung der renal bedingten Ödeme. 


375 


10 Uhr 5 Min. ist in beiden Capillaren eine ausreichende Flüssigkeitsmenge 
(zwecks Vorbereitung der Membranen) abgepreßt: 6,2 resp. 7,5 cm. 


Apparat I. 


10 Uhr 10 Min. Druckeinstellung: 
im Manometer: +20 cmH,0. 
10 Uhr 19 Min. Capillarstand: 23,8 cm 
(bereits Abzug gerechnet). 
Temp. 
10 Uhr 20 Min. Mikrometer 90 37,008° 





Apparat II. 


10 Uhr 16 Min. Druckeinstellung: 
im Manometer: + 20 cm H,O. 
10 Uhr 25 Min. Capillarstand: 22,5 cm 
(bereits Abzug gerechnet). 
Temp. 
10 Uhr 26 Min. Mikrometer 90 37,008° 








10 Uhr 54 Min. Druck: + 10 cm H,O 

11 Uhr 03 Min. Stand: 23,3 cm. 

11 Uhr 04 Min. 0—90 Temp. 37,008 ° 

1—84,6 

2— 79,5 

3— 74,5 

4—70,3 

5—65,3 
24,1:5 = 4,9 


P, — 33,3 
V; = 4,9 








10 Uhr 21 Min. ne RT e) 10 Uhr 27 Min. Da 70 Fe 
10 Uhr 22 Min. Pe 66 R 10 Uhr 28 Min. ” 5l x 
10 Uhr 23 Min. N 55 s 10 Uhr 29 Min. A 30 
10 Uhr 24 Min. 2 42 Ar 10 Uhr 30 Min. * 10 R, 
10 Uhr 25 Min. fe 30 5. 10 Uhr 31 Min. el £ 
60:5= 12,0 100 :5 = 20,0 
P, = 20 + 23,8 9%, = 20 + 22,5 
— 43,8 — 48,5 
Y,= 1.0. v = 20,0. 
10 Uhr 32 Min. Druck: + 15cm H,0. | 10 Uhr 38 Min. Druck: + 15cm H,O. 
10 Uhr 41 Min. Stand: 23,5 cm. 10 Uhr 47 Min. Stand: 22,1 cm. 
10 Uhr 42 Min. 0—-90 Temp. 37,008° | 10 Uhr 48 Min. 0—90 Temp. 37,008° 
1—81,5 „ ” 113 „ ” 
2—73 ER) PR) 2—66 ” 2) 
3—65 PR) er) 3—54 „ „ 
456 & 3 4—40 =E „ 
5—48,5 FR) ” 5—27 9 „ 
41,5:5=8,3 63:5 = 12,6 
= 83. v, =18,6. 





11 Uhr 00 Min. Druck: + 10 cm H,O 
‚11 Uhr 09 Min. Stand: 21,8 cm. 

11 Uhr 10 Min. 0—90 Temp, 37,008 ° 
1—84 
2— 78,5 a > 
3—72 
4—66 Fi 
5—60 = 


30): Diss 6,0% 


P3 — 31,8 
6,0 


®’a —— 


(Bei den hier angegebenen Druckwerten ist ein spezifisches Gewicht der Ver- 
suchslösung — 1 angenommen; abweichende spezifische Gewichte müssen bei 
der Druckberechnung berücksichtigt werden.) 


376 H. Schade und F. Claussen: Der onkotische Druck des Blutplasmas 


Der onkotische Druck der untersuchten Lösung ist derjenige P-Wert, 
bei dm V=0 ist. Nach Sörensen stehen bei einem Datenmaterial 
wie dem vorstehenden zwei Wege für die Bestimmung dieses Nullpunkt- 
druckwertes (Ponk — onkotischer Druck) zur Verfügung: der Weg der 
Berechnung und der Weg der graphischen Auffindung. 

Die graphische Methode ist die einfachere und verdient für unsere 
Zwecke weiteste Verwendung. In dem Koordinatensystem der Abb. 4, 
in welchem die Abszisse die Druckwerte, die Ordinate die Abpreßmengen 
resp. (da auf gleiche Zeiten bezogen) die Abpreßgeschwindigkeiten an- 
zeigt, seien die vorstehend mit Apparat 
I und II gefundenen Werte eingetragen. 
Alle Werte, die an derselben Membran 
in einem und demselben Apparat er- 
halten sind, müssen wegen der bestehen- 
den Proportionalität zwischen Druck 
und zugehöriger Abpreßmenge (s. S. 372) 
auf einer Geraden gelegen sein. Bei zwei 
verschiedenen Apparaten wird dabei, 
entsprechend der individuell verschie- 
denen Membranbeschaffenheit usw., die 
Richtung dieser Geraden zumeist eine 
verschiedene sein. Jede dieser Geraden 
kennzeichnet im Schnittpunkt mit der 
Abszisse den ihr zugehörigen Ponk-Wert. 
BE besser die Messungen sind, um so 
Abb. 4. Graphische Auswertung am Bei- ', dichter en S SENDE 2 
spiel der vorstehenden Messungen (hat der Abszisse beieinander finden; nicht 
stets auf ee geschehen!)). ganz selten haben wir ein Zusammen- 

ee fallen der Punkte erhalten. Die gra- 
phische Darstellung der Resultate bringt somit den großen Vorteil, 
daß sie sofort vermittels zweier klarer Kennzeichen (Geradheit der 
Linien und Distanz der Schnittpunkte auf der Abszisse) über das 
Maß der Zuverlässigkeit unterrichtet. Messungen, bei denen sich keine 
gerade Linie ergibt, sind unrein und daher zu verwerfen. Wenn man 
unsere Apparatur genau nach Vorschrift handhabt, d. h. insbesondere 
die Capillare peinlich sauber hält, und mit den Druckwerten nicht weiter 
heruntergeht, als daß noch etwa 5 Teilstriche der Mikrometerteilung 
(= ca. !/;mm Capillarstand) in der Minute abgepreßt werden!), wird 
man bei Selbstausführung der Messungen geradezu von der Exaktheit 
überrascht sein, mit der sich jedesmal die Werte zur geraden Linie zu- 





40 30 


!) Bei noch kleineren Drucken versagt öfters die Genauigkeit der Apparatur, 
anscheinend z. T. deswegen, weil keine absolute sichere mechanische Einstellung 
der Membranfläche mehr garantiert ist. 


und die Entstehung der renal bedingten Ödeme. 377 


sammenfügen. Die Distanz der Schnittpunkte auf der Abszisse bei der 
Messung mit zwei Apparaten hielt sich bei unseren Messungen meist 
innerhalb erfreulich enger Grenzen. In dem als Beispiel benutzten Fall 
beträgt sie 12cm H,O = ca. Imm Hg; wir haben diese Differenz 
teils kleiner (bis zu 0), teils aber größer erhalten, doch ging sie selten 
über den Wert von 3mm Hg hinaus. Die Genauigkeit der Messungen 
mit der beschriebenen Methodik darf daher als gut bezeichnet werden. 
‚In dem vorstehenden Beispiel ergibt die graphische Auswertung der 
‘onkotischen Messungen für Apparat I den Wert 26cm, für Apparat II 
den Wert 27,2cm H,O, im Mittel somit 26,6cm H,O = 1,97 cm Hg 
‚(bezogen auf spez. Gewicht des Quecksilbers bei 37° = 13,50). 

Für die von uns in dieser Arbeit angestrebten Zwecke ist die gra- 
phische Auswertung mit der von ihr bei obigem Zeichnungsmaßstab 
gegebenen Genauigkeit völlig ausreichend. Doch sei wenigstens zu einem 
Vergleich auch die mathematische Methode zur Ermittlung des on- 
kotischen Druckes aus den obigen Daten hier durchgeführt. Unter 
Hinweis auf die Darlegungen Sörensens!) können wir von einer orien- 
tierenden Einführung Abstand nehmen. Wenn als & die Größe des- 
jenigen Überdruckes bezeichnet wird, der nötig ist, um den Flüssigkeits- 
stand in der Capillare in der Zeiteinheit um 1 Teilstrich zu verschieben, 
so gilt z. B. die Beziehung: ee = 
V;,-V, 
Gleichung berechneten &-Wertes ist sodann aus jeder Einzelmessung 
der onkotische Druck Ponk zu gewinnen nach der Formel Ponk — IB 
+%&: V, oder Ponr = P,+x&:V, usw. Man erhält wie folgt: 








&. Mit Hilfe des aus dieser 








Apparat 1. 
: 3: 2, 43,8 _ 34,2 jr 10,6 ER 
PRZ77.0 aa aa Fr Wein, 


EPa=P,+0%:'V,; 43,8 + (—149- 12,0) 
— 43,8 — 17,9 — 25,9 — Ponk 
% Py=P,+&:V5; 38,5 + (— 1,49 - 8,3) 
4 — 88,5 — 12,4 = 96,1 — Pr 
wer. pP, %-V,;.33,2-+ (1,49 - 4,9) 
— 33,2 — 7,3 — 25,9 = Pıx 
Mittelwert Ponx = 25,97 cm H,O = 1,92 cm Dar 





Apparat II. 
0 je, 
RER ee TR pe 





L Por = Pr + &* 01; 42,5 + (— 0,764 - 20,0) 
| —= 42,5 — 15,28 = 27,22 — Ponk 
% Park = P2 + &* 05 37,1 + (— 0,764 - 12,6) 
— 37,1 — 9,63 = 27,47 — Ponk 
% Por = Ps +& 05 31,8 + (— 0,764 - 6,0) 
—= 31,8 — 4,58 = 27,22 — Ponk 
Be .., Mittelwert Ponz = 27,30 cm H,O = 2,02cm Hg. 
ı)1.c. 


378 H. Schade und F. Claussen: Der onkotische Druck des Blutplasmas 


Als Mittelwert aus den Messungen beider Apparate also ergibt sich 
rechnerisch 26,63 cm H,O = 1,97 cm Hg- (wieder auf Hg = 13,50 h| 
37° bezogen). Das Resultat stimmt also völlig (hier sogar bis zur zweiten 
Dezimale) mit dem graphisch gewonnenen überein. 

Wir halten uns für berechtigt, die Fehlergröße des Mittelwertes aus 
unseren Doppelmessungen an 2 Apparaten mit etwa 1—2 mm Hg an- 
zusetzen. Wenn die Doppelmessungen weiter auseinandergehen, wird 
man gut tun, das Resultat zu verwerfen und die Messung zu erneuern, 


B. Ergebnisse unserer onkometrischen Untersuchungen am Blut. 

Die im vorstehenden beschriebene Methodik hat uns in den Stand 
gesetzt, an einem größeren Untersuchungsmaterial exakte zahlen- 
mäßige Aufschlüsse über den onkotischen Druck der frischen Blutflüs- 
sigkeit des Menschen zu erhalten. Um die Gesamtheit der intravital 
wirksamen Kolloide der Blutflüssigkeit zur Messung zu bekommen, 
haben wir das Blutplasma zur Untersuchung gewählt. Das Blut wurde 
stets morgens, möglichst am nüchternen Patienten, entnommen. Auf 
die Art der Blutentnahme ist sehr zu achten. Wir haben das Blut mit 
weiter Punktionsnadel aus der Cubitalvene des Armes direkt in das Auf- 
fangegefäß einlaufen lassen. Wenn Stauung überhaupt erforderlich 
ist, soll sie nur leicht und kurzdauernd sein. Zum Auffangen benutzen! 
wir paraffinierte Reagensgläser, die bei dem gewünschten Füllungsstand 
(gewöhnlich 20 ccm) mit einer Eichmarke versehen sind. Am Boden 
jedes paraffinierten Reagensglases befindet sich 0,1g feinst gepulver- 
ten Natriumcitrats. Um sicher eine Gerinnung zu verhüten, ist e& 
wichtig, schon sofort nach Einlaufen einer ersten kleinen Menge Blutes 
(1 ccm) das Reagensglas leicht hin und her zu bewegen, damit eine be- 
schleunigte Auflösung des Citrats eintritt; ebenso ist während des wei- 
teren Einlaufens des Blutes stets durch Bewegen für gute Durch- 
mischung zu sorgen. Wenn das Glas bis zur Eichmarke gefüllt ist, wird 
es sofort mit paraffinierten Korken geschlossen und zur vollständigen 
Durchmischung mit dem Citrat mehrmals vorsichtig (doch ohne Schaum- 
bildung) umgeschwenkt., Zur Gewinnung des Plasmas wird sodann 
während 10 Min. bei nur geringer Umdrehungszahl zentrifugiert. Wir 
haben den onkotischen Druck stets in Doppelmessungen — 2 Apparate 
nebeneinander (s. 0.) — bestimmt; das aus 20 cem Blut erhältliche 
Plasma ist hierzu leicht ausreichend, im Notfall läßt sich sogar mit 
5 ccm Blut für die Einzelmessung auskommen. Auch auf nachträgliche 
Gerinnung ist zu achten. Gerinnung in der Capillare © des Apparates 
macht die Messung unmöglich. Alle unsere Messungen sind bei Körpge 
temperatur (37°) durchgeführt. | 

Wir beginnen mit einer Zusammenstellung der Messungsergebnisse, 
die wir an „blutnormalen‘ Patienten erhielten. 








und die Entstehung der renal bedingten Ödeme. 379 


























| Tabelle II. 
| Onkotischer Druck des Blutplasmas: Normalwerte. 
————— nn 
| Datum Name Krankheit Bewerte | te wer 
| Mittel 

9. III. 1923 | Ulrich Polyarthritis 29,7 | 28,9 | 2,14 
| 28,1 
‚20. III. 1923 || Steen CO-Vergiftung (geheilt) 33,6 | 33,5 2,48 
\ 33,4 
15. V. 1923 | Külls Polyarthritis 36,1 | 36,1 | 2,67 
| 36,1 
16. V. 1923 | No& Muskelrheumatismus 34.0 | 33,1 | 2,45 
r 
| 32,1 
17. V. 1923 | Lindfors Akute Alkoholvergiftung | 35,1 | 34,0 | 2,52 
| (zeheilt) 32,8 
‚23. V. 1923 | Störtenbecker | Neurasthenie 30,4 | 29,9 | 2,21 
' 29,4 
25. V. 1923 || Pankens LeichteSpitzentuberkulose | 31,9 | 31,7 | 2,35 
w 31,4 
‚81. V. 1923 || Möller Chron. Obstipation 31.831 31.591. .9133 
B 31,2 | 
‚2. VI. 1923 | Deneke Balantidium coli 36,4 | 35,9 | 2,66 
j 4 35.4 
| 4. VIII. 1923 || Hamann Chron. Polyarthritis 39,2.1.37.2.1..2.76 

35.2 


E Grenzwerte 2,14 und 2,76 cm Hg. Mittelwert = etwa 2,5 cm Hg. 
| In einer ersten Kolumne sind die Druckwerte, so wie sie gemessen 
‚wurden, in H,O cm angegeben; dabei sind die Ergebnisse der Doppel- 
 messungen einzeln mitgeteilt und aus ihnen sodann die Mittelwerte be- 
‚rechnet. Die Übereinstimmung der Doppelmessungen untereinander ist als 
gut zu bezeichnen; die Abweichungen vom jeweiligen Mittel betragen, in 
‚der Reihenfolge der obigen Messungen zusammengestellt, nur 0,8 — 0,1 
ed — 1,0 — 1,2 — 0,5 — 0,3 — 0,3— 0,5 — 2cm H,O. Diese Messungen 
gehen sonach durchschnittlich nur um 4%, in an einen Höchstfall 
‚ (Hamann) um 10,8% auseinander. Bei der Umrechnung auf Hg-Werte 
‚zeigt sich die absolute Größe dieser Messungsunterschiede natürlich 
‚13,öfach!) verringert. Die Höchstabweichung der Doppelmessungen von 
ihrem Mittel (Fall Hamann) beträgt nur + 0,15 cm Hg. 
| Die in dieser Tabelle enthaltenen Werte des onkotischen Druckes 
‚des Blutplasmas liegen innerhalb der Grenzen 2,14 und 2,76 cm Hg: 
‘Das relativ dichte Zusammenliegen der onkotischen Druckwerte, wie 
. wir es schon im Beginn dieser Arbeit (s. S. 366, Tabelle I) bei den mehr- 
‚ tägigen und daher weniger zuverlässigen Messungen an 18 Fällen beob- 
achteten, hat sonach mit der verbesserten Untersuchungsmethodik 


!) = spezifisches Gewicht des Hg bei 37°. 
Z. f. klin. Medizin. Bd. 100. 25 


380  H: Schade und F. Claussen: Der onkotische Druck des Blutplasmas | 





am frischen Blutplasma seine Bestätigung gefunden. Vorbehaltlich der 
Reserve, welche bei der geringen Zahl der bislang untersuchten Fälle!) 
geboten ist, glauben wir daher berechtigt zu sein, als vorläufigen N ormal- 
wert für den onkotischen Druck des menschlichen Blutplasmas einen Be- 
trag von im Mittel etwa 2,5 cm Hg anzusetzen, wobei als physiologische 
Schwankungsbreite sowohl nach oben wie nach unten etwa 4mm Hg zur 
Verfügung stehen. Eine zuverlässige Abgrenzung der Werte wird selbst- ' 
verständlich einer späteren Zeit vorbehalten bleiben müssen. | 

Nureinmalhaben wir bislang einenhöheren Wert (3,35cm Hg) gemessen; 
doch kann dieser Fall nicht zu den ‚‚blutnormalen‘‘ zählen, da der Patient 
sich unter dem Einfluß einer Proteinkörpertherapie befand. Wir hoffen, in 
einer späteren Arbeit Gelegenheit zu haben, uns näher mit den oberen 
Grenzwerten des onkotischen Blutdruckes beschäftigen zu können. In die- 
ser Arbeitsteht, wiesich zeigen wird, die untere Grenze der onkotischen Blut- 
plasmawerte mit ihren Besonderheiten im Vordergrund des Interesses, 

Bevor wir jedoch über unsere weiteren Messungen berichten, sei 
zu einer Frage wichtiger prinzipieller Art hier Stellung genommen, 
Wenn auch die Resultate, die wir mit der vorstehend beschriebenen 
Messungsmethode erhalten, gut reproduzierbar sind und gut miteinander 
übereinstimmen, so ist doch damit noch nicht ausgemacht, ob und 
inwieweit das, was wir in der Apparatur als onkotischen Druck messen, 
mit dem identisch ist, was im Körper an den Capillaren als kolloidbe- 
dingter Druck seitens des Blutes zur Wirkung kommt. Drei Unter- 
fragen werden zu beantworten sein: 

1. Inwieweit läßt sich die Eichung des Apparates, d. h. die Bestim- 
mung jener Größe, welche, von der Hg-Überschichtung der Membran 
und von der Capillaranziehung des Steigrohres C herrührend, bei allen 
Messungen als Apparatkonstante in Anrechnung gebracht werden muß, 
genau durchführen Die Art der Ausführung dieser Eichung ist oben 
(S. 374) beschrieben, hier ist lediglich der Grad ihrer Exaktheit wichtig. 
Bei 8malig wiederholter Messung haben wir als Abzug für die richtige 
Nulleinstellung des Apparates die Werte 7,5 — 6,0 —83 - 7,7 —85—- 
7,3 — 8,0 und 6,1 = im Mittel 7,5cm H,O erhalten. Der von dieser ' 
Seite her mögliche Fehler ist mithin sehr gering, er kann höchstens | 
1 = cm H,O = 1 mm Hg betragen. 2 

. Wie groß ist die Abweichung des onkotischen Druckes im Blut- 
N welche durch den — nicht vermeidbaren — Zusatz von 0,18 
Natriumeitrat zu 20 ccm Blut hervorgebracht wird? Am Blutplasma | 
selber ist diese Frage nicht experimentell zur Beantwortung zu bringen, 
da zusatzfreies Plasma nicht haltbar genug ist, um an ihm ohne Störung 


!) Diese Untersuchungen sind in der Zwischenzeit fortgesetzt, so daß die Zahl ' 
der Fälle heute bereits erheblich größer ist. Auch diese weiteren Fälle haben unser | 
Erstergebnis bestätigt. | 





und die Entstehung der renal bedingten. Ödeme. 381 


‚ durch Gerinnung eine Messung durchzuführen. Um gleichwohl eine 
‚ Orientierung über die Größe des Citrateinflusses auf den onkotischen 
_ Druck der Bluteiweißkörper zu gewinnen, haben wir anstatt des Plasmas 
_ das Blutserum mit und ohne Citratzusatz vergleichend gemessen. Dabei 
ergab sich, daß die Änderung so gering war, daß sie sich — bei 4 maliger 
' Messung — in keinem Fall über die Fehlergrenze hinaus erhob. Da zu- 
dem der onkotische Druckunterschied zwischen Plasma und Serum, wie 
weitere Versuche zeigten, meistens nur sehr klein ist, d.h., da das Fi- 
brinogen des Blutes gegenüber den sonstigen Eiweißkörpern nur einen 
 verschwindend kleinen Anteil am onkotischen Druck trägt, so ist nicht 
damit zu rechnen, daß im onkotischen Druck des Blutplasmas durch den 
angegebenen Zusatz von 0,1 8 Natriumcitrat auf 20cem Blut eine für unsere 
Messungen praktisch ins Gewicht fallende Änderung bedingt sein könnte. 
3. Inwieweit ist man berechtigt, den onkotischen Druck, welchen 
die Blutplasmakolloide an der Collodiummembran des Apparats ent- 
falten, zu dem Druck, den sie an der Capillarwand ausüben, in Parallele 
Ki setzen? Diese Frage ist die gewichtigste und zugleich auch am 
schwierigsten zu beantworten. Ohne Zweifel darf nicht daran ge- 
dacht werden, die lebende Capillarwand mit einer Collodiummembran 
als identisch zu nehmen. Nur hinsichtlich der wirksam werdenden 
physikalischen Kräfte seitens des Blutplasmas an der Capillarwand 
und an der Collodiummembran ist überhaupt ein Vergleich möglich. 
Für das Maß dieser Kräfte aber ist jeweils die „Porengröße‘‘ entschei- 
dend: je nach der „Porengröße‘“ der Membran wird das Blutplasma 
ganz verschiedene Beträge des Druckes entfalten, da immer die Summe 
derjenigen Teile, welche die Membran nicht zu durchdringen vermögen, 
das Maß für die Höhe des jeweils ausgeübten Druckes abgibt. Nur 
an Membranen mit gleicher „Porengröße“, d. h. mit gleicher Grenze 
für die Durchlässigkeit der gelöst vorhandenen Stoffe, werden die 
Druckwirkungen vergleichbar sein. Nach allem, was wir wissen, ist die 
Grenze der Durchlässigkeit an den Capillaren wenigstens im allgemeinen 
s0 gelegen, daß gerade keine Eiweiße mehr austreten können. Auf diese 
selbe Grenze der Durchlässigkeit aber ist auch die im Apparat benutzte 
Collodiummembran eingestellt. Doch noch andere Umstände, so z. B. 
Unterschiede im elektrischen Potential der Membran zur Flüssigkeit, 
xönnen bekanntlich durchgreifende Verschiedenheiten bedingen. Eine 
Mitberücksichtigung dieser Momente ist zur Zeit noch völlig unmöglich. 
Membranen aus tierischem Material, z. B. Peritoneum, stehen in dieser 
Beziehung den Capillaren ungleich viel näher als die Membranen aus 
%ollodium. Die Vergleichsmöglichkeit mit dem onkotischen Verhalten 
ler Blutkolloide an Membranen tierischer Art erschien daher erwünscht. 
2. H. Starling hat seine Messungen mit Membranen aus Kalbsperitoneum 
wusgeführt und dabei den unseren Messungen immerhin schon nahe 


25* 














382 H. Schade und F. Claussen: Der onkotische Druck des Blutplasmas 


stehenden Wert von 3cm Hg erhalten. Wie aber die Durchsicht der 
Starlingschen Arbeit ergibt, ist dieser Wert, nicht direkt experimentell 
am natürlichen Tierserum gewonnen, sondern von dem Autor rechnerisch 
aus Messungen an einem Serum abgeleitet, welchem durch die mit der 
alten Methodik verbundene Ultra- | 





VIENBEHUSEE IDEE RGNIOE TI. 
Emeiß 
Abb.5. Abhängigkeit des onkotischen Druckes 
von der Konzentration (vgl. Tabelle III). 
+ Werte nach Schade u. Claussen. 
OWerte nach Starling. 


unseren sei hier besonders deshalb betont, weil sie beweist, daß auch 
bei Messung mit tierischer Membran ein mit unseren Collodiummem- 
branmessungen durchaus gleiches Resultat erhalten wird. Die Über- 
tragbarkeit unserer Messungsergebnisse auf die Verhältnisse an den 
Capillaren gewinnt dadurch eine erhebliche Stütze. 

Tabelle III. 


Abhängigkeit des onkotischen Druckes im Serum von der Konzentrationsänderung, 
die durch Verdünnung des Serums durch Normosallösung bewirkt wird (37°). 


filtration bereits erhebliche Mengen 


| 


| 


Flüssigkeit entzogen waren, so daß 
es 11%, Eiweißkolloide enthielt. Bei 
der Umrechnung aber ist ein Fehler 


entstanden, indem Starling die Ab- 
nahme des onkotischen Druckes 
proportional zur Abnahme der Kon- 


zentration ansetzte. Wie die beige- 


fügte Tabelle III und Abb. 5 nach 


unseren Messungen beweist, ist diese 
Proportionalität nicht vorhanden: 
bei höheren Konzentrationen ändert 
sich der onkotische Druck merk- 


lich schneller als die Konzentration. 
Auch nach der Messung Starlings 


| 


liegt somit bei Berücksichtigung 
dieses Verhaltens der Druckwert des | 


Serums unterhalb des Betrages von 
3cm Hg, für 8% Eiweiß etwa bei 
2,6 cm Hg. Diese Übereinstimmung 
des Starlingschen Wertes mit den 














Eiweißkonzentration Onkotischer Druck: | Onkotischer Druck pro 
refraktometrisch: C onk 1 ke 
fo cm Hg 5 
9,83 (Ausgangsserum!) 3,35 0,34 
8,14 2,90 0,36 
6,16 1,96 0,32 
3,95 1.18 0,28 
1,96 0,56 0,29 





1) Zur besseren Verfolgung des Kurvenverlaufs ist für diese Messungen das 
Serum mit der von uns beobachteten Höchstkonzentration (s. 0.) ausgewählt. 








und die Entstehung der renal bedingten Ödeme. 383 


Das Material unserer Messungen an Nierenkranken ist in der folgen- 
den Tabelle niedergelegt: 


Tabelle IV. 


Onkotischer Druck des Blutplasmas Nierenkranker. 
fs 


Datum Hall Werte Hg-Wert 
| Mittel 




















I.: Nierenkranke mit Ödemen. 


1. Scheitling: wenige Tage zur Beob- 












































| achtung; nur leichtes Odem am 
Handrücken links; bei Bettruhe 
| schwindend. Nephrose......,. 8.11]: 1923 1,98 
| = |2. Langholz: Ödeme an beiden Unter- 
® schenkeln und Füßen, beim Liegen 
= | sich wenig ändernd; Gesicht leicht 
| & gedunsen. ° Nephrose: -..:.... II Ve1025 1,83 
© | 
& 29. VIII. 1923 1,27 
5 |3. Doormann: sehr starke Ödeme an 
9 | Gesicht, Armen und Beinen; As- 
8 cites. Amyloidniere (Exitus). .. . | 21. VII. 1923 1,10 
S la. Speck: deutliches Ödem an Ge- 
sicht, Scrotum und Beinen. Nephrose. | 4. VIII. 1923 1,59 
| 24. VIII. 1923 1,63 
. Dreesen!): enormes Ödem des Ge- 
samtkörpers. St. Ascites und beider- | 20. III. 1923 23,1 1eyaı 
| seitiges Pleuratranssudat. Chro- 
. nische Glomerulonephritis, sekun- 
& däre Sklerose. (Exitus)....... 21.11. 1923 22,7 1,68 
= 
S 22.1. 1923 16,1 | 1,19 
BE 6. Golgert: leichtes Ödem des Ge- 
3 | sichtes und der Beine. Subakute sep- 
3 tische Glomerulonephritis. ..... 18:42, 1923 22.3 1,65 
Z |7. Kelm: leichtes Ödem, nam. d. Beine. 
ü Akute hämorrhagische Nephritis. | 3. VII. 1923 27,5. | 2,04 
S 8. Karras: ganz enormes Ödem des 
Gesamtkörpers. Glomerulonephritis 
kind. Myokardıtis). wi.) org, 14. VIII. 1923 19,9 1,47 
23. VIII. 1923 23,3 | 1,73 
a gg al BT a a 1 Be 2 EN BR 
1) Bei den drei ersten Messungen am Blutplasma dieser Patientin haben wir 
lie Werte 0,82—0,71—0,90 cm Hg erhalten. Diese Werte sind der obigen Tabelle 





echt eingefügt, da es uns wahrscheinlich ist, daß — bevor wir auf diese Fehler- 


juelle genau achteten — bei dem geradezu enormen Ödem dieser Patientin sich 
während der Blutentnahme Ödemwasser der Blutflüssigkeit beimischte. 


384 NH. Schade und F. Claussen: Der onkotische Druck des Blutplasmas 


Fortsetzung Tabelle IV. 





Onkotischer Druck des Blutplasmas Nierenkranker. 











H,O-Werte 























| | 
| Datum x Hg-Wert: 
| Mittel 
II. Nierenkranke ohne Ödeme. 
9. Schulte: Bleischrumpfniere (alb. 379 
UBER A BA RG NE ER 1.III. 1923 362 36,7.:1-,2.22 
10. Maass: Chron. Glomerulonephritis 35.0 
[ale I 13° V1201025 399 33,6 | 2,49 


11. Möbitz: Subakute Nephritis bei | 
Pankreatitis mit Fettgewebsnekrose | 
(alb. 2 EP)’ *Exatush Sr Ar 1,3: VILL:1923:]338.0 1:86,70 12272 


5. VIIL1923-1:35,3 
12. Drews: Arteriosklerotische 31.0 
Schrumpfniere (alb. = 0,4%). - - | 29. VIH. 1923 97" 31:1 12,58 

















Die diesen Fällen zugehörigen, der klinischen Krankengeschichte ent- 
nommenen näheren Daten seien in der auf S. 336—387 hier wiederge- 
gebenen Zusammenstellung angefügt. Alle angegebenen Werte beziehen 
sich auf die Zeit, zu welcher unsere onkotischen Messungen stattfanden, 

Wenn man die onkotischen Druckwerte der Tabelle IV betrachtet, 
so tritt völlig eindeutig hervor, daß die von uns gemessenen Werte bei 
Nierenkranken mit Ödemen sämtlich unterhalb der Grenze des Normal- 
wertes, die wir oben bei etwa 2,1 cm Hg ansetzen konnten, liegen. Ferner 
zeigt sich, daß ein gewisser Parallelismus zwischen der Schwere der ' 
Ödeme und dem Grad der onkotischen Druckherabsetzung feststellbar 
ist. Scheitling (1) und Kelm (7) boten sehr leichte Ödeme, die onkotischen 
Blutwerte liegen bei 1,98 und bei 2,04 cm Hg. Doormann (3) und Dree- 
sen (5) waren sehr schwere Fälle mit stärkstem Ödem an Gesicht, Armen 
und Beinen und zudem noch mit Ascites, resp. auch Pleuratranssudat, 
beide kamen wenige Tage nach der Messung zum Exitus; sie sind es, ' 
die auch die weitaus stärksten onkotischen Druckerniedrigungen 
— 1,10 und = 1,19cm Hg aufweisen. In den Fällen, die wir mehrmals 
maßen, war nach dem allgemeinen Eindruck die Änderung des on- 
kotischen Blutverhaltens der Änderung des klinischen Befindens gleich- 
gerichtet. Gleichwohl scheint uns aber schon das geringe Material, 
welches bislang an Messungen vorliegt, Ursache zu geben, die Er- 
wartungen des Parallelismus nicht zu hoch anzusetzen. Der Fall Karras 
(8) und ebenfalls der Fall Dreesen (5) während der beiden Tage der ersten 
Messungen waren dem Fall Langholz (2) zur Zeit seiner zweiten Messung | 
an Stärke der Ödeme weitaus überlegen und doch war die Drucksenkung 
in den ersteren Fällen erheblich geringer. Der onkotische Druck des | 
Blutplasmas ist, so wichtig er auch sein mag, immerhin nur erst eine 


am um nn y 













und die Entstehung der renal bedingten Ödeme. 385 


‚der Komponenten, die am Spiel des Ausgleichs der Kräfte beim Flüssig- 
‚ keitsaustausch der Capillaren beteiligt sind. Erst weiter unten, im 
Teil II dieser Mitteilung, werden wir uns näher mit dieser Frage be- 
schäftigen können. | 
, Einen Unterschied im Verhalten der Nephrosen und der Glomerulo- 
nephritiden bezüglich des onkotischen Druckes haben wir nicht beob- 
achtet. Bei beiderlei Erkrankungsformen der Niere wurden onkotische 
Druckerniedrigungen gefunden, sowohl leichte wie schwere; auch hin- 
‚sichtlich des Bereiches, in dem sich die Druckerniedrigungen bewegen, 
| st nach den bisherigen Messungen kein Unterschied vorhanden. 

Nur die Beziehung zum Ödem scheint gesetzmäßig gegeben. Wir 
sind zur Aufstellung der folgenden zwei Sätze berechtigt: 
1. Alle bislang untersuchten Fälle von Ödem zufolge Nierenerkrankung 
weisen eine Hypoonkie, d. h. eine abnorme Herabsetzung des onkotischen 
Druckes ihres Blutplasmas auf. 

2. Bei den bislang untersuchten Fällen von N verenerkrankung ohne 
Ödem (Fälle 9—12) fehlt dagegen diese Hypoonkie. 
Um die Frage zu prüfen, ob etwa die Hypoonkie des Blutplasmas 
eine Allgemeinerscheinung aller Ödeme sei, haben wir in der gleichen 
Weise (Blut wiederum aus der Cubitalvene) Herzkranke mit Ödemen 
untersucht. Die Tabelle VI (S. 388) zeigt die Ergebnisse dieser Messungen. 

Trotz ihrer geringen Zahl geben diese Messungen die Entscheidung, 
daß die Hypoonkie des Allgemeinblutes nicht eine allen Ödemen gemein- 
same Erscheinung ist. Im Blut der Herzkranken mit Ödemen wurde viel- 
mehr (Fälle 1—3) an der Armvene ein völlig normaler onkotischer Druck 
gefunden. Besonders lehrreich aber sind die beiden letzten Fälle. Wenn 
wie bei Almenröder (4) in Andeutung und bei Poppe (5) in ausgesproche- 
nem Maße eine Insuffizienz der Niere zur Herzstörung hinzutritt, dann 
zeigt sich auch im Blut dieser Kranken die Annäherung an denselben onko- 
tischen Zustand, den wir oben bei den ödematösen N ierenkranken fanden. 
Die Hypoonkie des Blutplasmas ist daher, soweit sich bislang urteilen läßt, 
ein dem Ödem der N verenkranken in spezieller Art zugehöriges Symptom. 

Da der onkotische Druck, wie wir im Vorstehenden bereits (S. 382, 
Abb. 5) in quantitativer Messung für das Serum belegten, in Abhängig- 
keit von der Eiweißkonzentration stark absinkt, so ließ sich daran 
denken, daß das, was wir hier als Hypoonkie messen, im letzten Grunde 
nichts anderes sei als das, was schon längst als Hydrämie des Blutes 
bekannt ist. Träfe dieses zu, so wäre damit zugleich das Urteil über 
die Bedeutung der hier angestellten Messungen für die Ödemfrage im 
ablehnenden Sinne gesprochen. Eine eingehende Prüfung war erforder- 
ieh. In der Tabelle VII (5. 389) sind die sämtlichen Werte des onkotischen 
Druckes, der refraktometrischen Eiweißkonzentration und der Viscosität, 
die wir vergleichend am Blutplasma gewonnen haben, zusammengestellt. 











386 NH. Schade und F. Olaussen: Der onkotische Druck des Blutplasmas 


Tabelle V. Zusammenstellung der den vorstehend u 


E 














































































































1 2 3 4 5 
Name Scheitling Langholz Doormann Speck Drees« 
m. m. W., m. w. 
Alter 28 J. PABAR 13 J. 2 43 J 
Amyloidniere | 
(bei Gibb Glomeri 
Diagnose Nephrose Nephrose 5 BE . Nephrose nephrit 
? mit Senkungs- | 
abscessen) |" Bor 
Sklero 
Ödeme er ar Much Eur: + 
R.-R. 115 110/75 108 118/60 157/12 
Rest-N. 0,039 /, 0,040 °/, 0,048 0], |  0,055° 
Blutbild Kein genau- normal L an an normal norma 
erer Befund un 0 
Bl-K-Zahl infolge so- 3 920 000 5 100 000 D 49600 
Hb. fortiger Ent- 56 °/, 91°, = 84° 
NaCl lassung. 0,563, 0:573.%, 0,600 °/, — | 
A 0,54° 0,56° 0,53° 0,54° 
Eiweißgehalt!) h 419207, ö 5,9207 6,11% 
(N p)") ae 6.722, sn 2.1080 6,64° 
21 1,85 2,3. 
(Plasma)! 2,10 ; 2127 3 > 1 
H Z 2,05 1,8 a | 
1,21 
Ponkt) 1,98 a 1,10 2 1,68 
1,27 1,63 
| 1,19 
4 Stunden: | 4 Stunden: | 4 Stunden: 
2 1330 1100 1595 
Wasserversuch 
(1500 ccm Tee) — 24 Stunden: | 24 Stunden: | 24 Stunden: _ 
1780 1700 2875 
1001/1032 1001/1037 1001/1013 
Harnmenge F 
spez. Gewicht en 900/1008 500/1009 1900/1003 500/101 
u 
Albumen E flockige SE ie m u | 
Trübung bis 10.9, IRSURT, 79H 
Epithelien = har En A 0 
Lipoide = 0 ) 0 0 
Erythrocyten _ 0 + +++ + 


!) Die Messungen dieser Rubriken sind von uns an 





jeweils demselben Blutpla 


und die Entstehung der renal bedingten Ödeme. 


387 





hten Nierenkranken zugehörigen klinischen Daten. 


















































































































6 7 8 9 10 11 12 
olgert Kelm Karras Schulte Maass Möbitz Drews . 
| m. m. m. m. w. m. m. 
57 J 24 J. 48. J. 45 J. 33 J. 59 J. 44 J. 
Subakute 
ubakute Glomerulo- A art Eur Nephritis mit| _Arterio- 
vo Akute 5 Blei- rulonephritis, RT ö . 
»ptische |,. nephritis N Urämie bei | sklerotische 
1% hämorrhag. schrumpf- | beginnende N 
omerulo- .... | (und Myo- Pankreatitis | Schrumpf- 
m .. Nephritis en niere - Schrumpf- : ’ 
»phritis karditis) mit Fettge- niere 
| | niere 
websnekrose 
Her nr ee? 0 0 0 0 
‚45/60 170/95 160 190/120 195/90 110/70 145/100 
‚081 °/, 0,056 °/, 0,064 °/, 0,066 %/, 0,067 %/, 0,073 °/, | 0,066 /, 
12 400 
— _ normal normal normal normal 
Leukocyten 
480 000 | 4900000 | 4870 000 — 4 020 000 4 780 000 5 000 000 
48°), 76%, 100% u? bern ee 55% 
617°, — ATS, InDiaen D.BU1VR 0,506 °/, 0,623 /, 
)088° 0.58 0,54 ° 0,60 ° 0,54° 0,57° 0.09 
6,32 °/ 1.15 °1 
' 0 0 ? 0 0 0 I 0 90 
a7, 6,70%, 6,59 0/, 8,68 °/, 8,76 °/, 9,7207, 8,39%, 
9,05 1,75 1,8 32 21 2,5 1,8 
2,0 
1,47 2,81 
I I) I 
1,65 2,04 1,73 2,12 2,49 Weiche 2,30 
tunden: 4Stunden:| 4 Stunden: | 4 Stunden: | 4 Stunden: 
140 795 1050 365 615 
tunden: - — ‚24 Stunden:| 24 Stunden: | 24 Stnnden: | 24 Stunden: 
915 1720 2290 1215 2225 
)b/1015 1001/1019 1003 1006/1010 1001/1007 
"0/1005  300/1025 | 250/1024 | 1000/1018 | 1600/1004 300/1010 1650/1006 
a RER ++ , - 
8 °/o0 3,3 %/o0 49/00 Trübung 2,6 °/o0 | 0,4 oo 
++ 2 Be ee nr Ba 
0 0 3 0 0 0 | 0 
- San 0 > E nt: | 0 


leichend durchgeführt. 








388 H. Schade und F. Olaussen: Der onkotische Druck des Blutplasmas 





1. Hinz: 


2. Schlüter: 







Mitralinsuffizienz: 
schwellung, Knöchelödeme. 


Leber- 


Myodegeneratio_ cordis. 


Reste von früher starken Odemen. 


3. Strenge: Myokarditis: Sehr starke 
Odeme beider Beine. . . 





tum. 


4. Almenröder: Myodegeneratio cordis. 
Starke Odeme an Beinen u. Scro- 


wa a a ei a a a a ee 


ö. Poppe: Aortitis-luetica; Aorten- u. 


Mitralinsuffizienz; 
beider Beine. 


starke 


Odeme 


ee a a Be 


Tabelle VI. 


Onkotischer Druck des Blutplasmas Herzkranker mit Ödemen. 





Lay: 






12: VI: 





28. VIII. 1923 


14V. 221973 








1923 3 


1923|: 











28. VIII. 1923 











| 


| 


Nierenfunktion 
normal. 






Harn eiweißfrei. T: 
menge 2700; spez. 
wicht 1006. 


Harn: Eiweiß4, 
linder u. Erythroey 
Tagesmenge 1300;: 

Gewicht 1007. 








Die onkotischen Druckwerte (Tab. VII) sind zu absteigender Reihe ge- 
ordnet. Im allgemeinen ist ein parallel gerichtetes Abnehmen der zuge- 


‚. hörigen Eiweißwerte unverkennbar; die Abhängigkeit des onkotischen 


Druckes von der Konzentration der Eiweiße kommt hierin deutlich zum 
Ausdruck. Daneben aber sind, sobald man im einzelnen näher prüft, sehr 
zahlreich Diskrepanzen vorhanden. Es ist leicht, der hier gegebenen 
Tabelle Zahlenzusammenstellungen zu entnehmen, welche eine weit- 
gehende Selbständigkeit der Änderungen des onkotischen Druckes 
belegen: so sind z. B. für die nahe zusammenliegenden Konzentrations- 
zahlen von 9,43—9,46—9,41—9,39%, Eiweiß die Werte des onko- 


‚tischen Druckes von 2,64—2,55—2,48—1,98 cm Hg gefunden und auch 
umgekehrt sind den eng zueinander gehörigen Druckwerten 2,05 bis 


2,04 — 1,98 cm Hg die weit auseinandergehenden Konzentrations- 
zahlen von 7,20 — 6,70 — 9,39%, Eiweiß beigeordnet. Als besonders 
abnorm tritt hier der Fall Scheitling hervor, wo sich 9,39%, Eiweiß, 
Hypoonkie und Ödem vereint findet. Die Hypoonkie ist daher sicher 
von einer Eiweißverarmung im Blutplasma (Hydrämie) verschieden. 
Ohne Zweifel ist die Konzentration nicht das allein Bestimmende für 
den onkotischen Druck im Blutplasma. Neben der Konzentration ist 
vielmehr, wie auch sonst bei kolloiden Systemen, die nähere Zustands- 
art der Kolloide (Dispersitätsgrad, Hydratation usw.) für das onkotische 
Verhalten entscheidend. Die Heranziehung der Viscosität ist geeignet, 
hier einen Aufschluß zu vermitteln. A. Ellinger!) hat geglaubt, durch 
die Viscosität Vergleichsmaße für den ‚„Quellungsdruck‘ des Blutes, 
den er in direkter Art nicht zu fassen vermochte, finden zu können. 


u) a en 


und die Entstehung der renal bedingten Ödeme. 389 


i Tabelle VII. 
‚Vergleichende Zusammenstellung der Werte des onkotischen Druckes, der 
j Eiweißkonzentration und der Viscosität. 
ey LEERE 


Spezif. | Spezif. | Spezif, 









































%, Ponk n R 
Ponk le D) Fi 9) Sea 
c % | 

Hamann . . 11. VII. |3,35 0,34 | 0,10 | 3.4 
Hamann . . 4. VII.|2,76| 10,01 [25 | 028 | 0,15 | 19 
"Möbitz . . 3.—5. VII. |2,72| 9,72 125 [1028 | 015 | 19 
ee 27| 8601| — u 
al... .15V. |267) 8349120 Joa om | 2EN ,._ 
Deneke.... 2.v1. |2,66| 8,49 1205| 031 | 012 | 36 ICH: 
Schlüter . : 12.VI. |264| 9,43 1225| 0,28 | 013 | 22 87353 
Wtrenge . . . 28. VIIL.|2,55| 9,46 12,7 | 0,27 | 018 | 15 || 858% 3 
(Lindfors‘) . . 17.V. 1252| 8,83 2,5 | 029 | 017 | 17 || 33 "&s 
I Maass. . . . 13.VI. 1249 876 2,1 | 028 | 013 | 22 Mas:z 
Steen. . ... 20.II. 12,48 9,41 1,95] 0,26 | 0,10 | 2,6 SE s85 
Ne... .16.V. 1245| 853120 | 029 | 012 | 24 || & ee 
Hinz... ... 1.vI |238| 815121 |029 | 013 | 22 || % onen 
Pankens. . . 25.V. |2,35| 845 11,9 | 0,28 | 0,11 | 25 Eee SI! 
Möller ..... 31.V. 2,33) 88111,9| 0,26 | o1ı | 24 || 333 a8 
Drews ... . 29. VIILI2,30, 8,39 11,8 | 027 | 010 | 27 = ir E 
‚ Störtenbecker 23. V. 2,21] 8,38 [1,9 | 0,26 011 | 24 j 
RR erg | Ve a ra 
Almenröder . 14.V. 12,05| 7,20 11,85] 0,28 | 0,12 | 2,3 
Kelm.... 3.VIL 2,04] 6,70 11,751 030 | 0,11 | 27 


Scheitling. . 8.II. |1,98| 9,39 [2,10| 0,21 | 0,12 | 1,8 


Langholz . . 31.V. hasle77,19.721 170.28-1.0,18.1 01,7 
Karras . . . 23. vau.1,73| 6,59 |20 | 026 | 0,15 0; 
Be 2 2 28.:VELL.N1,71| 7,57 [1,8 0,23 | 0,11 2,1 
nr 20T 11,711 — 12,3 — — — 
regen. ." ..21.111.:|1,68| 611] —- Jo2a7 | — = 
Gorgelt..... 18.V. 1865| 7,57 12,05 0,22 | 0,14 | 1,6 | 
Speck. ‘. . . 24. VIIL.I1,63| 7,10 11,8 | 0,23 OT 
Speck. ... .. 4. VIIL|1,59| 5,92 |1,85| 0,27 | 0,14 | 19 
Karras . . . 14. VIIL|147| 6,32 |1,8 | 0,23 0,;18::4/.11,8 
Langholz . . 29. VIIL.|1,27| 6,72 12,05| 0,19 | 0.16 12 
Dreesen+. . 22.III. |1,19| 6,64 12,1: | 0,18 DET 3 




















Doormann + . 21. VII. 1,10 | 6,04 12,27] 0,18 | 0,21 0,9 


1) Nur der Teilbetrag der Viscositätszahl, um welchen die Viscosität derjenigen 
‚des Wassers (=1,00) überlegen ist, ist hier in Rechnung gesetzt. Solche Art des 
Ansatzes ist notwendig, da bei einer Viscositätszahl von z. B. 1,9 für das Plasma den 
Plasmakolloiden selbst nur eine Reibung von 0,9 zukommt (vgl. S. 390, Anm. 1). 

°®) Wie die Viscosität = 2,5 zeigt, ist bei diesem Fall (Heilung nach akuter 
Alkoholvergiftung) noch eine Schädigung der Plasmaeiweiße vorhanden. — Auch 
der Fall Hamann (Proteinkörpertherapie) kann nicht als n-normal gelten. 





390 NH. Schade und F. Ulaussen: Der onkotische Druck des Blutplasmas 


Tatsächlich geht auch, wiediehiereingefügte kleine TabelleVIII und Abb.6 
nach unseren experimentellen Messungen beweist, für ein und dasselbe 
Serum bei zunehmender künstlicher Verdünnung mit Normosallösung 
die Kurve der Viscosität mit der Kurve des onkotischen Druckes nahe 
zusammen. 


Tabelle VIII. 
Abhängigkeit der Viscosität (n) im Serum von der Konzentrations- 
änderung, die durch Verdünnung des Serums durch Normosal- 
lösung bewirkt wird (20°). (Ergänzung zur Tabelle III, S. 382). 








refraktometrisch : C (Wasser = 1) Spezifisches 7!) 


Eiweißkonzentration Viscosität 
pro 1°/, Eiweiß 
%o 


A 








9,83 (Ausgangsserum) 2,0 0,102 
8,14 127 0,086 
6,16 1,5 0,081 
3,95 1,3 0,076 
1,96 1,15 | 0,077 


Dieses enge Zusammengehen der Änderungen von Viscosität und 
onkotischem Druck, wie es sich extravital hier zeigt, gilt aber nur für 
relativ einfache Verhältnisse; in den Messungen unserer Tabelle VII, wo 
das Blut von verschiedenen Individuen mit verschiedener Krankheits- 
art zum Vergleich steht, tritt die Übereinstimmung nicht mehr hervor. 
Die vergleichende Viscosimetrie hat aber auch dann einen Wert. Wie 
unsere Viscositätsmessungen (Apparat von Determann-Hess) in Über- 
einstimmung mit Rotky?), Kottmann?) u. a. lehren, ist im Blutplasma 
der Nierenkranken die innere Reibung der Eiweiße oft erhöht. Am 
klarsten werden die Verhältnisse, wenn man sowohl Ponk als auch 7, 
auf 1% Eiweiß als Einheit berechnet (vgl. Tabelle VII ‚spezifisches Ponk“ 
und ‚spezifisches 7°‘). Dem allgemeinen Gesetz nach sind diese beiden 
spezifischen Werte, wie auch die Tabellen IIIund VIllerkennen lassen, bei 
niedrigem Eiweißgehalt kleiner als bei hohem Eiweißgehalt. Solches 
Absinken mit der Konzentration ist ebenfalls bei den spezifischen Ponk- 
Werten der Sera unserer Tabelle VII vorhanden; bei den untersten Werten 
der Reihe ist es sogar so ausgeprägt, daß es die Norm erheblich über- 
trifft: in diesen letzten Fällen der Nierenödeme hat fraglos ein Plasma- 


1) Wasser hat die Viscosität = 1; Blutplasma z. B. den Wert = 1,9. 
Als Reibungsgröße des Eiweißes im Plasma ist demnach der Betrag 1,9 — 1=0,9 
und nicht, wie bislang in der Literatur zu geschehen pflegt, der Betrag 1,9 für die 
Berechnung der spezifischen Reibung einzusetzen. Nur so wird erreicht, daß einem 
Eiweißgehalt von 0% auch ein Nullwert der Reibung entspricht und daß allgemein- 
hin eine Proportionalität der Werte vorhanden ist. 

?) Zeitschr. f. Heilkunde 1907, H. 2. Im Blut serum der Nierenkranken wird 
bekanntlich zumeist eine Viscositätserniedrigung gefunden. 

3) Kottmann, Korrespondenzblatt für Schweizer Ärzte 1907, Nr. 4. 





‚ menden Blutes, zumal bei Krank- 2 20 


‚ Joiden Teilchen, d.h. eine Annähe- 
‚ rung der Eiweiße an den Zustand 
der Ausflockung, sich in der so- 








‚noch nicht möglich. Es sei hier 7 725 


und die Entstehung der renal bedingten Ödeme. 391 


| eiweiß von abnorm geringer onkotischer Druckbefähigung vorgelegen. 
' An den spezifischen n-Werten kommt die pathologische Abartung in 
‚ anderer Weise zum Ausdruck: an Stelle des normalen Absinkens mit 
abnehmender Konzentration wird hier zum Teil eine sehr deutliche 


Vermehrung der spezifischen Reibung gefunden. Gerade die letzten 
Fälle unserer Tabelle VII zeigen dies am besten. Sie sind dadurch charak- 


_ terisiert, daß sie eine abnorm verringerte onkotische Druckbefähigung 


mit einer abnorm erhöhten Reibung vereinigt enthalten. Es ist sicher, 
daß im Plasma des intravital strö- Pak 9 
heit, Änderungen der allerver- 
schiedensten Art (Dispersitätsände- 
rungen, Aufladungsänderungen, 
Hydratationsänderungen und Än- 
derungen im Mengenverhältnis von 
Fibrinogen, Globulinen und Albu- 
minen und anderes mehr) das Ver- | 
halten der kolloidbedingten Eigen- 
schaften beeinflussen können. Die 
Analyse des Einzelfalles ist heute 


nur bemerkt, daß unter anderem 
auch eine Vergröberung der kol- 





PREIS HNENENLNEN FI 90 
Ziweiß 


s Abb.6. Vergleich der Kurven der Viscosität und 
eben beschriebenen Doppelart der des onkatischen Druckes im Serum bei einfachen 


= N f be & = Verhältnissen außerhalb des Körpers. 
Eigenschaftsbeeinflussung wird el Tab. vor 


‚ äußern können: jede Vergröberung 


der Teilchen hat von einer bestimmten Grenze an gesetzmäßig für den 


“onkotischen Druck eine Verringerung und für die Viscosität eine Er- 


höhung zur Folge. Sowohl die Untersuchungen über die Fibrinogen- 


quote (V. Kollert und W. Starlinger!), St. Rusznyak?) als auch die ver- 


gleichenden Stabilitätsmessungen an den Blutplasmakolloiden bei der 
Nephritis (v. Hoefft u. a.?) legen es nahe, zur Erklärung dieser Doppel- 
änderung an ein Statthaben solcher Teilchenvergröberung zu denken. 


Der Quotient „spezifisches Ponk‘ zu „spezifischem 7‘ bringt die hier in 


Frage stehende Plasmaänderung am schärfsten zum Ausdruck, er sei 
von uns kurz als ‚„onkologischer Quotient‘ bezeichnet. Normal ist 
sein Wert anscheinend ziemlich konstant, wenigstens charakterisiert 


1) Wiener klin. Wochenschr. 1922, Nr. 7. 
2) Klin. Wochenschr. 2, Nr. 31 u. 43. 1923. 3 
®) v. Hoefft, Verhandl. d. Gesellschaft deutsch. Naturf. u. Ärzte. Wien 1913. 


392 H. Schade und F. Claussen: Der onkotische Druck des Blutplasmas 


sich nach den vorstehenden Messungen das Plasma in den Fällen, wo man 
Ursache hat, normales Blut anzunehmen, durch einen onkologischen 
Quotienten von etwa 2,4—2,6; beim Plasma unserer Nierenödematösen 
liegt der Quotient dagegen meist niedriger und geht im extremen Fall 
bis 0,9 herunter. Der onkologische Quotient, zu dessen Ermittlung 
man einfach Ponk durch n zu dividieren braucht!), ist wegen seiner 
weitgehenden Unabhängigkeit von der Eiweißkonzentration und weil 
er zwei Eigenschaften zusammenfaßt, die sich normal symbat, patho- 
logisch aber oft entgegengesetzt ändern, allgemeinhin zur Charakteri- 
sierung des Kolloidverhaltens von Lösungen, speziell vermutlich für 
serologische Fragen, gut geeignet. Für die Hllingerschen Arbeiten aber 
zeigt uns dieses Umspringen der Eigenschaften (Viscosität und on- 
kotischer Druck) vom Parallelismus zum antagonistischen Verhalten 
den Grund, daß der Versuch, den ‚Quellungsdruck“ im Maß der Viscosi- 
tät erfassen zu wollen, beim Blut nicht zu Erfolg führen konnte. Wie 
weit Ellinger von der richtigen Einschätzung entfernt blieb, ersieht man 
am deutlichsten daraus, daß er den im Serum wirksamen ‚‚Quellungs- 
druck“ der Eiweißkörper 60 mal höher ansetzen zu müssen glaubte, 
als dem tatsächlichen Werte entspricht. 

Für die Frage der Nierenödeme ergibt sich aus dieser vergleichenden 
Eigenschaftsmessung am Blutplasma als Wichtigstes: 

l. Daß der onkotische Druck eine Eigenschaft sui generis ist, deren 
Maß im Blut weder dem Maß der Eiweißkonzentration gleichgesetzt 
werden, noch durch Viscosimetrie nach dem Vorgange Ellingers bestimmt 
werden kann. 

2. Daß im Blutplasma mancher Fälle — nicht jedoch auf die Nieren- 
ödematösen beschränkt — der onkotische Druck und die Viscosität 
in entgegengesetzter Richtung verändert sind: beim Sinken des spe- 
zifischen onkotischen Druckes kann die spezifische Viscosität steigen, 
Die Verhältniszahl beider Werte, der ‚„onkologische Quotient“, bringt 
diese Art der Blutplasmaänderung am prägnantesten zum Ausdruck. 

Als anschaulichster Beleg, daß nicht durch die Viscosität, wohl 
aber durch den onkotischen Druck die Scheidung der Nierenödeme 
von den andern hier untersuchten Fällen erreichbar ist, sei die Abb. 7 
beigefügt, welche unsere sämtlichen 30 Messungen (abgesehen von der 
Messung Hamann !!/,, die, weil im Gebiet der Hyperonkie gelegen, 
hier nicht in Betracht kommt) vereint enthält. Auf der Abszisse sind 
die onkotischen Drucke eingetragen; die Senkrechte, die bei etwa 2,1 cm 
Hg errichtet ist, bringt dann für unser Material restlos die Scheidung 





on Pon 
!) Diese Art der Ermittlung gibt die richtigen Werte, da . : 2 == z 
wird, indem bei dem gleichen Plasma die beiden O-Werte identisch sind. Betreffs 


n vergleiche die Anmerkung auf S. 390. 





| -——n 





und die Entstehung der renal bedingten Ödeme. 393 


von Nierenödemen und anderen Fällen zuwege. Auf der Ordinate bildet 
die Viscosität das Maß; hier ist keine Horizontale auffindbar, welche die 
Nierenödemfälle von den anderen von uns untersuchten Fällen zu trennen 
vermöchte. 

Bei aller Reserve, die uns die geringe Zahl der bislang gemessenen 
Fälle auferlegt, halten wir uns zu dem Urteil berechtigt, daß dem onko- 
tischen Druck des Blutplasmas bei der Entstehung der Nierenödeme 
eine bedeutsame Rolle zukommt. Schon in früheren Arbeiten hat 
H.Schade in Gemeinschaft 
mit 7. Menschel (l. c.) die 7 
Quellungsphysiologie des 35 
Gewebes nach einigen | 
ersten allgemeinen Rich- ı 
' tungen hin durch quan- 
titative Messungen ge- 
klärt. Eine möglichste 
Konstanz des onkotischen 
ı Druckes im Blutplasma 
hat für die Austauschvor- 
gänge des Wassers von Normate Breite _ Hypoonkıe: Nieremoedeme 
Blut zu Gewebe und von 
Gewebe zu Blut die größte 
| Bedeutung. Der onko- 


—— —-- 





3,0 25 20 N ET, 


d Abb. 7. Zusammenstellung der von uns onko- und viscosi- 
| tische Druck des Blut- metrisch untersuchten Fälle. + Normalfälle, x Herzfehler- 


ödeme ohne Nierenbeteiligung, O Nierenödeme, & Ödeme 
m n- ’ ’ Sr, 
| E 29 eu ‚stellt, allgegeı bei Herzkranken mit Nierenbeteiligung. 
ı wärtig im Körper ein 


gut fixiertes Normalniveau dar, nach dem das Bindegewebe und 
weiterhin dann wieder die Organzellen sich im Quellungsdruck aus- 
gleichen und so auch ihrerseits einen Normalwert gewinnen und 
| erhalten können. Nachdem die Lunge vorbereitend die H-Ionen 
‚reguliert hat, spannt im weiteren Kreislauf des Blutes die Niere 
durch Abpressung von Lösungswasser gewissermaßen stets wieder neu 
die Feder des Quellungsdruckes, auf welchen sich die übrigen Kolloide 
‚des Körpers je nach ihrem Über- und Unterdruck mit Wasseraufnahme 
‚oder Wasserabgabe im ständigen Ausgleich einstellen können“ (Schade 
und Menschel). Wenn aber dies die Aufgabe der gesunden Niere ist, so 
‚ist es verständlich, daß bei Krankheit der Niere auch diese Funktion 


| 


‚zu leiden vermag. Ebenso wie die anderen Partialfunktionen wird auch 
‚die Funktion der zur Onkoregulierung erforderlichen Wasserabpressung 
‚erlahmen können. Proportional zur Abnahme der wasserabpressenden 
"Kraft der Niere wird im Blut eine zunehmende Erniedrigung des on- 
'kotischen Druckes eintreten, als deren weitere Folge beim Quellungs- 
‚ausgleich mit dem Gewebe dann die Ödeme erscheinen. Die Hypoonkie 











394 H. Schade und F. Olaussen: Der onkotische Druck des Blutplasmas 


des Allgemeinblutes wird so zu einem neuartigen spezifischen Symptom 


der Niereninsuffizienz, und die oft launisch erscheinende Auslese des 


Auftretens von Nierenödemen rückt in Parallele zu dem in gleicher 
Art launischen Insuffizientwerden, wie es für die übrigen Partialfunk- 
tionen der Niere bekannt ist. Es könnte scheinen, als sei durch die Auf- 
findung und vergleichende Messung der Hypoonkie des Blutplasmas | 





die Hauptschwierigkeit des Verständnisses für die nephrogenen Ödeme | 
behoben, und doch ist, wie im folgenden Abschnitt zu zeigen sein wird, 


mit diesem ersten Ergebnis die Schwierigkeit des Problems nur ver- 


schoben, und noch weitere Fragen waren zu lösen, ehe sich ein Einblick 


in die Verhältnisse darbot. 


II. Teile Die onkotisehen Verhältnisse am Ort des Gewebsödems bei 
den Nierenkranken. 


Alle Gewebe des menschlichen Körpers, einschließlich der großen 
extracellulären Massen des Bindegewebes, haben physiologisch einen 


Zustand ungesättigter Quellung zu eigen (Schade und Menschel, 1. c.). 
Eine der Ursachen hierfür liegt darin, daß dem Gewebe das Wasser 
nicht in freier, ungebundener Form zugeführt wird, sondern als Blut- 
plasma, d. h. in einer Form, bei der das Wasser von den Kolloiden mit 


einer nicht unerheblichen Kraft — gleich etwa im Mittel 25cm Hg — 
festgehalten wird. Läßt diese Kraft der Wasserbindung im Blutplasma 
in einem Maße nach, wie es bei der Hypoonkie der Nierenödematösen 


(s. o.) der Fall ist, so wird dem Gewebe die Wasseraufnahme erleichtert: 


in demselben Grade, um den der onkotische Druck des Blutplasmas 
absinkt, kann das Gewebe bei sonst gleichen Bedingungen sich dem 
Zustand seiner Quellungssättigung mehr nähern. Wir haben versucht, 


uns in quantitativer Messung über die Größenordnung der in solcher 
Art zu erwartenden Mehrquellung des Gewebes zu orientieren. Die 
folgende vergleichende Quellungsmessung, bei der wir als Testobjekte 


kleine Stücke frisch exstirpierten ‚normalen‘ Unterhautbindegewebes 
nichtödematöser und nichtnierenkranker Individuen benutzten, zeigt 


das Ergebnis (Tab. IX). 


Einen ähnlichen Versuch, nur in geringerer Vollständigkeit, haben 
wir noch bei einem zweiten Fall schwersten nephritischen Ödems (Karras, 
Tabelle IV, Nr. 8) angestellt, mit dem Ergebnis, daß der Blutplasma- | 
hypoonkie von 1,47 cm Hg eine Gewebsmehrquellung von 10,2% ent- 


sprach. 


Diese Mehrquellungswerte des Gewebes halten sich ihrer Größen- 
ordnung nach gut in den Grenzen, .die in der Arbeit von H. Schade und 


H. Menschel bei Versuchen unter ähnlichen onkotischen Verhältnissen 
als gültig gefunden sind. Zu der Größe der Gewebsschwellung, welche 


die genannten Fälle klinisch darboten (Schwellung von Arm und Bein 














} 








und die Entstehung der renal bedingten Ödeme. 395 


Tabelle IX. 
Vergleichende Messung der Quellung normaler exstirpierter Gewebestücke in nor- 


malem Blutplasma, im nephritisch- -hypoonkotischen Blutplasma und in nephri- 


tischer Ödemflüssigkeit. 


A. Normale Hautbindegewebestücke von atrophischem Kind; Gewebe sehr trocken. 











21. III. 1923. 
Afangs- gerieh Zunahme in 
gewicht >4 Std. u | 07, 














Quellung im Blutplasma von Fall Dreesen | 0,17 0,21 + 0,04 
(Tabelle 4, Nr. 5): Glomerulonephritis | 0,185 0,22 + 0,035 14 23,4 


' mit sehr starkem Ödem über den ganzen | 0,18 0,23 | + 0,05 


Körper. Ponk = 1,68 | 





Kontrolle: Quellung gleicher Hautbinde- | 0,185 0,21 + 0,025 
gewebestücke in normalem Blutplasma | 0,185 0,22 + 0,035 I+ 16,4 
0,18 0,21 | + 0,03 








Mehrquellung!) im nephritisch-hypoonkotischen Blutplasma = 8,0%. 


B. Normale Hautbindegewebestücke von Kind (f an Katarrhalpneumonie); Gewebe 


gut wasserhaltig. 23. III. 1923. 








Anfangs- Gewicht 
gewicht >4 Std. 


Zunahme in 
g | Ms 








Quellung in Blutplasma von Fall Dreesen 0,21 0,225 | + 0,015 93 
(Tabelle 4, Nr. 5): Glomerulonephritis 0,22 0,245 | + 0,025 ach, 
mit sehr starkem Ödem über den ganzen 


Körper. Im Blutplasma Ponx = 1,19 








Quellung in Ödemflüssigkeit desselben | 0,21 | 0,245 | -+ 0,035 vor 
Falles, am Handrücken entnommen. In 0,23 0,26 + 0,03 +14, 
diesem Ödem Ponk = 0,15 





| 
0,22 + 0,01 
0,245 | + 0,025 


Kontrolle: Quellung gleicher Hautbinde- 
gewebestücke in normalem Blutplasma 


0,21 
0,22 














N+sı 


Mehrquellung!) in nephritisch-hypoonkotischem Blutplasma — 1,2%, 
Mehrquellung!) in nephritischer Ödemflüssigkeit — 6,1%, 





1) Über die Ursachen der Gewebsquellung normaler Stücke in normalem 
Blutplasma siehe H. Schade und H. Menschel, ]. c. Diese Erscheinung ist völlig 
physiologisch und in ihren Gesetzmäßigkeiten geklärt. 


Z. f. klin. Medizin. Bd. 100. 26 


396 NH. Schade und F. Claussen: Der onkotische Druck des Blutplasmas 


etwa 100—200%; am Handrücken, wo die Ödemflüssigkeit im Fall 
Dreesen entnommen ward, laut Messung der Gewebstiefe vor und nach 
der Punktion sogar über 500%), stehen dagegen diese Mehrquellungs- 
werte so gut wie in gar keinem Verhältnis. Die Festlegung dieser quan- 
titativen Verhältnisse zeigt aufs deutlichste, daß es unmöglich ist, den 
statischen Quellungsausgleich zwischen normalem Gewebe und hypoonko- 
tischem Blutplasma als etwa allein ausreichende Ursache für die Ödeme 
der Nierenkranken anzusprechen. 

Aus den vorstehenden Quellungsmessungen geht ferner hervor, daß 
in dem Blutplasma und in der Ödemflüssigkeit dieser schwersten Fälle 
von nephritischen Ödemen keinerlei Einzelstoffe oder Ionenkombina- 
tionen mit der Wirkung eines starken Quellungsanstiegs für das normale 
Unterhautzellgewebe enthalten waren. Denn solche Stoffe oder Stoff- 
kombinationen hätten sich in dem Auftreten einer stärkeren Mehr- 
quellung der eingelegten normalen Gewebestücke bemerkbar machen 
müssen. Dieses negative Ergebnis, zumal es an unseren schwersten 
Ödemfällen und hier auch zur Zeit des Steigens-der Ödeme gewonnen 
ist, kann jedenfalls so viel besagen, daß nicht allgemeinhin bei den 
Nierenödematösen gewebsquellungsteigernde Stoffe im Blut oder 
Gewebesaft vorhanden sind. In den verschiedenartigen Hypothesen der 
Autoren werden als gewebsquellungsteigernd (‚‚hydropigen‘) vor allem 
genannt: Zunahme der H-Ionenkonzentration (M. H. Fischer, Fodor 


und @. H. Fischer u. a.), Verschiebung der Na-K-Ca-Isoionie zugunsten 
der Na-Ionen (W. Hülse) und Harnstoffanreicherung (M. H. Fischer). 
Keine dieser Hypothesen ist bislang von den Autoren durch experi- 
mentelle Kontrollen am menschlichen Gewebe gestützt. Geht man mit 
quantitativen Quellungsmessungen an eine Nachprüfung heran, so er- 
gibt sich für alle diese Hypothesen ein Versagen bei der Erklärung der 


nephrogenen Ödeme. Eine saure Reaktion des Gewebsaftes oder gar 
Blutes kommt niemals bei Nierenödematösen vor; wohl aber ist für | 


manche Fälle ein geringes Absinken der alkalischen Reaktion in der 


Ödemflüssigkeit, d. h. also eine gering vermehrte Annäherung an den 
Neutralpunkt wahrscheinlich; eine solche Reaktionsverschiebung aber 
bringt nach den auf mine Basis durchgeführten quantitativ- 


experimentellen Ergebnissen von H. Schade und H. Menschel stets nur. 
Quellungsabnahme, nie eine Quellungssteigerung des für das Ödem 
wichtigsten Gewebes, des Bindegewebes, mit sich. Die Säurehypothese 
der Ödementstehung steht sonach für alle typisch interstitiellen Ödeme 
(kardiale, renale Ödeme usw.) mit den Tatsachen direkt im Widerspruch. 
Durch Verschiebungen des wechselseitigen Verhältnisses der Na-K-Ca- 
Ionen sind dagegen zweifellos Quellungssteigerungen der interstitiellen 
Kolloidmassen (Bindegewebe) möglich; über die Art und Größe der bei 
Nierenödematösen vorkommenden Änderungen im Ionengehalt des 





| 
3 


und die Entstehung der renal bedingten Ödeme. | 397 


Gewebsaftes fehlt aber zur Zeit noch so gut wie jeder Anhalt; selbst 
wenn man die vermuteten Änderungen mit hohen Beträgen ansetzt, 
bleibt die durch Salzionenverschiebung mögliche. Quellungssteigerung 
des Gewebes nach dem Ausmaß allen bisherigen Messungsmaterials 
immerhin nur sehr gering; nach Schade und Menschel (l. c.) betrug z. B. 
| der Quellungsunterschied der Unterhautbindegewebestücke bei Variierung 
der NaUl-Konzentration zwischen 0,6—1,2% nur ca. 3%. So sehr auch 
| diese Unterschiede für die Betrachtung des Wasserhaushaltes als Ganzen 
' ihre Bedeutung haben, so läßt sich doch mit ihnen für die nephritischen 
 Ödeme, wo die lokalen Wasseranreicherungen 100%, und mehr betragen, 
‚ keine Erklärung gewinnen. Ein gleiches Urteil gilt für die Möglichkeit, 
die Ödementstehung durch Gewebsquellungssteigerung zufolge Harn- 
stoffretention erklären zu wollen. Wie die Tabelle X belegt, wird auch 
durch Harnstoffzusatz zum Serum innerhalb der für die Pathologie: 
in Betracht kommenden Konzentrationsgrenzen der Quellungsgrad 


des Gewebes nur wenig oder gar nicht geändert!). 





' 

8 Tabelle X. 

| Quellungsverhalten des Bindegewebes im Serum bei Harnstoffzusätzen. 
| 





Serum + Harnstoff 
Serum (mg auf 100 ccm gerechnet) 
allein 





25 mg | 50 mg |100 mg |300 mg 
































| Anfangsgewicht je 2 Stücke 0,50 0,50 | 0,50 | 0,50 | 0,50 
0,50 0,50 | 0,50 | 0,50 | 0,50 
5 0,59 0,59 | 0,60 | 0,59 | 0,59 
Nach Gewicht | { i ’ ; 3 
endend: 0,60 0,60 | 0,61 | 0,60 | 0,62 
Mittlere Zunahme in % | 19 19 | 21 | 19 | 21 


| 

Aber noch von einer anderen Seite her läßt sich zeigen, daß die 
Annahme, als seien die Ödeme bei den Nierenkranken allgemeinhin 
durch eine Steigerung im Quellungsvermögen der peripheren Gewebe 
hervorgebracht, nicht aufrechtzuerhalten ist. Schon beim normalen 
Gewebe tritt physiologisch, zwischen Blutplasma und kolloider Binde- 
gewebsmasse vermittelnd, ein Drittes, die ‚freie Gewebeflüssigkeit‘ 
(das „‚Transsudat‘ nach der Nomenklatur von R. Klemensiewiez) hinzu, 
Aus verschiedenen Gründen, vor allem wegen der geringen Menge, ist 
diese ‚‚freie Gewebsflüssigkeit‘“ im normalen Gewebe nicht ausreichend 
faßbar, um sie auf ihre physikochemischen Besonderheiten untersuchen 
zu können. Anders aber beim Ödem. Hier wird die ‚freie Gewebs- 
flüssigkeit‘‘ so reichlich, daß sie — allerdings nur in Vermischung mit 





0 
!) Die kleinen Differenzen der Quellungszunahme nach 24 Stunden (Tabelle X‘) 
‚liegen völlig innerhalb der Fehlergrenze solcher Messungen. 

26* 





398 H. Schade und F. Olaussen: Der onkotische Druck des Blutplasmas 


der in den Lymphbahnen befindlichen ‚„Lymphe‘ und vielleicht auch 
unter Beimengung eines gewissen Erstanteils der „gebundenen Gewebs- 
flüssigkeit‘“ — zumeist leicht in genügender Menge erhältlich ist. Trotz 
dieser verschiedenen Herkunftswege ist die bei der Punktion des nephri- 
tischen Ödems ausfließende Flüssigkeit in den Einzelportionen in bezug 
auf ihren Eiweißgehalt außerordentlich konstant. So erhielten wir bei 
der Punktion  des.sehr starken Handrückenödems im Fall Dreesen 
(Tabelle IV, Nr. 5; 21. III. 1923): 








Flüssigkeits- 








Einzelportionen menge nn nei 
ccm 
Abfließende Erstmenge 2: “1. une. ca. 2 | 23,42 


Weitere Menge, ohne jeden Druck abfließend ca. 20 | 23,50 oe 

Weitere mit leichtem Druck abgepreßte Menge ca. 21 23,44 |) Fe. 

Letzte, mit starkem Druck nur noch langsam de @ 
tröpfelnd abgepreßte Menge . ...... CEO 23,35 Jay 














Die in ähnlicher Art erhaltenen Ödemeinzelportionen des Fall Door- 

mann (Tabelle IV, Nr.3, 21. VII. 1923) zeigten die Refraktometerwerte 

21,16 — 21,04 — 21,05. Große Unterschiede im Eiweißgehalt, d. h. 
solche, die auch nur bis zu etwa 1%, Eiweißgehalt als Differenz ansetz- 
bar wären, sind bei solcher Gleichheit des Abfließenden für die aus den 

verschiedenen Einzelwegen stammenden Flüssigkeitsanteile mit Sicher- 

heit auszuschließen. Die für das „Ödem‘“ klinisch gefundenen Eiweiß- 
werte — bei den Nephrosen nicht höher als 0,1%, bei den Nephritiden 
dagegen bis zu 1% und etwas darüber reichend — sind daher auch 
wenigstens ungefähr als für die ‚freie Gewebsflüssigkeit“ gültig anzu 
sehen. Entsprechend solchem niedrigen Eiweißgehalt ist für diese Flüs- 
sigkeiten auch nur ein sehr niedriger onkotischer Druck zu erwarten. 

Wir maßen in den Ödemen Ponk-Werte von 0,2 — 0 — 0,3cm Hg, d.h. 
stets nur Werte, die so tief lagen, daß sie selbst mit unserer Methode 
sich nicht mehr sicher vom Nullwert unterscheiden ließen. Die Zwischen- 
schaltung einer Flüssigkeit derart niedrigen onkotischen Druckes zwi 
schen Blutplasma und kolloidem Bindegewebe ist für die Frage des Ent- 
stehens und weiteren Zunehmens der Ödeme von größter Bedeutung. 
Besonders ist wichtig, daß in dieser Art an der Capillarwand von Blut- 
plasma zu Ödem ein steiles onkotisches Gefälle gelegt ist. Wenn es 
auch fast überflüssig erscheinen könnte, so haben wir doch an einem | 
unserer ausgesprochenen Ödemfälle (Dreesen, Tabelle IV, Nr.5; 21. IIR| 
1923. Blutplasma-Ponk = 1,68) die Größe dieses Gefälles in direkter experi- 
mentellen Messung kontrolliert. Inunserem oben beschriebenen Onkometer 
ist leicht die entsprechende Versuchsanordnung herstellbar; es braucht 
nur an Stelle des Quecksilbers die dem Blutplasma zugehörige Ödem- 


| 


| 
| 


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| 
| 


| 


| 





und die Entstehung der renal bedingten Ödeme. 399 


flüssigkeit eingefüllt zu werden, um das Blutplasma und die Ödem- 
flüssigkeit desselben Falles an einer Membran zueinander angrenzend 
zu erhalten. Wir konnten so mit der üblichen Doppelmessung das Über- 
gewicht des onkotischen Druckes auf der Seite des Blutplasmas (Dreesen,, 
21. III. 1923) mit 1,61 und 1,66 cm Hg bestimmen. Die Anziehung 
der Flüssigkeit, welche man hierbei beobachtet, geht also nicht in der 
Richtung zum Ödem, sondern gerade umgekehrt wird Flüssigkeit aus 
dem Ödem nach der Seite des Blutes hin angezogen. Auch bei stärkster 
Hypoonkie der Nierenkranken sind die Ponk-Werte des Blutplasmas 
immer noch um ein Vielfaches höher als die Ponk-Werte der freien 
Ödemflüssigkeit. Sobald freie Ödemflüssigkeit vorhanden ist, kann 
daher bei Übertragung dieser Ergebnisse auf das Gewebe keine Flüssig- 
keitsanziehung aus dem Blut durch onkotische Kräfte seitens der Ge- 
websseite mehr erwartet werden. Auch wenn man eine Steigerung des 
Gewebsquellungsvermögens bei den Nierenkranken als bestehend an- 
nimmt, wird hieran nichts geändert: immer, d. h. sobald als und solange 
als freies Gewebswasser vorhanden ist, macht es als Sperrflüssigkeit 
überaus niedrigen onkotischen Druckes ein Hinüberwiıken der Ge- 
websquellungskräfte auf das Blutplasma unmöglich. Freies Gewebs- 
wasser, welches einen Eiweißgehalt besäße, daß es im onkotischen Druck 
das Blutserum zu übertreffen vermöchte, ist: niemals gefunden. Dies 
Ergebnis ist deshalb so wichtig, weil es im schärfsten Licht die Unhalt- 
barkeit jener Gruppe von Ödemhypothesen zeigt, welche darauf hinaus- 
gehen, bei den. Nierenödemen die Ursache der Entstehung in einer Anzie- 


hung des Blutwassers seitens vermehrter Quellungskräfte des Gewebes 


suchen zu wollen. 
Einer Anregung von Wo. Ostwald folgend, haben M. H. Fischer und 


‚ später auch Fodor und @. H. Fischer den Versuch gemacht, der hier 
gekennzeichneten Schwierigkeit durch Hinzunahme einer weiteren 
‚ Hilfshypothese zu entgehen: während der Zeit des Entstehens und 
‚ Zunehmens der Ödeme sei nur von den Kolloiden gebundenes Gewebs- 


wasser vorhanden und die ‚freie Ödemflüssigkeit“ entstünde erst 
nachträglich durch ein teilweises Freiwerden des Wassers aus dieser 
Bindung vermöge einer Änderung, welche zu einem ‚Altern der Kol- 
loide“ in Parallele gestellt wird. Daß bei den Ödemen ein sehr beträcht- 
licher Unterschied im Grade der Leichtigkeit des Ausfließens bei der 


‚ Punktion besteht, ist allgemein bekannt. Nicht aber entspricht die 


mit dieser Hypothese gegebene Unterscheidung der Fälle dem, was 
klinisch zu beobachten ist. Auch frisch entstandene, von kolloidem 
Altern noch freie Ödeme sind oft durch Punktion gut entleerbar; be- 
sonders aber ist, was noch schwerer ins Gewicht fällt, an Ödemen, die 
laut Punktionsnachweis reichlich freie Ödemflüssigkeit enthalten, trotz 
der freien Ödemflüssigkeit im Gewebe sehr häufig ein Zunehmen des 


400 H. Schade und F. Claussen: Der onkotische Druck des Blutplasmas 


Ödems zu finden. Auch in Verbindung mit dieser Hilfsannahme wird 
demnach die Hypothese der Entstehung der Nierenödeme durch Steige- 
rung der Gewebsquellungskräfte nicht durch die Tatsachen bestätigt, 

Je mehr die Möglichkeit ausscheidet, das Quellungsverhalten der | 


Kolloide auf der Gewebsseite für die Entstehung der Ödeme der Nieren- 
kranken verantwortlich zu machen, um so dringlicher wird die Aufgabe, 
die an und innerhalb der Capillarwand gegebenen Verhältnisse auf ihre 





Bedeutung für die Ödembildung näher zu untersuchen. ‘Schon seit | 
langem hat man eine ‚„abnorme Durchlässigkeit der Capillarwand“ als 
die Ursache der Ödeme angenommen (Cohnheim). Für eine gewisse 
Gruppe der Nierenödemfälle, so namentlich für die Glomerulonephritiden, 


bei denen die Ödemflüssigkeit erheblichere Mengen (bis 1% und mehr) 
von Eiweiß aufweist, ist durch eben diesen Eiweißgehalt das Bestehen 
einer abnormen Capillarwanddurchlässigkeit in guter Art gestützt. 
Keineswegs aber gilt dies für alle Nierenkrankheiten mit Ödembildung. 


Bei sämtlichen Nephrosen, d. h. denjenigen Erkrankungen, welche‘ 


gerade in ausgesprochenster und reinster Art die nephrogene Ödem- 
bildung zeigen, 2 Va Eiweißgehalt des Ödems stets außerordent- 


lich gering, 1/,—1/g °/o0; höchstens 1 0; ein abnormer Eiweiß- 
durchtritt ist hier nicht vorhanden, auch sonst kein sicherer Beweis 
für eine geänderte Capillarwandbeschaffenheit erbracht. Aber auch 


nach anderen Richtungen hat das Bestreben, in einer Capillarwand- 


schädigung die allgemeine Ursache der Ödementstehung bei Nieren- 


kranken erblicken zu wollen, seine Schwächen. Wie die Austauschpro- 


zesse bei intravasculären Injektionen beweisen, ist die Capillarwand 


schon normal für Wasser und Salze derart leicht durchgängig, daß der 


Durchtritt so gut wie momentan erfolgt. Es ist daher nicht leicht einzu 
sehen, in welcher Art hier speziell für das Wasser eine weitere Durch- 
lässigkeitssteigerung noch praktisch von Erfolg zu sein vermöchte, 


Ferner ist sehr zu beachten, daß, auch wenn die Durchlässigkeit einer 
Membran bis zu unendlich stiege, doch kein Wasser oder Salz eine 
Wanderung antreten könnte, welche ihm nicht durch die am Ort be- 


stehenden Energiegefälle zwischen diesseits und jenseits der Membran 


aufgezwungen wäre. Durch die Annahme einer gesteigerten Capillar- 


wanddurchlässigkeit wird daher an der Notwendigkeit, über Art und 


Richtung der Gefälle der treibenden Energien Klarheit zu schaffen, 


nichts geändert. Dazu kommt schließlich noch, daß an den Capillaren | 


des Gewebes stets zwei entgegengesetzte Flüssigkeitsbewegungen vor 


sich gehen, eine ausströmende im arteriellen Capillaranteil und eine 
rückströmende im venösen. Wie macht sich nun hier die ‚‚erhöhte 


Wanddurchlässigkeit‘ geltend? Trifft die gesteigerte Durchlässigkeit 


für die Orte beiderlei Stromrichtung zu, so daß ihre Wirkung sich evtl. 
aufhebt, oder bestehen etwa Besonderheiten? Zur experimentellen 


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und die Entstehung der renal bedingten Ödeme. 401 


Inangriffnahme dieser Fragen fehlt noch jeder Ansatz. Man hat sich 
bislang begnügt, Belege zu suchen, aus denen man auf eine erhöhte 
Durchlässigkeit der Capillarwand schließen zu können glaubte. Für die 
Beurteilung mancher Arbeiten dieser Richtung scheint uns die Be- 
rücksichtigung eines Satzes, den wir, unserer weiteren Untersuchung 
vorwegnehmend, hierher setzen wollen, sehr wichtig: Die Beobachtung 
des geänderten Durchtretens von Stoffen gibt, wenn die energetischen 
Verhältnisse nicht in allen ihren Einzelheiten klar zu übersehen sind, 
noch kein Recht, auf eine geänderte Wandbeschaffenheit der Capillare 
zu schließen, insbesondere sind Durchtrittsbeschleunigungen von Wasser 
und Echtgelöstem noch keineswegs für eine Durchlässigkeitssteigerung 
der Capillarwand beweisend. Was die Untersuchungen in der Frage 
der gesteigerten Gefäßwanddurchlässigkeit bislang an gesichertem Er- 
gebnis für das Nierenödemproblem enthalten, ist im wesentlichen 
nicht viel mehr, als daß für einen Teil der Nierenfälle eine M vdterkrankung 
der Capillarwand bewiesen ist, derart, daß die Durchlässigkeit steigt und 
kolloiddisperse Stoffe wie Eiweiße (und wahrscheinlich auch Lipoide) 
bis zu etwa 1% zur Gewebsseite übertreten. Eine allgemeingültige 
Grundlage für das Verständnis der nephrogenen Ödeme, deren enge Zu- 


‚sammengehörigkeit sich nicht nur in der gemeinsamen Abhängigkeit 


vom Insuffizientwerden der Nierenfunktion, sondern ebenso sehr in der 
Eigenart des klinischen Bildes, so namentlich in der ihnen allen gemein- 
samen Neigung der Frühlokalisation an Gesicht und Händen ausprägt, 
ist aber in jenem Moment der gesteigerten Capillarwanddurchlässigkeit 


nicht gefunden. 
' Schon in den vorstehenden Ausführungen wurde der Mangel an 


Kenntnissen über die Art und Richtung der energetischen Gefälle bei 
der Blutströmung in den Capillaren als wichtige Ursache für die Un- 
sicherheit in der Beurteilung der Flüssigkeitsaustauschprozesse beim 
Ödem hervorgehoben. Bei der Wichtigkeit, welche diese Fragen für 
die Lösung des Ödemproblems besitzen, haben wir uns bemüht, auch 
hier zu einer experimentellen Inangriffnahme zu gelangen. Vor allem 
galt es, über die Wirkungen, welche eine Hypoonkie des Blutplasmas 
auf den Flüssigkeitsaustausch an den Capillaren ausübt, ins klare zu 
kommen. Schon seit langem (Starling u. a.) ist kein Zweifel, daß im 
Tierexperiment bei Durchspülung der Gefäße mit eiweißarmen Lösungen 
eine ödemähnliche ‚Transsudation‘ ins Gewebe einsetzt. Aber die von 
den Autoren (Starling, Ellinger u. a.) geäußerte Ansicht, die Auswande- 
rung des Wassers beruhe darauf, daß das Gewebe in ausgleichender 
Mehrquellung das Wasser zu sich herüberzöge, war mit der von uns 
festgestellten, ganz außerordentlichen Hypoonkie des freien Geweb- 
saftes (Ponk praktisch = 0) nicht vereinbar, eine Übertragung dieser 
Auffassung auf die Ödeme der Nierenkranken daher nicht angängig. 


402 H. Schade und F. Claussen: Der onkotische Druck des Blutplasmas 


Bei der Kompliziertheit und Unübersichtlichkeit der Verhältnisse, wie 


sie im Pissemski-Ellingerschen Froschpräparat gegeben sind, war keine | 
Klärung zu gewinnen. Wir sind daher dazu übergegangen, zunächst bei | 


einfacheren Bedingungen, an künstlich angefertigten ‚Capillarmodel- 


len‘, das Prinzipielle der Prozesse zu studieren. Mit besonderer Methodik | 


hergestellte, höchstgradig dialysierfähige Kollodiumröhrchen, die wir 
mit menschlichem Blutserum durchströmten, haben sich uns bei diesen 


Untersuchungen ausgezeichnet bewährt. Es ergab sich bald, daß die | 


bisher bekannten Gesetzmäßigkeiten, welche durch Beobachtung des 
onkotischen Ausgleichs an ruhenden Systemen gewonnen sind, zur Be- 
urteilung der onkotischen Erscheinungen an Capillaren mit strömender 
Kolloidlösung nicht ausreichen. Über die nähere Art der Technik sowie 


über das allgemeine Ergebnis dieser Untersuchungen wird in einer | 
weiteren Mitteilung (H. Schade und F. Claussen, Die Gesetze des onko- 


tischen Druckausgleichs an durchströmten Capillaren und ihre physio- 


logische und klinische Bedeutung) an anderer Stelle dieser Zeitschrift 


besonders berichtet werden. Hier kann nur insoweit auf das onkotische 


Verhalten durchströmter Capillaren eingegangen werden, als die ge- 


fundenen Gesetzmäßigkeiten zur Frage der Ödementstehung bei Nieren- 


krankheiten in unmittelbarer Beziehung stehen. Den beim Nierenödem 


gegebenen Verhältnissen kommt man am nächsten, wenn als Außen- 


flüsstgkeit für die Capillaren eiweißfreie Normosallösung (Por =0) 
gewählt wird. Es ist am einfachsten, die künstlichen ‚Capillaren“ so zu 


lagern, daß sie in ihrem ganzen Verlauf einen aus Normosallösung be- 
stehenden Flüssigkeitsraum durchziehen. Die osmotischen Wirkungen 
lassen sich dadurch ausschalten, daß man nur Sera (als Capillarinnen- 


flüssigkeit) und Normosallösungen (als Außenflüssigkeit) benutzt, welche 


vorher durch 24stündige geeignete Dialyse!) zu osmotischem Ausgleich 


miteinander gebracht sind. Läßt man bei solchen Bedingungen die 
„Capillaren‘‘ mit Serum durchströmen, so kann man durch Entnahme 


von Flüssigkeitsproben aus den verschiedenen Abschnitten der Capillare 
Aufschluß über die Art und Richtung der Austauschvorgänge gewinnen; 
dabei ist gleichzeitig durch eingeschaltete Manometer der hydrostatische 
Druck an den Einzelorten der Capillare bestimmbar. Der hydrosta- 


tische Druck ist bestrebt, aus dem Serum Wasser durch die Capillar- 


wand hindurch abzupressen; der onkotische Druck des Serums wirkt 


dem entgegen, er strebt, Wasser aus der Außenflüssigkeit zum Serum | 
hineinzuziehen. Beide Drucke haben von Punkt zu Punkt an der Ca- 


pillare wechselnde Beträge. Beim hydrostatischen Druck liegt die 


Änderung nur in einer Richtung, er nimmt im Verlauf der Capillare 





1) Zur Beschleunigung des Ausgleichs haben wir das Serum in Einzelportionen 
zu je 10 ccm auf zahlreiche kleine Dialysierhülsen verteilt und diese gemeine | 


in ein größeres Quantum Normosallösung eingehängt. 


und die Entstehung der renal bedingten Ödeme. 403 


ständig ab. Beim onkotischen Druck sind dagegen die Veränderungen 
komplizierter. Auf einer ersten Strecke der Capillare, solange zufolge 
Überwiegens der hydrostatischen Kräfte dem Serum Wasser abgepreßt 
' wird, wächst der onkotische Druck des Serums. Sodann kommt ein 
Punkt, wo der steigende onkotische Druck dem sinkenden hydro- 
‚ statischen Druck gerade gleich ist; hier hört die Abpressung von Wasser 
aus dem Serum auf, das Steigen des onkotischen Druckes ist damit 
' beendet. Von diesem Punkt des Kräfteeinstands stromabwärts gewinnt 
‚ sodann, da der hydrostatische Druck weiter sinkt, der onkotische Druck 
| des Serums die Oberhand, er kann nun Wasser zur Capillare hinein- 
' ziehen und mit dieser Arbeitsleistung seine Größe verringern!). 
| Wählt man die onkotischen und hydrostatischen Drucke, wie sie 
‚ beim Lebenden an den Capillaren vorhanden sind, d. h. läßt man Blut- 
serum von normalem Ponk bei den physiologischen Drucken (z. B. von 
6cm Hg zu 1 cm Hg absinkend) durchströmen, so bietet unser Capillar- 
‚ modell in geradezu überraschender Ausprägung die Reproduzierung 
‚ dessen, was bislang den Capillaraustausch im Gewebe als spezifisch 
‚ vital zu charakterisieren schien: die ‚‚Transsudation‘‘ im arteriellen 
‚ Capillaranteil und die „Rückresorption‘ im venösen Anteil. Ein Ver- 
‚ suchsbeispiel, bei dem die Bedingungen gerade so eingestellt sind, daß 
der „Iranssudationsstrom‘“ genau den „Rückresorptionsstrom‘“ kom- 
 pensiert, bei dem also auch in dieser Beziehung die Angleichung an die 
normalen Capillaraustauschverhältnisse im Gewebe erreicht ist, möge 
‚in halbgraphischer Darstellung hier zur Illustrierung der Verhältnisse 
| seinen Platz finden: 





| som Hg Jem Ag OT fig 


er oo Some 
759% 797% 760% Eiweiß 

De a) SED 

| ; =-50% Wasser =#5,0% Wasser 


E Umkehrpunkt 


‚Abb. 8. Normales Verhalten des Flüssigkeitsaustausches an den Capillaren, reproduziert am 
| ; „Capillarmodell“ nach H. Schade und F. Claussen. 


| NB.: Diese Abb. zeigt mit ihren Zahlen ein Beispiel der von uns am „Capillarmodell“ experi- 
 mentell gemessenen Werte. Ausführlichere Veröffentlichung wird folgen (s. 0. S. 402), 


| Die hier geschaffene Methodik gibt die Möglichkeit, auch den Einfluß 
‚der Ponk-Erniedrigung des Blutplasmas auf die Austauschprozesse an 
‚den Capillaren in exakt experimenteller Weise zu prüfen. Theoretisch 
‚stand folgendes zu erwarten: Der Transsudationsstrom ist um so 





- 1) Intheoretischer Art sind diese Verhältnisse schon in der Arbeit von H. Schade 


‚und H. Menschel (l. ec.) eingehender behandelt. 
| 
| 


404 NH. Schade und F. Claussen: Der onkotische Druck des Blutplasmas 


stärker, je weniger der hydrostatischen Flüssigkeitsabpressung durch 
eine onkotische Flüssigkeitsanziehung, resp. Flüssigkeitsfesthaltung ent- 
gegengewirkt wird; die Hypoonkie wird demnach die Stärke des Trans- 
sudationsstromes vermehren. Der Rückresorptionsstrom hat dagegen 
sein Maß in dem Betrage, mit dem der onkotische Druck dem absinken- 
den hydrostatischen Druck überlegen wird; für den Rückresorptions- 
strom ist daher bei der Hypoonkie eine Abnahme der Stärke zu er- 
warten. Beide Teilwirkungen der Hypoonkie führen gleichsinnig dahin, 
den Ausstrom dem Rückstrom überlegen zu machen, beide wirken so- 
nach, sich addierend, in der Richtung einer Ödembildung. Auch diese 
Folgerungen sind von uns im Experiment bestätigt gefunden. Ein 
Capillarmodellversuch, bei dem wir unter Einstellung genau gleicher 
hydrostatischer Druckverhältnisse vergleichend 1. normales Serum, 
2. dasselbe Serum nach Verdünnung mit Normosallösung auf 3/, seines, 
Eiweißgehaltes und 3. nochmals dasselbe Serum nach Verdünnung mit 
Normosallösung auf !/, seines Eiweißgehaltes durch die ‚Capillaren“ 














hindurchströmen ließen, möge die Art und speziell auch die Größe der 
aufgefundenen Unterschiede zeigen: | 
Gem Hg a OTcmtig 
| 
Versuch A: rn Summarisch = Re- 
Normales Serum. | sorption. 
(Ponk = 2,6) 8, 430% 849% 8, ne Eiweiß | (Flüssigkeitsaufnahme 
durchströmend. —. PT = 32%.) 
- 19% Wasser +5,1% Wasser 
Umkehrounkt 
Gem hg Bei De 
| 
Versuch B: ee) Summariach,— ge 
Serum, °/, verdünnt, | | | | Transsudation. 
durchströmend. 520% 6,54 Yo 6,28% Eiweiß u 
-5,5% Wasser (+42% Wasser) ee 
Umkehrpunkt 
= a ARE 
Serum, !/, verdünnt, | | | Aurlar a 
durchströmend. AN 4,66% 4,55 9 Eiweiß 107%, se 2 
—- 4% Wasser (#2,7 % Wasser) = 
Umkehrounkt 


Abb. 9—11. Abhängigkeit des Flüssigkeitsaustausches an den Capillaren vom onkotischen Druck. 
des Blutserums, gezeigt durch Messungen am Capillarmodell nach H. Schade und F. Olaussen. 


Als Außenflüssigkeit bei diesen Versuchen diente in möglichster 
Angleichung an die Verhältnisse bei den renalen Ödemen Normosal- 
lösung, welche durch vorherige Dialyse (s. 0.) mit dem Serum in 0smo- 
tisches Gleichgewicht gesetzt war. Mit Absicht sind hier im Versuch A, 


und die Entstehung der renal bedingten Ödeme. 405 


‚der als Ausgang gewählt wurde, durch entsprechende Längenbemessung 
‚der Capillareinzelstrecken die Bedingungen so ausgesucht, daß sum- 
marisch der Effekt einer Resorptionseinstellung des Systems resultiert. 
In den Versuchen B und C ist an dem Ganzen nichts weiter geändert!), 
als daß anstatt des normalen Blutserums dasselbe Blutserum, in ver- 
schiedenen Graden hypoonkotisch gemacht, hindurchgeschickt wird. 
Das Serum des Versuches B hat ungefähr 1,9 cm Hg, das Serum des Ver- 
suches C ungefähr 1,2 cm Hg onkotischen Druck?). Wie man aus den 
in der Abbildung gegebenen Messungsdaten ersieht, tritt sofort eine 
ausgeprägte Umformung der Flüssigkeitsaustauschvorgänge ein. Schon 
bei dem onkotischen Druck von etwa 1,9 cm Hg hat sich die Umformung 
‚der ursprünglichen, nicht unerheblichen ‚‚Resorptionseinstellung‘ (Ver- 
such A) zu einer ‚‚Transsudationseinstellung‘‘ vollzogen. Im Versuch © 
"bei einem onkotischen Druck von etwa 1,2cm Hg ist aus der Resorption 
sogar eine Transsudation höchsten Grades entstanden. Der Vergleich 
‚der Eiweißkonzentrationen beim Ein- und Ausfließen des Serums läßt 
das Maß dieser Änderungen in exakten Zahlengrößen erkennen. Die 
Messung an der Capillare am Ort des hydrostatischen Druckes von3cm Hg 
beweist, daß in allen drei Versuchen eine Stromumkehr auf einer 
mittleren Strecke vorhanden ist. In den Zahlenwerten des jeweiligen 
Flüssigkeitsausstroms auf der Strecke der hydrostatischen Druckabnahme 
von 6cm Hg zu 3cm Hg kommt das Ansteigen der Transsudation mit 
dem Kleinerwerden des onkotischen Druckes gleichfalls sehr gut zum 
Ausdruck. Die Zahlenwerte für den Flüssigkeitsrückstrom auf der 
Strecke 3cm Hg bis 0,7 cm Hg sind dagegen nicht unmittelbar ver- 
gleichbar, da in den Messungen der Versuche B und C die Verschiebung 
‚des Umkehrpunktes nach rechts, welche notwendig aus der Verdünnung 
dieser Sera resultiert, nicht berücksichtigt ist; diese Werte sind daher 
in den Abbildungen nur in Klammern gesetzt eingefügt. Um in den Ver- 
suchen B und © den Ausstrom und Einstrom exakt, d.h. in den jeweils 
voll entsprechenden Beträgen zu erfassen, wäre eine Messung überall 
genau am Umkehrpunkt nötig gewesen. An sich ist solche Messung 
sehr wohl erreichbar. Wir haben von derselben Abstand genommen, 
weil bei ihrer Ausführung das, was uns hier das Wichtigste ist, die völlige 
Gleichheit der Bedingungen im Versuch selber, gelitten haben würde. 
Dank ihrer Vergleichbarkeit aber sind die obigen Versuche für ein Über- 
wiegendwerden des Ausstroms über den Einstrom bei der Hypoonkie 
'beweisend. Wie die Versuche lehren, hat die Hypoonkie von etwa 1,9cm 
Hg, gemessen am Kontrollwert des Versuches A (Flüssigkeitsaufnahme 





!) Nur die Druckregulierung in den Capillaren (durch Drosselung) wurde der 
geänderten Flüssigkeit entsprechend wieder auf genau die alten Werte eingestellt. 
2) Diese Angaben beruhen auf Schätzung, wie sie nach den von uns in Abb. 6 
gegebenen Kurven möglich ist. 


406 ZH. Schade und F. Claussen: Der onkotische Druck des Blutplasmas 


— 3,2%,), eine Ausstromsteigerung von 4,5% der Gesamtflüssigkeits- 


menge des durchgeflossenen Serums, die Hypoonkie von etwa 12cm Hg 


sogar eine solche von 13,9% hervorgebracht. Diese Wirkung trat auf, 


obwohl die Außenflüssigkeit, welche die Capillaren umspülte, einfache | 
Normosallösung, d.h. eine jeder onkotischen, resp. sonstigen Anziehungs- 


kraft entbehrende Flüssigkeit war; diese Wirkung muß daher auch 


an den Capillaren des Gewebes, ohne daß dort von außer her eine flüs- 


sigkeitsanziehende Kraft gegeben zu sein braucht, sich Geltung ver- 


schaffen. In der Hypoonkie des Blutplasmas ist somit allgemeinhin beim | 


Zusammenwirken mit den Druckkräften der Capillarströmung ein ganz 


——— 





außerordentlich wirksames Moment im Sinne der Ödembildung gegeben. 


Mit dieser Wirkungsart der Hypoonkie aber ist der Schlüssel zum 
Verständnis der Ödementstehung bei Nierenkranken gefunden. 


Aus der Gesamtheit unserer Versuche ergibt sich die folgende Er- 


klärung für die Entstehung der renal bedingten Ödeme: 


Die Niere hat die Funktion der Onkoregulierung, d. h. die Sr | 


Niere preßt stets eine solche Menge Wassers aus dem Blutplasma ab, 


daß der onkotische Druck des Blutes dauernd — mit einer gewissen 
Spielbreite — bei einem Wert von etwa 2,5cm Hg erhalten bleibt. 


Wenn die Niere erkrankt und in der Partialfunktion dieser Wasser- | 


abpressung an Kraft verliert, so verbleibt das Blut in einem höheren 
Grade seiner Quellungssättigung: der Druck, mit welchem das Blut- 


plasma Flüssigkeit von außen heranzuziehen, resp. gegenüber einer ent- 
ziehenden Wirkung festzuhalten vermag, ist entsprechend verringert 
(Hypoonkie). Gewebskolloide von normalem Quellungsdruck können 
demnach Flüssigkeit aus solchem Blutplasma an sich ziehen; doch ist 
die hierdurch bedingte Mehrquellung der Gewebskolloide (s. 0. 8.395) selbst | 
bei stärkster Hypoonkie so gering, daß diese Wasseraufnahme der Ge- 


webe durch Quellung wohl für den ‚präödematösen‘‘ Zustand, nicht 
aber für das eigentliche Ödem der Nierenkranken als eine Erklärung 
in Betracht kommt. Erst die Berücksichtigung der Sonderverhältnisse, 


| 


wie sie beim Strömen des Blutes in den Capillaren gegeben sind, stellt 
die Ursache der Ödementstehung klar. Im Zusammenwirken mit den | 
mechanischen Kräften des Capillarstromes gewinnt die Hypoonkie des 
Blutplasmas gleichsam in stark vergrößertem Maßstab Bedeutung. Das i 


normal bestehende Gleichgewicht zwischen Flüssigkeitsausstrom und 
Flüssigkeitseinstrom an der Capillarwand wird durch die Hypoonkie 
sehr stark zugunsten des Ausstroms verschoben; steigend mit dem 
Grade der Hypoonkie wird sozusagen mehr und mehr Flüssigkeit durch 
die Capillarwand hindurch ausgepumpt. Dieses Auspumpen ist unab- 


hängig von flüssigkeitsanziehenden Kräften auf der Gewebseite. 
Es geht vor sich und geht weiter unbekümmert darum, ob auf der Ge- 
webseite eine Möglichkeit der kolloiden Bindung für die austretende 


und die Entstehung der renal bedingten Ödeme. 407 


Flüssigkeit besteht oder nicht. Die wichtigste Gegenwirkung hegt im 
Maß der Gewebspannung. Das Auspumpen fehlt, resp. findet seinen 
Stillstand, wenn die mechanische Gewebspannung am Ort des Flüssig- 
keitsaustritts einen Druck aufweist, welcher dem Übergewicht des 
hydrostatischen Druckes über den onkotischen Druck, wie es aus der 
Hypoonkie des Blutplasmas resultiert, die Wage hält. Zu der hier be- 
schriebenen Art der Ödembildung ist immer dann Gelegenheit gegeben, 
wenn das Blutplasma eine stärkere Veränderung in der Richtung der 
Hypoonkie aufweist. Die Messungen des ersten Teils dieser Arbeit 
‚ sprechen sehr dafür, daß die Hypoonkie bei allen mit Ödem einher- 
' gehenden Nierenleiden!), nicht aber bei den ödemfrei bleibenden Fällen, 
‚ vorhanden ist. In der Hypoonkie des Blutplasmas ist somit eine an- 
| scheinend ganz allgemein gültige Ursache für die Entstehung der renal 
| bedingten Ödeme gefunden. 

‚ Mit dieser Erklärung der Ödemgenese steht es in bester Überein- 
stimmung, daß die renal bedingten Ödeme als charakteristische kl- 
‚ nische Eigenart, durch die sie sich von allen übrigen Ödemtypen ab- 
‚heben, eine Frühlokalisierung an Gesicht und Händen zeigen. Schon 
von jeher hat man darauf verwiesen, daß die Lidsäcke und die Hand- 
rücken die Orte der geringsten mechanischen Gewebspannung im 
' menschlichen Körper sind. Ein Ödem zufolge Blutplasmahypoonkie 
fordert aber diese Orte als Prädilektionsstellen seines Auftretens: bei 
beginnender Hypoonkie wird bei sonst gleichen Verhältnissen immer 
‚ dort das ‚Flüssigkeitsauspumpen‘ aus den Capillarwänden am leich- 





-— 








N 
| 
| 
I 


| testen zustande kommen, wo der Gegendruck der Gewebspannung am 
| geringsten ist. Diese Beziehung zwischen Ödemort und Hypoonkie ist 
derart zwangsläufig, daß man das Ödematöswerden von Lidsäcken und 
Handrücken beim Fehlen einer peripheren örtlichen Erkrankung gerade- 
' zu als das klinisch sichtbare Symptom einer im Blut bestehenden Hypo- 
onkie wird ansprechen können. 
| _ Die Ursache der Hypoonkie des Blutplasmas wird von uns in dem 
Versagen der onkoregulatorischen Partialfunktion der Niere gesehen. 
‚ Es dürfte hier noch die Frage zu erörtern sein, ob nicht etwa auch eine 
‚ Verschlechterung im kolloiden Lösungszustand der Blutplasmaeiweiße 
‚imstande sein könnte, den onkotischen Druck des Blutplasmas zu er- 
| niedrigen. Gerade die Nierenerkrankungen bieten zu solcher Ver- 
‚änderung des Blutes reichlichste Möglichkeiten. Nach Hinweis des 
einen von uns?) hat in dieser Richtung eine sehr lebhafte experimentelle 
Bearbeitung eingesetzt. Vor allem ist eine gesteigerte Blutplasma- 
| viscosität (Rottky, Kottmann 1. c.), eine kolloide Stabilitätsverminderung 
u _ 


r 


| 
| 


| 1) Ödeme kardialer Genese bei den Nierenkranken stehen hier außer Diskussion. 
E ?) Schade, H., Med. Klinik 1909, Nr. 29 u. 30; ferner derselbe, Physikalische 
' Chemie und innere Medizin. 1. Aufl. 1921, S. 188. 





408 NH. Schade und F. Claussen: Der onkotische Druck des Blutplasmas 


(v. Hoefft 1. e.) und eine Erhöhung der Fibrinogenquote (Starlinger, 
Ruczniak 1. ec.) bei den Nierenkranken gefunden. Auch wir haben 
mit unseren obigen Viscositätsmessungen das häufige Bestehen von 


Kolloidstörungen in dem Eiweißbestand des Blutplasmas bestätigt, 


Und doch müssen wir es ablehnen, daß in diesem geänderten Kolloid- 
verhalten der Bluteiweiße eine Ursache der Ödembildung gegeben sei, 
Denn im zirkulierenden Blut des Körpers ist nicht die Größe des je- 
weiligen Wasserbindungsvermögens der Blutkolloide, sondern der Grad 


der Wasserabpressung seitens der Niere das Entscheidende für den 
onkotischen Druck. Nehmen wir einmal an, die Bluteiweiße hätten 
durch irgendwelche chemische oder physikalische Abartung z. B. ein 
Viertel ihres Bindungsvermögens für Wasser eingebüßt, so würde eine 
gesunde Niere sofort ein Viertel mehr Wasser abpressen und zur Aus- 
scheidung bringen; die Flüssigkeitsmenge des Blutes wird hierdurch 
geändert, der onkotische Druck aber bleibt auf seiner normalen Höhe 
eingestellt. Auch für die Schwankungen im Wasserbindungsvermögen 
der Blutplasmaeiweiße gilt daher ebenso wie für die übrigen, meist viel 


größeren Schwankungen im Wasserhaushalt des Blutes, daß sie dem 


Ausgleich durch die Funktion der Niere unterliegen. Erst wenn die 


Nierenfunktion insuffizient wird, ist die Möglichkeit gegeben, daß der 
onkotische Druck im Blutplasma absinkt; erst dann tritt die Hypoonkie 
mit ihrer Folge, dem typisch lokalisierten Ödem der Nierenkranken, in 


die Erscheinting?). 


Wenn auch die Hypoonkie zufolge der Wasserabpressungsinsuffizienz 
der Niere die allgemeine Ursache der renal bedingten Ödeme darstellt, 
so bleibt sie doch keineswegs der alleinige Faktor bei der Ausbildung 
dieser Ödeme. Über das Zusammenwirken der Hypoonkie mit den 
anderen Faktoren beim Ödem der peripheren Gewebe, d. h. insbesondere 





e Wenn sich während der Zeit des Bestehens einer Hypoonkie eine Abnahme | 


des Wasserbindungsvermögens der Blutplasmaeiweiße herausgebildet hat, so 


wird bei stärkeren Graden solcher interceurrierenden Eiweißänderung der Fall ein- 


treten können, daß dem Blutplasma bei der Heilung des Nierenleidens, d. h. bei 
der Rückkehr zu normaler onkotischer Kraft, soviel Wasser abgepreßt wird, daß 


der Eiweißgehalt im Blut sogar bis über die Norm ansteigt. Es ist sehr beachtens- 


wert, daß solches Verhalten zu Beginn der Rekonvaleszenz, d. h. zu Beginn einer 
wiedererwachenden Diurese keineswegs selten zur Beobachtung kommt. Auch 
diesem bislang höchst auffälligen Verhalten ist durch die hier gegebene Ödem- 
genese das Rätselhafte genommen. — An dieser Stelle sei ferner ausdrücklich 
darauf hingewiesen, daß sehr wohl die Möglichkeit vorliegt, daß die in der be- 
schriebenen Art entstandenen Ödeme noch gewisse Zeit fortbestehen können, 
auch wenn der onkotische Druck des Blutplasmas bei Wiedergesundung der 
Niere bereits zum Normalwert (oder auch gar darüber hinaus) zurückgebracht 
ist. Solche Befunde wären kein Gegenbeweis für die bier gegebene Erklärung 
der Entstehung der nephrogenen Ödeme; das Vorkommen solcher Befunde ist 
vielmehr sogar in Konsequenz unserer Untersuchungsergebnisse mit Wahrschein- 
lichkeit zu erwarten. | 





1 
| 


und die Entstehung der renal bedingten Ödeme. 409 





‚ über die Einzelmomente, welche sich bei der „Ödembereitschaft“ als 
‚ wirksam erkennen lassen, wird von uns in einer weiteren Mitteilung 
(vgl. oben $. 402) zu berichten sein. 

| 

| Zusammenfassung der Ergebnisse. 

' 1. Es wurde eine Apparatur und Methode ausgearbeitet, welche 
nach neuartigem Prinzip innerhalb weniger Stunden eine exakte Mes- 
| sung des onkotischen Druckes kolloidhaltiger Flüssigkeiten ermöglicht. 
‚ (Flüssigkeitsonkometer nach Schade und Claussen.) 

ı 2. Mit Hilfe dieser Methodik ist erstmalig ein zahlenmäßiger Ein- 
‚ blick in das Verhalten des onkotischen Druckes (= „Quellungsdruck“ 
‚in der Nomenklatur anderer Autoren) beim Blut Gesunder und Kranker 
gewonnen: 

Der onkotische Druck (Ponk) des Blutplasmas wird beim Gesunden 
innerhalb enger Grenzen konstant gehalten. Als vorläufiger Mittelwert 
kann eine Zahl der ungefähren Höhe von 2,5cm Hg gelten; die der 
Norm zugehörigen Schwankungen scheinen etwa -- 0,4 cm Hg zu be- 
tragen. 

3. Bei den Nierenkranken mit Ödemen wurde regelmäßig eine Ver- 
minderung des onkotischen Druckes gefunden: die „Hypoonkie‘“ des 
Blutplasmas zeigte Werte von 1,98 bis herab zu 1,10 cm Hg. Bei den 
ödemfreien Nierenkranken fehlte die Hypoonkie. 

' 4. Ödeme kardialer Entstehung zeigten im Blutplasma normale 
Ponk-Werte; nur wenn komplizierend eine Nierenstörung nebenherlief, 
wurde eine Ponk-Erniedrigung beobachtet. 

5. Die Niere ist der Ausscheidungsregulator für den onkotischen 
Druck des Blutplasmas. Wird die Niere in ihrer Partialfunktion der 
Wasserabpressung insuffizient, so kommt dies als Hypoonkie des Blut- 
plasmas quantitativ meßbar zum Ausdruck. Die Blutplasmahypoonkie 
ist in diesem Sinne ein spezifisches Symptom der Niereninsuffizienz. 
6. Die Mehrquellung, welche das Gewebe beim Einbringen in ein 
BE nkotischen Blutplasma im Vergleich zur Quellung in normalem 
Blutplasma aufzeigt, ist so gering, daß sie für die Ödembildung bei den 
Nierenkranken quantitativ nicht entfernt als ausreichende Erklärung 
zu dienen vermag. 

7. Am Ort des Ödems im Gewebe bei den Nierenkranken ist ein 
steiles onkotisches Druckgefälle zwischen Blutplasma und angrenzender 
Ödemflüssigkeit gegeben, derart, daß die Quellungskräfte auf der Ge- 
webseite unmöglich entgegen diesem Gefälle Flüssigkeit aus dem Blut 
aerausziehen können. Alle Hypothesen, welche als Ursache der Ödem- 
Pildung bei den Nierenkranken ein pathologisch gesteigertes Wasser- 
Aindungsvermögen der Gewebskolloide vermuten, sind gegenüber 
Wölchemn Befund hinfällig. 














410 NH. Schade und F. Claussen: Der onkotische Druck des Blutplasmas USW. 


8. Es ist prinzipiell von der größten Bedeutung, die Messungen des 
onkotischen Druckausgleiches auch auf Systeme bewegter Massen, wie 
sie beim Uapillarstrom im Gewebe gegeben sind, auszudehnen. 

9. Untersuchungen an künstlich gefertigten ‚‚Capillarmodellen‘, bei 
denen die Gefäßwände aus höchstgradig dialysierfähigem Material be- 
standen, haben hier eine Klärung gebracht. Bei einer Hypoonkie des’ 
die Capillaren durchströmenden Blutplasmas wird das — normal vor- 
handene — Gleichgewicht zwischen Transsudationsausstrom und Rück- 
resorptionseinstrom stark zugunsten des Ausstroms verschoben: bei 
der Blutplasmahypoonkie wird aus dem strömenden Blut sozusagen in 
stets neuer Wiederholung Blutwasser aus den Capillaren zum Gewebe 
hin ausgepumpt. Dieses „Auspumpen“ zufolge der Hypoonkie des 
Blutplasmas geht auch dann vor sich, wenn die Capillare von einer 
Außenflüssigkeit niedrigsten onkotischen Druckes umspült wird. Dieser 
Fall ist beim Ödem der Nierenkranken verwirklicht. | 

10. Im Zusammenwirken der sub 6 und 9 genannten Vorgänge, wo- 
bei den letztgenannten Prozessen quantitativ weitaus die überwiegende 
Bedeutung zukommt, ist die den Nierenkranken spezifisch gemeinsame 
Ursache der Ödementstehung gefunden. | 

11. Die vergleichende Messung von Ponk, np und n am Blutplasma 
ergibt weiter, daß der auf die Einheit von 1%, Eiweiß umgerechnete 
„spezifische Ponk-Wert‘“ bei Krankheiten nicht konstant ist. Ins- 
besondere kann der spezifische Ponk-Wert abnehmen, während die 
spezifische Reibung steigt; diese Art der Blutplasmaänderung wird 
quantitativ am schärfsten durch den „onkologischen Quotienten‘ er- 
faßt. Für die Entstehung der Ödeme bei den Nierenkranken aber ist 
in derartigen Eiweißveränderungen des Blutplasmas, da die Niere aus- 
gleichend auf den onkotischen Druck hin reguliert, nicht eine Ursache, 
sondern nur eine anscheinend nicht seltene Begleiterscheinung gegeben. 

12. Das ‚‚Auspumpen“ aus den Capillaren zufolge der Hypoonkie 
ist bevorzugt an die Orte des geringsten mechanischen Gegendruckes 
gebunden. Hierin liegt die Erklärung für die klinische Erscheinung, 
daß die renal bedingten Ödeme eine Besonderheit in der Lokalisierung 
besitzen. Das symbate Ödematöswerden der Lidsäcke und des Hand- 
rückens, d. h. der Orte des geringsten mechanischen Gegendruckes im 
Körper, ist physikochemisch geradezu als ein spezifisches Symptom 
für das Vorhandensein einer Hypoonkie im Blutplasma zu bezeichnen. 
In der Blutplasmahypoonkie ist das bisher fehlende Mittelglied zwischen 
der Niereninsuffizienz und ihrer ödemmachenden „Fernwirkung‘“ im @e- 
webe gefunden. | 














(Aus der Medizinischen Universitätsklinik Frankfurt a. M. 
| [Dir.: Prof. Dr. @. von Bergmann).) 


Vergleichende Untersuchungen über die Wirkung und 
Wirkungsweise des Caleiums und der Digitalis. 


| Von , | 
Dr. Ernst Billigheimer, 
Assistent der Klinik. 


Mit 23 Textabbildungen. 
' (Eingegangen am 13. Dezember 1923.) 


Inhalt. 
l. Einleitung (S. 411). 
2. Methodik (S. 412). 
3. Analyse der Versuche (S. 413). 
‘ A. Wirkung des Calciums auf die Pulsfrequenz (S. 413). 
'_ B. Wirkung des Calciums auf den Atropin-Puls (S. 415). 
C. Wirkung des Calciums auf den Adrenalin-Puls (S. 418). 
' D. Wirkung des Calciums bei digitalisierten Menschen und sein Einfluß auf 
den Herzrhythmus (S. 421). 
; E. Wirkung des Calciums auf den Blutdruck (8. 436). 
Was leistet die Analyse der Calciumwirkung besonders in ihrem Zusammen- 
hang mit der Digitalis für unsere Denk- und Handlungsweise am Krankenbett 
(8. 441). 
1. Folgerungen für die Lehre der „Vagotonie‘‘ (S. 449). 
, Ergebnisse und Zusammenfassung (S. 450). 


1. Einleitung. 

Für die folgenden Untersuchungen waren 2 Gesichtspunkte richtung- 
jebend. Einmal war es die klinisch praktische Frage, zu der die Anregung 
derr Professor von Bergmann gab: Wie wirkt Calcium, dessen Wirkungs- 
veise auf das Herz im Tierexperiment vielfach studiert ist, als solches 
nd in der Kombination mit Digitalis auf den Kreislauf beim Menschen ? 
Xönnen wir das Calcium in der Klinik mehr nutzbar machen als uns 
isher bekannt ist? Wir denken hierbei an die Calcium-Digitalisunter- 
uchungen von Böhm, Löwi, Arima u.a. 2. gab die Veranlassung die 
unächst mehr theoretisch orientierte Frage nach der Beteiligung der 
‚egetativen Nerven bei verschiedenen Funktionen des Herzgefäßappa- 
ates auf Grund der Calciumwirkung. Den Ausgangspunkt hierfür 
ilden Arbeiten, die immer wieder die Beziehungen zwischen Calcium 
2. f. klin. Medizin. Bd. 100. 27 


| 
} 








| 
| 


| 


412 E. Billigheimer: Vergleichende Untersuchungen über die Wirkung 


und Vagus bzw. Sympathicus nahelegen. Ich erinnere vor allem an die 
Untersuchungen von Howell, Kraus, Zondek, Rothberger und Winterberg 
und eigene. 

Ich möchte im voraus dem Vorwurf begegnen, daß ich aus einer 
pharmakologischen Reaktion Rückschlüsse auf die Innervation zöge, 
zumal ich selbst in früheren Arbeiten vor diesbezüglichen unkritischen 
Schlußfolgerungen gewarnt habe. Ist doch selbst die Elektivität des 
Adrenalins auf das sympathische System besonders durch die Arbeiten 
von Kolm und Pick entthront. Die Calciuminjektion gab zunächst nur 
die Richtung; ihre Äußerungen und Deutungen gaben vielfache An- 
regungen; die Abhängigkeit der Reaktion nicht nur von dem Zustande 
des nervösen Apparates, sondern auch von dem des Erfolgsorgans wurde 
in besonderem Maße klar. | 

Ferner werden die Untersuchungen Veranlassung geben, wiederum 
der Gewohnheit entgegenzutreten aus einer pharmakodynamischen 
Reaktion auf den Zustand, insbesondere auf den Tonus eines ganzen 
Nervensystems zu schließen, wie es noch von vielen Seiten geschieht. 
Seien wir doch zufrieden, wenn es uns gelingt, aus einer Reaktion 
einigermaßen richtige Schlüsse auf die Funktion eines komplexen 
ÖOrgangebietes zu ziehen. Die Caleiuminjektion wird uns Material in 
die Hand geben, auch darin weitere Einblicke in die Beziehungen zwischen 
Vagus und Sympathicus, Tonus und Erregbarkeit zu gewinnen. 


2. Methodik. 


Ich überblicke im ganzen 330 Versuche an Menschen mit teils gesundem, 
teils krankem Herzen. Die Methodik war für die meisten Fälle eine denkbar ein- 
fache. Zur Injektion wurden 10 ccm einer 10 proz. Lösung von Calcium chloratum 
intravenös verwandt. Dabei wurden Puls, vielfach auch systolischer und diasto- 
lischer Blutdruck (Riva- Rocci) verfolgt. Die Patienten lagen vor Beginn des Ver- 
suches längere Zeit (mindestens !/, Stunde) auf dem Bett. Die Pulszahl, jedesmal 
Auszählung !/, Minute, wurde vor jeder Minute so oft registriert, bis eine Gleichheit 
garantiert war. Nach der Injektion wurde sie, mindestens alle 2 Minuten, oft noch | 
häufiger solange bestimmt, bis wieder die ursprüngliche Pulszahl erreicht war. 
Zur Untersuchung des Herzrhythmus nach Calcium (Vagusdruckversuch, ober- 
flächliche Atmung, Tiefatmungsprüfung nach Pongs) wurde der bequeme Macken- 
ziesche Polygraph, in seltenen Fällen auch der Elektrokardiograph verwandt. 

Zur Beurteilung verschiedener Zustände war es notwendig, das Adrenalin 
heranzuziehen. Wie in früheren Untersuchungen wurde l1mg Suprareninum 
hydrochlor. Höchst in subcutaner Injektion verwandt. Obwohl neuerdings Stim- 
men laut werden, die nur die intravenöse Injektion zur pharmakodynamischen 
Prüfung gelten lassen wollen (O'söpai, Platz) oder zumindest die Adrenalindosis 
auf das jeweilige Körpergewicht berechnet wissen wollen (Weinberg), hielt ich weiter 
an der subcutanen Injektion von 1 mg fest. Ich gebe zu, daß für manche Zustände 
(z. B. Ödeme) die Resorption für die Blutdruckkurvenform eine ausschlaggebende 
Rolle spielt; für die vergleichsweise Prüfung in der Klinik halte ich jedoch die intra- 
venöse Injektion für absolut unnötig. Die Gültigkeit der subeutanen Injektion 
beweisen mir Untersuchungen von C'sepai und seiner Mitarbeiter selbst. Er 





erhielt mit der intravenösen Injektion bei denselben Krankheitszuständen eine 
verstärkte Reaktion wie ich mit der subcutanen (Osteomalacie, Hypertonie). Da 
hiermit der Beweis geliefert ist, daß die individuellen Zustände, sei es in Nerven, 
sei es in Erfolgsorganen, die Art der Reaktion bestimmen, halte ich für die ver- 
gleichsweise Beurteilung feinerer Unterschiede die subeutane Injektion sogar für 
die weit brauchbarere, ganz abgesehen von der nicht seltenen Gefahr der intra- 
venösen Adrenalininjektion. Daß unter gleichen Versuchsbedingungen bei dem- 
selben Patienten die subceutanen Adrenalinkurven identisch ablaufen, ist Voraus- 


und Wirkungsweise des Calciums und der Digitalis. 413 
setzung und wurde von mir bereits in früheren Untersuchungen nachgewiesen. 
1 


3. Analyse der Versuche. 
4. Wirkung des Caleiums auf die Pulsfrequenz. 


Am Froschherzen stellten Böhm und Löwi eine negative chronotrope Wirkung 
| bei vermehrtem Calciumgehalt der Spülflüssigkeit fest. 

KRothberger und Winterberg, die die frühere Literatur bezüglich der Frequenz- 
änderung nach Calcium besprechen, finden am Säugetierherzen (Hund) eine 
„bleibende oder doch nur langsam abklingende Verlangsamung‘‘ und in manchen 
Fällen „eine Zunahme der Schlagzahl, die aber sehr rasch vorübergeht und der 
Verlangsamung Platz macht.“ Daneben beobachten sie, wie schon Langendorff 
und Hueck, eine Zunahme der Herzenergie, die auf eine Wirkung des Caleciums 
auf die contractile Substanz bezogen wird. 





N 


Welche Frequenzuntersuchungen beobachten wir nun am Menschen 
bei fortlaufender, systematischer Pulsuntersuchung nach Calcium ? 

Ich verfüge über 80 Caleiumpulskurven 700 
an herzgesunden Individuen. Der Raum /## 
verbietet sämtliche Untersuchungen tabella- 
tisch oder kurvenmäßig aufzuführen; ich 
'beschränke mich deshalb jeweils auf einige 
‚charakteristische Beispiele (Kurve 1). GG Or 30 Yo 39° 
Innerhalb der ersten 2—5 Minuten ist Zeit in Minuten 
| fast immer der tiefste Punkt der Kurve, EN 
‚d.h. die größte Pulsverlangsamung, erreicht; allmählich, innerhalb 
25—30 Minuten, selten später, klettert der durch keine anderen 
Pharmaka beeinflußte Calciumpuls wieder auf seine ursprüngliche 
‚Höhe; der Aufstieg geschieht in einer kontinuierlichen Linie, seltener 
in mehr oder weniger großen Wellen. Häufig schwankt der Puls, nach- 
dem erstmals das Ausgangsniveau erreicht ist, noch wellenförmig nach. 
Es mag kein Zufall sein, daß bei 2 Kranken mit Asthma bronchiale 
die Dauer der Reaktion bis zu 50—60 Min. betragen hat, während bei 
einer Basedow-Tachykardie die Reaktion abgekürzt war. Dort schreiben 
wir dem Vagus, hier den Sympathicus überwiegende Einflüsse zu. 
Die Zusammenhänge werden im weiteren durchsichtiger und noch mehr 
‚erörtert werden. 














Die Dauer der Pulsverlangsamung fällt interessanterweise genau mit der Zeit 
zusammen, die Sieburg und Keßler für die wirkliche Caleium-Ionenvermehrung 
nach derselben Caleciumdosis im Blut beim Menschen fanden. Mit der von Tren- 


| 
# 27% 
| 
| 
| 
| 
| 





414 E. Billigheimer: Vergleichende Untersuchungen über die Wirkung 


delenburg und Göbel am Froschherzen ausgearbeiteten biologischen Methode 
wiesen Sieburg und Keßler nach, daß die Ionenvermehrung nach Calciumchlorid 
25-30 Minuten, nach gleichzeitigem Zusatz von Gummi arabicum oder Agar-agar 
32-33 Minuten lang dauert. Nicht davon berührt wird der Gesamtkalkgehalt 
im Blute, der nach eigenen Untersuchungen meist mehrere Stunden nach der 
Injektion vermehrt. gefunden wird. Die Gegenüberstellung dieser Tatsachen 
spricht fast mit Sicherheit dafür, daß die Wirkung des Caleciums auf den Puls 


und somit wahrscheinlich auch auf andere, momentane therapeutische Effekte’ 


durch ionisiertes Calcium zustande kommt. Es entspricht dies bereits früher 
seäußerten Gedankengängen und Untersuchungen über den Kalkspiegel nach 
Adrenalin usw. und verdient besonders neueren Anschauungen Heubners gegenüber 
Beachtung. Dieser Autor neigt zu der Ansicht, daß für die Caleiumwirkung neben 
dem Caleiumion auch die Bildung von feindispersem Calciumphosphat in Betracht 
kommt. Für die Pulswirkung scheint dies nicht der Fall zu sein. 


Die Stärke der Pulsverlangsamung beträgt durchschnittlich 10 bis 
20 Schläge, jedoch ist dafür keine Norm aufzustellen. Bei jugendlichen 
Menschen, die zu starken respiratorischen Pulsschwankungen neigen, 


50 ist meist die Intensität 
Puls der Pulsverlangsamung 
30 


30 40 50 60° 70’ 80° 30’ eine größere; in dem Ka- 
RER pitel über die Rhythmus- 
Kurve 2, 

schwankungen nach Cal- 

cium werden wir darauf noch zurückkommen. Von einem gewissen 
Punkt an wird die Möglichkeit der Pulsverlangsamung um so geringer, 
je langsamer die Ausgangsfrequenz ist. In extremen Fällen wird es so 
unter Umständen zu gar keiner Verlang- 
samungsreaktion kommen (z. B. Kurve 2). 

Auf pathologische Fälle mit negativer 
Reaktion komme ich noch ausführlich zu 
sprechen. 

Ferner beobachtet man bei manchen 
Patienten eine initiale Pulsbeschleunigung 

GE ER ET entsprechend den am Säugetierherzen von 

Rothberger und Winterberg gemachten Be- 
obachtungen (Kurve 5). 

Bei einer anderen Gruppe von Patienten (vornehmlich Aortenin- 
suffizienzkranken) kommt es fast ausschließlich zu einer paradoxen 
Beschleunigungsreaktion wie in folgendem Falle (Kurve 4): 

Die Caleiumpulskurve, besonders in ihren Modifikationen, bedarf 





Kurve 3. 


110 nun einer genaueren Analyse, zu- 
Puls mal über den Angriffspunkt des 
2 Caleiums keine Einigkeit zu herr- 
ee schen scheint. So schreibt ihm 
Workin Minuten F. Kraus je nach der Dosierung 


Kürve 4, bald erregende, bald lähmende 


und Wirkungsweise des Calciums und der Digitalis. 415 


Einflüsse auf den Vagus zu, Zondek identifiziert die Caleiumwirkung 
mit einer Sympathicusreizung. 

Da ich ursprünglich annahm, die Ausgangsfrequenz könnte von ent- 
scheidender Bedeutung für die Art der Reaktionen sein, stellte ich zu- 
‚ nächst Versuche an zur Beeinflussung künstlicher Tachykardien durch 
Calcium. * 
| Die einiachste Methode zur Erzeugung einer Tachykardie ist die auf 
pharmakologischem Wege. Die Tachykardie nach körperlicher An- 
‚ strengung ist meist zu kurz dauernd, um der Kritik standhaltende Re- 
sultate über ihre Beeinflussung durch Pharmaka zu geben. Die beiden 
Mittel, die in Betracht kamen, waren Atropin und Adrenalin. Sie haben 

beide den Vorteil, daß die durch sie hervorgerufene Pulsbeschleunigung 
‚in ihrer nervösen Ätiologie geklärt ist. 


| 


| 





B. Wirkung des Calciums auf den Atropinpuls. 
| Atropin bewirkt bekanntlich die Tachykardie durch periphere 
Vaguslähmung. 
Das der Lähmung vorausgehende kurze Reizstadium mit Pulsver- 


langsamung lasse ich hier unberück- 739 7 
an 


! 


sichtigt. Puls 
Die Caleiuminjektion erfolgte auf 7 
der Höhe der Pulsbeschleunigung, etwa 
' 45 Min. nach Injektion von 1 mg Atro- 
pin. sulfuric. Ausgeschlossen von der 790 
Beurteilung wurden Fälle, die keine 
Pulsbeschleunisung nach Atropin 
' zeigten und Fälle, bei denen der Puls 
‚ sich bereits im Stadium des Absinkens 





770 








' befand. 70 
| Ich greife aus 10 Versuchen 2 Bei- m 
spiele heraus (Kurve 5 und 6): DIE OEE ZA 30 38 40 15048 60° 


Ze ın Minuten 


Kurve 5. 


| Charakteristisch ist, daß die Atro- 
‚ pinkurve keine wesentliche Störung 
durch Calcium erleidet. Meist ändert sich die Frequenz gar nicht, oder 
es treten nur kurzdauernde Beschleunigungszacken auf; selten ist ein 
ganz vorübergehender, nicht 
‚ tiefer Kurveneinschnitt nach 2, 
' unten zu beobachten, wie in 7 
dem 2. Beispiel. 

Wir können aus diesen Ver- 
suchen zunächst entnehmen, a 
daß die Pulsverlangsamung °° % 3 VIREN REN 


; ur in Minuten 
nach Calcium von dem Zu- Kur 





aıen 





416 E. Billigheimer: Vergleichende Untersuchungen über die Wirkung 


stand des Hemmungsapparates des Herzens bzw. dem Vagus abhängig 
ist: sonst könnte eine Ausschaltung des Vagus durch Atropin die übliche 
Pulsverlangsamung, die ohne Atropin vorhanden war, nicht vereiteln. 
Immerhin ist die weitere Frage, ob nur der Vagus bzw. seine Endigungen 
durch Caleium gereizt werden. Beide Beispiele sprechen auch noch für 
andere Angriffspunkte. 

Wirkt Calcium in jedem Fall nur erregend auf den Vagus, so dürfte 
bei Vaguslähmung einerseits keine Pulsverlangsamung, andererseits 
keine Beschleunigung mehr auftreten. Da dies bis zu einem gewissen 
Grade auf der Höhe der Atropinwirkung noch möglich ist, ist es wahr- 
scheinlich, daß Caleium noch peripher von den Vagusendigungen, d.h3 
am Ursprungszentrum der Reizbildung angreift. Für die noch mögliche 
Pulsverlangsamung nach Atropin mag dies in Analogie zu den Tierex- 
perimenten auf jeden Fall gelten. Für die Pulsbeschleunigung wäre 
außer der Reizung des Sinusknotens noch die Annahme einer Wirkung 
auf sympathische Fasern denkbar. | 

Die Befunde beim Menschen entsprechen völlig den von Rothberger und 
Winterberg im Tierversuch festgestellten Caleiumreaktionen. Die rasch vorüber- 
gehende Pulsbeschleunigung führen diese Autoren auf eine initiale geringe Er- 
regung des normalen Reizbildungszentrums zurück. Die Möglichkeit einer Reizung 
von Sympathicusendigungen lehnen sie auf Grund von Reizschwellenbestimmungen 
für den Accelerans vor und nach Chlorbarium, das gleichsinnig mit Calcium wirkt, 
ab. Auch eine Steigerung der Anspruchsfähigkeit des Sinusknotens auf Accelerans- 
reizung negieren Rothberger und Winterberg, da „die normalen Ursprungsreize bei 
mit Calcium vorbehandelten Herzen durch Acceleransreizung nicht stärker beschleu- 
nigt werden als vorher‘‘. Nach größeren Dosen, die zur Verlangsamung des Herz- 
schlages geführt haben, ist sogar die durch Acceleransreizung zu erzielende Maximal- 
frequenz bedeutend geringer als unter normalen Verhältnissen. 

Einen weiteren Beweis, daß Calcium an dem normalen Reizbildungszentrum 
angreifen kann, sehen Rothberger und Winterberg darin, daß nach fortgesetzter Cal- 
ciumapplikation der kleinste, noch wirksame faradische Hemmungsreiz für den 
Vagus zu periodischen Herzstillständen führen kann, die auch nach Atropinisierung 
noch auftreten. 

Bezüglich der Pulsverlangsamung erregt also Calcium bei Menschen 
in voller Übereinstimmung mit den Tierversuchen nicht nur den Vagus, 
sondern wirkt, wie es scheint, auch hemmend auf das normale Reiz- 
bildungszentrum. | 

Größere Schwierigkeiten bietet die Differenzierung der vorübergehenden 
Pulsbeschleunigung nach Caleium hinsichtlich ihres Zustandekommens. 
Der Sympathicus scheint dabei beim Menschen unter physiologischen 
Verhältnissen eine wesentlichere Rolle zu spielen, als Rothberger und 
Winterberg für das Säugetierherz gefunden haben. Die Frage ist deshalb 
'bedeutungsvoll, weil sie das auch für die Klinik allgemein wichtige 
Problem berührt: wie verhält sich der Sympathicus am Herzen bei einer 
Vagusreizung. Um für unseren Fall mehr Klarheit zu gewinnen, habe ich 
in 8 Fällen die Adrenalin-Pulskurve vor und nach Calcium bestimmt. 








und Wirkungsweise des Caleiums und der Digitalis. RAN 


Tabelle I. Adrenalinreaktion vor und nach Calcium. 


















































Puls 
Name : - ! 
und Alter en Yan) Anstieg mm/Hg Gipfel a 
nach Reaktion 
IR.g Asthma vor |(5-)68—100| 50 Min.| — 

98 Jahr | Bronchiale 20 Min. nach (90 —) 66 > 94 |50 „, _ 
2.Sch. 5! || Fibröse (latente) vor 70 — 100 30 Min. | 5 Std. 
32Jahr | Lungentbe. |60Min.nach| (70>)60—98 | 30 „, er 
ch.‘ ‚Aikbionsherz vor 60 — 80 15 Min. |, 1: Std. 

j 18 Jahr Fibröse (latente) 
Lungentbe. 20 Min. nach | (60 —) 60 — 90 | 40 _„, A 
Encephalitis vor 80 > 72% 1 Std. 
EP." { 
36Jahr Parkinsonismus 
2 digitalisiert [40 Min.nach (70>)50—>84 | 35 Min. | 2 Sta. 
5 Big! chron. vor 60 — 90 1 Min. | 10 Min. 
| 48 Jahr | Bleivergiftung |20 Min. nach | (70 —) 58 — 90 LER, 10W. 
;.H.Q | Parathyreoprive vor 80 — 125 3 Min. | 22/, Std. 
40 Jahr Tetanie 20 Min. nach | (90 —) 70 — 100 | 90 _„, 2 5 
ER." Nephritis vor 110 123 8 Min. | 30 Min. 
13Jahr | nach Angina |35 Min.nach | (100—>)90—130| 2 „ ZIP 
rg Aorten- vor 80 — 105 1 Min. | 7 Min. 
1 93 Kl insuffizienz 2Wellen80—>120 | 1 Std. | 41/, Std. 
(Endokarditis) !30 Min.nach | (76 —) 70 — 86 2 Min. | 10 Min. 


In 4 Fällen ist die durch Sympathicusreizung erzielte Differenz 
»wischen Ausgangspuls und Maximum nach Calcium eine größere als 
Yhne Calcium; in 2 Fällen ist kein deutlicher Unterschied vorhanden, 
n 2 weiteren Fällen ist die Differenz geringer. Damit ist für den Men- 
schen erwiesen, daß mit einer Erregung des Vagus — die Adrenalin- 
'njektion erfolgte auf der Höhe der Pulsverlangsamung — eine erhöhte 
Ansprechbarkeit des Sympathicus einhergehen kann. Es besteht dem- 
'aach für den Menschen die Möglichkeit, daß eine Pulsbeschleu- 
gung nach Calcium, wenigstens vorübergehend, durch ein Hervor- 
‚‚reten vermehrter Impulse im Sympathicusgebiet zustande kommen 
sann. Zwischen Reizung des Sinusknotens und der Sympathicusendi- 
zungen zu trennen, erscheint mir für die Klinik wenig bedeutungsvoll, 
la beide Gebilde in ihrer Funktion für uns eine Einheit bilden. Daß 
ıeben der gesteigerten Reizbarkeit der Sympathieusendigungen nach 
Jaleium auch eine direkte Reizung des Sinusknotens möglich ist, soll 
acht bestritten werden und wird bei der Besprechung über den 
Zusammenhang zwischen Calcium und Digitalis näher beleuchtet 
werden. 











418 E. Billigheimer: Vergleichende Untersuchungen über die Wirkung 


Sehr schwierig dürfte die Beurteilung sein, auf welchem Wege die 
erhöhte Sympathieuserregbarkeit während eines Vaguszustandes zustande 
kommt, ob zentralreflektorisch oder allein durch periphere Umstimmung, 
Die Versuche von Arima, wonach das Herz bei Reizung eines Nerven 
Produkte ausscheidet, mittels deren es sich selbst wieder erholen kann, 
ferner die Untersuchungen von Pick, auf die ich noch später zurück- 
komme und nach denen eine paradoxe Giftwirkung lediglich nach Um- 
stimmung des Organs erzielt werden kann, lassen bei der synergistischen 
Wirkung von Vagus und Sympathicus (bei Reizung des einen Nerven 
auch erhöhte Ansprechbarkeit des anderen) eine periphere Wirkung 
durchaus möglich erscheinen. | 

Die erhöhte Ansprechbarkeit des Sympathicus bei Vagusreizung 
konnte ich bereits in früheren Untersuchungen am Kohlenhydratstoff- 
wechsel feststellen. Dort wurde nach Pilocarpinisierung eine höhere 
Adrenalin-Blutzuckerkurve erreicht als durch Adrenalin allein. Daß 
diese Befunde der ursprünglich heuristisch sehr wertvollen Hypothese 
des Wagebalkengleichnisses von Eppinger und Heß völlig widersprechen, 
bedarf kaum einer Erörterung. Die gleichsinnige Beeinflussung des 
Antagonisten hinsichtlich der Erregung scheint aus Gründen der Regu- 
lation zur Aufrechterhaltung der Funktion in dem betroffenen Organ- 
gebiet zustande zu kommen. Auch Langecker und Wiechowski fanden 
neuerdings am Froschherzen bei erhöhtem Vaguserregungszustand 
vermehrte sympathische Ansprechbarkeit und umgekehrt. 


C. Wirkung des Calciums auf den Adrenalinpuls. 


Als zweites Mittel zur Erzeugung einer Tachykardie verwandte ich 
Adrenalin, das die Endigungen des dem sympathischen System zuge- 
hörigen Nerv. accelerans reizt. 

Von 13 Versuchen diene eine Kurve (7) als charakteristisches Beispiel. 

Je reiner und ausgeprägter die Pulsbeschleunigung nach Absinken 
des Blutdrucks auftrat, desto schlagartiger war die Pulsverlangsamung 
durch Caleiumwirkung. Es wird also durch den Sympathicusreiz nicht 
etwa die vagische Ansprechbarkeit herabgemindert, sondern im Gegen- 
teil gesteigert: der Puls sinkt bis zu 50% ab. In Analogie dazu fand 
‚Reid Hunt, daß Vagusreizung nach wiederholter Erregung der Accele- 
ratoren auf den Puls stärker verlangsamend wirkte als vorher. 

Wie im vorhergehenden Kapitel, nur im umgekehrten Sinne, beob- 
achten wir auch hier wiederum eine synergistisch gesteigerte Ansprech- 
barkeit des einen Nerven (Vagus) bei Reizung seines ‚„‚Antagonisten“. 
Rückschlüsse auf den Tonus können wir daraus keineswegs ziehen. 
Die erhöhte Ansprechbarkeit des Vagus bei der Sympathicustachy- 
kardie spricht deshalb durchaus nicht für einen gleichzeitig erhöhten 




















und Wirkungsweise des Caleiums und der Digitalis. 419 


Vagustonus. Im Gegenteil könnte sie geradezu der Ausdruck eines 
verminderten Tonus sein. 

Daß einerseits bei einer Sympathicustachykardie der Hemmungs- 
apparat für das Herz nicht nur intakt, sondern besonders caleiumemp- 
findlich ist, daß andererseits die durch Lähmung des Vagus zustande 
kommende Tachykardie durch Caleium praktisch fast unbeeinflußbar 
ist, kann wiederum als Beweis dafür gelten, daß das Calcium beim 
Menschen prinzipiell als Reizmittel für den Herzvagus aufzufassen ist. 


Sulr Puls 
920 720 








270 710 


200 700 











79030 





7180 80 


770 70 


760 60 














DZ OO BO 0 
Zeir ın Mınufen 


Kurve 7. 


Die verschiedenartige Caleiumreaktion je nach Ausschaltung oder 
gesteigerter Ansprechbarkeit des Vagus berechtigt uns bei Spontanzu- 
ständen in der Klinik aus dem Ausschlag der Caleiuminjektion insbe- 
sondere bei Tachykardien gewisse Schlüsse auf die Art der Vagusbeteiligung 
zu ziehen. Besonders intensiv scheint der Verlangsamungseffekt nach Cal- 
cium bei erhöhter Empfindlichkeit des vagischen Apparates zu sein. Be- 
stehen dabei gleichzeitig Sympathicusreize (Pulsbeschleunigung), sei es 


durch zentrale oder periphere Einflüsse, so machen diese sich bald wieder 


geltend, die Kurve kehrt sehr rasch wieder zu ihrem früheren Niveau 
zurück. Dieses sehen wir z. B. experimentell in der Caleiumkurve nach 
Adrenalin, klinisch in der schon erwähnten Kurve bei der Basedow- 
tachykardie. Bestehen bei besonderer Empfindlichkeit des Vagus- 
apparates keine klinisch erkennbaren, vermehrten Sympathicus- 
symptome, so scheint sich die erhöhte Reizbarkeit des Vagus in 
einer längeren Dauer der Pulsverlangsamung nach Calcium aus- 
zudrücken. Dafür sprächen die erwähnten Kurven bei den beiden 
Asthmapatienten. Die Gültigkeit dieser Behauptung wird uns in dem 
Abschnitt über die kombinierende Digitalis-Caleiumwirkung besonders 
deutlich werden. 


420 E. Billigheimer: Vergleichende Untersuchungen über die Wirkung 


Die negative Caleciumreaktion kann Vagusausfall bzw. -schädigung 
bedeuten. Als Beleg dafür scheinen mir 2 Fälle mit starker Schrumpfung 
einer Lungenseite und Verziehung des Herzens besonders wertvoll. 
Die seit langem bestehende Tachykardie, die durch Calcium gänzlich 
unbeeinflußt blieb, macht hierbei entschieden eine Nervenschädigung 
glaublicher als eine Reizung. Desgleichen verhielten sich seit langer Zeit 
toxischer Schädigung ausgesetzte Herzen mit Tachykardie (z. B. Tuber- 
kulose) gegen Calcium refraktär. Die Calevumkurve ist demnach geeignet, 
verschiedene Formen von Tachykardien bis zu einem gewissen Grade be- 
züglich der Innervierung zu analysieren. 

Dabei muß folgendes berücksichtigt werden. Es ist nicht gesagt, 
daß eine negative Calciumreaktion in jedem Fall Verminderung vagi- 
scher Impulse auf das Herz bedeutet. Eine mangelnde Ansprechbarkeit 
auf Vagusreizung kann auch durch einen pathologischen Zustand des 
Erfolgorgans — davon später — begründet sein oder dadurch, daß bereits 
bei dem betreffenden Zustand maximalste Vagusreizung vorhanden ist, 
ein weiterer Reiz also keine Wirkung mehr im Sinne der Pulsverlang- 
samung entfalten kann. Ich erinnere an die Caleciumpulskurve bei 
extrem langsamem Puls. 

Zwei von der Regel abweichende kombinierte Adrenalin-Calciumver- 
suche sind hierfür von Bedeutung. Dort wurde das Calcium zum Unter- 
schied von den anderen Versuchen auf der Höhe der Blutdruckwirkung 
verabreicht. Danach trat keine Pulsverlangsamung auf. 

Der Gegensatz dürfte in folgendem beruhen: während wir bei der 
Adrenalintachykardie nach Blutdruckabfall es mit einer relativ reinen 
Sympathicusreizung zu tun haben, handelt es sich bei dem Zustand der 
großen Blutdruckamplitude nach Adrenalin auf der Höhe der systo- 
lischen Blutdrucksteigerung nicht nur um eine Sympathicuswirkung, 
sondern nach den Versuchen von v. C'yons u.a. auch um eine besondere 
Beteiligung des Vagus. Oliver und Schäfer fanden in dieser Periode 
anscheinend maximalster Vagus- und Sympathicuserregung den Vagus 
elektrisch unerregbar, mit sinkendem Blutdruck stellte sich die Erreg- 
barkeit wieder ein. Diesen Untersuchungen entsprechen völlig die 
Calciumkurven auf der Höhe des Blutdrucks und nach Absinken des- 
selben. Bei einer derartig veränderten Herzfunktion im Sinne des 
Aktionspulses v. O’yons spricht also Caleium nicht an. Ob dafür wirklich 
eine extreme Vaguserregung verantwortlich zu machen ist, muß offen 
gelassen werden. 


Auf eine Analogie zwischen dem Ausfall der Caleiuminjektion auf der Höhe 
der Adrenalinblutdruckwirkung und bei der Aorteninsuffizienz möchte ich hier 
noch hinweisen. In beiden Fällen finden wir die große Amplitude infolge eines 
absolut oder relativ niederen diastolischen und eines meist erhöhten systolischen 
Drucks. Sowohl in funktioneller Hinsicht bezüglich der Aktion als auch inner- 
vatorisch ist anscheinend das Adrenalinherz dem Aortenherz sehr ähnlich. In der 


und Wirkungsweise des Calciums und der Digitalis. 421 


Tat spricht dafür auch, daß in beiden Fällen Calcium keine Pulsverlangsamung 
macht. Übrigens ist auch vor dem Röntgenschirm die Gleichheit der Aktion, 
d. h. die große Amplitude bei beiden Herztypen festzustellen. 


D. Wirkung des Calciums beim digitalisierten Menschen und sein Einfluß 
| auf den Herzrhythmus. 





Zum Studium der Calciumwirkung auf den langsamen Puls suchte 
ich die bekannte Vaguswirkung der Digitalis zu verwenden. Diese 
Untersuchungen sollten gleichzeitig, wie in der Einleitung erwähnt, 
mehr Klarheit in den Zusammenhang der Digitalis- und Caleiumwirkung 
‚und in die Zweckmäßigkeit ihrer Kombination beim Menschen bringen. 





Zum Zwecke der Digitalisierung verwandte ich im ganzen 3 Präparate, und 
zwar in den meisten Fällen das in unserer Klinik bevorzugte Infus pro die 1g 
der titrierten Blätter. Nicht ganz so häufig machte ich von Blubus scillae 3 mal 
0,3 g täglich Gebrauch; die Meerzwiebel hat nach Jenny und Okushima den Vorteil, 
daß sie im Gegensatz zur Digitalis nur ganz kurze Zeit am Herzmuskel haftet. 
\ Es können deshalb bei Anwendung dieses Präparates rasch hintereinander Perioden 
mit und ohne Calcium geschaltet werden, was bei Anwendung der Digitalis zufolge 
‘ deren langem Haftungsvermögen das Urteil über die Kombination mit Calcium 
nach einer Periode mit Digitalis allein trüben könnte. Schließlich verwandte ich 
in mehreren Fällen Scillaren Sandoz, das Reinglykosid von Bulbus scillae, als 
‚ Injektion, 2mal 2 Ampullen täglich intravenös. Es kann vorweggenommen 
, werden, daß bei allen 3 Medikamenten die spezifische Wirkung auf den Puls die 
gleiche war. Am raschesten trat naturgemäß die Wirkung nach der intravenösen 
' Applikation ein. 

Insgesamt habe ich bei 35 Patienten, darunter 10 Herzkranken, die Calcium- 
wirkung während Digitalisverabreichung geprüft. Die Digitalisierung wurde bei 
einzelnen (Herzgesunden) bis zu 5 Monaten ohne jeden Schaden fortgesetzt. Puls- 
verlangsamung wurde dabei zwar erreicht, aber niemals in dem extremen Grad 
' wie bei Herzkranken, was auch mit den Angaben von Kaufmann und Meyer 
‚übereinstimmt. Eine besondere Vorsicht bei der Kombination des Digitalis und 
Calcium, zu der Löwi und Starkenstein mahnt, ist nicht notwendig; ich habe 
niemals Schaden, höchstens Nutzen gesehen. 





Als 1. Beispiel führe ich einen Injektionsversuch (Kurve 8a, b, c) 
an. Hierbei wurde an verschiedenen Tagen Calcium, Scillaren und beides 
‚zusammen verabreicht. 

'  Ausdiesem Versuch geht hervor: unter Calcium tritt eine Pulssenkung 
ein, die etwa 15 Min. anhält; nach Scillaren kommt es zu geringen 
Schwankungen in der Kurve, die unberücksichtigt bleiben sollen; nach 
Calcium und Scillaren zusammen kommt es zu einer zwar nicht wesent- 
lich stärkeren Pulsverlangsamung, jedoch dauert diese etwa 5 Stunden 
an. Dieser gleiche Befund war in mehreren derartigen Injektionsver- 
‚suchen zu erheben. Die Verstärkung der Wirkung trat aber auch bei 
paradoxen Reaktionen gleichsinnig in Erscheinung. So zeigte eine schwer 
‚dekompensierte Patientin mit Aortenklappeninsuffizienz sowohl nach 
‚Calcium wie nach Digitalis Pulsbeschleunigung; nach Kombination 





1 
! 
| 





422  E. Billigheimer: Vergleichende Untersuchungen über die Wirkung 


beider Mittel trat eine paroxystische Tachykardie auf. Auf dieses inter- 
essante Resultat werden wir später noch eingehender zurückkommen, 

Die Injektionsversuche zeigen uns bereits das typische der Kom- 
bination von Calcium und Digitalis: Caleium bewirkt dieselbe Reaktion 


aan wie Digitalis und verstärkt deren Wirkung bzw. 

a umgekehrt. Den Versuch 

70 \/ 70 kö - 1 “ h iti 
JR önnen wir gleichzeitig 


















60 

















als Probe auf die Wirk- 

samkeit des ange- 

Co 0 a "oO 0 20 30 40 50' wandten Digitalisprä- 
Zeit ın Minuten Zeit ın Minuten parates verwenden. So 
en kune si können wir nach diesen 
A Kl" Untersuchungen auch 
Scillaren Sandoz als hin- 

EIS sichtlich der Pulsreak- 

tion vollwertiges Präpa- 

= rat anerkennen. Die 
BRNO: ai 30° = 2 _2 3 _# 3 _Scilla in beiden Formeg 
Zei ın Mhnuten Zeit ın Stunden wurdeauch von F.Kauff- 
es mann und Boden und 

Neukirch als gut brauchbares Mittel an Stelle der Digitalis erkannt. 
Weitaus die Mehrzal der Versuche erstreckt sich auf ständige Calcium- 
kontrollen in Abständen von 3—4 Tagen bei peroraler Digitalismedikation. 
Es war immer wieder von neuem eindrucksvoll zu beobachten, wie 
mit fortschreitender Digitalisierung zunächst die pulsverlangsamende 
Caleiumwirkung verstärkt wurde. Während vorher der Puls treppen- 
förmig sank, schoß er nun oft geradezu in die Tiefe. Aber mehr noch als 
die Intensität des Pulssturzes nahm die Dauer der Hemmungswirkung 








80 zu. Der Grad der Verlangsamung brauchte 
Puls nicht größer als vor der Digitalisverab- 
2 reichung zu sein, im Gegenteil konnte er 
60 unter Umständen mit stark zunehmender 
Verlangsamung des Ausgangspulses geringer 

50 De a ui werden. Immer aber war das Charakte- 
Zei in Minuten ristische im Beginn der Digitaliswirkung die 

KU verlängerte Dauer der Calciumreaktion. 


Diese konnte bis zu 4 Stunden, manchmal sogar noch länger anhalten. 
Da die Kurven dasselbe Bild wie bei den Injektionsversuchen zeigen, 
kann ich auf eine Wiedergabe verzichten. | 

Schreitet die Digitalisierung weiter fort, so.kommt ein Zeitpunkt, 
zu dem die Dauer der Pulsverlangsamung wieder abnehmen kann und 
die Ausgangsfrequenz mehr oder weniger rasch wieder erreicht wird 
(Kurve 9). 


und Wirkungsweise des Caleiums und der Digitalis. 423 


Diese Kurve diene als Beispiel für eine akute, intensive Pulssenkung 
bei weiter vorgeschrittener Digitalisierung und bei noch relativ hoher 
Ausgangsfrequenz. Die Dauer der Pulsverlangsamung ist aber nicht 
mehr so groß wie in dem vorhergehenden Stadium, der Puls kehrt nach 
‚ der üblichen Zeit wieder zu seinem ur- 
‚ sprünglichen Niveau zurück. Eine ganz 
ähnliche Kurve (10) wurde 2 Tage nach 
der Nausea gewonnen. Ungefähr zu 
derselben Zeitperiode oder bei noch 
weiterer Digitalisierung schließt sich 
dieser Gruppe mit den mächtigen Puls- 
' ausschlägen und der relativ kurzen 60 7 —7g 320 0 50 
Dauer eine andere an, bei der es nur Zei im Minuten 

| ® Kurve 10. 

zu ganz vorübergehender, manchmal 

‚auch zu gar keiner Verlangsamung kommt, die Kurve zeigt nur kleine 
| Schwankungen; der Puls steigt bald auf das frühere Niveau und über- 
‚schreitet dieses sogar nicht ganz selten (z. B. Kurve 11 u. 12). 














— - 











| 

70 

Puls 

60 

| 50 

| 20, 0 008 50° WFT BON u 2ER 00 
f Zeit in Minuten Zeit m Minufen 

Kurve 11. Kurve 12. 


In dem noch weiter fortgeschrittenen Digitalisierungsstadium ge- 
'winnen wir nun wiederum Kurven mit etwas länger anhaltender Puls- 
verlangsamung, wie im folgenden Fall (Kurve 13), oder Kurven, in 





770 
Puls 
700 
90 


60 





0 EZ SEEN IS! 0. m 80 3' 700' 110' 720° 
Zei in Minuten 


Kurve 13. 





(den ein langsamer Puls, wie er im Wechsel mit anderen Pulsen schon 
‘vorher vorübergehend erreicht war, lediglich längere Zeit festgehalten 
wird (z. B. Kurve 14). 


424 E.Billigheimer: Vergleichende Untersuchungen über die Wirkung 


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07 7.:7077.,.20° IS YO CO ERTONEEN EICHE, 
Ze ım Minuten 
Kurve 14. 


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Dieser Fall mit dem relativ langsamen Puls leitet über zu der letzten 
Möglichkeit (Kurve 15), wie Calcium nach extremer Digitalisierung 
wirken kann. 

Hier haben wir den Höhepunkt der Pulsverlangsamung durch Digi- 
talis erreicht, eine stärkere Verlangsamung kann auch durch den Calcium- 
Vagusreiz nicht mehr erzielt werden. Es dürfte dies ohne weiteres 
verständlich sein und stimmt überein mit 
dem, was Pongs in diesem Stadium an 
Hand seiner Begleitproben beobachten 
konnte: ‚Die Verlangsamungsproben des 
Zu Z Di PS 30 Vagusdruckversuches, des Aortpinversuchs, 

ER der bradykardische Reiz einer Tiefatmungs- 

prüfung sprechen kaum an.“ 

Es kommt ganz auf die individuelle Digitalisempfindlichkeit an, 
in welcher Zeit die an Hand der Caleiumkurven festgestellten Digitalis- 
stadien, wie hier aufgezählt, durchlaufen werden; auch kann das eine 
oder andere Stadium übergangen werden, was nah der selten zu 
erreichenden Pulsverlangsamung beim Normalen bereits erwähnt 
wurde. 

Um die einzelnen Stadien der Caleiumreaktion bei Digitalisierung 
zu verstehen, müssen wir einerseits auf die Wirkungsweise der Digitalis, 
andererseits auf die Rhythmusschwankungen sowohl nach Calcium als 
nach Digitalis näher eingehen. 

Es seien deshalb zunächst einige Erörterungen erlaubt, wie wir uns 
beim Menschen den Mechanismus der Digitaliswirkung und der durch 
die Digitalis verstärkten Calciumwirkung vorstellen können. 





Es kann keine Frage sein, daß wir hier vor derselben Erscheinung stehen, die 
wir vom Tierexperiment her kennen. Schon Traube und 1872 Böhm stellten fest, 
daß durch Digitalis die Erregbarkeit der Vagi erhöht wurde. Rothberger und 
Winterberg fanden später, daß durch Strophantin bei einem bestimmten Rollen- 
abstand und bei gleicher Reizdauer der Vagi nicht nur die Intensität, sondern 
namentlich die Dauer der Hemmungseffekte zunimmt. Stellen wir den elektrischen 
Reiz dem Calciumreiz gleich, so entsprechen unsere Versuchsresultate denen der 
genannten Forscher. Schließlich konnten Rothberger und Winterberg auch die 
gesteigerte elektrische, vagische Reizbarkeit nach Vergiftung mit Calcium selbst 
erzielen. Durch Digitalisvergiftung erfolgt also in gleicher Weise auf den elek- 
trischen Reiz wie auf Calcium ein vermehrter Ausschlag, 





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und Wirkungsweise des Calciums und der Digitalis, 425 


Die Gleichheit der Digitalis- und Caleiumwirkung wies Loewi am isolierten 
Herzen nach. Auf Grund seiner Befunde nahm er an, daß die Digitaliswirkung in 
einer Empfindlichmachung des Herzens für Calcium bestehe, Digitalis sensibili- 
siere das Herz für Calcium; Caleciumverarmung mache caleiumüberempfindlich. 
Zondek hält die Strophantinwirkung und die Caleiumwirkung für identisch ; sie unter- 
scheiden sich nur dadurch, daß erstere langsam einsetzt und lange anhält, letztere 
aber schnell einsetzt und schnell wieder vorübergeht. Die Digitalis-Caleiumwirkung 
am Menschen läßt sich gut mit den Resultaten am Tierherzen in Einklang bringen. 
Die Gleichheit der Wirkung beider Mittel wird uns, soweit dies noch nicht geschehen 
ist, an Hand der Rhythmusuntersuchungen noch ganz besonders klar werden. Wenn 
Loewi mit Recht sagt, daß damit aber die Frage nach dem Wirkungsmodus des 
Strophantins noch nicht gelöst sei, so sei es gestattet, einen kleinen Beitrag zu diesem 
Problem zu liefern. Die Anregung ging von pathologischen Zuständen aus, die ja 
nicht selten tiefere Einblicke in physiologische Verhältnisse verschafft haben. 


Folgende Tatsache fiel mir auf: Tetaniekranke mit gesundem Herzen 
vertrugen im Gegensatz zu anderen Herzgesunden nur wenig Digitalis, 
innerhalb5—10 Tagen trat Nauseaein. DasGegenstück dazu bildeten chro- 
nisch Encephalitiskranke, die enorme Mengen von Digitalis, bis zu 5 Mo- 
naten täglich 1g, ohne jede Vergiftungserscheinung tolerierten. Der für uns 
wichtige Unterschied bei beiden Arten von Patienten scheint mir darin 


zu liegen, daß erstere einen sehr niedrigen Blutkalkwert haben (in meinen 


beiden Fällen 3,5 und 5 mg-%), letztere einen sehr hohen (zwischen 12 


‚ und 14 mg-%). 


Auf Grund dieser Beobachtungen lag es nahe, besonders im Hin- 
blick auf frühere Untersuchungen, zu verfolgen, ob und in welcher Weise 
sich der Calciumgehalt des Blutes durch Digitalis verändert!) ; dabei ergab 
sich folgendes: wenige Minuten nach der Injektion von 2 ccm Digipurat 
intravenös stieg der Blutkalkwert im Blute manchmal an, etwa eine halbe 
bis eine ganze Stunde später war er meist unter dem Ausgangswert 
gesunken, Bei peroraler Verabreichung der Digitalis erfuhr im all- 
gemeinen der Kalkspiegel mit fortschreitender Vergiftung eine deut- 
liche Erhöhung. 


Die Befunde lassen sich, wie wir sehen werden, gut mit den’Untersuchungs- 
tesultaten über Digitaliskumulationen usw. vereinbaren. Folgende Erklärung 
scheint mir für unsere Befunde die gegebene zu sein: Die Digitaliswirkung erfolgt 
dadurch, daß Calciumionen frei werden; es kommt zu einer Vermehrung derselben 
im Blut, wie sie in der Tat wenige Minuten nach einer Digipuratinjektion nach- 
gewiesen werden konnte. Diese führt analog der Calciuminjektion, sich nur durch 
die Intensität unterscheidend, zu den bekannten Wirkungen. In der Tat konnten 
wir uns auch bereits beim Menschen von der Gleichheit der Wirkung beider Mittel 
im Anschluß an die Injektion überzeugen. Die sekundäre Calciumverminderung 





t) Die Untersuchungen wurden gemeinsam mit Stockhausen nach der de Waard- 
schen Methode angestellt und werden gesondert veröffentlicht. Blutkalkunter- 
Suchungen sind, soweit ich die Literatur übersehe, nach Digitalismedikation nur 
von Edens angestellt worden; er fand, wie sich gut mit den folgenden Befunden 


, vereinbaren läßt, bei Digitalis-Bigeminie hohe Kalkwerte. 


426 E. Billigheimer: Vergleichende Untersuchungen über die Wirkung 


nach der Injektion mag wohl dadurch zustande kommen, daß der relativ kalkarme 
Herzmuskel, und nach früheren Untersuchungen von Schmiedeberg und neueren 
von Schoen auch der quergestreifte Muskel, das Calcium an sich reißt, sei es durch 
Adsorption, sei es zu einer festen Bindung (Gottlieb, Pietrkowski). Sind die Muskeln 
durch die fortschreitende Digitalisierung mit Calcium „gesättigt“, so muß es 
bei weitergehender Digitalisverabreichung und damit auch weiterer Mobilisierung 
von Caleiumionen zu einer Stauung, d. h. einer Vermehrung derselben im Blute 
und damit zu der dauernden, spezifischen Vergiftungswirkung der Digitalis kommen. 
Es bleibe dahingestellt, wie die „Sättigung‘‘ des Muskels zustande kommt. Man 
kann an chemische Bindung denken, man mag sich vorstellen, daß durch die 
Anreicherung mit Calcium eine Membrandichtung im Hoeberschen Sinne oder 
eine Permeabilitätsherabsetzung nach Eimbden oder Schrumpfungsprozesse nach 
Untersuchungen von Riesser und Neuschloss stattfinden. Jedenfalls scheinen wir 
hier einem wichtigen biologischen Problem gegenüberzustehen. Calcium schützt 
sich mit Hilfe einer der angedeuteten, physikalisch-chemischen Prozesse gleichsam 
vor sich selbst, und verhindert auf diese Weise von einem bestimmten Zeitpunkt 
ab regulatorisch ein weiteres Eindringen seiner Ionen in die Zelle, indem es selbst 
— um einen Vergleich nach Embden zu gebrauchen — die Türen schließt. 

Die Untersuchungen und Vorstellungen stehen nicht nur in völliger Parallele 
zu denen Gotiliebs über die kumulative Wirkung der Digitalissubstanzen, sondern 
bilden auch eine weitere Ergänzung derselben, in dem Sinne, daß die Digitalisgift- 
wirkung doch in engster Beziehung zum Calcium zu stehen scheint. Nach Gottlieb ver- 
schwindet der größte Teil der intravenös gegebenen Digitalissubstanzen rasch ausdem 
Blut, was durch die Aufnahme ins Gewebe erklärt wird. ‚Die Aufnahme des Giftes 
in die giftempfindlichen Gewebe bedingt die Vergiftung. Deshalb ist stets eine 
Latenzzeit vorhanden, ehe die Vergiftung auf den Höhepunkt gelangt. Während 
der Latenzzeit wird das Gift aus dem Blut aufgenommen, d. h. bis zur wirksamen 
Konzentration in den giftempfindlichen Organen gespeichert. Mit der zunehmenden 
Sättigung der Gewebe nimmt die Aufnahme weiterer Giftmengen ab.‘ 

Gottlieb und Takayanagi erwiesen ferner nach kumulierender Vorbehandlung 
die Überempfindlichkeit des Herzens gegen nachfolgende Digitalisgaben durch 
die intravenöse Injektion einer sonst unterschwelligen Dosis. Dementsprechend 
konnten wir in unseren Versuchen an sich noch nicht merkliche Digitalisgaben 
beim Menschen an einer Verstärkung der Calciumwirkung erkennen. Es könnte 
dieses Resultat analog den Tierversuchen als weitere Stütze für die Anschauung 
dienen, daß die Digitaliswirkung anscheinend eine Calciumwirkung ist. Freilich 
müssen wir uns bewußt bleiben, daß das Calcium in dem Zusammenspiel der 
Ionen, vielleicht nur ein wenn auch wichtigster Faktor bei der Digitaliswirkung 
ist und auch andere Ionen, die wir nicht untersucht haben, dabei eine Rolle spielen. 


Noch ein Wort zu der differenten Digitalisempfindlichkeit bei Men- 
schen mit Ca-armem und Ca-reichem Blut. Es ist durchaus denkbar, 


daß in ersterem Falle das Calcium ausgiebiger und rascher in das Gewebe 


bzw. in den Muskel aufgenommen wird. Das könnte z.B. die ver- 


blüffend rasche Caleciumwirkung im tetanischen Anfall erklären. Die 
günstigen Bedingungen für die besonders rasche Aufnahme wären da- 
durch gegeben, daß infolge der Kalkarmut die Permeabilität der Gewebe 
als erhöht (Embden), bzw. die Abdichtung der Grenzmembranen als 
verringert (Hoeber) betrachtet werden kann. Die rasche Giftwirkung, 


beim Menschen mit niedrigem Kalkspiegel stimmt überein mit der von 
Loewi festgestellten Caleiumüberempfindlichkeit bei Caleiumverarmung 





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| 
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und Wirkungsweise des Caleciums und der Digitalis. 427 


und mit den Untersuchungen Hoffmanns, wonach kalkarm ernährte 
Herzen durch Digitalis sehr rasch toxisch beeinflußt werden. Im 
Gegensatz dazu könnte man sich bei der Digitalisunempfindlichkeit 
der Menschen mit von vornherein hohem Kalkspiegel vorstellen, daß 
die auch im Gewebe relativ hohe Caleiumkonzentration ein weiteres 

Eindringen von Calciumionen in die Zellen infolge Abdichtung erschwert 
bzw. ganz verhindert. 

Bei diesen Erörterungen müssen wir allerdings berücksichtigen, daß 
die von uns in der Klinik beobachtete Digitaliswirkung sich weniger auf 
den Herzmuskel selbst, als vielmehr auf die nervösen Apparate erstreckt; 
dies mag daran liegen, daß die Äußerungen letzterer rascher in Er- 
scheinung treten und leichter faßbar sind als die Wirkung auf den 
Muskel selbst. Es ändert dies daher kaum etwas an der prinzipiellen Auf- 
fassung der Wirkungsart der Digitalis in dem dargelegten Sinne. 

Die eigenartigen Calciumpulskurven in den späteren Stadien der 
Digitalisierung boten zunächst der Deutung große Schwierigkeiten. 
Um ihr Zustandekommen zu verstehen, müssen wir uns mit den Rhyth- 
 musschwankungen einerseits nach Calcium, andererseits nach Digitalis 
beschäftigen. Unsere Kenntnisse bezüglich der Digitaliswirkung auf 
‚den Herzrhythmus gehen vor allem auf Wenckebach zurück und wurden 
| später durch Edens, Weil, insbesondere aber durch Pongs an unserer 
| Klinik’ noch wesentlich erweitert. Tierexperimentell befaßten sich in 
i erster Linie Rothberger und Winterberg mit dieser Frage. Ich halte mich 
‚hier in der Hauptsache an die Ausführungen von Pongs; dabei ist es 
notwendig, einige methodische Bemerkungen einzuflechten, da ich von 
den gleichen Mitteln wie Pongs beim Studium der Caleiumwirkung Ge- 
brauch machte. 





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N Pongs zog sog. Begleitprüfungen heran, um auf diese Weise tiefer in den 
‚ Wirkungsmechanismus der Digitalis einzudringen. An 1. Stelle stand neben der 
andigen Beobachtung des Pulses bei oberflächlicher Atmung die tiefe In- und Ex- 
Spiration, die schon von Hering und Eppinger und Hess als Vagusfunktionsprüfung 
‚verwandt wurde. Pongs bezeichnet sie als Prüfung auf die maximale Atmungs- 
schwankung. Als Modifikation dieser Tiefatmung verwandte er ausgiebig den 
Dauerinspiriumsversuch, den Albrecht in die Klinik einzuführen versuchte. Er 
besteht aus 3 Phasen: dem Inspirium, dem Anhalten des Atems auf der Höhe des 
‚ Inspiriums ohne zu pressen bis höchstens 18 Sek., und dem Exspirium. Als weitere 
 Prüfungsmethode kam der Vagusdruckversuch bzw. der Bulbusdruck nach Aschner 
‚ zur Verwendung. Der Zwischenschaltung des Trigeminus als nicht ganz einwand- 
‚ frei steht gegenüber, daß der Vagusdruck nach Herings Anschauungen eigentlich 
ein Carotisdruck ist. Zu erwähnen wäre noch der Atropinversuch, von dem Pongs 
Gebrauch machte; Atropin bewirkt initial oft eine Pulsverlängerung; dieses Atropin- 
reizstadium, das ich selbst nicht verwandte, erwähne ich nur deshalb, weil es, wie 
sich zeigen wird, in einigen Äußerungen eine auffallende Ähnlichkeit mit der 
Calciumwirkung aufweist. 

Nach Pongs sind im Dauerinspiriumsversuch 2 verschiedene Reaktionen 
zu unterscheiden: 1. Die Primärreaktion — charakterisiert durch Beschleunigung 


Z. $. klin. Medizin. Bd. 100. | 28 


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428 E. Billigheimer: Vergleichende Untersuchungen über die Wirkung 


als Effekt des Inspirationsaktes, Verlangsamung als Effekt des Dauerinspiriums, 
Beschleunigung und Rückkehr zur Norm als Effekt der Exspiration; als Unter- 
arten trennt er einen Beschleunigungstyp und einen Verlangsamungstyp. Bei 
ersterem schnellt der Puls im Inspirium in die Höhe, kehrt aber bei Dauerinspirium 
lediglich bis zum Ausgangsniveau zurück; diesen Modus findet man vor allem bei 
fallendem Frequenzspiegel im Gegensatz zum Verlangsamungstyp, der in der Norm 
mehr bei höherer Frequenz vorkommt; hierbei handelt es sich um ein Sinken der 
Frequenz im Dauerinspirium, unter Umständen weit unter das ursprüngliche 
Niveau. Z. B.: 

69 71 I: 75 D. 1.43 43 usw. = Verlangsamungstyp; 

51 52 I: 75 80 D.I.46 46 usw. Beschleunigungstyp. 

2. unterscheidet Pongs die recht seltene Sekundärreaktion, bei der lediglich 


während des Dauerinspiriums statt der mehr oder weniger andauernden Verlang- 


samung ein Anstieg über den Ausgangswert hinaus, reaktiv eine Verlangsamung 
eintritt. ’ 

Hier nur in Kürze die uns speziell interessierenden Punkte: die Tiefatmungs- 
ausschläge bedeuten ein „vegetatives Stigma‘ (von Bergmann), abhängig vom Zu- 
stand des vagischen Apparates, generell überwiegt der Einfluß der Peripherie, 
jedoch ist das Zentrum nicht auszuschließen. Der Angriffspunkt des Atropins im 
Reizstadium wird als peripher aufgefaßt, dabei tritt Pulsverlangsamung ein; 
es bleibt in diesem Zustand eine gewisse Überempfindlichkeit erhalten, die sich 
vorwiegend respiratorischen Beschleunigungsimpulsen gegenüber äußert, gelegent- 
lich aber auch gegen Vagusdruck und Dauerinspirium; die maximale Atem- 
schwankung kann bis zu 50% zunehmen, der Verlangsamungstyp kehrt sich in den 
Beschleunigungstyp um. Die von der Atmung unabhängige Arhythmie (Sinusarhyth- 
mie; kurzfristige Wellen: Verlangsamungstäler über 1—2 Inspirationsakte hinweg, 
Beschleunigungen über entsprechende Zahl von Exspirationen; langfristige Wellen: 
die Frequenzsenkungen oder -anstiege erstrecken sich über 20 Pulse oder unter 
Umständen über noch längere Zeit) wird im Atropinreizstadium verstärkt, aber nicht 
als solche hervorgerufen. 

Bei der Digitaliswirkung auf Pulsfrequenz und Wirkung unterscheidet Pongs 
praktisch 4 Stadien. Hier kommen wir dem nahe, wodurch die Calviumkurven 
im Stadium fortgeschrittener Digitalisierung ihre Erklärung finden sollen. 


I. Stadium: Latentbleiben der Wirkung bei oberflächlicher Atmung; ver- 
mehrte Tiefatmungsausschläge, gesteigerter Vagusdruckeffekt, stärkere Brady- 
kardie im Atropinreizstadium; im Dauerinspirium Wellenbildungen evtl. Frequenz- 
halbierung. 

1I. Stadium: Sichtbarwerden der Wirkung schon bei oberflächlicher Atmung; 
ein typischer Pulsus respiratorius taucht auf, ein bereits vorhandener nimmt an 
Ausschlaggröße zu. Die Tiefatmungsausschläge werden abnorm groß. Es setzt 
eine starke Wellenbildung ein, Beschleunigungsberge wie Verlangsamungstäler 
können sich über mehrere oberflächliche Respirationen erstrecken. Beschleu- 
nigungszacken, ausgelöst durch ein etwas tieferes Exspirium, können längere Zeit 
hindurch bestehen, ebenso Verlangsamungstäler. Je tiefer der Puls absinkt, desto 
länger können diese Pulsverlangsamungstäler anhalten. | 

Ill. Stadium: Der Puls wird langsam; Vagusdruckempfindlichkeit und Atro- 
pinverlangsamung nimmt stark ab. Im Dauerinspirium sind die Exkursionen jetzt 


vom Beschleunigungstyp. Der langsame Puls wird von mächtigen, bis zu Minuten 


andauernden Beschleunigungsbergen unterbrochen. 


IV. Stadium: Höhepunkt der Wirkung. Der Puls hat seine maximalste Ver- 


langsamung erreicht. Bei dieser äußersten Reizung ist eine weitere Verlangsamung 
durch Vagusdruck, Atropin, Dauerinspirium nicht mehr möglich. 


und Wirkungsweise des Caleiums und der Digitalis. 429 


Pongs stellt sich einen Kampf zwischen Sinusknoten und Vagus vor in dem 
Sinne, daß sich der gereizte Sinusknoten gegenüber dem immer mehr an Einfluß 
gewinnenden Vagus zur Wehr setzt, woraus die immer wieder durchbrechenden Be- 
schleunigungswellen resultieren. Erst wenn der Sinusknoten im Kampf unterliegt, 
wird als Ergebnis der langsame Vaguspuls festgestellt. Nicht der Vagusapparat er- 
müdet, wie Wenckebach meint, sondern der Sinusknoten. 


Vergleichen wir nun mit diesen Tatsachen einmal unsere Calcium- 
kurven während der Digitalisierung und zweitensdie Rhythmusänderungen 
nach Calcium an Hand einiger Begleitprüfungen. 

Beginnen wir mit dem letzten Stadium. Die Erklärung der Unbe- 
einflußbarkeit des Pulses durch Calcium im Maximalstadium der Ver- 
giftung, d.h. während der größtmöglichsten Pulsverlangsamung macht 
von vornherein keine allzu großen Schwierigkeiten. Denn man kann 
sich leicht vorstellen, daß bei äußerster Reizung des Vagus ein weiterer 
‚Reiz zu keinem anderen Erfolg führen wird. Den Parallelismus mit den 
Pongsschen Untersuchungen habe ıch schon erwähnt. Es liegen aber 
auch Tierversuche vor, die in Übereinstimmung mit diesen Befunden 
stehen. Pentimalli prüfte die elektrische Vaguserregbarkeit bei fort- 
laufender Vergiftung mit Strophantin. Während er zu Beginn eine 
Zunahme der Erregbarkeit fand, beobachtete er im Höhestadium oft 
eine Herabsetzung. 

Wir haben nun vor allem die Einflüsse zu untersuchen, durch die 
‚die zwischen dem ersten und letzten Stadium gewonnenen Calciumkurven 
bei Digitalisverabreichung zustande kommen. Bei stärkerer Vagus- 
reizung durch Digitalis kommt es zu den oben besprochenen Arhythmie- 
formen, wobei der Puls in kürzerem und längerem Wechsel bald rasch, 
‚bald langsam sein kann und zu den von der Atmung mehr oder weniger 
unabhängigen Beschleunigungswellen und Verlangsamungstälern führt. 
Die (als regulatorische Reaktionserscheinung aufzufassenden ?) Pulsbe- 
schleunigungen nach Digitalis werden durch Calcium, je nach dem Grade 
E Digitalisierung, zum Teil verstärkt, besonders die bei tiefer Inspiration, 
zum Teilauch unterdrückt, besondersgegen den HöhepunktderVergiftung. 








Hough sah bei fortgesetzter elektrischer Vagusreizung bei Kalt- und Warm- 
blütern den Puls oft sogar bis zur Ausgangsfrequenz zurückkehren, was er als sog. 
Entrinnen des Herzens bezeichnet und auf eine Reaktionserscheinung des Sinus- 
'knotens bei stärkerer Beanspruchung durch die Hemmungsnerven zurückführt. 





| In den mittleren Stadien der Digitalisierung hat das Calcium einen 
‚oft nur ganz vorübergehenden Einfluß auf die Beschleunigungsimpulse, 
‚wodurch es zu der Abwandlung der Caleiumkurven in diesen Perioden 
"kommt. Wir können nach obigen Beispielen folgende Stadien unter- 
‚scheiden: 
ı 1. bei relativ hohem Puls starker Einschnitt in die Kurve. Der 

Puls steigt aber mehr oder weniger rasch wieder an, kann sogar die Aus- 
‚gangsfrequenz übertreffen. 

| 28* 





430 E. Billigheimer: Vergleichende Untersuchungen über die Wirkung 


2. Bei relativ langsamem Puls nur geringe Pulsverlangsamung, 
auch diese hält unter Umständen nur kurze Zeit an, wenn die Beschleu- 
nigungswellen rasch zum Durchbruch kommen; sie kann sich aber auch 
über längere Zeit erstrecken, wenn zu noch späterer Zeit ein Verlang- 
samungstal lange durch den Calciumreiz festgehalten wird. 

3. Der Puls steigt über das Ausgangsniveau an, d. h. es wurde in 
der Vorperiode kein beschleunigter Puls beobachtet; dieser tritt — 
vielleicht zufällig — zum ersten Male im Anschluß an Calcium auf. 

Der Parallelismus mit den Pongsschen Stadien ist so einleuchtend, 
daß er kaum einer näheren Erörterung bedarf. Die 3 aufgezählten 
Möglichkeiten entsprechen dem 2. und 3. Stadium der kürzeren und 
längeren Wellenbildung. Im 1. Stadium der beginnenden Vagusreizung 
erzielen wir mit Calcium die langanhaltende Pulsverlangsamung; im 
4. Stadium, dem Höhepunkt der Vagusreizung, ist kein Calciumeffekt 
mehr zu erzielen. 

Bevor ich auf eine weitere Besprechung über den Zustand der extra- 
kardialen Nerven bei fortgeschrittener Digitalisierung und über den 
Angriffspunkt des Calciums eingehe, ist es notwendig, den Einfluß des 
Calciums auf den Sinusrhythmus zu erfahren. Bei der Auffassung, daß 
die Digitalis im gleichen Sinne wie Calcium wirkt, und bei der bis 
jetzt selbst auf die Ausnahmen sich erstreckenden völligen Gleichheit 
der Digitalis- und Caleiumwirkung war es von besonderem Interesse, 
festzustellen, ob diese Übereinstimmung in der Wirkung auch bezüglich 
der Rhythmusschwankungen beim Menschen vorhanden ist. 

Es wurden im ganzen 50 Patienten vor und während der Digitali- 

sierung sphygmographisch untersucht und auf den Kurven die einzelnen 
Pulslängen nach der Tabelle von Pongs in Minutenpulse umgerechnet. 
* Vor der Calciuminjektion und auf der Höhe der Caleiumwirkung wurden 
beobachtet: 1. der Einfluß der oberflächlichen Atmung; 2. der Einfluß 
der Tiefatmung; 3. der Einfluß des Dauerinspiriums; 4. der Einfluß des 
Vagus bzw. des Bulbusdruckes. 

Um die Einheitlichkeit des Textes zu wahren, befindet sich am Schluß 
der Arbeit die zahlenmäßige Wiedergabe je eines charakteristischen 
Beispiels der hauptsächlichsten Rhythmusschwankungen nach Calcium. 
Zusammenfassend ergibt sich folgendes: 

1. Respiratorische Arhythmie bei oberflächlicher Atmung: eine nicht, 
vorhandene kann durch Calcium wachgerufen werden, eine vorhandene 
wird wesentlich verstärkt; Pulsus respiratorius, durch Digitalis hervorge- 
rufen, verschwindet unter dem Calciumeinfluß zugunsten der Bradykardie. 

2. Respiratorische Arhythmie bei tiefer Atmung: sie wird nach 
Calcium wesentlich verstärkt, besonders in den ersten Stadien der 
Digitaliswirkung; dabei kehrt sich der Verlangsamungtsyp meist in den 
Beschleunigungstyp um. | 





und Wirkungsweise des Calciums und der Digitalis. 431 


3. Nicht vorhandene, von der Atmung unabhängige Rhythmus- 
schwankungen (Sinusarhythmie) werden, besonders nach längerer 
Digitalismedikation, durch Calcium hervorgerufen, vorhandene wesent- 
‚lich verstärkt oder bei sehr vorgeschrittener Digitalisierung durch den 
das Übergewicht gewinnenden Vagusreiz im Sinne der Pulsverlang- 
'samung für längere Zeit unterdrückt. Calcium an sich kann Irregulari- 
täten vom Typus des Sinusblocks hervorrufen. In diesen spezifischen 
Wirkungen unterscheidet es sich grundsätzlich vom Atropin. 

4. Die verlangsamten Pulse im Dauerinspirium können durch Calcium 
verlängert werden, bei vorgeschrittener Digitalisierung treten im Dauer- 
inspirium auch nach Calcium Wellenbildungen auf. 

5. Die Pulsverlangsamung während des Bulbusdruckes wird durch 
"Calcium wesentlich verstärkt; nicht aber in den beiden letzten Stadien 

der Digitalisierung, wo der Puls sich seiner maximalen Pulsverlang- 
samung nähert. 
Es kann nach diesen Befunden keinem Zweifel unterliegen, daß auch 
hinsichtlich des Einflusses von Calcium auf den Herzrhythmus absolute 
‚Identität mit der Digitaliswirkung besteht, und zwar bezieht sich diese 
‚auf sämtliche Möglichkeiten. Wie bereits erwähnt, unterscheidet sich 
hierin grundsätzlich die Caleiumwirkung von der initialen pulsverlang- 
samenden Wirkung des Atropins. Während dieses nur vorhandene 
Digitaliswirkungen verstärkt, kann Calcium die spezifischen Wirkungen 
(Sinusblock, Sinusarhythmie) selbst auslösen. 

Welche weiteren Anhaltspunkte können wir aus den letzten Unter- 
suchungen für den Angriffspunkt des Caleciums und somit auch der 
Digitalis gewinnen? Aus den bisherigen Untersuchungen ergab sich, 
daß Calcium 1. an den peripheren Vagusendigungen, 2. peripher davon 
an dem Hemmungszentrum im Herzen selbst angreift und 3. eine er- 
höhte Ansprechbarkeit der sympathischen Acceleransfasern bewirkt. 
Wesentliche Schwierigkeiten in der Beurteilung des Angriffspunktes 
bereitet die erhebliche Verstärkung der Tachykardieperioden durch 
Calcium, besonders während des Digitaliszustandes, sei es in tiefem 
Inspirationsakt, sei es bei der Bildung von Beschleunigungswellen, 
‚sei es bei der paradoxen paroxystischen Steigerung der Tachykardie 
im Falle Kurve 16 (s. u.). 

Rothberger und Winterberg nehmen für die Tachykardie sowohl 
nach Calcium (siehe Abschnitt 3B) wie nach Digitalis eine vorüber- 
gehende Reizung des Sinusknotens an.- Dieser Meinung schließt sich 
zur Deutung der Sinusarhythmie auch Pongs an. Der Sinusknoten setze 
sich den immer stärker werdenden Vaguseinflüssen zur Wehr, bis letztere 
endgültig die Oberhand gewinnen, was in der schließlichen Pulsverlang- 
'samung seinen Ausdruck findet. Im Gegensatz dazu faßt Wenckebach 
‚die Beschleunigungswellen als Ermüdungssymptom des vagischen 











432  E. Billigheimer: Vergleichende Untersuchungen über die Wirkung 


Apparates auf. Ganz anders beurteilt 7. H. Meyer die Frequenzsteige- 
rung bei der Digitaliswirkung. Er bringt die pulsbeschleunigende 
Digitaliswirkung in Zusammenhang mit einer gesteigerten Reizbarkeit 
des Accelerans (Sympathicus) und meint, daß die Digitalis auf beide 
Nervenapparate des Herzens wirkt, und zwar nicht nur in Hinblick auf 
die Frequenz, sondern auch auf die tonische Gleichgewichtslage, die 
Reizleitung und die Reizempfindlichkeit. 

Bei gleichzeitiger Verstärkung der systolischen (Sympathicus) und diasto- 
lischen (Vagus) Funktion überwiege letztere; bezüglich der Frequenz und Reiz- 
leitung überwiege die Hemmung (Pulsverlangsamung); nur bei überkräftigem Sym- 
pathicustonus könne die Digitalis diese Wirkung nicht erzielen. Bezüglich der Reiz- 
empfindlichkeit überwiege wiederum die Wirkung auf sympathische Apparate 
(Extrasystole). 

Um weitere Einsicht in das Zustandekommen der Pulsbeschleunigung 
nach Calcium und Digitalis zu erhalten, habe ich zur Prüfung der An- 
sprechbarkeit des sympathischen Herzapparates, analog den Adrenalin- 
versuchen nach Calcium, die Adrenalin-Pulsreaktion vor und nach Digi- 
talis geprüft. 

















Tabelle II. 
mm een 
Pulsreaktion nach Adrenalin Differenz 
Name und Alter | Ne Bi Ap Er Be 
vor Digitalis nach Digitalis vor Digitalis nach Digitalis 
1.0.36. Jahre „.. „1270-1100, 100 21650 40 30 
2. K,, 76 Jahre, ..... ASgorel An Home 18 9 
3. Sch. U., 18 Jahre. | 75-102 71 78294 > 16 
44,840 Vahren. Tr: | 80—125 | 80— 98 45 18 
8... B.,:47 Jahre: ; 2.1.6090. 7 65105 30 40 
BaRK.28 Jahres \ . 75— 90 65— 90 ı 15 2) 
1,3 BER16 Afahra see | 85—105 | 70-115 20 45 
3. P= IH. 59 @Jahre |. 70—- 80 | 55-9 10 | 40 
9. Schm., 32 Jahre . | 70-100 | 55-102 | 30 | 47 
Il | 








Adrenalinpulsreaktion nach Digitalis eine geringere; bei diesen 4 Fällen 
ist keine Pulsverlangsamung infolge der Digitalisierung festzustellen. 
Bei den übrigen 5 Fällen dagegen war die Adrenalinreaktion nach Digi- 
talis deutlich gesteigert; bezeichnenderweise ist bei 4 von diesen Fällen 
im Gegensatz zu den ersten 4 Patienten eine pulsverlangsamende 
Digitaliswirkung zu beobachten. Es ist demnach, ebenso wie nach Oal- 
cium, auch durch Digitalis die Ansprechbarkeit des sympathischen Appa- 
rates gesteigert worden. 

Diese Befunde beim Menschen decken sich weitgehend mit den 
H. H. Meyerschen Anschauungen. Die vermehrte Ansprechbarkeit des 
Sympathicus auf Reize bei Digitalisierung spricht in der Tat dafür, daß die 


| 
| 
| 
| 
| 
| 
Aus der Tabelle ersehen wir folgendes: bei 4 von 9 Fällen ist die 
Beschleunigungsimpulse durch den Accelerans befördert werden. Wird 


mm ee 1 


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Ep = SER, 





mn 





und Wirkungsweise des Calciums und der Digitalis. 433 


der Puls durch Calcium in einem vorgeschrittenen Digitalisstadium 
auf ein tiefes Niveau herabgedrückt, so überwiegt der rein bradykardische 
Vagusreiz bei oberflächlicher Atmung, die Atemschwankungen werden 
minimal; wird aber durch tiefe Atmung den Beschleunigungsimpulsen 
Gelegenheit geboten, in Erscheinung zu treten, so kommt die erhöhte 
Reizbarkeit hierbei erst richtig zum Ausdruck: die Frequenzzunahme 
im Inspirium wird gerade durch Calcium enorm vermehrt. Ob daneben 
tatsächlich auch der Sinusknoten selbst einer direkten Reizung unter- 
liegt, erscheint auf Grund dieser Untersuchungen kaum mehr notwendig 
und ist durch Versuche am Menschen nicht sicher zu entscheiden. Für 
die klinische Betrachtungsweise kommt es, wie schon erwähnt, in erster 
Linie darauf an, die Art der Reaktion als solche zu erfassen und in dem 


speziellen Fall sich klar zu sein, daß das Förderungszentrum für die 
 Reizbildung mit dem Sympathicus ein funktionelles System gegenüber 


dem Hemmungssystem bildet. Wir stehen hier wiederum vor der bereits 
im Abschnitt 3 B besprochenen bedeutungsvollen Tatsache, daß im 
Vagusreizzustand der Sympathicus — wohl aus Gründen der Regulation, 
der „„Zweckmäßigkeit“, d.h. zur Aufrechterhaltung ungestörter Organ- 
funktion (Bier) — in einen Zustand erhöhter Ansprechbarkeit versetzt 
wird. Ob die Beschleunigungsimpulse gerade während der Digitalis- 
bradykardie durch Nachlassen des Vagustonus (Ermüdbarkeit Wencke- 
bachs) entstehen, ist so nicht zu entscheiden, wenngleich der kräftige 
Verlangsamungsausschlag nach Calcium zur Zeit der Frequenzerhöhung 
während einer Beschleunigungsperiode nicht dagegen spräche. 

Bis jetzt war fast ausschließlich von vorübergehenden Pulsbe- 


schleunigungen nach Calcium bzw. Digitalis die Rede, die sich im großen 


ganzen durch ein leichteres Hervortreten sympathischer Impulse 
infolge vermehrter Ansprechbarkeit sympathischer Apparate erklären 
ließen. Die Annahme einer direkten Reizung dieser Elemente oder des 
Sinusknotens blieb dahingestellt. Daß dies aber unter besonderen Um- 
ständen möglich ist, dafür könnten folgende Versuche an Patienten mit 
Aortenklappeninsuffizienz sprechen. Diese Kranken reagierten fast durch- 
weg auf Calcium nicht nur nicht mit einer Pulsverlangsamung, sondern 
paradoxerweise meist nur mit Pulsbeschleunigung. Die negative Puls- 
reaktion könnte, wie bereits früher erörtert, vielleicht durch eine maximale 
Vagusreizung erklärtwerden. Zur paradoxen Pulsreaktion gehört aber nach 
unseren Auseinandersetzungen eine erhöhte Ansprechbarkeit auf sym- 
pathicotrope Mittel. Daß diese tatsächlich beim Aorteninsuffizienzherzen 
vorhanden ist, läßt sich leicht mit Hilfe der Adrenalinreaktion beweisen. 

Die Pulse steigen bei 3 Fällen zwischen 50 und 90% an; die beiden letzten 
Fälle, besonders der letzte, kann insofern nicht voll mitgerechnet werden, als 
bei dieser Patientin mächtige Odeme vorlagen, was die Adrenalinwirkung sicherlich 


stark beeinträchtigt haben mag. Trotzdem ist die Blutdruckreaktion noch 
‚eine recht ansehnliche. 


434 E. Billigheimer: Vergleichende Untersuchungen über die Wirkung 


Tabelle III. Adrenalinreaktion bei Aortenklappeninsuffizienzkranken. 














































































































Puls. 
sms m me mu mg Es mn mn m nn m 
a | Nach 1 mg Adrenalin subcutan 
a ne irn. | 5 Min. | 10 Min. |20 Min. 130 Min. 40 Min. | 50 Min. 60 Min. |90 Min. |1%0Mi 
1. Schm., 80 106 88 80 84 84 100 120 100 100 | 110 
23 Jahr 
2. ars 80 98 110 108 116 126 110 98 104 94 84 
64 Jahr 
Da ed 54 56 50 50 60 68 70 96 76 60 
39 Jahr 
4"Br.; 78 76 80 90 92 94 90 84 82 80 — 
46 Jahr 
DoKra 12 76 76 76 74 2 78 76 72 — e 
66 Jahr | | 
Blutdruck. 
1 19 180 170 
j Ü 0) 0 
D) 200 205 220 215 190 165 155 
0 0 0 0 0 0 0 
3 170 155 160 165 205 205 220 210 190 
; Ba24a0 0) 35 25 0 0 35 35 
A 180 185 205 210 195 185 180 
: 45 50 55 45 50 50 50 
5 19029-195 195 180 200 195 190 
03.3 220281280 sul 7E 03 SOSE 








Die Calciumreaktion in Verbindung mit der Adrenalinreaktion deckt inter- 
essante Veränderungen in der Ansprechbarkeit des Aorteninsuffizienzherzens auf, 
deren Analyse im einzelnen uns vorläufig versagt bleibt, und die wir durch unsere 
Versuche am Menschen allenfalls vermuten können. Die negative Reaktion könnte, 
in Analogie zu dem funktionellen Typ des Adrenalinherzens, auf die fehlende An- 
sprechbarkeit des Herzens (bei maximalen Vagusimpulsen?) zurückzuführen sein. 


Das Aorteninsuffizienzherz zeigt also erhöhte sympathische Ansprech- 
barkeit. Nehmen wir nun zur Erklärung der paradoxen Caleiumpuls- 


beschleunigung bei diesen Kranken die Untersuchungen von Kolm und 


Pick über die inverse Wirkung von Herzgiften zu Hilfe. Ein Gift, das 
gewöhnlich den Vagus reizt (z. B. Muscarin), wirkt paradox, d.h. auf 
den Sympathicus, wenn das betreffende Organ durch entsprechende 
Mittel (z. B. Adrenalin) vorher in einen Sympathicuszustand versetzt 
worden ist. Diese Umkehr der Wirkung gelingt auch mit Sympathieus- 
reizern auf ein mit Vagusmitteln vorbehandeltes Organ, so daß jetzt 
z.B. Adrenalin zu einer Vagusreizung führt. In Analogie zu diesen Unter- 
suchungen kann die paradoxe Pulsbeschleunigung bei der Aorteninsuffi- 
zienz aufgefaßt werden als inverse Caleiumwirkung auf ein Organ, beidem 
in erhöhtem Maße sympathische Impulse tätig sind. Es stimmt diese An- 


| 


und Wirkungsweise des Caleiums und der Digitalis. 435 


nahme auch mit der Anschauung von F. Kraus überein, der beider Aorten- 
klappeninsuffizienz dem Sympathicus vermehrte Tätigkeit zuschreibt. 

Es ist hier am Platze, noch auf eine andere Art der Pulsbeschleunigung 
‚nach Calcium einzugehen, die eigentlich eine scheinbare ist und auf ganz 
andere Weise wie die vorher besprochene zustande kommt. 
Lundsgaard verwertete den Unterschied in der Frequenz des Herzens 
und des Radialpulses, der durch die verschiedenen Füllungsgrade der 
‚ Ventrikel zustande kommt, diagnostisch und prognostisch bei Patienten 
mit unregelmäßigem Puls. Er sagt dabei wörtlich: „Es kommt nicht 
selten vor, daß man die Pulsfrequenz während des Anfangs einer Digi- 
talisbehandlung bei einem Patienten mit Arhythmia perpetua steigen 
sieht. Die Erscheinung bedeutet nicht eine mangelhafte, geschweige 
‚denn eine schädliche Wirkung der Behandlung, im Gegenteil: sie be- 
‚deutet nur, daß eine größere Anzahl der Herzschläge wegen einer besseren 
Füllung oder einer besseren Kontraktion der Ventrikel bis an das Hand- 
| gelenk „gelangen“. Dasselbe konnte ich bei der Flimmerarhythmie 
auch nach Calcium öfters beobachten. Zu Beginn der Caleiumwirkung 
steigt der Radialpuls infolge der besseren Füllung der Ventrikel an, 
während, elektrokardiographisch beobachtet, die Zahl der Ventrikelpulse 
abnimmt. Aus Raummangel bleiben entsprechende Kurven weg. 

Die weitgehende Übereinstimmung der Calecium- und Digitaliswirkung 
bezog sich, wie gesagt, auch auf die Ausnahmen. Besonders eindrucks- 
voll gestaltete sich dies bei den Kranken mit Aortenklappeninsuffizienz, 
'bei denen Calcium zu keinem pulsverlangsamenden Effekt führte und 
‚dementsprechend auch Digitalis schon nach Oorrigans Beobachtungen 
häufig wirkungslos ist. Als Beispiel dienen folgende Kurven. 





740 
Puls 
730 





= Er 5 6 
Zeit m Stunden 
Kurve 16 a. ö 770 


FL 
AR 
Jam 





770 
Puls 
700 






90 y 
3 er s al 
0 IE EP: 17 EN 7 ER 1 7 4 2 710" 20' „8040 
Zeit ın Miruter Zeit ın Minuten 
Kurve 16b. Kurve 16c. 


Es handelte sich hierbei um eine Patientin mit dekompensierter Aorten- 
klappeninsuffizienz und häufigen ventrikulären Extrasystolen. Letztere 


436 E. Billigheimer: Vergleichende Untersuchungen über die Wirkung 


sprechen für eine besondere Reizbarkeit der dem sympathischen System 
zugehörigen tertiären Kammerapparate. Rothberger und Winterberg fanden 
nun, daß Calcium die Ansprechbarkeit dieser Gebilde für den Acceleranser- 
höht und daß die gleichzeitige Einwirkung von Calcium bei Accelerans- und 
besonders auch gleichzeitiger Vagusreizung eine ventrikuläre, paroxys- 
male, extrasystolische Tachykardie herbeiführt. Leider konnte damals 
bei der Kranken aus äußeren Gründen kein Elektrokardiogramm an- 
gefertigt werden. Denken wir aber an unsere Untersuchungen über 
die sympathische Ansprechbarkeit des Aorteninsuffizienzherzens und 
bedenken wir, daß bereits von vornherein eine vermehrte Reizbildung 
der tertiären Zentren in unserem Falle vorlag, so liegt es am 
nächsten, die durch die gleichzeitige Verabreichung von Scillaren 
und Calcium hervorgerufene paroxystisch gesteigerte Frequenz (um 
100%) durch eine erhöhte Ansprechbarkeit der sympathischen Kammer- 
apparate zu erklären. Auch hier wiederum das Beispiel einer inversen 
Calcium-Digitalisreaktion durch ein nach der Richtung der sympathischen 
Seite hin orientiertes, krankhaft verändertes Herz. 

Es paßt zu der obigen Erklärung auch die Beobachtung, daß Calcium 
in seltenen Fällen Extrasystolen auslösen kann. 

Als indirekten Beweis, daß Calcium auf die tertiären Reizbildungs- 
zentren im Sinne einer vermehrten Ansprechbarkeit einwirken kann, 
möchte ich noch im Gang befindliche Kaliumuntersuchungen anführen. 

In einer späteren Veröffentlichung sollen zusammenfassend die 
Ergebnisse der Kaliumuntersuchungen mitgeteilt werden. Hier sei nur 
kurz folgendes angedeutet. Eine dem Calcium entsprechende Puls 
verlangsamung sah ich im Gegensatz zu Turan nicht im entferntesten; 
im Gegenteil kann man häufig Pulsbeschleunigung beobachten oder 
gar keine Wirkung auf die Frequenz. Eine höher als 4proz. Lösung 
ist meist sehr schmerzhaft und führt nicht selten zu mehreren Sekunden 
dauernden Herzstillständen. Die Herzstillstände waren bei solchen 
Patienten zu verzeichnen, die eine starke mechanische oder galvanische 
Übererregbarkeit zeigten, was bezüglich der Tetanielehre von besonderem 
Interesse ist. 

Das Kalium ist bekanntlich im Tierexperiment ein strenger Anta- 
sonist zum Calcium und setzt dementsprechend die Reizbarkeit der 
tertiären Herzzentren herab. Ich konnte dies auch in eindeutiger Weise 
beim Menschen beobachten. In 3 Fällen verschwanden die ventrikulären 
Extrasystolen fast vollständig für mehrere Minuten unter der Kalium- 
wirkung, in einem Falle konnte durch fortgesetzte 2tägige 4 proz. 
Kaliuminjektion die Extrasystolie weitgehend gebessert werden; nach 
Aussetzen der Injektion trat sie wieder wie vorher auf. Die Kalium- 
wirkung entspricht in ihrer Gegensätzlichkeit in bezug auf die Einwirkung 
der automatischen Kammerapparate beim Menschen völlig der Calcium- 








und Wirkungsweise des Caleiums und der Diseitalis. 


437 


, wirkung, so daß aus der Wirkung auf die Extrasystolen der indirekte 


| Schluß erlaubt ist, daß Calcium auch beim Menschen die Erregung der 


Tabelle IV. Blutdruck nach Calcium. 


‚ tertiären Apparate im Herzen tatsächlich erhöhen kann. 


E. Die Wirkung des Calciums auf den Blutdruck. 


Der Wirkung des Caleiums auf den Puls haben wir noch die auf den 
Blutdruck an die Seite zu stellen. Die Untersuchungen gingen aus von der ° 
Beobachtung, daß im Anschluß an die Caleiuminjektion die mit dem 
Sphygmographen gewonnenen Pulse häufig an Größe zunahmen. Dieser 
vieldeutigen Erscheinung suchte ich durch Blutdruckuntersuchungen 
nahezukommen. Soweit ich die Literatur übersehe, existieren darüber 
"keine Reihenuntersuchungen. Ich lasse hier eine Auswahl aus einer 
‚größeren Zahl von Versuchen folgen. 








Systolischer Druck 


Diastolischer Druck ”r 


























' vr Diagnose a mm/Hg mm/ Hg Puls 
Alter vor Calc. | nach Calc. | vor Calc. nach Calc. 
1.K.4' :| Asthma 110 115 60 65 90 — 68 
28 Jahre) _bronchiale 
2. Sch. 3! | Fibröse (latente)| 125 130 70 50 70 — 64 
32Jahre | Lungentbe. 
3.Sch.y'| Aktionsherz 105 105 40 30 70 — 60 
18 Jahre 
4.P. 4" Encephalitis 150 160 100 94 70 — 64 
36 Jahre 
5.B. 4" Chronische 120 160 75 80 7068 
48 Jahre Bleivergiftung (58 erst bei 
| sinkendem 
Druck) 
6.H.Q9 Tetanie 120 130 70 64 90 — 68 
40 Jahre 
ER.o' Nephritis 115 125 55 38 100 — 90 
13 Jahre‘ 
8. Sch." | Aorten- 150 175 0 0 75> 70 
23 Jahre _insuffizienz 
EL. || Diabetes 100 108 70 60 45 — 40 
26 Jahre 
10. Ack.g' Mitral- 120 135 50 55 52—>50 
16Jahre insuffizienz 
=2J.0 Hypertonie 160 175 105 125 9075 
=.D.oO Hypertonie 165 130 . 80 65 78 (> nur 
| für 1 Min.) 
— 80 





438 E: Billigheimer: Vergleichende Untersuchungen über die Wirkung 


Die einzigen für uns in Betracht kommenden Untersuchungen wurden von 
Rothberger und Winterberg angestellt. Sie fanden nach Calcium bei der Katze mit 
der Hürtleschen Stromuhr eine bedeutende Zunahme der vom Herzen geförderten 
Blutmenge bei mäßiger Herabsetzung der Schlagfrequenz; sie erklärten die Energie- 
steigerung durch eine Wirkung auf die contractile Substanz. 


Den Untersuchungen von Rothberger und Winterberg entsprechend 


_ finden wir nach Calcium meist eine ganz geringe Steigerung des systo- 


lischen Drucks bei Abnahme des diastolischen Drucks und der Schlag- 
frequenz. Das deutet auch beim Menschen auf eine Vergrößerung des 
Schlagvolumens und somit auf eine Steigerung der Herzarbeit durch 
Calcium hin. Das vergrößerte Schlagvolumen, d.h. Vergrößerung der 
Diastole, Abnahme des diastolischen Drucks scheint somit den großen 
Puls auf dem Sphygmogramm zu bedingen; auch in dem Absinken des 
diastolischen Drucks gleicht Caleium der Digitaliswirkung (Fränkel). 

Die gegebene Erklärung reicht jedoch nicht aus für die wenigen Fälle, 
bei denen der Blutdruck nach Calcium beträchtlich ansteigt bei unwesent- 
licher Veränderung der Pulsfrequenz. Hier möchte man geneigt sein, 
nicht nur an eine constrietorische Wirkung auf die contractile Substanz des 
Herzens, sondern auch, wie beim Adrenalin, der periphersten Gefäße 
zu glauben. In der Tat konnte Herr Dr. Stockhausen an unserer 
Klinik capillarmikroskopisch in mehreren Fällen eine vorübergehende 
Verengerung der Capillaren beobachten. Diese Wirkung hat Calcium 









































Tabelle V. Adrenalinreaktion vor und nach Calcvum. 
- Systolischer Blutdruck 
Name | 
und Diagnose Calcium Gesamt- | Diastolisc 
Alter Anstieg mm/Hg Gipfel nach ı dauer der | 
Reaktion | 
16.120,10) Asthma vor 115 — 170 20 Min. 1 Std. = 
28 Jahre bronchiale 20 Min.nach| (110 —) 105 — 160 Bu: 1.08 (60 —>)E 
2. Sch. & Fibröse (latente) vor 120 — 165 4 Min. 1 Std. 65- 
32 Jahre Lungentbec. 60 Min.nach (125 —) 130 — 162 np RI (70 —50 
2 Akti h 
3. Sch. Q ar vor 115 — 155 3 Min. 1 Std. 55 - 
18 Jahre 20 Min.nach]| (105 —) 105 — 140 830 Min. u. 9 Min.| 2 „ (45 > 30 - 
Lungentbe. 
|  Encephalitis 
.Pp.g | BR. vor 15 > 155 5 Min. 1 Std. 80 - 
36 Jahre By tr 40 Min.nach| (150 —) 160 — 173 108 1 „2 | (LO0e 
digitalisiert 
5.B.9 Blei- vor 115 — 180 3 Min. 16 Min. 60 - 
48 Jahre | schädigung | 20 Min.nach|(120— 160) > 120 — 180 ER 20 „ (7 a5 
6.0 Parathyreoprive vor 133 — 155 4 Min. 15 Min. %- 
40 Jahre Tetanie 20 Min.nach| (120 — 180) 115 — 145 Se 1 Std. 70 - 
Rn Nephritis vor 185 — 155 3 Min. 10 Min. 60 - 
13 Jahre || nach Angina 85 Min.nach| (115 — 125) 112 — 140 Die: SU RE: (55 >) 
{ Aorten- | 
8. Sch. Q BERUEe vor 170 — 205 | 3 Min. 8 Min. 0- 
2 J } B 3 17 . \ 2) er - | x El 
ahre (Endokarditis) 0 Min.nach| (150 — 175) 162 — 170 | De 100 0 





und Wirkungsweise des Calciums und der Digitalis. 439 


mit Digitalis.gemein, die ebenfalls zu einer Constrietion der Gefäß- 
muskulatur an isolierten Gefäßbezirken führt. (Gottlieb und Magnus, 
Amsler und Pick). 
Die am muskulären Substrat selbst zur Tonussteigerung führende 
 Caleiumwirkung gleicht ferner der Adrenalinwirkung. Wir sehen in 
den meisten Fällen auch bei ihr ein Ansteigen des systolischen und Ab- 
' sinken des diastolischen Drucks, wenn auch in weit intensiverem Grade. 
, Die systolisch fördernde Caleiumwirkung am isolierten Herzen und an 
anderen Organen veranlaßte Zondek auf Grund der Gleichheit mit dem 
‚ Adrenalineffekt die Calciumwirkung ganz generell als identisch mit 
‚ Sympathieusreizung aufzufassen. Daß dies nur für diesen Teil der Cal- 
eiumwirkungen Geltung haben kann, geht aus meinen Untersuchungen . 
hervor. Die tonussteigernde Caleiumwirkung tritt beim Menschen 
‚gegenüber der Wirkung auf die nervösen Apparate in ihrer Sichtbarkeit 
in den Hintergrund. 

Um zu erschließen, wie weit dieser Tonuswirkung (in Analogie zur 
Pulsbeschleunigung) eine Beteiligung des sympathischen Apparates 
zugrunde liegt, habe ich die Adrenalinblutdruckwirkung vor und nach 
Caleium geprüft. 

In 9 Fällen war 5 mal die Dauer der systolischen Adrenalinblutdruck- 
reaktion nach Calcium eine längere als ohne Calcium, in den übrigen 4 Fällen 
‚war sie gleich lang. In 3 Fällen war der Anstieg langsamer als ohne Calcium, 
nur I mal war er rascher. 1 mal wurde eine größere Differenz von mehr als 
10mm Hg gewonnen, 3 mal dagegen war die Differenz eine wesentlich geringere. 

Am diastolischen Druck waren im Vergleich zur Adrenalinreaktion vor Calcium 
keine Änderungen von Belang festzustellen. Der schon infolge Caleium sich senkende 
diastolische Druck wurde durch Adrenalin meist noch weiter erniedrigt. 

Von anderen Gedankengängen ausgehend haben Dresel und Jakobovits ähnliche 
Untersuchungen vorgenommen. Während diese Autoren erst 2 Stunden nach der 
Caleiuminjektion die Adrenalinwirkung feststellten, habe ich in den meisten Fällen 
das Adrenalin nach 20—30 Min. verabreicht, da durchschnittlich zu dieser Zeit die 
Calciumwirkung im Abklingen war. Dresel und Jakobowits fanden den Blutdruck- 
anstieg nach Calcium höher und rascher, einige Tage nach einer Calciumperiode 
langsamer an- und absteigend, als vorher. Sie ziehen deshalb den Schluß, daß neben 
der akuten sympathischen Calciumwirkung noch eine Dauerwirkung in Betracht 


käme, „durch eine zentral bedingte!) bessere Regulierung der vegetativen Funktio- 
nen gekennzeichnet‘. 






















‘) Auf diese Dauerwirkung führen sie z. B. auch den günstigen Erfolg bei . 
der angeblich vegetativ übererregbaren (Falta und Kahn) Tetanie zurück. Die 
Voraussetzungen dafür scheinen nicht zu stimmen; denn der Tetaniekranke ist z. B. 
uf Adrenalin in der anfallsfreien Zeit nicht erhöht erregbar; sowohl von ameri- 
kanischer Seite als auch durch eigene Untersuchungen (schwache Adrenalinreaktion) 
konnte dies festgestellt werden. Damit stimmen auch die experimentellen Befunde 
K. Spiros überein, wonach die Adrenalinwirkung abnimmt, je weniger Calcium 
zugegen ist; bekanntlich liegt auch bei der Tetanie Caleiumverminderung im Blute 
vor. Zudem wirkt Calcium bei der Tetanie nicht dauerhaft; es löst in vielen Fällen 
momentan den Muskelkrampf, der leider nur allzuhäufig sich recht bald wiederholen 
kann. 





440 E. Billigheimer: 


Vergleichende Untersuchungen über die Wirkung 



































Tabelle VIa. Adrenalinreaktion vor und nach Digitalis. 
Systolischer Blutdruck 
et Tagzahl der 4 
j S e ; Gesamt- 
und Diagnose Digialiktergung Anstieg Gipfel Bemerkung 
Alter H h dauer der u 
AUmFEE 223 Reaktion | 
1.K.Q Asthma 0 115—70 | 20Min. Std. ) Nach Die 
28 Jahre bronchiale 20 Tage Bulb. sc. 110 — 160 48%, BZ 
2. Sch. $ J)| Fibröse (latente) 0 | 10 —16) 4Min. | 18Std. n | 
32 Jahre Lungentbe. 10 Tage Infus J 1523 10097 SA an ir i cium; 
(1Tagnach Nausea) 2. u | 
N) 115 — 160 15Min. ? | 
« > itral- = ig. 
3. 3 es ae 17 Tage Bulb. sc. 125 — 155 | 132% 1 Std. Nacı DE ne | 
: 21 Tage Bulb.sc. J|10 185 | 15 „ 40 Min. » » Zu 
El 0 115155 3Min 1 Std. 4 
4. Sch. Q' Fibröse } “ Nach Dig. 15mm 
16 Tage Infus 115 — 140 ee, ua. 
18 Jahre (latente) E, = | 
Lumechtbe 35 Tage Infus 105 — 155 In 125% | 
| E E (1Tagnach Nausea) | 
Ai, E | - . | 
5.P.g ELCEphallue , 0 = — =: | 5 Min. 40 Min. NachDig. 45 
36 Jahre lethargica 70 Tage Bulb. sc. 120 — 250 225 92% 50 
Parkinsonismus 94 Tage Bulb. sc. 125 — 155 | Du 1 Std. ”» > Zr 
BEB.a) Angina pectoris 0 115 > 180 | 3 Min. 16 Min. Differenz gleich; 
48 Jahre Bleischädigung 13 Tage Infus 110 — 175 Dias 4 „ Nach Dig. länger 
SER. Aorteninsuffi- 0 145 — 250 | 3 Min. 15 Min. Nach Dig.55mm 
39 Jahre zienz (luetisch) 10 Tage Infus 155 — 205 1 Std. 3'/, Std. » »„. länge 
5 Tage nach starker \ | 180 — 210 ' 80 Min. 90 Min. 
3.K.g BY, Digitalisierung 50 ? 
Os EC.) 2 I a | ER y , 
76 Jahre N 11 Tage Infus 135 — 180 | 15% .B,; nach 90 Min. Nach Dig. .lbän 
2 13 Tage Infus 155 > 200 noch 170 „|, 
23.0 Parathyreo- 0 130.— 155 | . € } 2 - 
F | a 5 Min, B 
40 Jahre prive Tetanie 10 Tage Infus | 084 | ts 15 Mine] I Noch 
Tabelle VIb. Diastolischer Blutdruck. } 


Anordnung der Fälle wie in der vorhergehenden Tabelle. 














Lfd. Nr. Vor Digitalis Nach Digitalis 

1 70 — 60 70—0 

2 65—85 — 40 55 — 70 20 
3 75 — 40 40 —0 

4 55—0 35 —0 

5 80 — 95 > 70 60 >85 —55 
6 60 — 85 60 — 95 

{; 55—0 50—0 

8 78 — 50 50 — 40 

9 99 >55 70 > 60 








und Wirkungsweise des Calciums und der Digitalis. 441 










Aus den Untersuchungen geht hervor, daß Calcium die Adrenalinwir- 
kung in über der Hälfte der Fälle verstärkt. Dies ist aber hier nicht der 
Fall in bezug auf die rasch ansteigende sympathische Kurvenform, wie 
Dresel meint, sondern vor allem auf die Dauer der Reaktion. Die quan- 
titativ geringere Reaktion längere Zeit nach Calcium deuten Dresel 
u.Jakobovits durch zentrale Regulation. Dafür spricht nach meinen Unter- 
suchungen nichts. Im Gegenteil scheint es mir viel wahrscheinlicher, 
daß die tonisierende, periphere Calciumwirkung den in dieselbe Richtung 
gehenden Adrenalinreiz summiert und so zu einer kumulierenden, 
länger dauernden Wirkung führt. 

Wir beobachten also unter dem Einfluß von Calcium eine ver- 
‚mehrte Ansprechbarkeit sympathischer Nervenendigungen nicht nur 
hinsichtlich des Pulses, sondern auch bezüglich des Blutdrucks. In 
letzterem Falle ist eine Summierung infolge gleichen Angriffspunktes 
durchaus denkbar. Aus den Untersuchungen geht ferner hervor, daß 
Calcium kein elektives Mittel ist, da es, wie für die Digitalis von 
'H. H. Meyer angenommen wird, Wirkungen sowohl auf den vagischen 
wie auf den sympathischen Apparat entfaltet. 

Von Interesse war, ob auch Digitalisierung zu einer verstärkten Adre- 
nalinblutdruckreaktion führen könne. 


Von 9 Fällen war der systolische Blutdruckanstieg quantitativ in 3 Fällen 
‚aöher, in 3 anderen Fällen länger dauernd nach Digitalisbehandlung als vorher. 
5 mal war die Differenz des Anstiegs geringer, in 4 Fällen blieb die Gesamtdauer 
ler Reaktion gleich. 

Wenn auch in mehreren Fällen die Reaktion auf Adrenalin eine 
jeringere war, so war doch in anderen Fällen die Ansprechbarkeit auf 
len Sympathicusreiz durch die Digitalisierung verstärkt. Die Ver- 
‚chiedenartigkeit der Reaktion könnte mit dem Grad der Digitalisierung 
:usammenhängen. Der diastolische Druck, der durch Digitalis an sich 
‚chon abnimmt, erfährt durch Adrenalin (analog den Calcium-Adrenalin- 
rersuchen) eine noch weitere Senkung. 

Hiermit wäre die Übereinstimmung der Caleium- und Digitalis- 
wirkung auch für den Blutdruck beim Menschen erwiesen. 


| 
| 


Was leistet die Analyse der Caleiumwirkung besonders in ihrem 
fusammenhang mit der Digitalis für unsere Denk- und Handlungs- 
| weise am Krankenbette ? 

Die folgenden Erörterungen sollen zum Teil nur vorläufige Mit- 
eilungen und Anregungen sein. Weitere Untersuchungen darüber sind 
m Gange und werden mitgeteilt werden. 

‚ Drei Fragen ergeben sich aus den klinisch-pharmakologischen Cal- 
Aumuntersuchungen am Kreislauf: 

l. Wann und wie weit kann uns Calcium allein nützen ? 


442 E. Billigheimer: Vergleichende Untersuchungen über die Wirkung 


2. Wann und wie weit kann uns die Kombination von Calcium und 
Digitalis nützen ? 
3. Was nützt uns Calcium als Testprobe ? 
1. Das Hauptanwendungsgebiet von Calcium allein erstreckt sich 
naturgemäß auf Tachykardien. In der Literatur berichten darüber 
Günstiges Turan und bei der Basedow-Tachykardie in manchen Fällen 
Goldscheider. Aus meinen Untersuchungen geht hervor, daß Calcium 
nur in den Fällen eine Pulsverlangsamung bewirken wird, in denen der 
Vagus sich in einem gewissen Reizzustand befindet und das Herz auf 
Vagusreize noch ansprechbar ist. Der Grad desselben ist begrenzt da- 
durch, daß sowohl eine exzessive Verminderung wie Vermehrung eine 
pulsverlangsamende Calciumwirkung illusorisch macht. Eine Vagus- 
 schädigung kann auch vorgetäuscht werden durch ein schwer geschädigtes, 
nicht mehr ansprechbares Organ; hierbei wird auch Calcium nichts 


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Kurve 17. 


mehr zu leisten vermögen. Diese Folgerungen entsprechen auch ganz 
den Tatsachen. Häufig ist darauf hingewiesen worden, daß bei Jugend- 
lichen der Vagus stärkere Impulse aussendet als bei Erwachsenen. 
In der Tat spricht das Caleium im Durchschnitt bei ersteren stärker an 
als bei älteren Menschen; dem parallel geht die Zunahme der Caleium- 
wirkung mit der respiratorischen Beweglichkeit. 

Der verschiedene Ausfall der Calciumwirkung bei Basedow-Tachy- 
kardien wird von dem Krankheitsstadium abhängig sein. Calcium wird 
nur da einen günstigen Einfluß haben, wo der Vagus noch nicht zu 
sehr oder nicht mehr durch die toxischen Einflüsse geschädigt ist. So 
konnte ich selbst bei einem ganz schweren Fall keine Wirkung erzielen, 
während bei einem weniger ausgesprochenen ein rascher Erfolg herbei- 

‘ geführt wurde, z. B. Kurve 17. 

Infektiöse Tachykardien (z. B. tuberkulöse) scheinen nach meinen 
Erfahrungen schlecht auf Calcium zu reagieren. Daraus könnte man 
in Analogie zu den Atropin-Caleium-Versuchen den Schluß ziehen, dab 
es sich bei diesen Tachykardien weniger um eine Reizung sympathischer 
Elemente handelt als um eine Schädigung der Hemmungsapparate. 


und Wirkungsweise des Oalciums und der Dieitalis. 443 


Das refraktäre Verhalten der Calciuminjektion bei starker Herz- 

| verdrängung durch Schrumpfung einer Lungenseite wurde bereits er- 

wähnt. Daß auch hierbei der Vagus eine Schädigung erlitten hat, ist 

auf Grund der Reaktion bei der seit langem bestehenden Tachykardie 

wahrscheinlich. Auch Digitalis erwies sich übrigens bei diesen Formen 
als gänzlich unwirksam. 

Ebenso unwirksam bezüglich eines zu erzielenden niedrigeren Puls- 
| niveaus erwies sich Calcium bei Tachykardien, die rein zentral nervös 
| bedingt waren; ich kann hierin die Beobachtungen von Kaufmann und 
‚ Meyer durchaus bestätigen. Je peripherer die nicht durch Vagusausfall 
| entstandene Tachykardie ist, desto größer anscheinend die Möglichkeit 
der Calciumbeeinflussung. Besonders eindrucksvoll war der Erfolg bei 
_ akuten Myokarditiden mit Tachykardie, bei denen eine starke respira- 

torische Arhythmie zu beobachten war. In dem folgenden Beispiel 


ee us EN I BE I RE NE» er SE RE 


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N: 07 13x01\3x97\3x97\3x97\3x97\3x97\3x07\3x97 1006 MVam\10cc 



























































Kurve 18. 


| 
| handelt es sich um. ein 16jähriges Mädchen mit leichter postanginöser 

Myokarditis; die respiratorischen Schwankungen waren bedeutend; auf 
| die schon als Testprobe dienende einmalige Calciuminjektion erfolgte 
‚ bereits eine starke Pulssenkung. Aus der Kurve geht hervor, daß auch 

eine Dauerwirkung mit Calcium erzielt werden konnte. Dementsprechend 
wirkte auch Digitalis prompt (Kurve 18). 

Die günstige Wirkung bei diesen Formen ist vielleicht begründet 
in einem mäßigen Grade von Herzmuskel- (Tonus-) erschlaffung, die 
entsprechend den Meyerschen Anschauungen zu einem Übergewicht 
der Hemmungsapparate und dadurch erhöhter Ansprechbarkeit der- 
selben führt. 

- Mangelnde respiratorische Beweglichkeit bei kranken Herzen ist 
kein Grund, Caleium therapeutisch unversucht zu lassen. Ich habe öfters 
‚, erlebt, daß nach mehreren täglichen Caleiuminjektionen der Puls in 
‚ das Stadium der Pulsbeeinflussung gleichsam hinübergeleitet wurde, 
'was sich ja gut mit der Wirkungsweise des Calciums in Einklang bringen 
läßt. 

Z. {. klin. Medizin. Bd. 100. 29 








444 E. Billigheimer: Vergleichende Untersuchungen über die Wirkung 


Es muß hier nochmals betont werden, daß eine pulsverlangsamende 
Dawerwirkung des Calciums nur bei mehr oder weniger kranken Herzen 
möglich ist und in Betracht kommt. Bei gesunden Herzen mit erhöhter 
respiratorischer Verschieblichkeit tritt zwar auf die einzelne Caleium- 
injektion eine Pulsverlangsamung ein, es ist aber auch durch lange fort- 
gesetzte Calciummedikation in Analogie zur Digitalis der Puls nicht 
auf ein niedrigeres Niveau herabzudrücken. 

Eine Anzahl von Tachykardien läßt sich also durch Calcium thera- 
peutisch beeinflussen. Die Caleiumtherapie ist vor allem dort indiziert, wo 
Digitalis schlecht vertragen wird. Es ist zu hoffen, daß das Stadium der 
Caleiumwirkung uns gerade in der Analyse der Tachykardien noch weiter- 
bringt und im angedeuteten Sinne Richtlinien für die Therapie abgibt. 

Die Caleiumwirkung als solche ist, wie wir wissen, nur von zeitlich 
begrenzter Dauer. Dies dürfte aber kaum der Tatsache einer Dauer- 
wirkung bei täglicher Verabreichung widersprechen. Wenden wir doch 
in der Klinik oft genug Mittel mit an sich nur passagerer Wirkung an 
und erzielen damit dauerhafte Erfolge. Ganz abgesehen von der Wichtig- 
keit der Erholung, die für den Herzmuskel schon durch eine nur 
vorübergehende Pulsverlangsamung geschaffen werden kann, muß der 
kranke Organismus nur auf seine Möglichkeiten, die ihm zur Regulierung 
zur Verfügung stehen, hingewiesen werden, um von diesen auch Gebrauch 
zu machen. | 

Die Blutdruckwirkung des Caleiums könnte allenfalls zur Tonisierung 
bei niedrigem Blutdruck verwandt werden. Bei einem kompensierten 
Hypertoniker sah ich auf tägliche Caleiuminjektionen den Blutdruck 
von einem über Wochen hin beobachteten Durchschnittsniveau von 
170 mm Hg auf 200 mm Hg steigen. Ein blutdrucksenkendes Mittel ist 
Calcium jedenfalls nicht. Die Angabe von Dresel und Jakobovitz, daß 
in einem Falle der Blutdruck von 180 auf 162 mm abgesunken sei, 
kann einer Kritik nicht standhalten. Wir sehen in der Klinik bei Hyper- 
tonikern ohne jede Medikation tägliche Blutdruckschwankungen um 
mehr als 50 mm Hg. Daß in seltenen Fällen Calcium ebenso wie Adre- 
nalin eine paradoxe Blutdrucksenkung bewirken kann, widerspricht 
nicht der Regel. } 

2. Über die Wirkung gleichzeitiger Digitalis- und Calcium-Verab- 
reichung auf gesunde Herzen habe ich schon hinreichend berichtet. 


Es seien hier noch einige Zusätze gestattet. Die erst kürzlich wieder von 
Kaufmann und Meyer gemachte Beobachtung der Unschädlichkeit lange fort- 
gesetzter Digitalisverabreichung bei gesunden Herzen kann ich durchaus bestätigen, 
selbst für die durch Pongs in unserer Klinik eingeführten großen Dosen. Ich habe 
bei den vorliegenden Untersuchungen Patienten bis zu 5 Monaten fortlaufend täg- 
lich (130 g) mit großen Dosen ohne jeden Schaden digitalisiert. Auch darin stimme 
ich überein, daß ein Stadium starker Pulsverlangsamung nur äußerst schwer 
bei Menschen mit gesundem Kreislauf erreicht wird. Immerhin kommen 





und Wirkungsweise des Caleiums und der Digitalis. 445 


gewisse Grade von Pulsverlangsamung bei genügend hartnäckiger Verabreichung 
des Medikamentes vor; ich schließe mich darin Pongs an, daß im Prinzip auch am 
gesunden Herzen sämtliche Stadien der Digitalisierung durchlaufen werden können. 

Die von ©. Hirsch etwas in Frage gezogene verstärkte respiratorische Beweg- 
lichkeit als Zeichen beginnender Digitaliswirkung kann ich im Sinne Pongs von 
neuem bestätigen. Bestand schon vorher respiratorische Arhythmie, so wurde 
diese anfänglich meist verstärkt. Die Sinus-Rhythmusänderungen bei normalen 
Herzen drücken sich bei vorgeschrittener Digitalisierung übrigens auch deutlich 
auf der alltäglich geführten Pulskurve aus. Man kann hier fast von einem Stadium 
der „steilen Kurve“ sprechen; die starken. Pulsschwankungen um 20-30 Pulse 
sind durch die Wellenbildungen zu dieser Zeit bedingt. 





' Die Befürchtung, bei kombinierter Verabreichung von Digitalis und 
‚Calcium zu schaden (Loewi, Starkenstein), ist unötig. Ich habe von 
‚der vielfachen gleichzeitigen Anwendung niemals Nachteiliges, sondern 
höchstens Vorteile gesehen und stimme darin mit Singer überein. Dieser 
Autor hat bereits an dekompensierten Herzen Gebrauch von der Kom- 
bination beider Mittel gemacht und über günstige, besonders rasch 
einsetzende Digitaliswirkung und Verkleinerung des Herzens berichtet. 
Letztere erklärt sich wohl aus der von uns festgestellten tonussteigern- 
den Wirkung auf den Muskel selbst, die wiederum der Digitaliswirkung 
parallel geht (Kaufmann und Meyer). Starkenstein berichtet nur über 
WE stärkere Digitaliswirkung nach einer Caleiumperiode. 

Die rasch einsetzende diuretische Wirkung, die Singer bei gleich- 
zeitiger Verabreichung von Digitalis und Caleium beobachtet hat, 
kann ich bestätigen. Freilich muß man mit der Beurteilung des Erfolges 
vorsichtig sein, denn wir wissen, daß auch Digitalis allein, ja selbst Bett- 
ruhe, in vielen Fällen schon zu einem raschen Erfolg führen kann. 








Die Beurteilung der kombinierten Wirkung an Hand des Pulses wird dadurch 
‚sehr erschwert, daß ein einmal digitalisiertes Herz, ob mit oder ohne Calcium, bei 
| zweiten Periode mit Digitalis allein manchmal auch nach Wochen noch digi- 
talisempfindlich ist. So habe ich bei Vitien mit Tachykardie erlebt, daß in einer 
zweiten Digitalisperiode (ich habe in solchen Fällen wegen der flüchtigeren Wirkung 
fast immer Bulbus scillae angewandt) der Puls in kürzerer Zeit langsamer wurde als 
in einer ersten Kombinationsperiode. Das beweist natürlich nichts gegen den Vorteil 
der Kombination, sondern nur die Schwierigkeit der Beurteilung. 

Die verstärkte diuretische Wirkung müssen wir ebenfalls als Tatsache hinneh- 
men. Für Normale kann ich die Beobachtungen Starkensteins durchaus bestätigen. 
Man findet entweder keine sichtliche Beeinflussung oder zunächst eine Retention 
von Wasser, das später wieder zur Ausscheidung gelangt. Als Beispiel diene folgen- 
der Versuch. Es wurde dabei !/,stündlich ein Gemisch von 100 ecm Wasser und 
50 ccm Milch verabreicht; die Blase mußte !/,stündlich entleert werden. Nach 
möglichst gleichmäßiger Urinausscheidung wurde Calcium injiziert und weiter mit 
der Flüssigkeitszufuhr fortgefahren. 





Es ist aber durchaus denkbar, daß beim kranken Kreislauf die ver- 
abreichten Calciumdosen bei der vorherrschenden Ähnlichkeit der Calecium- 
und Digitaliswirkung, ganz analog den Versuchen von Loewi und ‚Jonescu 
ug Digitalis, die Nierengefäße erweitern. 

7 





446 E. Billigheimer: Vergleichende Untersuchungen über die Wirkung 


Tabelle VII. 


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Nehmen wir die Vaguswirkung auf den Puls, im Verein mit der 
systolisch tonussteigernden Wirkung auf den Herzmuskel selbst, als 
Maßstab für den Erfolg, so dürfte 1. auf Grund der akut einsetzenden 
Caleiumwirkung, 2. auf Grund der Verstärkung der Calciumwirkung 
durch Digitalis eine kombinierte Behandlung besonders beim kranken 
Kreislauf Erfolg versprechen. Dazu kommt, daß am kranken Herzen 
die Digitalisierung viel rascher fortschreitet als am gesunden, so daß der 
Caleiumeffekt, der sich unter Digitalis auf Stunden hin erstreckt, allein 
schon für diese Zeit für das Herz viel bessere dynamische Verhältnisse 
schaffen muß. Für das kranke Herz kommt uns also sowohl die akut 
einsetzende wie die durch Digitalis in die Länge gezogene Wirkung sehr 
zustatten. | 

Beim dekompensierten Herzen besteht trotz sympathischer Regu- 
lierung (frequenter Puls) eine erhöhte Ansprechbarkeit des Hemmungs- 
apparates; daß dem so ist, beweist die in vielen Fällen relativ rasch em- 
setzende Pulsverlangsamung nach Digitalis (4. H. Meyer). Dasselbe 
ist auch nach Calcium der Fall. Es kommt dabei natürlich auf die noch 
mögliche Ansprechbarkeit des Herzmuskels an. Ist der Herzmuskel so 
schwer geschädigt, die Muskelfasern so stark ‚überdehnt‘“, daß er nicht 
mehr auf Vagusreize anspricht, so wird man zunächst keinen Calcium- 
effekt erwarten dürfen. Ist das Herz erst wieder in das Stadium der 
Ansprechbarkeit gekommen, so wird sowohl Digitalis wie Caleium um so 
rascher seine Wirkung ausüben. | 

Die Arhythmia absoluta ist das beste Beispiel dafür, daß ein Herz 
mit noch relativ guter Kraft (Romberg) bezw. Ansprechbarkeit seines 





| und Wirkungsweise des Oalciums und der Digitalis. 447 
\ 

| nervösen Apparates die besten Grundlagen für eine günstige Calcium- 
wirkung gibt. Auch hierin geht Calcium parallel mit Digitalis, deren 
' Domäne nach Mackenzie die Flimmerarhythmie ist. Mittelst kombinierter 
‚Behandlung habe ich bei diesen Fällen in ganz kurzer Zeit (2—4 Tagen) 
‚den raschen Puls auf das gewünschte Niveau gebracht. (Z.B. Kurve 19.) 
' 8o bildet die Arhythmia absoluta Mm 2E 2 27 29 
‚nicht nur für die Digitalis-, sondern auch 
‚für die kombinierte Calcium-Digitalis- 
‚behandlung die günstigsten Voraus- 
‚setzungen. 

Sicher ist wohl auch bei den Tachy- 
‚kardien, die auf Calcium reagieren, in 
‚der Kombination mit Digitalis der Erfolg 
| vielversprechender. 

' 83. Kann man die akute Calcium- 
wirkung als Testprobe für die Digitalis- 
\empfindlichkeit verwenden? Bei der. 
gleichartigen Wirkungsweise von Cal- 
‚cium und Digitalis sollte man annehmen, 
‚daß das Momentbild der Caleiumwirkung auf den Puls eine günstige oder 
ungünstige Prognose für die Digitaliswirkung abgeben könnte. In der Tat 
ist dies für die pulsverlangsamende Digitaliswirkung bis zu einem hohen 
Grade beim kranken Herzen der Fall. Die Brauchbarkeit der Calciumtest- 
‚probe für die Caleium- bzw. Digitalistherapie bei Tachykardien oder de- 
kompen sierten Herzen geht ohne weiteres aus den oben erwähnten Erörte- 
tungen hervor. So war uns der starke Caleiumausschlag bei der Myokarditis 
‚und der Arhythmia absoluta ein Hinweis für die günstige Wirkung der 
Digitalis Ein typisches Beispiel für die Brauchbarkeit des Calcium- 
‚testes bietet der negative Effekt bei Patienten mit Aortenklappen- 
Meuftizienz. Schon lange weiß man (Corrigan, Rosenbach), daß diese 
Kranken schlecht auf Digitalis ansprechen. In der Tat ist dort auch 
aach Caleium, wie besprochen, nur selten eine Pulsverlangsamung zu 
beobachten. 

Diese gleiche Unwirksamkeit von Digitalis und Calcium bei der Aorten- 
xlappeninsuffizienz erstreckt sich aber auch auf die Calciumtests bei fort- 
schreitender Digitalisierung. Bei 4 Fällen konnte auch mit zunehmender 
Digitalisverabreichung keine wesentliche Pulsverlangsamung auf Caleium 
‚m Gegensatz zu den Untersuchungen am normalen Herzen erzielt werden; 
m Gegenteil setzte häufig eine noch intensivere Pulsbeschleunigung ein. 
Eine Ausnahme machte unter den Aorteninsuffizienzen ein Fall. Dieser 
atient wies nach 6tägiger Verabreichung von 0,5 g Digitalis infus pro 
lie eine normale Verlangsamungskurve nach Calcium auf; der Puls sank 
ron 58 auf 46 und erreichte nach 28 Minuten wieder sein Ausgangsniveau. 


























Kurve 19, 

















448 E. Billigheimer: Vergleichende Untersuchungen über die Wirkung 


Bei weiterer Beobachtung zeigte sich, daß dieser Patient auf Digitalis 
gut reagierte. Als einige Zeit später, nachdem Patient ohne Digitalis 
gelebt hatte, eine sehr starke Dekompensation auftrat, war auch auf 
längere Zeit hin Digitalis ohne Nutzen; dementsprechend war auch 
auf Calcium keine Pulsverlangsamung mehr zu erzielen. So berechtigt 
uns demnach der Ausfall des Caleciumtestes auch während des Versuchs 
der Digitalisierung die Digitalistherapie bei Eintreten der Calciumpuls- 
verlangsamung als erfolgversprechend fortzusetzen, andernfalls sie aber 
als erfolglos aufzugeben. Wir werden selbstverständlich bei einer auch 
anfangs negativ verlaufenden Calciumreaktion beim dekompensierten 
Herzen die Digitalistherapie anwenden. Es kommt ja nach dem oben 
Besprochenen darauf an, das Herz, falls es übermäßig geschädigt 
ist, in das Stadium der Ansprechbarkeit hereinzuholen. Während also 
am l. und 2. Behandlungstag die Pulswirkung des Oaleiums eine negative 
sein kann, kann an den folgenden Tagen bereits eine Beeinflussung 
durchaus möglich sein. Es wird sogar durch die diastolisch fördernde 
Caleciumwirkung dieses Stadium der Reaktionsfähigkeit rascher erreicht 
werden als mit Digitalis allein. | 

Bezüglich der Calciumwirkung auf das digitalisierte gesunde Herz 
wurde bereits alles besprochen. Wir erinnern nur nochmal daran, daß 
an Hand der Caleiumkurve das Digitalisstadium gleichsam zu erkennen 
ist, in dem der Organismus sich befindet, und 4 Stadien der Digitali- 
sierung analog den Pongsschen Untersuchungen festzustellen sind. Es 
gewährt also auch beim gesunden Herzen die Calciumtestprobe Einblick 
in den Grad der Digitalisanhäufung. Wie rasch diese fortschreitet 
und überhaupt zu erreichen ist, ist individuell ganz verschieden. Auf- 
fallend war, daß Encephalitiker mit hohem Blutkalkspiegel monatelang 
Digitalis vertrugen, ohne über das 2. Stadium hinauszukommen, 
während bei 2 Tetaniekranken mit niedrigem Kalkspiegel die Nausea 
schon innerhalb der ersten 10 Tage erreicht war. 

Die kombinierten Digitalis-Adrenalinversuche geben noch Veran- 
lassung, die therapeutische Verwendung des Adrenalins nach Digitalis- 
medikation einer erneuten Kritik zu unterziehen. Der dekompensierte 
Kreislauf reagiert auf Medikamente vielfach anders als der kompensierte. 
Von der Digitalis ist uns das gut bekannt. Auch beim Adrenalin ist dies 
der Fall. Wir wenden in der Klinik seit langem Adrenalin bei Kreislauf- | 
insuffizienz nur unter der Bedingung an, daß es !/,stündlich gegeben 
wird. Das gründet sich auf die Beobachtung, daß dem Adrenalin oft 
eine Gefäßerschlaffung folgt. Verständlich wird dies durch die Tatsache, 
daß Adrenalin nach längerer Digitalisierung den diastolischen Druck 
noch mehr herabsetzt als zuvor, d.h. daß wahrscheinlich die Erschlaffung 
bestimmter Gefäßbezirke eine besonders große wird. Diese Wirkung 
des Adrenalins kann uns aber vor allem bei dekompensierten Fällen 





| 





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| 


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’ 
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———— 





ge 


und Wirkungsweise des Caleiums und der Digitalis. 449 


nur unangenehm sein; denn die systolische Wirkung tritt demgegen- 
über in den Hintergrund, besonders, weil die constrietorischen Nerven 
bei bedeutender Erregung der Dilatatoren viel rascher zu ermüden 
scheinen. Es scheint dies für Fälle mit herabgesetztem Gefäßtonus 
ganz besonders zu gelten. Ich möchte deshalb empfehlen, von der 
therapeutischen Adrenalininjektion, besonders nach starker Digitali- 
sierung bei herabgesetztem Gefäßtonus (paradoxe Reaktion) nur mit 
großer Zurückhaltung Gebrauch zu machen. 


5. Folgerungen für die Lehre der „Vagotonie“., 
Die Caleiumuntersuchungen geben mannigfache Anregung, über das 


 Tonusproblem im vegetativen Nervensystem nachzudenken. Ich 


möchte mich hier nur ganz kurz dazu äußern und behalte mir vor, an 


anderer Stelle ausführlicher darauf einzugehen. 


Die einwandfreie Beurteilung, wie der augenblickliche Tonus dieses 
oder jenes Teilsystems ist, erscheint mir beim Menschen sehr schwer, 
wenn nicht überhaupt unmöglich, festzustellen. Denn das, was wir mit 
einer pharmakologischen Reaktion prüfen, ist lediglich Ansprechbarkeit, 


abhängig in erster Linie von dem Zustand des Erfolgsorgans, von dem 


Milieu. Das Milieu im weitesten Sinne bestimmt den Ausfall der Reak- 
tion. Ich erinnere hier an die fehlende Pulsverlangsamung nach Calcium 
bei schwerst dekompensierten Herzen, an die von der Regel abweichen- 
den Pulsbeschleunigungen bei manchen Aorteninsuffizienzherzen. Wenn 
Dresel aus den Adrenalin-Blutdruckkurven Schlüsse auf die Erregbarkeit 


' des ganzen sympathischen oder parasympathischen Systems ziehen 
‚will, so scheint mir dies, wie auch schon von anderer Seite betont wurde, 
‚ nicht richtig. Kann doch neben einer starken Reaktion am Herz-Gefäß- 


apparat eine schwache am Kohlenhydratstoffwechselapparat vorhanden 


sein und umgekehrt. Die hier in Betracht kommende Adrenalinblut- 


druckreaktion ist lediglich eine Herz-Gefäßreaktion; dementsprechend 
habe ich bereits früher zwei andere Kurvenextreme nach Adrenalin, 


die sich nur auf die Gefäßreaktion beziehen, gegenübergestellt wie 


Dresel (constrictorische und dilatatorische Kurvenform). 
Wird nun aus einer starken Reaktion auf einen hohen Tonus eines 
der Systeme geschlossen, so scheint mir das durch nichts bewiesen. 


‚Eher scheint sogar das Gegenteil der Fall zu sein. Wenn wir irgendwo 


einen niedrigen Vagustonus annehmen können, so ist dies im Zustand 
der reinen Adrenalintachykardie; gerade bei dieser finden wir aber die 
größten Verlangsamungsausschläge nach Caleium. Also große Reiz- 
barkeit bei einem niederen Tonus. Als Gegenstück führe ich die 


‚ fehlende Pulsverlangsamung bei der hochgradigen Digitalisbradykardie 





an. Hier haben wir mangelnde Ansprechbarkeit bei eventuell hohem 
Tonus. 


450 E. Billigheimer: Vergleichende Untersuchungen über die Wirkung 


Von besonderer Bedeutung scheint mir ferner das Prinzip der gegen- 
seitigen Reizbarkeitssteigerung bzw. -dämpfung zu sein. Bereits in 
früheren Untersuchungen konnte ich nachweisen, daß die Adrenalin- 
blutzuckerkurve nach vorheriger Pilocarpinisierung höher ausfällt als 
vorher, nach Atropinisierung dagegen niedriger als ohne Atropin. Im 
gleichen Sinne ist auch die Calcium- (Vagus) Reaktion stärker nach Adre- 
nalinisierung (Sympathicusreizung) und die Adrenalinreaktion stärker 
nach Calcium und Digitalis. Die B. Aschnerschen Befunde, daß dufch 
Atropin öfters auch die Adrenalinblutdruckkurve herabgedrückt wird, 
kann ich durchaus bestätigen. Übrigens kommt B. Aschner in der be- 
treffenden Arbeit unter Übergehung meiner einschlägigen früheren Unter- 
suchungen zu Schlußfolgerungen, die den von mir damals ausgesproche- 
nen fast wörtlich entsprechen. Alle diese Resultate stehen in direktem 
Gegensatz zu dem Wagebalkengleichnis von Eppinger und Heß. Mit 
einer verstärkten Reizung des Sympathicus scheint direkt und auf das 
innigste verknüpft eine erhöhte Ansprechbarkeit des Vagus und um- 
gekehrt. Vagus und Sympathicus bilden innerhalb des physiologischen 
Geschehens zum Zwecke der Aufrechterhaltung der Funktion eine funk- 
tionelle Einheit. Ihre Arbeit ist in diesem Sinne eine gleichgerichtete, 
nicht antagonistische, sondern synergistische. R. Schmidt hat schon 
früher ohne experimentelle Grundlage ähnliche Gedanken ausgesprochen. 
Es teilt sich also jede Erschütterung im Vagus unvermittelt dem Sym- 
pathicus mit und umgekehrt. Da jedes Organ seine eigene Empfindlich- 
keit hat, da Teilwirkungen auf das andere System, paradoxe und auch 
dissoziierte Wirkungen nicht nur auf pharmakologische Reize hin nichts 
Seltenes zu sein scheinen, liegt es auf der Hand, daß wir von einer gene- 
rellen Vagotomie kaum mehr sprechen können. Für einzelne Organe 
mag es immerhin noch gelingen, die Art des Tonus festzustellen. Aber 
auch hier fragt es sich, wieweit wir einmal beim Menschen Nerv und 
Organ voneinander werden scheiden können. 


6. Ergebnisse und Zusammenfassung. 

1. Die 10 proz. Calciuminjektion bewirkt beim Menschen in der 
Regel eine Pulsverlangsamung von durchschnittlich 25—30 Min. Dauer. 
Nicht ganz selten kommt es zu einer initialen Pulsbeschleunigung. 

2. Auf den beschleunigten Puls übt Calcium teils eine starke, teils 
keine Wirkung im pulsverlangsamenden Sinne aus. Zur Erklärung dieses 


verschiedenartigen Verhaltens wurde der Einfluß des Caleiums auf 


künstliche Tachykardien untersucht. Dabei ergab sich: 


a) die Atropintachykardie bleibt nach Calcium ganz oder fast ganz 


unbeeinflußt; 
b) die reine Adrenalintachykardie nach Absinken des Blutdrucks 
erfährt eine mächtige vorübergehende Pulsverlangsamung bis zu 50%. 


und Wirkungsweise des Caleiums und der Diegitalis. 451 


3. Der extrem langsame Vaguspuls wird auch durch Calcium nicht 
| weiter verlangsamt. 

4. Aus diesen Befunden wird zunächst der Schluß gezogen, daß 
Calcium am Vagus wie auch peripher von den Vagusendigungen (noch 
mögliche Pulsverlangsamung nach Atropin) am Hemmungszentrum im 
"Herzen selbst angreift. Ferner wird Calcium zur innervatorischen Ana- 
‚Iyse verschiedener Tachykardieformen herangezogen. Starke Calcium- 
‚pulsverlangsamung bei erhöhter Pulsfrequenz kann nicht auf Vagus- 
'schädigung beruhen. Fehlende Pulsverlangsamung auf Calcium bei 
‚Tachykardie kann auf Schädigung des Vagus oder mangelnde Ansprech- 
‚barkeit des Herzens auf den Vagusreiz beruhen. 

5. Caleium und Digitalis gleichen sich auch beim Menschen völlig 
sowohl hinsichtlich ihres Angriffspunktes wie ihrer Wirkung, nur mit 
dem Unterschied, daß die Wirkung bei dem einen flüchtig, bei dem 
andern Mittel dauerhaft ist. 

6. Diese Behauptung gründet sich auf folgende Beobachtungen: 
a) Calcium bewirkt neben der Pulsverlangsamung und der Umkehr 
in den Beschleunigungstyp bei tiefer Atmung Irregularitäten vom Typus 
‚des Sinusblocks und der Sinusarhythmie, also die dem Digitalis eigenen, 
spezifischen Effekte. 

b) Calcium verstärkt die Digitaliswirkung bzw. umgekehrt; die 
Caleciumwirkung dauert im Beginn der Digitaliswirkung bis zu 5 Stunden. 
'  e) die von Pongs aufgestellten Stadien der Digitaliswirkung konnten 
auch an Hand der Calciumkurven erkannt werden. 

I. Stadium: Latentbleiben der Digitaliswirkung bei oberflächlicher 

Atmung: die verlängerte Dauer der Calciumreaktion deckt die kumu- 
lierende Digitaliswirkung auf; sie kann gleichzeitig als die Probe für die 
Wirksamkeit eines Digitalispräparates verwandt werden. Calcium kann 
den Pulsus respiratorius bei oberflächlicher Atmung auslösen und auch 
‚hierbei schon zu Wellenbildungen era ebenso wie ohne 
‚Digitalis führen. 
, DI. Stadium: Sichtbarwerden der Digitaliswirkung schon bei ober- 
flächlicher Atmung. Der Pulsus respiratorius bei oberflächlicher Atmung 
wird durch Calcium unterdrückt; die Tiefatmungsausschläge, besonders 
die Beschleunigungsattacken werden enorm verstärkt. Kurz- und vor 
allem langdauernde, von der Atmung unabhängige, zum Durchbruch 
kommende Beschleunigungsberge können die in ihrer Intensität nicht 
beeinträchtigte Caleiumwirkung bald abbrechen. Der Puls kann sich 
sogar über das Ausgangsniveau erheben. 

III. Stadium: Der Puls auf einem gewissen verlangsamten Niveau 
wird zwar durch Calcium nicht wesentlich mehr verlangsamt, aber die 
Dauer der Püulsverlangsamung kann wieder länger anhalten. Auch jetzt 
können noch die vorübergehend überwiegenden Beschleunigungswellen 




















452 E. Billigheimer: Vergleichende Untersuchungen über die Wirkung 


den Puls über das Ausgangsniveau erheben; die Kurvenform.ist wenig 
konstrastreich. 

IV. Stadium: Höhepunkt der Digitaliswirkung. Eine Steigerung der 
Verlangsamung durch den Calcium-Vagusreiz ist nicht mehr zu erzielen, 
da der Vagus maximal schon gereizt ist. 

d) Die weitgehende Übereinstimmung der Digitalis- und Calcium- 
wirkung geht noch aus Folgendem hervor: eine Digipuratinjektion 
bewirkt manchmal eine ganz rasch vorübergehende Caleciumvermehrung 
im Blut mit nachfolgender Senkung des Blutkalkwertes unter das ur- 
sprüngliche Niveau. Fortlaufende Digitalisverabreichung bewirkt eine 
schließliche Erhöhung des Blutkalkspiegels. Es wird dies in Anlehnung 
an die Untersuchungen Gottliebs zu erklären versucht durch eine Mobi- 
lisierung von Calciumionen, die das Gewebe an sich reißt bis zur ‚‚Sät- 
tigung“. Die allmähliche Caleiumzunahme verhindert schließlich den 
noch weiter mobilisierten Caleiumionen das weitere Eindringen in die 
Zellen (Prinzip der Selbstregulation). Die eigentliche Digitaliswirkung 
fällt mit der jeweiligen Vermehrung der Calciumionen im Blute zu- 
sammen. Die noch nicht sichtbare kumulierende Digitaliswirkung kann 
durch eine Caleiuminjektion aufgedeckt werden. Menschen mit nie- 
drigem Blutkalkwert (z. B. Tetanie) vertragen weniger Digitalis als 
Menschen mit hohem Blutkalkwert (z. B. Encephalitis). Vielleicht be- 
ruht dies auf der verschiedenen Fähigkeit der Zellen, Calcium zu binden, 

e) Wo Digitalis nicht oder paradox wirkt, wirkt auch Calcium para- 
dox im Sinne der Pulsbeschleunigung. Dies ist vor allem der Fall bei 
manchen Kranken mit Aortenklappeninsuffizienz. Die Pulsbeschleunigung 
hierbei wird erklärt durch eine inverse Calciumwirkung auf den Acce- 
lerans bei einem im Sympathicuszustand befindlichen Organ analog den 
Kolm und Pickschen Untersuchungen. 

7. Die nur vorübergehende initiale Pulsbeschleunigung oder die 
durch Calcium verstärkte inspiratorische Pulsbeschleunigung wird nicht 
mit einer direkten Reizung des Sinusknotens, sondern durch erhöhte 
Ansprechbarkeit der Sympathicusfasern durch Caleium erklärt. Dafür 
sprach die sowohl nach Calcium wie nach Digitalis verstärkte Ada 
nalinpulsreaktion. 

8. Es wird wahrscheinlich gemacht, daß Caleium, ebenfalls wie im 
Tierexperiment und wie Digitalis, auch auf die tertiären Kammerzentren 
erregbarkeitssteigernd wirkt. Calcium und Scillaren führen in einem Falle 
zur paroxystischen Tachykardie. Calcium kann Extrasystolen auslösen. 

9. Kalium kann vorübergehend Extrasystolen fast ganz zum Ver- 
schwinden bringen durch eine dem Caleium antagonistische erregbarkeits- 
herabsetzende Wirkung auf die automatischen Apparate in der Kammer. 

10. Caleium bewirkt eine Vergrößerung des Schlagvolumens; der 
diastolische Druck nimmt ab, der systolische Druck um weniges zu. 


und Wirkungsweise des Caleiums und der Digitalis. 453 


11. In manchen Fällen steigt der systolische Druck stark an, was 
auf eine constrictorische Gefäßwirkung bezogen wird. 

12. Ganz selten scheint eine paradoxe Blutdrucksenkung auf Caleium 
zu erfolgen. 

13. Auch bezüglich des Blutdrucks wirkt Calcium und Digitalisvor- 
behandlung verstärkend auf die Adrenalinreaktion. Auf das Tonus- 
substrat wirkt Calcium steigernd; Caleium kann deshalb eher als gefäß- 
tonisierendes, denn als blutdrucksenkendes Mittel verwandt werden. 

14. Die längere Dauer der Adrenalinreaktion nach Calcium wird 
nicht zentralregulatorisch, sondern peripher kumulierend aufgefaßt. 

15. Digitalis und Calcium gleichen sich also auch völlig in ihrer 
Wirkung auf die Gefäße bzw. den Blutdruck. 

16. Die vermehrte Reizbarkeit des Sympathicus bei Reizung des 
Vagus und umgekehrt wird, wie bereits in früheren Arbeiten, als sehr 
| wichtiges Reglationsprinzip innerhalb des vegetativen Nervensystems 
i zum Zwecke der Aufrechterhaltung der Funktion aufgefaßt. In diesem 


Te Ze 








— 


——— 


Sinne sind Vagus und Sympathicus nicht antagonistisch, sondern syner- 

gistisch tätig. Vagus und Sympathicus bilden in diesem Zusammen- 

' hang eine funktionelle Einheit. 

| 17. Calcium (ebenso wie Digitalis nach H. H. Meyer) und Adrenalin 

' sind keine elektiven Mittel, sondern entfalten auch Teilwirkungen auf: 

| den Antagonisten. Daß solche Organ-Komplexwirkungen gerade durch 
Caleium und Adrenalin hervorgerufen werden, mag kein Zufall sein. 

| Kreisen diese beiden chemischen Körper doch ständig in unserem 

' Organismus. Würden sie ihre Wirkung nur in einseitiger, nervöser 

Richtung entfalten, so würde kaum eine geregelte Tätigkeit im Organis- 

' mus garantiert werden können. 

| 18. Die Anwendung von Calcium allein kommt vor allem bei Tachy- 

‚ kardien in Betracht, die nicht rein zentral nervös bedingt sind, und bei 

\ denen der Vagus, sei es toxisch (z. B. Tuberkulose), sei es mechanisch 

(z. B. starke Lungenschrumpfung) nicht zu sehr geschädigt ist. Bei 








Myokarditis (tonische Herzmuskelerschlaffung!) waren die besten Re- 
sultate zu erzielen. 

Die Caleiumreaktion kann zur Analyse von Tachykardien verwandt 
werden. | 

19. Je größer die respiratorische Beweglichkeit beim kranken Herzen, 
desto größer scheint, besonders bei tonischen Erschlaffungszuständen 
(H. H. Meyer), die Möglichkeit der Caleiumbeeinflussung. 

20. Aus den Kombinationsversuchen und der übereinstimmenden 
irkung von Oaleium und Digitalis ergibt sich, daß beide Mittel gemein- 
sam zu einer verstärkten Wirkung führen müssen. Es ist dies auch 
der Fall und ist besonders gut bei manchen Formen von dekompensierten 
Herzen und bei der Arhythmia absoluta zu beobachten. 











454 E. Billigheimer: Vergleichende Untersuchungen über die Wirkung 


21. Die kombinierte Behandlung verspricht also da den meisten Er- 
folg, wo erfahrungsgemäß Digitalis allein gut anspricht. 

22. Die Calciumreaktion kann bei richtiger Beurteilung als Testprobe 
für die Digitalisempfindlichkeit verwandt werden. So wirkte Digitalis 
gut und rasch in Fällen, in denen auch durch eine vorausgehende Cal- 
ciuminjektion als .Prüfung Pulsverlangsamung zu erzielen war (z. B. 
akute leichte Myokarditis, Arhythmia absoluta); die Droge wirkte 
schlecht oder sprach überhaupt nicht an in Fällen, in denen die Calcium- 
injektion negativ verlief (z. B. Aortenklappeninsuffizienz, starke De- 
kompensation). Die anfängliche Calciumunempfindlichkeit bei De- 
kompensierten kann sich im Verlauf der Digitalisierung (meist schon 
in wenigen Tagen) umkehren (Pulsverlangsamung). Das ist dann das 
Anzeichen dafür, daß weitere Digitalisverabreichung doch noch erfolg- 
versprechend ist. 


Anhang. 


Vergleiche dazu Abschnitt 3D. Den Beispielen liegen Untersuchungen an 
50 Patienten zugrunde. 

Abkürzungen: 

M. A. = maximale Atemschwankung. 

I. = Inspirium. 

E = Exspirium. 

D. I. V. = Dauerinspiriumsversuch. 

P.r. b. o. A. = Pulsus respiratorius bei oberflächlicher Atmung. 

P.r. b. t. A. = Pulsus respiratorius bei tiefer Atmung. 

1. Beispiel. P.r.b.o. A. Vor Inj. M.A. 115-100 = 15; Durchschnitt 
frequenz 100. 1 Minute nach Ca: M. A. 100—62 = 38; Durchschnittsfrequenz 80. 

2. Beispiel. D.I. V. Vor Inj.: 110, I 114, 115; D.I. 96, 93, 94, 96; E 108 
114, 115. ‚7 Minuten nach Ca: I 96, 115, 120; D.I. 96, 70, 75, 76, 78, 76; E92 
102,107, 2115, 

3. Beispiel. P.r.b.t. A. (sinoauriculärer Block). Vor Inj.: M. A. 120—100 
= 20. 7 Minuten nach Ca: I. 98, 100, 125; E 60 (Block!), 75, 80; M. A. = 652 

4. Beispiel. Bulbusdruck. Vor Inj.: Längster Minutenpuls 2 Sekunden. 
Nach Ca: Längster Minutenpuls 11 Sekunden. 

5. Beispiel. I. Umkehr in Beschleunigungstyp b. t. A. Vor Inj.: M. A. 72-62 
— 10; Durchschnittsfrequenz 70. Nach Ca: M. A. 53, 73—50 —= 23; Durchschnitts- 
frequenz 50. 

6. Beispiel. Wellenbildung (I. steht am Ende des Inspirationsaktes); P.r. b. 
0. A. Vor Inj.: 75.(R), 73,.70, 74, 76 (T.), 72, 75(1.),272, 71, 7a a 
nach Ca: 66, 70 (I.), 43, 43, 57 (I.), 61, 74, 75 (IL.), 50, 41 (I.), 33, 67, 76 (I.), 76, 
75 (l1.), 75, 68, 71 (IL.), 48, 47, 60(I.). 

7. Beispiel. P.r. b. o. A.: nach 18 g Digitalis infus. Vor Inj.: 69, 71, 71 (I.), 
66, 52, 57, 65, %3 (1.), 71, 49, 52, 65, M. A. — 24; Durchschnittsfrequenz 62. 1 Mi- 
nute nach Ca: 56 (I.), 54, 53, 53, 54 (1.), 50,51; M. A. = 6; Durchschnittsfrequenz 50. 

8. Beispiel. P.r.b. o. A. nach 18g Digitalis infus. Vor Inj.: M. A. 84-44 
— 40. 8 Minuten nach Ca: M. A. 10044 — 56. 

9. Beispiel. Stark digitalisiert; langfristige Wellen. Vor Inj.: M. A. 75-46 
= 29; Durchschnittsfrequenz 61. 10 Minuten nach Ca: M.A. 66-49 = 17; 
Durchschnittsfrequenz 55. 


und Wirkungsweise des Calciums und der Digitalis. 455 


10. Beispiel. Stark digitalisiert; Bulbusdruck ohne Einfluß. 56 Druck: 
60, 66, 60, 57 ab 57, 52 

11. Beispiel. Stark digitalisiert, starke Wellenbildungen; b. o. A. Vor Inj.: 
70, 73, 73 (I.), 73, 51, 50, 56, 61 (I.), 61, 73, 81, 75, 76 (I.), 49, 50, 53, 61 (1.), 


73, 75, 75, 75 (I.), 73, 47, 49, 50 (I.), 60, 65, 58, 60 (I.), 63, 70, 75, 75 (1.), 76, 


75, 76, 46, 50 (I.), 60, 75, 75, 75 (I.), 75, 60, 52, 56 (I.); Durchschnittsfrequenz 61. 





10 Minuten nach Ca: 55, 57 (I.), 52, 56, 57 (L.), 51, 50, 57 (I.), 56, 55, 58 (I.), 52, 
52, 58 (I.), 54, 55, 54 (I.), 54, 53, 58 (IL), 58, 58, 57 (I.), 50, 52, 53, 53 (L.), 52, 
53 (I.), 56, 55. 56 (I.). Durchschnittsfrequenz 55. 





Literatur. 


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| 





456 E. Billigheimer: Vergleichende Untersuchungen über die Wirkung 


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und Wirkungsweise des Caleciums und der Digitalis. 457 


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Pflügers Arch. f. d. ges. Physiol. 142, 461. 1911. — 69) Rothberger und Winterberg, 
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- 88) Zondeck, S. G., Über die Bedeutung der Calecium- und Kaliumionen bei Gift- 
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(Aus der Medizinischen Universitätsklinik R. Jaksch-Wartenhorst in Prag.) 


Zur hormonalen Beeinflussung des Wasserhaushaltes beim 
Diabetes mellitus dureh Insulin und Pituitrin. 


Von 
Dr. 0. Klein, 
Assistent der Klinik. 


Mit 7 Textabbildungen. 
(Eingegangen am 9. Februar 1924.) 


Bekanntlich übt das Insulin, ähnlich den anderen Hormonen, wi 
Thyreoidin und Pituitrin, einen Einfluß auf den Wasserhaushalt de 
Organismus im allgemeinen, auf den des diabetischen im besondere 
aus. Im Oktober vergangenen Jahres hat Jaksch-Wartenhorst!) darau 
hingewiesen, daß einerseits bei Diabetikern nach länger dauernde 
Insulinbehandlung eine extrarenale Wasserretention zustande kommt 
während anderseits in gewissen Fällen von Diabetes, welche sie 
in pathogenetischer Beziehung vom gewöhnlichen reinen Pankreat 
diabetes dadurch unterscheiden, daß es sich bei ihnen um eine manifest 
Störung der Tätigkeit mehrerer endokriner Drüsen (pluriglanduläre 
Diabetes) handelt, schon nach einmaliger Injektion von Insulin ein 
renale Wasserretention beobachtet werden kann; gleichzeitig bleik 
in diesen Fällen die Wirkung des Insulins auf die Höhe des Blutzucke 
spiegels, die Glykosurie und Ketonurie aus. In dieser verschiedene 
Beeinflußbarkeit von Kohlenhydrattoleranz und Blutzucker einerseit 
Wassergehalt des Blutes andererseits ist nach Jaksch die Möglichke 
gegeben, diese beiden Formen des Diabetes, den reinen. Pankreat 
diabetes und den pluriglandulären Diabetes voneinander zu unte 
scheiden. 

Die unter Insulinbehandlung in wenigen Tagen sehr schnell eu 
tretende enorme Körpergewichtszunahme beruht, wie dies von zah 
reichen Autoren [Umber?), Hagedorn?), v. Noorden und Isaact), Wa 
del5) u. a.] und auch bei unseren Fällen beobachtet werden konnt 
zum großen Teil auf Wasserretention. Es soll sich hierbei um eir 
primäre Retention von Wasser im Gewebe handeln (extrarenale Wasse: 
retention); nach länger dauernder Insulinbehandlung wurde sogar di 
Auftreten von Ödemen beobachtet. Der Wassergehalt des Blutes sc 


O. Klein: Zur hormonalen Beeinflussung des Wasserhaushaltes usw. 459 


sich unter der Insulinwirkung beim Diabetiker nicht ändern [Wandel 
und Schmöger’)]. Erythrocytenzahl, Eiweißgehalt und Hämoglobin- 
‚ gehalt des Blutes sinken hierbei nicht ab. Collazo und Haendel®) haben 
‚im Tierexperiment sogar ein Sinken des Wassergehaltes, also das Auf- 
‚treten einer Bluteindickung unter Insulinwirkung, beobachten können. 
‚Im nachstehenden soll über Beobachtungen, die wir über die Beein- 
Hlussung des Wasserhaushaltes, insbesondere über den Wassergehalt 
‚ des Blutes unter Insulin- und Pituitrinwirkung bei den verschiedenen 
‚Formen des Diabetes gemacht haben, des Näheren berichtet werden. 
‚Ehe wir auf die Erörterung unserer Resultate eingehen, müssen wir 
‚einiges über den Wasserwechsel bei Diabetikern überhaupt ausführen, 
‚eine Frage, welche bisher verhältnismäßig nur wenig Berücksichtigung 
‚gefunden hat. Des Näheren sollen unsere diesbezüglichen Beobachtungen 
‚an anderer Stelle ausgeführt werden. 

I Beim Diabetiker zeigen Blutkonzentration und Wassergehalt des 
ı Blutes im Gegensatz zum normalen, bei Bettruhe, konstanter Diät und 
ı Wasserzufuhr befindlichen Organismus ganz bedeutende Schwankungen. 
\ Bei letzterem weisen die einigermaßen in quantitativer Hinsicht stabilen 
Blutbestandteile, auf Grund derer wir die Blutkonzentration beurteilen: 
Erythrocytenzahl*), Eiweißgehalt des Serums und die Trockensubstanz 
nur geringe Schwankungen auf. Diese sind bedingt durch Nahrungs- 
‚aufnahme (geringes Sinken von E.Z., S.R. und T.S. nach Mahlzeiten 
‚und Wasserzufuhr, Ansteigen des refraktometrisch ermittelten Eiweiß- 
gehaltes nach eiweißreichen Mahlzeiten — Boehme) und durch Muskel- 
arbeit (Steigen von E.Z., S.R. usw. nach Bewegung, Absinken bei 
‚absoluter Ruhe). Beim Diebetiker hängen die großen Schwankungen 
‚der Blutkonzentration mit der Hyperglykämie und Polyurie bzw. mit 
‚der Beeinflussung dieser Faktoren durch die Nahrungsaufnahme zu- 
sammen. Über das Verhalten der Blutkonzentration (B.-K.) bei 
den verschiedenen Formen des Diabetes und deren Beeinflussung 
durch Nahrungsaufnahme soll später ausführlich berichtet werden. 
An dieser Stelle soll nur einiger Resultate, z. T. bereits bekannter, 
2. T. auch von uns durchgeführter Untersuchungen, Erwähnung ge- 
schehen. 

1. Der Wassergehalt des Blutes ist in schweren Fällen von Diabetes 
M gemischter Kost bei diätetisch unbehandelten, vernachlässigten 
Fällen niedriger, die B.-K. also höher als bei behandelten und unter 
essen oder Hungertagen stehenden Fällen; die Tagesschwan- 
kungen sind bei jenen Fällen größer und bewegen sich um einen höheren 
‚Mittelwert. 























braucht: E.Z. — Erythrocytenzahl, S.R. = durch Refraktometrie des Serums er- 
mittelter Eiweißgehalt, T.S. — Trockensubstanz in Prozenten, Cl. = Kochsalz. 


Ä 
' *) Im folgenden Text und in den Kurven wurden folgende Ben ge- 
| Z. f. klin. Medizin. Bd, 100, 30 





460 OÖ. Klein: Zur hormonalen Beeinflussung des Wasserhaushaltes 


2. Bei schweren Diabetikern findet sich vor allem im Nüchtern- 
zustand ein nicht selten extrem hoher Wert der Blutkonzentration, 
namentlich dann, wenn hochgradige Polyurie besteht. Dies ist wohl 
dadurch zu erklären, daß durch die Polyurie der Organismus des Dia- 
betikers an Wasser verarmt; während offenbar bei Tage das durch die 
Hyperglykämie erzeugte Durstgefühl zur oralen Wasseraufnahme 
zwingt und so gleichsam regulatorisch der Wasserverlust ersetzt wird, 
ist dies zur Nachtzeit durch S—10 Stunden nicht der Fall. Da aber 
die meisten Diabetiker am Abend, oft auch in der Nacht und Morgens, 
viel Harn entleeren, kommt es zu einer Wasserverarmung der Gewebe 
und des Blutes, die nicht in dem Maße ersetzt wird wie bei Tage. Die 
Bluteindickung im Nüchternzustand wird auch ganz besonders bei 
jener Gruppe von Diabetikern gefunden, bei denen die Nachtportion 
des Harns im Verhältnis zur Tagportion sehr groß ist. Die nächtliche 
Polyurie wird hier wohl durch die der Abendmahlzeit folgende alimen- 
täre Hyperglykämie erzeugt. Die alimentäre Hyperglykämiekurve kann 
sich ja beim Diabetes, wie u. a. Rosenberg zeigte, durch viele Stunden 
nach der Nahrungsaufnahme, also in unseren Fällen bis weit in die Zeit 
des Schlafes hinein erstrecken und so zu einer Art nächtlicher Zwangs- | 
polyurie führen; der Kranke entleert dann zur Nachtzeit große Harn- | 
mengen oder wacht am Morgen mit voller Blase auf. Sehr hochgradig 
ist manchmal die Bluteindickung bei Diabetesfällen im Koma oder im | 
präkomatösen Stadium. | 

3. Unter Tags ist in manchen Fällen von Diabetes ein deutlicher 
Zusammenhang zwischen den Schwankungen der Blutkonzentration 
und der Nahrungsaufnahme ersichtlich. Meist ist beim Diabetiker mit 
dem Ansteigen der alimentären Hyperglykämiekurve auch ein Anstieg | 
der Kurve des Wassergehaltes des Blutes nach jeder größeren Nahrungs- 
aufnahme mit verbunden. Der Fußpunkt der Kurve des Wassergehaltes 
bzw. der negativen Kurve der Blutkonzentration liegt zeitlich hinter 
dem Fußpunkt der Hyperglykämiekurve. Auch beim Normalen findet 
sich nach größeren Nahrungsaufnahmen neben der Hyperglykämiekurve 
ein leichtes Sinken der B.-K. Beim Diabetiker ist aber der Ausschlag 
beider Kurven größer und der Verlauf beider Kurven viel flacher als 
beim Normalen. Letzteres sowie die zeitliche Aufeinanderfolge der 
Fußpunkte sprechen dafür, daß die alimentäre Steigerung der Hyper- 
glykämie gleichsam regulatorisch einen erhöhten Übertritt von Wasser 
in die Blutbahn zur Folge hat, welches zur erhöhten Ausscheidung des 








Zuckers durch die Niere notwendig ist. Es kommt so zu einer Art 
Zwangspolyurie, da eben die Niere den Zucker nur bis zu einer gewissen 
Höhe konzentrieren kann. Jenes Wasser wird wahrscheinlich aus den 
Geweben mobilisiert, z. T. wohl auch regulatorisch durch das Durst- 
gefühl durch orale Wasserzufuhr ersetzt. Die zeitliche Aufeinanderfolge 


der Vorgänge ist jedenfalls die, daß primär das Gewebswasser mobilisiert 
‚ wird, wodurch die Hydrämie zustande kommt, welche zu der zur Aus- 
| scheidung des Zuckers nötigen Polyurie führt; erst sekundär erfolgt 
' dann der Ersatz des abgegebenen Gewebswassers durch die orale Wasser- 
| zufuhr. Bisweilen werden auch bei Serienbestimmungen die beiden 
‚ Gipfel der Hydrämiekurve manifest. Der Einblick in das Verhalten des 
 Wasserhaushaltes beim Diabetes erschien erforderlich, um die Be- 
| einflussung desselben durch Einwirkung des Insulins zu verstehen. 


beim Diabetes mellitus durch Insulin und Pituitrin. 461 
| 


| Ehe wir zu unseren Beobachtungen übergehen, sei nur noch einiges über die 
Methodik, mit welcher die nachstehenden Untersuchungen durchgeführt wurden, 
| angeführt. Wir gingen so vor, daß wir unsere Kranken durch mehrere Tage hin- 
durch auf eine bestimmte Diät einstellten, den Wasserwechsel bei dieser Diät stu- 
ı dierten und dann bei gleicher Diät Insulin bzw. Pituitrin injizierten und die Ände- 
rung des Wasserwechsels unter deren Wirkung beobachteten. Die 4 Mahlzeiten 
wurden von den Kranken stets möglichst zur gleichen Zeit eingenommen. Es 
' wurde die gesamte getrunkene Wassermenge, die an den einzelnen Tagen annähernd 
gleich groß war, bestimmt. Die 24stündige Harnmenge wurde (zum Teil in 2- 
‚ Stunden-Portionen) bestimmt; die Wasseraufnahme wurde möglichst gleichmäßig 
über den ganzen Tag verteilt. Die Diät bestand in der Versuchszeit bei den meisten 
Kranken in Gemüse-Fett-Diät, allerdings standen die Kranken meist nicht unter 
reinen Gemüsetagen, sondern erhielten meist eine Zulage von täglich ca. 60 g 
Fleisch; an Insulintagen wurde ferner 3mal täglich zu den Hauptmahlzeiten zur 
'Standarddiät je 20—40 g Grahambrot zugelegt. Die Blutentnahme erfolgte 5 mal 
täglich, stets zur selben Zeit: 1. morgens im Nüchternzustand, 2. 2 Stunden später, 
1°/, Stunden nach dem Frühstück, 3. nach weiteren 2 Stunden, 1/, Stunde vor 
dem Mittagessen, 4. 3 Stunden nach dem Mittagessen und 5. nach 2 weiteren 
‚Stunden, !/, Stunde vor dem Abendessen. Die Insulininjektionen erfolgten stets 
'3mal täglich je !/, Stunde vor den 3 Hauptmahlzeiten, unmittelbar nach der 
Blutentnahme. Die Blutentnahme vor dem Mittagessen fiel dabei 4, die vor dem 
"Abendessen 5—6 Stunden nach der Insulininjektion, also ungefähr in die Zeit des 
' Maximums der Insulinwirkung. Das Körpergewicht wurde bei den Kranken 3 mal 
‚täglich bestimmt, während der Versuche wurde bei einzelnen Kranken auch der 
Stuhl gewogen. Bei Diarrhöen, Harnverlust durch Unachtsamkeit des Pat. u. dgl. 
wurden die betreffenden Tage aus der Beobachtungsreihe gestrichen. Zwischen 
den einzelnenVersuchen (mit Insulin, Pituitrin) wurde stets eine Pause von mehreren 
"Tagen eingeschaltet, um so eine gegenseitige Beeinflussung auszuschließen. Im 
‚Blute wurden zur Beurteilung der Blutkonzentration und des Wassergehaltes 
‚in den einzelnen Zeitpunkten folgende Blutbestandteile bestimmt: die Erythro- 
eytenzahl (= E.Z.), der Eiweißgehalt des Serums (durch Refraktometrie) (= S.R.), 
die Trockensubstanz des Blutes (nach Bang) (= T.S.) und das Kochsalz im Blute 
nach Bang) (=Cl.). Gerade beim Diabetiker erscheint das Verfolgen des quan- 
titativen Verhaltens aller dieser Bestandteile zur Beurteilung der Blutkonzentration 
und des Wassergehaltes des Blutes notwendig, da gerade hier diese einzelnen Fak- 
toren in ihrem Verhältnis zueinander und zum Gesamtblut in quantitativer Hinsicht 
großen Schwankungen unterworfen sind. So können die oft enormen Schwan- 
kungen des Blutzuckers und Blutfettes beim Diabetiker, insbesondere bei Insulin- 
behandlung, das quantitative Verhalten der Trockensubstanz und bis zu einem 
gewissen Grade auch den Brechungsindex des Serums beeinflussen, wodurch bei 
‚mangelnder Konstanz dieser Werte und ihrer außer durch Blutverdünnung durch 
primäre Schwankungen bedingten Labilität sich eine Ungenauigkeit bei der Be+ 


30* 













462 OÖ. Klein: Zur hormonalen Beeinflussung des Wasserhaushaltes 


urteilung der Blutkonzentration ergibt*). Die E.Z. ist in dieser Hinsicht noch der 
stabilste Blutbestandteil. Doch ist wiederum die Methode der Blutkörperchen- 
zählung auch bei sorgfältiger Handhabung eine relativ rohe. 


Die nachstehenden "Tabellen und Kurven zeigen nun das Verhalten 
des Wasserwechsels unter besonderer Berücksichtigung des Wasser- 
gehaltes des Blutes bei Fällen von Diabetes, welche durch mehrere Tage 
auf eine bestimmte Diät eingestellt waren: 1. unbeeinflußt von jeder 
Behandlung, 2. unter Insulin, 3. unter Pituitrinwirkung und schließlich 
bei 2 Fällen unter gleichzeitiger Insulin- und Pituitrinwirkung. Die 
Beobachtungen beziehen sich auf 9 Fälle. In bezug auf das Verhalten 
‚des Wasserwechsels unter Insulinwirkung konnten wir auf Grund unserer 
Beobachtungen 2 Gruppen von Diabetikern unterscheiden: 1. Fälle, 
bei den die einmalige Injektion und kurz dauernde Behandlung mit 
Insulin zu einer positiven Wasserbilanz mit extrarenaler Wasserretention 
führte, wobei sich die Blutkonzentration zu Beginn der Behandlung nur 
unbeträchtlich änderte; 2. Fälle, bei denen gleich nach der ersten Insulin- 
injektion die positive Wasserbilanz mit einer deutlichen Zunahme des 
Wassergehaltes des Blutes einherging (Hydrämie, renale Wasserreten- 
tion). Bei einem dieser Fälle erwiesen sich Hyperglvkämie, Glykosurie 
und Ketonurie gegenüber der Insulinbehandlung refraktär. 

Das erstgenannte Verhalten zeigte die überwiegende Mehrzahl der 
Fälle. Zunächst sei vergleichshalber die Tageskurve der Blutkonzen- 
tration bei einem schweren Fall von Diabetes mellitus mit Ketonurie 


angeführt. 
Tabelle I. 


2. (Diabetes, pluriglanduläre Insuff.) Schwerer Fall, Ketonurie. 
13. XI. Schwankungen der Biutkonzentration (gemischte Kost). (Siehe Kurvel.) 

















Zeit E.2.**) |S.R.***) © en e | Diät 
'8 Uhr 6,070 | 67 22,5 | 580,4 | Trinkmenge: 3400cm?| A.: 97,08 
10 Uhr 5,940 | 66 22,5 | 573,4 | Harnmenge: 3000 cm?| F.: 107,08. 
12 Uhr 5,480 | 65,4 | 22,4 | 590,7 KH.: 106,08. 
3 Uhr 30 Min. || 5,620 | 66 _— — | Zuckerausschei-| | 
. dung pro 24 St. ‚sa 5 
6 Uhr 30 Min. || 5,760 | 65 21,3 | 608,8 

















*) Hierzu kommt noch, daß gewisse, auf den Wasserhaushalt und die Diurese 
einwirkende Stoffe, wie Coffein, Thyreoidin u. a., welche den Quellungszustand 
und das Wasserbindungsvermögen der Serumkolloide in sehr hohem Grade be- 
einflussen [Ellinger!®)] und zu denen, wie wir sehen werden, auch das Insulin zu 
zählen ist, gleichzeitig mit dem Viscositätsgrad auch das Brechungsvermögen 
des Blutserums in einer oder der andern Richtung verändern können, so daß auch 
hierdurch für die Berechnung des Serumeiweißgehaltes aus dem Refraktionsgrad 
eine Fehlerquelle entsteht [Freund!!)]. 

**) Erythrocytenzahl in Tausenden. 
***) Refraktometrischer Wert des Serums in Skalenteilen des Refraktometers 
(Pulfrich). 





| 




















| daß T.S., EZ. und S.R. in 
‚ quantitativer Hinsicht nicht 
ganz parallel gehen. Das hing 


standen, ist hier der Nüchtern- Kurve IL. 
ı wert der Blutkonzentration 

kein so hoher wie bei dem oben angeführten Fall, der unter gemischter 
' Kost stand. Wir sehen, daß an den Insülintagen die Schwankungen der 
‚ Blutkonzentration zunächst größere Ausschläge in einheitlicher Richtung 


beim Diabetes mellitus durch Insulin und Pituitrin. 463 


Wir sehen hier (Tab. I, Kurve I) in einer Periode von gemischter 


Kost, hoher Zuckerausscheidung, reichlicher Ausscheidung von Aceton- 


körpern einen sehr hohen Nüchternwert für T.S., E.Z. und S.R. Das 
quantitative Verhalten dieser 3 Faktoren weist auf eine hochgradige 


‚ Bluteindickung hin. Auch unter Tags bewegen sich diese Zahlen um 


einen sehr hohen Mittelwert, die Schwankungen sind ziemlich groß*), 


_ wiewohl die Blutentnahme C1TS.SR. EZ 


ziemlich ferne von der Mahl- i 
zeit erfolgte. Wir sehen auch, 





6000 


| 
> 


6710 22 67 5800 =, 5 
DENT 


30 65 5600 


ae 
370 21 65 5400 5 


10 12 330 630 
Kurve I. 














in diesem Fall wohl damit zu- 


sammen, daß S.R. und T.S. durch die Schwankungen des Blutzuckers 


und Blutfettes — die Patientin hatte hochgradige Hyperglykämie und 


 Lipämie — der Cholesteringehalt war auf mehr als das 6fache vermehrt — 


bis zu einem gewissen Grade in quantitativer Hinsicht beeinflußt wurden. 
Immerhin sehen wir, daß die Kurven der E.Z., S.R. und T.S. im Laufe 
des Tages gegenüber dem Nüchternwert absinken, während die Kurve 
des Kochsalzes, offenbar unter dem Einfluß der Nahrungsaufnahme, 


‚ leicht ansteigt. 


Nach mehrtägiger Gemüsekost ist der Nüchternwert der Blutkon- 


‚ zentration niedriger, das Blut gegenüber der Periode mit gemischter 


Kost wasserreicher geworden. Die Tagesschwankungen sind geringer 
und bewegen sich um einen niedrigeren Mittelwert. Die folgenden 
Tabellen zeigen uns das Verhalten des Wasserhaushaltes und der Blut- 


 konzentration bei mehreren auf konstante Diät eingestellten Diabetikern 


vor der Insulinbehandlung und 





SE. JOE | 


am ersten Tage der Insulinein- ee Insulin Insulin 
' wirkung (über die diätetische ii 
‘ Einstellung s. weiter oben). 





560 60 


Da die Kranken durch 











; 540 19 59 
mehrere Tage hindurch unter ,„, 
vorwiegender Gemüsekost 14 57 


vermissen lassen, doch ist vielleicht bei Tage unter der Insulinwirkung 


‚ ein mäßiger Anstieg von E.Z., S.R. und T.S. zu beobachten. Die Kurve 
_ (s. Kurve II, Tab. II und IIIb) zeigt also in ihrem Verlaufe einen gewissen 


*) Patient befand sich bei absoluter Bettruhe. 


464 O. Klein: Zur hormonalen Beeinflussung des Wasserhaushaltes 


Tabelle II. 
S. (Diabetes mell., schwerer Fall) Verhalten der Blutkonzentration unter 
Insulinwirkung. 









































Zeit | BZ. | SR. Ti: 21 
% mg’, 
Ba j Trinkmenge: 3600 cm?*) 
h 5,710 65,5 18,85 — i 
- 2 dur \ Harnmenge : 3600 cm? 
8 Uhr 4,950 60,0 19,9 LO: 
1008 5.370 58,5 19,2 DOLL x: ’ 
ja 5,400 60,0 1995 | 5290 | REN es ge 
4a 5,100 58,0 20,0 536,0 | 2 SFr 
De 4,910 60,0 —- 629,0 | 
8./l. 
(s. Kurve II) Gewicht: 68,1 kg 
8 Uhr 5,200 57,4 19,1 551,8 > 
Insulin > Trinkmenge: Du 
10 Uhr | 5,690 57,0 18,8 505,6 1.8| 92800cm! |4A-: 62,48 
12, 5,570 58,4 18,8 546,0 | F.: 101,6 
Insulin | Harnmenge:| _, 
5 KSrs 
4 Uhr | 5,780 59,0 19,4 577,2 1500 cm 55.98 
a 5,560 61,4 19,5 581,2 
Insulin > 
9,/I. 
8 Uhr | 5,680 58,1 19.8 551,8 |.=f Trinkmenge: 2600 cm? 
Bra 5.580 55,3 19,8 577,2 | 2% Harnmenee: 1500 cm? 
Bu 5,160 54,4 18,2 550,1 |Al Gewicht: 70,8 kg 
10./I. 
8 Uhr 5.850 61,0 20,0 546,8 
14./I. 
8 Uhr 4,850 55 — 575.0 


Tägliche durchschnittliche Insulindosis 3 mal 25 Einheiten=75 Einheiten. (Präparat: 
Insulin v. Allen & Haubury.) 


Gegensatz zu der Tageskurve der B.K., wie man sie bei unbehandelten, 
unter gemischter Kost stehenden schweren Diabetesfällen findet. 
Auch hier gehen die T.S., S.R. und E.Z. keineswegs miteinander parallel. 
Während namentlich bei dem Fall 8. die E.Z. sogleich nach der Insulin- 
injektion ansteigt, dann wieder abfällt und nun erst einen geringen 
kontinuierlichen Anstieg zeigt, "bleiben T.S. und S.R. zunächst gleich 
hoch und steigen erst später auf der Höhe der Insulinwirkung ein wenig, 
aber kontinuierlich an. Die Kurve des Kochsalzes im Blute zeigt gleich- 
zeitig mit dem steilen Anstieg der Erythrocytenkurve einen deutlichen 





*) Eingerechnet den Wassergehalt der Nahrung. — Oxydationswasser ist in 
dieser Zahl nicht enthalten. 








beim Diabetes mellitus durch Insulin und Pituitrin. 465 


Tabelle III a. 
B. (Diabetes mell., mittelschwerer Fall.) 























i AS. Cl 

zu | nz an | 95 | ,0, 
6. XI. 

8 Uhr | 4550| 55 | 19,8 | 537 |_ 
10 :,, 4890| 59 | 20,3 | 566,3 |& | Körpergewicht 8 Uhr morgens: 56,1 kg 
12 „ 15,270| 59 | 20,3 | 591 |3 Trinkmenge: 2100 cm? 

4=2,.14.5204..58 21,4 |563 8 Harnmenge: 1700 cm? Gemüsetag! 

DE .8r — 60 | 20,7 | 566 


Tabelle III b. 


B. (Diabetes mell., mittelschwerer Fall.) Blutkonzentration bei Insulinbehand- 
lung. 











I. Cl Diät 


Zeit ac Zi.) BB; 
% mg-% 








8 Uhr | 4,860 | 57 21 .|590,2 
Insulin > Trinkmenge: 1700 em? 











10 Uhr |4,980 | 58 | 21,9 | 540,1 |:3 |frarnmense: 600em3 | A: 293 8 
12 Uhr | 5,070! 58,8 | 21,0 Ieoga|E) "Karmerzewicht | Fr 21508 
Insulin > - pers KH.: 58,7 
8 Uhr abds.: 57,9 kg 
4 Uhr |[4,850 | 55,9 | 20,4 | 537,2 
6Uhr | 5,010 | 57,9 |-— | 569,7 











3 mal 40 Einheiten Insulin (Norgine-Pankreashormon). 


Abfall, um erst später ungefähr gleichsinnig mit S.R. und T.S. anzu- 
steigen. Diesen Anstieg der Kurve der T.S., S.R. und E.Z. bei gleich- 
zeitig vorübergehendem Sinken der Kochsalzkurve nach der ersten 
Insulininjektion haben wir bei der Mehrzahl der Diabetiker, insbesondere 
bei den schweren Fällen beobachten können. Es handelt sich hier viel- 
leicht um eine durch die Insulinwirkung hervorgerufene geringgradige 
Bluteindickung. Das anfängliche Zurückbleiben der Kurven der SR. und 
T.S. mag in manchen Fällen mit dem gleichzeitigen Sinken von Blut- 
zucker und dem Zurückgehen der Lipämie in Beziehung gebracht 
werden. Da unter der Insulinwirkung der Blutzucker und das Blutfett 
[@eelmuyden’)] absinkt, so könnte bei rapidem Abfall derselben, trotz 
des gleichzeitig eintretenden mäßigen Wasserverlustes ein Ansteigen 
der T.S. und S8.R. verhindert werden. Das anfängliche Sinken des 
“ Kochsalzes im Blute ist wahrscheinlich bedingt durch erhöhten Übertritt 
von Kochsalz aus der Blutbahn ins Gewebe oder durch ein quantitatives 
Zurückbleiben des Einstromes von Kochsalz aus dem Gewebe ins Blut 
gegenüber der Ausscheidung von Kochsalz durch den Harn. Es findet 
demnach eine gewisse Retention von Kochsalz im Gewebe statt. Diese 
sowie die oft zu Beginn der Insulinbehandlung nachweisbare mäßige 


466 O. Klein: Zur hormonalen Beeinflussung des Wasserhaushaltes 


Steigerung der Blutkonzentration kann aber nur durch den erhöhten 
Übertritt von Flüssigkeit aus dem Blute ins Gewebe bedingt sein und 
hängt somit mit der hier stets zustandekommenden bedeutenden extra- 
renalen Wasserretention zusammen. Daß es unter Insulinwirkung zu 
einer ganz beträchtlichen Wasserretention im Körper kommt, beweisen 
die in wenigen Tagen eintretenden ganz enormen Zunahmen des Körper- 
gewichtes sowie die positive Wasserbilanz der Diabetiker, die unter 
Insulinwirkung stehen. Das vollständige Fehlen jedweder Blutver- 
dünnung (Hydrämie) unmittelbar nach der Insulininjektion beweist, 
daß die Retention des Wassers extrarenal und nicht renal durch H emmung 
der Wasserausscheidung durch die Niere zustande kommt; ja die eben 
erwähnte, oft nachweisbare Erhöhung der Blutkonzentration sowie das 
kurz nach der ersten Insulininjektion vorübergehend eintretende Sinken 
des Kochsalzspiegels sprechen für einen primären extrarenalen Abstrom 
von Wasser und Kochsalz in die Gewebe unter der Wirkung von Insulin. 
Wie die angeführten Zahlen zeigen, beträgt die Körpergewichtszunahme 
unter Insulinwirkung oft in wenigen Tagen 8-10 kg (s. Tab. IV). 


Tabelle IV. 
Verhalten des Körpergewichtes bei längerdauernder Insulinbehandlung. 


Vor der 
Fall Behandlung Nach Insulinbehandlung Körpergewichtszunahme 
V.P., schwerer Fall . 59,2 kg „ Ttägig. „ 73,9kg 14,7kg in 7 Tagen 
R.F., schwerer Fall . 50,1 ,, En 0 00,9 70. 6, Bor ze r 


K., mittelschwerer Fall 53,2 ‚, ALÜSERE 537 01,4:2,.,0,. 8.2 SER ” 
Es muß hiernatürlich neben Ansatz von Körpersubstanz vor allem Wasserreten- 
tion als Ursache für den rapiden Körpergewichtsanstieg angenommen werden. Das 
lehrt auch die bei Insulinbehandlung sehr deutlich zutage tretende positive Wasser- 
bilanz, indem die Wassereinnahme namentlich in den ersten Tagen der Insulin- 
wirkung die Wasserabgabe durch den Harn sehr bedeutend übersteigt. Nament- 
lich gilt dies für die schweren Fälle. Bei mittlerer Dosierung des Insulins, wobei 
Hyperglykämie und Glykosurie nicht beseitigt, sondern nur verringert werden, 
kann man oft ganz deutlich sehen, daß die Abnahme der gesamten Zuckeraus- 
scheidung pro 24 Stunden so zustande kommt, daß zunächst die Harnmengen 
zurückgehen, während der prozentuelle Zuckergehalt des Harns zunächst gleich 
bleibt. Reduktion der Zuckerausscheidung und Wasserretention gehen in solchen 
Fällen zunächst streng parallel. Erst später kommt die weitere Abnahme der 
Gesamtzuckerausscheidung pro 24 Stunden auf dem Wege des Sinkens des pro- 
zentuellen Zuckergehaltes noch hinzu. Die, wie erwähnt, bei schweren Fällen 
besonders deutliche positive Wasserbilanz ist hier wahrscheinlich z. T. als eine 
Art Einsparung oder Wiederersatz von Wasser anzusehen. Es wurde schon her- 
vorgehoben, daß bei schweren unbehandelten, mit starker Hyperglykämie, Keton- 
urie und Polyurie einhergehenden Diabetesfällen die Gewebe und das Blut an 
Wasser verarmen, und daß insbesondere präkomatös und im Koma das Blut die 
Zeichen einer oft recht hochgradigen Eindickung zeigt. Natürlich fällt unter In- 
sulinwirkung bei Herabsetzung oder Beseitigung der Hyperglykämie und Poly- 
urie die Ursache für die Bluteindickung weg. Der an Wasser verarmte Organismus 
ist dann nach Beseitigung der Stoffwechselstörung und der durch sie bedingten 








beim Diabetes mellitus durch Insulin und Pituitrin. 467 


Zwangspolyurie imstande, auch den normalen Wassergehalt seiner Gewebe wieder- 
herzustellen. Vielleicht erlangen die Körperzellen gleichzeitig mit dem Vermögen, 
das Glykogen zu speichern, auch die Fähigkeit wieder, das Wasser in erhöhtem 
Maße zu binden. Inwieweit dabei eine Änderung des Wasserbindungsvermögens 
der Gewebs- und Blutkolloide (im Sinne von Hamburger, Ellinger und Oehme) 
unter der Wirkung des Insulins eine Rolle spielt, bleibt vorläufig noch eine offene 
Frage*). Allenfalls müßte man an eine Zunahme der Wasserspeicherung des Leber- 
und Muskelgewebes denken, da einerseits nach manchen neueren Anschauungen 
gerade der Leber eine große Rolle im Wasserhaushalt zukommen soll, und anderer- ' 
seits die Leber und die Muskeln auch in ihrem Glykogenspeicherungsvermögen 
durch das Insulin beeinflußt werden. 


Wie sämtliche Körpergewebe, so erfährt auch das Blut unter länger 
dauernder Insulinwirkung eine Zunahme seines Wassergehaltes. Dies 
zeigen die nachfolgenden Zahlen sehr deutlich (s. Tab. V). 


Tabelle V. 


Verhalten des Wassergehaltes des Blutes bei längerdauernder Insulinbehand- 
lung. 


FR Tg; Nach EL SR Te. 
S. (schwerer 
Fall) .. 5710000 65,5 19,0% ‚ Ttägiger Beh. 4650000 55 17,7% 
P. (schwerer 
Fall, prä- 
komatös) 5410000 67 18,7% ,14 , » 3550000 50 15,0% 
K. (mittel- 
schwerer 
ale 22 5120000.63,6 21.577, 6 » 4490000 58,5 19,1% ***) 


Bei allen Fällen, die ununterbrochen durch mehrere Tage oder 
Wochen unter Insulinwirkung standen, ist der Nüchternwert für T.S., 
S.R. und E.Z. wesentlich niedriger als der Nüchternwert unmittelbar 
vor der Insulinbehandlung. Enorm ist dieser Unterschied bei dem im 
präkomatösen Stadium befindlichen Fall zwischen dem hohen Wert: 
der B.K. zur Zeit der Komasymptome und dem niedrigen Wert derselben 
nach l4tägiger Insulinbehandlung. Die Zunahme des Wassergehaltes 
des Blutes (Nüchternwert) erfolgt bei Insulinbehandlung meist erst nach 


*) Sehr wahrscheinlich gehört das Insulin zu jenen pharmakologisch wirksamen 
Stoffen, welche — wie dies für das Thyreoidin, Coffein u.a. von Ellinger und 
Neuschloß nachgewiesen wurde — das Wasserbindungsvermögen (Hydratations- 
grad) der Serum- und Gewebskolloide in hohem Grade verändern können. 

**) Nüchternwerte am Morgen. 

***) Während der Drucklegung konnten wir neuerdings bei einem Fall von 
Koma diabetic das Verhalten der Blutkonzentration während der Insulin- 
behandlung studieren. Das geschilderte Verhalten ist hier besonders typisch: 

a. nz. SR m6, Nach EL SR mg 
Sch. (schwerer 
Fall bereits 
im Koma). 6200000 68 24,9% ,„, Stägiger Beh. 3960000 52 16,4%, 


468 O. Klein: Zur hormonalen Beeinflussung des Wasserhaushaltes 


längerer Zeit, wenn bereits ein ziemlich deutlicher Körpergewichts- 
anstieg zu verzeichnen ist und die positive Wasserbilanz eine Zeit 
lang besteht. Offenbar ist das Blut dasjenige Gewebe, das zuletzt seinen 
Wassergehalt steigert oder den Wasserverlust wieder ersetzt, wenn alle 
übrigen Gewebe bereits bis zu einem gewissen Grade mit Wasser ge- 
sättigt sind. Das spät — erst nach länger dauernder Insulinbehandlung 
‚— manifest werdende Sinken der Blutkonzentration weist darauf hin, 
daß es sich hier um eine primäre Änderung der Wasserbindung im Blute 
handelt, und daß die Blutverdünnung hier nicht auf einer Stauung des 
Wassers vor der Niere beruht, also keineswegs eine renale Wasserretention 
(renale Hemmung der Wasserdiurese) wie beim Pituitrin vorliegt. In 
diesem Falle müßten schon nach der ersten Injektion die Zeichen einer 
Hydrämie nachweisbar sein. Überhaupt muß auf Grund der bisherigen 
Ausführungen die Wirkung des Insulins auf den Wasserwechsel beim 
Diabetes nicht unbedingt nur als primäre aktive, durch die Wirkung 
des Insulins erzeugte extrarenale Wasserretention angesehen werden, 
sondern dieselbe ist vielmehr auch als sekundäre Folge der Änderung 
des Kohlenhydratstoffwechsels und der dadurch bedingten Beseitigung 
der Hyperglykämie und Zwangspolyurie aufzufassen. Unter der Wirkung 
des Insulins kehrt der in seinem Wasserwechsel gestörte, an Wasser 
verarmte Organismus zum normalen Wassergehalt seiner Gewebe und 
zum normalen Wasserwechsel zurück, da die Ursache für die Störung 
beseitigt ist und die Zellen wahrscheinlich mit dem normalen Glykogen- 
speicherungsvermögen auch ihr normales Wasserspeicherungsvermögen 
wiedergewinnen. 


Tabelle VI. 


S. (Diabetes, schwerer Fall.) (Siehe Kurve III.) 
16. I. Blutkonzentration bei Pituitrinwirkung. 


Zeit E.Z. S.R. Abiar Clmg 
% % 
OR: Uhr 5,580 60,8 18,3 5sl 
IF, 4,6380 57,0 1.7 611,3 
27°, 4,680 57,8 16,9 — 
En, 4,550 60,0 172 562 


um 9 Uhr a. m. 2 Ampullen Pituitrin subeut. 


Bei 3 Fällen dieser Gruppe wurde das Verhalten des Wasserwechsels 
außer bei Insulinwirkung auch unter der Einwirkung von Pituitrin 
studiert (s. vorstehende Tab. VIund Kurve III). Der Ablauf der Diurese 
und das Verhalten der Blutkonzentration des unter Pituitrinwirkung 
stehenden Diabetikers unterscheidet sich vom Normalen unter Pituitrin- 
wirkung stehenden Organismus durch die Verstärkung und Verlängerung 
der Phase der Diuresehemmung und durch die höhergradige Blutver- 
dünnung, die in dieser Phase eintritt. Wir sehen nach der Pituitrin- 





beim Diabetes mellitus durch Insulin und Pituitrin. 469 


injektion T.S., S.R. und E.Z. deutlich absinken. Die durch renale 
Hemmung der Wasserdiurese erzeugte Hydrämie hält dabei recht lange 
an. Die Kurve des NaCl im Blute zeigt gleichzeitig mit dem Abfall der 
Kurve der B.K. einen Anstieg; ebenso wie unter Insulinwirkung ver- 
laufen also hier die Kurven der B.K. und des Kochsalzes entgegengesetzt. 
In quantitativer Hinsicht zeigen aber die Blutbestandteile das gerade 
Entgegengesetzte ihres Verhaltens unter Insulinwirkung. Der Anstieg 
der Kochsalzkurve, der demnach mit dem Anstieg der Kurve des Wasser- 
gehaltes parallel geht, mag seine Ursache in der vorübergehenden Herab- 
setzung der NaCl-Ausscheidung durch die Niere haben. Trotz der Er- 
höhung der Molendiurese (Steigerung der NaCl-Konzentration) unter 
der Pituitrinwirkung genügen offenbar die im Stadium der Diurese- 
hemmung ausgeschiedenen sehr ge- 


. R 4 TS SR. EZ. 2ccm Pituitrin 
ringen Harnmengen nicht, um das | ; 


NaCl in dem Maße wie vorher zu 5500 
eliminieren; es kommt folglich zu 9 5300 
einer gewissen Retention von Koch-: co 5700 











salz im Blute. Die Intensität der zw 7 59 #900 
Hemmung der renalen Wasseraus- 5390 58 #700 
scheidung und der hohe Grad der hier- 560 % 57 4500 
durch erzeugten Blutverdünnung, wie Erde ID 

sie für die Wirkung des Pituitrins beim 

Diabetiker charakteristisch sind, erinnert an die Wirkung des Pituitrins 
auf die Diurese, und B.K. bei Nierenkranken, die mit Niereninsuffizienz, 
Polyurie und Hyposthenurie einhergehen, wie sie von uns an anderer 
Stelle beschrieben wurde®). Auch hier ist der hohe Grad und die lange 
Dauer dieser Phase, insbesondere die Dauer und der hohe Grad der 
Hydrämie charakteristisch. Dies ist auch wohl verständlich, da in 
beiden Fällen — beim Diabetes und. bei der Niereninsuffizienz — eine 
Zwangspolyurie besteht. Bei dem auf starke Wasserabgabe aus den 
Geweben eingestellten Wasserwechsel ist ja das Zustandekommen der 
starken Hydrämie bei plötzlicher Hemmung der Wasserausscheidung 
durch die Niere eine notwendige Folge, da sich das zunächst aus den 
(Geweben noch in erhöhtem Grade einströmende Wasser vor der Niere 
stauen muß. Die Ursache für die Intensität der Diuresehemmung und 
Hydrämie ist also in beiden Fällen die gleiche, nur daß bei der Nieren- 
insuffizienz die Zwangspolyurie durch die Konzentrationsschwäche der 
Niere, bei Diabetikern mit intakter Nierenfunktion bei normalem Kon- 
zentrationsvermögen durch das erhöhte Angebot durch das Blut und 
den diuretischen Reiz der Hyperglykämie bedingt ist. Zwischen dem 
Ablauf der Pituitrindiurese beim Diabetes und bei der Niereninsuffi- 
zienz besteht aber doch insofern ein Unterschied, als beim Diabetiker 
die Wirkung auf Diurese und B.K. prompt nach der Pituitrininjektion 








470 O. Klein: Zur hormonalen Beeinflussung des Wasserhaushaltes 


eintritt, während Nierenkranke mit Niereninsuffizienz auf die Pituitrin- 
injektion mit Änderung der Diurese und B.K. verzögert reagieren. 
Tabelle VII. 


S. Diabetes mell. (schwerer Fall). (Siehe Kurve IV.) Verhalten der Blutkon- 
zentration bei gleichzeitiger Insulin- und Pituitrinwirkung. 


Zeit E. 2. S.R. Cl. 

19.1. _8Uhr 4,980 58,6 530,8 
10.2: 3,6600 55,0 567,878 
12m 3,970 59,0 576,533 
Aw, 3,900° 60,0. 527,8 35 

Br, 4,000 610 492,3 


8 Uhr 30 Min. von 2 Ampullen Pituitrin und 30 Einheiten Insulin. 


In einem Fall wurde gleichzeitig Insulin und Pituitrin injiziert; die 
Tabelle (VII) und Kurve (IV) zeigen, daß die Pituitrinwirkung auf Blut- 


en Kr Me konzentration und Diurese durch 
| Zecm Pituitrin# 4 : St a 
Ba ee die gleichzeitige Insulininjektion 
N, nicht beeinflußt wird. Sie wird 
weder verstärkt noch abge- 
390 60 4600 h H h H 4 & E m 
570 59 4400 schwächt. En Bm . jurese- 
550 58 4200 hemmung sind in gleicher Weise 
530 57 4000 wie bei reiner Pituitrinwirkung aus- 
510 56 3800 gesprochen. Dies ist um so inter- 





essanter, alsin bezug auf die Hyper- 
glykämie durch das Pituitrin die 
Wirkung des Insulins auf die Herab- 
setzung derselben abgeschwächt werden soll [Macleod?)]. 

Bei einigen Diabetikern, im ganzen bei 3 Fällen, war die Einwirkung 
des Insulins auf den Wasserwechsel, insbesondere auf den Wassergehalt 
des Blutes, insofern von der eben beschriebenen verschieden, als gleich 
nach der Insulininjektion eine deutliche Wasservermehrung im Blute 
(Blutverdünnung) eintrat, die eine Zeitlang, 3—4 Stunden nach der In- 
sulininjektion (im Maximum der Insulinwirkung), ihren Höhepunkt er- 
reichte und mehrere Stunden andauerte. Dieses Sinken der Blut- 
konzentration trat in solchen Fällen nach jeder Insulininjektion immer 
wieder auf. Bei 2 Fällen war dieses Sinken der B.K. mäßig aus- 
gesprochen, während bei dem einen Fall, wie die Tabelle (VIIIb, c) und 
Kurve (V) zeigen, nach Insulininjektion eine sehr hochgradige Blut- 
verdünnung eintrat. S.R., E.Z. und T.S. sinken alle, wenn auch nicht 
alle gleichzeitig und nicht in gleichem Grade, so doch alle in steiler 
Kurve ab. Der Eiweißgehalt des Serums fiel im 1. Versuche um mehr 
als 3%, *), die E.Z. sank um mehr als 2 Millionen in wenigen Stunden 
herab; die Versuche wurden bei dem Falle 4 mal zu verschiedenen Zeiten 
unter Zwischenschaltung von mehrwöchentlichen Intervallen wieder- 


*) Absolut. 


490 55 3600 8 


Kurve IV. 








beim Diabetes mellitus durch Insulin und Pituitrin. 471 


holt und ergaben immer wieder dasselbe Resultat*). Die in 1—2 Stunden 
nach der Insulininjektion eintretende Hydrämie (echte Blutverdünnung) 
bei gleichzeitiger Hemmung der Wasserdiurese (Abnahme der Harn- 
menge gegenüber den Vortagen, an denen die gleiche Wasserzufuhr be- 
stand) kann nur durch eine Hemmung der renalen Wasserausscheidung 
(renale Wasserretention) erklärt werden. Wir haben also hier die gleiche 
Beeinflussung des Wasserwechsels und der B.K. durch das Insulin, wie 
sie sonst unter Pituitrinwirkung eintritt, und es entspricht die Kurve 
der B.K., die hier unter Insulinwirkung beobachtet wird, einer ver- 
stärkten Hydrämiekurve, wie sie unter Pituitrinwirkung zustande 
kommt. Auch die Kurve des Kochsalzspiegels im Blute, die in diesem 


& 7 ö. SR EZ. : ; JO E. Insulin SOE. Insulin \30 E. Insulin 
Da 
el 




















63 

62 

20 61 

50 60 

540 19.59 

se 58 

500 18 57 
480 























Kurve V, 


Falle unter Insulinwirkung einen deutlichen Anstieg zeigt, entspricht 
dem Verhalten der Kurve des Kochsalzes im Pituitrinversuch, während 
wir im Gegensatz dazu bei den übrigen Diabetikern in den ersten Stunden 
der Insulinwirkung ein deutliches Absinken des Kochsalzspiegels im 
Blute beobachten konnten. Die andere Besonderheit, die dieser Fall 
in seinem Verhalten gegenüber der Insulinwirkung zeigte, war das Aus- 
bleiben eines Einflusses auf Glykosurie, Ketonurie und Kohlenhydrat- 
toleranz, sowie das Ausbleiben eines deutlichen Sinkens des Blutzucker- 
spiegels**), wie dies bereits von Jaksch erwähnt wurde, Der äußerst 
geringe Abfall desselben nach großen Insulindosen oder der etwas 
niedrigere Anstieg der postalimentären Hyperglykämiekurve ist nur 
ein scheinbarer, da in diesem Falle die Hyperglykämie teilweise durch 
die Blutverdünnung verdeckt wird. 

Bei der gleichen Kranken wurde auch von den Perioden mit Insulin- 
behandlung durch entsprechenden Zeitintervall getrennt, Pituitrin und 





*) Auch bei Verwendung verschiedener Insulinpräparate zeigte ‚sich stets 
das gleiche Verhalten! 

**) Gienaueres über das Verhalten des Kohlenhydratstoffwechsels in diesem 
Falle siehe die aus der Klinik Jaksch erscheinende Arbeit von Mahler und Pasterny. 

















472 O. Klein: Zur hormonalen Beeinflussung des Wasserhaushaltes 
Tabelle VIIIa. Z. (Diabetes, plurigland. Insuff., schwerer Fall). Insulinfrei. 
R AELISH Cl. mg. 
Zeit BEZ S. R. %, % 
DAX 
8 Uhr | 5,450 66,5 20,25 567,5 Trinkmenge : 3000 
10 Uhr || 5,650 65,0 21,4 516,6 Harnmenge: 2700 
12 Uhr | 6,260 66,0 21,4 E= Zuckerausscheidung: 115,6 
3Uhr30Min. 5,800 63,0 Fe 502,0 
6 Uhr 30Min. 5,800 63,6 20,6 530,9 











Tabelle VIIIb. Z. (Diabetes, plurigland. Insuff., schwerer Fall). Blutkonzentration 

















unter u ‚(s. Kurve V). 
Zeit E. Z. SR. . elneN, 

GAXILE 

8 Uhr 5,670 63,0 20,8 500,1 8 Uhr morgens Körper- 
Insulin — gewicht 46 kg 

10 Chr || 4,180 60,8 20,25 511,2 | _ Trinkmenge 2400 

ar 4,440 57,0 18,95 510,0 |53 Harnmenge 1500 
Insulin — C Zuckerausscheidung 

3 Uhr | 4,390 59,6 19,6 565 105,5 

DER, 4,320 60,5 18,9 541,0 Diät A.: 35g, F.: 170g, 
Insulin — KH) 














3 Mal täglich Injektion von je 30 Insulineinheiten (Insulin Lilly). 


Tabelle VIIIc. 


Z. (Diabetes, plurigland. Insuff., schwerer Fall). 


Blutkonzen- 























tration unter Insulinwirkung (2. Tag). 

Zeit E. Z BAR ER AO 
TER DIE | 

8 Uhr | 4,350 58,7 _ — _ Trinkmenge: 2800 
Insulin > 5 Harnmenge: 2200 

12 Uhr | 4,250 57 20,2 541,7 = Zuckerausscheidung: 106g 

) un 

Insulin — Körpergewicht 6 Uhr 

dz Uhr.) 8,870 56,3 19,1 947,8 abends: 46,7 kg 


3 mal täglich Injektion von je 30 Insulineinheiten (Insulin Lilly). 


Tabelle IX. Z. (Diabetes, plurigland. Insuff.). 


Blut- 


konzentration unter Pituitrinwirkung (s. Kurve VI). 























Zeit E.Z. S.R. Ba Cl. 
29. XL. 
8 Uhr | 4,430 66 21,5 = 
— 
10 Uhr | 3,820 60,5 20,4 = 
12 Uhr | 4,240 61,0 212 =, 
6 Uhr || 4,580 60,4 20,0 Rx 


Um 9 Uhr zwei Ampull. Pituitrin subcutan. 





beim Diabetes mellitus durch Insulin und Pituitrin. 473 


ein anderes Mal Pituitrin und Insulin gleichzeitig injiziert und das Ver- 
halten von Diurese und Blutkonzentration an den betreffenden Tagen 
(sowie an den Tagen vorher und nachher) verfolgt (s. Tab. IX, Kurve VI). 
Die Diuresehemmung und Blut- TS SR.EZ 
verdünnung, die unter Pituitrin- 
wirkung zustande kam, war der 
unter Insulinwirkung beobachteten 
fast gleich; ein Unterschied war 
nur in der Größe des Ausschlags 
zu beobachten, indem die Hydrämie 
unter Pituitrinwirkunggeringer war 
als unter Insulinwirkung; dagegen 
erfolgte das Absinken der Hydrä- 
miekurve unter Pituitrinwirkung prompter als unter Insulinwirkung, und 
es sanken R.7., S.R. und T.S. fast gleichzeitig und vollständig parallel 
miteinander ab. Das Verhalten der B.K. im Pituitrinversuch unter- 
schied sich in diesem Falle kaum von dem Verhalten derselben, wie es. 
auch bei den übrigen Diabetikern unter der Wirkung von Pituitrin be- 
obachtet wurde. 
Tabelle X. Z. (Diabetes, plurigland. Insuff.) (s. Kurve 


VII). Blutkonzentration bei gleichzeitiger Insulin- und 
Pituitrinwirkung. (Summation der Effekte.) 




















Kurve VI. 



































Zeit BZ. | SR. He cı ‚mg. 
12. XIL. 
8 Uhr || 5,120 63,6 21,5 581 
>| s 
10 Uhr 3,800 61,0 2 2 3 
1% Uhr | 3,870 56,6 19,8 604 5 
6 Uhr | 3,800 58.5 20,1 535 
IS:XIr. 5 
8 Uhr || 4,220 61.2 20,9 ee: 
u. = 
10 Uhr | . 3,380 56,1 171 653,7 
12 Uhr || 3,600 58,0 20,0 607 
6 Uhr | 4,800 66 21,4 m 








An beiden Tagen um 9 Uhr morgens Injektion von 
2 Ampullen Pituitrin und je 100 Einheiten Insulin*). 

Bei gleichzeitiger Pituitrin- und Insulinwirkung ergibt sich in diesem 
Falle sehr deutlich eine Summation der Effekte der beiden hier auf 
den Wasserwechsel gleichsinnig und am gleichen Angriffspunkt wirken- 
den Hormone. Diuresehemmung und Blutverdünnung erscheinen 
wesentlich verstärkt. Wir sehen (Tab. X, Kurve VII) hier T.S., S.R. 


*) Es handelt sich hier um kleine Einheiten (= !/,; E). 


474 O. Klein: Zur hormonalen Beeinflussung des Wasserhaushaltes 


und E.Z. in steiler Kurve absinken; fast noch deutlicher ist der Aus- 
schlag nach abermaliger kombinierter Injektion am 2. Tage. Die in 
diesem Falle einander unterstützende gleichsinnige Einwirkung der 
beiden Hormone auf den Wasserwechsel: Hemmung der renalen Wasser- 
diurese und dadurch hervorgerufene Blutverdünnung, wird hier be- 
sonders deutlich. So wie es in der Phase der Diuresehemmung im Pituitrin- 
versuch, unter Insulinwirkung jedoch nur in diesem Falle beobachtet 
wurde, steigt auch bei kombinierter Wirkung gleichzeitig mit dem 
Sinken der Blutkonzentration der Kochsalzspiegel des Blutes an; und 
es fällt auch hier der tiefste Punkt der Kurve der Blutkonzentration mit 


dem höchsten Punkt der Kurve des Kochsalzspiegels im Blute zusammen. 
1 TS:SR. EZ | 
Be 2ccom Pituitriin + Zcem Pitwitrüinrs 
IE 100 E. Insulin 700 E.Insulir 
66 
65 5000 
217 64° 4800 
660 63 4600 
640 20 62 4400 
620 61 4200 
600 198 60 4000 
30 59 3800 6 
560 18 58 3600 
340 57 3400 
520 17 56 3200 
An 








Kurve VII. 


Wir haben gesehen, daß in diesem Falle die Wirkung des Insulins 
auf den Wasserwechsel der Wirkung des Pituitrins gleichkommt, indem 
beide Hormone nach der 1. Injektion eine Hemmung der renalen Wasser- 
diurese erzeugen und so eine Hydrämie (Blutverdünnung) hervorrufen. 
Von besonderem Interesse ist die Tatsache, welche bereits Jaksch, der 
die große Bedeutung dieser Resultate zuerst erkannte, hervorgehoben 
hat, daß es sich in diesem Falle nicht um einen reinen Pankreasdiabetes 
gehandelt hat. Die Patientin, eine 32jährige Frau, zeigte die Symptome 
eines schweren Diabetes mit sehr geschädigter Kohlenhydrattoleranz 
und Ketonurie; es bestand eine beiderseitige Katarakta. Außerdem 
hat die Kranke einen Hypophysentumor mit deutlichen Symptomen 
einer Akromegalie. Der Tumor war bereits früher, allerdings nicht mit 
vollem Erfolge, operiert worden und ist derzeit wieder im Wachsen be- 
gritfen, wie ein neuerlich aufgenommener Röntgenbefund zeigte; die 
Patientin hat auch derzeit wieder Beschwerden (Kopfschmerzen, Seh- 
störungen). Ferner besteht eine Struma, und neben vasomotorischen 
Beschwerden zeigt die Patientin auch Störungen von seiten der Genital- 
sphäre. Auf Grund des objektiven klinischen Befundes muß man an- 











beim Diabetes mellitus durch Insulin und Pituitrin. 475 


nehmen, daß dieses Symptomenbild durch die Störung der Tätigkeit 
der meisten endokrinen Drüsen hervorgerufen wird*). Es gehört dieser 
Fall demnach zu der von Claude-Gougerot als pluriglanduläre endokrine 
Insuffizienz oder von Falta als multiple Blutdrüsensklerose bezeichneten 
und beschriebenen Gruppe von Erkrankungen. 

Überblicken wir nun unsere Beobachtungen über die Beeinflussung 
des Wasserwechsels bei Diabetikern unter der Wirkung von Insulin 
und Pituitrin, so gelangen wir zu folgenden Ergebnissen: 

1. Das Insulin bewirkt bei den meisten Diabetesfällen eine Wasser- 
retention, welche ihren Ausdruck findet in einer gegenüber der Vor- 
periode deutlich positiven Wasserbilanz und in einem oft in wenigen 
Tagen erfolgenden beträchtlichen Anstieg des Körpergewichtes. 

2. Diese Wasserretention ist ihrem Zustandekommen nach eine 
extrarenale; Blutkonzentration und Wassergehalt des Blutes zeigen bei 
den meisten Diabetesfällen nach der ersten Insulininjektion und nach 
kurzdauernder Insulinbehandlung entweder keine Änderung oder die 
Zeichen einer mäßiggradigen Bluteindickung. Diese sowie das un- 
mittelbar nach der Insulininjektion nachweisbare kurzdauernde Sinken 
des Kochsalzspiegels im Blute weisen darauf hin, daß unter der Insulin- 
wirkung ein erhöhter Übertritt von Wasser und Salz aus der Blutbahn 
in die Gewebe erfolgt und das Wasser extrarenal retiniert wird. 

3. Nach länger dauernder Insulinbehandlung, wenn ein bereits 
größerer Körpergewichtsanstieg zu verzeichnen ist, erfolgt auch im 
Blut eine Wasseranreicherung, die am Sinken der Nüchternwerte der 
E.Z., S.R. und T.S. gegenüber den Nüchternwerten in der Periode vor 
der Insulinbehandlung erkennbar wird. Die nach längerer Insulin- 
behandlung eintretende Blutverdünnung ist ihrem Wesen nach der 
allgemeinen, unter Insulinwirkung erfolgenden Wasseranreicherung der 
Gewebe gleichzusetzen, an welcher das Blut in letzter Linie teilnimmt. 
Die Wasservermehrung der Gewebe und des Blutes unter Insulinein- 
wirkung ist wenigstens z. T. als einfacher Wiederersatz von Wasser in 
den Geweben des Organismus aufzufassen, welche im Stadium der 
Hyperglykämie und der durch sie hervorgerufenen Polyurie an Wasser 
verarmt sind (hohe Nüchternwerte der B.K. bei schwerem Diabetes, 
besonders beim Diabetes im präkomatösen Stadium). Es bedeutet so- 
mit die Wasserretention eine mit der Behebung der Störung des Kohlen- 
hydratstoffwechsels erfolgende Rückkehr zu den normalen Verhält- 
nissen. Wahrscheinlich erhalten die Körperzellen mit ihrer Fähigkeit, Gly- 
kogen zu speichern, auch ihr normles Wasserbindungsvermögen wieder. 

4. Unter Pituitrinwirkung zeigen Diurese und Blutkonzentration 
bei Diabetikern ein ähnliches Verhalten wie bei Nierenkranken mit 

*) Anm. b.d.Korr.: Der Fall kam indessen zur Autopsie; dieselbe ergab das Be- 
stehen eines Tumors d. Hypophysenvorderlappens, nur geringe Atrophied. Pankreas. 

Z. f. klin. Medizin. Bd. 100. al 


476 OÖ. Klein: Zur hormonalen Beeinflussung des Wasserhaushaltes 


Niereninsuffizienz, Hyposthenurie und Zwangspolyurie. Die renale 
Hemmung der Wasserdiurese und die Blutverdünnung sind verstärkt 
und zeigen lange Dauer. Die Kurve des Kochsalzes im Blute zeigt 
einen kurz dauernden Anstieg. Gleichzeitige Insulininjektion zeigt 
keinen Einfluß auf das Verhalten der Blutkonzentration und auf die 
Form des Diureseablaufs im Pituitrinversuch. 

5. In 2 Fällen von Diabetes trat nach der 1. Insulininjektion eine 
deutliche Hydrämie auf; bei einem Fall von Diabetes auf Basis einer 
pluriglandulären Erkrankung erzeugte das Insulin jedesmal eine 1 bis 
2 Stunden nach der Insulininjektion eintretende mächtige Hydrämie 
(Blutverdünnung), welche gleichzeitig mit dem Sinken der Harnmenge 
einhergehend, nur durch eine renale Hemmung der Wasserdiurese 
hervorgerufen sein konnte. Hyperglykämie, Glykosurie und Ketonurie 
erwiesen sich bei diesem Fall gegenüber der Insulinwirkung als refraktär. 
Hemmung der Wasserdiurese und Hydrämie entsprachen vollkommen 
dem Verhalten, wie es sonst unter der Wirkung von Pituitrin beobachtet 
wird. Auch das Verhalten des Kochsalzspiegels im Blute zeigte den 
sonst für die Pituitrinwirkung charakteristischen, kurzandauernden 
Anstieg. Das Insulin zeigte demnach in diesem Falle die gleiche Wirkung 
auf den Wasserwechsel und die Blutkonzentration, wie sie sonst unter 
Wirkung des Pituitrins zustande kommt. Gleichzeitige Insulin- und 
Pituitrininjektion zeigte in diesem Fall eine Verstärkung (Summation) 
der Wirkungen der beiden Hormone, von denen jedes einzeln appliziert 
eine gleichsinnige, jedoch schwächere Wirkung erzeugte. 

Es erübrigt sich noch die Frage nach der Stellung des Insulins und 
seinem Verhältnis zu den andern bekannten Hormonen. In Bezug auf 
seine Wirkung auf den Kohlenhydratstoffwechsel wird es vor allem 
als Antagonist des Adrenalins angesehen. Bis zu einem gewissen Grade 
ist seine diesbezügliche Wirkung auch der des Pituitrins entgegen- 
gesetzt. In Bezug auf die Kohlenhydrattoleranz und Beeinflussung 
des Blutzuckerspiegels besteht aber auch ein Antagonismus gegenüber 
dem Thyreoidin. Dies erscheint um so wichtiger, als auch die Wirkung 
des Insulins auf den Wasserhaushalt der des Thyreoidins direkt ent- 
gegengesetzt ist. Letzteres bewirkt eine erhöhte Mobilisierung des 
Gewebswassers und erzeugt eine erhöhte Abgabe von Wasser aus den 
Geweben an das Blut (Eppinger), ersteres führt hingegen zu einer ver- 
mehrten Aufnahme von Wasser in den Geweben. Bei beiden liegt der 
Angriffspunkt der Wirkung extrarenal im Gewebe. Auf welchem Wege 
diese Änderung der Wasserbindung im Gewebe erfolgt, ist fraglich. 
Es liegt nahe, an eine Änderung des physikal.-chemischen Zustandes 
der Gewebe zu denken. Ein Einfluß auf die physikalisch-chemischen 
Verhältnisse der Gewebe wurde ja schon der Wirkung des Thyreoidins 
und anderer Hormone zugeschrieben [Ellinger und N euschloß!%)]. Aber 





7: 


beim Diabetes mellitus durch Insulin und Pituitrin. 477 


auch dem Hormon der Pars intermedia der Hypophyse dürfte ein 
derartiger Einfluß von den Autoren zuerkannt werden, die die physi- 
kalisch-chemische Theorie betreffs der Pathogenese des Diabetes in- 
sipidus (Forschbach und Weber, Ellinger u. a.) vertreten. Im Hinblick 
auf die Beziehung von Insulin und Pituitrin und ihren Einfluß auf den 
Wasser- und Salzwechsel kann der Ansicht von Collazo und Haendel, 
welche einen Antagonismus dieser beiden Hormone auf Grund der Re- 
sultate ihrer Tierexperimente annehmen, auf Grund der vorliegenden 
Resultate für die Verhältnisse beim kranken Menschen nicht bei- 
gepflichtet werden. Vor allem sind die Angriffspunkte der beiden Stoffe 
verschieden. Beim Pituitrin kennen wir nicht alle, vor allem nicht die 
extrarenalen Angriffspunkte. Doch können Diuresehemmung und 
Hydrämie in gewissen Phasen des Pituitrinversuches nur in einer 
Hemmung der Wasserdiurese mit dem Angriffspunkt in der Niere ihre 
Ursache haben, während das Insulin gewöhnlich zu einer extrarenalen 
Wasserretention führt. Eine Förderung der Wasserdiurese durch das 
Insulin konnten wir beim Menschen nie beobachten. Von großem Inter- 
esse und von wesentlicher Bedeutung für verschiedene Fragen erscheint 
der Fall von Diabetes mit pluriglandulärer Insuffizienz, bei dem die 
Wirkung des Insulins auf den Wasserwechsel der des Pituitrins, sowohl 
was Art der Wirkung, als auch was den Angriffspunkt betrifft, voll- 
kommen gleich war, während hier eine Beeinflussung des Kohlenhydrat- 
stoffwechsels vollkommen fehlte. Nach Jaksch!?) besteht in dieser ver- 
schiedenen Beeinflussung von Kohlenhydratstoffwechsel und Wasser- 
haushalt unter Insulinwirkung die Möglichkeit, den reinen Pankreas- 
diabetes von den anderen Formen von Diabetes zu unterscheiden. 
Zwar wird in letzter Zeit von verschiedenen Seiten die Möglichkeit 
eines Diabetes rein hypophysären Ursprungs bestritten. Jedenfalls lehrt 
uns aber die paradoxe Wirkung des Insulins bei unserem Fall von 
pluriglandulärer Insuffizienz, wie schwierig und kompliziert es ist, die 
Störungen des Zusammenwirkens der Hormone und ihres Einflusses 
auf das vegetative Nervensystem zu beurteilen und zu analysieren. 


Literatur. 


1) Jaksch-Wartenhorst, a) Sitzungsber. d. Ver. dtsch. Ärzte in Prag, Med. 
Klinik 19, 1509 (Ausgabe f. d. Tschechoslowakei), 6. X. 1923; b) Zentralbl. f. inn. 
Med. 45, 2. 1924. — ?) Umber, Med. Klinik 19, 1103. 1923. — ?) Hagedorn, Dtsch. 
med. Wochenschr. 49, 1005. 1923. — *) v. Noorden und Isaac, Klin. Wochenschr. 2%, 
1968. 1923. — 5) Wandel und Schmoeger, Dtsch. med. Wochenschr. 49, 1253. 1923. — 
6) Oollazo und Haendel, Dtsch. med. Wochenschr. 49, 1549. 1923. — ?) Geelmuyden, 
Klin. Wochenschr. 2, 1677. 1923. — ®) Klein, Wien. Arch. f. inn. Med. 5, 429. 1923. — 
9) Macleod, Vortrag am 11. internat. Physiologenkongreß (Edinburg). Ref. in der 
Therapie d. Gegenw. 1923, S. 319. — 10) Ellinger, Verhandl. d. Dtsch. Ges. f. inn. 
Med., Kongreßber. d. 34. Kongr. 1922, S. 274. —- !!) Freund, ebendas. 8. 307. 

12) Jaksch-Wartenhorst, Wien. med. Wochenschr. 1924, 22. 


3l* 





(Aus der I. Medizinischen Universitätsklinik Köln, Augusta-Hospital [Direktor: 
Prof. A. Külbs].) 


Über den Gesamt-Schwefelgehalt der Erythrocyten und des 
zugehörigen Serums hauptsächlich bei Krebskranken 
und Tuberkulösen. 


Von 
Dr. Joseph Vorschütz, 


Assistent der Klinik. 


(Eingegangen am 7. Februar 1924.) 


Den Schwefelausscheidungen im Harn hatte eine Reihe von Autoren 
zwecks Diagnostik des Carcinoms anfangs eine große Bedeutung zuge- 
schrieben, bis M. Weiss in ausführlichen und ausgedehnten Unter- 
suchungsreihen feststellte, daß bei allen Prozessen, die mit starkem 
Eiweißzerfall einhergehen, der Neutralschwefel relativ vermehrt ausge- 
schieden wird. Für die Norm stellte er 16,5%, des Gesamtschwefels 
fest, nach Brugsch-Schittenhelm wird das Verhältnis des Gesamtschwefels 
zum Neutralschwefel zu 4,0—7,0 : 1 angegeben. Der Schwefel wird in 
Form von Schwefelsäure im Harn ausgeschieden, zum Teil an Alkalien 
gebunden als Sulfatschwefelsäure, zum Teil an Indol, Phenol und andere 
Eiweißfäulnisprodukte als Ätherschwefelsäuren. Da nun in der N ahrung 
schwefelsaure Salze überhaupt nicht oder in nur ganz geringen Mengen 
enthalten sind, so stammt die gesamte Schwefelsäure des Harns aus 
der Verbrennung des Schwefels der Eiweißstoffe. Die Menge der aus- 
geschiedenen Schwefelsäure hängt daher ebenso wie die Menge des 
Gesamtstickstoffs des Harns vor allen Dingen ab von der Höhe der Eiweiß- 
zersetzung und daher auch von der Größe der Biweißzufuhr in der Nahrung. 
Neben dieser Schwefelsäure aber wird der Schwefel im Harn auch noch 
in organischer Bindung als Cystin und Taurin, resp. als von ihnen sich 
ableitenden Körpern Oxyproteinsäure und Aloxyproteinsäure ausge- 
schieden und heißt Neutralschwefel. Letzterer hat deutliche Beziehungen 
zur Ehrlichschen Diazoreaktion. Durch seine oben angedeutete Arbeit: 
Über den Neutralschwefel des Harns und seine Beziehungen zur Diazo- 
reaktion sowie zur Ausscheidung der Proteinsäuren, hat Weiss nun 
den Beweis erbracht, daß die Gruppe der den Neutralschwefel konsti- 
tuierenden Körper teils aus dem Nahrungseiweiß, teils aber auch aus 
dem Organeiweiß stammt, und daß das Organeiweiß verhältnismäßig 


J. Vorschütz: Über den Gesamt-Schwefel gehalt der Erythrocyten usw. 479 


mehr Neutralschwefel liefert als das Nahrungseiweiß. Hierin fand er 
die Erklärung für die Tatsache, daß beim Zerfall von Körpergewebe 
relativ mehr Neutralschwefel ausgeschieden wird und ebenfalls in allen 
jenen Zuständen, wo Gifte auf die Zellsubstanz zerstörend wirken. 
Weiss hat nun die Untersuchungen früherer Autoren tabellarisch zu- 
sammengestellt und das Ergebnis dahin zusammengefaßt, daß bei In- 
fektionskrankheiten die Tendenz zur vermehrten Ausscheidung des 
Neutralschwefels besteht, ebenso bei schweren Anämien, kachektischen 
Zuständen und Intoxikationen. Seine eigenen Untersuchungen erstrecken 
sich auf 30 Fälle von Tuberkulose, die er in allen Stadien der Krankheit 
untersuchte und 5 Carcinome. Zusammenfassend sagt Weiss folgen- 
des: | 
1. Der Neutralschwefel wird bei Zuständen, die mit erhöhtem Eiweiß- 
zerfall einhergehen, relativ vermehrt ausgeschieden: 

2. Die Lungentuberkulose geht mit Erhöhung der absoluten und rela- 
tiven Neutralschwefelwerte einher. | 

3. Beim Carcinom werden die höchsten relativen Neutralschwefelwerte 
beobachtet, relativ in bezug auf den’ Gesamtschwefelwert. 

Durch diese Befunde zerschlug sich jegliche Diagnosestellung für 
Carcinom durch die Neutralschwefelbestimmung aus dem Harn voll- 
ständig. 

Unsere vorliegende Arbeit, die sich auch vorwiegend mit den Unter- 
schieden zwischen Carcinom und Tuberkulose rein cellulär beschäftigt, 
ging von folgenden Gesichtspunkten aus. W. Gröbly hatte in einer 
umfangreichen Studie: ‚Über die Bedeutung der Zellkernstoffe im Organis- 
mus‘‘ zu beweisen gesucht, daß eine pathologische Vermehrung des 
Nucleoproteidstoffwechsels eine Konstitutionsanomalie ergäbe, die zu 
malignen Neubildungen disponiere.. Da nun die Nucleoproteide als 
charakteristisches Merkmal die Phosphorsäure in ihrem komplizierten 
Molekül enthalten, glaubte er durch die Bestimmung derselben eine 
Carcinomdiagnose stellen zu können, da die Carcinome zum Status 
nucleohyperplasticus gehörten, im Gegensatz zur Tuberkulose. (Status 
nucleohypoplasticus.) Seine P,O,-Bestimmungen, die er infolgedessen 
an defibriniertem Blute vornahm, ergeben in 16 cem Blut über 1,5216°/,, 
P,O, die Tuberkulosen unter normal, meistens unter 1,2%/,,. An einer 
relativ kleinen Anzahl von Fällen (23) haben dann später Joh. und Jos. 
Vorschütz Gröblys Arbeit nachgeprüft und hauptsächlich nur Careinome 
berücksichtigt, es konnten damals Gröblys Befunde bestätigt werden. 
In langen Untersuchungsreihen habe ich nun diese Nachprüfung an hie- 
siger Klinik wieder aufgenommen und an über 500 P,O,-Bestimmungen 
an roten Blutzellen allein ohne Serum (letzteres wurde in vielen Fällen 
getrennt untersucht) Gröblys Theorie zu beweisen gesucht und ich muß 
heute zugestehen, daß bei vielen anderen Erkrankungen auch die Phos- 


480 J. Vorschütz: Über den Gesamt-Schwefelgehalt der Erythrocyten und 


phorsäure vermehrt sein kann; bei der Tuberkulose jedoch findet man, 
abgesehen von Knochen-Tbe., immer Verminderung der P,0,. Die 
Arbeit erscheint demnächst in der Zeitschrift für klinische Medizin. 
Von dieser Arbeit ausgehend über Nucleoproteide wurden dann die 
Erythrocyten auf ihren Eiweißgehalt untersucht und es zeigte sich, 
daß der Eiweißgehalt derselben schwanken kann zwischen 20 und 38%. 
Fötale Blutkörperchen können nur 20%, perniziöse Anämie bis 38% 
betragen. Die Norm bewegt sich um 30% herum, Entzündungen haben 
weniger als 30 und die Tuberkulosen je nach dem Grade bis zu 25% 
nur. Carcinome ergeben meistens nicht mehr als normal. 

Trotzdem schien es uns wichtig, da die Tuberkulosen sich sowohl im 
Phosphorsäure- wie im Erweißgehalt auffällig herausnahmen, und obgleich 
dem Carcınom noch andere Krankheitsformen in Höhe dieser Werte Schritt 
hielten, Carcinom »gegen Tuberkulose hauptsächlich auf Gesamtschwefel- 
gehalt ihrer roten Blutzellen zu untersuchen, um zu prüfen, ob Unterschiede 
resultierten. Auch analog der höchsten S-Ausscheidung im Harn bei 
Carcinomen hätte man mit einem vermehrten Schwefeldepot in der 
Zelle selbst rechnen dürfen. Es kommt noch hinzu, daß die jüngsten 
Krebsforschungen merkwürdige Resultate ergeben haben in bezug auf 
das Ektoderm. So gibt Schridde als typische Merkmale für das Krebs- 
haar folgendes an: Reine tiefschwarze Färbung, glanzloses, mattes Aus- 
sehen, starrere, straffere und dickere Beschaffenheit als die des gewöhn- 
lichen Haares, Vorkommen nur auf dem Kopf und im Gesicht. Gegen 
diese Befunde Schriddes sprechen anscheinend die von J. Heine, der 
die von Schridde gefundenen Merkmale auch bei Nichtcearcinomatösen 
gefunden hat. Für das Spätergrauen der Krebskranken macht Heine 
die bestehende Stoffwechselanomalie verantwortlich, ebenso für die 
geringe Arteriosklerose und chronische Arthritis. Sollte nun das Ekto- 
derm, insbesondere das Haar, bei Krebskranken tatsächlich stärker 
und abnorm sein, so wäre selbst von diesem Gesichtspunkte aus, da das 
Haar viel Schwefel enthält (4%), eine Zellschwefelbestimmung an- 
gängig, da vielleicht eine Affinität des Schwefels omnicellulär sein 
könnte. 

Über die Art der Bindung und des Vorkommens in den Blutkörper- 
chen ist bisher, soweit es mir möglich war, festzustellen, noch nicht 
gearbeitet worden. Die Untersuchungen Mörners beschränkten sich 
nur auf den im Serumalbumin und im Serumglobulin enthaltenen 
Schwefel. Ihm gelang es nachzuweisen, daß der Schwefel zu 40 —50% 
an die cystingebende Gruppe gebunden ist. Die bisher mitgeteilten 
Versuche über den Schwefelgehalt des Blutes sind außerordentlich gering. 
In der großen Literatur der Physiologie, physiologischen Chemie, Bio- 
logie und physiologischen Pathologie fanden wir nur drei zweckmäßige 
Arbeiten für unser Thema. Eine vierte von Denis und Kobson im Journ. 














des zugehörigen Serums hauptsächlich bei Krebskranken und Tuberkulösen. 481 


of Biological Chemistry 55, 2, betreffend ‚A study of the inorganie 
Constituents of the Blood Serum in Nephritis‘“‘ war uns leider wegen 
der erschwerten Verkehrsverhältnisse nicht zugänglich. Ein Referat 
dieser Arbeit aus den Berichten über die gesamte Physiologie und experi- 
mentellen Pharmakologie ergibt, daß in 64%, der Fälle der Schwefel- 
säuregehalt des Serums erhöht war, und diese Tatsache auf besondere 
Ausscheidungsschwierigkeiten von seiten der Niere zurückgeführt wird. 
In einer anderen Arbeit von Denis aus dem Jahre 1921, ebenfalls im Journ 
of Biological Chemistry erschienen, ‚Sulfates in Blood‘ prüft er an 
einer Reihe von Tier- und Menschenbluten den Sulfatgehalt des Blutes, 
indem er sich eine kolloidale Lösung eines Bariumsulfatniederschlages 
herstellt und mit einer Standardlösung vergleicht. Die Werte bei ge- 
sunden Menschen betrugen 0,5 —1,0 mg pro 100 ccm Blut. Bei Nephritis, 
Urämie und Leukämie waren die Werte beträchtlich erhöht und konnten 
bis 7,9 mg ansteigen. Diabetes ergab normale Werte. Die erhöhten 
Werte bei der Nephritis und Urämie werden als SO,-Retention analog 
den gleichzeitigen Stickstoffretentionen erklärt. Aus dem Jahre 1922 
liegt eine Arbeit von Kiko Goto vor, die sich betitelt: ‚On the Chlorine, 
Sulphur and Phosphor Content of the Blood and Tissues of Starves 
tuineals“ (Über den Chlor-, Phosphor- und Schwefelgehalt des Blutes 
und der Gewebe bei Hungertieren). Die Untersuchungen, die an Kanin- 
chen ausgeführt wurden, ergaben Sulfatwerte, die den von Denis in 
seinen Tierblutuntersuchungen entsprachen. Bei den Hungerversuchen 
ergab sich die interessante Tatsache, daß der Gesamt-S — es ist dies 
nach Goto der in den organischen Verbindungen enthaltene Schwefel — 
durch den Hunger, wenn auch nur wenig, in Mitleidenschaft gezogen ist 
und bei länger bestehender Hungerkur eine leichte Tendenz zeigt, abzu- 
nehmen. Dieser Totalschwefelgehalt Kiko Gotos schwankt bei seinen 
Versuchstieren zwischen 38,5 und 24,5 mg und kann während der Hunger- 
periode bis auf 18,9 mg. pro 100 cem Blut herabsinken. Im Gegensatz 
dazu steht der von ihm und Denis als extrahierbar bezeichnete Schwefel 
anorganischer Natur, der trotz des Hungerns eine ununterbrochene 
Konstanz zeigt. 

Zu unserer Fragestellung gibt es in der deutschen Literatur, soweit 
bekannt, nur eine kurze Arbeit von einem Schüler Salkowskys Kenji 
Kojo, der anläßlich einer Unfallvergiftung durch schwefliger Säure 
durch Salkowsky zu dieser Arbeit angeregt wurde. Kenji Kojo hat im 
ganzen nur über 2 Fälle berichtet. Die Ergebnisse der Untersuchungen 
bewegen sich zwischen 0,1874 g und 0,2109 g in 100 ccm Blut. Da es 
an einer Neutralschwefelmethode im Blute bisher noch fehlt, im Gegen- 
satz zu den gleichen Untersuchungen im Harn, haben wir uns fast 
vollständig nach dem Verfahren von Kenji Kojo gerichtet. Die Unter- 
suchungen wurden an nüchternen Patienten vorgenommen. 


482 J.Vorschütz: Über den Gesamt-Schwefelgehalt der Erythrocyten und 


Methodik: 20—25 com Blut wurden aus der gestauten Armvene 
entnommen, in ein Glasperlen enthaltendes Kölbehen aufgenommen 
und das Blut durch Schütteln defibriniert. Darauf wurde das Blut zentri- 
fugiert, das Serum abpipettiert und die Blutkörperchen 2 mal 10 Minuten 
lang in physiologischem NaCl gewaschen. Der Blutkörperchenbrei 
wurde dann mit einem Glasstabe, um gleichmäßige Dichte zu erzielen, 
gut umgerührt und 5ccm dieses Breies zur Bestimmung angesetzt. 
Die mit destilliertem Wasser quantitativ aufgenommene Menge wurde 
dann zum Sirup eingedampft, mit einer Salpetermischung geschmolzen 
und diese Schmelze nachher in destilliertem Wasser gelöst. Diese Lösung 
der Schmelze wurde in einer flachen Porzellanschale 3 mal mit je 100 ccm 
reiner HCl auf dem Wasserbade abgedampft, der Rückstand in Aqua 
dest. gelöst, nach einigem Stehenlassen in ein Becherglas filtriert, das 
Filtrat erhitzt und der Schwefel durch Zusatz von 10—15 ccm Barium- 
chlorid, das ebenfalls vorher erwärmt wurde, gefällt. Durch dieses Vor- 
gehen wurde der Schwefel durch das Bariumchlorid zu schwefelsaurem 
Baryt gebunden. Die Lösung blieb zum vollständigen Absitzen des 
Niederschlages 24 Stunden stehen, wurde dann durch ein dichtes, asche- 
freies Filter filtriert, bis das Filtrat vollständig klar war. Darauf wurde 
das Filter solange mit warmem destilliertem Wasser gespült, bis eine 
Probe des zuletzt aufgefangenen Waschwassers bei Zusatz von Silber- 
nitrat keine Trübung mehr ergab, d. h. kein freies Chlor mehr vorhanden 
war. Das trockene Filter wurde in einen vorher ausgeglühten Platin- 
tiegel gegeben, der Tiegel erst langsam, dann mit großer Flamme zum 
Glühen erhitzt, bis der Inhalt vollständig weiß war. Das Gewicht des 
Rückstandes wurde auf einer maßanalytischen Waage bis auf die 
6. Dezimale festgestellt. Die Ausrechnung erfolgte nach der bekannten 
Formel 98 : 233 = H,SO, : BaSO,. Ein Beispiel möge die Berechnung 
erläutern: 


Das Tiegelgewicht betrug anfangs . . . . 23,9780 g 
nach dem Veraschen des Filters . .... 24,0374 8 
die-Differenz ;,.. 2 un u m Bo 2 ah 0,0594 g BaSO,. 


Um daraus die Quantität der Schwefelsäure zu erhalten, wurde der 
erhaltene Wert mit 0,4206 (entspricht 98 : 233 = H,SO, : BaSO,) multi- 
pliziert. In diesem Falle erhielten wir den Wert 0,0 249 836 g H,SO, 
pro 5 ccm Blutkörperchen und 0,49 967 g H,SO, pro 100 ccm. Aus 
diesem Schwefelsäurewert wurde der Schwefel berechnet durch Multi- 


plikation der erhaltenen Zahl mit ge ZU CAR Der endgültige Wert für 
| 98 H,SO,. 
den Schwefel betrug danach 0,1632 g pro 100 ccm Blutkörperchen. 
Die Serumbestimmungen gingen genau so.: 
Da, wie bereits erwähnt, noch keine Schwefelbefunde aus Blutzellen 


allein veröffentlicht worden sind, geben wir daher Untersuchungen über 


des zugehörigen Serums hauptsächlich bei Krebskranken und Tuberkulösen, | 483 


10 Fälle von Frl. L. Schlüchterer, die darüber ihre Inauguraldissertation 
an hiesiger Klinik gleichzeitig gemacht hat, mitbekannt; meine Unter- 
suchungen erstrecken sich auf 12 Fälle. 


Tabelle Schlüchterer. 


Fall Diägubse Ges.-8.-Blutk. Ges.-S.-Serum 

in 100 ccm i. 100 ccm Serum 
1 gesund 0,2925 g 0,1632 g 
2 gesund 0,3539 g 0,1724 g 
3 Tuberkulose 0,2527 g 0,1231 g 
4 Tuberkulose 0,2285 g 0,1828 g 
5 Lues 0,2033 g 0,1754 g 
6 Lues 0,2899 g 0,1907 g 
7 Carcinom 0,3487 g 0,1671 g 
8 Carcinom 0,1763 g 0,0809 g 
9 Carcinom: 0,3296 g 0,0950 g 
10 Carcinom 0,1632 g 0,0834 g 





Da die Resultate dieser Tabelle den eigenen fast völlig gleich sind, 
so soll nach Aufführung der eigenen insgesamt auf die Werte eingegangen 
werden. 


Eigene Untersuchungen. 


e Ges.-S.-Gehalt Blutk. Ges. S.-Gehalt Seru 
Fall Diagnose 


in 100 cem in 100 cem Serum 
1 gesund 0,2834 g 0,1731 g 
2 Tuberkulose 0,2346 g 0,1231 g 
3 Tuberkulose 0,2862 & 0,1546 g 
4 Tuberkulose 0,3121 g 0,1432 g 
5 Tuberkulose 0,2931 g 0,1640 g 
6 Carcinom 0,3021 g 0,1921 g 
7 Carcinom 0,2743 g 0,1243 g 
8 .° Carcinom 0,3322 g 0,1812 g 
9 Carcinom 0,1923 g 0,0983 g 
10 Carcinom 0,1863 g 0,1236 g 
11 Carcinom 0,1742 g 0,0841 g 
12 Carcinom 0,2654 g 0,1424 g 


Aus diesen Tabellen ist deutlich zu ersehen, daß zwischen Tuber- 
kulose- und Carcinomblutkörperchen keine Unterschiede zu ersehen 
sind, daß jedoch die Blutzellenwerte im allgemeinen doppelt so viel 
Schwefel ergeben wie das zugehörige Serum. Wenn auch das Resultat 
als negativ verlaufen bezeichnet werden muß, so ist die physiologische 
Tatsache, abgesehen davon, daß außer der Arbeit von Kenji Kojo 
noch keine derartigen Untersuchungen angestellt wurden, und hier auch 
nicht aus der Blutzelle allein, doch insofern von Bedeutung, daß wir 
über den Zellschwefel und sein Verhältnis zum Serumschwefel durch 
diese Untersuchungen orientiert wurden. Unsere Fragestellung über 
die Konstitutionsanomalien zwischen Carcinom und Tuberkulose in 
bezug auf die größere Ausscheidung des Schwefels beim Carcinom und 


484 J.Vorschütz: Über den Gesamt-Schwefelgehalt der Erythrocyten usw. 


einer etwaigen größeren Affinität des Schwefels zu allen Zellen, dürfte 
somit als negativ bezeichnet werden. Die Tabellen beweisen uns, daß 
sich der Schwefelgehalt im menschlichen Blute auf einer gleich- 
mäßigen Kurve bewegt. Er schwankt bei den Blutkörperchen zwischen 
0,16 und 0,35 g in 100 ccm Blutkörperchen, beim Serum zwischen 0,8 
und 0,19 g. Es entsprechen unsere Blutkörperchenwerte etwa den von 
Kenji Kojo angegebenen, ganz gleichgültig, welche Erkrankung zur 
Untersuchung herangezogen wird. Die Carcinome haben tiefe und hohe 
Werte, genau wie die Tuberkulose sie haben kann, und ebenso gesunde 
Blute. Die Serumwerte sind etwa um 50% niedriger als die Zellwerte. 
Worin die Schwankungen von der Zelle und im Serum zu suchen sind, 
ist nicht näher eruiert. Wahrscheinlich spielen hier Zustandsänderungen 
der Zelle hauptsächlich eine große Rolle, genau wie bei den Eiweiß- 
veränderungen in der Zelle selbst, wie eingangs erwähnt. 


Kurze Zusammenfassung. 


1. Die Serumschwefelwerte betragen durchschnittlich 50%, weniger 
als die r. Blutzellenwerte. 

2. Zwischen Tuberkulose- und Carceinomblutzellen konnten keine 
besonderen Unterschiede gefunden werden. 

3. Die Schwankungen im Gesamt-S-Gehalt in den Zellen selbst so- 
wohl bei Carcinomen wie auch bei Lues und Tuberkulose sind wahr- 
scheinlich von Zustandsänderungen des Zelleiweißes abhängig. 





Literatur. 


Denis, W., Sulfate in Blood. Journ. of biol chom. 1921, Nr. 49. — Gröbly, W., 
Über den relativen Phosphorgehalt des Blutes. Arch. f. klin. Chirurg. 15, Heft 4, 
S. 2. 1921. — Derselbe, Über die Bedeutung der Zellkernstoffe für den Ordanismus 
Arch. f. klin. Chirurg. 15, H. 1/2. 1921. — Heine, Zur Frage der Krebshaare. 
Münch. med. Wochenschr. 1923, Heft 44. — Kiko Goto, On the Chlorine Sulphur 
and Phosphorus Content of the Blood and Tissues of Starvad Animals. The Tohoku 
Journal of Experimental Medizine 3, H. 3/4. 1922. — Kenji Kojo, Notiz über den 
Stickstoff- und Schwefelgehalt des menschlichen Blutes. Zeitschr. f. physiol. 
Chemie %6. — Körner, Schwefelsäure, gebunden an kristallisiertes Serumalbumin. 
Zeitschr. f. physiol. Chemie 36. — Salkowsky, Bindungsformen des Schwefels im 
Harn. Zeitschr. f. physiol. Chemie 89 u. 96. — Schridde, Krebshaare. Münch. 
med. Wochenschr. 1922, Nr. 45. — Vorschütz, Joh. und Jos., Zur Frage des rela- 
tiven Phorphorgehaltes des Blutes, besonders beim Krebskranken. Dtsch. med. 
Wochenschr. 1922, Nr. 26. — Vorschütz, Jos., Worauf beruht das Wesen der ein- 
fachen wie der Gruppen-Hämagglutination und die verschiedene Ladung der 
roten Blutkörperchen? I. Mitteilung. Zeitschr. f. klin. Med. 96, H. 4/6; II. Mit- 
teilung 9%, H. 1/3. — Weiss, Über den Neutralschwefel des Harns und seine Be- 
ziehungen zur Diazo-Reaktion sowie zur Ausscheidung der Proteinsäure. Biochem. 
Zeitschr. %%. 1910. 











(Aus dem physiologischen Laboratorium des Zentralen Staatsinstituts für phys. 
Kultur Moskau [Leiter: Prof. D. Njenjukow].) 


Die Veränderung des Blutbildes während der Muskelarbeit 
bei Gesunden. 
(Die myogene Leukoeytose.) 


Von 
Dr. med. A. Egoroii, 
Assistent an der Physiologischen Abteilung des Instituts. 
Mit 1 Textabbildung. 
(Eingegangen am 1. Februar 1924.) 


Die Erforschung der Veränderung des weißen Blutbildes ist in Gegen- 
wart für die klinische Untersuchung des kranken Organismus von großer 
Bedeutung und erstreckt sich hauptsächlich auf die Erforschung der 
Leukocytosen verschiedener Arten und Abstammung. Die Leuko- 
cytosen, die infolge einer Erkrankung des Organismus (Infektion oder 
Intoxikation) auftreten (die sog. pathologischen Leukocytosen) sind 
in Gegenwart genügend eingehend erforscht % 5, 11,13, 14, 15,25, 29 u. a.), 
während die physiologischen Leukocytosen, ihr genaues Schema, ihre 
Abhängigkeit von diesen oder jenen Faktoren sozusagen ganz und gar 
unbekannt sind. Noch mehr, einige Autoren bezweifeln sogar die 
myelogene Abstammung solcher Leukocytosen [Naegeli u. a. 2, 19)], 
weshalb von ihnen diese Leukocytosen im Gegensatz zu den wahren 
als scheinbare angesehen werden [Becher, Naegeli u. a. 1% ®9)]. 

Besonders wenig ist das genaue Bild der Leukocytose nach Muskel- 
arbeit, der von Grawitz benannten ‚„Myogenen Leukocytose‘, bekannt 
[2, 11,19), . .)]. Wie Grawitz ein durchaus unvollkommenes Bild dieser 
Leukocytosen gibt, so beleuchten auch die anderen Forscher dieser 
Leukocytose die Frage nicht eingehend genug [ Arneth, Naegeli u. a. 11, ®)]. 
Wir besitzen nur allgemeine Hinweise auf den Ausdruck der myogenen 
Leukocytose durch heftige Neutrophilie. Weiter ist auf die schnelle 
Entstehung der Leukocytose nach Muskelarbeit, die dann ebenso schnell 
verschwindet (Schulz, Finkelstein, Hässelbach u. a.) hingewiesen worden. 
Es ist mir nicht gelungen, irgendwelche Angaben in bezug auf die 
Veränderung der Anzahl der anderen Zellen, außer den Neutrophilen 
und Lymphocyten, in der Literatur zu finden. 

Um den Charakter solcher myogenen Leukocytosen im Verhältnis 
zu der Kraft und dem Grad der Muskelbetätigung festzustellen, habe ich 


486 Egoroff: 


etliche Serien der Erforschung des Blutbildes vor, sofort und 2—-3 Stun- 
den nach der Muskelbetätigung durchgeführt. Das Durchlaufen ver- 
schiedener Distanzen, als die am leichtesten meßbare physische 
Arbeit, galt als Muskelbetätigung. Ein kleiner Teil der am Laufe Be- 
teiligten waren trainierte Professionalsportleute, während der andere 
aus wenig trainierten Liebhabern bestand. 

In Anbetracht der bedeutenden Veränderung des Normalblutbildes 
eines Gesunden von der Norm bis 1914, in bezug worauf viele Angaben 
sowohl in der deutschen Literatur [16, 17, 20, 21, 24, 26)], wie auch in der 
russischen [19% 10)... .] vorhanden sind, worauf ich in meinem Vortrag 
(1. Mai 1923 in Moskau) hingewiesen habe, habe ich das Blutbild 
einiger hundert gesunder Personen verschiedenen Alters, Geschlechts 
und verschiedener Professionen bei ruhigem Zustande derselben morgens 
nach gesundem Schlaf im Bette untersucht (nüchtern). (387 Personen.) 

Die Untersuchungen wurden alle mit möglichst großer Genauigkeit 
und Feinheit nach Prof. Dr. V. Schillings Methode ausgeführt. Schon 
lange spürte man den Mangel einer einheitlichen und genügend voll- 
kommenen Methode der klinisch-morphologischen Untersuchung des 
Blutes. Die Methode Schillings ist einfach und praktisch, umfaßt in 
sich die Hauptarten der Blutzellen und enthält zugleich die Elemente 
der genetischen Differentiation der Neutrophilen, wobei alles dieses in 
eine Gesamtformel ein und desselben prozentualen Verhältnisses ge- 
schlossen ist. Bei der klinischen Beobachtung der Änderung des Blut- 
bildes nach der Methode der Hämogramme Schillings, und zwar nach 
der Veränderung der Formeln derselben, berechnen wir klar und sicher 
die Veränderungen aller Formelemente des Blutes in ihrem gegenseitigen 
Verhältnis, angefangen von der Veränderung der Gesamtzahl der Leuko- 
cyten bis zur Arnethschen ‚Verschiebung der Formel der Neutrophilen 
nach links“. Zur Orientierung sei die Grundformel Schillings mit An- 
gaben der verschiedenartigen Verschiebungen hinzugefügt. 


Tabelle I der Formel nach Schilling. 
































| iR ö Neutrophile e) 
S = a | Baso- i= = [> © Mono- 
| = 3 = Bis 5 =, | Myelo- |Jugend-| Stab- | Segment-| 5 5 Ei N 
Ve a cyten | liche |kernige| kernige = 
5 © 1 ag M E St. Sg. L. [Mon 
Normal 60001 1 3 = | — 4 - | 68 23 6 Keine 
) EEE TE Verschiebung 
Grenzwerte \5- 8000 0-11 2-4 —  1::0=-1] .8-5. |. 51-67 1 21-85 | 4=8 
Regener. Ver- | 1500| — 1 RE N |; 25 40 14 4 | Hyperleuk. Ver- 
schiebung EUR sch. b. z. Myel., 
| Neutrophilie u. 
| Eosinopenie 
Stabkernige 4500| — = el BZ 25 40 5 |Leukopenie. Ver- 
Verschiebung. UHR RE TTT sch. b. z. St. Z. 
2 Lymphoc., An- 


eosinophilie 





Die Veränderung des Blutbildes während der Muskelarbeit bei Gesunden. 487 


Zum Druck und mündlichem Vortrage habe ich, in Übereinstimmung 
mit obiger Methode, eine besondere Art Diagramme ausgearbeitet (s. Dia- 
gramm I). Die Fläche des Kreises ist proportional der Gesamtleukocyten- 
zahl im Kubikzentimeter und teilt sich entsprechend der Art der Leuko- 
cyten in Segmente. Zur Vorführung der Verschiebung der Formel der 
Neutrophilen ergibt sich die Teilung folgendermaßen: 4%, der stab- 


Be 
Erythrozyten 2) 
Index ar 


2% Stunden nach dem Lauf” 


23900 


OR 


Vor dem Lauf 
40 Kilometer 


5 
RO 

RS 
0 


X 


2 
0, 
OR 


2 


(2 


2 
® 


[2 
6) 

G 

2 


2 


00 
. 
2? 


50% 


2 


0 


= 


< 


C> 
Le 


7300 





Die Norme 
AZNeutroph, 7 





ıe Norme 
Absol.Z. 
Lymph. 


Br Eosinophile [ep Segmentkernige 
Monocyten CHE Stabkernige - Neutrophile, 
== Lymphocyten | 


Fr=3 Lymphocyten 
mit Azurkörnern 








4 Jugendliche 


Abb. 1. 


kernigen Neutrophilen liegen unter dem vom Zentrum nach rechts 
zeigenden Radius des Kreises. Sind von dieser Art mehr denn 4%, 
so wird der Überschuß über dem horizontalen Radius angegeben. Links 
oben werden weiter die Eosinophilen, Monoeyten, Lymphocyten und 
die segmentierten Neutrophilen, welche neben den Stabkernigen 
liegen, bezeichnet. Mit etlichen Säulen bezeichnen wir außerdem 
die Gesamtzahl der Erythrocyten, die absolute Zahl der Lympho- 
cyten und aller Neutrophilen, mit krummen Linien Hämoglobin und 
Index. 


488 Egoroff: 


So sind wir imstande, auf einen Blick sowohl die Gesamtzahlleuko- 
cyten wie auch die Verschiebung der Formel der Neutrophilen nach 
links und die absolute Zahl dieser und der Lymphocyten zu umfassen. 

Die Blutkörperchen wurden in der Thomakammer gezählt, wobei 
auf die Zahl der roten Zellen SO kleine Quadrate fielen ; auf die weißen — 
2 volle Kammern. Das Hämoglobin wurde nach Sahli bestimmt. Die 
Ausstriche wurden nach Pappenheims Methode gefärbt und so wurden 
nicht weniger als 200 Zellen gezählt und nach Diktat in Schillings 
Tabelle (ausgegeben in russischer Sprache für meine Arbeit) notiert. 
Außer allem diesem wurde vor und nach dem Laufen die Anzahl der 
Plättehen nach Fonio und die Zahl der Lymphocyten mit azurophiler 
Körnung bestimmt. 

Die Untersuchungen des Blutbildes der Gesunden in ruhigem Zu- 
stande stellen unbedingt fest, daß unsere Bevölkerung das Blutbild hat, 
welches Klieneberger!*) 1917 als „Kriegsliymphocytoseumstellung“ 
kennzeichnete. Die Eigentümlichkeit dieses Bildes äußert sich haupt- 
sächlich in der Vergrößerung der Lymphocyten auf Kosten der Neutro- 
philen, wobei der Unterschied zu bemerken ist, daß die Gesamtzahl 
der Leukocyten im mittleren 7—8000 und nicht mehr beträgt. Diese 
Zahl ist von einigen als die eigentümliche der germanischen Bevölkerung 
angegeben (16, 17, 20) worden. 

Untersucht wurden die Kursanten einiger Kriegsschulen, die Stu- 
denten zweier Institute und viele Sportsleute und Privatpersonen 
(s. Tabelle II). 


Tabelle II. Das Blutbild der russischen Bevölkerung bei ruhigem Zustande 
(in Moskau 1923). 
































% sale3lz3 

os Neutrophile 25183 SE 
Gesamtzahl| or er ere e 387 Unter- 
d. Erythro- | Hb. s S B.|E L. | Mon. 35 - 5 E ga se 

cyten 5 E MAR St. Sg. Eu e = 9 5 

2 ee! an 

| 5 Hgal<ts| tg 

5 080 000 78 7120 | 04151 — | — | 7,1/42,6]37,6| 7,2 4,7 1 3540 | 2680 

Sahli selten] 
No nn m nn 
10,77, 








Anmerkung: Lymphocyten mit Azurkörnung berechnet auf Hundert Leukocyten außerhalb 
der %-Zahl. 


Wir dürfen also, um das Blut in ruhigem Zustande mit der Norm 
zu vergleichen, nicht von den Zahlen Schillings ausgehen, sondern von 
den von mir in Tabelle II gegebenen ähnlichen*). 





*) In neuen Auflagen und Arbeiten gibt Schilling aus eigener Erfahrung auch 
höhere normale Lymphocytenzahl für Deutschland an (23—30—35%). Die 
früheren Angaben fußten auf den älteren Zahlen der Literatur seit Ehrlich. 





Die Veränderung des Blutbildes während der Muskelarbeit bei Gesunden. 489 


Wie schon gesagt, wurde bei der Untersuchung der myogenen Leuko- 
cytose das Durchlaufen verschiedener Distanzen als die am leichtesten 
meßbare physische Anstrengung angenommen. Zudem ist es die 
zweckmäßigste Muskelbetätigung für den Menschen. Einmal wurde 
ein 10-km-Marsch in voller Kriegsausrüstung mit Gewehr untersucht. 

Die Vergleichung der Blutbilder nach dem Zurücklegen verschiedener 
Distanzen von 1000—40 000 m zeigt, daß die Reaktion der Bilder im 
Verhältnis zur Distanz und in eigener Ordnung im Verhältnis der 
Distanz zur Anspannung während des Laufens sich ändert. Der Charak- 
ter der myogenen Leukocytose teilt sich in 2 große Gruppen: die Leuko- 
ceytosen nach dem Durchlaufen kleiner Distanzen von 3—4000 m, die nach 
einem solchen von mehr als 5000 m. 

Bei kleinen Distanzen hat die Leukocytose sofort, und 2—3 Stunden 
nach dem Laufen folgendes Aussehen (s. Tabelle III): die Zahl der Erythro- 
cyten ändert sich entweder ganz minimal oder wird einige Male größer. 
Das Hämoglobin ändert sich nicht gesetzmäßig, vergrößert sich aber 
schneller. 


Tabelle III. Veränderung des Blutbildes nach Durchlaufen von 1—3000 m. 























8 Neutrophile E2[33132| 8 |v 
& SEISPI]I = # nter- 
= E S 3 o 8 2 38 | suchte 
Hb| SS |B L.|Mon.| 2 s|£3 sal Ns 
— S 3. 39, " 
= 51351358] 83 » 
So 5 I 5 ss | 
+ ee ES IR ed 7 BE 
Vor dem 
Lauf. ... .'94,1| 5800 | 1,0] 5,2] — 0,05 5,8 48,5 B2,2] 7,0 | 10,4 | 3200 | 1700 [5200 000| 0,88) 


Sofort nach 
dem Lauf |98,1] 7000 | 0,3] 4,1] — |0,25| 4, 


[e .) 


40,543,1| 7,0 | 15,4 | 2900 | 3000 |5600 000] 0,87 


Nach 21/,Std. 
n. d. Lauf 9,5| 9700 | 0,91 30| — 10,4 11 











59,1178,5| 7,5 | 5,5 | 6300 | 1650 [5450 000) 0,92 


iS 











Die Gesamtzahl der Leukocyten vergrößert sich sofort nach dem 
Laufen um ungefähr 15—20%. Noch bedeutender vergrößert sie sich 
nach 2—3 Stunden um 30—40% ; insgesamt verdoppelt sie sich nach 
2—3 Stunden öfters. Formel des Blutes: Sofort nach dem Laufen 
verkleinert sich, nach 2—3 Stunden vergrößert sich wiederum ein 
wenig die Zahl der Basophilen. Die Zahl der Eosinophilen verringert 
sich sofort nach dem Laufen; nach 2—3 Stunden setzt die Verringerung 
sich fort. Die Verschiebung der Formel der Leukocyten nach links ist 
gewöhnlich sofort nach dem Laufen nicht zu bemerken, besonders, 
wenn wir von der quantitativen Verschiebung sprechen (qualitative 
sind in der Vergrößerung der Zahl der Jugendlichen bemerkbar). Nach 
2—3 Stunden jedoch ist immer eine bestimmte Verschiebung der Formel 
der Neutrophilen nach links festzustellen. Die absolute Anzahl der Neutro- 


490 Egoroff: 


philen verringert sich sofort nach dem Laufen bestimmt, und vergrößert 
sich stark, oft verdoppelt, nach 2—3 Stunden. Die relative und absolute 
Anzahl der Lymphocyten vergrößert sich bestimmt sofort nach dem 
Laufen und fällt sehr stark nach 2—3 Stunden, oftmals unter die klas- 
sische Norm (weniger als 1600 in einem Kubikzentimeter). Die Zahl 
der Lymphocyten mit azurophiler Körnung, die nicht ihrem Charakter 
nach differenziert wurden (Arneth 30), vergrößert sich sofort nach dem 
Laufen ungefähr auf 50% und verringert sich stark nach 2—3 Stunden, 
2 mal niedriger als ihr Ausgangspunkt. 

Durchaus gesetzmäßig ändert sich das Blutbild nach dem Durch- 
laufen von 5000 und mehr Meter. Diese Veränderung ist deutlicher 
und verstärkt sich bei der Vergrößerung der Distanz und der Anspannung 
während des Laufens. Die Gesamtzahl der Erythrocyten sowohl wie 
auch des Hämoglobins ändert sich bei mittleren Distanzen von 8 bis 
10 km unbedeutend. Bei größeren Distanzen verringert sie sich jedoch 
sofort nach dem Laufen. Nach 2—3 Stunden wiederum kehrt die Zahl 
der Erythrocyten zur Norm zurück, während die des Hämoglobins fort- 
fährt zu fallen. 

Sofort nach dem Laufen läßt sich eine Gesamtleukocytose beobachten, 
die sich nicht im Verhältnisse zur Distanz, sondern bei Erhöhung der An- 
spannung der Muskelbetätigung vergrößert (s. Tabelle IV, V, VI, VII). 
Hier ist die Leukocytose beim Durchlaufen von 8 km kleiner als beim 


Tabelle IV. Veränderung des Blutbildes nach Durchlaufen von 5000 m im Stadion. 

















- I ie -5 
8 Sa Neutrophile s2152|32 
2% „32 Ela 
SO |IIBJS|I|SS|B|E L. |Mon.| S5| 2 2 | 2 2 |? Unter- 
= 152 =#2]2#]|3 %] suchte 
2 988 M.| I. | St.| Se. 381531958 
a5 °n | »<[2%]2# 
Id) 5 _ ne 
d | | 

ars 5550 00088,2 0,80] 9200| 0,3] 2,7] — 0,1 | 5,3 57,6%8,6| 5,3 | 8,2 | 5600| 2600 

Sofort 

nach \ 5550 000189,5 [0,81 [11 500 | 0,5 10,87 | — | 0,37| 8,7 [12222] 55 | 5,5 | 8170| 2530 

d. Lauf 











Tabelle V. Veränderung des Blutbildes nach Durchlaufen von 8000 m 
(Waldlauf Oross-Country). 




















| 9 ® 58 Neutrophile gSsle=|ls$| „€ 
Breit: Ele = RE Be 
88 Ie®2 ia a DE 
s © IHbIS I SSIB. IE L.]Mon.I 2e5s1s2/]2=2|.85 
22 [22 | =2[22|22| #3 
Ei “1533 m. | 3. | St. | Se. 35[33|1SE|o8 
a2 u 2 >, zZ nm 
5) on | >38 | = 
I © | | ERAEE 
ar 4800000] 83 |0,86] 8400] 0,2] 3,9] — | 0,3| 9,5 45,53,5| 7,5 | 7,9 | 4600| 2800 
Sofort 
nach 74900000] 82 |0,84| 8600| 0,3] 2,1] — | 0,6 18,6 142,2184,0| 7,2 5,5 1 5560| 3400 
d. Lauf) 




















Die Veränderung des Blutbildes während der Muskelarbeit bei Gesunden. 


491 


Tabelle VI. Veränderung des Blutbildes nach dem Marsch von 10 km in voller 
Kriegsausrüstung (mit Gewehr). 























5 a en » - al- 8 
5 on Neutrophile 5 213218 in 
-_ = - SsSIN.ezIN o 
= 8 4 Res Nur sel. lo 98 11 
Sg (|EbJS [SS |B-|E L. |Mon ER s2|$ 5] Unter- 
Bei - _— Ye m 

= er; = 5 M.| J. | St. | Sg. = = ° = e) 5 suchte 
ge 8“ »5[22|23 
oO o A “| 

Vor dem 

Mans | 5100 0001796 |0,79| 7800| 0,5] 3,5] — | 0,2 s,6 53,0bs2]| 70 | 55 lasoofı 700 

Sofort || 

nach d. ) 5000000] 84 10,84 112600] 0,8] 1,5] — | 0,6 16,1 54,872,35] 4,2 | 6,1 [89002 800 

Marsch 

Nach 2), 

Std. n. d. 7/4800 000585,2]0,90 | 9400] 0,5] 2,01 — | 0 | 6,9 62,9$1,0] 6,7 3,2 16500 [2 000 

Marsch | 





Tabelle VII. Veränderung des Blutbildes nach dem 40-km-Rennen (Marathon - Lauf), 


siehe Diagramm 1. 
































® © 2 ulzälze!: 

= B 58 Neutrophile 3213213 & 

38 s|3$ s&älo®lo 8 
S5 Hb 182 B. | E. L. | Mon. © IE 2 3 3,|11 Untersuchte 

E63 De ade M.| I. | St.| Sg. =#8133|58 

28 an »<S127125 

5 16) A“|<3[<7 

N enras! BL 35] 7 8000,48] 3,8] — | 0 | 80 54,6B6,1l 7,1 | 3,9 145601 900 
Sofort > Hyperleukoci- 
nach dem! +4600.00081,0 0,8821 700| 0 | 0 1 — | 2,0.28,4 1602| 7,01 6,7 | 0,6 Jıs600]1 5001| tose, Aneosino- 
Lauf philie, Anbaso- 
philie, versch. 
Nach regenerative u. 
21/,-8 sta 5 080 000776,8 10,77123 900] 0 | 0 | — | 2,0 117,6 168,2 4,7] 74 | 0,3 11001080 ||linus, Neutro- 
n. d. Lauf philie,Lympho- 

A penie. 








Durchlaufen von 5km im Stadion. Nach Angaben von Spezialisten 
des Sports und Ärzten brauchte letzteres mehr Anstrengung des Organis- 
mus, weil auf dem Stadion jede Sekunde Schnelligkeit eine kolossale 
Rolle für den Teilnehmer spielte. Der Lauf von Skm dagegen spielte 
sich auf Waldwegen ab (Cross-country) und brauchte weniger An- 
strengung. Außerdem hängt der Grad der Gesamtleukocytose sofort 
nach dem Laufen auch vom Ausgangspunkt, in welchem sich die Be- 
teiligten befanden und davon ab, inwieweit sie zum Laufen vorbereitet 
oder von den vorangegangenen Tagesstunden ermüdet waren. Nach 
2—3 Stunden vergrößert sich gewöhnlich die Leukocytose bei großer 
Distanz, obwohl sie sich in seltenen Fällen auch verringert (s. Tabelle VIII). 

Das weiße Blutbild verändert sich nach dem Durchlaufen großer 
Distanzen folgendermaßen: die Basophilen und Eosinophilen verringern 
sich stark; bei großen Distanzen verschwinden sie ganz und sind auch 
nach 2—3 Stunden nicht zu sehen (Tab. VII). Die einmalige Untersuchung 
im dicken Blutstropfen ergab hierbei eine absolute Aneosinophilie. 

Z. f. klin. Medizin. Bd. 100. 32 


492 Egoroff: 


Die Verschiebung der Formel der Neutrophilen nach links ist stets 
bemerkbar und vergrößert sich mit der Erhöhung der Anspannung der 
Muskelbetätigung. 

Wir haben das Bild der ‚‚regenerativen Verschiebung nach links‘, 
d. h. sie geht bei großen Distanzen bis zu den Jugendlichen. Diese Ver- 
schiebung verliert sich in 2—3 Stunden nicht, sondern verringert sich 
nur um ein weniges. Die Zahl aller Neutrophilen vergrößert sich 
relativ und absolut bei großen Distanzen und gelangt zu großen Ziffern *), 
ganz besonders nach 2—3 Stunden bis 20 000 in 1 cmm. Sofort nach 
dem Laufen hat sich die Zahl der Lymphocyten schon verringert; nach 
2—3 Stunden verringert sie sich noch mehr (bis zu 2—3%). Die absolute 
Zahl der Lymphocyten vermindert sich ebenso stark und fällt sehr oft 
bedeutend unter die alte Norm Schillings (7”—800 in 1 cmm), ungeachtet 
dessen, daß die Ausgangszahlen, wie schon gesagt, immer höher als diese 
alte Norm sind. Die Mononucleären verändern sich wenig und ungesetz- 
mäßig. Die Zahl der Lymphocyten mit azurophiler Körnung verringert 
sich beständig, bei großen Distanzen verschwindet sie fast ganz. Die 
Zahl der ‚Riederförmigen Mononucleären‘‘ vergrößert sich um einiges. 

Das Blutbild kehrt in 24 Stunden nach dem Laufen über 40 km nicht 
zur Norm zurück (hierzu sind von mir nur 2 Personen untersucht 
worden, nämlich die, deren Blutbild mir gut bekannt war): Die Anzahl 
des Hämoglobins ist nicht wiederhergestellt, die Gesamtzahl der Leuko- 
cyten ist etwas höher als die Norm; Eosinophile sind nicht aufgefunden 
worden; Lymphocyten mit azurophiler Körnung sind auch nicht in der 
Normhöhe. Diese Angaben müssen jedoch in Anbetracht der geringen 
Zahl dieser Beobachtungen wiederholt werden. 

Wir sehen, daß im großen und ganzen die Veränderung des Blut- 
bildes nach Muskelbetätigung verschiedenen Grades und Charakters 
gesetzmäßig verläuft. Bei großen Distanzen wird bestimmt darauf hin- 
gedeutet, daß die Funktionen der myelogenen Gewebe ziemlich tief 
angegriffen werden. Deshalb haben wir keine scheinbare, sondern durch- 
aus wahre Leukocytose vor uns. Bei solch anstrengender Arbeit, wie 
das 40-km-Rennen, dürfen wir die myogene Leukocytose, ausgehend 
von dem Vorhandensein des Bildes der regenerativen Verschiebung, 
bekannt bis jetzt nur in der Pathologie, schon ‚‚myogene Intoxikation‘“ 
der blutbildenden Gewebe nennen. Hier den Charakter des Prozesses 
der myogenen Leukocytose zu erörtern, wäre voreilig gehandelt. Wo 
sich gerade die untere Grenze zieht, an der die Einwirkung der Muskel- 
betätigung im ganzen auf das myelogene Gewebe einsetzt, ist vorerst un- 
bestimmbar, jedoch ist anzunehmen, daß schon nach ganz minimaler 


*) Die Teilnehmer am Marathonischen Rennen waren alle nicht hierzu, wie 
es die professionellen Regeln verlangen, sondern nach Angaben von Spezialisten 
auf nicht mehr als 10 km trainiert. 














Die Veränderung des Blutbildes während der Muskelarbeit bei Gesunden. 493 


Arbeit, dem Laufen von 1—2km, solche Einwirkung da ist. Hierauf 
weist das Blutbild sofort und 1—2 Stunden nach dem Laufen hin, 

Wenn wir einige individuelle, sich besonders scharf von den oben- 
genannten mittleren unterscheidende Veränderungen betrachten, so 
bemerken wir besonders interessante Erscheinungen (die unten ange- 
führten Blutbilder sind nicht den allgemeinen Durchschnitten eingereiht, 
weil sie sich scharf von der Mehrzahl derselben abteilen). 

Vor allem werde auf T. (Tabelle VIII) hingewiesen. Er wurde zwei- 
mal nach dem Zurücklegen von 8 und von 40 km untersucht. In beiden 
Fällen gab er sofort nach dem Lauf die kleinste Abweichung von seinem 
Ausgangspunkt. Zudem war seine Ausgangsnorm mit der von Schilling 
festgestellten fast übereinstimmend, was ich bei etlichen hundert 


Tabelle VIII. Die Veränderung des Blutbildes T. nach dem 40-km-Rennen. 
































5 es — - Sal A 
8 5 Neutrophile ss13=2|32# 
I 22 A =! E cd far 8 
N a) N Oo e On. ol» 51» 5S 
53 S|$# 22[25|3% 
S 5 "188 M.| I! | St. | Sg. aslselse 
=: 3 3[2%[25 
BR ö A=<43[<7 
rad, 4550 81 [0,9 | 6500| 1,01 2,01 — | 0 | 5 685P45| 4,0 [4,0%/,14 600 |1 600 
Sofort 
nach d. 261000001 77 |0,6322500| 0 | 0 | — | 0,5 118,5 67,0] 9,0] 5,0 2,0°/,112400|2 000 
Lauf 
Nach 2!/, 
Std. nach 76000000) 85 [0,7121 000] 0 | 0 | — | 2,0 128,5 166,5| 3,0] 5,0 [1,0%/,|18400| 630 
d. Lauf 











Untersuchungen nur 3—4mal angetroffen habe. Faktisch hat T. 
nach Aussagen von Professionalsportleuten und Ärzten, die ihn unter- 
suchten, beide Male das Laufen am leichtesten ertragen. Hinzugefügt 
sei, daß T. von allen Beteiligten am besten trainiert war. 

Interessant ist, daß der Sieger des 40-km-Rennens dasselbe schlecht 
ertrug und lange in halb bewußtlosem Zustande lag; sein Blutbild war 
eine scharfe Abweichung von den mittleren Ziffern: eine verringerte 
Aktivität des Blutgewebes hatte Platz gegriffen (die Gesamtzahl der 
Leukocyten betrug nur 15000, die Verringerung der Erythrocyten! u.a. 
wich ab von den mittleren Daten). 

Tabelle IX und X zeigen die Veränderung des Blutbildes zweier am 
10-km-Marsche Beteiligter, Tabelle XI u. XII zweier am 40-km-Rennen 
Beteiligter (in die gesamte Mittlere sind sie nicht eingeschlossen). Die 
Blutbilder aller dieser Personen in ruhigem Zustande vor dem Laufen 
(2 mal untersucht) unterscheiden sich bedeutend von der von Schilling 
gegebenen und auch der gegenwärtigen Norm. Letzteres ist in gegebenem 
Falle von größerer Wichtigkeit. 

32* 


494 


Tabelle IX. Die Veränder 


Egoroff: 





ung des Blutbildes S. nach’ dem 10-km- Marsch. 

















Bu 5 i = = g 3 
>28 5 Neutrophile = =| a3 = S 
25 132 {Er BEISSISS 
Ss Hb. 3 S 2 B.|E. L. |Mon.| S 21=<32I|< a 
Be “ [55 M.|T. |St. Sg. =s8|23|23 
SE ie BI EIER 
(ce ‚de, „a rg en 
a 5250000| so [0,77] 9800105 135] — | 0 25 285 bs.o| 12,0 | 3,0°/, | 5500| 2900 
Sofort j 7 
nach 15300000] 77 [0,72]14500| 0 [1,0 | — |2,0 |s30 »,5PBı,5| 3,0 | 2,0/, [10000] 3 100 
d. Lauf | 











Tabelle X. Veränderung des Blutbildes W. nach dem 10-km- Marsch. 
































8 © = = 5 

3 O8 Neutrophile Eele2lz2# 

= %E =. >18 & & 

5 „|=S5 BEelSssIse 

Bu © So Se [e) 3 

SS |JHbIS ISSIB.|E. L.[Mon.}ss|- 2|1-& 

E38 s85 N 2183 1,88 

Es “a E 2 Mrd. St. Sg. S 3[2 > SE 

= E- | a 

on hd) Bo ie) ke) 
re: 5100000] 72 [0,701 110001 0 [15] — | 0 | 85 63.0P1,5| 5,5 [6,0% | 7700| 2300 
Sofort Eiweiß 
nach N oo 0 73 11,2 113700]2,0 12,0] — | 0 | 25 1658,5124,5| 8,5 1 8,5%,| 9800| 3300 im 
d. Lauf | Harn 


Tabelle XI. 








machte nur 25 km. 





Veränderung des Blutbildes D. nach dem 40-km-Rennen; 















































1=05 = Neutrophile 0 RE EN FR 
Säe “IS=g | 7: SSElSEe|S<s 
s&# |IHb.| © ES$|B-| E | L. |Mon.|S<= den -8# 
355 3348 M.| 7. |St. | Sg. 352952538 
5% 53 | ars [<s 
Vor 
dem 4750000| 74 [0,79] 11 800 | 1,0 14,0 | — | 1,5 118,5 30,0129,0| 16,0 45 16100 | 3600 
Lauf 
Sofort ne 
nach N sooo 83 [0,84116400| 0 | 0 |— 8,5152,5121.0| 70] 100 | 05 [13500 [1100 "ya 
d. Lauf 
Tabelle XII. Veränderung des Blutbildes P. nach dem 40-km-Rennen. 
== 36 Neutrophile Eu RAN re 
Sss| |&]|885 SselSäe|l&ee| po 
= 2 Hb.| <= [E88] B. | E. L. |Mon.|S<53|- 533|- 38 Asa 
As [8,8 =.|3. | St.| Sg. S.3|3#=3|2 2%] phtosieus 
os. ® © > Es nn. Bar 
| 5 © So | & {io «ig 
Vor 
dem 24800000] 87 10,90510 000] 0 10,51 — | 0 3 17801155] 3,0 3,5 8000 | 1500 
Lauf 
Sofort 
nach 74900000] 80 [0,52124400| 0 | 0 | —  251'155[70,0| 3851| 85 1,0 21500] 850 
d. Lauf 
Dan - (viel Eiweiß 
2Std. 14600000] 64 [o,69]aı 00| 0 | 0 | — 05 1157951 55| 3.0 | 05 | 28000| 1700 J Blut i 
nach s : 1a lut im 
d. Lauf Urin 


























Die Veränderung des Blutbildes während der Muskelarbeit bei Gesunden. 495 


Das Blutbild des $S. und D. (Tab. IX u. XI) erinnert besonders bei 
letzterem an das bei verdeckter Malaria (in der Anamnese ist die Malaria 
vorhanden), obzwar die Gesamtzahlleukocyten die Norm überschreiten, 
was zum Teil der Diagnose der Malaria widerspricht; es ist dieses jedoch 
dadurch genügend zu erklären, daß die Untersuchung nicht morgens 
im Bette, sondern in nur verhältnismäßig ruhigem Zustande ausgeführt 
wurde und so ist natürlich, daß ihre Organismen, unter dem Einfluß 
des krankhaften, wenn auch durchaus latenten Prozesses stehend, die 
Erregung vor dem Wettstreite und die ermüdenden Faktoren des Tages 
mit einer größeren Reaktion beantworten. Nach dem Blutbilde zu 
‚urteilen, hatte der 10-km-Marsch auf S. dieselbe Wirkung wie auf die 
Gesunden des 40-km-Rennens. 

D., der im 40-km-Rennen nicht das Ziel erreichte, legte überhaupt 
ungefähr 25km zurück und wurde per Auto 30 Min., nachdem er zu 
laufen aufgehört, zurückgestellt; bei ihm war eine starke Herzer- 
weiterung festzustellen*). | 

W.s Blutbild (Tabelle X) entspricht zwar Schillings Norm, ist je- 
doch von der gegenwärtigen verschieden, was in Anbetracht der vor- 
handenen allgemeinen Leukocytose wichtig festzustellen ist (11 000). 
Bei ihm war nach dem Marsche eine starke Abweichung von der mittleren 
Norm der anderen Beteiligten: die Verminderung der Erythrocyten bis 
3 Millionen, im Verhältnis zur unbedeutenden Leukocytose bei voll- 
kommen eigenartiger Veränderung des Blutbildes. Es erscheint eine 
verhältnismäßig große Anzahl Basophiler, während die Formel der 
Neutrophilen sich nach rechts verschiebt. Solches Blutbild berechtigt 
die Voraussetzung einer Verminderung der regenerativen Fähigkeiten 
des Blutgewebes bezüglich der Neutrophilen unter dem Einfluß irgend- 
eines anhaltend auf den Organismus wirkenden Faktors. Faktisch er- 
trug W. den Marsch schwerer als die anderen seiner Gruppe. Eiweiß 
im Harn u.a. [Mehr, als Esbach zeigen könnte!)]. 

Des letzten P.s Blutbild (Tabelle XII) ist demjenigen W.s etwas ähn- 
lich und erinnert zum Teil an das Blutbild bei leichter Form ‚,‚Intoxi- 
catio tuberculosa” (Leukocytose, allgemeine Neutrophilie, Lympho- 
penie, Monopenie, Eosinopenie). Nach dem von ihm besonders schwer 
ertragenen Rennen (sehr viel Eiweiß und Blut im Urin und andere ob- 
jektive Daten) zeigt sich in seinem Blutbilde eine ebenso große Ab- 
weichung von den mittleren Zahlen der Blutbilder der anderen Teil- 
nehmer. 

Im Gegensatz zu diesen 4 Personen, die den Lauf besonders schwer 
ertrugen, haben einige andere dasselbe relativ gut ertragen: So hat 





*) Alle Untersuchungen vor dem Laufen wurden 4—5—6 Stunden nach dem 
leichten Genuß einer Speise der Teilnehmenden vollzogen. Alle diese Sportsmen 
waren sogenannte gesunde Männer! 


496 Egoroff: 


auch dieses Blutbild die wenigsten Veränderungen gegeben. Auf Grund 
dieser Beobachtungen, die, ausgeschlossen die zwei- und dreifachen, 
ungefähr 500 Untersuchungen umfassen, erlaube ich mir, vorläufig 
einige vorbereitende Verallgemeinerungen bis zur Ausführung der 
nächsten Beobachtungen vorzuschlagen. 


Zusammenfassung. 


1. Das Blutbild der russischen Bevölkerung ist gegenwärtig, im 
Vergleich zur Norm und zu 1914, dem Blutbilde zugeneigt, das Kliene- 
berger 1917 Kriegslymphocytoseumstellung nannte. Solche Veränderung 
des Blutbildes hängt allerdings von einer ganzen Reihe Faktoren all- 
gemeinen Charakters ab (Nahrung, Nervenfaktoren u. a.) und kann 
eine „‚soziale‘‘ Verschiebung des Blutbildes genannt werden. 


2. Die myogene Leukocytose kann als wahre Leukocytose angesehen 
werden und vollzieht sich streng gesetzmäßig. Ihr Grad und Charakter 
hängt von der Quantität der Muskelarbeit, ihrer Intensivität (An- 
strengung) und dem individuellen Zustande dessen, der untersucht wird, 
ab, z. B. seinem Training, dem allgemeinen Gesundheitszustand des 
Körpers, der Ermüdung der vorhergehenden Tagesstunden u. a. Wie 
zu sehen, vollzieht sich die Veränderung des Blutbildes im Verhältnis 
zur Muskelarbeit nach dem Gesetze der parallelen Reaktionen des Blut- 
bildes mit dem Anstrengungsgrad der Muskelarbeit. 


3. Das Bild der myogenen Leukocytose ist folgendes: eine sich 
rasch erhebende Leukocytose, die sich lange noch nach der Arbeit ver- 
größert; anfänglich eine relative und absolute Lymphocytose, welche 
in eine bei großer Anstrengung sehr scharfe Lymphopenie übergeht; 
anfangs relative und absolute Neutropenie, die in eine sehr scharfe 
Neutrophilie übergeht mit Kernverschiebung der Neutrophilen nach 
links; relative, mitunter absolute Aneosinopenie und Basopenie; Ver- 
minderung der Zahl der Lymphocyten mit azurophiler Körnung. 


4. Bei besonders anspannender Muskelarbeit läßt sich zuweilen ein 
Blutbild beobachten, das als Ausdruck der ‚‚myogenen Intoxikation‘“ 
der myelogenen Gewebes charakterisiert werden kann. | 

Indem ich hiermit meine vorläufige Mitteilung schließe, halte ich 
für meine angenehme Pflicht, Prof. Dr. med. W. Ignatjew; Pr., Dr. der 
Physiologie D. Njenjukow; Dr. N. Bobrow für die geleistete Unter- 
stützung in der Arbeit und den Ärzten @. Birsin, @. Tschirkin und 
W. Wiljensky für die mir freundlich zur Verfügung gestellten Resultate 
ihrer Erforschungen meinen innigsten Dank auszudrücken. 











Die Veränderung des Blutbildes während der Muskelarbeit bei Gesunden. 497 


Literatur. 


1) Krjukow, Morphologie des Blutes, 1921. — ?) Ragosa, Die Veränderungen 
des Blutes durch den Bandwurm, 1911. —— ?) Krotkow, Wirkung der Speise auf 
die phys. Bluteigenschaft. — *) Maximow, Histologie 1918. — °) Hosrogeff, Hämato- 
logie. — ®) T'scherkess, Der ärztl. Beruf Nr. 3, S. 5. 1923. — ?) Ljubarsky, Von den 
Veränderungen der weißen Blutkörperchen bei Malaria usw. Klin. Med. 1922, Nr. 5. 
— ®) Nomikow, Leukocytose und Arnethsche Blutbild. — ?) Elberg und Steinberg, 
Veränderung des Blutes im Zusammenhang mit den Nahrungsverhältnissen. 
Ärztl. Beruf 1922, Nr. 1, S. 20. — 10) Schapiro, Lymphocytose als Normblutbild der 
Gegenwart. Uraler med. Rundschau 1923, Nr. 2—3. — !!) Arneth, Die qualitat. 
Blutlehre 1920. — 1?) Pappenheim, Atlas der menschlichen Blutzellen. — 13) Schil- 
ling, V., Das Blutbild und seine klinische Verwertung, 2. Aufl., G. Fischer, 
. Jena, 1922. — 1) Idem, Angewandte Blutl. d. Tropenkrankheiten, Joh. Ambros. 
Barth, Leipzig, 1914. —- 15) Idem, Zeitschr. f. klin. Med., Bd. 89, 1920. — 
16) Klieneberger, Münch. med. Wochenschr. 1917, Nr. 17. — 17) Laempe und 
Saupe, Münch. med. Wochenschr. 1919, — 1%) Hühle, Dtsch. Arch. f. klin. Med. 
1914, B. B. — 1?) Becher, Mitteil. a. d. Grenzgeb. d. Med. u. Chirurg. 31. 1918. — 
20) Bockelmann und Nassau, Berl. klin. Wochenschr. 1918. — 21) Moewes, Berl. 
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23) Grawitz, Dtsch. med. Wochenschr. 1910. — ??) Morawitz, Münch. med. Wochen- 
schrift 1923. — °®) Hage, Münch. med. Wochenschr. 1923. — ?°) Wittig, Münch. 
med. Wochenschr. 1923, Nr. 9. — 27) Eckert, Zeitschr. f. Biol. 71. 1920. — ?®) Fonio, 
Dtsch. Zeitschr. f. Chirurg. 11%. — °°) Naegeli, Blutkrankheiten und Blutdiagnostik 
1923. — °°) Arneth und Stahl, Azurophile Granula. Zeitschr. f. klin. Med. 96. 1922. 


Über die Kombination der Polyeythämia rubra mit 
| leukämischer Myelose. 


Von 
Dr. med. Hans Karl von Winterfeld. 


(Aus der medizin. Klinik der Universität Rostock [Dir. Prof. Hans Curschmann).) 
Mit 1 Textabbildung. 
(Eingegangen am 15. März 1924.) 


Über das Verhalten der Leukocyten bei Polycythämien sind die 
Angaben in der Literatur sehr verschieden. In einzelnen Fällen werden 
normale Leukocytenzahlen genannt, in anderen Fällen 50000 bis 
100 000. Auch die Veränderungen innerhalb des weißen Blutbildes 
können sehr wechselnde sein. Während fast konstant die Eosinophilen 
und Mastzellen vermehrt, die Lymphocyten prozentual (nicht absolut!) 
vermindert sind, werden die Mengenverhältnisse der auftretenden 
Myelocytenformen in weiten Grenzen schwankend angegeben, von 
geringsten prozentualen Werten bis zu 36%. 

In Anbetracht der manchmal sehr hohen Leukocytenzahlen bei 
Polyeythämie in Verbindung mit dem Auftreten zahlreicher myelo- 
cytärer Zellen muß an die Möglichkeit gedacht werden, ob es sich bei 
solchen Fällen nicht um eine Kombination mit echter myeloischer 
Leukämie handeln könnte. Wenn auch Naegeli „‚mit aller Entschieden- 
heit“ die Kombination von myeloischer Leukämie mit Polycythämie 
ablehnt, so muß doch ein Fall von Erich Meyer Beachtung finden, 
der klinisch als solehe Kombination anzusehen war, und durch die Sek- 
tion tatsächlich als Kombination dieser beiden Krankheiten bestätigt 
wurde. Die patho-physiologische Möglichkeit einer solchen Kombi- 
nation liegt ja auch nahe. Liegen doch die Krankheitsherde im Knochen- 
mark hart beieinander, so daß es schon theoretisch nicht verwunderlich 
wäre, wenn ein und dieselbe schädigende Ursache sowohl den erythro- 
blastischen wie den leukoblastischen Apparat im Knochenmark zur 
Wucherung veranlaßte! 

Bei der Polycythämie findet sich nach Naegeli stets in sämtlichen 
Knochen dunkelrotes Mark, in dem sich wiederum viele Erythroblasten 
und öfters Zunahme der Riesenzellen nachweisen läßt. Es handelt sich 
bei der Polyeythämie also um eine primäre hyperplastische Erkrankung 
des erythroblastischen Anteils des Myeloidgewebes (Türk). Nicht 
erwähnt wird von Naegeli der Zustand des leukoblastischen Apparates 
im Knochenmark. Es ist nun myeloide Umwandlung des Knochenmarks 








H.K.v. Winterfeld: Über die Kombination der Polycythämia rubra usw. 499 


bei Polycythämie öfters nachgewiesen worden, sogar Zeichen myeloider 
Umwandlung in der Milz (Hirschfeld, Renck:t). 

Wesentlich seltener finden sich dagegen erhöhte Erythrocytenzahlen 
bei myeloischer Leukämie, nach Naegeli nur bei initialen oder durch 
Röntgen gebesserten Myelosen, und nur bis zu Höhen von etwa 6 Mil- 
lionen. Daß bei solchen Fällen nichts von einer Wucherung des erythro- 
blastischen Apparates im Knochenmark erwähnt wird, ist leicht erklär- 
lich. Initiale oder durch Röntgen gebesserte Myelosen kommen eben 
in diesem Zustande nicht zur Sektion! Und da sich bei fortschreitender 
Myelose stets eine mehr oder minder starke sekundäre Anämie einstellt, 
. können natürlich solche Befunde bei Sektionen im Terminalstadium 
nicht mehr gefunden werden. Wichtig wären in den oben genannten 
Fällen Untersuchungen des Knochenmarks in vivo, eine Methode, 
die ja neuerdings bei der perniziösen Anämie des öfteren, jedoch unseres 
Wissens bei myeloischer Leukämie noch nicht angewandt worden ist. 
Interessieren dürfte daher der in vivo gewonnene Knochenmarksbefund 
unseres Falles von Polycythämie und myeloischer Leukämie. 

Aus dem Gesagten ergibt sich, daß möglicherweise gewisse Be- 
ziehungen zwischen der Polycythämie und der myeloischen Leukämie 
bestehen. Auch Hirschfeld (in Anlehnung an Türk) sieht in der Poly- 
cythämie ein Analogon zur Leukämie, und bezeichnet diese beiden 
Krankheiten geradezu als Schwesternkrankheiten. Aus diesem Grunde 
hat Hirschfeld auch mit Recht vorgeschlagen, die Erythrocythämie 
entsprechend der Leukämie als Erythrämie zu bezeichnen, ein Vor- 
schlag, der merkwürdigerweise, in der Literatur bisher wenig Anklang 
gefunden hat. Unseres Erachtens ist der Nachweis der Wucherung 
des leukoblastischen Apparates im Knochenmark schon genügend, 
um die Diagnose der leukämischen Myelose zu stellen. Ist doch auf 
jeden Fall anzunehmen, daß der Krankheitsbeginn sich im Knochenmark 
abspielt, und daß erst im weiteren Verlaufe der Krankheit (die allerdings 
meistens erst dann zur klinischen Beobachtung und evtl. Sektion 
kommt!) die myeloide Umwandlung auch auf andere Organe, vor allem 
Milz, übergreift. Von diesem Standpunkt ausgehend wird man den 
Eindruck gewinnen, daß manche der in der Literatur als Polyceythämien 
mit Leuko- und Myelocytose bekannten Fälle bereits in die Rubrik 
der Kombination von Erythrocythämie und Leukämie fallen. 

Wir lassen die Krankengeschichte unseres Falles folgen, der solche 
Kombination darstellt. 

Clara S., 46 Jahre alt. Mutter an Asthma, Lungenentzündung und Blind- 
darmentzündung gestorben, Vater leidet an Rheumatismus und Gicht. Er hat 
als Kind viel an Nasenbluten gelitten und hat immer ein auffallend rotes und blühen- 
des Aussehen gehabt. Er selbst gibt an, daß ihm sein Aussehen stets unangenehm 


gewesen sei, da man ihn infolgedessen leicht für einen Trinker halten könnte. Be- 
schwerden hat er sonst nicht gehabt. Die Mutter hat nie rot ausgesehen, auch nicht 


500 H.K. v. Winterfeld: 


zu Blutungen geneigt. Über die Großeltern ist nichts Diesbezügliches zu eruieren. 
Bei den 3 Brüdern ist nie ein besonders rotes Aussehen aufgefallen. Die 43jährige 
Schwester leidet an vorübergehenden Gesichtsschwellungen von manchmal mehr- 
tägiger, manchmal nur mehrstündiger Dauer, besonders nach Aufregungen. Krank- 
heiten, die auf endokrine Störungen schließen ließen, liegen in der Familie nicht vor. 

Pat. selbst war als kleines Kind öfters krank, während der Schulzeit und später 
jedoch gesund. Solange Pat. sich entsinnen kann, hat sie immer auffallend rote 
Farben gehabt und ist schon als Kind viel auf ihr „‚blühendes Aussehen“ angeredet 
worden. Auch hat sie schon als Kind viel zu Nasenbluten geneigt, besonders nach 
Erregungen. Mit 39 Jahren Blinddarmoperation. Seitdem hat Pat. sich nie recht 
erholt. Seit dieser Zeit ist die Gesichtsfarbe noch röter geworden, mit einem Ein- 
schlag ins Bläulichrote. Vor ®/, Jahren begann der Leib zu schwellen und zeit- 
weilig zu schmerzen, besonders in der linken Seite. Öfters Herzklopfen und Schwin- 
del. In letzter Zeit auch Husten mit zähem Auswurf. Stuhlgang verstopft. Schlaf 
unruhig, öfters Blutandrang nach dem Kopf. Regel seit über 1 Jahr unregelmäßig, 
setzt manchmal mehrere Monate aus. Vor 4 Wochen mehrere Tage dauerndes 
heftiges Nasenbluten, öfters Zahnfleischblutungen, auch öfters blaue Flecke an 
den Beinen. Gewichtsabnahme. Haarausfall. Hat stets zum Schwitzen geneigt. 
Vor 3 Jahren verlor Pat. schnell nacheinander sämtliche Zähne des Oberkiefers, 
die Zähne wurden lose, und das Zahnfleisch war entzündet. Unterkiefer blieb davon 
unberührt. 

Befund: 16. X. 1923. Blutbefund des Vaters: Hämoglobin korrigiert 97, 
Erythrocyten 5 264 000, Färbeindex 0,9. Leukocyten 10 855. Polynucleäre 62%, 
Lymphocyten 38%. Rotes Blutbild o. B. — Blutbefund der Schwester: Hämo- 
globin korrigiert 79, Erythrocyten 3 892 000, Färbeindex 1,0. Leukocyten 7533. 
Polynucleäre 75%, Lymphocyten 25%. Rotes Blutbild o. B. 

Der Befund der Pat. selbst ergibt einen elenden, abgemagerten Körper. Ge- 
sichtsfarbe rötlichblau, fast cyanotisch, Lippen, Gaumen, Rachen und Zunge 
von auffallend tiefrotem Aussehen. Keine Drüsen palpabel, Schilddrüse nicht ver- 
breitert. Lungen o. B. Herz nach rechts wenig, nach links stark, bis zur vorderen 
Axillarlinie verbreitert. Spitzenstoß hebend und verbreitert. Leichte Pulsation 
in Gegend der Herzspitze. Über Spitze und Pulmonalis systolisches Geräusch. 
Aktion regelmäßig. Abdomen über Thoraxniveau. Hart, wenig schmerzhaft. 
Milz als enormer, harter Tumor mit deutlichen Einkerbungen füllt die ganze linke 
Bauchseite bis ins kleine Becken aus. und überragt nach rechts den Nabel um 
2—3 Querfinger. Leber reicht bis unterhalb des Nabels. Im rechten Hypogastrium 
ein schmaler Streifen normalen tympanitischen Schalles. Ascites nicht nachweis- 
bar. Bauchhautvenen stark gefüllt. Extremitäten stark abgemagert, Hände bläu- 
lichrot verfärbt, warm. Leichte Ödeme beider Unterschenkel. Atrophische Glanz- 
haut an Händen und Füßen. Keine Trommelschlegelfinger oder -zehen. Re- 
flexe 0. B. 

Urin: Albumen +, Essbach 1°/go. Blutdruck 122:37 mm Hg. WaR. in Blut 
und Liquor negativ. Pneumoperitoneum ergibt großen Milz- und Lebertumor, 
keine Verwachsungen. Serumkonzentration des Blutes 6,83%, Viscosität des Blutes 
12, des Serums 1,8. Gerinnungszeit: Erster Fibrinfaden nach 2 Minuten, vollständige 
Gerinnung nach 4 Minuten. Blutungszeit: Blutung aus der Wunde steht nach 
2'/, Minuten. Augenhintergrund: Beiderseits pralle Füllung der Venen, die ge- 
schlängelt verlaufen. Keine Blutungen. — Beiderseits beginnende randständige 
Katarakt. 

Blutstatus: Hämoglobin korrigiert 116. Erythrocyten 7568 000. Färbe- 
index 0,8. Leukocyten 69 733. Polynucleäre 63%, Lymphocyten 4%, Mastzellen 
6%, Monocyten 6%, Promyelocyten 1%, Myelocyten: neutrophile 17%, basophile 








Über die Kombination der Polycythämia rubra mit leukämischer Myelose. 501 


2%, Myeloblasten 1%. Auf 300 Leukocyten 2 Normoblasten. Leichte Anisocytose. 
Plättchen 165 000 im Kubikmillimeter. 

Lumbalpunktion: Anfangsdruck 260 mm, abgelassene Menge 20 cem, End- 
druck 120 mm. Puls- und Atemschwankungen -+, Anstieg des Druckes bei Druck 
auf die Carotiden. Liquor wasserklar. Nonne-Apelt negativ, Nissl 2 Striche. 
Zellgehalt 2 Zellen. 

Blutsenkungsgeschwindigkeit (mit Natrium citricum) ergibt komplette Sen- 
kungshemmung. 

Mageninhalt: Kongo +, Reaktion sauer. 

Der weitere Verlauf der Krankheit, insbesondere die Veränderungen des Blut- 
befundes unter der Therapie ergibt sich aus den nachfolgenden Tabellen. 

12. XII. 1923. Serumkonzentration des Blutes 8,21%. Viscosität des Blutes 
. 7, des Serums 1,7. Gerinnungszeit: Erster Fibrinfaden nach 7 Minuten, vollständige 
Gerinnung nach 9!/, Minuten. Blutung aus der Wunde steht nach 5 Minuten. 
Senkungsgeschwindigkeit der Erythrocyten ergibt auch jetzt komplette Senkungs- 
hemmung. 

Bei der Entlassung (20. XII. 1923): Milz wesentlich kleiner und weicher ge- 
worden, ebenso die Leber. Befinden sehr gut. Gefühl der Völle hat aufgehört, 
Pat. fühlt sich frisch. Gesichtsfarbe hat den bläulıchvioletten Ton erheblich ver- 
loren, die Farbe sieht fast normal aus. Hämoglobin korrigiert 105. Erythrocyten 
5200000. Färbeindex 1,0. Leukocyten 15555. Polynucleäre 84%, Lympho- 
cyten 4,5%, Eosinophile 1%, Mastzellen 1,5%. Monocyten 1,5%. Promyelocyten 
0,5%, Myelocyten: neutrophile 6,5%. Metamyelocyten 0,5%. Myeloblasten —. 
Normoblasten —. Megaloblasten —. Mäßige Anisocytose. 

Nachuntersuchung am 17. I. Sehr gutes Allgemeinbefinden. Milz und Leber 
haben sich weiter verkleinert. Gewicht 110 Pfund (+ 12). Hämoglobin korrigirt 
100, Erythrocyten 4 032 000. Färbeindex 1,25. Leukocyten 16 933. Polynucleäre 
80%, Lymphocyten 5%, Eosinophile 1%, Mastzellen 1%, Monocyten 3%, Pro- 
myelocyten —. Myelocyten: neutrophile 9%, Metamyelocyten 1%. Auf 100 Leu- 
kocyten 1 Normoblast. Plättchen 300 000 im Kubikmillimeter. Mäßige Anisocytose. 

Befund des am 22. X. 1923 in Lokalanästhesie aus der linken Tibia ent- 
nommenen Knochenmarks: Farbe schmutziggraurötlich. 

Histologischer Befund (Prof. Fischer, Direktor des Pathologischen Instituts 
Rostock): 

1. Im Markgewebe ist relativ viel fibröses Mark vorhanden. 

2. Irgendwelche pathologische Formen wurdennicht gefunden. Die roten Blut- 
körperchen und ihre Vorstufen treten an Menge wesentlich zurück gegenüber den 
Myeloblasten, Myelocyten und Leukocyten. Keinerlei Vermehrung der eosino- 
philen Zellen. 

3. Als ganz besonders eigentümlich ist zu notieren eine ungemein große Zahl 
von Riesenzellen, die stellenweise das Gesichtsfeld ganz beherrschen. Diese Riesen- 
zellen stimmen in ihrem Bau teils mit den normalen Megakaryocyten des Knochen- 
marks durchaus überein, zum Teil aber auch sind ganz andere Formen vorhanden. 
Man findet Zellen mit dicht zusammengedrängt liegenden Kernen, deren Chromatin- 
gehalt außerordentlich wechselt. Manchmal sind die Chromatinmassen ganz ver- 
klumpt, andere Kerne in anderen Zellen wieder auffallend blaß und arm an Chro- 
matin. Das Verhältnis von Protoplasma zu Kernmasse schwankt außerordentlich, 
im großen ganzen jedoch überwiegt die Kernmasse erheblich. Manche von diesen 
Riesenzellen sind ganz dicht zusammengelagert, an manchen Stellen entstehen 
so fast bandartig syncytiale Gebilde. Fremdkörper irgendwelcher Art konnten in 
diesen Zellen nirgends nachgewiesen werden. 

4. Eisenhaltiges Blutpigment war im Knochenmark nirgends nachzuweisen. 


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Über die Kombination der Polycythämia rubra mit leukämischer Myelose. 








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504 H.K. v. Winterfeld: 


Die Blutbilder wurden jeden Morgen zu gleicher Zeit und unter 
gleichen Bedingungen untersucht. 

Die Bestrahlungen wurden folgendermaßen verabfolgt: S.H.S. Röhre 
Müller 23cm F.H. Feldgröße 6x 8. M. A. 1,8—2,0. Sklerom. 140. 
3 mm Al. 40cm Parallelfunkenstrecke. Dosierung: Mitte des Knochen- 
marks cr. 100% bei Zweifelderbestrahlung. 

Epikritisch betrachtend dürfen wir annehmen, daß die Polyeythämie 
unseres Falles konstitutionell bedingt ist und familiär auftritt. Die 
















































































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ZIRSRDERKZRHRRERGEN NENPFFEENE Ser 
R = Röntgenbestrahlung, F = Feld. 
Kurvell. 


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HH H / IS TEN ELBE 


IN IIMTRLKL LTR 
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Anamnese des Vaters, sein Blutbild, das typische familiäre Nasenbluten, 
sodann die Anamnese der Patientin selbst, daß sie seit ihrer frühen 
Kindheit bereits die übertriebene Röte des Gesichts gehabt habe, 
während die progressive subjektive Krankheit selbst erst viel später 
ausgebrochen ist, sprechen in diesem Sinne. Auch unser Fall fällt also 
in die Kategorie der zuerst von Hans Ourschmann beschriebenen kon- 
stitutionell bedingten Formen der Polyglobulie. Das latente Stadium 
ging etwa zur Zeit der einsetzenden Menopause in das Stadium der 
eigentlichen Krankheit über. Erst jetzt setzten die subjektiven Be- 
schwerden ein, entwickelte sich der Milztumor, wurde die bisher rote 
Gesichtsfarbe zur pathologisch eyanotisch-blauroten Verfärbung. Auch 





Über die Kombination der Polycythämia rubra mit leukämischer Myelose. 505 


dies, die klimakterische Aktivierung des eigentlichen progressiven 
Krankheitsprozesses nach jahrzehntelanger initialer Latenz, während 
der die Frau, wie so viele andere ihrer Art, ‚‚mehr rot als krank‘‘ war, 
wurde von Hans Curschmann im Krankheitsverlauf seiner konstitutio- 
nellen und familiären Fälle besonders hervorgehoben. Eine spezifische 
endokrine Genese oder Beeinflussung läßt sich aus diesem Geschehen 
aber wohl schwerlich ableiten, da die Klimax als aktivierender (oder 
auch inaktivierender) Faktor bei vielen Krankheitsformen, die sicher 
mit der inneren Sekretion genetisch nichts zu tun haben, bekannt 
ist (z. B. bei Tumoren). Es handelt sich vielmehr um eine als un- 
spezifisch zu deutende Umstimmung des Organismus durch die Meno- 
‚pause. 

Zu dieser angeerbten Polycythämie gesellte sich, offenbar synchron 
mit ihrer Umwandlung zur eigentlichen Krankheit, eine leukämische 
Myelose. Für diese Auffassung spricht einerseits die hochgradige 
Leukocytose mit starker Vermehrung der myeloiden Zellen (bis zu 30%,), 
die das Maß der sonst bei Polycythämie beobachteten Leukocytosen 
und. Myelosen übersteigt. Andererseits wird die Diagnose bewiesen 
durch den Knochenmarksbefund in vivo, der deutlich die Hyperplasie 
des leukoblastischen Apparates im Knochenmark zeigt. Daß es sich 
nur um eine leukämische Myelose mit bisher unbekannt hohen Erythro- 
cytenzahlen handelt, ist unmöglich, wie die Anamnese der eingewurzelten 
Polycythämie beweist. 

Noch einige Worte zur Therapie. 

Bei der Polycythämie sind Phenylhydrazin und Knochenmarks- 
serienbestrahlungen die gebräuchlichsten Methoden, bei Leukämie 
Röntgenbestrahlungen, Arsen und Benzol. F 

Die bisherigen Erfahrungen haben gelehrt, daß Phenylhydrazin 
(Eppinger) die Zahl der Erythrocyten erheblich zu senken vermag, 
daß aber die Wirkung nur eine vorübergehende ist. Abgesehen von 
der kurzen Dauer der Wirkung ist das Mittel jedoch auch nicht ganz 
ungefährlich, und wird daher von vielen Autoren abgelehnt. Bei einem 
vor einem Jahr beobachteten Polycythämiker allerdings hat Hans 
Curschmann festgestellt, daß das Mittel selbst ambulant sehr gut ver- 
tragen wurde, allerdings nur eine recht langsame und wenig intensive 
Wirkung hatte. 

Die Knochenmarksbestrahlungen, die gegenüber der Schädigung 
der Erythrocyten in der Blutbahn die Krankheit in ihrem Kern, nämlich 
an der Bildungsstätte der Erythrocyten, zu fassen suchen, scheinen, 
soweit neuere Beobachtungen lehren, die meiste Aussicht auf Erfolg 
zu haben. Ihre Wirkung ist jedenfalls nachhaltiger als die des Phenyl]- 
hydrazins. Jedoch ist bei den großen erforderlichen Dosen Vorsicht 
vor Röntgenverbrennungen geboten. 


506 H.K. v. Winterfeld: 


Bei der myeloischen Leukämie sucht die Benzolbehandlung (analog 
der Phenylhydrazinbehandlung der Polyeythämie) die Zahl der Leuko- 
cyten durch ihre Schädigung in der Blutbahn, also auf chemischem 
Wege, herabzusetzen. Was vom Phenylhydrazin gilt, scheint zum Teil 
auch vom Benzol zu gelten. Seine Wirkung scheint zwar wesentlich 
intensiver und nachhaltiger zu sein als die des Pherıylhydrazins, jedoch 
ist das Benzol sicher reichlich so gefährlich wie jenes, da es jähe und 
extreme Senkungen der Leukocytenzahlen zur Folge haben kann, 
die bereits in einigen Fällen zum Tode geführt haben. In unserem Fall 
haben wir bei langwöchiger Darreichung bis zu 6 mal 0,5 in Gelodurat- 
kapseln nicht die geringste schädigende Wirkung, nicht einmal eine 
Belästigung des Magens zu verzeichnen gehabt. 

Den Knochenmarksbestrahlungen bei Polyeythämie entsprechen 
die Milzbestrahlungeni bei myeloischer Leukämie, die zweckmäßig in 
Abständen von einigen Wochen ausgeführt werden. Gelingt auch keine 
Heilung, so ist es auf diese Weise doch möglich, die Patienten über 
Jahre hinaus in arbeitsfähigem Zustande zu erhalten. Wir haben 
beobachtet, daß selbst Bestrahlungen von 12 Feldern einer Riesenmilz 
innerhalb von einigen Tagen ohne die geringste schädigende Wirkung 
vertragen wurden. 

Es ist verständlich, daß die Behandlung beider kombinierter Er- 
krankungen auf größere Schwierigkeiten stößt als die der Einzelkrank- 
heit. Die Behandlung der einen kann eine Exacerbierung der anderen 
und umgekehrt bewirken. 

Bekannt ist die Tatsache, daß durch Röntgenbsetrahlungen ge- 
besserte Myelosen öfters eine Steigerung der Erythrocytenzahlen auf- 
weisen. Dies ist natürlich bei der Behandlung beider kombinierter 
Erkrankungen ebenso unerwünscht wie ein evtl. Steigen der Leuko- 
cytenzahlen bei durch Röntgenbestrahlung gebesserter Polycythämie. 
Hier kann nur eine Kombination beider Bestrahlungsarten zum Erfolg 
führen. Gegebenenfalls ist, falls der myeloische Symptomenkomplex 
der unmittelbarer bedrohliche ist, die gleichzeitige Anwendung des 
Benzols in der oben angegebenen Dosierung am Platze. 

Unser Fall zeigt an der Hand der beigefügten Kurven die außer- 
ordentlich günstige Wirkung der Kombination dieser drei Methoden. 

An Einzelheiten ist noch zu bemerken, daß Benzol anfangs eine vor- 
übergehende Steigerung der Leukocytenzahlen (in unserem Falle sogar 
der Erythrocytenzahlen!) bewirken kann. Diese Tatsache wurde schon 
von Koranyi, der die Methode eingeführt hat, beschrieben, und wird 
von Kyralifi als Reizerscheinung aufgefaßt. Eine Wirkung des Benzols 
auf die Erythrocyten konnten wir (bis auf die anfängliche vorüber- 
gehende Steigerung) nicht feststellen. Die Angabe von Selling, daß die 
kernhaltigen roten Blutkörperchen durch Benzol zerstört werden, 


Über die Kombination der Polyeythämia rubra mit leukämischer Myelose. 507 


während die ausgebildeten Erythrocyten weniger angegriffen werden, 
scheint nach unseren Beobachtungen, jedenfalls bei höheren Benzol- 
dosen, richtig zu sein. 

Erwähnenswert scheint uns schließlich noch die Tatsache, daß 
schon bei geringen Benzoldosen, die einen wesentlichen Einfluß auf die 
Quantität der Leukocyten noch nicht ausüben, eine deutliche guali- 
tative Verschiebung innerhalb des weißen Blutbildes auftrat, die in einer 
prozentualen Zunahme der polynucleären Zellen auf Kosten der Myelo- 
cytenformen bestand. 

Da eine Obduktion, durch die der letzte Beweis unserer Auffassung 
geliefert werden würde, bei dem sehr guten Zustand und dem aus- 
. wärtigen Wohnsitz der Patientin nicht zu erwarten ist, bringe ich unsere 
Beobachtung bereits jetzt zur Veröffentlichung. 

Die gesamte Literatur über Polyceythämie bis 1922 findet sich bei 
Gaisböck, Die Polycythämie. Ergebnisse der inneren Medizin und Kinder- 
heilkunde, 1922, Bd. 21; Hans Curschmann, Konstitutionelle und 
familiäre Hyperglobulie. Med. Klin. 1923, Nr. 5. 


Z. f. klin. Medizin. Bd. 100. 33 


(Aus der II. inneren Abteilung des Städt. Krankenhauses Neukölln-Berlin [diri- 
. gierender Arzt: Oberarzt Dr. Zadek].) 


Bilanz des Blutstoffwechsels bei perniziöser Anämie. 


Von 
Dr. Arthur Sonnenfeld, 


Assistenzarzt. 


(Eingegangen am 21. Februar 1924.) 


Die von Morawitz und Eppinger formulierte Einsicht, daß das Blut 
ein Spiegel der blutbildenden und blutzerstörenden Organe sei, war der 
Anlaß zu ausgedehnten Untersuchungen des Blutstoffwechsels. Die 
Physiologie hat die Probleme des Blutabbaues vernachlässigt; sie 
begnügt sich mit einer einfachen Schätzung der Lebensdauer der Ery- 
throcyten, die von Rubner auf 4 Wochen, von anderen (Höber) auf eine 
längere Zeitspanne bemessen wird. In der Klinik erblickte man bis 
vor kurzem in morphologischen Kriterien (Form, Größe, Art, Farb- 
differenzen der roten Blutkörperchen) oder in chemischen Eigenschaften 
(O,-Zehrung, Resistenz der Erythrocyten gegen physiologische Koch- 
salzlösung) einen Maßstab für die Dauer des Blutumsatzes. Der Gedanke, 
den Untergang des Blutes an der Ausscheidung seiner Abbauprodukte 
aus dem Körper festzustellen, wurde auffallend vernachlässigt. Eppinger!) 
hat als erster eine eingehende Analyse des intermediären Hämoglobin- 
stoffwechsels durchgeführt. 

Seit der Annahme Virchows?), daß die von ihm Hämatoidin benannten 
Krystalle, die er in Blutextravasaten und an Stellen älterer Blutungen 
(im Gehirn und Corpus luteum) fand, mit dem Bilirubin in: enger Be- 
ziehung ständen, ist durch zahlreiche klinische und experimentelle 
Untersuchungen der Zusammenhang zwischen dem Bilirubin und dem 
Hämoglobin, als seiner Muttersubstanz, nachgewiesen worden; Küster?) 
und H. Fischer!) haben dann den chemischen Nachweis geführt. Die 
Diskussion über den Ort der Gallenfarbstoffbildung, die sich an diese 
Tatsachen anschloß, soll hier nicht berücksichtigt werden. 

Im Gegensatz zu anderen Bestandteilen des menschlichen Körpers 
zerfällt das rote Blutkörperchen bei seinem Abbau in ziemlich grobe 
Bruchstücke. Das Hämatin, das neben dem Globin den wesentlichsten 
Bestandteil der Erythrocyten bildet, wird in einen Eisen- und in einen 
Farbstoffanteil zerspalten. Eine geringe Rolle bei der Bewertung des 





A. Sonnenfeld: Bilanz des Blutstoffwechsels bei perniziöser Anämie. 509 


Blutabbaus spielen die außerdem vorhandenen Salze, Lipoide und das 
Wasser. 

Die Menge des vom Körper ausgeschiedenen Eisens, das bei der 
Blutzerstörung frei wird, zu messen, ist nicht möglich. Die nach den 
Untersuchungen von Quincke, Hunter, Loewit u. a. diskutable Annahme, 
in der Hämosiderosis, d.h. in der Speicherung eisenhaltigen Pigments 
in den verschiedenen Organen, ein Maß der Hämolyse zu finden, hat sich 
nicht aufrecht erhalten lassen: einmal ist Hämosiderin schon physio- 
logisch in Leber, Milz, Niere vorhanden, und ferner gibt es pathologisch 
gesteigerte Hämosiderosis bei Krankheiten, die in keinerlei Beziehung 
zu hämolytischen Vorgängen stehen, z. B. der Hämochromatosis. Ebenso 
gelang es nicht, chemisch die Eisenausscheidung in der Galle, im Blut, 
Urin oder Stuhl eindeutig quantitativ zu bestimmen; auch sie ist wie die 
histochemisch nachweisbare Hämosiderosis von zahlreichen anderen 
Faktoren abhängig und in keinerlei Parallele mit dem Blutzerfall zu 
setzen. | 

Was beim Abbau der Erythrocyten mit dem Wasser, den Salzen 
und Lipoiden geschieht, entzieht sich unserer Beurteilung. Das im 
Serum und Duodenalsaft in kleinsten Mengen nachweisbare Cholesterin 
läßt sich schwerlich mit der Blutmauserung in Verbindung bringen; 
es ist eine im Körper weit verbreitete Substanz; die Möglichkeit seiner 
Herkunft ist groß, da ständig Lipoide führende Zellen zugrunde gehen. 

Auch der Nachweis der Pleiochromie, der vermehrten Gallenfarb- 
stoffbildung als Ausdruck gesteigerten Blutunterganges, bot anfangs 
Schwierigkeiten, die nicht zuletzt in der Methodik der Gallenfarbstoff- 
bestimmung lagen. Die von Stadelmann5) und anderen bei Tieren vor- 
genommenen Farbstoffanalysen an Gallenblasenfisteln konnten beim 
Menschen nur vereinzelt angestellt werden (Tigerstedt, Brugsch- Retzlaff, 
Eppinger). Die von diesen Autoren gefundenen, sehr stark differierenden 
Zahlen haben wegen der fehlenden Vergleichsmöglichkeiten nur be- 
schränkten Wert. Später glaubte man, durch die Untersuchung des Duo- 
denalsaftes, der mit der Einhornschen Sonde leicht zu gewinnen ist, einen 
Einblick in die Dynamik der Gallenfarbstoffbildung zu erhalten. Auf 
die Fehlerquelle, die in der ständigen Beimischung von Schleim und 
Pankreassekret besteht, legte man kein besonderes Gewicht. Ein höher 
zu wertender Mangel bei der Anstellung quantitativer Bestimmungen 
ist die Unmöglichkeit, aus der in einem kleinen Zeitraum mit der Duo- 
denalsonde erhaltenen Galle einen Rückschluß auf die Tagesquantität 
zu machen: wahrscheinlich erfolgt die Sekretion nicht kontinuierlich; 
die Entleerung dürfte sogar durch den Reiz der Sonde vermehrt sein, 
Eppinger betont ausdrücklich den relativen Wert seiner Duodenalsaft- 
analysen; er fand stark erhöhten Gallenfarbstoffgehalt bei der perni- 
ziösen Anämie und dem hämolytischen Ikterus. Eigene Untersuchungen) 

33* 


510 | A. Sonnenfeld: 


haben diese Resultate bestätigt und ließen aus der Bilirubinmenge 
im Duodenalsaft einen Rückschluß auf den Grad der Hämolyse zu. Die 
zahlreichen in der letzten Zeit veröffentlichten Arbeiten über die Zu- 
sammensetzung des Duodenalsaftes vernachlässigen . diesen Gesichts- 
punkt; sie dienen hauptsächlich zur Umgrenzung der verschiedenen 
Ikterusformen und zur Feststellung der Leber- und Pankreasfunktion. 

Der bekannteste und leichteste Nachweis des Gallenfarbstoffes ist 
als Urobilin bzw. Urobilinogen im Harn möglich. Der diagnostische 
Wert der Urobilinurie ist durch ihr Vorkommen bei allen möglichen 
Krankheitszuständen stark eingeschränkt. Die Stellung der verschie- 
denen Autoren zu diesem Problem weicht erheblich voneinander ab. 
Während italienische Kliniker (Riva, Zoja u. a.) in dem Auftreten bzw. 

Verschwinden des Urobilins im Harn ein dem wechselnden Blutzerfall 

(z. B. bei der perniziösen Anämie) parallelen Vorgang erblicken, erkennt 
Eppinger der Urobilinurie überhaupt nur im Zusammenhang mit der 
Gallenfarbstoffausscheidung in den Faeces diagnostischen Wert zu. 
Mit Recht betonen Brugsch und Retzlaff?) die hepatische Komponente 
der Urobilinurie, die einen komplexen, von zahlreichen Faktoren ab- 
hängigen Vorgang darstelle. In neuerer Zeit hat Adler®) in ausgedehnten 
Untersuchungen die klinische Verwendbarkeit der Urobilinurie ein- 
gehend behandelt. Er kommt zu folgender, auf der Fr. Müllerschen 
Theorie der Entstehung des Urobilins im Darmkanal beruhenden An- 
sicht: vermehrte Urobilinausscheidung im Urin ist stets die Folge einer 
Leberschädigung. Zur Prüfung der Leberfunktion jedoch sind Bestim- 
mungen der Gallenfarbstoffmenge im Stuhl notwendig. In Überein- 
stimmung mit den meisten Hämatologen (Naegeli, Pappenheim) erblickt 
er in der Urobilinurie keinen sicheren Indikator der Blutmauserung 
und bestätigt die erstmalig von Fischler?) beobachtete geringgradige 
Urobilinurie bei sonst mit starker Pleiochromie einhergehenden hämo- 
lytischen Anämien. Eine nicht zu unterschätzende Schwierigkeit bei 
der Beurteilung der Urobilinurie lag in den mangelhaften quantitativen 
Untersuchungsmethoden. 

An dieser methodischen Schwierigkeit scheiterten auch alle Ver- 
suche, den Gehalt der Faeces an Urobilin festzustellen, das ja als End- 
produkt bei der bakteriellen Zersetzung des Bilirubins im Darmkanal 
anzusehen ist. Brugsch und Retzlaff, Eppinger, Charnas u. a. haben mit 
umständlichen Methoden Urobilinbestimmungen im Stuhl vorgenommen, 
ohne mehr als höchstens zum Vergleich dienende Resultate zu erhalten. 
Erst Adler!®) gelang es, durch eine verhältnismäßig einfache Methode 
exakt den Gallenfarbstoffgehalt im Kot zu ermitteln. Übereinstimmend 
wird von diesen Autoren die vermehrte Urobilinausscheidung im Stuhl 
bei allen hämolytischen Anämien angegeben. Von klinischer Seite ist 
diesen Befunden bisher auffallend werig Bedeutung beigelegt worden: 











Bilanz des Blutstoffwechsels bei perniziöser Anämie. a 


in dem Lehrbuch Naegelis!!) z.B. findet sich nur ein kurzer Hinweis 
darauf. | 

Eine weitere Möglichkeit, den Blutuntergang an der Gallenfarbstoff- 
ausscheidung zu messen, bietet die Ermittlung des Bilirubingehalts im 
Blutserum. Obermayer, Popper und @ilbert haben zuerst Spuren von 
Gallenfarbstoff im menschlichen Serum nachweisen können; andere 
haben dies bestritten. Durch die später von Hijmans v. d. Bergh!?) an- 
gegebene colorimetrische Methode, die mannigfach modifiziert worden 
ist (u.a. von Herzfeld, Lepehne), kann man die im Serum vorhandene 
Bilirubinmenge zahlenmäßig festlegen. Naegeli hat als erster die auf 
erhöhtem Bilirubingehalt beruhende goldgelbe Farbe des Serums bei 
perniziösen Anämien konstatiert. Mannigfache Untersuchungen zeigten 
aber, ebenso wie unsere eigenen Beobachtungen, neben einer Bestätigung 
dieses Befundes, daß die Bilirubinämie in vereinzelten Fällen der Blut- 
mauserung nicht parallel geht, oft von anderen, zum Teil unbekannten 
Faktoren abhängig zu sein scheint. 

In einem an anderer Stelle veröffentlichten, auf zahlreichen Ana- 
lysen beruhenden Überblick13) über die Möglichkeiten, die Gallenfarb- 
stoffausscheidung als Maßstab des Blutuntergangs anzusehen, kamen wir 
zu dem Resultat, daß die Feststellung des mit den Faeces ausgeschie- 
denen Urobilins (Koprocholie) der sicherste Indikator der Hämolyse 
sei. Eppinger hat zum erstenmal die Menge des Stuhlurobilins in einen 
Zusammenhang mit dem im Blute kreisenden Hämatin gebracht und 
durch Berechnung einen zahlenmäßigen Ausdruck für die Dauer des 
„Blutumsatzes gegeben. Der Wert seines für die Klinik und Pathologie 
zahlreicher Blutkrankheiten überaus wichtigen Versuchs wurde durch 
zwei Faktoren beträchtlich gemindert: die von ihm angewandte quan- 
titative Urobilinbestimmungsmethode war, wie er selbst zugibt, unzu- 
reichend; die Blutmenge, deren Kenntnis für die Aufstellung einer 
Relation von Blutuntergang und Gallenfarbstoffausscheidung unbedingt 
notwendig ist, hat er nur ungefähr abschätzen können. Unsere im fol- 
genden mitgeteilten Untersuchungen sind im Prinzip eine Wiederholung 
der Eppingerschen „Bilanz des Blutstoffwechsels‘‘; sie dürfen jedoch 
durch genaue Feststellung der Gesamtblutmenge und eine zuverlässige 
quantitative Bestimmung der Koprocholie Anspruch auf größere Exakt- 
heit erheben. 

Eppingers Ausführungen über diesen Punkt gipfeln in dem Satze, 
daß durch seine Befunde zum ersten Male der ‚Beweis für den enormen 
Blutuntergang bei der perniziösen Anämie“ erbracht sei. Auch für uns 
bildete die Prüfung dieser Frage den Ausgangspunkt unserer Unter- 
suchungen, die alle möglichen Formen von Anämien umfassen, von denen 
in diesem Zusammenhang hauptsächlich die klinisch und hämatologisch 
sicheren Fälle von Morbus Biermer berücksichtigt sind. Während 


512 | A. Sonnenfeld 


Naegeli der Auffassung ist, daß der perniziösen Anämie „eine ganz cha- 
rakteristische, einheitliche und scharf ausgeprägte Funktionsstörung 
des Knochenmarks‘' zugrunde liest und die Hämolyse als ‚‚banales‘“ 
unspezifisches Symptom weit in zweite Linie zu stellen ist, erblicken 
wir im Morbus Biermer mit Zadek!*) eine primäre Hämotoxikose mit 
sekundärer, durch den pathologisch gesteigerten Blutzerfall bedingter 
megaloblastischer Knochenmarksgeneration. Naegeli begründet seinen 
Standpunkt mit dem zeitweiligen Fehlen der von ihm überhaupt 
gewerteten hämolytischen Erscheinungen (Farbe und Bilirubingehalt 
des Blutserums, Urobilinurie und Siderosis der Leber) bei für ein Voll- 
stadium typischem Blutbild. Demgegenüber haben wir in der oben 
erwähnten Arbeit gezeigt, daß der Nachweis der Koprocholie selbst bei 
fehlender Bilirubinämie und Urobilinurie das Fortbestehen hämolytischer 
Vorgänge beweist. Daß ferner für das Zustandekommen der Remissionen 
Naegelis Annahme einer gesteigerten megaloblastischen Knochenmarks- 
regeneration nicht zu Recht besteht, haben die Knochenmarksbefunde 
erwiesen, die Zadek!°) in vivo bei Patienten in den verschiedenen Stadien 
des Morbus Biermer erhoben hat, welche in der Remission stets gelbes 
Fettmark ergaben. Das Ergebnis dieser Untersuchungen war es, aus 
dem Zustand der erythropoetischen Organe während der Remissions- 
stadien die sekundäre Knochenmarksveränderung als Folge der hoch- 
gradigen Hämolyse zu sichern; die Absicht der vorliegenden Arbeit 
ist es, einen Einblick in den Vorgang der Remissionsbildung zu gewinnen. 

Die bei meinen Untersuchungen angewandte Methodik ist kurz fol- 
gende: 

1. Blutmengenbestimmung mit der Kongorotmethode: Injektion von 
10 ccm einer 1 proz. sterilen Kongorotlösung in eine Cubitalvene; nach 
4 Minuten Blutentnahme aus der anderen Cubitalvene; colorimetrische 
Feststellung der Rotfärbung des Serums; Berechnung nach einer be- 
stimmten Formel. (Näheres: Stark und Sonnenfeld, Münch. med. Wochen- 
schrift 1922, Nr. 49.) 

2. Bilirubinbestimmung im Serum und Duodenalsaft nach H.v.d. Bergh: 
Messung der auf der Ehrlich-Pröscherschen Diazoreaktion beruhenden 
Intensität der Serumrotfärbung im Autenrieth-Colorimeter. | 

3. Urobilinbestimmung im Urin nach Adler: Verdünnung der nach 
Zusatz von alkoholischer Zinkacetatlösung und einigen Tropfen 3 proz. 
alkohol'scher J odlösung im Harn entstehenden Fluorescenz bis zu ihrem 
Verschwinden. Feststellung des Urobilingehalts mit Hilfe einer durch 
genaue Eichung hergestellten Skala. (Ausführliche Beschreibung: 
Adler, Dtsch. Arch. f. klin. Med. 138, 5—6.) 

4. Urobilinbestimmung im Stuhl: 5g gut durchgemengten Kots 
werden, nach Trocknung auf dem Wasserbad, zur Entfernung des Indol 
und Scatol mit Petroläther im Soxleth extrahiert. Danach mit 10 ccm 





Bilanz des Blutstoffwechsels bei perniziöser Anämie. 513 


absolutem Alkohol, 1g Zinkacetat und 3 Tropfen Jodtinktur versetzt, 
gut durchgerieben und filtriert. Verdünnung des Fluorescenz zeigenden 
"Filtrats und Ermittlung der Urobilinmenge wie beim Urin. (Genaue 
Angaben: Sonnenfeld, Klin. Wochenschr. 1923, Nr. 46.) 

5. Berechnung des Blutmauserungskoeffizienten: beim normalen 
Menschen (100%, Hämoglobin nach Autenrieth) enthalten 100 cem Blut 
149g Hämoglobin. Da das Hämoglobin zu 4%, aus Hämatin besteht, 
läßt sich bei Einbeziehung der Blutmenge das im Blut kreisende Hämatin 
leicht feststellen. Die Relation der Hämatinmenge im Blut zu dem 
täglich im Stuhl ausgeschiedenen Urobilin ergibt den Blutmauserungs- 

koeffizienten. — Aus äußeren Gründen war es nicht möglich, die zur 
exakten Berechnung notwendigen fortlaufenden Wägungen der täg- 
lichen Faecesmenge bei gleichbleibender Ernährung vorzunehmen. 
Wir begnüsten uns deshalb, einen durch zahlreiche Gewichtsbestimmun- 
gen sichergestellten Durchschnittswert von 500 g Kot pro die bei allen 
Berechnungen anzusetzen, um analoge Vergleichswerte zu erhalten. 
Auf die von Eppinger angewandte Berechnung auf Tage haben wir 
verzichtet, da es uns lediglich auf den zahlenmäßigen Ausdruck für die 
Dauer des Blutumsatzes ankam. (Eingehende Ausführungen oz 
Eppinger: Die hepato-lienalen Erkrankungen, S. 255ff.) 

Ein Blick auf die folgenden Tabellen zeigt die wechselnde Größe 
des Blutmauserungskoeffizienten in den verschiedenen Stadien des 
Morbus Biermer. Da wir in der glücklichen Lage waren, zahlreiche 
Kranke mit perniziöser Anämie längere Zeit zu beobachten, können 
wir am einzelnen Fall durch Errechnung des Blutmauserungskoeffi- 
zienten einen sicheren Maßstab für die während der einzelnen Krank- 
heitsstadien wechselnde Intensität der Hämolyse und damit für die 
jeweilige Größe des Blutumsatzes finden. Die Feststellung der Kopro- 
cholie allein als eines Symptomes des vermehrten Blutuntergangs bedeutet 
oft das erste Anzeichen der wieder einsetzenden Toxinwirkung (cf. Zadek: 
Die Prognose des Morbus Biermer, Klin. Wochenschr. 1924), bevor son- 
stige klinische oder hämatologische Erscheinungen auf das nahende Rezidiv 
hinweisen (Fall 5 und 22 aus der Tabelle ersichtlich; Fall 8; in der Tabelle 
nicht geführte Untersuchung vom 10. III. 1923: 46%, Hb; 1,984 Mill. R.; 
1:73000 Bilirubin im Serum; 1:4900 Bilirubin im Duodenalsaft; 
77 mg-% Urobilin im Stuhl). Die damit gegebene Nutzanwendung 
auf den zweckmäßigsten Zeitpunkt der anzuwendenden Therapie liegt 
auf der Hand (cf. Zadek: Zur Therapie des Morbus Biermer, Kongreß 
f. inn. Med. 1924). Die oben angeführte Inkonstanz der Urobilinurie 
ist ebenso wie das häufige Fehlen der Bilirubinerhöhung im Serum und 
Duodenalsaft auch aus unseren Untersuchungen ersichtlich; daraus 
erhellt die Notwendigkeit der quantitativen Urobilinbestimmung in 
den Faeces als des zuverlässigsten Indikators der Blutmauserung. 

















514 A. Sonnenfeld: 
Tabelle. 
Bilirubin i 7 
, Blut- | Bilirubin “ |Urobilin Urobilin $ 3 
Datum Aae u lzenoae un menge?) im Serum’) wa i. Urin®) i. Stuhl) = 2 
E 
19:22: 3 7m: an 18% | 0,668 | 2788 |1: 68000 a 10,0 85,0 7 
nämie 
25.01.922.3 90%: % 21% | 0,842 | 3104 |1:83000 |1:1400 2,05. 1: 51.037714 
25.22. u se 78% | 3,288 | 3104 |1:154000!1:14500 0,85 | 25,0 |108 
10 3} 5 z 97% | 3,42 | 3104 |1:200000 — 0,85 | 31,0 [108 
10. VI. 22. | Schö. R 21% , 0,824 | 2614 |1:1500001|1:2000 5.1 60,0 1 10° 
12. 1122; O. 2 18% | 0,694 | 2581 |1:76000 |1:4200 3,4 | 340,0 1: 
10. 822% » » 74% | 3,298 | 3715 |1:181000|1:6600 0,385 1725,00 1232 
Du: „ » 40% | 1,698 | 3715 [1:57 000 — 4.25 | 42.5 | 39 | 
141.’X1. 22. » ” 26% | 1,37 | 3715 |1:48000 |1:5800 2,55 |154,0 A 
33 1102: > n BIyo Base ah are = 0,85 | 25,5% 1018 
17 EX 188 * > 60% | 2,5 3715 |1:285 000 -— ET 34.0 | 73,4 
JBAVL 2. Ne. 3 83% | 4,12 | 3614 |1:211000|1:7400 4,25 | 42.5 | 79 
11.022. s a 70% | 2,188 | 3408 |1:1290001|1:555 5.1 68,0 | 39 
23.811,02 » L 13% | 0,526 | 3690 = =. 17,05 | 85,0 6 
AD.V 1222, B. nl 101% | 4,782 | 2800 |1:400000)1:71000 0,68 | 25,5 [124 
12.112909: H. r 46% | 1,748 | 3764 |1:83000 |1:1600 6,8 85.0.1. 22 
12. 292% e n 74% | 3,148 | 3764 |1:222000|11:18100 1,2751. 17.051832! 
14.:X,922. s E 18% | 0,598 | 3330 |1: 70000 — 2,125 77,0 8,7 
26. Rr22: 8%, ; 65% | 3,6 3685 11:400000/1:9400 | 1,1 42.5 | 63 
22: 1.28. n x 82% | 3,58 | 4456 |1:16000011:9700 0,425) 59,5 1121 
10.123 17€ R 32% | 1,332 | 2653 |1:66000 — 4.25 | 51,0] 18.8 
26.2023, % 5 67% | 3,044 | 3344 |1:88000 — 0,425; 34,0 | 73 
137111523. L A 86% | 3,568 | 3884 |1:55000 |1:18000 1% 21,75) 178,0 
20,3 Ned. a R 85% | 3,288 | 3884 | 1: 105 000 — 1,2751 ,.1X7.05 217 
ERS NE » >. 8% | 0,460 | 3884 |1:29000 — 3,4 85,0 3,8 
9. XT722.0 20. & 19% | 0,576 | 3165 |1:111000|1:6700 6,8 59.540115 
18. 1.29. % 20% 0,95 | 3165 |1:250000|1:19000 4.2541 °21.201383 
11 DES r 16% | 0,705 | 3165 |1:22200| — 8,52 9.11.0.1201 8 
10.5723, J. = 25% | 1,02 | 2674 |1:52000 141 11.029740 
22: 11723; 5 = 37% | 1,624 | 3024 |1:83 000 — 0,425) 68,0 | 18 
2A. VeR2>: 5 » 47% | 1,998 | 2007 — — 0,68 | 510,0 2 
18. M23: nr r 66% | 2,538 | 2007 |1:211000 _— 3,4 | 425,0 3,6 
28. Ku: . E 39% | 1,68 | 2007 |1:55000 — 1;7 10.118 
12..De W. E 31% | 1,398 | 2250 |1:111000!1:11600 0,34 | 59,5 | 13 
0.71 72285 R 4 66% | 2,488 | 2250 |1:250000|1:16200 0,425; 21,25) 86,8 
11..V. 29: R A 32% | 1,298 | 2250 |1:121000 — 1,275) 510,0 1.9 


















































* Nach Autenrieth. ?) In ccm. °) Niemals direkte Reaktion. *) Stets direkte Reaktion. °) mg %. 


Bilanz des Blutstoffwechsels bei perniziöser Anämie. 515 





Tabelle (Fortsetzung). 


Bilirubin 

































































} & Blut- Bilirubi e Urobilin Urobilin $ 2 °S 
m Kun ( Dingnoaes ISHID menge ?) ideraine) are i. Urins) i. Stuhls) 535 
32 
14. II. 23. | Pr. De: 44%, | 2,024 | 4440 | Spuren |1:28600 | 2,125] 77,0 | 23 
| nämile 
21. III. 23. | Mü. 5 24% | 1,42 | 2892 | 1:285000 |1:11000 | 2,55 | 85,0 | 9 
124. IV. 23. | -, f 44%, | 1,642 | 2892 | 1:16600 | — 0,31 | 42,5 | 33 
25. III. 23. || Wö. u 37% | 1,596 | 2853 | 1:108000 | —- 0,85 | 51,0 | 23 
1/21. III. 23. | N. R 36% | 1,532 | 4095 |1:66000 |1:11000 | 0,68 | 42,5 | 38 
28. 923, „ 52% | 1,882 | 4095 | 1:166000 | — 0,425 68,0 | 16,7 
1126: VI. 23. | „ n 39% | 1,742 | 2220 | 1: 76000 = 4,25 | 77,0 | 21,0 
4. IV. 23. |Sche. N 40% | 1,534 | 3526 | 1:222000 | 1:28000 ı 2,55 | 6,8 |232 
BIS |, Ä 56% | 2,146 | 4357 |1:333000| — 1,2751 59,5 | 45 
E VII 23:1, ; 90% 141 | 4662 |1:50000 | — 3,4 | 51,0 | 9 
1. V. 23. Man. 3 25% |1,4 | 2257 |1:160000 |1:14000 | 2,55 | 770 | 8 
REN BER Ä 10% | 0,772 | 2257 |1:18500| — 2,125) 595 | 4 
24. IV. 23. | BI x 2 | 2732 |1:14800| — 1,7 | 51,0 | 13 
12. VI. 23. || Bie 3 23% | 1,214 | 2352 | 1:125000 |1:4400 | 1,7 11540 | 0,3 
5. VII. 23. | „ ; 63% | 2,776 | 2352 | 1:222000 — 0,425] 77,0 | 21,5 
1691. X.23. b H 10% | 0,850 | 2352 = “ü 1,0 °1170,0°| 0,15 
25. IX. 23. | Kü f 43% | 1,528 | 4400 |1:13300 | — 2,55 | 85,0 | 22,3 
1. 8125: £ = 52% | 2,065 | 4400 = N LOSE TL.Q8- 33:2 
162 X1.28: 1. ; 75% |3,2 | 4400 |1:13000| — 0,425, 21,25] 176 
10.X. 24. | ?. „1,99% | 0,912 | 3130 | 1:86000 — 1255| 595 | 129 
X 23 : 36% |2,5 | 3130 — Ua 0,51 | 25,5 | 50,4 
07. XI. 23. ||. , j 38% 11,5. ° | 31301 1:125000| — 7420| Ile 
25.1.24.| „ 2 25% | 1,21 | 3130 — _ 1.2. 0.85.0 | 10,3 
14. XI. 23. | @. |Hämolyt.| 10% | 1,0 | 15009) 1:85000 — 11,0° |770,0:| 0,22 
Ikterus 
5. XI. 22. || wi. u 61% |2,4 | 2683 |1:181000 |1:15500 | 0,68 | 5,951 305 
nämie 
EN Bee N 68% | 3,026 | 3417 |1:500000 | — 0,85 | 8,5 302 
VE 23: 1-.N. Ca. |51% [4,03 | 3404 |1:40000| — 0,51 | 8,5 1228 
ventriculi 
‚21. XI. 22. | Po. |Abgelauf.| 98% | 4,972 | 3873 |1:1160007), 1:14000 | 0,425| 8,5 494 
Tetanus 











!) Nach Autenrieth. °) In ccm. °) Niemals direkte Reaktion. *) Stets direkte Reaktion. °) mg %. 
Geschätzter Wert; wegen der verminderten Resistenz (0,72% NaCl) Kongoinjektion (wäßrige Lösung) gefährlich. 
) Physiologische Bilirubinämie (Chol&mie simple Gilberts). 


Iı 


516 A. Sonnenfeld: Bilanz des Blutstoffwechsels bei perniziöser Anämie. 


Die bei allen Fällen übereinstimmend gefundene extrem. beschleunigte 
Blutumsatzdauer im Vollstadium der perniziösen Anämie, ihre zeitliche 
Zunahme mit einsetzender Besserung und die den zum Vergleich ange- 
führten Normalfällen entsprechende Größe des Blutmauserungskoeffizienten 
in der Remission gewähren einen Einblick in die Dynamik der Remissions- 
bildung. Das Schwächerwerden der Toxinwirkung spiegelt sich in dem 
Rückgang, schließlich dem Sistieren der hämolytischen Erscheinungen, 
insbesondere der Koprocholie, wieder. Die direkt bewiesene Rückwand- 
lung des megaloblastischen Marks der Röhrenknochen im Vollstadium 
der Perniziosa zu physiologischem Fettmark bei absoluter Remission 
(Zadek) stellt einen sekundären, das Aufhören der peripheren Giftwirkung 
bestätigenden Befund dar. 

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die Prüfung des aus der Ge- 
samtheit der hämolytischen Vorgänge abgeleiteten Blutmauserungs- 
koeffizienten ein Kriterium für die Richtigkeit der Annahme ist, daß 
es sich beim Morbus Biermer um eine primäre Hämotoxikose unbekannter 
Genese handelt, deren Funktionen im mathematischen Sinn. der gestei- 
gerte Blutzerfall und die durch ihn bedingte Knochenmarksreaktion sind. 





Literatur. 


\) Eppinger, Die hepato-lienalen Erkr. Springer 1921. — 2) Virchow, Virchows 
Arch. f. pathol. Anat. u. Physiol. 1. — ®) Küster, Zeitschr. f. allg. Physiol. 1912, 
Nr. 82. — *) Fischer, Ergebn. d. Physiol. 1916. — 5) Stadelmann, Der Ikterus. 
Stuttgart 1883. — °) Sonnenfeld, Med. Klinik 1922, Nr. 44. — ?) Brugsch und 
Ketzlaff, Zeitschr. f. exp. Pathol. 1912, Nr. 11. — 8) Adler, Zeitschr. f. exp. Med. 
31, Heft 3/6. — ?) Fischler, Physiologie der Leber. — 10) Adler, Biochem. Zeitschr. 
134, Heft 5/6. — 1!) Naegeli, Lehrbuch der Blutkrankh. Springer 1923. — 12) H. v. 
d. Bergh, Der Gallenfarbstoff im Blut. Leipzig 1918. — 1?) Sonnenfeld, Klin. 
Wochenschr. 1923, Nr. 46. — 1) Zadek, Münch. med. Wochenschr. 1921, Nr. 42. — 
15) Zadek, Zeitschr. f. klin. Med. 95, Heft 1/3. 








Beitrag zur Polychromatophiliefrage. 


Von 
Dr. J. Koopman, 
Spezialarzt für Blut- und Stoffwechselleiden. Haag (Holland.) 


(Eingegangen am 15. März 1924.) 


Polychromatophilie oder Polychromasie ist, wenn wir die Definition 
Naegelis!) nehmen, diejenige Veränderung der roten Blutkörperchen, 
bei der die Erythrocyten sich gegenüber basischen Farbstoffen nicht 
wie normal völlig refraktär verhalten, sondern mehr oder weniger stark 
sich im Tone der basischen Farblösung tingieren. Bei Giemsafärbung 
(von welcher fast ausschließlich die Rede sein wird) erscheinen diese 
Zellen dunkler, mattrosa, bei höchsten Graden blau, sehr selten rot. 
Was ist die Ursache der Polychromasie ?. Hierüber besteht große Mei- 
nungsverschiedenheit. Gulland und Goodall?) betrachten die Polychro- 
masie als Beweis von jugendlichem unreifem Zustand der Zelle. Sehr 
ausführlich findet man die Polychromatophilie behandelt im wunder- 
schönen Buche Ferratas?). Ferrata betrachtet sie als eine protoplasma- 
tische Eigenschaft unreifer Zeilen.  Naegeli erwähnt in seinem Lehr- 
buche die Literatur, ohne aber mit Bestimmtheit eine eigene Meinung 
zu verteidigen. Eine ähnliche Behauptung findet sich bei Eppingert). 
Der erste, der eine Meinung über die Polvchromasie hatte, war Ehrlich?), 
der glaubte, es handle sich um eine anämische Entartung, eine Meinung, 
die heute wohl allgemein verlassen ist. Samele®) betrachtet die Er- 
scheinung als Äußerung sowohl von Regeneration als von Degeneration 
und glaubt, daß eine Verminderung des Blutfarbstoffgehaltes eine 
wichtige Rolle spielt. Sowohl junge als alte Körperchen können nach 
ihm polychromatophil sein. 

Während nun fast alle Autoren ganz übereinstimmen, daß nur un- 
reife Zellen Polychromasie zeigen (für die Literatur siehe die Bücher 
von Ferrata und Naegeli) ist also Samele einer der wenigen, die auch die 
Polychromasie als Zeichen der Entartung auffassen. In 1914 wurden von 
Steensma’) sehr wichtige Versuche mitgeteilt. Es war ihm aufgefallen, 
daß Präparate, welche während längerer Zeit in Alkohol oder Äther 
aufbewahrt worden waren, nach Giemsafärbung nur polychromatophile 
Erythrocyten enthielten. Ich habe schon in 1912 diese Versuche in 
Steensmas Laboratorium angefangen und wünsche, bevor ich meine 
zahlreichen, während 10 Jahre ausgeführten Versuche mitteile, nach- 
drücklich zu betonen, daß der Grundgedanke nicht von mir, sondern 
von meinem damaligen Chef, Steensma, herrührt. 


518 J. Koopman: 


Erste Versuchsreihe. | 

Blutpräparate von Mensch, Hund, Kaninchen, Meerschweinchen und 
Taube werden auf Öbjektträger ausgestrichen. Wenn die Ausstriche 
lutftrocken sind, werden sie in folgenden Flüssigkeiten aufbewahrt: 
Alkohol (Äthyl), Methylalkohol, Amylalkohol, Äther, Amylacetat, 
Aceton, Chloroform, Benzol. Die in Äther aufbewahrten Ausstriche 
sind nach 24 St. dermaßen verändert, daß bei Giemsafärbung alle Ery- 
throcyten hellblau sind. Auch mit allen anderen Flüssigkeiten geschieht 
das, wenn auch viel langsamer. Durchschnittlich braucht man bei: 


Äthylalkoholea 0.0, 7 Tage 

Methylalkohol "} . . ..! 6:53 

Amylalkohol”.. » ..... ... Are} 

Äther RN ES. Dre, 

Amylacetat 5.7 .,,.. 0. RER 

Aceton? Ace re ll ,, (nie bekommt man eine reine 


blaue Farbe) 
Chloroform | 
Benzol IE Pr 

Die Präparate wurden hierbei bei Zimmertemperatur in den Gefäßen 
mit Flüssigkeiten aufbewahrt. 

Sehr viel schneller ging die Änderung vor sich, wenn man die Tem- 
peratur erhöhte. 

Wenn man z. B. in einen Jena-Kolben Amylacetat gießt, darin 
die Blutausstriche bringt, den Kolben mit einem Rückflußkühler schließt 
und nun das Ganze auf einem Ölbad kocht, dann ist das Präparat schon 
innerhalb 3 St. ganz polychromatophil geworden. Das gilt für alle 
von mir verwendeten Lösungsmittel ohne Ausnahme. Beim Tauben- 
blut war die Erscheinung ganz deutlich am Protoplasma, während am 
Kern keine Änderung zu sehen war. Es war nun aber doch von Inter- 
esse, den Prozeß weiter zu verfolgen. 

Ich habe also versucht, Ausstriche von reinem Hämoglobin zu 
machen. Bekanntlich krystallisiert das Hämoglobin des Pferdes ziem- 
lich leicht. Ich bereitete Oxyhämoglobinkrystalle nach dem Zinoffsky- 
Abderhalden-Verfahren®). Die Krystalle wurden in wenig Wasser ge- 
löst; dann wurde ein dicker Ausstrich angefertigt, lufttrocken gemacht; 
20 Min. in Methylalkohol gebracht und dann nach Giemsa gefärbt. 
Die Färbung war rosarot. Nun wurden wiederum lufttrockene Prä- 
parate während längerer Zeit in die oben genannten Lösungsmittel 
gebracht. Immer war der Erfolg der gleiche: 

Nach kürzerer oder längerer Zeit nahm das a mit Giemsa- 
lösung eine blaue oder grünliche Farbe an. 

Es ist also wahrscheinlich, daß die Ursache der Polychromatophilie 
in einer Lipoidarmut der Blutzelle zu suchen ist. Der Sitz der Lipoid- 
armut st das Hämoglobin. 


4 Wochen 











Beitrag zur Polychromatophiliefrage. ‘519 


Zweite Versuchsreihe. 

Wenn es richtig ist, daß die Polychromatophilie auf einer Lipoid- 
armut beruht, muß die Polychromatophilie gehoben werden, wenn es 
gelingen würde, den polychromatophilen Zellen Lipoide zuzuführen. 
Es ist unmöglich a priori zu sagen, ob ein solcher Versuch gelingen wird. 
Ich habe nun wiederholt folgende Versuche gemacht: Es wurde eine 
gesättigte Lösung von Cholestearin in Chloroform, Äther, Aceton 
oder Olivenöl gemacht. Jetzt wurden eine große Menge Blutausstriche 
in Äther oder Amylacetat gelegt, bis ein Kontrollpräparat sich mit 
Giemsa ganz blau färbte. Dann wurden die Präparate in die gesättigten 
Cholesterinlösungen gelegt. Es stellte sich heraus, daß nur gesättigte 
Lösungen wirksam waren. Wenn die Präparate längere Zeit darin 
geblieben waren, verschwand allmählich die Polychromasie. Am 
schnellsten verschwand sie mit öligen Cholesterinlösungen, am wenigsten 
mit ätherischen Lösungen. Aber ganz genau wurde die ursprüngliche 
Giemsafärbung doch nie erreicht. 

Dann wurde versucht, ob auch Lecithinlösungen wirksam waren. 
Ich benutzte dazu Leecithin, von mir aus Eierdottern gemacht, und das 
„Lecithin purum‘‘ von Riedel-Berlin. Beide Präparate in den ver- 
schiedenen Lösungsmitteln (Lecithin ist unlöslich in Aceton) sind nur 
ganz wenig wirksam, und es ist mir nie gelungen, mittels einer Leeithin- 
lösung die Polychromasie zu beheben. 

Dagegen kann ein Gemisch von Cholesterin und Lecithinlösung 
die Polychromatophilie, auf welche Art sie auch erreicht ist, in idealer 
Weise aufheben. Äußerst wirksam sind in dieser Beziehung die drei 
folgenden Gemische: 


Isicholestearintin: Chloroforms 7 Na ale 3 Teile 
een We Dre eye ME RRON 1 Teil 

TE Cholestearin: m Atherönn.i.. 2, NT aan, 6 Teile 
sertkuint ir: Athert rn ee 2 3, 1 Teil 
IrrCholestearin in Athen Su na DE N. 4 Teile 
Berithit um OlVenöl na nr 1 Teil 


Natürlich ist die Zahl der möglichen Kombinationen unbeschränkt, und 
es ist sehr möglich, daß es andere Gemische gibt, die sehr wirksam sind. 

Weiter wurden künstlich polychromatophil gemachte Ausstriche 
in Ölsäure (bei 30°) und in Olivenöl aufbewahrt. Eine Änderung der 
Polychromatophilie trat nicht ein. Zum Schluß habe ich frische Blut- 
ausstriche in Olivenöl oder Rieinusöl gelegt. Hier nun wurde sehr oft, 
aber nicht immer, die schönste basophile Tüpfelung beobachtet, speziell 
bei den „Ricinusölpräparaten“. Diese Tüpfelung wird, wenn der Ver- 
such gelingt, in den meisten Blutkörperchen beobachtet. Man hat 
behauptet, daß die basophile Tüpfelung eine örtliche Polychromato- 
philie ist. Zwar sprechen meine Versuche nicht für die Richtigkeit 


Dane, J. Koopman: Beitrag zur Polychromatophiliefrage. 


dieser Behauptung, solange aber die Identität der künstlichen und der 
natürlichen Polychromasie und basophile Tüpfelung nicht feststeht, 
sprechen sie ebensowenig für als gegen diese Behauptung. Wenn nun 
die Identität der künstlichen und natürlichen Polychromatophilie 
erwiesen werden soll, muß es auch gelingen, die natürliche Polychromasie 
zu beheben. 

Dritte Versuchsreihe. 

Durch viele Arbeiten, an erster Stelle von Tallguist?), wissen wir, 
daß es bestimmte Blutgifte gibt, welche das Bild der perniziösen Anämie 
verursachen. 

Ich habe das Pyrodin und das Phenylhydrazin verwendet. Kaninchen 
wurden mit Pyrodin und Phenylhydrazin eingespritzt. Die Dosen 
wurden sehr klein genommen, so daß die Tiere zwar krank wurden, aber 
nicht eingingen. Jeden Tag wurde das Blut ausgestrichen, bis in jedem 
Gesichtsfeld einige polychromatophile Zellen nachgewiesen wurden. 
Dann wurde eine große Menge Ausstriche verfertigt und in die drei 
obengenannten Gemische gelegt. Diese Behandlung hatte keinen Ein- 
fluß auf die Erscheinungen der Anisocytose, Poikylocytose und der 
pathologischen Formen. Während aber z. B. bei einem Präparat von 
einem mit Phenylhydrazin vergifteten Kaninchen zuerst in jedem 
Gesichtsfeld 5—8 polychromatophile Zellen waren, gelang es schon 
nach 3 Tagen in keinen der in den drei Gemischen aufbewahrten Prä- 
parate polychromatophile Zellen nachzuweisen. 

Ich hatte die Gelegenheit, Versuche mit dem Blute von einem 
Patienten mit Bleivergiftung anzustellen. Die sehr re:chliche basophile 
Tüpfelung verschwand nie durch Behandlung mit Lipoiden. Auch das 
macht es wahrscheinlich, daß die Tüpfelung nicht als lokale Polychro- 
matophilie aufzufassen ist. 

Dagegen ist es mir bisher in 6 Fällen von perniziöser Anämie immer ge- 
lungen, die polychromatophilen Zellen durch Behandlung während einiger 
‘ Tage mit gesättigten Lipoidlösungen immer zum Verschwinden zu bringen. 

Schlußfolgerungen: Polychromatophilie entsteht durch Lipoid- 
armut. Es ist also wahrscheinlich, daß Polychromatophilie bei regene- 
rierenden und bei degenerierenden Zellen vorkommen kann. Die baso- 
phile Tüpfelung darf nicht als lokale Polychromatophilie aufgefaßt werden. 





Literatur. 

!) Blutkrankheiten und Blutdiagnostik. 3. Aufl. 1919, S. 144. — 2) The blood. 
S. 56. Edinburg 1914. — ?) Le emopatie. $. 108. Roma 1918. — *) Die hepato- 
lienalen Erkrankungen. 8.42. Berlin 1920. — 5) (Mit Lazarus.) Die Anämıe. 
S. 33. Wien 1898. — $) Morgagni, pt. II. (Rivista). 1906. — °) Nederlandsch 
tijdschr. v. geneesk. 1914 (I), S. 2577. — °) Siehe Plimmer, Practical organic and 
Biochemistry. 8. 492. London 1918. — ®) Die experimentellen Anämien. Helsing- 
fors 1900. 





(Aus der Medizinischen Poliklinik der Universität Halle.) 


Zur Kenntnis pseudochylöser Ergüsse. 


Von 
Prof. 6. Grund und Dr. H. Jastrowitz. 


(Eingegangen am 3. März 1924.) 


Unter pseudochylösen Ergüssen versteht man solche, die das Aus- 
sehen: einer chylusgleichen Fettemulsion haben, bei denen aber die 
Trübung nicht durch emulgiertes Fett, sondern durch andersgeartete 
feinste Suspensionen bedingt ist. Eine befriedigende Erklärung für das 
Zustandekommen derartiger Ergüsse ist noch nicht gegeben. Eine 
nicht unerhebliche Rolle scheinen hierbei die Lipoidsubstanzen zu 
spielen; dies läßt sich mit gewisser Wahrscheinlichkeit schon aus der 
Tatsache vermuten, daß sowohl eigentlich chylöse, wie auch Exsudate 
letztgenannter Art mit Vorliebe bei Bluterkrankungen, speziell 
Leukämien und pseudo-leukämischen Krankheitsbildern, auftreten 
: (vgl. Bernert, Arch. f. exp. Pathol. u. Ther. 49, S. 32, wo auch die 

frühere Literatur ausführlich behandelt ist; W. Gross, ib. 44, S. 179; 
Decastello, Mitt. d. Ges. f. inn. Med. u. Kinderheilk., Wien, Jg. 12, Nr. 4, 
S. 60. 1913; zit. nach Zentralbl. f. d. ges. inn. Med. 6, $. 263; Gralka, 
Fortschr. d. Med. Jg. 40, Nr. 11, S. 244. 1922; zit. nach Zentralbl. 23, 
S. 236). Soweit derartige Fälle genauer untersucht worden sind, handelt 
es sich um Beobachtungen, welche sich durch hohen Gehalt an Lipoiden 
(Lecithin bzw. Cholesterinester) auszeichneten, so daß seitens der ge- 
nannten Autoren, zumal sie die Lipoidsubstanzen nur durch stärkere 
Eingriffe von den Proteinen abtrennen konnten, an das Bestehen von 
Lecithin- bzw. Chol.-Ester-Verbindungen mit Proteinen geglaubt wurde 
(Bernert, 1. c.; Gross, 1. c.; H. Wolff, Hofmeisters Beitr. zur chem. Path. 
u. Phys. 5, S. 208). Wird sonach auch angenommen, daß Proteine bzw. 
deren Verbindungen, einen wesentlichen Bestandteil der suspendierten 
Teilchen bilden, so besitzen wir doch keine ausreichende Einsicht in ° 
die quantitativen Verhältnisse, nach denen die Proteine im ganzen 
und in ihren einzelnen Fraktionen an der Suspensionsbildung Teil haben. 
Allerdings ergaben Versuche mit Aussalzung (Bernert, Wolff 1. c.), daß 
die Trübung wesentlich der Globulinfraktion anzugehören scheint. 

Wir haben nun in einem Falle von pseudochylösem Pleuraexsudat, 
nachdem die quantitative Analyse desselben keine neuen Aufschlüsse 
gab, den Versuch gemacht, die suspendierten Teilchen isolierter Analyse 


22 G. Grund und H. Jastrowitz: 


zugänglich zu machen, um dadurch sowohl über die Rolle der Lipoide 
als der Proteine weitere Aufschlüsse zu gewinnen. Zunächst seien 
einige kurze Daten aus der Krankengeschichte mitgeteilt (vel.Grund, Vor- 
stellung im Verein d. Ärzte zu Halle, 9. V. 1923, Münch. med. Wochen- 
schr. 1923). 


W. Cz., 64jähr. Schneider. Eintritt in die Behandlung der Medizinischen 
Poliklinik am 21. IV. 1923. — Vorgeschichte: Früher nie ernstlich krank, seit 
4 Wochen Mattigkeit, Appetitlosigkeit, Gewichtsabnahme, Schweiß, in letzter 
Zeit Atemnot. Untersuchungsbefund: Mittelgroß, kräftiger Körperbau, mittlerer 
Ernährungszustand, mäßige Durchblutung der Schleimhäute, bohnen- bis haselnuß- 
große Schwellung der Supraclavicular-, Achsel- und Leistendrüsen; linke Thorax- 
seite bei der Atmung nachschleppend, links hinten unten Dämpfung bis über die 
Mitte des Schulterblattes, Kompressionsatmen, aufgehobener Stimmfremitus, 
rechte Lunge und Herz 0. B. Leber einen Querfinger breit vergrößert, Milz Rippen- 
bogen 3 Querfinger überragend. Blutbefund: E = 4 600 000, Hb = 7 1% (Sahli)- 
L. = 34450, darunter 11% große, 78%, kleine Lymphocyten, 9% neutrophile 
Polymorphkernige, 2%, große Mononucleäre. 

Verlauf: 24. IV. Probepunktion in der linken Scapularlinie: Milchiges Ex- 
sudat mit einem Stich ins Bräunliche, nach Zentrifugieren geringes Sediment, 
zur Hälfte Erythrocyten, zur Hälfte Lymphocyten. Die Flüssigkeit darüber ist 
jetzt rein-milchig, auch in dünner Schicht völlig undurchsichtig, Farbe weiß- 
gelblich, keine Aufrahmung beim Zentrifugieren, abgesehen von einer hauch- 
dünnen, weißlichen Schicht, während die Flüssigkeit sonst unverändert bleibt. 
Bakteriologisch ster}. Auch monatelanges Stehen führt zu keiner Veränderung 
im Aussehen der Flässigkeit, wenn Fäulnis durch Toluolzusatz verhindert wird. 

2.V. 1. Punktion. 1!/,1 Exsudat entleert. 

8. V. 2. Punktion. 1!/,1 Exsudat entleert. 

Röntgenaufnahme: Links 3 Querfinger breiter Schatten, entspricht dem Ex- 
sudatrest; rechts im Unterlappen ein 6x9cm im Durchmesser betragender, 
ziemlich scharf begrenzter ovaler Schatten, zu dem vom Hilus einige Stränge 
ziehen. 

25. III. 3. Punktion. 21 Exsudat. 

29. IX. 4. Punktion. 1!/,1 Exsudat. 

Aussehen der Flüssigkeit stets gleich. 

Bei Dunkelfeld-Beleuchtung ist das ganze Gesichtsfeld erfüllt mit rundlichen 
Körperchen an der Grenze der Sichtbarkeit, die intensive Brownsche Molekular- 
bewegung zeigen. Wird nach scharfem Zentrifugieren die oberste Schicht unter- 
sucht, so sind ganz vereinzelt Fetttröpfchen bis zur Größe eines roten Blutkörper- 
chens sichtbar. 

Das allgemeine Befinden besserte sich unter energischer As-Behandlung 
wesentlich, so daß von einer Röntgenbehandlung, der sich äußere Hindernisse 
entgegenstellten, abgesehen wurde. Weiße Blutkörperchen schwankten zwischen 
26—50 000, die Lymphocyten prozentual zwischen 62 und 87 %. — Es handelt 
sich also um einen Fall, der klinisch dem Bilde der lymphatischen Leukämie zuzu- 
rechnen ist, wenn auch manches an ihm atypisch war. 


An dem Probepunktat (24. IV.) wurde eine orientierende quali- 
tative Untersuchung vorgenommen; zunächst wurde festgestellt, daß 
beim Ausschütteln mit Äther keine deutliche Aufhellung eintrat. Im 
Ätherextrakt ergab sich deutliche Cholesterinreaktion sowie das Vor- 





Zur Kenntnis pseudochylöser Ergüsse. 


händensein von Neutralfett, während freie Fett- 
säuren nicht nachgewiesen werden konnten. Der 
relativ beträchtliche Rückstand des Ätherextraktes 
ermunterte, eine eingehende Untersuchung, zu- 
nächst in der Richtung der Lipoide, vorzunehmen. 

Versuch 1 mit Punktat vom 2. V. (Tabelle I). 1. Ge- 
samtprotein durch Alkoholfällung = 6,7243%,. 

2. Gesamtlipoide durch Alkoholäther-Extraktion 
und Aufschließung des Proteinniederschlages mit NaOH 
nach Kumagawa Suto = 0,977%. 

3. Lipoidbestimmung nach Bang: Neutralfett = 
0,4815%. freies Cholesterin = 0,0987%, Chol.-Ester — 
0,2176% entspricht 0,1197% gebund. Chol., Phospha- 
tide = 0,1887%, Gesamtlipoide = 0,9855%, worunter 
2184% Gesamtcholesterin. R 

4. Direkte Bestimmung des Lecithins (Alkohol-Ather- 
Extraktion des mit Natr. sulf. sicc. aufgenommenen Ex- 
sudates und Bestimmung des ätherlöslichen P.): Gefunden 
0,2096% Lecithin. 

Vergleicht man das Resultat mit den Ergeb- 
nissen früherer Untersuchungen, so ergibt sich 
ein relativ hoher Eiweißgehalt, der von den früher 
untersuchten Fällen nur in zweien von Avpert 
(zit. n. Bernert) mit 6,6 bzw. 9,7%, und einem 
solchen von Bernert mit 4,201%, erreicht wird. 
Auch der Lipoidgehalt ist im Vergleich zu ge- 
wöhnlichen Exsudaten ein hoher. Bei der Ver- 
schiedenheit der Methodik und den starken Schwan- 
kungen erübrigt es sich, hier auf Vergleiche des 
weiteren hinzuweisen. Ähnliche Werte gibt Gross 
(l. c.) mit 1,12% ‚‚Fett‘“‘ und 0,26%, Leeithin, 
Micheli und Mattirolo (zit. nach Bernert) mit 
0,9% „Fett“ und 0,25% Lecithin an. Jedenfalls 
geht daraus hervor, daß der von uns festgestellte 
analytische Befund in die Breite derjenigen fällt, 
die auch sonst bei derartigen Exsudaten erhoben 
worden sind. 

Es kann nach dem Ergebnis der früheren Unter- 
suchungen kein Zweifel darüber herrschen, daß 
die Trübung als solche im wesentlichen durch 
Proteinsubstanzen hervorgerufen ist. Ein über 
das bekannte hinausgehender Fortschritt war nur 
erreichbar, wenn es gelang, das eigentliche Substrat 
der Trübung, d.h. die suspendierten Teile isoliert 
zu erfassen. Daß hierbei mit erheblichen Schwierig- 


Z. f. klin. Medizin. Bd. 100. 


” 


(Versuch 1.) 


Tabelle 1. 





523 


















































a2 
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Mo2S8o5 
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am 538 
Su = 
4 DD per 
S | SO8Z 
0 7 % 
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34 


524 G. Grund und H. Jastrowitz: 


keiten zu kämpfen sein würde, war ohne weiteres zu erwarten, wenn man 
bedenkt, daß bei der hier vorliegenden Suspension das als Dispersionsmittel 
dienende Serum selbst wieder eine kolloidale Lösung darstellt. Letzteres 
ist jedoch ebenfalls als Dispersion aufzufassen, die sich von der zu 
groben Trübungen führenden nur dadurch unterscheiden, daß die disperse 
Phase feiner verteilt ist, als bei den Suspensionen. Zwischen Sus- 
pensionen in eigentlichem Sinne und kolloidalen Lösungen besteht 
keine scharfe Grenze, sie gehen vielmehr fließend ineinander über. 
Das mußte insbesondere auch im vorliegenden Falle angenommen 
werden. Es war damit zu rechnen, daß die Substanzen, die hier einer- 
seits als grob sichtbare Suspensionen, andererseits in Form kolloidaler 
Lösung erscheinen, teilweise identisch sind und sich dann nur durch 
den Dispersionsgrad unterscheiden. Wir versuchten zunächst die 
Trennung auf dem Wege der Filtration. Das Ideal wäre gewesen, ein 
Filter anzuwenden, durch das einerseits die grob dispergierten (‚‚suspen- 
dierten“‘) Teile zurückgehalten wurden, während die fein dispergierten 
(„kolloidal gelösten“) Partikel durchpassierten. Durch gewöhnliche 
Filter lief die untersuchte Flüssigkeit glatt hindurch, Ultrafilter waren 
zu vermeiden, weil sie die Kolloide gleichfalls zurückgehalten hätten. 
Wir wählten, nachdem bereits Apert (l. c.) sowie Bernert (l. c.) nicht im 
Detail durchgeführte Versuche dieser Art mit wechselndem Erfolge 
unternommen hatten, das Buccalsche Filter, das unter des uns zur Ver- 
fügung stehenden am geeignetsten schien. Der Erfolg des Versuches 
hing natürlich von der Porengröße der Tonkerze ab. 


Versuch 2a. 60 ccm Exsudat vom 2. V., das durch Toluol-Überschichtung 
gegen Zersetzung geschützt wurde, wurden durch ein Buccalsches Filter bis zu 
einem Rückstande von ca. 5ccm abgesaugt. Das Filtrat war klar, der Rückstand 
wurde 6mal mit physiologischer Kochsalzlösung in den gleichen Mengenverhält- 
nissen nachgewaschen. Da die Filtration unter diesen Bedingungen fast 1 Woche 
dauerte, haftete der Rückstand so fest an der Innenwandung der Tonkerze, daß 
von seiner Analyse abgesehen werden mußte. Indessen wurde die Waschflüssig- 
keit zur Untersuchung herangezogen, um festzustellen, ob die Lösungs- und Filtra- 
tionsverhältnisse stabil blieben. Da die Verdünnung 12% = ca. 1:2 987 000 be- 
trug, hätte der Proteingehalt der Waschflüssigkeit höchstens 6,7243 :2 987 000 
— 0,00000225%, d.h. praktisch = 0 sein müssen. Das Ergebnis war aber fol- 
gendes: 

a) Proteinbestimmung (Essigsäure-Fällung und Wägung in 5 ccm Wasch- 
flüssigkeit), gefunden: 4mg Protein mit einem N-Gehalt von 0,652 mg = 16,30%, N. 

b) Direkte N-Bestimmung im Filtrat ergab in 5cem 0,656 mg N, so daß 
alles N als Protein-N in der NaCl-Lösung vorhanden ist. Berechnet: Gesamt- 
proteingehalt 0,08%. 

c) Proteinbestimmung nach Bang. Angewandt 0,1 ccm, gefunden 0,013 mg N 
— 0,0812%, Protein, entsprechend der Makrobestimmung. 


Der Proteingehalt der letzten Waschflüssigkeit betrug demnach 
noch im ganzen 44 mg Protein, war also so beträchtlich, daß ein an- 


2 





Zur Kenntnis pseudochylöser Ergüsse. 525 


dauernder Substanzverlust des retinierten Proteins unter Weiter- 
waschung stattfand. Wir nahmen zunächst an, daß der Verlust das 
suspendierte Protein. betraf. Der spätere Versuch 2c lehrte dann aller- 
dings, daß auch kolloidal gelöste Eiweißkörper so stark retiniert wurden, 
daß auch mit deren allmählicher Auswaschung zu rechnen war. 
Jedenfalls erschien eine weniger intensive Auswaschung zweck- 
mäßig, damit auch die Gewinnung des Rückstandes ermöglicht wurde. 
Versuch 2b (Exsudat vom 8. V.) (Tabelle II). Das Verfahren war prinzipiell 
das gleiche wie bisher, nur daß hier 40 com Exsudat angewandt und nur 4mal 


mit physiologischer Kochsalzlösung nachgewaschen wurde. Hierdurch wäre bei 
gleichbleibender Löslichkeit und Filtration immer noch eine Verdünnung von 


1:8°=1:4096 erzielt worden. Der Rückstand (5cem) enthielt in absoluten 





Zahlen (nach Bang) 6,1343%, Gesamtprotein, 4,735%, Globulin und 1,7595%, Albu- 
min. Auf die ursprüngliche Menge von 40 ccm berechnet, würde sich ergeben, 


Tabelle II. (Versuch 2, bu. c.) 






































. IGes. Protein! Globulin band MER Upotde Glob, f 
De | in % in % in % in 0, An ee nngen 
Rückstandnach 4X | 

2b | Waschung 0,7668 0,5469 0,2199 | 0,03965 '1:0,4 | Exsudat vom 
Verdünnung = 8? J | SV. 
9e ! De 3,1255 | 1,8310 | 1,2945 | 0,2244 |1:0,72| Exsudat vom 
. 5” SB VL. 
Br: | Erstes ee 2,0790 | 0,8315 | 1,2475 | 0,2273 11:1,50| Exsudat vom 
des Filtrat | 5. VI. 





daß noch 0,7668% Gesamtprotein, darunter 0,5469%, Globulin, und 0,2199%, 
Albumin, zurückgeblieben waren. Gesamtlipoide waren in demselben noch 0,3172, 
d.h. auf die Ausgangsflüssigkeit berechnet, 0,03965%, vorhanden. 

In dem Rückstande waren sonach, wenn man von der Voraussetzung 
ausgeht, daß das Exsudat sich zwischen den beiden Punktionen am 
2. und 8. V. nicht verändert hat, 76,68: 6,7243 — 11,4%, des Gesamt- 
proteins zurückgeblieben, dagegen nur 39,65 : 9,855 — 4,0% der 
Lipoide. Das Protein des Rückstandes bestand zum weitaus größten 
Teil aus Globulin, sein Quotient zum Albumin war 1: 0,4. In dem so 
analysierten Rückstande sind jedenfalls die grob suspendierten Partikel 
zum weitaus überwiegenden Teile enthalten. Daß sie primär nicht das 
Filter passiert hatten, ging aus der Klarheit des Filtrates hervor. Der 
Verlust, den die grob-disperse Phase möglicherweise durch Auswaschen 
erleiden konnte, war in seinem Maximum annähernd schätzbar. Denn 
die Annahme war berechtigt, daß dieser Verlust im Laufe der Aus- 
waschung zunächst um so stärker in Erscheinung trat, je mehr das 
ursprünglich kolloidale Suspensionsmittel durch physiologische Koch- 
salzlösung verdrängt wurde. Der Prozentgehalt an ausgewaschenen 
Proteinen, wie er in der letzten Waschflüssigkeit des Versuches 2a mit 

34* 


526 @G. Grund und H. Jastrowitz: 


0,08%, festgestellt war, konnte sonach, soweit er überhaupt von der 
suspendierten Phase stammte, als Maximum gelten. Da die Aus- 
waschflüssigkeit im vorliegenden Versuche 4 x 35 =140 ccm betragen 
hatte, war der maximale Auswaschungsverlust der suspendierten Phase 
sonach auf 140 x 0,8=112 mg Protein zu veranschlagen, also auf 
wenig mehr, als ein Siebentel der im Rückstand befindlichen Protein- 
menge. 

Es erschien aber die Gegenkontrolle notwendig, ob das Buccalsche 
Filter wirklich nur die suspendierten Partikel zurückhielt, und nicht 
auch kolloidal gelöste, d. h. in feinster Suspension befindliche Körper. 

Kolloidale Lösungen passieren allerdings Tonkerzen ziemlich glatt; 
wir haben später noch einen besonderen Versuch angestellt, der unten 
mitgeteilt wird. Es war aber damit zu rechnen, daß die grobe Suspension 
die Filterporen verstopft und dadurch zu einer Retention auch der 
kolloidal gelösten Körper führt. Auf eine solche Filterverstopfung wies 
schon die auffallend lange Filtrationszeit des Exsudates hin. Um hier 
ins klare zu kommen, war ein weiterer Versuch nötig, bei dem auf eine 
Auswaschung ganz verzichtet wurde. 


Versuch 2 c (Exsudat vom 25. VI.) (Tabelle II). 20 ccm Exsudat wurden fast 
restlos abgesaugt, der eine gelbliche, gelatinöse Masse darstellende Rückstand 
mit 10ccm physiologischer Kochsalzlösung aufgenommen und so eine feinste 
Suspension hergestellt, deren Aussehen und Verhalten bei der Filtration durch 
Papierfilter, sowie beim Zentrifugieren, dem ursprünglichen Exsudate völlig glich. 
Das Filtrat, das während der Filtration stark verdunstet war, wurde mit physiolo- 
gischer Kochsalzlösung auf 35 ccm aufgefüllt. Analysen wurden in je 0,1 cem nach 
Bang, wie oben ausgeführt. Es fand sich nach der 1. Filtration gegenüber einem 
Eiweißgehalt von 0,6251 g im Rückstand nur 0,4048 g im Filtrat. Auf die Eiweiß- 
fraktionen verteilt, ergab sich: 


Rückstand: 0,6251 g Protein = 3,1255% der Ausgangsflüssigkeit 
0,6362 g Globulin = 1,8310% » . 
5 0,2589 g Albumin = 1,2945%, » K 
Filtrat: 0,4158 g Protein = 2,0790% » x 
Fr 0,1663 g Globulin = 0,8315% » F 
“ 0,2495 g Albumin = 1,2475% », r 


Die Verteilung der Lipoide bei derselben Filtration (Bestimmung des 
Petroläther- bzw. des Alkoholextraktes nach Bang en bloc ohne weitere Trennung) 
ergab in Prozenten des Ausgangsmaterials für den Rückstand 0,2244%, Gesamt- 
lipoide und für das Filtrat 0,2273%, derselben. In dem Versuche konnte aller- 
dings nicht exakt festgestellt werden, wieviel von der verwendeten Exsudat-Flüssig- 
keit das Filter passiert hatte; einmal, wegen der unvermeidlichen starken Ver- 
dunstung während des langen Absaugens, ferner wegen der Retention eines un- 
kontrollierbaren Anteils in den Filterporen. 


Jedenfalls macht der Rückstand aber, wie schon bei den Aus- 
waschungsversuchen an Volumen höchstens 1/,—!/js des Ausgangs- 
materials aus. Wenn die kolloidale Lösung das Filter glatt passierte, 
so hätte von ihr und dem in ihr gelösten Eiweiß maximal nur ca. !/, im 


bi] 





Zur Kenntnis pseudochylöser Ergüsse. 527 


Rückstand vorhanden sein können. Diese Menge würde sich summiert 

‚haben zu der groben Ssupension, dienach den Ergebnissen von 2b gleich- 
falls etwa !/, des gesamten Exsudates zu veranschlagen gewesen wäre. 
Insgesamt hätte — unter Berücksichtigung aller Fehlerquellen — in 
dieser Annäherungsberechnung nicht viel mehr als etwa !/, des gesamten 
Exsudateiweißes im Rückstand bleiben dürfen. Statt dessen enthielt 
er aber mit über 3% beinahe die Hälfte des gesamten Exsudateiweißes 
und wesentlich mehr als das Filtrat, in dem nur etwas über 2%, nachweis- 
bar waren. | 

Dieses Ergebnis beweist, daß das Buccalsche Filter, zunächst jeden- 
falls, von dem hier untersuchten Exsudat einen erheblichen Teil auch 
der kolloidal gelösten Körper zurückhält. Es ist anzunehmen, daß 
bei der Auswaschung diese Körper zum allergrößten Teile aus- 
geschwemmt werden; aber die quantitative Exaktheit der Methode 
erfährt hierdurch eine weitere Einschränkung. Dies führte uns dazu, 
nach einem anderen Verfahren zur Abtrennung der grob suspendierten 
Phase zu suchen. Immerhin hat auch Versuch 2c interessante und 
wichtige positive Ergebnisse gezeitigt. Vergleicht man das Verhältnis 
Globulin zu Albumin im Rückstande mit dem gleichen Quotienten im 
Filtrat, so ergibt sich, daß auch hier, wie in Versuch 2b, das Globulin 
im Rückstande stark angereichert wird, und zwar auf 1:0,72 gegen 
1:1,50 im Filtrat. Auch der Gehalt des Rückstandes an Gesamt- 
lipoiden war jedenfalls relativ zum Eiweißgehalt gering, was wiederum 
eine Annäherung an das Resultat von Versuch 2b darstellt. 

Bei der Auswahl einer Methode, die geeignet wäre, die grob suspen- 
dierten Teile unseres Exsudates besser abzutrennen, als es mit dem 
Buccalschen Filter gelang, griffen wir auf die Erfahrung zurück, die 
_ der eine von uns (Grund) bereits vor langer Zeit in bisher unveröffent- 
lichten Versuchen gesammelt hat. 

Bei Gelegenheit besonderer Untersuchungen (@. Grund: Über organ- 
spezifische Präcipitine. Dtsch. Arch. f. klin. Med. 8%. 1906) waren aus 
menschlichen und tierischen Organen Preßsäfte durch Verreiben mit 
Kieselgur und Auspressung mit der Buchnerschen Presse unter Druck 
bis zu 300 Atm. hergestellt worden. Diese Preßsäfte waren auf ihren 
Eiweiß bzw. N-Gehalt untersucht und in ihren Entstehungsbedingungen 
näher geprüft worden. Von den Ergebnissen dieser Methode, deren 
Wiederaufnahme in Angriff genommen ist, sei nur das Wichtigste mit- 
geteilt. Danach gehen kolloidale Lösungen, wie Serum, lackfarbenes 
Blut qualitativ, insbesondere in bezug auf ihren Eiweißgehalt, unver- 
ändert aus der Pressung hervor (vgl. auch den unten mitgeteilten 
Kontrollversuch). Eine Adsorption des Proteins an das Kieselgur findet 
also nicht statt. Selbstverständlich ist ein Quantitätsverlust insofern 
unvermeidlich, als die Poren des Kieselgur auch bei den höchsten 


528 G. Grund und H. Jastrowitz: 


Drucken sich nicht ganz schließen und mit der Lösung gefüllt bleiben. 
Preßsäfte aus Organen, insbesondere der Leber, sind stets absolut klar; 
es werden also alle grob suspendierten oder im Gelzustande befindlichen 
Körper in der Infusorienerde zurückgehalten. Der Eiweißgehalt der 
Organpreßsäfte beläuft sich stets auf über 50%, meist auf ca. 65%, 
bisweilen bis auf 85% desjenigen der Organe. Berücksichtigt man, daß 
in Organen selbstverständlich ein erheblicher Bruchteil der Eiweiß- 
körper sich im Gelzustande befindet, so ist diese Ausbeute sehr hoch 
und demgemäß die Wahrscheinlichkeit gegeben, daß auch durch die 
im Gelzustande befindlichen Eiweißkörper keine erhebliche Retention 
des kolloidal gelösten Proteins bedingt ist. Eine gewisse Einschränkung 
erfuhr diese Annahme nur durch die Feststellung, daß die Konzentration 
der Organpreßsäfte an Eiweißkörpern unter zunehmenden Drucken 
etwas abnimmt, und zwar meist um 5—10%, bisweilen bis 15%; bei 
Auspressung kolloidaler Lösungen, wie Serum usw., bleibt diese Kon- 
zentrationszunahme aus. 

Hiernach war zu vermuten, daß eine Auspressung des hier unter- 
suchten Exsudates einerseits zur völligen Retention der grob suspen- 
dierten Teile führen würde, daß andererseits der erhaltene Preßsaft 
in bezug auf seinen Gehalt an gelösten Kolloiden, insbesondere auch an 
Eiweißkörpern gegenüber dem Ausgangsmaterial nur geringe Ver- 
änderungen erfahren würde. 

Als Nachteil mußte in Kauf genommen werden, daß der Rück- 
stand von der Infusorienerde nicht mehr getrennt, also auch nicht 
als solcher analysiert werden konnte. Er mußte daher aus der Abnahme 
errechnet werden, den der Preßsaft gegenüber dem Originalexsudat 
in seinem Gehalte an den analysierten Substanzen erfährt. Dem stand 
aber als besonderer methodischer Vorteil noch die große Schnelligkeit 
des Verfahrens gegenüber, das vom Beginn des Verreibens bis zur 
Beendigung der Pressung höchstens eine halbe Stunde dauert, so daß 
keine physikalischen Veränderungen und auch kaum ein Verdunstungs- 
verlust zu fürchten war. 


Versuch 3 (Exsudat vom 19. IX.). Das Exsudat wurde hierbei erneut analy- 
siert und dabei durchgehends die Mikrobestimmung der einzelnen Protein- und 
Lipoidfraktionen durchgeführt. Ferner wurde Ges. N., Ges. P., Lipoid P. und 
Nucleoproteid P. (P. nach Embden) bestimmt. 

A. Exsudat. 

.. Ges: N. = .0,945%; 
. Protein N. = 0,850%, = 5,1325%, Ges. Protein. 
. Globulin N. 0,533% = 3,3341% Globulin, somit Albumin 1,7984%. 
.Ges.„P.'0,24970% 
. Lipoid P. 0,05318%. 

. Nucleoproteid-P. 0,00065°/,, = 0,2601%, des Ges. P., hieraus als Serum- 
hl berechnet (mit 0,079%, P.) 0,8253 0%/,, N art) — Somit anorga- 
nischer P. 0,195889,. 


Qt PwWwN- 





Zur ‚Kenntnis pseudochylöser Ergüsse. 


7. Lipoidbestimmung nach Bang. 
Fettsäuren 0,3735%, freies Cholesterin 
0,3808%, Cholesterin Ester 0,1929%, 
entspr. 0,1061% geb. Chol., Phosphatide 
0,1351% (auf Grund der P.-Bestimmung 
berechnet 0,1385%), somit 1,0823%, 
Ges. Lipoide mit 0,4869% Ges. Chol. 

B. Preßsaft. 

50 ccm Exsudat wurden mit ca. 
18 g Kieselgur verrieben, die Masse in 
ein ausgekochtes, dann wieder getrock- 
netes Leinentuch geschlagen und in der 
Buchnerschen Presse bei 200 Atm. ge- 
' preßt. Der Preßsaft wurde wie das Ex- 
sudat analysiert, nur unterblieben wegen 
des beschränkten Materials die P.-Be- 
stimmungen. 

l. Ges. N. 0,704%. 

2. Protein N. 0,629% = 3,942% 
Ges. Protein. 

3. Globulin N. 0,348% = 2,410% 
Globulin somit Albumin 1,532%. 

Bem. Während ca. 27,4% des Glo- 
bulins retiniert werden, passiert das Al- 
bumin zu 86% das Kieselgur. 

4. Lipoidbestimmung nach Bang. 
Fettsäuren 0,2470%, freies Cholesterin 
0,2271%, Cholesterinester 0,1723%, ent- 
sprechend 0,0959% geb. Chol., somit 
0,6925% Ges. Lipoide, worunter 
0,3230% Ges. Chol. 

Bem. Es bleiben ca. 36% der Ge- 
samtlipoide im Rückstand. 


Die Differenz der Analysen von 
III A—IlI B ergibt den „Rück- 
stand‘ oder genauer diejenigen Sub- 
stanzen, welche auch bei quanti- 
tativ vollständiger Auspressung der 
kolloidalen Lösung im Kieselgur 
verbleiben würden, ausgedrückt in 
Prozenten des Originalexsudates. 
So ausgerechnet entspricht dieser 
Rückstand nach unserer Auffassung 
annähernd der suspendierten Phase. 
Das Ergebnis der Rechnung siehe 
Tabelle III. 

Betrachten wir das Ergebnis 
des Preßversuches näher und ver- 


Tabelle III. (Versuch 3.) 

































































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530 G. Grund und H. Jastrowitz: 


gleichen wir es mit demjenigen der Filtrationsversuche mittels des Buccal- 
schen Filters, so ergibt sich folgendes: Zunächst ist zu berücksichtigen, daß 
die Analyse des Ausgangsmaterials in beiden Versuchen keine identischen 
Werte gibt. Das ist nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, daß die 
Entnahme der beiden Exsudatproben 4!/, Monate auseinander liegt, 
und daß eine Veränderung auch besonders durch die inzwischen statt- 
gefundenen wiederholten Punktionen gefördert sein konnte. Doch 
halten sich die Differenzen in mäßigen Grenzen, mit alleiniger Ausnahme 
des freien Cholesterins, das im zweiten Exsudat um ein Mehrfaches 
höher gefunden wurde als im ersten. 

Der relative Anteil des retinierten, also grob suspendierten Proteins 
am Gesamtprotein wurde — allerdings in zeitlich auseinanderliegenden 
Proben beim Preßversuch mit 1,1905 : 5,1325 = 23,2%, etwa doppelt 
so hoch gefunden als im Auswaschungsversuch mit 0,7668 : 6,7243 
= 11,4%. Da beim Preßversuch ein leichter Grad von Retention 
kolloidal gelöster Substanzen nicht ganz auszuschließen ist, umgekehrt 
bei dem Filtrationsversuch ein gewisser Auswaschungsverlust anzu- 
nehmen war, wird man die erste Zahl als das ungefähre Maximum, die 
zweite als das approximative Minimum der suspendierten Phase anzu- 
sehen haben. 

Übereinstimmend ist überall im Vergleich zum Originalexsudat die 
relative Zunahme des Globulins gegenüber dem Albumin im Rückstand. 
Bei dem Filtrationsversuch ist das Ausgangsmaterial nicht untersucht 
worden. Ein Annäherungswert ergibt die Addition der für Rückstand 
und Filtrat gefundenen Werte im Versuch lc. Es ergibt sich dann der 
Quotient: Globulin : Albumin = 2,66 : 2,54 = 1,1094. Derselbe stieg 
im Rückstand der ersten Absaugung (Versuch 2c) auf 1 : 0,72 im Rück- 
stand der Auswaschung (Versuch 2b) auf 1:0,4. Beim Preßversuch 
war der Globulinanteil im Exsudat an sich höher (mit 1: 0,54) und 
stiegim Rückstand auf 1 : 0,29. Es kann also als völlig gesichert gelten, 
daß zur Bildung der suspendierten Phase das Iyophobe Globulin wesent- 
lich geeigneter ist, als das lyophile Albumin, eine Tatsache, welche 
mit den oben angeführten Resultaten früherer Untersucher gut in Ein- 
klang zu bringen ist. Zur näheren Beleuchtung dieser Tatsache wurde 
in Anlehnung an frühere Versuche von H. Wolf, Bernert (l.c.) eine weitere 
Probe mit fraktionierter Aussalzung der Globuline gemacht. Seine 
Beweiskraft wird allerdings wie die der früheren dadurch beeinträchtigt, 
daß bei diesen Fällungen bereits suspendierte Partikel auch dann mit- 
gerissen werden, wenn sie nicht Globuline sind. 


Versuch 4. In 100 ccm Exsudat wurde durch fraktionierte Fällung (24%, 
bzw. 33%, bzw. 46%, Ammonsulfatsättigung) das Fibrino-, das Eu-, sowie das 
Pseudoglobulin nach Fuld und Spiro isoliert. — Es zeigte sich eine geringe Auf- 
hellung bei 24 proz., eine starke bei 33 proz. Sättigung, nach der nur noch eine 











Zur Kenntnis pseudochylöser Ergüsse. 531 


ganz leichte Trübung übrig blieb, welche gleichfalls bei 46 proz. Sättigung völlig 
verschwand. Demgegenüber hatte eine zuvor ausgeführte Ausschüttelung mit 
Äther keinen wesentlichen Einfluß auf das Aussehen der Flüssigkeit. Die so er- 
 haltenen 3 Niederschläge wurden auf der Zentrifuge mit entsprechend konzen- 
trierten Ammonsulfatlösungen 3mal gewaschen, in physiologischer Kochsalz- 
lösung suspendiert, wobei der größte Teil des Niederschlags jeweils in Lösung ging. 
Diese Flüssigkeiten wurden, ohne zu filtrieren, nochmals mit Ammonsulfat, wie 
oben, gefällt und dieselbe Prozedur noch 2mal wiederholt. Die auf diese Weise 
von allen löslichen fremden Bestandteilen, speziell vom Albumin, befreiten Glo- 
bulinfraktionen wurden schließlich durch Kochen mit Essigsäure völlig koaguliert, 
von der überschüssigen Säure und dem Kochsalz durch wiederholtes Waschen 
auf der Zentrifuge befreit und die Niederschläge ‚bei 100° getrocknet. Die auf 
diese Weise gewonnene Ausbeute betrug: Fibrino-Globulin 0,34 g, Euglobulin 
0,25 g, Pseudoglobulin 0,66 g. 


Auffällig ist, daß, wie der Augenschein lehrte, ein gewisser Gegen- 
satz zwischen den so gewonnenen Mengen der einzelnen Globulinfrak- 
tionen und dem Grade der Aufhellung besteht, welche die entsprechende 
Salzsättigung in dem Originalexsudat hervorrief, d. h., es war nicht 
diejenige Fraktion am stärksten an der Bildung der Suspension be- 
teiligt, welche sich am reichlichsten in der Flüssigkeit vorfand (Pseudo- 
globulin), sondern diejenige, welche von allen Fehlern der Methodik 
abgesehen, in weit geringerem Maße in der Flüssigkeit vorkam, nämlich 
das Euglobulin, nächst diesem scheint Fibrinoglobulin bei der Sus- 
pensionsbildung die Hauptrolle zu spielen. Doch ist hervorzuheben, 
daß derartige ins einzelne gehende Identifikationen mittels Aussalzung 
nur einen relativen Wert haben, weil suspendierte Teile, auch unabhängig 
von ihren Lösungsverhältnissen, mechanisch mitgerissen werden könnten. 

Nachdem so die Ergebnisse bezüglich der Proteine gewertet sind, 
müssen noch die Resultate der Lipoiduntersuchung betrachtet werden. 
Bezüglich der Gesamtlipoide ergibt sich beim Preßversuch eine auf- 
fallende Differenz gegenüber der Auswaschung insofern, als bei ersterem 
ca. 35%, bei letzterem nur etwa 4%, der Gesamtlipoide im Rückstand 
verbleiben. Das Verhältnis Protein : Lipoid betrug im Preßrückstand 
beinahe 1:3, in denjenigen nach Auswaschung dagegen nur 1:19. 
Die an sich denkbare Möglichkeit einer spezifischen Adsorption der 
Lipoide an das Kieselgur wurde durch die unten ausgeführte Kontroll- 
untersuchung (Tab. V) ausgeschlossen. Gegen sie sprach auch die Tat- 
sache, daß auch im einfachen Filtrationsversuch (Tab. II) zunächst 
große Mengen Lipoid ıretiniert wurden. Es ist demnach wahrschein- 
licher, daß die Lipoide dem Rückstand als solchem anhaften, jedoch 
nur in lockerer physikalischer Bindung, so daß sie leicht auswaschbar 
sind. 

Das Verhältnis der einzelnen Lipoidfraktionen ist nur im Preßver- 
such bestimmt worden. Im allgemeinen ist die Verteilung auf Rück- 
stand und Preßsaft gleichsinnig. Fast gar nicht retiniert werden Chole- 


592 G. Grund und H. Jastrowitz: 


sterinester, während die Phosphatide größtenteils im Rückstande 
verbleiben. Zum Vergleiche hiermit sei kurz hingewiesen auf die Zahlen. 
die wir durch Bestimmung der Lipoide im Blutserum des Patienten 
erhalten haben: 

Neutralfett Freies Chol. Geb. Chol. Chol.-E. Ges.-Chol. Phosphat 

0,0497 0,0211 0,0815 0,1455 0,1026 0,0480 
Gesamtlipoide 0,2645. 

Es ist bemerkenswert, daß der Gehalt des Blutserums an Cholesterin- 
estern und Phosphatiden mit denen des Preßsaftes nahezu identisch ist, 
d. h. hohe Werte der ersteren, niedere der letzteren. Demgegenüber 
weist der Rückstand niedere Werte der Cholesterinester und hohe der 
Phosphatide auf. Es beleuchtet diese Tatsache die Verwandtschaft 
der kolloidalen Lösung mit dem Blutserum. Dieser gegenüber haben 
die suspendierten Teile als etwas besonderes zu gelten. 

Zum Schlusse seien tabellarisch noch einige Untersuchungen an- 
geführt, die wir zur Kontrolle unserer Methodik angestellt hatten 
(Tab. IV u. V). Die Versuche bezweckten, eine etwaige Retention von 
Eiweiß und Lipoidsubstanzen bei Filtration durch Tonkerzen und 
Pressung mit Kieselgur festzustellen. Dieselben wurden mit Serum 


Tabelle IV. (Kontrollen.) 

































































Albumin |Globulin | Kasein ‚Ges. Protein | Lipoide 
V.-N. A 0, %, in % 1%, 10 9 Bemerkungen 
Ba Serumt | 2849 | 2301| — | 5190 | — | Glebulin: Abumin 
—=:1.41:29 
Pressung d. Kiesel- 
5a Serumfiltrat 2,325 | 2,269 — 5,094 —- | gur bei 300 Atm. 
Glob.: Alb.=1:1,24 
5b Serum II 3.091 | 2,493 — 5,584 — Glob.: Alb.=1:1,24 
5b Serumfiltrat | 3,001 | 2322 | — | 538 | — | a nee 
j Re 979 nr Be 
de \ Milch 1.272 .|.1,358 1,4,706 1,336 | 0,394 
Kieselgurpressung 
de Milchfiltrat 1,008 | 0,919 | 0,048 1,965 20a) bei 200 Atm. 1,02% 
des Caseins i. Filtrat 
De Milchrückstand | 0,264 | 0,439 | 4,658 5.971:.,1.0,194 Bars 
Tabelle V. (Versuch 5d: Lipoidbestimmung im Rinderserum.) 
; Filtrat nach 
Serum Tonkerzenfiltrat Kieselgurpressung | Bemerkungen 
% % % 
Petroläther-Extrakt . . . | 0,0773 0,0694 0,0674 — 
Alkohol-Extrakt . . . . . 0,1367 0,1327 0,1327 = 
Gesamt-Lipoide . . . . . 0,2140 0,2021 0,2001 _- 














Zur Kenntnis pseudochylöser Ergüsse. 533 


vom Menschen und Rind, sowie mit Milch angestellt. Es zeigte sich, 
daß kolloidale Eiweißlösungen als solche das Kieselgur bei Pressung 
in der Buchnerschen Presse praktisch unverändert passieren, während 
bei Tonkerzenfiltration eine leichte Retention schon deutlicher, be- 
sonders beim Globulin, zutage tritt. Bei den Lipoidsubstanzen findet 
bei Verwendung von Serum keinerlei Retention statt, welche die Fehler- 
grenze der hier angewandten Methodik (Bang) überschreitet. Wenn 
eine solche überhaupt statthat, ist sie gegenüber den Retentionen, 
welche sich bei der Untersuchung des Exsudates ergaben, praktisch 
belanglos. 

Der Versuch 5c suchte endlich die Leistungsfähigkeit der Pressung 
durch Infusorienerde an einem Testobjekt zu kontrollieren, bei dem 
die Teilchengröße der dispersen Phase sich ähnlich verhalten mußte, 
wie bei unserem Exsudate. Für diesen Zweck schien Kuhmilch, bei der 
das Fett durch Zentrifugieren so weit als möglich entfernt war, geeignet. 
Das Casein wurde nach Schloßmann bestimmt. Das Globulin indirekt 
errechnet. Trotzdem diese Art der Bestimmung nicht als sehr exakt 
anzusehen ist, ergab sich jedenfalls die restlose Retention des Caseins, 
das wir ja auch in der Tat als grob dispergiert anzusehen haben. Albu- 
min war zu 20%, Globulin zu 30% im Rückstand; also auch hier zeigte 
sich ein relatives Überwiegen des Globulins. 

Fassen wir die Hauptergebnisse unserer Untersuchungen zusammen, 
so ist im vorliegenden Falle als feststehend zu erachten, daß die grob- 
suspendierten Teile, die pseudo-chylösen Exsudaten ihr charakteristisches 
Aussehen geben, zum größten Teile aus Protein, und zwar überwiegend 
aus Globulin, bestehen. Besonders beteiligt scheint hierbei die Euglobu- 
linfraktion zu sein. 

Zu dem Zustandekommen derartiger Proteinsuspensionen hat viel- 
leicht neben anderen in Frage kommenden Faktoren (Pu, Salzkonzen- 
tration) der hohe Lipoidgehalt des Exsudates wesentlich beigetragen. 
Es bestehen indessen Bedenken, eine feste Globulin-Lipoidverbindung 
(Bernert, Wolf, l.c.) anzunehmen. Ganz abgesehen davon, daß bei 
Durchsicht der Literatur nirgends feste quantitative Verhältnisse oder 
Characteristica für diese hypothetischen Verbindungen angegeben 
werden, spricht hiergegen vor allem die relativ leichte Auswaschbarkeit 
der Lipoide aus der suspendierten Phase. Wir müssen daher eine 
physikalische Bindung zwischen Proteinen und Lipoiden in den sus- 
pendierten Teilen als vorliegend annehmen. In diesem Zusammenhange 
interessant und als ein Analogon zu deuten sind die Resultate von 
Gabbe und Martius (Münch. med. Wochenschr. 1921, Nr. 50) sowie 
von Gabbe (ib. Nr. 43), die Globulinfällungen im Serum durch künst- 
lichen Zusatz von Lipoiden unter besonderen Umständen erzielen 
konnten. 


534 G. Grund und H. Jastrowitz: Zur Kenntnis pseudochylöser Ergüsse. 


Es wäre noch ein Wort darüber zu sagen, ob die grob-dispergierten 
Eiweißkörper noch fähig sind, in feinere Dispersionen, d.h. in kolloidale 


Lösungen, überzugehen. Die Auswaschungsversuche ließen diese Mög- 


lichkeit bestehen, zeigten aber auf der anderen Seite, daß ein großer 
Teil dieser grob-dispersen Phase auch bei lange fortgesetzten Aus- 
waschungen mit physiologischer Kochsalzlösung in seinem Zustande 
verharrt. Es ist also ‚‚irreversibel‘, wenn man diesen Ausdruck von 
der Gelbildung auf die hier in Rede stehenden Vorgänge überträgt. 

Im ganzen birgt das Problem der Bildung grober Dispersionen in 
kolloidalen Lösungen noch eine Fülle Fragen in sich, deren Aufklärung 
um so wünschenswerter wäre, als diese Vorgänge sich nicht auf das 
Entstehen pseudochylöser Ergüsse beschränken. Es ist nämlich sehr 
wohl denkbar, daß derartige Erscheinungen unter pathologischen Ver- 
hältnissen auch in anderen Teilen des Organismus im Blute, ja auch 
innerhalb der Zellen, eine wesentliche Rolle spielen. 














TE EEE Tr 





Über das Vorkommen von Bacterium eoli im Inhalt des 
nüchternen Magens bei perniziöser Anämie. 


Von 
Dr. Paul Wichels, 
Assistenzarzt der Medizin. Klinik Göttingen (Dir. Prof. Erich Meyer). 
(Eingegangen am 23. März 1924.) 


Die Pathogenese der perniziösen Anämie ist trotz der umfassenden 
pathologisch-anatomischen Forschung und trotz der Verfeinerung der 
hämatologischen Technik bis heute noch ungeklärt. 

Die schon alte Theorie der intestinalen Entstehung der perniziösen 
Anämie griff R. Seyderhelm wieder auf und versuchte auf experimen- 
tellem Wege neues Beweismaterial für diese Theorie herbeizuschaffen. 

Er ging von Untersuchungen über die Botriocephalusanämie aus, 
die ja klinisch und pathologisch-anatomisch eine weitgehende Ähnlich- 
keit mit der kryptogenetischen perniziösen Anämie aufweist. Es gelang 
ihm, in der Leibessubstanz des Botriocephalus latus Gifte nachzuweisen, 
die zwar in vitro keine Hämolyse erzeugen, parenteral einverleibt aber 
im Organismus der Versuchstiere als Blut- und Knochenmarksgifte 
wirken. Ähnliche Gifte fand er in anderen Parasiten (Taenien, As- 
cariden usw.), die auch als Ursache schwerer Anämien angesprochen 
werden. 

Mit diesen Erfahrungen dehnte Seyderhelm seine Versuche auf die 
Erforschung der Genese der perniziösen Anämie aus und gewann aus 
den Fäaeces perniziös-anämischer und auch gesunder Menschen Gifte, 
die parenteral einverleibt, bei Kaninchen eine Anämie hervorrufen, 
die alle Kriterien der hyperchromen Anämie in hämatologischer und 
pathologisch-anatomischer Hinsicht zeigt. In Gemeinschaft mit 
K. Noack konnte er nachweisen, daß die aus den Faeces gewonnenen 
Giftstoffe den Darmbakterien entstammen und auch aus Reinkulturen 
der Darmbakterien gewonnen werden können. Auch hier handelt es 
sich um Giftstoffe, die in vitro nicht hämolytisch wirken, sondern erst 
im Tierkörper zur hyperchromen Anämie führen. 

Der intestinale Ursprung der perniziösen Anämie schien damit 
nahe zu liegen, wenn auch der endgültige Beweis noch nicht erbracht 
war. Als ursächlichen Faktor sieht Seyderhelm vor allem das Bacterium 
coli an. Die sich im ganzen Dünndarm bei perniziöser Anämie findende 


536 P. Wichels: Über das Vorkommen von Bacterium coli 


abnorme Bakterienflora faßt er als Folge einer ‚‚Insuffizienz‘‘ des 
Intestinaltractus auf, die sich in ihrem Wesen zunächst nicht analysieren 
läßt. Speziell die in allen Fällen anzutreffende Achylia gastrica erscheint 
in diesem Zusammenhang nicht als Folgeerscheinung der Anämie, 
sondern als primär auftretende Bedingung. Neben dieser Achylie wird 
eine „Insuffizienz‘‘ des Dünndarms — Fortfall der baktericiden Kraft, 
abnorme Durchlässigkeit — als ausschlaggebend für die Entstehung 
der chronischen Intoxikation durch Darmbakterien und ihre Gifte 
angesprochen. 

Bakteriologische Untersuchungen der letzten Jahre kommen über- 
einstimmend zu dem Ergebnis, daß der Dünndarm in normalen Fällen 


nur wenige Keime enthält, in pathologischen Fällen aber eine üppigere 


Flora aufweist. 


Kiralyfi untersuchte bei Gallengangserkrankungen nach Ölfrühstück den 
galligen Inhalt des Duodenums und fand besonders bei Cholecystitis eine abnorme 
Flora. Hyp- und Anacidität des Magensaftes hatten Einfluß auf diese Flora, in 
der das Bacterium coli dominierte. 

Knud Faber stellt ebenfalls bei Achylie und besonders bei der perniziösen 
Anämie eine abnorme Bakterienflora im Dünndarm fest, der unter normälen Ver- 
hältnissen steril ist. 

Nach Grassmann erweist sich das Duodenum in überwiegender Mehrzahl der 
Fälle als steril. Er untersuchte allerdings fast nur normale Fälle. 

Auch Hoefert fand, daß der Duodenalsaft unter normalen Verhältnissen — 
von ganz vereinzelten Keimen abgesehen — keimfrei ist. Bei Patienten dagegen 
mit Hyp- und Anacidität wuchsen in der Kultur Bacterium coli, Staphylokokken, 
Streptococcus faecalis usw. Bei Achylia gastrica und einem Fall perniziöser 
Anämie wies er im Duodenum massenhaft Colibacillen nach. Er schließt, daß der 
(Gehalt des Magens an freier Salzsäure entscheidende Bedeutung für die Sterilität 
des Magen- und Duodenalsaftes habe. 

Nach Untersuchungen von Gorke enthält Magen und Duodenum bei Achylie 
reichliche Mengen von Keimen. Von 6 untersuchten Fällen fanden sich bei 5 Fällen 
im Magen massenhaft Keime. In einem Fall von perniziöser Anämie wies er im 
Magen und Duodenum massenhaft Colibacillen nach. 

In 19 Fällen von perniziöser Anämie stellte van der Reis in den oberen Partien 
des Dünndarms ein üppiges Wachstum der normalen Flora fest, aus den unteren 
und mittleren Partien des Jejunums züchtete er besonders Anaerobier, die normaler- 
weise nur im Kolon heimisch sind. Eine besondere Vermehrung der Colibacillen 
war nur unter besonderen Verhältnissen nachzuweisen. 

Bei Achylia gastrica wachsen im Dünndarm nach Bogendörfer und Buchholz 
besonders Colibacillen, die höchsten Werte finden sich bei der perniziösen Anämie. 
Diese Befunde scheinen nach den Autoren eine neue Stütze für die enterale Ent- 
stehung der perniziösen Anämie zu sein. 


Von allen Autoren wurden also im Dünndarminhalt bei Anacidität 
und Achylie des Magens vermehrte Mengen von Bakterien festgestellt. 
Eine Untersuchung des Keimgehaltes des Magens ist nur in einigen 
Fällen von Gorke vorgenommen. Über den Keimgehalt des sekretorisch 
normalen Magens finden wir in der Literatur nichts verzeichnet. 


ENDETE 


EEE? 3 








im Inhalt des nüchternen Magens bei perniziöser Anämie. 537 


Wir haben es deshalb unternommen, an einer größeren Versuchs- 
reihe den Magensaft bei verschiedenster Acidität und bei den verschie- 
densten Krankheiten zu untersuchen. Besonderen Wert haben wir 
der oben erwähnten Seyderhelmschen Auffassung wegen auf den Nach- 
weis des dünndarmfremden Bacterium coli gelegt. 

Die Technik der Untersuchungen gestaltete sich im einzelnen fol- 
gendermaßen: 


Die Patienten wurden morgens früh nüchtern nach vorhergehender gründ- 
licher Ausspülung des Mundes mit H,O, ausgehebert. Es entleerten sich in der 
Regel 2—10 ccm einer schleimigen, seltener gallig gefärbten Flüssigkeit, von der 
eine Öse des Colinachweises wegen auf eine Endoplatte mit dem Stuhlspatel aus- 
‘gestrichen wurde. In den meisten Fällen wurden daneben noch Kulturen auf 
Nähragar angelegt. Die Kulturen wurden I—2mal 24 Stunden bei 37° im Brut- 
schrank gehalten und die gewachsenen Kolonien mit den üblichen Methoden 
färberisch und kulturell untersucht. 

Die Resultate beziehen sich nur auf die in der Kultur Be heeusn Bakterien. 
Im Ausstrichpräparat finden sich stets massenhalt abgetötete Keime, die bei der 
Prüfung auf Sterilität des Magensaftes nicht in Frage kommen. 


Die Ergebnisse seien in den folgenden Tabellen mitgeteilt. Die an- 
gegebene Keimzahl ist auf eine Normalöse des Magensaftes zu beziehen. 


Tabelle I. Normale Säurewerte bei organisch gesunden Mägen. 



































Nr. | Name | Diagnose | Congo Lackmus Bakteriolog. 
1 una 2.2 Hodekin 0 sauer steril 
2 Fi, ..*... | G@astroptose 0 . 
3 Fr. ..... | funkt. Beschwerden + R . 
4 Piss. % en + er 5 
5 || Ka. .... . | Aortenstenose Mi 
6 || Gr. .. ..... | Darmspasmen 0 u A 
7 Gü.. . ...... | Angina tons. + A a 
8 | Ah. ... .. | Kolospasmus au $ R: 
9 DEREN .;: 4 + r Bi 
10 Ju. . .....| funkt. Beschwerden 0 4 Mr 
11 Ster. . . ... | Nephrosklerose x 
12 | Scha. .. . | Mitralvitium 0 R 2 
13 Mü......... | funkt. Neüurose + Ri R 
14 || Stei... . . .. | Hysterie 0 „ 5 
15.1, Lim... ... ..| Dyspepsie 0 R, } 
16 | Me. . .. .. | funkt. Beschwerden A 
17 GBleer , et Koloptose + Mt ” 
18 | Bu. . . . . | spast. Obstipation 0 ni 5 Kolonien 
Heubacillen 
IV Ro 7... ©.) Mitralvitium + % steril 
Are... ... (‚Lues ie 
21 Ba OB + Mn : 
22 Fi... ... . | sekundäre Anämie 0 alk. s> 
23 Bar, is u + sauer 2% 






















































































538 P. Wichels: Über das Vorkommen von Bacterium coli 
Tabelle II. Ulcus ventriculi mit normalen Säurewerten oder Hyperacidıtät. 
Nr. Name | Diagnose | Congo | Lackmus | Bakteriolog. 
1-4 ZEr; Pylorusstenose | - sauer steril 
2 Ki. Uleus ventriculi 0 A 55 
3: Ga.. ” ” in ” ” 
4 Al.. 7 % Tr >» 2 
2 Rö. Y b> Zi > » 
6 Ke. > PR) == ER) ” 
LAS BO: Ulcus duodeni 0 9 S 
8 De.. RR ventriculi 0 n % 
Tabelle III. Anacidität bei organisch gesunden Mägen. 
Nr. Name Diagnose Congo Lackmus | Bakteriolog. 
10 RT . | Anacidität 0 neutral steril 
2:1. BO. R 0 > F 
Sal Denn „ 0 ; 
4 |) Be. % 0 sauer Be 
5 Kla. 35 Ö PR) ” 
6 || Ek. R B: 
7 9210. ; Tbe. pulmonum 5x 
5 8-I FE Anacıdität 0 % AN 
9 | Bad... chron.Cholecystitis 0 neutral 2 
10:2 Eu. Anacidität 0 sauer . 
1LanEr, progress. Paralyse 0 4 £ 
12 | Em. Anacidität 0 Mr 
13-7 Bär: $ n 
14: 5H4N A 0 ie e 
15 || Schu. Tbe. pulmonum 0 neutral | Streptococ. lacticus 
gramposit.Stäbchen 
16-41 ..BB8.! Unklare Diagnose 0 “ 200 Kolon. Coli 
17 Ko. „ ” 0 ” 100 ” ” 
18 | Eb. R 5 0 sauer 0 RR „und 
| 320  , Staphylo- 
kokkus. 
Tabelle IV. Carcinoma ventriculi mit Anacidität. 
1 | St.. Carcin. ventriculi 200 Kolon. Coli 
24.Kn. b , 0 sauer 25 5 ; 
3 Wise e ” 15 „ Heubacill. 
4 || Goe. R: x 0 u massenhaft Coli 
5b | Ho. Mi PR 0 Pr steril 
BINDDLAR 25 r 100 Kolon. Coli 
Tabelle V. Achylia gastrica. 
1 || Wo, . | Achylia gastrica 0 sauer steril 
2 Kl. . | Lues II PR 
3. 1,Ci. . . | Tbe. intest. 0 .. 


im Inhalt des nüchternen Magens bei perniziöser Anämie. 539 


Tabelle V.I. Perniziöse Anämiet). 





















































NT. | Name | Diagnose Congo Lackmus | Bakteriolog. 
1 | Blu. . . . | perniziöse Anämie 0 alk. 100 Kolon. Coli 
25 EV ER er si 0 * massenhaft „, 

3 Kr. a * ” ” 0 ” „ ” 
5 A “ » 0 neutr. e 4 
na a ’% er Pr % 
u ah 1 EIER 4 X 0 alk. 24 E 
as Rab. A = 2 Er 
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2 Ka za a E ns 0 5 bi Ri 

1 Ki Ki 6 ER x if, rn # 

BR le Rt. R & 0 FSK: einzelne Coli und 

massenh.Staphylo- 
 kokken 

N a ” 0 I massenhaft Coli 

Ne 9 a a ® M 0 = er ai 

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Aus den obigen Tabellen ist zu ersehen, daß der nüchtern steril aus- 
geheberte Saft normal funktionierender und sezernierender M ägen im 
allgemeinen frei von Bakterien ist. In 23 Untersuchungen haben wir 
nur in einem Falle eine geringe Anzahl von Heubacillen im nüchternen 
Magen gefunden. Colibacillen insbesondere konnten nie nachgewiesen 
werden. 


‘) Ein Teil dieser Resultate wurde in der Dissertation E. Wolff, Göttingen 
1923, verwendet. 


Z. f. klin. Medizin. Bd. 100. 35 


540 P. Wichels: Über das Vorkommen von Bacterium coli 


‘ Ebenso war in 8 Fällen von Ulcus ventriculi oder duodeni bei nor- 
maler Acidität oder Hyperacidität nach Probefrühstück der nüchterne 
Magensaft steril. Die normalen oder hyperaciden Sekretionsverhält- 
nisse des Magens üben also allem Anschein nach auf Bakterien, mögen 


sie vom oralen. oder aboralen Teil des Magens eingewandert sein, einen 


bactericiden Einfluß aus. 

Daß aber nicht allein die freie Salzsäure in bactericider Hinsicht 
wirksam ist, zeigt die Tabelle III. Unter 18 Fällen von Anacidität 
bei organisch gesunden Mägen war in 14 Fällen der nüchterne Magen- 
saft steril. In einem Falle mit ausgedehnter Lungentuberkulose und 
viel Sputum wurden Streptococcus lacticus und grampositive Stäbchen 
gefunden, die vielleicht mit dem Sputum kurz vor der Ausheberung 
in den Magen verschluckt worden sind, ohne daß der Magensaft in 
kurzer Zeit die Bakterien abzutöten vermochte. In den übrigen 3 
Fällen wurden massenhaft Colibacillen gefunden. Die Diagnose dieser 
Fälle war unklar, in 2 Fällen wurde ein Magencarcinom vermutet. 

Damit kommen wir auf die Bakterienverhältnisse des nüchternen 
Magensaftes beim Magencarcinom zu sprechen. Wir hatten leider nur 
Gelegenheit, 6 Patienten mit sicherem Magencarcinom (die Diagnose 
wurde operativ bestätigt) zu untersuchen. In einem Falle war der 
Magensaft steril, in 4 Fällen wuchsen in der Kultur Colibacillen in 
größerer Menge, in einem Falle nur Heubacillen. 

In allen drei zur Untersuchung gelangenden Fällen von Achylia 
gastrica war. der nüchterne Magensaft steril. Von den Patienten litt 
der eine an Lues, ein anderer an ausgedehnter Lungentuberkulose. Bei 
dem dritten Kranken wurde außer der Achylie kein pathologischer 
Befund erhoben. 

Die größte Anzahl von Colibacillen pro Öse fanden sich in fast allen 
Fällen von perniziöser Anämie. Es wurden 36 Patienten untersucht. 
In 33 Fällen wuchsen in der Kultur immer massenhaft Colibacillen, 
deren Anzahl pro Öse in den seltensten Fällen zu zählen war. In einem 
Fall fanden sich nur apathogene Keime. In 2 Fällen war der Magen- 
saft steril. Von diesen beiden negativen Fällen hatte der eine Patient 
seit 11/, Jahren normale Blutwerte, machte also eine außerordentlich 
lange Remission durch. Der andere Patient war seit einigen Tagen 
mit größeren Mengen von Salzsäure per os behandelt, die nach unseren 
Erfahrungen derart wirkt, daß auch der nüchterne Magensaft bei 
perniziöser Anämie, mag er vor der Behandlung reichliche Mengen 
von Colibacillen enthalten, steril wird. 

Es hat nach diesen Untersuchungen den Anschein, daß nicht nur 
die freie Salzsäure oder die Magenfermente, die wohl sicher die größte 
Rolle spielen, bactericide Eigenschaften im Magensaft entfalten. Auch 
die Aciditätsverhältnisse des nüchternen Magensaftes, abgesehen von 


im Inhalt des nüchternen Magens bei perniziöser Anämie. 541 


dem Gehalt an freier Salzsäure, sind nicht allein für die Sterilität ver- 
antwortlich zu machen. Unter normalen organischen Verhältnissen 
wurde selbst ein gegen Lackmus alkalisch reagierender Saft des nüch- 
ternen Magens steril befunden. Umgekehrt fanden sich in auf Lackmus 
sauer reagierenden Säften beim Magencarcinom Colibacillen. Der nüch- 
terne Magensaft bei perniziöser Anämie, bei dem die größte Anzahl 
von Keimen sich fand, reagierte allerdings immer alkalisch oder neutral 
gegen Lackmus. 

Es muß demnach noch ein anderes Agens hinzukommen, das auch 
bei Anacidität den Magensaft steril erhält, bei der perniziösen Anämie 
' und beim Magencareinom aber in seiner Wirkung versagt, so daß Bak- 
terien sich im Magen lebend halten können. | 

Nach den Untersuchungen von R. Seyderhelm und A.Oelsner, die 
bei der perniziösen Anämie in sofort nach dem Tode abgebundenen 
und untersuchten Schlingen des gesamten Dünndarms abweichend 
vom Normalen eine üppige Bakterienflora, besonders Bacterium coli, 
fanden, ist anzunehmen, daß die Colibacillen vom Dickdarm aus den 
gesamten Dünndarm überwuchern und auf diesem Wege auch in den 
Magen gelangen. Die aborale Infektion hat demnach vor der oralen 
die größere Wahrscheinlichkeit für sich. Als Ursache dieser Invasion 
nimmt Seyderhelm das Fehlen eines bactericiden Agens im Dünndarm- 
sekret an und schreibt u.a. diesem Faktor eine besondere Rolle bei 
der Genese der perniziösen Anämie zu (vgl. R. Seyderhelm in der er, 
Wochenschr. 1924, im April erscheinende Arbeit). 

Vielleicht wird ein ähnliches bactericides Agens von der len 
Schleimhaut des Magens gebildet und sezerniert, das die Sterilisations- 
kraft der Salzsäure und der Magenfermente unterstützt. Bei dem 
Fehlen von Salzsäure und Fermenten im Magensaft müßte es allein 
wirksam und für die Sterilität des Magens verantwortlich gemacht 
werden. 

Wenn man aber die orale Infektion des Magens vernachlässigt und 
annimmt, daß der Keimgehalt des Magens bei den genannten patho- 
logischen Zuständen im wesentlichen durch eine Ascension von Bak- 
terien, die sich im Dünndarm ansiedeln konnten, zustande käme, würde 
in Fällen von Anacidität und Achylie die Annahme eines bactericiden 
Stoffes des Dünndarmsekrets allein die Sterilität des Magens er- 
klären. 

Auffällig ist, daß fast regelmäßig nur bei der perniziösen Anämie 
und beim Magencarcinom diese bactericide Eigenschaft des Intestinal- 
tractus versagt. Es müssen hier unserer Ansicht nach besondere Ver- 
hältnisse vorliegen, die in einer Schädigung der gesamten Intestinal- 
schleimhaut bestehen. Die Schleimhaut verliert vielleicht durch diese 
Schädigung die Fähigkeit, bactericide Substanzen zu bilden. 

35* 


542 P. Wichels: Über das Vorkommen von Bacterium coli usw. 


Die Regelmäßigkeit des Befundes von Bacterium coli im nüchternen 
Magensaft bei perniziöser Anämie verleiht diesem Nachweis differential- 
diagnostische Bedeutung. Inwieweit dieser Nachweis auch beim Magen- 
carcinom zu verwerten ist, möchten wir an Hand unserer wenigen Fälle 
nicht entscheiden. 


Zusammenfassung. 


1. Der Inhalt des nüchternen Magens ist normalerweise, bei Ulcus 
ventrieuli, Anacidität und Achylie ohne Komplikationen im allgemeinen 


steril. 
2. Bei perniziöser Anämie und beim Magencarcinom werden fast 


a a 


regelmäßig größere Mengen von Colibacillen im Saft des nüchternen 


Magens gefunden. | 
3. Die Regelmäßigkeit des Colibacillenbefundes im nüchternen 


Magen ist allem Anschein nach bei perniziöser Anämie differential- 
diagnostisch von Bedeutung. 


Literatur. 


1!) Seyderhelm, R., Ergebn. d. inn. Med. u. Kinderheilk. 21, 361 .1922. — 
*) Kiralyfi, Berlin. klin. Wochenschr. 42, 1985. 1912. — 3) Faber, Knud, Berlin. 
klin. Wochenschr. 21, 953. 1913. — *) Grassmann, Arch. f. Verdauungskrankh. 
23, 477. 1917. — °) Hoefert, Zeitschr. f. klin. Med. 92, 221. 1921. — ®) Gorke, Mitt. 
a. d. Grenzgeb. d. Med. u. Chirurg. 35, 279. 1922. — ?) Reis, van der, Zeitschr. 
f. d. ges. exp. Med. 34, 385. 1923. — 8) Bogendörfer und Buchholz, Dtsch. Arch. 
f. klin. Med. 142, 318. 1923. 





(Aus der Inneren Abteilung des Stadtkrankenhauses Dresden-Johannstadt 
[Leitender Arzt: Ober-Med.-Rat Prof. Dr. Rostoski].) 


Über den Rhodangehalt des Speichels. 


Von 
Dr. F. Liekint. 


(Eingegangen am 20. April 1924.) 


Der Zweck mehrerer von mir in letzter Zeit angestellten Versuche 
war, mit möglichst einfachen Mitteln sowohl etliche bereits von anderen 
Autoren festgestellte Tatsachen nachzuprüfen, als auch einige meines 
Wissens neue Beobachtungen anzustellen. 

In aller Kürze seien nur zur Einführung aus der umfangreichen 
Literatur wenige geschichtliche Vorbemerkungen mitgeteilt. 

Als Entdecker des Vorkommens von Rhodankalium (s. Schwefel. 
cyankalium, Kaliumthiocyanat) im Speichel darf wohl in gewissem 
Sinne Treviranus!) (1814) gelten, wenn er auch den im Speichel mit 
„einer gesättigten Lösung des Eisens und Salpetersäure oder verdünnter 
Salpetersäure‘ gefundenen Körper nicht in seiner chemischen Bedeu- 
tung erkannte und ihm seiner Farbe wegen einfach den Namen ‚,Blut- 
säure“ gab. Erst als Porcet?) die chemische Natur der Schwefeleyansäure 
mitgeteilt hatte, stellten dann Tiedemann und Gmelin?) (1826) gemein- 
sam die Identität der ‚„Blutsäure‘‘ mit der Rhodanwasserstoffsäure 
fest und fanden zugleich, daß es sich hierbei um die Kaliumverbindung 
derselben handele. 

Über die Herkunft dieses Rhodankaliums gingen die Meinungen 
anfangs noch stärker auseinander als heute. Berzelius*) (1840) nahm 
zuerst beispielsweise an, daß das Rhodan im Speichel überhaupt nicht 
präexistiere, sondern erst bei der zur Darstellung vorgenommenen 
Destillation des Speichels entstehe. Olaude Bernard?) (1859) wiederum 
glaubte, daß die Schwefeleyansäure vielleicht bei Vorhandensein cariöser 
Zähne vorkäme oder wahrscheinlich. auch durch Beimengung von 
Nicotin zum Speichel beim Rauchen entstünde. | 

Vorher war jedoch schon einwandfrei von anderer Seite festgestellt 
worden, daß Rhodankalium tatsächlich in den Speicheldrüsen vor- 
kommt, so z. B. von Mitscherlich®) (1833), der bei einem 40jährigen 
Mann, der Raucher war und eine Parotisfistel besaß, im abfließenden 
Speichel, ohne daß dieser je in die Mundhöhle gelangt war, das Rhodan 


544 F. Lickint: 


nachweisen konnte. Ebenso fand später auch Longet‘) (1856) diesen 
Stoff einwandfrei in der Parotis, der Submaxillaris und Sublingualis vor. 

Heute existieren nun schon einige eingehendere Vorstellungen über 
die Entstehungsweise des Rhodankaliums im Organismus. 

Nach Bruylant?), Kobert!?) u. a. soll sich im Organismus durch Zerfall 
des Adenins (Diaminopurin) bei der Oxydation desselben Harnsäure 
(Trioxypurin) bilden, bei dessen Zerfall wieder CN-Wurzeln frei werden. 
Interessanterweise konnte Plimmer?) feststellen, daß auch extra corpus 
bei der Oxydation chemisch reiner Eiweißstoffe mit conc. HNO, und 
H,SO, schon etwa 0,5—0,75% HCN entstehen. Diese nun so auch im 
menschlichen Organismus entstehende, bekanntlich außerordentlich 
giftige Blausäure wird dann im Körper als eine Art Naturselbsthilfe 
in wechselnder Menge durch chemische Bindung an sog. disponibeln 
Eiweißschwefel und an Kalium zu dem viel weniger giftigen Rhodan- 
kalium. Dieselbe zuletzt genannte Umsetzung soll nach Pascheles!?) 
sogar experimentell in vitro beim Digerieren von Eiweißlösungen mit 
HCN und in Gemischen von zerkleinerten Leichenorganen mit Blausäure 
vor sich gehen, wenn auch natürlich nur sehr langsam. 

Dahingestellt muß daher bleiben, ob die natürliche entgiftende 
Wirkung im Organismus normalerweise vielleicht in gleicher oder wenig- 
stens ähnlicher Weise vor sich geht, wie es Lang!!) in einer chemischen 
Formulierung für die therapeutische Entgiftung der HCN durch Ver- 
abreichung des Antidots Natriumthiosulfat angegeben hat: 


SON +50KN +0 -ONNa +0,00 


(Cyanrnatrium) (Natriumthiosulfat) (Rhodannatrium) (Natriumsulfat) 

Eine andere Theorie der Rhodanbildung stammt von Plochmann!?), 
der annahm, daß die Schwefeleyanbildung an das Vorhandensein von 
Nitrilen (HCN, bei der das Atom H durch ein Alkoholradikal ersetzt 
ist) gebunden sei. Verschiedene entsprechende Untersuchungen De- 
ganis!?) konnten jedoch die Möglichkeit einer solchen Entstehungs- 
weise in keinem Falle bestätigen. Degani suchte dafür die rhodan- 
bildende Substanz unter den Extraktivstoffen und meinte außerdem, 
daß das gesamte Rhodan exogenen Ursprungs sei. Letztere Anschauung 
hat, wie zu erwarten war, gar keine Stütze gefunden. 

Weitere interessante Beiträge zur Frage der Rhodanentstehung im 
Organismus stammen von K. Willanen®), Nencki!%), Giacosa 101), 
G. Külz1!%2) u. a. 

Ebenso, wie ursprünglich die Meinungen über die Art der Rhodan- 
entstehung noch stark auseinandergingen, so ist auch heute noch nicht 
endgültig die Entscheidung über den Ort der Synthese gefallen. Nach 
Pascheles!®) soll die chemische Umwandlung vor allem in der Leber 
und in den Muskeln vor sich gehen. Aus einer logischen Überlegung 








Über den Rhodangehalt des Speichels. 545 


heraus mußte es jedoch viel wahrscheinlicher erscheinen, daß dieser Prozeß 
nur in den Speicheldrüsen vor sich geht, und zwar aus folgenden Gründen: 
@'scheidlen!*), der sich um den Rhodankaliumstoffwechsel durch seine 
Arbeiten über dessen Vorkommen im Harn sehr verdient gemacht hat, 
konnte z. B. niemals die Schwefelceyanverbindung im Harn finden, wenn 
er durch operatives Nachaußenableiten des Speichels per fistulam dem 
Tier die Möglichkeit nahm, Speichel zu verschlucken. Würde noch an 
irgendeiner anderen Stelle des Körpers Rhodankalium entstehen, so 
mußte doch unbedingt im Urin auch post operationem Rhodankalium 
erscheinen. Gegen diesen Gedankengang spricht jedoch wieder die 
Feststellung von Muck!?), der Schwefeleyan auch im Nasen- und Con- 
junktivalsekret als konstanten Bestandteil fand, und zwar aus serösen 
Drüsen dieser Schleimhäute stammend. Auch H. Mayer!®) gewann bei 
seinen eingehenden Arbeiten den Eindruck, daß noch andere Rhodan- 
bildungsstellen bestehen außer an Speicheldrüsen, ohne daß er allerdings 
etwas Näheres über die Gründe zu solchen Vermutungen angibt. Zur 
Ergänzung sei dabei nur gesagt, daß z. B. E. Pollacci!”) beim Menschen 
sogar das Rhodan in der Schleimhaut des Magens und Dünndarms, 
weiter aber noch im Blute, im Eiereiweiß, im Gehirn und Rückenmark, 
in der Leber und dem Muskelfleich und außerdem im Körper von Fischen 
und Fröschen und in den verschiedensten pflanzlichen Nahrungsmitteln 
gefunden hat. Im Eiereiweiß ist es auch von Leared!?), und überdies 
auch in der Kuhmilch nach einem Zitat von Kobert!?) festgestellt worden. 
Unter den Mundspeicheldrüsen ist nach Oehl??) die Parotis die Haupt- 
spenderin des Rhodans. Weitere diesbezügliche Arbeiten lieferten 
Nencki u. Simanowski!®), J. Kelling!%), Rjasantzen!®) und De Sonza!%). 

Wir sehen also, daß in bezug auf Rhodanbildungsstellen noch weitere 
Arbeiten näheren Aufschluß zu bringen haben. 

Die Ausscheidung des Rhodans findet, soweit man von evtl. ausge- 
worfenem Speichel und ausgeschneuzten Nasensekret absieht, in erster 
Linie durch den Urin statt. Weiter aber geht auch Rhodan durch den 
Schweiß verloren, so daß A. Mayer!) dieses deutlich in saurem Schweiße 
mit Jodstärkepapier (Nachweismethoden siehe später!) nachweisen 
konnte. Endlich werden sicher auch geringe Mengen im Stuhle beseitigt, 
so daß man vor allem bei Rhodanvergiftungen diesen Stoff noch tage- 
lang [Adler?®): 5 Tage lang] finden kann. Am längsten in zum Nachweis 
genügender Konzentration bleibt eingegebenes Rhodan noch im Speichel 
feststellbar, und zwar nach Hausmann?!) und auch nach Edinger??) noch 
nach 14 Tagen. Theoretisch müßte wohl das letzte Rhodan im Harn 
auftreten, da ja das Schwefeleyan im Speichel verschluckt und dann 
auf dem Blutwege noch den Nieren zugeführt werden muß. Dort scheint 
aber dann die Konzentration zu einem qualitativen Nachweiße nicht 
mehr auszureichen. 


546 F. Lickint: 


Über die Quantitäten des normalerweise im Urin ausgeschiedenen 
Rhodans liegen verschiedene Untersuchungsergebnisse vor. Ich teile 
daher kurz eine aus mir zugängig gewesenen Literaturangaben zusammen- 
gestellte Tabelle mit: 


Tabelle I. Rhodangehalt des Harns. 
































Autor ® Rhodan in en Bin in ccm Bemerkungen 

Drupal) ENT N N 0,003 1000 u 

Gscheiden m RE ee 0,0565 pro die — 

4HMayerE  BIBSR 3 0,058 as) Durchschnitt einiger starker 
| | Raucher 

AAiauer) a ara un 0,043 | 1850 Durchschnitt einiger mäßig. 
| Raucher 

A. Mayer) Wr, 9 22 100,085 ' 1000 Durchschnitt einiger Nicht- 
| raucher 

Mund) te. DS Sarler 0 ‘1000 Wohl auch noch and. S- 
| Verb. mitbestimmt 

DURLE>) "ae a 0,04—0,13 1000 —— 
DO Er Ar a 1000 Bei Carcinomkranken 
Sullivan- Danwson?%) ee ar ahiyr] pro die | Durchschnitt aus mehreren 





Literaturangaben 


Ausführlicheres über die physioiogische Wirkung mitzuteilen, dürfte 
hier weniger der Platz sein; ich begnüge mich daher mit einer 
kleinen Zusammenstellung einiger Angaben verschiedener Autoren 
(s. Tab. II). 

Einige Abschnitte vorher hatten wir von Entstehungsursachen für 
Rhodan gesprochen, die alle proteinogener Natur waren [Bruylants), 
Plochmann'?) usw.], d. h. ihr Ursprung lag im Zerfall eigenen Körper- 
eiweißes oder evtl. aufgenommenen Nahrungseiweißes. 

Im Gegensatz dazu kommen wir jetzt auf einen ganz anderen Ent- 
stehungsmodus zu sprechen, der darauf beruht, daß wir bei verschiedenen 
Gelegenheiten reine Blausäure oder Verbindungen derselben aufnehmen 
und diese dann entsprechend der proteinogenen HCN im Organismus 
entgiften, indem wir daraus Rhodankalium bilden. 

Wenn wir das später zu besprechende Tabakrauchen nicht kennen 
würden, so hätten wir allerdings zu diesem zweiten Bildungsweg ziemlich 
wenig Veranlassung. Abgesehen von der recht seltenen Blausäure- 
vergiftung besteht eine geringe Zufuhr beim Genuß bitterer Mandeln, 
bestimmter Obstkerne (Apfel, Birne usw.) und wohl auch durch manche 
Pilzarten, wie Champignons [Kobert!?)]. So wie bekanntlich beim Ver- 
brennen irgendwelchen Laubes HCN-Verbindungen frei werden, so ist 
auch mit allergrößter Wahrscheinlichkeit anzunehmen, daß wir auch 
beim Verbrennen von Kohlen, Holz usw. mit der Entstehung von Blau- 
säure zu rechnen haben und damit beständig in geringeren oder größeren 























Über den Rhodangehalt des Speichels. 547 
Tabelle II. Physiologische Wirkung der Rhodans. 
Untersucht. Gegenstand Wirkung Autor Bemerkungen 
Eiweißverdauung Herabsetzend | E. Cavazzani und @. 
Avite?) 
Eiweißstoffwechsel . . . Gesteigert P. Sazxl??) 
Saccharifizierung im 
ST) Begünstigt E. Meusel®) 
Blutbildung . . . . Nicht beeinflußt | A. Mayer!®) 
Blutdruck. 2%: Vermindert Paschkis?®), Pauli??), | [n. Mayer'®) 
Dalmady?") unverän- 
dert] 
Pulsfreguenz ....... Herabsetzend | A. Scheuer?®), Pasch-, Bei Base- 
kıs®) dow 
Bildung freien Jodes . . Erhöht Muck!) 
Harnsäureausscheidung Vermehrt Paschkis”®) 
Harnacidität . . . .°. Herabgesetzt Hausmann, 
A. Mayer), Edinger 
und Clemens??) 
Harnalkalescenz . . . . Zunehmend A. Edinger??) 
N-Ausscheidung i. Harn 
eNrRabetr:]e 2, a Vermehrt A. Edinger”?), 
A. Mayer!*), Saxl??) 
Unoxydiert. Schwefel i. 
TE TR Zunehmend A. Edinger, 


Flüchtige Fettsäuren im 
EEE 2 N Te, 

ÖOxyproteinsäure im Harn 

Desinfiz. Wirkung des 
Mundspeichels 


Reflexerregbarkeit . . . 
Darmperistaltik 





Vielleicht ver- 
mehrt 
Gesteigert 


.| a) Erhöht 


b) Unbeeinflußt 


Erhöht 
Vermehrt 





A. Mayer!®), Sax123) 


A. Mayer!) 


P. Saxl?2) 


Sanarelli?®), Martin- 


otti?}), Garnier??), 
Schlagdenhauffen??) 
usw. 

Schlegel®*), Treu- 
pel??), Edinger??) 
Paschkis?®) 
Paschkis!®) 





Mengen von diesem starken Gift im Rauch eingeatmet und absorbiert 
wird. Sisherlich ist unter Berücksichtigung dieser letzten Betrachtungen 
damit zu rechnen, daß man bei Heiz- und Küchenpersonal, sowie bei 
Schornsteinfegern eine erhöhte Rhodanbildung erwarten kann. 
Dieses leitet uns nun zwanglos zu der typischsten Auslösungsursache, 
nämlich zum Tabakrauchen hinüber. Am typischsten vielleicht daher, 
weil wir hierbei wohl (von ferensischen HCN-Indikationen abgesehen) 
die Veranlassung zu den höchsten Rhodangehalten im menschlichen 
Organismus gegeben finden. 


548 F. Lickint: 


Zum näheren Verständnis der wirklichen Verhältnisse mögen einige 
Mitteilungen aus dem Gebiete der Tabakchemie vorausgeschickt werden: 

Wahrscheinlich entstehen bei der Verbrennung durch trockene 
Destillation der im Tabak enthaltenen Proteine Cyanverbindungen 
[keine freie Blausäure, König?®)]. Toth??) hatte einmal auch die Bildung 
von Dieyan — (CN), angenommen, K. B. Lehmann und Gundermann®) 
haben aber diese Annahme später für unbegründet gefunden. Selbst- 
verständlich ist dabei schon wesentlich der Proteingehalt der einzelnen 
Tabake. So fand König?®) in Tabakblättern als niedrigstes 0,69%, als 
höchstes dagegen 19,12%, (im Mittel 6,65), in Tabakstengeln 12,84%, 
in Tabakstaub 7,75%, Proteinstoffe. Mayer?!) gibt Schwankungen von 
1,97— 2,92%, an Eiweißstickstoff und Amidoverbindungen an, Lehmann 
und Tobata??) nennen 1,09—1,89%, für Eiweißstickstoff und 0,022 bis 
0,573% für Amidostickstoff. 

Im allgemeinen enthält besserer Tabak weniger Proteinstoffe als 
minderwertiger, da der Eiweißgehalt den Geruch der Verbrennungs- 
produkte sehr ungünstig beeinflussen soll. Wichtig ist daher für die 
Tabakerzeugung eine zweckmäßige Düngung und später ein entspre- 
chendes Trocknungs- und Fermentationsverfahren. 

Aus diesen verschiedenen Gehalten an Eiweißstoffen schon kann 
man also zwangsläufig auch recht unterschiedliche Blausäuremengen 
in den Analysen der einzelnen Rauchproben je nach Art, Herkunft, 
Pflege und Zubereitungsart des untersuchten Tabaks erwarten. In 
der Tat trifft dies auch zu. 

Zur besseren Übersicht seien die einzelnen Analysenergebnisse, so 
weit sie mir zugänglich waren, in Tabellenform wiedergegeben (s. Tab. III). 

Daß nun diese geringen Mengen Blausäure auf den menschlichen 
Organismus selbst bei starkem Tabakabusus toxisch in irgendeiner 
Weise wirken können, läßt sich vielleicht nicht mit vollster Gewißheit 
abstreiten, aber unwahrscheinlich ist es doch [siehe auch T’homs**), 
Habermann®?)]. Zur Toxikologie der HON sei nur erwähnt, daß Lehmann 
und G@undermann?°) 6—8 mg HCN in 50 ccm Wasser ohne jede Wirkung 
eingenommen hatten. Eine Katze zeigte nach Lehmann erst bei 0,05%), 
Blausäuregehalt der Einatmungsluft in 1!/, Stunden schwere Krank- 
heitserscheinungen. Als dosis letalis für den Menschen gilt wohl im all- 
gemeinen 60 mg. Pick?) ist zwar der Meinung, daß gewisse Vergiftungs- 
symptome bei starken Rauchern von der absorbierten Blausäure her- 
rühren, wie besonders eigenartige Atemstörungen. Die von ihm beobach- 
teten Raucher sollen bis zu 16 mg Blausäure zu entgiften gehabt haben, 
was, den höchsten je gefundenen Wert für Blausäure von 0,08 g auf 
100 g Tabak angenommen [ Vogel??)], wenigstens 4 Zigarren & 5 g ent- 
sprechen würde, vorausgesetzt außerdem, daß sämtliche entstehende 
HCN auch absorbiert würde! Da aber doch selbst in einem so konstru- 


ie A a = 





Über den Rhodangehalt des Speichels. 549 


Tabelle III. Blausäuregehalt des Tabakrauches aus 100g Tabak. 






































Pfeifen- ER E Zigaretten- Unbestimmte 
Autor tabak tabak Bezeichnung 
% % Da N % 
weeyogel®) . . _ — — 0,069—0,096 
BPontag®®) 2"; — ' — 0,006—0,008 _— 
3. J. Haber- 4 
mann I. . . = 0,0098 (Anz 0,0174 \ RER = 
Min. ee 
J. Toth??). . Sa = Bar 0,05—0,1 
4. Lehmann und 
.  Gundermann*®) _ 0,02—0,04 .- — 
5. *J. Haber- 
mann II®) . 0,0 0,0012 0,0023—0,0037 — 
6. R. Kissling”) _ - — 0,015—0,057 
BEE RHONFN. . _ — — '0,003—0,008 
8. H. Thoms*) — — — 0,0295 
9>D2-König®)).: — 0,0019 — 








ierten Falle die Absorptionsdauer so lang sein würde, daß die Intoxika- 
tionsmöglichkeit wieder ganz außerordentlich herabgesetzt wird und 
zudem auch schon unterdessen wieder ein Teil der Entgiftung durch 
Rhodanbildung verfällt, so dürfen wir doch mit vollem Recht eine starke 
Zurückhaltung gegenüber den Blausäurevergiftungserscheinungen 
Picks*) bewahren. Eine ganz andere Frage ist es natürlich, die aber hier 
gar nicht zu behandeln ist, ob nicht etwa die Blausäure des Tabak- 
rauches durch eine Art Kumulierung mit den gemeinsam beim Rauchen 
aufgenommenen verschiedenen anderen toxischen Substanzen wie 
Nicotin, CO, NH,, Akroiein, Pyridinen usw. eine gewisse Bedeutung 
für die evtl. akute oder chronische Tabakintoxikation spielt. 

So wie G@eelmuyden?”) im Leuchtgas schon vorgebildetes Rhodan 
feststellen konnte, hat interessanterweise auch T'oth?”) das Schwefelcyan, 
wenn auch nur in geringen Mengen, im Tabakrauch gefunden, und zwar 
im Rauch von 12 Zigarren 0,0143 g. Diese Mengen würden sich also 


*) Diese Angaben von J. Toth??) und Habermann?) beziehen sich auf den Pro- 
zentgehalt der HCN im Rauch. 

Natürlich gelangt von diesen oben angeführten Mengen nicht alles zur Ab- 
sorption. Nach J. Habermann“) kommt mit dem Hauptstrom (NB. der Haupt- 
strom geht direkt an der Glimmstelle in die Außenluft über und kann so nur, vor 
allem in geschlossenen Räumen, sekundär vom Raucher oder ‚‚passiv‘‘ vom in der 
Nähe befindlichen Nichtraucher eingeatmet werden) höchstens die Hälfte in den 
Mund, das macht etwa 0,1—1,2 mg im Mittel auf eine Zigarre berechnet. Nach 
Lehmann und Gundermann“) wird davon mehr, nämlich 86% absorbiert. Die 
Mengen sind aber doch so klein, daß selbst bei Genuß mehrerer, auch starker Zi- 
garren, nur 3—4 mg aufgenommen werden. Interessant ist außerdem ihre Mit- 
teilung, daß der Blausäuregehalt des Rauches um so kleiner wird, je langsamer die 
Luft durch die Zigarre streicht. 


550 F. Lickint: 


im Organismus noch zu den erst aus der eingeatmeten Blausäure ent- 
stehenden Rhodanquantitäten addieren. 
Die bisherigen Angaben mögen uns nun zu der Erkenntnis genügen, 


daß in der Tat beim Raucher zur Rhodankaliumauscheidung in erhöhtem _ 


Maße Gelegenheit gegeben ist, als bei Individuen, die im wesentlichen 
nur mit der endogenen HCN-Bildung durch Körper- und Nahrungs- 
eiweißgehalt zu rechnen haben. 

Aus den beiden später angeführten Tabellen V und VI können wir 
nun auch ersehen, daß bereits eine Anzahl Autoren: die erhöhte Rhodan- 
kaliumausscheidung bei Rauchern im Speichel, oder wie @scheidlen!+) 
und Mayer‘) im Harn, gefunden häben, ohne allerdings zum großen 
Teil über den Grund dieser Erscheinung eine richtige Vorstellung zu 
haben. 

‚Ehe ich mich nun zu eigenen Beobachtungen wende, will ich noch 
weniges über qualitative und quantitative Rhodankaliumbestimmungen 
aufführen. 

Der bekannteste qualitative Nachweis, den schon Treviranus!) an- 
wandte, ist der mit Eisenchlorid, nachdem man, am besten mit wenig 
Salzsäure, angesäuert hat, worauf Rotfärbung, bei sehr schwacher 
Rhodankonzentration nur Dunkelgelb- bis Hellbraunfärbung infolge 
Bildung von Eisenrhodanid entsteht. Die chemische Formulierung 
dieser Reaktion ist folgende: | 


6 KSCN + Fe,Cl, = Fe,(SCN), + 6KCl. 


Beim Ausschütteln der so entstandenen roten Flüssigkeit mit Äther 
geht die rote Farbe in letzteren nach meinen Feststellungen nur unvoll- 
kommen oder bisweilen auch gar nicht über. Gibt man zu der gefärbten 
Lösung Wasserstoffsuperoxyd, so verschwindet die rote Farbe, da das 
Rhodaneisen wieder gespalten und HCN frei wird. Ebenso geht die 
Färbung verloren auf Zusatz von Sublimat, wahrscheinlich durch 
Bildung von unlöslichem Rhodanquecksilber. 

Praktisch ist die @scheidlensche!*) Anwendungsart der Eisenchlorid- 
methode, in dem man einen Streifen Filtrierpapier mit angesäuerter 
Eisenchloridlösung tränkt, auf das man dann bei Gelegenheit den zu 
untersuchenden Speichel tropfen kann. 

Solera®®) hat die Jodsäuremethode benutzt, wobei das Rhodan- 
kalium die Jodsäure unter Gelbfärbung zu Jod reduziert und dieses 
dann zugesetzte Stärkelösung blau färbt. Krüger“) hat auch diese 
Methode in ähnlicher Weise wie die andere angewandt, indem er zu 0,5 US 


Stärkekleister ein wenig seine Jodsäure gab und dann damit gutes. 


Filtrierpapier tränkte und trocknete, so daß er derartige Papierstreifen 
stets bei sich tragen konnte. Damit konnte er noch 0,0005%, Rhodan- 
kalium nachweisen. 














Über den Rhodangehalt des Speichels. 551 


Eine weitere Reaktion fand O. Adler?) durch Zufall, als er Harn mit 
Hilfe der Zegalschen Probe mit Nitroprussidnatrium auf Aceton unter- 
suchte und statt der normalerweise nach Essigsäurezusatz auftretenden 
raschen Vergilbung des roten Farbtones ein allmähliches Auftreten 
einer intensiven Blaufärbung beobachtete. 

Endlich sei noch Colasantis?®) Nachweis erwähnt, womit man bei 
Zusatz von Kupfersulfat eine Grünfärbung erhält. 

An quantitativen Bestimmungsmethoden des Rhodankaliums sind eine 
ganze Reihe ausgearbeitet und diese wieder mannigfach modifiziert 
worden. Da jedoch die meisten eine ziemlich umfängliche Apparatur 
und lange Zeit beanspruchen, und ich zudem, wie ich schon anfangs 
sagte, meine Untersuchungen absichtlich mit den denkbar einfachsten 
Mitteln anstellte, wie man sie auch jederzeit in der Praxis benutzen kann, 
so begnüge ich mich, einige Methoden ihrem Entdecker nach aufzu- 
zählen. 

Colorimetrische Bestimmungen sind u. a. von Bruylant®), Colasantiö®), 
Autenrieth-Funk°!) und Oehl’?) ausgearbeitet worden. Gewichtsanalytisch 
arbeiteten z. B. Jacubowitsch?®) und Munk?®). Eine jodometrische Me- 
thode ist die von Rupp-Thiel®*). 

Wenden wir unser Augenmerk jedoch lieber auf praktischere und 
schlichte Bestimmungsmöglichkeiten für das Rhodankalium. 

Die einfachste und dabei noch recht brauchbare Methode, wie sie z. B. 
auch Fr. Peter’) verwendete, ist die quantitative Bestimmung mit 
Vergleichslösungen, die man sowohl unter Zuhilfenahme des Reagenz- 
glases, als auch mittelst Filtrierpapier benutzen kann, vorausgesetzt, 
daß man hierbei die peinlichste Sauberkeit und Genauigkeit bewahrt. 

Man stellt sich also aus einer Rhodankaliumlösung bekannter Kon- 
zentration in gleichweiten Reagenzgläsern von gleichem Glas eine Serie 
Verdünnungen her, die sich etwa von 0,5°/,, bis auf 0,005°% 90 herab 
erstrecken. Dann versetzt man diese Lösungen gleichmäßig mit HCl 
und Eisenchlorid, und bewahrt sich diese genau bezeichneten Röhrchen 
ratsam möglichst an seiner dunkten Stelle auf, obwohl auch bei Licht 
die Farbbeständigkeit eine große ist (so fand ich noch nach 3—4 Wochen 
die Farben vollkommen erhalten !). 

In der gleichen Weise kann man in jede Verdünnung einen Streifen 
Filtrierpapier tauchen, trocknen lassen und sich diese dann in Form 
einer Farbenskala aufkleben. Doch ist letztere Methode, wenigstens 
aus eigener Erfahrung, weit weniger genau, als die mit dem Vergleich 
in Reagenzgläsern. Ist man im Besitze eines guten Farbgedächtnisses 
und hat sich einige Übung angeeignet, so wird man schließlich schon 
nach verhältnismäßig kurzer Zeit eine brauchbare Fertigkeit im Be- 
stimmen des annähernden Rhodangehaltes gewinnen, ohne eine Ver- 

gleichsfärbung an der Hand zu haben. 


552 F. Lickint: 


Übrigens habe ich auch die von O. Adler?®) angegebene qualitative 
Methode mit der Legalschen Probe für quantitative Untersuchungen 
mit Hilfe von Standartlösungen zu benützen versucht, wobei die Kon- 
zentration von 10—1%, einen blauen Farbton, eine Lösung von 1%/,, 
einen violetten, eine solche von 0,1°/,, und darunter dann ein grauröt- 
liches mißfarbenes Kolorit ergab. Praktisch verwenden konnte ich diese 
Methode jedoch nicht, da die Farbunterschiede vor allem bei den unteren 
Konzentrationswerten, die ja für diese Untersuchungen nur in Frage 
kommen, so gut wie nicht auseinanderzuhalten waren. 

Endlich prüfte ich auch die Colasantische°®) qualitative Methode 
mit Kupfersulfat auf die evtl. Verwendbarbeit für qualitative colori- 
metrische Untersuchungen. Aber auch hier ergab sich derselbe Nachteil, 
wie bei der vorhergehenden Methode: in der vor allem in Betracht 
kommenden Konzentrationsbreite (0,5%/9—0,005°/,,) waren die Farb- 
unterschiede, soweit man bei der geringen Verfärbung der erhaltenen 
Reaktion bei den niedrigsten Werten überhaupt von ‚Farbe‘ sprechen 
kann, so gut wie gar nicht von einander trennbar. 10% Rhodanlösung 
ergab eine mißfarbene olivgrüne Reaktion, 1% eine hellgrüne opake, 
10/,, eine wäßrige smaragdgrüne Färbung, 0,1% und darunter befind- 
liche Lösung ein gleichmäßiges, fast wasserklares nur ganz gering ins 
Blaue schimmerndes Kolorit. 

Bei meinen eigenen Untersuchungen, von denen nunmehr die Rede 
sein soll, habe ich die alte Eisenchloridreaktion verwendet, wie ich sie 
zuvor aufgeführt hatte. 

Im allgemeinen ließ ich die Person, deren Speichel ich prüfen wollte, 
nur einmal, höchstens zweimal das Sputum auswerfen, das die Be- 
treffenden gerade im Munde hatten, um zu vermeiden, einen Speichel 
zu erhalten, dessen Rhodangehalt geringer ist als der normale. Denn, 
läßt man nämlich jemand (am deutlichsten ist es bei Rauchern mit 
hohem Rhodangehalt zu sehen) mehrere Male so schnell wie möglich 
hintereinander speicheln, so nimmt der Gehalt an der Schwefelcyan- 
verbindung in den einzelnen Sputen nicht unerheblich ab, um sich erst 
nach einiger Zeit der Ruhe wieder auf den ursprünglichen normalen Wert 
einzustellen. Ich glaube sicher, daß ein Teil der Differenzen der in der 
Tab. V aufgeführten quantitativen Werte mit auf die Nichtbeachtung 
dieser Tatsache zurückzuführen ist. Daher ist es also ratsam, sich mit 
etwa l ccm Sputum zu begnügen. Nicht irreführen lassen darf man 
sich durch Dunklerwerden des Speicheleisenchloridsalzsäuregemisches 
beim evtl. Erhitzen, da dies mit dem evtl. Rhodangehalt garnichts zu 
tun hat, sondern nur am Eisenchlorid liegt. 

Weiter ist streng darauf zu achten, daß der Betreffende 1 Stunde 
vorher nichts gegessen hat. Denn erstens sinkt kurz nach dem Essen 
der Rhodangehalt des Speichels wohl als eineArt Erschöpfungserscheinung 














Über den Rhodangehalt des Speichels. 553 


ab, um aber einige Zeit später (etwa nach !/, Stunde) im Gegenteil über 
die Norm anzusteigen, vielleicht infolge erhöhten Eiweißzerfalls, 

In der gleichen Weise wird er für kurze Zeit (etwa 15 Minuten, bis- 
weilen auch länger) durch Mundspülen oder auch schon durch Wasser- 
trinken herabgesetzt. Länger kann die Herabminderung dauern bei 
Spülen des Mundes mit Wasserstoffsuperoxyd, wobei der Rhodangehalt 
sogar. vorübergehend vollkommen aufgehoben wird. Die Ursache hier- 
für liegt wohl darin begründet, daß durch H,O, [nach Raudnitz5%)], 
wie überhaupt durch Superoxydasen das Rhodankalium usw. extra 
 corpus unter Blausäurebildung zersetzt wird. 

Andere Fehlerquellen werden z. B. durch stärkere körperliche Be- 
tätigung bedingt, wodurch nach H. Mayer!) eine Vermehrung der 
Schwefeleyanverbindungen eintritt. Im Gegensatz dazu kann durch 
Schwitzen eine Verminderung der Rhodanbildung vorgetäuscht werden, 
da hierbei nicht unbeträchtliche Mengen im Schweiße auESsspluenen 
werden. 

Die Mitteilung M. Schiffs?”), daß bei längerem Stehen des Speichels 
die Rhodanmenge durch Zersetzungsvorgänge steige, hatten schon 
Grober?®) und Krüger*?) widerlegt. Auch aus eigenen entsprechenden 
Nachprüfungen im Reagensglas konnte ich die Unhaltbarkeit M. Schiffs”) 
Behauptung von neuem bestätigen, wenn mir auch anfangs eine eigen- 
artige Tatsache dafür zu sprechen schien. Untersuchte ich nämlich 
morgens sofort beim Erwachen den ersten Speichel eines Nichtrauchers, 
so fand sich regelmäßig ein erstaunlich hoher Rhodangehalt (bis 0,10/,, 
gegen 0,01 —0,02°/,, normal). Dies konnte also tatsächlich durch eine 
allmähliche Zersetzung des Speichels im Munde während des stunden- 
langen Schlafes hervorgerufen sein, da man bekanntlich hierbei nicht 
oder wenigstens nur ganz selten schluckt. Auffallenderweise hält aber 
dieser hohe Gehalt noch eine ziemlich lange Zeit trotz forcierter Aus- 
scheidung des Morgenspeichels an, und selbst, wenn man den Mund 
kräftig ausspült, erscheint einige Zeit später noch weiter hoher rhodan- 
haltiger Speichel, um erst etwa 5—10 Minuten nach Erwachen in 
den normalen, im allgemeinen sogar unterwertigen Speichel über- 
zugehen. 

Nach meiner Ansicht. spricht die Tatsache des Vorhandenseins höher- 
prozentigen Speichels auch noch nach dem Mundspülen dafür, daß auch 
in den Speicheldrüsen selbst über Nacht eine Anspeicherung von aus- 
scheidungsfähigem Rhodan stattfindet, und daß also nicht etwa nur eine 
Zersetzung des jeweils in den Mund geflossenen wenigen Nachtspeichels 
die Ursache der hohen Rhodanwerte ist. 

Extra corpus in vitro blieb der Schwefelzyangehalt auch nach 
stundenlangem Stehen sowohl bei Zimmertemperatur als auch im Brut- 
schrank der gleiche. 


554 F. Lickint: 


° Im übrigen kann die schon erwähnte Speicherung des Rhodans als 
Beweis dafür dienen, daß auch im Schlafe der Eiweiß-Blausäure- 
Kaliumthiozyanatstoffwechsel vor sich geht. 

Während z. B. Lehmann??), Vellain®°), Gerard®!), Grober?®) u. a. bei 
artifizieller Salivation vielleicht als Verdünnungserscheinung eine relative 
Verminderung oder sogar Fehlen des Rhodans feststellten, fand ich 
einige Male interessanterweise ebenfalls auffallend geringe Werte gerade 
bei dem gegenteiligen Befund, wenn nämlich Patienten nur unter 
größter Mühe und ganz wenig Speichel produzieren konnten. Vielleicht 
kann man sich dieses Phänomen mit einer gewissen Unterfunktion der 
Speicheldrüsen erklären, die sich auch auf die evtl. Rhodanbildung 
in den Drüsen beziehentlich auf das Rhodanausscheidungsvermögen 
erstreckt. 

Wenn die normale endogene Rhodanbildung an den Zerfall von 
Eiweiß und die dabei stattfindende Abspaltung von HCN gebunden 
sein soll, so mußte theoretisch die Ausscheidung des Rhodans steigen, 
wenn dem Organismus parenteral Eiweiß zugeführt wird, und zwar 
einesteils zum geringeren Teile durch Zerfall des injizierten Eiweißes 
und anderenteils zum weitaus größeren Teil durch den bekanntlich auf 
Proteinkörpertherapie erhöhten Stoffwechsel. In der Tat bestätigte 
sich diese Annahme bei Kontrolle des Speichels vor und mehrere Male 
nach Proteinkörperinjektionen, wie Novoprotin und Milch (z. B. von 
0,01°/,, auf 0,02—0,06°/o0)- 

Bezüglich des evtl. Einflusses des erhöhten Abbaues endogenen 
Proteins beim Weibe während der Menses, der Gravidität und dem Puer- 
perium habe ich in der Literatur nur die beiläufige Mitteilung von 
Ü. Mense”?) auffinden können, daß er unter diesen Umständen keinerlei 
Einwirkung auf den Rhodangehalt des Speichels gefunden habe. 
Ganz anders fielen von mir systematisch angestellte Versuche aus. 

In den Tagen der Menstruation fand ich in den meisten Fällen An- 
stiege auf Werte des Speichelrhodans, wie man sie fast nur bei starken 
Rauchern beobachten kann. So waren Gehalte von 0,1°/,, intra menses 
gegen 0,01 normal nichts Seltenes. Diese höheren Werte beginnen meist 
schon am 1. Tage der Periode und finden sich auch 1—2 Tage nach dem 
Abklingen der Menstruation. 

Daß eine Nichtbeachtung dieser Erscheinung zu schweren Irr- 
tümern bei Rhodanbestimmungen führen kann und sicher auch schen 
geführt hat, da ich bisher außer der negativen Angabe ©. Menses noch 
keinerlei Hinweis auf diese Tatsache in der Literatur finden konnte, 
liegt außerordentlich nahe. 

Darauf stellte ich noch eine größere Anzahl Speicheluntersuchungen 
bei Schwangeren (im 9. bis 10. Monat) und Wöchnerinnen an. In Analogie 
mit den bisherigen theoretischen Erörterungen und praktischen Er- 


Über den Rhodangehalt des Speichels. 555 


fahrungen über die Abhängigkeit der Rhodanbildung vom Grade des 
endogenen Eiweißzerfalles mußte ich erwarten, daß sich z. B. durch 
die fortwährende Verschleppung von ‚‚synzytialen Weanderzellen“ 
(Pels-Leusden) in den mütterlichen Kreislauf, und durch die bedingten 
erhöhten Stoffwechselvorgänge in einem derartigen Organismus über- 
haupt, auch hier im Speichel mehr Rhodan als sonst finden würde. 

In der Tat fand ich nun bei Graviden zu 60—70%, und bes Wöch- 
nerinnen zu etwa 80% stark erhöhten Rhodangehalt (bis 0,15%/,9)- 
Interessant war mir, daß selbst bei Individuen mit stark ausgeprägter 
Salivatio der Gehalt häufig ein auffallend hoher war, obwohl man hätte 
einen: relativ niedrigen Gehalt erwarten können. Warum die Erhöhung 
- des Schwefeleyangehaltes nicht in 100%, der Fälle vorhanden war, kann 
ich mir zur Zeit nicht erklären. 

Weiter sei zur Frage des Stoffwechsels noch folgendes angeführt: 

Man könnte annehmen, daß der Grad der Entgiftung zugeführter 
oder endogen entstehender HCN in gewissem Sinne von der Menge 
des disponibeln Schwefels im Körper abhängig sei, so daß auf paren- 
teral zugeführten Schwefel die Rhodanbildung gefördert und damit die 
Rhodanausscheidung gesteigert würde. 

Diese Annahme fand ich bei mehreren Schwefelinjektionen (bis 
5 cem 1%, Schwefel) nicht bestätigt, d. h. die Ausscheidung stieg weder, 
wenn allgemein- und Herdreaktion fehlten, noch wenn sie in stärkstem 
Maße vorhanden waren, höher als sie, wie schon früher erwähnt, auf 
einfache Proteinkörperinjektionen anstieg. Damit soll jedoch keines- 
falls ausgeschlossen sein, daß vielleicht auf Zuführung von Schwefel 
in irgendeiner anderen Verbindung (z. B. Thiosulfat) ein Ansteigen ein- 
treten könnte. 

Übrigens sei in diesem Zusammenhange noch erwähnt, daß die mehr- 
fach beobachtete Verminderung des Rhodans im Speichel auf Hg- 
Injektionen usw. nach v. Noorden®?) evtl. dadurch zu erklären ist, daß 
es sich dabei nur um Täuschung durch Bildung von unlöslichem Rhodan- 
quecksilber handelt. 

Endlich möchte ich zur Frage der Stoffwechselanomalien noch hinzu- 
fügen, daß ich bei 2 Basedow-Kranken (Frauen), wohl als Ausdruck 
der erhöhten Verbrennungsvorgänge im Organismus, beide Male das 
Rhodan vermehrt fand (0,04 bzw. 0,05°/,,, während ich bei 7 .Diabetes- 
Kranken keinerlei Abweichung feststellen konnte. 

Nunmehr komme ich zu einer größeren Reihe systematischer Unter- 
suchungen des Rhodangehaltes im Speichel, bei denen alle im Vorbei- 
gehenden aufgeführten evtl. irreführenden Erscheinungen streng ge- 
mieden und dafür genau das evtl. Rauchquantum der Untersuchten 
notiert wurde. Eine Wiedergabe sämtlicher Speichelprüfungen würde | 
natürlich hierbei zu weit führen und zu großen Raum beanspruchen. 

Z. f. klin. Medizin. Bd. 100. 36 


556 F. Lickint: 


Ich beschränke mich daher nur auf das Aufführen einiger Sammel- 
ergebnisse. 

Ganz zwanglos ergab sich bei diesen Feststellungen von Rhodan- 
werten die Einteilung der Untersuchten in ihre Stellung zum Tabak- 
konsum, die sich am besten etwa in folgender Skala ausdrücken läßt: 


Tabelle IV. 
1. Nichtraucher, die auch passiv*) Tabakrauch 
katım einatmeten® era. 20 RU 0,005—0,020%/ yo 
II. Nichtraucher, die passiv Tabakrauch mäßig ein- 
Atıneterig. se: SE RR TEE 0,01 —0,03%/go 
III. Nichtraucher, die passiv Tabakrauch oft ein- 
atmeten (mn En EIER, BR 0,03 —0,1%/o0 
IV. Gelegenheitsraucher, je nach dem letzten Rauch- | 
datum Hase 0,03 —0,1%/g0 
V. Mäßige Gewohnheitsraucher . ...... 0,08 —0,2°%/ 0 
VI. Starke Gewohnheitsraucher. . . ..... 0,2 —0,4°/ 40, evtl. mehr. 


Zur eben angeführten Tabelle möchte ich noch einige Bemerkungen 
anfügen: 

1. Es liegt in der Natur der Sache begründet, daß es zwischen den 
einzelnen Gruppen die mannigfachsten Übergänge geben kann. Es wird 
also sehr wohl einmal ein starker Gewohnheitsraucher, der gerade 
mehrere Tage einmal aus äußeren Gründen mit Rauchen ausgesetzt 
hat, einen geringeren Wert ergeben als ein Nichtraucher, der gerade am 
Abend zuvor viele Stunden gezwungen war, in einem kleinen Raume 
den dicksten Tabaksqualm passiv einzuatmen. Im allgemeinen konnte 
ich feststellen, daß das im Organismus gebildete Rhodankalium bei 
weitem nicht so schnell ausgeschieden wird wie z. B. das Nicotin, das 
nach den Untersuchungen von P. Noether®?) schon am nächsten Morgen 
vollkommen ausgeschieden sein soll. Ich fand den Rhodangehalt bei 
Rauchern, wenn auch nicht mehr in den ursprünglichen Quantitäten, 
so aber doch immer noch deutlich erhöht, in zwei, ja bisweilen noch 
sogar in 4 Tagen nach dem Aussetzen. 

2. Die Art des Rauchens ist natürlich ebenfalls von großem Einfluß, 
je nachdem, ob der zu Untersuchende gewöhnt ist, im Freien oder in 
geschlossenen Räumen zu rauchen, oder ob er den Rauch nur bis in 
die Mundhöhle oder energisch bis in die Lunge einzieht. Die Verminde- 
rung der Blausäurebildung bei langsamem Durchstreichen der Luft 
durch die Zigarre usw. hatte ich schon an anderer Stelle erwähnt. 

3. Daß auch der Tabak selbst einen gewissen Einfluß auf die HCN- 
und Rhodanbildung und damit auch auf das entsprechende Inhalations- 

*) Als passive Raucher sind alle die zu bezeichnen, die aus beruflichen oder 
gesellschaftlichen Gründen gezwungen sind, je nach den einzelnen Umständen 


(Größe des Arbeitsraumes, Zahl der darin beschäftigten rauchenden Personen usw.) 
mehr oder weniger viel Tabakrauch einzuatmen, ohne selbst zu rauchen. 





Über den Rhodangehalt des Speichels. 557 


quantum ausübt, hatten wir gleichfalls schon früher in den Bemerkungen 
zur Tabakchemie gesehen. Hierzu sei aber noch bemerkt, daß Haber- 
manns??) Angabe, daß sich im Rauch von Pfeifentabak keine Blausäure 
finde, sicher nicht zutrifft, denn ich habe auch bei solchen Pfeifenrau- 
chern, die tatsächlich auch nur Pfeifentabak stopften, immer reichlich 
starke Rhodanreaktion im Speichel gefunden. 

Überhaupt habe ich keinerlei eindeutigen Unterschied zwischen 
Pfeifen-, Zigarren- und Zigarettenrauchern finden können, soweit die 
Schwefeleyanbildung in Frage kommt. | 

4. Endlich soll noch darauf hingewiesen sein, daß vielleicht auch 
‚ eine gewisse individuelle Verschiedenheit bezüglich des Entgiftungs- 
vermögens von Blausäure eine Rolle spielen mag. Wenigstens konnte 
ich mir einen Fall nur auf diese Weise erklären. Der Betreffende gehörte 
nach seinem Rauchquantum zum mindesten unter die Gruppe 5 der 
Tab. IV und hatte doch, so oftich auch seinen Speichel untersuchte, immer 
nur Werte um 0,01—0,02 herum. Es war auch ausgeschlossen, daß er 
etwa nur eine Sorte, gewissermaßen ‚„blausäurefreien‘‘ Tabak rauchte, 
da er dieselbe Erscheinung auch auf die verschiedensten Tabake hin 
zeigte. 

Zum Vergleiche für die Werte, die ich für den Rhodangehalt des 
Speichels gefunden habe, möchte ich noch eine aus mir zugänglich ge- 
wesenen Literaturangaben zusammengestellte Tabelle aufführen, aus 
der auch die nicht unerheblichen Differenzen in den Resultaten ein- 
zelner Forscher hervorgehen sollen, die sich teils vielleicht aus der ver- 
schiedenen Untersuchungsmethodik, zum anderen nicht geringen Teil 
wahrscheinlich aber durch Nichtberücksichtigung von irreführenden 
Tatsachen, wie ich sie früher erwähnte, erklären mögen (s. Tab. V). 

Bei Betrachtung der nachstehenden Zusammenstellung fällt vielleicht 
am deutlichsten auf, daß meine Werte für Nichtraucher I, die auch 
kaum passiv rauchten, recht gut mit den Werten Krügers*?) überein- 
stimmen, die dieser für Knaben und Mädchen angibt. Seine Nicht- 
raucherkategorie gleicht in ihrem Rhodangehalt mehr meinen Nicht- 
rauchern II und III, die entweder mäßig oder oft passiv rauchten. 
Wahrscheinlich hat er die von mir gemachte Trennung nicht beachtet 
und (deshalb etwas höhere Werte für seinen Nichtraucherdurchschnitt 
erhalten. 

Nur einen Hinweis auf eine praktische Verwendung des Rhodan- 
nachweises bei Rauchern für den Arzt möchte ich nicht unterlassen. 
Mit Hilfe dieser Reaktion ist es nämlich für ihn ein leichtes, einen Pa- 
tienten, den er unter strenges Rauchverbot gestellt hat, auf die Be- 
folgung dieses Interdiets zu prüfen, vorausgesetzt, daß der Betreffende 
nicht durch Beruf oder gesellschaftliche Verpflichtungen zum passiven 
Einatmen von Tabakrauch gezwungen ist. 

36* 


558 F. Lickint: 


Tabelle V. Schematische Zusammenstellung über den gefundenen quantitativen Rhodan- 
gehalt im Speichel nach Angaben verschiedener Autoren. 























Autoren KCNS in °g Bemerkungen ee 
Autenrieth-Funk?!) . . . 0,046—0,18 — 2 
Bruksch-Schittenhelm®”) . || 0,05—0,1 — ? 
Brüylian) AFSEEETENEN 0,062 . ? 
Frank?) ne 0,167 - 1 
French) ya 0,1 Bei gesunden 

| männl. Indiv. 4 
Grober ii) aan tr Spuren bis 0,2 |erwachs. kranke | Nichtraucher 
Indiv. 
Hammerbacher®) . . . - 0,041 2 ? 
Jacubountsch) EL TERFe: 0,0621 — ? 
Keller®®), Pribram®?) usw. | 0 Bei Säuglingen in | Nichtraucher 
den erst. Mon. 
KPUger) ERSRE TUR BIN 0,072 — Mittel von 20 
Rauchern u. 
Nichtrauchern 
Krüger s.a0. 2. ces 0,117 — Raucher 
PUT ST er 0,041 _ Nichtraucher 
ATUGEL Unter 0,01 Knaben u. Mädch. | Nichtraucher 
Mitscherlich?) 9.222... 110,3 I. Parotisspeichel ? 
Munk) iii 0,167 _ Raucher 
Veh) m 1 re En 0,3 I. menschl. Paro- ? 
tisspeichel 
(Chlor) ar Sr er Er 0,036 I. menschl. Sub- ? 
maxillarspeich. 
Peier >?) mE EERER ME 0,02—0,1 Frauen, luetisch ? 
affiziert 
Peler>) ge rer 2 0,02—0,2 Männer, luetisch ? 
affiziert 
UTERSCOL CO) ee ne ee: 0,1 — ? 
NRerDraN EEE URRERN 0,098—0,239 — ? 





Anschließen möchte ich hier noch einige Beobachtungen über die 
Schwankungen des Rhodangehaltes im Verlaufe des Tages, die uns 
nahelegen sollen, zur Vermeidung von Irreführungen bei evtl. Unter- 
suchungen an verschiedenen Personen immer und bei allen ea 
die gleiche Tagesstunde zu wählen. 

Nachdem der außerordentlich stark rhodanhaltige Nachtspeichel 
(s. vorn!) kurze Zeit nach dem Erwachen ausgeschieden bzw. verschluckt 
ist, stellt sich der Rhodanwert im allgemeinen auf das Minimum des 
Tages ein (abgesehen von rasch vorübergehenden ganz niedrigen Werten 
kurz nach einer Mahlzeit oder einem Trunk) und steigt dann fast un- 
merklich bis zum Abend bisweilen fast um das Doppelte an. Am besten 
kann man diese Tatsache feststellen, wenn man halbstündlich unter- 
sucht und dann so eine ganze Versuchsreihe von etwa 30 Proben neben- 





Über den Rhodangehalt des Speichels. 559 


Tabelle VI. Zusammenfassende Tabelle über Vermehrung und Verminderung des Rhodan- 
gehaltes im Speichel und Urin. 






































Bei | im Rhodangehalt | Autoren 
— 
ueline: In). Speichel fehlt Keller®®), Pribram®°), 
v. Rittershain”?). 
Knaben u. Mädchen . Speichel vermindert A. Krüger*?), C©. Mense”®). 
NE a ei Harn 'weniger als bei 4! | A. Mayer!®), C. Mense”®). 
Hund, Pferd, Rind ı Grober°®), Ellenbergeru. Hof- 
Katze etc. : ! Speichel fehlt | a a 
Reptilien . . . . . | Speichel ete: fehlt zit. n. Kobert!?) (da diese 
Adenin unzersetzt aus- 
scheiden). 
Harn vermindert 4A. Mayer). 
RER \ Speichel vermehrt Lickint (kurz.n. d. Erwach.). 
= Nachmittag... . Harn . vermehrt @scheidlen"*), A. Mayer !®). 
eähenguene se = Speichel vermehrt Lickint. 
nachts (währ. Schlaf) Speichel stark vermehrt Lickint. 
Speichel vermindert E. Vellain®®) (1/, Stunde 
nach Hauptmahlzeit | später vermehrt, Lickint). 
Harn vermehrt 4. Mayer'!®). 
ee unbeeinflußt Sazı??), 
a Sp eich., Harn | vermehrt BE 22), 
‚ Nitrilverabreichung. . |Speich., Harn vermehrt zit. .v. Sullivan- Dawson ?*). 
Rhodanzufuhr . . . Speich., Harn vermehrt O. Adler?), A. Edinger?), 


Diena”®), A. Mayer!*®), 
Saxl®) u. a. 
Blausäure, Bitter- - | Grober®®), Jürgens’), 
mandel-Tropfen . Speichel vermehrt Fr. .B. Pollack#) u. a. 
Speichel vermehrt Cl. Bernard®), F. Krüger*?), 
Pick“), A. Mayer 1%), Jür- 











gens®!), ©. Schneider”?®), 
Ö. Mense”?), Metzner®?), 
Rauchern . ART, 
Urin vermehrt @scheidlen !*), A. Mayer!) 
(bestritten v. Hoppe- 
Seyler und Grober 8). 
Atropinvergiftung . . Speichel | vermindert zit. n. A. Oswald”®). 
en ee N RR SIE A rer EN 
dünnflüssigem Speichel | Speichel vermindert Longet”). 
langer Dauer d. Absond. Speichel vermindert Grober®®), Lickint. 
SA ee Speichel rel. vermind. o. fehlt | Lehmann), Villain ®°), 


Gerard®!), Grober 5?) 
Gorup-Bessanez””). 





spärlich. Absonderung Speichel bisw. vermindert | Lickint. 
Zersetzung d. Speichels Speichel vermehrt M. Schiff’) (bestritten v. 
Grober°®), Krüger *”), 
Lickint). 
Bowamar rn. ,,. Harn absol. vermehrt A. Mayer'®). 
een... Harn vermehrt A. Mayer!*). 
Schwitzen . Harn vermindert A. Mayer). 





560 


F. Lickint: 


Tabelle VI. Zusammenfassende Tabelle über Vermehrung und Verminderung des Rhodan- 
gehaltes im Speichel und Urin. (Fortsetzung. 


























Bei im Rhodangehalt Autoren 
® 
körperl. Bewegung. Harn vermehrt A. Mayer !®). 
Hungern Harn vermindert od. fehlt | Saxl?), v. Noorden®?). 
Kachexie . A Speichel vermindert Grober °®). 
dauernd schw. Affiziert. Speichel vermindert Grober®®). 
unbeeinflußt Peter5), J. Schmidt”®), 
a A. Angerer®®). 
Syphilis apachel vermindert M. Joseph®!), Ascher°?), 
Metzner®?), Grober°®). 
n. Hg-Behandlung . Speichel vermindert J. Schmidt”?), A. Mayer 1°), 
CO. Mense'®),v. Noorden®?). 
Phthisis Speichel vermindert Grober5), BR. Eiselt®t), 
A. Mayer!®) (bestritten 
v. Zickgraf?°). 
chron. Gelenkrheum. . Speichel vermindert Levy®®). 
Nephritis Speichel vermindert od. fehlt | v. Noorden°?), M. Dapper®"). 
chron. Nephritis . : Speichel vermindert R. Eiselt®*). 
schw. eitr. Otit. med. Speichel bisw. fehlend @. Alexander®®), Jürgens”) 
(bestritten v. Spira®®). 
Ozaena . Nasensekret fehlt Muck’). 
vermehrt Spira®°), Cl. Bernard?). 
a 86 
Zahncaries. Speichel en, WR, 
ÜC. Mense, Lickint). 
Gicht Speichel | vermindert od. fehlt, Hausmann‘), Edinger??), 
(bestritten von Levy®®), 
v. Noorden®?), ©. Mense”®°). 
unbeeinflußt C. Mense”?), Lickint. 
Diabetes Speichel | hier v. Noorden®). 
Basedow Speichel vermehrt Lickint. 
Pellagra-Genesung . Speich., Harn vermehrt Sullivan- Dawson **). 
Aphthae tropicae Speichel fehlt zit. v. C. Mense”®), van 
| Haeften®®). 
ar: | Speichel vermindert Grober®®. 
Harn vermehrt Saxl®); 
überstandenem Mumps Speichel unbeeinflußt O. Mense??). 
(Grlossitis marginata 
dissecans A Speichel fehlt ©. Mense?®). 
perniziöser Anämie Speiehel vermehrt R. Eiseli®*). 
Erkr. d. blutbild. Org. Speichel vermindert Grober ®). 
Lebereirrh. m. Ascites 
u. Anasarka A Speichel vermindert R. Eiselt®*). 
Lebercirrh. m. Ikt. u. 
Tum. d. Duct. choled. Speichel beträchtl. vermehrt | R. Eiselt®*). 
Menstruation . Speichel meist vermehrt Lickint. 
Gravidität . Speichel meist vermehrt Lickint. 
Puerperium Speichel meist vermehrt Lickint. 











Lo 2 nn m ran nenne Ten na ee EEE 


Über den Rhodangehalt des Speichels. | 561 


einander vergleichen kann. Unterbrochen wird diese ziemlich gradlinig 
ansteigende Kurve nur durch die vorübergehenden Ab- und Anstiege 
nach jeder Mahlzeit, wohl bedingt durch Verdauungsvorgänge, um sich 
etwa nach 1 Stunde wieder auf den Normalkurvenwert einzustellen. 
Genau kann man natürlich derartige Kurven nur bei ganz zuverlässigen 
Nichtrauchern aufstellen, vorausgesetzt außerdem, daß sie tagsüber 
keine besondere körperliche Leistung zu vollbringen haben. 
Als Beitrag zur Frage der eben berührten NSEPDEMARNLDE mag noch 
folgende Beobachtung dienen: 
Im Verlaufe zahlreicher Untersuchungen über den N Einfluß des 


. Rauchens auf die Eiweißverdauung, fand ich unter anderem auch, daß der 


Speichel von Personen, die am Untersuchungstage noch nicht, am Vor- 
tage dagegen stark geraucht hatten, auf die Eiweißverdauung mit 
natürlichem Magensaft in vitro auffallend stärker hemmend einwirkte 
als normaler Speichel, wenn auch nicht so stark wie der Speichel von 
Personen, die diesen noch während des Rauchens ausgeworfen hatten. 
In letzterem Falle konnte ich die hemmende Wirkung in Analogie mit 
anderen Untersuchungsergebnissen und einigen Feststellungen anderer 
Autoren, die sich gleichfalls mit dieser Frage beschäftigt haben, dem 
während des Rauchens im Speichel zurückgehaltenen Nicotin zuschreiben. 
Nicht aber im ersteren Falle, da hier Nicotin nicht mehr vorhanden ist. 
Durch Zufall stieß ich auf die Angaben von E. Cavazzani und @. Ave”), 
wonach bei Zusatz von Rhodanammonium in Konzentration von 0,1 bis 
0,4°/,, zur Pepsinlösung jedesmal eine hemmende Wirkung auf die 
Fibrinverdauung eintrat. Auf diese Weise fand ich also eine Aufklärung 
für die Ursache.der hemmenden Wirkung, die ich mit zum Magensaft 
zugesetzten stark rhodanhaltigen Speichel erzielt hatte und zugleich 
eine Bestätigung der Feststellungen von Cavazzani und Avite®). In 
höheren Konzentrationen, als sie für unsere Betrachtungen in Frage 
kommen, sollen Rhodanate nach E. Meusel?®) eine Quellung des Eiweißes 
hervorrufen. 

Als Abschluß aller dieser Betrachtungen möchte ich nun nur noch 
eine möglichst umfassende Aufstellung darüber mitteilen, wie weit es 
bisher gelungen ist, bestimmte Stoffwechselanomalien, verschiedene 
Krankheiten und einige einfache Lebensvorgänge in bezug auf ihren 
Einfluß auf den Eiweiß-Blausäure-Rhodanstoffwechsel festzulegen. 
(Siehe Tabelle VI.) | 

So, wie das normale Vorkommen des Rhodans gebunden zu sein 
scheint an die Spaltung endogenen Eiweißes und mit dem Grade dieses 
Vorganges anscheinend steigt und fällt, so erstreckt sich wohl auch das 
gleiche Phänomen auf eine größere Anzahl pathologischer Prozesse. 


562 F. Lickint: 


Literatur. 


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A uf _ 


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En el 


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Über den Rhodangehalt des Speichels. 563 


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(Aus der II. Medizinischen Klinik in Wien [Vorstand: Prof. Dr. Norbert Ortner].) 


Menstruation und peripheres Blutbild. 


Von 
G. Holler, H. Melicher, N. Reiter. 


(Eingegangen am 3. März 1923.) 


Vorliegende Arbeit, die sich mit dem Wechsel des peripheren Blut- 
bildes während des menstruellen Zyklus befaßt, will vor allem Be- 
ziehungen aufdecken, die diesen von uns festgestellten Blutbildern durch 
innersekretorische Funktionsänderungen der Genitalorgane und nach- 
folgende Einwirkung auf das hämatopoetische System zugrunde liegen. 
Dabei soll gleich vorweggenommen werden; daß die nebenbei entwickel- 
ten Überlegungen, fußend gleichzeitig auf theoretischen Vorstudien 
über die histologischen und funktionellen Veränderungen des Ovariums 
und des Uterus während ihrer Zyklen, über den Rahmen gut fundierter 
Hypothesen vielfach nicht hinausgehen. Zum anderen Teil werden sie 
ihre Bestätigung in den hämatologischen Untersuchungsergebnissen 
selbst finden. 

Was die bisherigen Untersuchungen auf diesem Gebiete ergaben, 
soll kurz angeführt werden. 

Hayem und Reinl fanden die Erythrocyten intramenstruell vermin- 
dert, postmenstruell ansteigend. Reinert und Sfameni konnten ein 
prämenstruelles Steigen derselben und intramenstruelles Sinken fest- 
stellen, auch Blumenthal, Krutschenkoff bestätigen das intramenstruelle 
Sinken der Erythrocyten. Merleiti hingegen bemerkte ein Sinken der 
Roten im Praemenstruum und ein Steigen während der Menstruation. 
Pölzl fand ein Ansteigen der Erythrocytenkurve 2—9 Tage vor Beginn 
der Menstruation und ein Absinken derselben am ersten Blutungstag 
oder kurz vorher. 

Die Mehrzahl der Autoren konnte also eine intramenstruelle Oligo- 
cythämie, der im Praemenstruum ein Steigen vorangehen kann, fest- 
stellen. 

Der Hämoglobingehalt zeigt nach Pölzl Schwankungen, die mit den 
Roten nicht parallel gehen. Poggi fand ein Sinken der Hämoglobin- 
werte im Praemenstruum, die sich intramenstruell wieder auf die ur- 


G. Holler, H. Melicher, N. Reiter: Menstruation und peripheres Blutbild. 565 


sprüngliche Höhe einstellen. Er glaubt daher, daß sich allmonatlich 
unter menstruellem Einfluß eine leichte Anämie — also Chloranämie — 
entwickle, die ihren Grund nicht in der Blutung haben kann, da sie vor 
derselben eintritt. 

Über das Verhalten der weißen Blutzellen während des menstruellen 
Zyklus differieren die einzelnen Ergebnisse. Hayem, Reinert, Sfameni, 
Horvath fanden intramenstruell eine Vermehrung der Leukocyten. Auch 
Gumprich bestätigt die menstruelle Leukocytose. Da jedoch dieser Autor 
intermenstruell genau so hohe Werte fand und außerdem intramenstruell 
in einigen Fällen sogar eine Verminderung der Leukocyten feststellen 
konnte, so scheint ihm ein Zusammenhang zwischen Leukocytenver- 
mehrung und Blutung zweifelhaft zu sein. Kjer- Petersen hingegen konnte 
ein Steigen der Leukocyten im Praemenstruum und ein Sinken derselben 
‘ während der Blutung nachweisen, ebenso stellte Blumenthal ein Sinken 
intramenstruell fest. Auch Birnbaum fand den Leukocytenanstieg kurz 
vor oder zu Beginn der Menstruation. 

Was das prozentuelle Verhältnis der weißen Blutzellen betrifft, 
konnten Birnbaum, Neusser, Horvath keine ausgesprochenen Ver- 
änderungen feststellen. Dirks, Stickel und Zondek aber fanden 
eine Verschiebung der normalen Formel zugunsten der Lympho- 
cyten auf Kosten der neutrophilen Leukocyten während der Men- 
struation. 

Über eine Vermehrung der Eosinophilen bei normal menstruierenden 
Frauen berichten Dirks und Blumenthal während der Blutung, Adler 
im Praemenstruum, und zwar knapp vor Beginn der Blutung. Letzterer 
führt diese Eosinophile auf Vagotonie, die ihrerseits ihren Grund in 
gesteigerter Ovarialtätigkeit habe, zurück. Bei Meno- und Metrorrhagien 
konnten Adler und auch Dirks eine hochgradige Eosinophilie feststellen, 
während sie bei Amenorrhöe, Kastration (Adler allein) und in der Meno- 
pause in der Mehrzahl der Fälle eine Verminderung der Eosinophilen 
fanden. 

Den Einfluß des menstruellen Prozesses auf das vegetative Nerven- 
system betreffend, konnte Stolper klinisch und pharmakodynamisch 
einen erhöhten Reizzustand des sympathischen Nervensystems im Prae- 
menstruum und zu Beginn der Blutung nachweisen, doch nur dann, wenn 
sich intervallär das vegetative Nervensystem in vollem Gleichgewicht 
befand. Bestand hingegen intervallär eine erhöhte Reizbarkeit des 
autonomen Systems, so fehlten im Praemenstruum die Zeichen einer 
erhöhten Ansprechbarkeit des Sympathicus oder waren nur andeutungs- 
weise vorhanden. Bei Meno- und Metrorrhagien fand Adler eine erhöhte 
Reizbarkeit des autonomen Systemes, bei Ovarialausfall oder Hypo- 
funktion (Amenorrhöe, Klimakterium, Kastration) im Gegenteil eine 
solche des sympathischen Nervenapparates. 


566 G. Holler, H. Melicher, N. Reiter: 


Dies sei kurz vorausgeschickt von schon in der Literatur nieder- 
gelegten Studienergebnissen und soweit bekannten Symptomen, 
die uns die Art der Einwirkung der menstruellen Stoffwechsel- 
verschiebung auf das Blut und auch die Lebensnerven zu zeigen ver- 
mögen. 

Die Blutbefunde, die dieser Arbeit zugrunde liegen, wurden größten- 
teils an einem ambulanten Material erhoben. Es waren dabei nicht bei 
allen Fällen lückenlose Kurven im frühen Praemenstruum beginnend 
und bis ins späte Postmenstruum reichend zu ermitteln. Was die 
Methode anlangt, wurde die übliche hämatologische Technik benützt, 
die Differentialzählung der Weißen sowie ihre Kernbestimmung stets 
in der Zählkammer nach Hollers Angaben vorgenommen. Es folgt nun 
eine Anzahl von Befunden. 


Falll. D. H., 28 Jahre alt, Menarche mit 13 Jahren, vierwöchentlicher Typus, 
stets regelmäßig, Dauer 3—4 Tage, Blutung mäßig stark, Maximum am 1. und 
2. Tage. Kein Partus, kein Abortus. 
























































Tabelle I. 
7Tg.a.M.|6Tg.a.M.|3Tg.a.M.| 1.M. Tg. | 2. M. Te. | 8. M. Tg. | 1.Tg. p.M.|2.Tg. p.M. 

Erythrocyten..... ı 4352000 4888000 | 4594000 | 4504000 | 5186 000 | 4586000 | 4536000 | 4 738 000 
Hby a er Se | 8% 90% 86% 3% | 8% 96% 98% 98 % 
RI RER | 0,97 0,98 0,95 0,97 0,91 1,00 1,00 0,99 
Thromboeyten ... || 339430 | 215070 | 186800 | 207180 | 890950 | 782420 | 645230 | 638260 
Leukocyten ..... 6270 5310 7.020 10550 | 50% 5 580 6370 5440 
Polynucl. (N)..... | 8990 3 460 4580 7950 3240 3 940 4310 3 380 

| 689% | 652% | 654% | 56% | 649% | 707% | 67,6% | 928% 
Polynucl. (E)..... | 180 110 90 160 180 130 150 130 

|. 38% 2% 12%. | 15% 35% 23% 23% 24% 
Mastzellen ....... | 40 spärlich | spärlich 20 70 spärlich 20 40 

| 0,6% 02% 13% 08% 0,7% 
Monocyten....... | 420 470 530 820 330 270 310 400 

| 66% | 88% 75% 7,7% 6,5% 4,8% 4,8% 78% 
Lymphoeyten..... || 1640 1270 1820 1580 1200 1240 1580 1490 

| 81% | 4% 25,9% 15% 238% | 22% 25% 29% 

Qualitatives Blutbild der Neutrophilen: 

1. Klasse... ..... ZEN B0, 4% 3% 7% 9%, 5% 
2. Blase ne 1% | 60% 49%, 63% 63%, 56% 61% 47% 
3. Klasse..... | 42% | 27% 39%, 31% 30% 35% 28%, 38% 
4. Klasse......... | 5% 8% 3% 1% 29, 29, 10%, 
5. Klasse......... N 0 0 0 0 0 0 





Fall 2. R. F., 26 Jahre alt, Menarche mit 12!/, Jahren, stets regelmäßig, 


vierwöchentlicher Typus, Dauer 2—3 Tage, Blutung mäßig stark, Maximum am 
ersteri Tag, leichte Molimina menstrualia 2—3 Tage vorher. Kein Partus, kein 
Abortus. Patientin leidet an rezidivierenden Anginen; objektiv leichte Rötung 
und Schwellung der Tonsillen mit Pfröpfen in den Lacunen. Befund siehe 
Tabelle II. 





Menstruation und peripheres Blutbild. 








Tabelle II. 








567 























| 1Tg.a.M. | 1.M.Te. | 2.M.Tg. | 8.M.Te. |1Tg.p.M. | 4 Tg. p.M. 
Erythrocyten ..... 4 890 000 5 200 000 4 967 000 5 072.000 5 144 000 4 848 000 
ARE 86% 91% 90% 95% 95% 88%, 
Ana er r AE 0,89 0,87 0,90 0,95 0,93 0,91 
Thrombocyten .... 244 000 234 000 233 000 294 170 261 480 240 490 
Leukocyten........ 8 600 13 420 8.000 7220 6 730 6 870 
Pölynucl. (N)...... 4630 9550 3910 3 780 3 250 3 400 
53,8% 71,3% 48,2% 52,8% 48,4% 49,7% 
Polynucl. (E)...... 110 90 110 180 110 130 
1,99% 0,7% 1,4% 2.1.98 1,06% 1,9% 
Mastzellen......... spärlich 40 spärlich 20 20 20 
0,3% 0,3%: 0,3% 0,3% 
Monocyten ........ 1.020 670 580 580 260 700 
11,8% 4,9% 1,2% 8% 3,8% 10% 
_ Lymphoeyten...... 2840 8.070 3.400 2.660 3.090 2.620 
32,9% 22,8% 43,2% 36,8% 45,9% 38,1% 
Qualitatives Blutbild der Neutrophilen : 
IRKlasserea. 24.. or. 0 3% 8% 19% 6% 6% 
2 KASSE m... 43% 59% 44% 49% 64% 54% 
a 47% 31% 44%, 37% 25%, 33%, 
anKlassereie.....%; 9% 7% 4% ie: 5% 190 
I ER 1% 0 0 0 | 0 0 





Fall 3. R. N. 25 Jahre alt, Menarche mit 11 Jahren, anfangs unregelmäßig 
profus, später stets regelmäßig, vierwöchentlicher Typus, 
mäßig stark, Maximum am ersten und zweiten Tag. Leichte Molimina menstrualia 
und häufig subfebrile Temperatursteigerungen vier bis fünf Tage ante men- 
struationem. Kein Partus, kein Abortus. Apicitis dextra subacuta, rezidivierende 


Pleuritis sieca sinistra. Befund siehe Tabelle III. 


Tabelle III. 























Dauer 3—4 Tage, 























5Te. a.M. 4Te. a.M. |1Tg.a.M.| 1.M. Tg. | 2.M. Tg. | 3.M. Tg. 1.Tg. p.M. | 2.Tg.p.M. 
Erythroeyten ...... 4 824.000 | 4992000 | 4712000 | 5048 000 | 5 168.000 | 4920.000 | 4 792 000 | 4.600 000 
1 TA ee 90% 96% 94% 94% 94% 81% 90% 929, 
er 0,93 0.97 1,00 0,94 0,92 0,81 0,95 1,00 
Thrombocyten ..... 176000 | 180000 | 225000 | 207060 | 202720 | 994960 | 225220 | 194.000 
Leukocyten ........ 7780 | 10380 | 860 8260 7300 4110 | 5310 5 100 
Polynucl. (N.) ....... 4470 5500 | 5020 5.020 3 960 1480 | 2800 2540 
57,6% | 544% | 581% | 608% | 54,4% 36,9% | 58,1% 49,8% 
Polynucl. (E.) ...... 420 620 360 440 250 270 330 360 
5,4%, 6%, 4,1% 5,4% 3,8%, 59% | 62% ‘7%, 
Mastzellen ......... 70 110 110 40 20 70 110 20 
0,8% 01% | 112% 0,5% 0,8% 1,6% 1,9% 0,4% 
Monoeyten......... 580 1110 980 800 600 380 510 360 
74% | 101% | 11,8% 9,6% 8,2% 92% | 96% 7% 
Lymphocgten ...... 2240 3.040 2.200 1 960 2470 1910 | 1560 18% 
288% | OU | 5% | 87% | 33,8% 46,4% | 92% | 358% 
Qualitatives Blutbild der Neutrophilen: 
I Klassomen 0. 9% 17% 8% 9% 1% 3% 10% 2% 
RlassaH.t..,s: 65% 50% 59% 489, 68% 64%, 59% 49%, 
3: Klasse ..un..oe.. 25%, 28% 20% 220, 229, 31% 27% 399, 
A Klaas 1% 59, 3% 1% 8% 2%, 4%, 10% 
Blase N 0 0 ) 0 0 0 0 0 











568 


G. Holler, H. Melicher, N. Reiter: 


Fall 4. Z. M., 29 Jahre alt, Menarche mit 16 Jahren, stets regelmäßig, 
vierwöchentlicher Typus, Dauer 4—5 Tage, Maximum der Blutung in den ersten 
Tagen; kein Partus, kein Abortus. Derzeit besteht Enteritis, Icterus catarrhalis, 



























































Milztumor. Befund siehe Tabelle IV. 
Tabelle IV. 
2Tg.a.M. | 1.M. Tg. | 2.M.Tg. | 3M. Tg. | 4M. Te. |5M. Te. |1.Tg.p.M.|2.Tg.p.M. 
Erythrocyten....... 4192000 | 4456 000 | 4560000 | 4 744 000 | 4120000 | 4 058000 | 3704 000 | 3848 000 
ne 80% 809, 80% 849, 84%, 840, 70% 70% 
a a A Aare 0,97 0,91 0,88 0,89 1,00 1,03 0,94 0,91 
Thrombocyten ..... 180 256 178 240 541 760 1334000 | 414 896 470 730 451 890 342 540 
Leukocyten........ 7 760 7250 7640 6 000 8020 6 220 6470 5 600 
PolynielseNjeemee 4 420 4 450 4 250 3180 4 580 3910 3200 2 500 
57,1% | 615% | 558% | 534% | 572% 63%, | 498% | 44,6% 

Polynucl.(E) ..:.: 240 150 600 360 400 70 320 380 

3,1% 2,40, 7,8% 6% 5% 1% 5,3% 6,8% 
Mastzelleneen an, 40 20 110 90 70 40 240 130 

0,5% 0,3% 1,4% 1,5% 0,8% 0,7% 3,7% 2,4% 
Monocyten......... 960 560 420 510 580 330 530 440 

12,3% 7,7% 5,5% 8,5% 6,6% 53% 8,2% 7,8% 

Lymphocyten ...... 2100 2.040 2.260 1840 2240 1870 2180 2150 

27% | 81% | 95% | 30,6% | 30,4% 30%, | 33,5% | 38,4% 

Qualitatives Blutbild der Neutrophilen: 

1. Klasse He, 15% 16% 18%, 229, 11% 90, 11% 11% 
DrKlanse: erh 68%, 649, 599, 57%, 539, 61% 71% 60% 
SeKlasse Fra 16% 19% 21% 20% 34% 30% 18% 28% 
A:E Klasse SimE 193 105 205 1% 2% 0 0 105 
5.0Klasserantiasae 0 0 0 0 0 0 0 0 























Fall5. K. M., 19 Jahre alt, Menarche mit 16 Jahren, fünfwöchentlicher 
Typus, immer regelmäßig, Dauer 4 Tage, Maximum der Blutung am 2. Tag. 
Angeblich nie Abortus, kein Partus. Lues latens II. Befund siehe Tabelle V. 
























































FE ee 





Tabelle V. 
5 Te. a.M. | 1.M. Tg. | 2.M.Te. | 8. M. Te. | 4.M. Te. | 2 Tg.p.M. | 7 Te.p.M. 
Erythrocyten....... | 5248000 , 5416000 | 4816000 | 5088000 | 4752000 | 4952000 |ı 4792000 
121 RI RTRS E TR T 90% 92% 96% 94% 90%, 84% 88% 
ER ET 0,86 0,85 1,00 0,9 0,95 0,93 0,98 
Thrombocythen .... 283 390 297 880 332 304 356 160 418 176 247 970 286 880 
Leukocyten ........ | 77830 58310 4 160 5 960 7.000 6 380 3800 
Polynucl. N) ....7: 5170 3710 2.650 4110 4 960 4 450 2 760 
70,7% 70%, 64,4% | 69,9% 71%, 70,2%, 72,8% 
PolynuckiB) =22... | 200 160 130 200 110 130 200 
2,7%, 3% 3,1% 3,3% 1,5% 2%, 5,2%, 
Mastzellen ......... 20 40 20 20 spärlich 20 spärlich 
0,2%, 0,7% 0,3% 0,3% 0,3% 
Monocyten ........ 360 220 180 270 220 290 200 
4,9% 4,1%, 4,2%, 4,5% 3,1%, 4,5% 5,2% 
Lymphocyten ...... 1 580 1180 1.180 1360 1710 1490 640 
21,5% 22,2%, 28%, 29%, 24,4% 23%, 16,89, 
Qualitatives Blutbild der Neutrophilen: 
1: Klasse me see 6% 85% 3% 6% | 5% I 5% 
DRTasse er 490, 45%, 530, 49%, 50%, 55%, 60% 
8. Klanse ıı Deren 4155 35% 35% 35% 35% 28% 30% 
ee 11% 129, 7% 10% 10% 10% 5% 
D.Klasser.n encore 0 0 2% 0 0 0 0 











Menstruation und peripheres Blutbild. 


569 


Fall 6. S. H., 22 Jahre alt, Menarche mit 12 Jahren, stets regelmäßig, 
vierwöchentlicher Typus, Dauer 3—4 Tage, Blutung mäßig stark, Maximum am, 
.1.— 2. Tag, kein Partus, kein Abortus. Befund siehe Tabelle VI. 


Tabelle VI. 





Erythrocyten 


EIER. 2. Urn 


%2T, 
Thrombocyten 
Leukoceyten 
Polynuel. (N) 


Polynucl. (E) 
Mastzellen 
Monocyten 


Lymphocyten 


1. Klasse 
2. Klasse 


.. rer nen. 


... 


..0... 


.. 


.er er... 


Lu Wis wie,,e; 


....0r0. 


.eo 0 00. 





















































| 3 Tg. a.M. IzMelg 2.M. Te. 4.M. Te. LT0.D.M.12Tg, DM: 

vier 4 232.000 5 008 000 4 624 000 4 856 000 4 816 000 4 080 000 

Er# 19% 72% 72% 75% 75% 76% 

RuRs 0,94 0,72 0,78 0,78 0,75 0,95 

MR 195 310 226 680 432 180 287 140 173 510 

u 6 530 7040 5 220 5 200 5240 6 870 

4730 4 080 2590 3 620 2 600 3 500 

72,5% 58% 49,8% 69,6% 49,7% 51,2% 
w 70 90 150 90 90 180 
1% 1,3% 2,8% 1,7% 1,7% 1,9% 

ER spärlich 90 30 20 90 40 
1,3% 0,5% 0,4% 1,2% 0,5% 

ER - 600 580 470 290 330 220 
0,2% 8,2% 9% 5,6% 6,8% 8,2% 
ER 1180 2 200 1980 1180 2180 2980 
17,3% 31,2% 37,9% 22,0% 40,6% 43,2% 

Qualitatives Blutbild der Neutrophilen: 

0 3% 8% 8% 9% 1% 6% 
My: 44% 53% 55% 54% 57% 50% 
Rt 44% 37% 37% 34% 37% 39% 
lei 8% 2%, 0 3% 4% 5% 

Br. 1% N) 0 0 1% 0 


Fall 7. B. A., 23 Jahre alt, Menarche mit 14 Jahren, vierwöchentlicher 
Typus, stets regelmäßig, Dauer der Blutung 5—6 Tage, Maximum 2. bis 4. Tag, 
Apicitis bilateralis, chronischer Enterospasmus. 


kein Partus, 


kein Abortus. 


Befund siehe Tabelle VII. 





Tabelle VII. 




















Erythrocyten... 


Lie FEN IR AL SH 


Thrombocyten . 
Leukocyten .... 
‘ Polynucl. (N)... 


Polynucl. (E).. 


Mastzellen 


Monocyten 


Lymphocyten .. 


..er... 
or]... 
0.0. 
.or 0... 









































1Tg.a.M. | 2. M.Tag | 3. M.Tag | 4. M.Tag | 5. M.Tag | 6. M.Tag | 1Tg.p.M. | 2Tg.p.M. 
4 344 000 | 4 456.000 | 4 536.000 | 5.008.000 | 4 680.000 | 4 848 000 | 4 832.000 
80%, 85% 85% 94%, 91%, 829, 90%, 
0,98 0,96 0,94 0,94 0,98 0,85 0,98 
212860 | 215860 | 226800 | 210336 | 232760 | 271490 | 231 980 
5.090 6000 | 4160 | 3890 | 4400 | 5270 | 3760 | 4420 
3 250 3830 | 2500 | 210 | 230 | 8650 | 2090 | 2530 
63,9% | 68,8% | 59,9% 4% | 537% | 694% | 55,8% | 57,7% 

110 110 240 110 110 40 90 90 
2,1% 1,8% 5,8% 2,8% 2,5% 0,8% 2,3% 2% 

70 spärlich | spärlich 20 40 70 20 20 
1,3% 0,5% 1% 1,2% 0,5% 0,2% 
440 420 620 330 330 830 250 290 
8,7% 7% 15,1% 8,5% 75% | 6,8% 71% | 65% 
1220 1640 800 1830 | 1550 | 1180 | 1290 \ 1490 
4% | 274% | 190% | 379% | 353% | 23% | 343% | 33,6% 

Qualitatives Blutbild der Neutrophilen : 

8% 6% 6% 3% 6% 2%, | 6% 3% 
65% 50%, 69% 61% 529, 67% 55% 50%, 
24% 40% 21% 319%, 36% 25% 34% 40% 

3% 4% 4% 5% 6% 6% 5% 7% 

0 0 0 0 0 0 0 | 0 


570 G. Holler, H. Melicher, N. Reiter: 


Fall 8. M. F., 24 Jahre alt, Menarche mit 13 Jahren, seither stets regel- 
mäßig, dreiwöchentlicher Typus, Dauer der Blutung 3—4 Tage. Blutung mäßig 
“stark, Maximum am 1. Tag. Kein Partus, kein Abortus. Patientin leidet an 
Apiecitis bilateralis bei zeitweise subfebrilen Temperaturen. Befund siehe 


Tabelle VIII. 
Tabelle VIII. 






































8:10,23. 01.257170 7a Male Tao 2. M. Tag 8.M.Tag | 1Tge.p.M. 
Erythrocyten...... 5 208 000 5 248 000 5 096 000 4 768 000 4 944 000 4 872000 
HR 93% 83% 100% 100% 80% 85% 
RB 0,89 0,34 1,00 1,06 0,82 0,88 
Thrombocyten .... 317690 257 530 514 690 901 820 602 350 325 420 
Leukocyten ....... 6 690 5 220 5 960 4 690 6510 5310 
Pölynucl. IN) 2:.% 4120 3 630 3 780 2 960 4 690 3490 
61,8% 69,8% 63,4% 63,2% 72,1% 65,8% 
Pölynuel EB) „2... 130 130 130 70 110 20 
1.93% 2,5% 2,2% 492 1.008 0,4% 
Mastzellen ........ 20 20 70 20 110 20 
0,2% 0,2% 19% 0,4% 1,21% 0,4% 
Monocyten ....... 490 240 400 200 440 290 
1,3% 4,6% 6,20% 4,2% 6,8% 5,4% 
Lymphocyten ..... 1930 1200 1580 1440 1160 1490 
28,3% 22,9% 26,19, 30,3% 12.298 28% 
Qualitatives Blutbild der Neutrophilen: 
1 Rlasse euer | 3% 10% 9%, 1% | 6% 4% 
DIKTSäse. ee, | 49% 56% 55% 51% 45% 53% 
8. Klansa . 2. .UR. I 87% 29% 30% 40%, 42% 37% 
4. Klasse... 1 119% 5% 6% 8% 6% 6% 
5..Klasseitr arekee 0 0 0 0 1% | 0 











Da die Veränderungen des peripheren Blutbildes während des men- 
struellen Zyklus ihren Grund aller Voraussicht nach in der anato- 
mischen und funktionellen Verschiedenheit des Ovariums und des Uterus 
zur Zeit des Ablaufs ihrer cyclischen Wandlungen haben, so scheint es, 
bevor man an die Wertung obiger Blutbilder geht, im Interesse einer 
richtigen Deutung derselben geraten, sich kurz die Anatomie und Phy- 
siologie dieser beiden Organe während der betreffenden Phasen, soweit 
jede von ihnen bis nun einwandfrei geklärt ist, ins Gedächtnis zu rufen. 

Das histologische Bild des Uterus zur Zeit des menstruellen Zyklus 
ist nach Hitschmann und Adler folgendes: 

Im Postmenstruum bis inkl. Beginn der intervallären Phase besteht 
eine niedrige Schleimhaut mit engen kollabierten Drüsen, protoplasma- 
armen Epithelien und Stromazellen, die eine rege Zellvermehrung — in 
zahlreichen Mitosen sich ausdrückend — zeigen. 

Im Intervall hat die Schleimhaut an Dicke zugenommen. Die Zell- 
neubildung besteht fort, besonders an den Drüsen, die sich als Folge 
davon zu schlängeln beginnen. 

Im Praemenstruum ist neben zunehmender Hyperplasie der Schleim- 
haut, Quellung des Interstitiums und fortschreitendem Drüsenwachstum 
das Auffälligste die nun einsetzende Sekretion der Drüsen, wodurch 








Menstruation und peripheres Blutbild. 571 


sich das Bild dieser Phase wesentlich von denen der beiden voraus- 
gehenden, die rein nur der Ausdruck des neuerlichen Aufbaues der durch 
die letzte Blutung zerstörten prägraviden Uterusmucosa sind, unter- 
scheidet. Gegen Ende des Praemenstruums, wo sich die obgenannten 
Veränderungen ad maximum ausbilden, sind außerdem eine starke 
Füllung der Capillaren und vereinzelte interstitielle Hämorrhagien 
wahrzunehmen. 

Im Menstruum findet ein Kollaps der Schleimhaut, Drüsen und 
Gefäße statt, der sich jedoch allmählich ausbildet, so daß zu Beginn der 
Blutung noch das Drüsenbild der prägraviden Schleimhaut, gegen Ende 
die kollabierten Drüsen vorherrschen. Außerdem besteht zur selben Zeit 
ein mehr oder weniger starker Verlust des Epithels und der oberfläch- 
lichen Mucosaschichten, besonders gegen Ende der Blutungsphase, 
sowie zahlreiche subepitheliale und interstitielle Hämorrhagien. 

Das Ovarium hingegen bietet während der einzelnen Phasen folgende 
Bilder: 

Im Postmenstruum ein Fortschreiten der zur Zeit des Menstruums 
resp. knapp vorher eingetretenen regressiven Veränderungen am Corpus 
luteum, gekennzeichnet in Zerfall der Luteinzellen und fibröser Um- 
wandlung der proliferierten Theca und des durch sie organisierten Blut- 
kernes. Gleichzeitig damit beginnende Eireifung und zu Beginn der 
intervallären Phase Follikelsprung. 

Im Intervall entwickelt sich ein neues Corpus luteum durch Pro- 
liferation und Luteinbildung der Granulosazellen. Die Tunica propria 
der Theca folliculi beginnt zu wuchern. 

Im Praemenstruum findet eine Vascularisation des Corpus luteum 
von. der umgebenden Theca folliculi aus statt und setzt die innere 
Sekretion des Corpus luteum ein. Histologisch kann zwar dieselbe nur 
indirekt aus dem mächtigen Luteinzellwall erschlossen werden, doch 
findet sie in der gleichzeitig bestehenden und experimentell nachge- 
wiesenen Abhängigkeit der uterinen und anderer Veränderungen von 
ihr die vollgültige Bestätigung für ihr tatsächliches Bestehen. Wir werden 
im nachfolgenden ihren Einfluß auf Blut und Blutbildungsstätten nach- 
zuweisen versuchen. Gleichzeitig beginnt die Organisation des Blut- 
kernes durch die einwuchernde Theca. 

Im Menstruum resp. knapp vor Eintritt der Blutung beginnt die 
Rückbildung des Corpus luteum durch Zerfall der Epithelien, und die 
Theca beginnt sich fibrös umzuwandeln. 

Was die Physiologie beider Organe — Uterus und Ovarium — zur 
Zeit ihrer Phasen betrifft, so steht einwandfrei fest, daß erstens diese 
eyclischen Veränderungen im Uterus nicht die Blutung, sondern günstige 
Verhältnisse für eine evtl. eintretende Gravidität bezwecken, während 
die Blutung als solche eigentlich per nefas eintritt, und zweitens, daß 

Z. 1. klin. Medizin. Bd. 100. 37 


572 G. Holler, H. Melicher, N. Reiter: 


diese uterinen Veränderungen den ovariellen Wandlungen untergeordnet 
sind. Es entspricht der Eireifung bis zum Follikelsprung und dem sich 
entwickelnden Corpus die Regeneration und der neuerliche Aufbau der 
durch die letzte Blutung zerstörten prägraviden Uterusmucosa, während 
die Zeit des reifen und sekretorisch tätigen Korpus mit der Sekretions- 
phase der Uterusmucosa zusammenfällt, so daß man sagen kann, daß 
die innersekretorische Funktion des Follikelepithels und des sich noch 
entwickelnden Corpus luteum den Aufbau, die Funktion des reifen 
Corpus luteum die Sekretion der prägraviden Schleimhaut bedingen. 
Die eigentliche Blutungsphase hingegen hat ihre Ursache in der Rück- 
bildung des Corpus luteum, resp. indirekt in dem damit gekuppelten bei 
nicht erfolgter Konzeption nun eintretenden Eitod. 

Vor allem kommen aber für unsere Studien dieWirkungen in Betracht, 
die das Ovarium als innersekretorische Drüse direkt oder durch Beein- 
flussung der übrigen Blutdrüsen und wohl auch der Visceralnerven auf 
den Gesamtstoffwechsel ausübt. 

Nach neueren Forschungen kann man an den Erscheinungen, die 
diese Fernwirkung des Ovariums auf den Gesamtorganismus hervorruft, 
einen gewissen Antagonismus in den verschiedenen Zeiten des ovariellen 
Zyklus wahrnehmen, der seinen Grund in der Produktion mannig- 
faltiger und antagonistisch wirkender Hormone der weiblichen Keim- 
drüse in den verschiedenen Zeiten ihres Zyklus haben soll. Nach kli- 
nischen Beobachtungen und pharmakodynamischen Prüfungen kommt 
dem reifen Corpus luteum eine Wirkung auf den Gesamtorganismus, 
insbesondere auf das vegetative Nervensystem zu, die einerseits im 
Beginn des ovariellen Zyklus (Postmenstruum, Intervall) fehlt, anderer- 
seits viel Ähnlichkeit mit den bei Genitalhypoplasie, Kastration, Klimak- 
terium beobachteten Zuständen hat. 

Letztere Zustände, die in Blutdrucksteigerung, Tachykardie, Wal- 
lungen, Schweißausbrüchen, Gewichtszunahme, Blutgerinnungsver- 
zögerung sowie erhöhter Ansprechbarkeit auf sympathicotrope Mittel 
bestehen können, führt man auf eine überwiegende Wirkung der dem 
Ovarium antagonistisch wirkenden innersekretorischen Drüsengruppe 
zurück, die die Reizbarkeit des sympathischen Systemes zu erhöhen 
und den Calciumgehalt des Blutes herabzusetzen vermag. Die Ursache 
für diese ins Pathologische gesteigerte Wirkung entgegengesetzter 
Drüsenfunktionen sieht man in einer ungenügenden resp. ausfallenden 
Ovarialtätigkeit. Da nun im Praemenstruum und zu Beginn der Blutung 
ähnliche Erscheinungen in individuell verschiedener Ausbildung be- 
stehen können, so spricht man dem Corpus luteum, was seinen Einfluß 
auf den Gesamtorganismus anlangt, eine dem übrigen Ovarium ent- 
gegengesetzte Wirkungsweise zu, die in gewisser Hinsicht der einer 
hypofunktionierenden Keimdrüse ähnlich ist. 


Menstruation und peripheres Blutbild. 573 


Hält man sich nun diese anatomischen und funktionellen Verhält- 
nisse vor Augen, so fällt vor allem auf, daß man leicht — abgesehen 
von der eigentlichen Blutungsphase, die dem Abbau dient — 2 Haupt- 
stadien an dem übrigen uterinen Zyklus unterscheiden kann. Ein Ent- 
wicklungsstadium, das dem Aufbau und der Ausbildung der prägraviden 
Schleimhaut dient und sich vom Ende der letzten Blutung bis gegen 
Ende der intervallären Phase erstreckt, und ein Tätigkeitsstadium, der 
die prämenstruell einsetzende Sekretion zukommt. 

In diesem 2. Stadium wird aber zum Unterschiede vom ersten, wo es 
sich nur um eine Auswirkung der jeder Zelle immanenten Wachstums- 
und Vermehrungstendenz handelt, spezifische Zellarbeit geleistet, die 
auch hier wie bei jeder einen kinetischen Erfolg bewirkenden Arbeits- 
leistung einen Verbrauch potentieller Energielager (in diesem Falle 
Zellsubstanz) zur Grundlage haben muß. Gleichzeitig mit dem Arbeits- 
produkt (Sekret) der spezifischen Zellfunktion werden aber celluläre 
Abnützungs- oder Reststoffe entstehen — nach Fr. Müller ist ‚‚Zell- 
arbeit Umwandlung von Zellsubstanz in Leistung —, die zwar körper- 
eigen, doch blutfremd in gleicher Weise einen toxischen Reiz ausüben, 
wie parenteral einverleibtes, körperfremdes Eiweiß. Die Stärke dieses 
Reizes wird vor allem von dem jeweiligen Funktionsgrad des Corpus 
luteum und der sezernierenden Uterusmucosa abhängig sein. 

Diese toxische Wirkung, die man kurzweg den Menstruationsreiz 
nennen kann, läßt nun zum größten Teil die Blutveränderungen während 
des menstruellen Zyklus erklären, da diese wohl hierfür der ursächliche 
Haupttaktor ist. Selbstverständlich werden bei diesen Blutveränderun- 
gen auch noch andere Faktoren mitspielen, die ihren Grund in der vor- 
übergehenden Disharmonie der innersekretorischen Drüsen während 
des menstruellen Prozesses und dadurch bedingten Umstimmung des 
Gesamtorganismus haben. 

Dieser dem Praemenstruum zukommende Menstruationsreiz wird 
sich dem Gesamtorganismus mitteilen und so auch den 3 blutbildenden 
Systemen, hier gekennzeichnet durch eine vermehrte Ausschwemmung 
von Zellen, direkt verursacht durch den vermehrten Stoffumsatz. Es 
erscheint dabei zweckmäßig eingerichtet, daß vor allem das myeloische 
System mit einer Mehrproduktion und Ausschwemmung seiner Haupt- 
vertreter, der neutrophilen Leukocyten, auf diesen Menstruationsreiz 
hin reagiert, weil, wie man aus den Ausführungen Fr. Müllers weiß, 
bei der Entgiftung und dem Abbau parenteraler, toxisch wirkender 
Eiweißstoffe eine fermentative Tätigkeit der Neutrophilen die Haupt- 
rolle spielt. Es ist daher im peripheren Blutbild eine Vermehrung der 
Neutrophilen zur Zeit des Praemenstruums, die ihr Maximum am Ende 
dieser Phase oder in den ersten Tagen der Blutung erreicht, das Auf- 
fälligste. Diese prämenstruelle Vermehrung der Neutrophilen reicht, 

37* 


574 G. Holler, H. Melicher, N. Reiter: 


wie unsere Befunde ergeben, häufig mit ihrem Maximum noch in die erste 
Blutungshälfte hinein. Dies ist verständlich, wenn man sich das histo- 
logische und funktionelle Bild vor Augen hält, demzufolge an den ersten 
Blutungstagen noch die prägraviden, hochfunktionellen Drüsen vor- 
herrschen können, damit also auch die Bedingungen für das Weiter- 
bestehen des Menstruationsreizes. Gleichzeitig wird aber dieser Reiz 
auch seine Wirkung auf den Retieulo-Endothelapparat entfalten, und 
man wird im Praemenstruum eine den Neutrophilen parallel gehende 
Vermehrung der Monocyten im peripheren Blutbild zu erwarten haben. 
Man kann nämlich annehmen, daß dieser dem myeloischen System in 
gewisser Hinsicht verwandte Apparat (Jagic, Türk, Holler) auf den 
gleichen Reiz hin eine analoge Reaktion zeigen wird. Eine solche 
Monocytose ist auch in unseren Befunden ersichtlich. 

Wir sehen, daß der menstruelle Vorgang neutrocytotische Reize 
setzt. Es ist nun aus dieser biologischen Charakterisierung der in 
Wirkung tretenden Stoffwechselprodukte zu entnehmen, daß eine so- 
zusagen antagonistisch gerichtete Wirkung mit nachfolgender Aus- 
schwemmung von Lymphocyten ins Blut nicht zustande kommt. 
Diesem entsprechend finden wir auch bei unseren Beispielen keinerlei 
in Betracht kommende Ausschläge in den Lymphocytenkurven zur 
Zeit des Praemenstruums. Es scheint den Abkömmlingen der Lymph- 
follikel bei der Entgiftung und dem Abbau der zu dieser Zeit im Uterus 
entstehenden Abnüztungsstoffe wohl keine nennenswerte Funktion 
zuzukommen. 

Während der Blutungsphase nun hört dieser neutrocytotisch be- 
schriebene Reiz mehr oder weniger rasch zu wirken auf, da ja die 
Rückbildung des Corpus luteum und der Drüsenkollaps sowie das 
damit einhergehende Versiegen der Sekretionen sich in verhältnis- 
mäßig sehr kurzer Zeit ausbildet und zweitens die noch im Gewebe 
deponierten Giftstoffe, die einen gleichartigen Reiz unterhalten könnten, 
größtenteils eine rasche Abfuhr nach außen durch die Blutung erfahren. 
Als Folge davon sehen wir im Blutbild intramenstruell ein rasches Ab- 
sinken der Neutrophilen, das in die Mitte seltener zu Beginn der Blu- 
tungsphase fällt. 

Ebenso lassen die Monocyten das gleiche Verhalten erkennen; es 
ist ja auch der Reticeulo-Endothelapparat im Praemenstruum unter 
der gleichen nun wegfallenden Reizwirkung gestanden. Außerdem ist, 
wie wir glauben, noch eine andere Ursache im Spiel, die uns geeignet 
erscheint, den zu dieser Zeit oft auffallenden Monocytensturz zu er- 
klären. Den Reticulo-Endothelapparat trifft anschließend an das 
Maximum der Neutrophilen eine bedeutende Steigerung seiner phago- 
eytotischen Funktion infolge des vermehrten Zugrundegehens der 
Neutrophilen und der übrigen Blut- und Organzellen, das ein Zurück- 











Menstruation und peripheres Blutbild. 575 


halten der Pulpaabkömmlinge in den Sinus der Milz und Lymph- 
drüsen zur Folge hat (Holler), wodurch die Monocyten im strömenden 
Blute spärlich werden. Dementsprechend konstatieren wir. klinisch 
häufig ein gleichzeitiges Anschwellen der Milz zur Zeit des Men- 
struums. 

Gegen Ende der Blutungsphase kommt es zur Anhäufung von Zell- 
detritus im Uterus (Hitschmann), der bei seiner Resorption eine gewisse 
Giftwirkung gleich der eines parenteral eingeführten Eiweißes entfalten 
wird. Dieser zweite, Resorptionsreiz, kann nun gegen Ende der Blu- 
tung resp. zu Beginn des Postmenstruums ein neuerliches geringes 
‚Ansteigen der Neutrophilen bedingen aus analogen Gründen wie der 
erste Menstruationsreiz. Jedoch ist diese Reaktion der neutrophilen 
Blutzellen nicht bei allen Fällen zu finden. Es ist das ungleiche Ver- 
halten verständlich, wenn man bedenkt, daß diese Wirkung auf die 
Blutzentren von verschiedenen nicht immer gleichmäßig beteiligten 
Faktoren abhängt, so von der Masse des sich bildenden Detritus, von 
dem Abgang resp. der Anhäufung desselben im Uterus, Vorgänge, die 
großen individuellen Schwankungen unterworfen sind. 

An den Lymphocyten findet man, wie aus unseren Tabellen ersicht- 
lich, auch im Menstruum keine wesentlichen Änderungen ihrer ab- 
soluten Werte. Die Lymphocyten zeigen also während des ganzen 
menstruellen Zyklus keine wesentlichen Schwankungen. Trotzdem 
kann man im Menstruum infolge des- Fallens der Neutrophilen zur 
selben Zeit eine relative Lymphocytose feststellen. Nur im späten 
Postmenstruum (in den verwendeten Tabellen nicht ersichtlich) stoßen 
wir manchmal, besonders bei gleichzeitig vorhandenen leichten In- 
fekten, auf erhöhte absolute Lymphocytenwerte. 

Im Postmenstruum finden wir bei den Neutrophilen und Mono- 
cyten niedrigere Werte als im Praemenstruum. Dieses Verhalten ist 
wohl durch den Wegfall des Menstruations- und Resorptionsreizes auf 
die Blutbildungsstätten, wie oben beschrieben, zu erklären. 

Der oben angeführte Menstruations- und Resorptionsreiz wird 
natürlich auch auf das eosinopoetische Zentrum wirken, Die Reaktion 
desselben und als Ausdruck dafür das eosinophile Blutbild weicht aber 
in vielem von dem Verhalten der neutrophilen Leukocyten und Mono- 
cyten ab. Dies erklärt sich daraus, daß erstens das eosinopoetische 
Zentrum besonders empfindlich und labil gegen Reize jeder Art ist, 
zweitens aus der Wechselbeziehung zwischen eosinophilem Blutbild 
und jeweiligem Zustand des vegetativen Nervensystems. Worin frei- 
lich der wahre Grund dieser Wechselbeziehung besteht, ist unbekannt. 
Ob dabei dieselbe Ursache, die eine erhöhte Ansprechbarkeit des sym: 
pathischen resp. des autonomen Systems. hervorruft, direkt auch auf 
das eosinopoetische Zentrum hemmend oder fördernd wirkt, oder ob 


576 @. Holler, H. Melicher, N. Reiter: 


die Eosinophilie resp. -penie erst indirekt durch die Zustandsänderung 
im vegetativen Nervensystem bedingt wird, weiß man nicht; Tatsache 
ist es jedoch, daß bisweilen ein zeitliches Zusammentreffen von Eosino- 
philie und Vagotonie einerseits, Eosinopenie und Sympathicotonie 
andererseits besteht, ein Zustand, für den uns die koordinierte Wirkung 
eines Reizstoffes gleichzeitig auf einen der beiden Anteile des visceralen 
Nervengeflechtes und das eosinopoetische Zentrum wahrscheinlicher er- 
scheint. Dies sowie die schon bekannte und hier erwähnte zeitlich 
wechselnde innersekretorische Beeinflussung des vegetativen Nerven- 
systems durch den ovariellen Zyklus und der Grundzustand resp. die 
Ansprechbarkeit des Visceralnervengeflechts in seinem autonomen oder 
sympathischen Anteil müssen zum Verständnis des eosinophilen Blut- 
bildes während des menstruellen Zyklus berücksichtigt werden. 

Wir sehen an den Eosinophilenkurven im wesentlichen folgendes: 
Die höchsten Werte fallen fast in allen Fällen auf einen der drei ersten 
Blutungstage. Außerdem finden wir, daß die Eosinophilenkurven bis- 
weilen im frühen Praemenstruum sowie frühen Postmenstruum Werte 
erreichen, die nicht um vieles kleiner sind, als der intramenstruelle 
Höchststand. Sehen wir von dem während der Blutungsphase ge- 
legenen Maximum ab, so können wir ferner feststellen, daß in den 
meisten Fällen die Eosinophilenkurve vom späten Prämenstruum gegen 
das frühe Postmenstruum anzusteigen scheint, daher auch die post- 
menstruellen Werte im Durchschnitt größer sind als die prämenstru- 
ellen.' Seltener beobachteten wir sogar eine auffallende postmenstruelle 
Eosinophilie. Gewöhnlich pflegt einer solchen ein auffallender Eosino- 
philensturz im Menstruum vorherzugehen. Wir sind geneigt, diese 
postmenstruelle Eosinophilie demselben postinfektiösen Zustand, also 
einer postinfektiös auftretenden Eosinophilie, die uns seit langem be- 
kannt ist, wesensgleich zu stellen. 

Verwenden wir unsere im vorhergehenden besprochenen -Über- 
legungen über. Reiz- und Lähmungszustände auf das eosinopoetische 
System, so können wir zunächst sagen, dab dasselbe intramenstruell 
unter einer Reizwirkung steht. Dieselbe erklärt sich folgenderweise: 
Im Menstruum fällt der Reizzustand des sympathischen Nervensystems 
(infolge Versiegens der innersekretorischen Corpus-luteum-Wirkung) 
weg, vor allem besteht aber während der Blutung ein erhöhter Eiweiß- 
zerfall im Uterus, dessen Resorptionsprodukte wir wohl vorwiegend für 
den eosinopoetischen Reizzustand zu dieser Zeit verantwortlich zu machen 
haben. Auch. die zur selben Zeit, wie auch im frühen Postmenstruum 
stattfindende Resorption von Blutdetritus aus dem Uterus (gleich der 
Wirkung eines ‘blutigen pleuralen Ergusses) scheint bei der intra- 
menstruellen Eosinophilie sowie bei den postmenstruellen höheren 
Werten ursächlich beteiligt zu sein. 


Menstruation und peripheres Blutbild. 577 


Die relativ niedrigen Werte im späten Praemenstruum jedoch legen 
den Gedanken nahe, daß die innersekretorische Funktion des voll- 
reifen Corpus luteum eine lähmende Wirkung ‚auf das eosinopoetische 
Zentrum ausübt, daher auch die Tendenz der Kurven, vom späten 
Prae- gegen das frühe Postmenstruum anzusteigen. 

Noch einige Worte über die Beeinflussung des erythropoetischen 
Systemes durch den menstruellen Zyklus. Analog dem leukopoetischen 
reagiert auch dieses System im Praemenstruum und zu Beginn der 
Blutungsphase auf den Menstruationsreiz mit einer gesteigerten Pro- 
duktion und Ausschwemmung seiner Abkömmlinge, wie aus den Be- 
funden hervorgeht. Doch sind die einzelnen Abkömmlinge hämo- 
_ globinärmer, eine Erscheinung, die mit dem Einsetzen vermehrter 
Erythropoese (nach Holler) zusammenfällt. 

So würden sich die Veränderungen im Blutbild während des men- 
struellen Zyklus auf die Wirkung mehrerer Faktoren zurückführen 
lassen, die sich zum Teil ergänzen, zum Teil gegensätzlich beein- 
flussen. 

Wir wollen kurz noch einmal auf die Tabellen bei den einzelnen 
Fällen zurückkommen. Doch sei für alle gleich vorausgeschickt, daß 
die aus ihnen ersichtliche Beeinflussung des Blutbildes durch den 
menstruellen Prozeß sich keineswegs stets in ausgesprochenen Cytosen 
oder Penien ausdrückt, sondern bisweilen nur größere Schwankungen 
innerhalb von Normwerten zeigt. Dieses Verhalten ist verständlich, 
wenn man bedenkt, daß die Schwankungen des Blutbildes' während 
der Menstruation ihren Grund in physiologischen Vorgängen haben. 
Gleichzeitig bestehende Organerkrankungen bei den einzelnen Fällen, 
die vielfach durch den Menstruationsvorgang mit angereichert werden 
(so können wir an apikalen Prozessen zur Zeit der Menses, fast häufiger 
prämenstruell Herdreaktionen nachweisen), beeinflussen jedoch ihrer- 
seits das normale Blutleben und verwischen daher, da ihr Einfluß auch 
in den Blutkurven seinen Ausdruck findet, das durch den menstruellen 
Zyklus bedingte Blutbild. Es erübrigt sich daher, das in einigen Fällen 
abweichende Verhalten der einzelnen Blutkurven von diesem Gesichts- 
punkt aus kurz zu analysieren. 

Tab. I zeigt das vorhin beschriebene Verhalten des Blutbildes 
während der Menstruation, also eine prämenstruelle Vermehrung der 
Erythrocyten, neutrophilen Leukocyten und Monocyten bis zu einem 
in der ersten Blutungshälfte gelegenen Höchstwert, intramenstruell 
dann ein Stürzen derselben und postmenstruell ein Einstellen auf. die 
Normwerte. Die Eosinophilen weisen intramenstruell ein Maximum 
auf, ihre Werte im frühen Postmenstruum sind größer als die im späten 
Praemenstruum. Die Lymphocytenkurve läßt in ihren absoluten Werten 
keine nennenswerten Schwankungen erkennen, Prozentual zeigt hin- 


578 (@. Holler, H. Melicher, N. Reiter: 


gegen die Tabelle eine Penie der Lymphocyten zur Zeit des Höchst- 
wertes der Neutrophilen und Monocyten und später eine leichte Cytose, 
während Neutrophile und Monocyten absinken. Die Tromboeyten 
haben ihr Maximum intramenstruell. 

Tab. II zeigt ein abweichendes Verhalten der Monocyten, das seine 
Erklärung in dem chronischen Prozeß — Angina follicularis und Ton- 
sillarhyperplasie sowie leichte Schwellung und Rötung des gesamten 
Schlundringes — findet, der in diesem Fall bestand. Unter dem Ein- 
fluß des menstruellen Prozesses kam es zu einem leichten Aufflackern 
der Tonsillenherde. Eine derartige Beeinflussung chronischer Prozesse 
durch die Menstruation ist bekannt und hat auch hier, gekennzeichnet 
in leichten Schluckbeschwerden, stattgefunden. Dadurch ist aber in 
diesem Falle der Gehalt des strömenden Blutes an Monocyten von 
zwei Faktoren abhängig, nämlich dem Zustand des Reticulo-Endothel- 
apparates in seiner Gesamtheit einerseits und seinem Verhalten an 
der Stelle des chronischen interstitiellen Prozesses in der Tonsille 
andererseits. Die hohen Eingangswerte sowie das fehlende Absinken 
der Monocyten zur Zeit des Sturzes der Neutrophilen haben ihre Ur- 
sache in der langsam abklingenden Inflammation der Tonsillenherde, die 
infolge ihrer Bindegewebsproliferation als pathologische Brutstätten 
von Monocyten imstande sind, die mit dem Sturz der Neutrophilen 
meistens parallel gehende Verarmung des peripheren Blutbildes an 
Monocyten zu kompensieren. Die hohen absoluten Lymphocytenwerte, 
die diese Tabelle aufweist, sind wohl auch die Folge des chronischen 
benignen Tonsillarprozesses. 

In Tab. III haben die neutrophilen Leukocyten, Monocyten und 
Eosinophilen ihren Höchstwert 4 Tage vor der Blutung. Doch bestand 
in diesem Falle, wie eingangs angeführt, ein subakuter Lungenprozeß, 
der prämenstruell eine Steigerung seiner Intensität erfahren hat, nun 
seinerseits einen Einfluß auf das normale Blutleben ausübte und das 
in dieser Tabelle ins Praemenstruum fallende Maximum der Blutzellen 
erklärt. Eine solche tatsächlich stattgefundene Steigerung des Lungen- 
prozesses ergibt sich aus der zur gleichen Zeit beobachteten subfebrilen 
Temperatursteigerung. Außerdem scheint auch die vorwiegende Be- 
teiligung der Lymphocyten und Monocyten an der hohen Gesamtzahl 
der Weißen am 4. Tage vor der Blutung für diese Erklärung zu sprechen. 
Letztere Beteiligung hat wohl ihre Ursache in der lokalen Bindegewebs- 
proliferation in der Lungenspitze. Die in dieser Tabelle höheren Werte 
der Eosinophilen im Praemenstruum erklären sich auch durch die In- 
tensitätszunahme des immer noch benignen Lungenprozesses zu dieser 
Zeit, der unter dieser leichten Herdreaktion eine Reizwirkung auf das 
eosinopoetische Zentrum ausübt und ebenso auch einen Einfluß auf 
den Menstruationsablauf nehmen muß. 


Menstruation und peripheres Blutbild. 579 


In Tab. IV fallen an den Neutrophilen die geringen Schwankungen 
ihrer absoluten Werte sowie der Tiefstand am 3. Blutungstag auf und 
das mit ihnen nicht parallel gehende Verhalten der Monocyten. Doch 
wie aus der in dieser Tabelle gleichzeitig ersichtlichen Linksverschiebung 
des Arnethschen Kernbildes hervorgeht, bestand in diesem Falle eine 
leichte Markinsuffizienz, die sich wohl durch die gleichzeitige Wirkung 
des Grundleidens auf die Blutbildungsstätten erklärt. Das abnorme 
Verhalten der Monocyten — der hohe Eingangswert und das fehlende 
Absinken derselben zur Zeit der Verminderung der Neutrophilen — 
hat seinen Grund in der Leber- und Milzaffektion, die in diesem Falle 
bestand. Der prämenstruelle und zu Beginn der Blutung wirksame 
' Menstruationsreiz trifft hier einen in seinen beiden Hauptvertretern, 
Leber und Milz, morphologisch vermehrten und daher auch funktionell 
übererregbaren Reticulo-Endothelapparat, der zunächst in seiner Re- 
aktion auf diesen Reiz hin über die ihm physiologisch entsprechende 
Mehrproduktion und Ausschwemmung seiner Abkömmlinge ins peri- 
phere Blut hinausschießt und sich erst in der Folge, wie aus der Kurve 
ersichtlich, auf den ihm außerhalb des Menstruationsreizes zukom- 
menden Wert einstellt. 

In Tab. V fällt der Höchstwert der Neutrophilen und Monocyten 
in das frühe Praemenstruum. Da aber die Befunde des späten Prae- 
menstruums fehlen, kann man über die Lage des eigentlichen, dem 
Menstruationsreiz entsprechenden Maximum der Neutrophilen und 
Monocyten nichts Bestimmtes aussagen. Doch sind wir geneigt, den 
Gipfel beider Kurven im späten Praemenstruum anzunehmen, wofür in 
gewisser Hinsicht auch der relativ niedrige Wert des 1. Blutungstages 
spricht. 

Tab. VI zeigt das vorhin beschriebene Verhalten; leider fehlt auch 
hier der Befund des letzten Tages vor der Menstruation. 

In Tab. VII liegt der Höchstwert der Monocyten am 3. Blutungstag, 
fällt also einen Tag später als derjenige der Neutrophilen. Leider fehlt 
hier der Befund des 1. Menstruationstages. Man kann daher über die 
Lage des eigentlichen Maximums der Neutrophilen und Monocyten 
nichts Bestimmtes aussagen. Doch scheint uns die Annahme nahe- 
zuliegen, daß der Monocytenwert des 3. Blutungstages nicht dem 
wirklichen Höchstwert derselben auf den Menstruationsreiz hin ent- 
spricht, sondern der Ausdruck des noch hyperplastischen, aber phago- 
cytotisch nicht über die Norm tätigen Reticulo-Endothelapparates ist. 
Zu dieser Annahme berechtigt auch die geringe Zellsteigerung der 
Neutrophilen am 2. Blutungstag gegenüber dem Wert am letzten Tag 
vor der Menstruation. 

Tab. VIII weist das Maximum der Neutrophilen am letzten Blu- 
tungstag auf. Da jedoch die Befunde des späten Praemenstruums fehlen, 


580 | G. Holler; H. Melicher, N. Reiter: 


so kann 'man auch hier die Lage des eigentlichen Höchstwertes der 
Neutrophilen auf den Menstruationsreiz hin nicht genau bestimmen. 
Doch sind wir geneigt, den Wert am 3. Blutungstag als Folge der Re- 
sorptionsreizwirkung auf das myeloische System aufzufassen. Dazu 
berechtigt auch der Tiefstand der Neutrophilen am 2. Menstruations- 
tag gegenüber dem 1. und 3. Tage dieser Phase. An den Eosinophilen 
fallen die relativ — im Vergleich mit dem intramenstruellen Höchst- 
wert — hohen Zahlen im Praemenstruum auf sowie die ausgesprochene 
Penie im Postmenstruum. Erstere erklären sich jedoch durch das 
frühe Praemenstruum, eine Zeit, wo eine genügende Sekretion des Cor- 
pus luteum und dadurch bedingt ausgiebige hormonale Beeinflussung 
des Gesamtorganismus noch nicht stattgefunden hat, vielleicht auch 
dureh den chronischen Prozeß, der in diesem Fall bestand. Die pe- 
nischen Werte im Postmenstruum haben aber wohl ihre Ursache in 
einer gesteigerten Labilität des eosinopoetischen Zentrums, durch die 
chronische Infektion bedingt, die ein baldiges Erlahmen seiner Re- 
äktionsfähigkeit auf einen andauernden Reiz hin zur Folge hat. 

‘Auf Grund dieser Untersuchungsergebnisse können wir also über 
die Beeinflussung des peripheren Blutbildes durch den menstruellen 
Zyklus zusammenfassend sagen: 

Im Praemenstruum findet ein Steigen der Erythrocyten, Neutro- 
philen und Monocyten statt, das sich bis in die ersten Blutungstage 
erstrecken kann. Während der Blutung sinken dieselben mehr oder 
weniger rasch ab und stellen sich im Postmenstruum nach einem even- 
tuellen nochmaligen leichten Anstieg am Ende der Blutung auf die 
Norm ein. Diese prämenstruelle Erythro-, Neutro- und Monocyten- 
vermehrung ist ein Hinweis darauf, daß die betreffenden Zentren im 
Praemenstruum unter einer Reizwirkung stehen, die intramenstruell 
wegfällt. 

Das eosinophile Blutbild wird durch den menstruellen Zyklus 
wesentlich nur intramenstruell im Sinne einer Cytose beeinflußt. 
Dieses Verhalten der Eosinophilen legt den Schluß nahe, daß das 
eosinopoetische Zentrum intramenstruell sich in einem Reizzustande 
befindet. 

Die Lymphocyten zeigen nur eine relative Vermehrung intra- 
menstruell zur Zeit der Verminderung der Neutrophilen; absolut 
konnten wir keine nennenswerten Schwankungen verzeichnen. Es 
hat demnach der Menstruationsprozeß auf das Iymphatische System 
keine nennenswerte Auswirkung. 

Im wesentlichen zeigt der Menstruationsvorgang in minimalstem 
Ausmaße die Einwirkungen auf das periphere Leukocytenblutbild, die 
wir als Reaktion auf geringgradig toxische Infekte daselbst zu sehen 
gewohnt sind. Die Einwirkung gleichzeitig im Körper vorhandener 





Menstruation und peripheres Blutbild. 581 


und durch den menstruellen Prozeß noch inflammierter Krankheits- 
herde äußert sich ebenso in einem veränderten Ablauf der menstruellen. 
Blutbilder, wie andererseits auch ihr Einfluß auf den genitalen Zyklus 
(Amenorrhöe-Monorrhagie) bekannt ist. 

Die Trombocyten zeigen während der Blutung, und. zwar gegen 
Ende derselben eine Vermehrung. Diese in den meisten Fällen hoch- 
gradige intramenstruelle Vermehrung der Trombocyten drängt den 
(Gedanken auf, daß dieselbe — ein zweckmäßiger Vorgang’ — in ur- 
sächlichem Zusammenhang mit dem. Sistieren der Blutung steht. 


Literatur. 


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Med. 5. 1923. — Horvath, zit! nach Gumprich. — Jagic, zit. nach Holler. — Kjer- 
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1910, 8. 238. — Poggt, zit. nach Franz und Zondek. — Reinert, zit. nach Gumprich. 
— Schwenker und Schlecht, Über den Einfluß sympathico- und. autonomotroper 
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zit. nach Gumprich. — Stickel und Zondek, zit. nach Franz und Zondek. — Stolper, L.; 
Menstruation und vegetatives Nervensystem. Wien. med. Wochenschr. 1923, 
H, 20. u. 23. — Türk, zit. nach Holler. 





(Aus dem Städtischen Krankenhaus Südufer [Dirig. Arzt: Dr. Georg Eisner]| und 
dem Pathologischen Institut des Städtischen Rud. Virchow-Krankenhauses Berlin 
[Prosektor: Dr. Erwin Ohristeller].) 


Zur Differentialdiagnose zwischen perniziöser Anämie und 
atypischer Lymphadenose. 


Von 
(Georg Eisner, und Edmund Mayer, 
Dirig. Arzt, Oberarzt am Pathol. Institut. 


Mit 1 Textabbildung. 
(Eingegangen am 3. März 1924.) 


Die Diagnosen „Leukämie“ und ‚perniziöse Anämie“ sind in ty- 
pischen Fällen nicht schwer und bieten kaum differentialdiagnostische 
Schwierigkeiten. Anders ist es schon, wenn z. B. die Leukämie sich in 
einem aleukämischen Stadium befindet und die Begleitanämie einen 
besonders hohen Grad erreicht hat, oder wenn bei der perniziösen Anämie 
die häufig vorkommende relative Lymphocytose außergewöhnlich hoch 
ist. Eine ganze Anzahl in der Literatur beschriebener Fälle fordern 
zu solchen differentialdiagnostischen Erwägungen heraus. Vielfach sind 
sie unter dem Sammelnamen ‚„Leukanämie‘ mitgeteilt worden. Unsere 
Kenntnisse über die funktionellen Vorgänge in der Hämatologie sind 
noch recht gering. Die übliche Systematisierung ist, wie immer, nur 
für die sog. typischen Fälle einigermaßen befriedigend. 

Zu welchen differentialdiagnostischen Schwierigkeiten es kommen 
kann, wollen wir an der Hand eines besonders interessanten Falles 
zeigen: 

Die 40 Jahre alte ledige Plätterin A. P. litt seit ca. 3—4 Monaten an zunehmen- 
der Schwäche und Blässe. Die subjektiven Beschwerden hatten in den letzten 
4 Wochen immer mehr zugenommen. Zunehmende Kurzatmigkeit, Anschwellen 
der Knöchelgegenden, Fieber, Husten, Auswurf und Stiche in der linken Seite 
traten ein. Aufnahme am 10. I. 1923. 

Die Pat. sah außerordentlich blaß aus. Sie war dabei von kräftigem Körperbau 
und in gutem Ernährungszustand. Leichte Ödeme an den Augenlidern und an 
den Fußknöcheln. Sehr blasse Schleimhäute. Nirgends waren Drüsen sichtbar 
oder auch fühlbar. Keine vergrößerte Schilddrüse. Das Herz war nicht verbreitert. 
Über der Spitze ein systolisches Geräusch. Blutdruck 100/70 mm Hg R. R. Über 
den Lungen waren beiderseits diffus verteilte bronchitische Geräusche festzu- 
stellen. Etwas schleimig-eitriger Auswurf (Tuberkelbacillen negativ). Die Leber 
war mäßig vergrößert und fühlte sich hart an. Die ebenfalls vergrößerte Milz 
reichte bei tiefer Inspiration I—2 cm über den Rippenbogen. Der Urin war frei 
von Eiweiß und Zucker, hatte erhöhten Urobilingehalt. Es bestand Klopfempfind- 





G. Eisner und E. Mayer: Zur Differentialdiagnose usw. 583 


lichkeit des Sternums und der Schienenbeine. Am Augenhintergrund zahlreiche 
kleinere und größere Blutungen. Zahnfleischblutungen oder andere Lokalisa- 
tionen hämorrhagischer Diathese waren nicht vorhanden. Die Stuhlbeobachtung 
lieferte keinerlei Anhaltspunkte: Kein Blut nach fleischfreier Kost, keine Parasiten- 
eier. Es bestand dauernd Fieber, erst zwischen 37 und 38°, manchmal auch bis 
39°, intermittierend, später kontinuierlich um 39°. Die Kurve fiel sub finem vitae 
allmählich ab. Die Blutuntersuchungen ergeben sich aus folgender Tabelle: 






































Datum Sr Erythro- | Leuko- Sn al ie ' Thrombo- Färbe- Bemerkungen 
% cyten cyten % %, %% cyten index 
1923 | 
10.1 34 1500000 |10400 77 3 20 l 
12.1. | 34 [1760000 | 5700 
I7al. ‚1500000 | 8000 79 15) 16 
18. I. 34 ı 6800 | 70 15 15 
24.1 1330 000 | 7000 280 000 
26. I 24 885 000 |, 9200 | 74 12 14 
29.1 14, 780000 | 7150, 84 10 6 0,9 | 30.1. Röntgenbe- 
| strahlung 
31T 16 880 000 | 5000 68 8 24 
Sn 14 | 840000 | 4000 | 70 10 20 4. II. Röntgenbe- | 
6.11. 14 594 000 | 7200 68 9 23 strahlung 
0.I1 12 672 000 | 5600 | 78 7 15 | keine 1,1 | 9.II. Röntgenbe- 
strahlung 





























Das Blutbild zeigt eine zunehmende Verminderung der roten Blutkörperchen. 
Es besteht dabei keine Polychromasie, dagegen Poikilocytose, Anisocytose; spär- 
liche Megalocyten, keine Erythroblasten. Der Hämoglobingehalt, der bei der 
Aufnahme 34%, beträgt, sinkt bis auf 12% ab. Der Färbeindex ist und bleibt 
ungefähr 1. Die Zahl der Weißen ist normal oder zeitweise etwas erhöht. Das 
weiße Blutbild zeigt eine dauernde starke Lymphocytose bis 84%, entsprechende 
Abnahme der polynucleären Zellen, keine eosinophilen Zellen, keine wesentliche 
Ausschwemmung unreifer .myeloischer Zellen. Das Verhältnis der peroxydase- 
positiven zu den negativen Zellen war das gleiche wie das der Polynucleären 
zu den Lymphocyten, nämlich 17 : 83. — Dreimalige Röntgenbestrahlung beein- 
flußte weder das Blutbild, noch konnte sie an dem Verlauf etwas ändern. Unter 
zunehmender Schwäche und Benommenheit trat am 16. IL. 1923 der Exitus ein. 


Wir haben also klinisch eine schwere progrediente Anämie, eine 
dauernde hochgradige relative und absolute Lymphocytose bei starker 
Verminderung der polynucleären Zellen, dabei eine Bronchitis. Nach 
dem Befund und Verlauf der Krankheit kamen folgende diagnostische 
Möglichkeiten in Betracht. In erster Linie mußte man an eine subakut 
verlaufende subleukämische Iymphatische Leukämie denken. Hierfür 
sprach die hochgradige und andauernde Lymphocytose, die stark 
progrediente Anämie, ohne daß diese anderweitig (keine Tumoren, 
keine Parasiten usw.) zu erklären gewesen wäre. Auffallend war das 
Fehlen jeglicher nachweisbarer Lymphknotenschwellungen. Es bestand 
jedoch die Möglichkeit, daß innere Lymphknoten im Sinne der lympha- 


584 . @. Eisner und E. Mayer: Zur Differentialdiagnose 


tischen Leukämie oder die subeutanen Lymphdrüsen nur mikroskopisch 
verändert waren, oder daß der Hauptsitz der leukämischen Verände- 
rungen im Knochenmark, in der Milz oder Leber war. 

In zweiter Linie war daran zu denken, daß es sich um eine nicht 
ganz typische perniziöse Anämie gehandelt hätte. Dafür sprach die 
klinisch im Vordergrund stehende schwere zunehmende Anämie, im 
Blutbild die starke Verminderung der roten Blutkörperchen und des 
Hämoglobingehaltes, die Poikilocytose und Anisocytose. Daß während 
der Beobachtungszeit von 6 Wochen keine kernhaltigen Erythrocyten 
bei vielfachen Untersuchungen gefunden wurden, spricht nicht unbedingt 
gegen die Annahme der perniziösen Anämie. Der Färbeindex, der sich 
immer um 1 hielt, ist weder für noch gegen die Diagnose verwendbar. 
Dagegen wäre die Urobilinausscheidung als Zeichen hämolytischer Vor- 
gänge sowie die Retinalblutungen ohne andere Lokalisation einer 
hämorrhagischen Diathese für die Annahme einer perniziösen Anämie 
zu verwenden. Eine relative Lymphocytose bei perniziöser Anämie ist 
nicht selten und kann nach Naegeli!5) sogar 40—60% betragen, geht 
jedoch mit einer Verminderung der Gesamtleukocytenzahl einher. Daß 
aber der Lymphocytenanteil dauernd etwa 80% beträgt, und daß die 
Gesamtzahl der Leukocyten unvermindert oder gar vermehrt ist, so daß 
die Lymphocytose zu einer absoluten wird, ist ein mit der Diagnose 
der perniziösen Anämie schwer zu vereinbarender Befund. 

Eine an sich recht seltene Mikromyeloblastenleukämie kam wegen 
des Fehlens der Lymphdrüsenschwellungen vielleicht deshalb in Frage, 
weil Lymphocyten und Mikromyeloblasten nur durch die positive 
Oxydasereaktion geschieden werden können. Die Mikromyeloblasten- 
leukämie ist jedoch eine ausgesprochen akute Leukämie, die bekannter- 
maßen mit allgemeiner hämorrhagischer Diathese, mit Nekrosen und 
Ulcerationen, besonders der Mundschleimhaut, einhergeht und eine 
septische Fieberkurve darbietet. Hämatologisch finden sich auch meist 
Übergänge zu reiferen Granulocyten. Aus diesen Gründen mußte die 
Diagnose einer Mikromyeloblastenleukämie als unwahrscheinlich fallen 
gelassen werden. 

Eine Entscheidung über unseren Fall konnte nach dem klinischen 
Bild allein nicht getroffen werden. Erst der Sektionsbefund konnte 
weitere Klarheit bringen. 


Auszug aus dem Sektionsprotokoll. 


1,63 m lange, 44 kg schwere Leiche, Bauchdeckenfett 1 cm dick. Hochgradige 
Blässe. Leistenlymphknoten kaum auffindbar, nur rechts ein deutlich ausgebilde- 
ter Knoten von Halbbohnengröße. Achsellymphknoten beiderseits reiskorn- bis 
kleinbohnengroß. Bronchiale und Bifurkationslymphknoten anthrakotisch, höch- 
stens bohnengroß. Mesenteriallymphknoten schrotkorngroß. Mediastinale, retro- 
peritoneale und portale Lymphknoten nicht erkennbar. 





zwischen perniziöser Anämie und atypischer Lymphadenose. 585 


Gaumenmandeln halbhaselnußgroß, Zungengrundfollikel schwach entwickelt. 
Im Dünndarm Solitärfollikel sehr spärlich, 2 Peyersche Haufen eben erkennbar. 

Knochenmark im Sternum graurötlich, in der Femurdiaphyse graurötlich mit 
Fettinseln im unteren Drittel. 

Milz 530g, Kapsel prall, Konsistenz derb-elastisch, Trabekel und Follikel 
sehr deutlich, Pulpa nicht abstreifbar. 

Leber 2000 8. Schnittfläche hellbraun mit hellgelben Fleckchen ohne deut- 
liche Beziehung zu den Läppchen. 

Herz nicht hypertrophisch, beiderseits dilatiert. Tigerung der mitralen Papillar- 
muskeln und der linken Ventrikelseptumseite. 

Lungen durchweg lufthaltig, in den kleinen Bronchien reichlich Eiter. 

Schilddrüse: Linker Lappen 7,5x3x3cm, rechter Lappen 6,5x4x2 cm, 
Schnittfläche feingekörnt, kolloidglänzend. 

Nebennieren, Pankreas, Ovarien, Uterus o. B. 

Nieren: Gewicht zusammen 320 g, Oberfläche glatt, Rinde etwa °/, cm breit, 
deutlich gegen das Mark abgesetzt. 

Hirnhäute und Hirn o. B. Hirngewicht 1280 g. Basalarterien zart. 


Mikroskopischer Befund. 


Größter Leistenlymphknoten: Bei vollständigem Durchschnitt durch die Hilus- 
gegend 6 mm Durchmesser. Nur eine 1 mm dicke Randzone besteht aus Iympha- 
denoidem Gewebe in Form von deutlichen Rindenfollikeln; der Rest des Knotens, 
besonders also das Markgebiet, ist bindegewebig sklerosiert. Rindensinus deutlich, 
Wucherung der Endothelien. Keine Keimzentren, keine Kapselinfiltrate. Eisen- 
reaktion negativ. 

Größter Achsellymphknoten: 11x6mm. Die bindegewebige Sklerosierung 
ist im Mark nicht ganz so ausgedehnt wie bei dem eben beschriebenen Leisten- 
Iymphknoten, erstreckt sich aber weiter in die Rindenfollikel hinein. Die normale 
Lymphknotenstruktur ist dadurch weitgehend verwischt, jedoch sind die sub- 
kapsulären Sinus oft noch deutlich erhalten. Keine Kapselinfiltrate. 

Bronchiallymphknoten: 9x 4,5 mm. Lymphatische Rindenknötchen zum Teil 
durch Iymphatische Stränge verbunden. Anthrakotische Pigmentierung des stark 
vermehrten Bindegewebes und der Sinusendothelien. Subkapsuläre Sinus zell- 
arm. Weder in der Kapsel noch im umgebenden Fettgewebe Lymphocyten. 

Über das follikuläre und diffuse Iymphatische Gewebe des Zungengrundes, 
des Magens und des Darmes kann zusammenfassend gesagt werden, daß es stets 
streng auf die Schleimhaut begrenzt bleibt und nirgends als hyperplastisch zu 
bezeichnen ist. 

Die Magenschleimhaut ist 1,5 mm dick (mittlerer Erhaltungszustand), es liegt 
ein Drüsenschlauch dicht an dem anderen. 

Milz: Follikel und Pulpa deutlich abgegrenzt. Follikel schwach ausgebildet, 
Durchmesser selten über 0,5 mm. Die Pulpa enthält Erythrocyten, Erythroblasten 
und kleine Lymphocyten. Vereinzelt finden sich neutrophile und eosinophile 
Myelocyten, ganz spärlich Megakaryocyten und nackte Kerne von solchen. Milz- 
kapsel nicht infiltriert, kollagene Fasern nicht vermehrt. Hochgradige Hämo- 
siderose der Pulpa. 

Leber: Fettinfiltration der Läppchenzentren. Periportales Bindegewebe nicht 
vermehrt, auffallend kernarm; in 18 durchgesehenen Schnitten (durchschnittlich 
2 gem groß) kein einziges Lymphom. Zahlreiche kleine intralobuläre Capillar- 
ektasien enthalten hauptsächlich Erythrocyten, ferner peroxydasepositive Zellen, 
meist segmentkernige Leukocyten. Die spärlichen Myelocyten und die etwas 
häufigeren Megakaryocytenkerne sind wahllos in den Leberläppchen zerstreut, 


586 G. Eisner und E. Mayer: Zur Differentialdiagnose 


ohne Bevorzugung der Capillarektasien. Recht geringe Leberzellhämosiderose, 
stärkere diffuse und klumpige oder tropfige Hämosiderose der Sternzellen. 
Femurmark: Die Präparate aus den beiden oberen Dritteln der Diaphyse 
bestehen ungefähr zu gleichen Teilen aus Fettmaschen und aus Zellmark. Im 
unteren Drittel tritt das Zellmark erheblich hinter dem Fettmark zurück. Mit 
Formol-Müller fixierte und nach May-Grünwald-Giemsa gefärbte Schnitte ergeben 
folgende Zusammensetzung des Zellmarkes: am reichlichsten sind Myeloblasten 
und Normoblasten vorhanden, dann folgen die sehr zahlreichen eosinophilen 
Myelocyten; neutrophile Myelocyten sind dagegen recht spärlich. Megakaryocyten 
relativ zahlreich, sichere Megaloblasten nicht nachweisbar. Den auffallendsten 
Befund bilden aber schon mit bloßem Auge erkennbare Herde von kleinen rund- 
kernigen Zellen mit kaum sichtbarem C'ytoplasma. Die Kerne dieser Zellen sind 





Abb. 1. Übersichtsbild aus dem Femurmark (proximales Drittel). Peroxydasereaktion mit Hä- 

matoxylinnachfärbung. Leitz Obj. 1 Okul. 1. Vergr. der Originalzeichnung 24 fach, bei der Re- 

produktion auf ®/, verkleinert. Gelbbraun: 1. myeloische Zellen mit positiver Peroxydasereak- 

tion; 2. Erythrocyten und Normoblasten. Blau: fünf scharfumschriebene Herde, sichere Lymph- 

knötchen, rechts oben mit kleiner Arterie; am unteren Bildrande rechts wahrscheinlich ein 

peripher angeschnittenes Lymphknötchen. Mehr diffus-blaue, wolkige Gebiete: Myeloblasteun 
mit negativer Peroxydasereaktion (einzelne Lymphocyten ?). 


heller als die der Erythroblasten, aber bedeutend chromatinreicher als die der 
Myeloblasten und Myelocyten und viel kleiner als diese (nur 5 « groß). Zwischen 
ihnen sieht man acidophile Plasmastreifen, die miteinander anastomosieren und 
gelegentlich mit sehr großen chromatinarmen Kernen in Verbindung treten. 
Es handelt sich also um Lymphocytenhaufen mit Reticulum. Am schönsten treten 
sie in Peroxydasepräparaten mit Hämatoxylinnachfärbung (Gelatineeinbettung) 
hervor (siehe Abbildung): die peroxydasepositiven Myelocyten sind gelb granu- 
liert, die zahlreichen Normoblasten und Erythrocyten homogen gelb (Kigenfarbe), 
die Myeloblasten schwach oder gar nicht gelb, durch ihren großen hellen Kern 
mehr blaßblau. Während. also das erythroblastisch-myeloische Parenchym gelb 
mit zartblauen Aussparungen erscheint, fallen die Lymphfollikel sofort durch 
ihre kräftige rein blaue Farbe auf. Die Follikel sind nicht sehr scharf gegen das 
myeloische Parenchym abgegrenzt; oft findet man zwischen den Lymphocyten 
des Follikelrandes einzelne eosinophile Myelocyten oder Leukocyten, seltener 
neutrophile Myelocyten und Megakaryocyten. Die Follikel erreichen eine maxi- 
male Größe von 500x500 « und lassen häufig eine kleine Arterie erkennen. Am 


zwischen perniziöser Anämie und atypischer Lymphadenose. 587 


zahlreichsten sind die Follikel im oberen Drittel der Diaphyse; hier fanden sich 
beispielsweise auf einer Fläche von 25 qmm 6 Follikel (bei Leitz Obj. 1, Okul. 1, 
Tubuslänge 150 mm in einem Gesichtsfelde sichtbar). 

Im mittleren Diaphysendrittel sind die Lymphknötchen spärlicher und kleiner, 
ferner noch weniger scharf abgegrenzt. Im unteren Drittel sind perivasculäre 
Lymphknötchen nicht nachweisbar. 

Die Eisenreaktion ergibt eine ziemlich starke diffuse und körnige Hämo- 
siderose der Reticulumzellen im myeloischen Gebiet. 

Sternum: Das Mark besteht aus erythroblastisch-myeloischem Parenchym 
einschließlich Megakaryocyten mit ganz wenigen Fettmaschen. Lymphfollikel 
sind nirgends vorhanden (8 Schnitte von 2 Blöcken untersucht). 

Hetz: Der makroskopischen Tigerung entsprechende treppenförmige Myo- 
kardverfettung. In den ganz engen Myokardcapillaren auffallende Anreicherung 
‚von peroxydasepositiven Zellen (besonders Myeloblasten oder Myelocyten). Keine 
Zellinfiltrate. 

Lunge: Ausfüllung der Bronchen mit segmentkernigen Leukocyten (Per- 
oxydasereaktion positiv); Bronchialschleimhaut teils erhalten, teils nekrotisch. 
In einem Schnitt ein winziges Lymphocytenhäufchen im peribronchialen Binde- 
gewebe (9 Schnitte untersucht). 

Niere: Keine Zellinfiltrate. Herdförmige hochgradige Hämosiderose der ge- 
wundenen Rindenkanälchen. 

Pankreas: Langerhanssche Inseln deutlich, keine Zellinfiltrate, keine Hämo- 
siderose. 

Nebenniere: An Rindengefäßchen sich anschließende ganz vereinzelte winzige 
Lymphocytenansammlungen, höchstens eine auf einen Totalschnitt. Kein Hämo- 
siderin. 

Schilddrüse: Kolloidgefüllte Follikel mit den üblichen Größenunterschieden. 
Epithel flach-kubisch. Keine interstitiellen Zellansammlungen. 

Hirn (Brücke): Keine Infiltrate, keine Hämosiderose. 

Haut: Keine Infiltrate, keine Blutungen in der Haut und im Unterhautfett- 
gewebe. 


Kurz zusammengefaßt ergibt der makroskopische und mikro- 
skopische Sektionsbefund des Falles folgendes: Ausgesprochene all- 
gemeine Atrophie des nodulären und diffusen Iymphatischen Gewebes: 
nur im Femurmark zahlreiche und große Lymphfollikel. Schwere An- 
ämie; Tigerherz. Starke Hämosiderosis von Milz, Nieren, Femurmark, 
geringe der Leber. Eitrige Bronchitis. 


Nicht völlig klar ist die Natur der hochgradigen Milz- und Leberschwellung. 
Die Vergrößerung der Milz könnte mit Rücksicht auf die Hämosiderose in Zu- 
sammenhang mit der Blutzerstörung gebracht werden; doch ist ein Gewicht von 
530 g bei perniziöser Anämie ungewöhnlich hoch. Die starke Füllung der Pulpa 
mit Erythroblasten kann als Beteiligung an der Regeneration der roten Blut- 
körperchen aufgefaßt werden. Wenn auch im Schnittpräparat Lymphocyten nicht 
immer mit unbedingter Sicherheit von hämoglobinfreien Erythroblasten abzu- 
grenzen sind, so besteht doch an der hochgradigen Pulpalymphocytose kein 
Zweifel, während Myelocyten spärlicher zu finden sind. Die Vermehrung der 
Erythroblasten und Lymphocyten in der Pulpa hat zur Milzvergrößerung sicher 
beigetragen. Was die Leber betrifft, so kann von deutlichen Blutbildungsherden 
nicht die Rede sein, da die vorhandenen Capillarektasien fast nur reife Leuko- 
cyten enthalten. Da die Fettinfiltration in mäßigen Grenzen bleibt und die 


Z. f. klin. Medizin. Bd. 100. 38 


588 G. Eisner und E. Mayer: Zur Differentialdiagnose 


Hämosiderose sehr gering ist, so bleibt der Mechanismus der hochgradigen Leber- 
vergrößerung ungeklärt. 

Wir wollen jetzt nach Kenntnis des makroskopischen und mikro- 
skopischen Sektionsbefundes versuchen, uns für eine von den bereits 
besprochenen diagnostischen Möglichkeiten zu entscheiden: Die schon 
nach den klinischen Befunden unwahrscheinliche Myeloblastenleukämie 
scheidet aus, da sich keine anatomischen Unterlagen ergeben haben. 
Handelt es sich nun in unserem Falle um eine perniziöse Anämie oder 
um eine leukämische Erkrankung? Unspezifische Anzeichen jeder 
schweren Anämie waren die Myokardtigerung und der Ersatz des Röh- 
renknochenfettmarkes durch Zellmark. Die Hämosiderose der Organe 
spricht — im gleichen Sinne wie die klinisch beobachtete Urobilinurie — 
zum mindesten für eine hämolytische Anämie. Weiter ist das vorwiegend 
myeloblastische Knochenmark für die perniziöse Anämie zu verwerten. 
Daß die Hämosiderose in Milz und Niere stark und in der Leber ver- 
hältnismäßig gering ist, entspricht nicht der üblichen Verteilung bei 
perniziöser Anämie. Das Fehlen der Erythroblasten im Blut der Lebenden 
bei reichlichem Normoblastenbefund im Mark ist nicht selten und auf 
mangelnde Ausschwemmung zurückzuführen. 

Man könnte sich also durchaus für eine perniziöse Anämie ent- 
scheiden. Ungeklärt bleibt dann nach wie vor die starke und dauernde 
Lymphocytenvermehrung, die immer wieder die Aufmerksamkeit auf 
das Iymphatische Gewebe lenkt. Die befriedigendste Lösung wäre es, 
wenn man anatomische Unterlagen für eine Lymphadenose anerkennen 
könnte. Mit einer „Iymphatischen Leukämie‘ steht all das, was soeben 
für perniziöse Anämie ins Feld geführt wurde, durchaus nicht in Wider- 
spruch. Auch bei der Leukämie können sehr schwere Begleitanämien 
mit hämolytischen Vorgängen vorkommen. Eine scharfe Abgrenzung 
hämolytischer von „myelophthisischen Faktoren bei dem Zustande- 
kommen einer Begleitanämie bei Leukämie ist zur Zeit nicht möglich 
[v. Domarus5) S. 498]. Es muß zunächst allerdings sonderbar erscheinen, 
bei fast allgemeiner Atrophie bzw. Hypoplasie des lymphatischen 
Apparates eine leukämische, also eine hyperplastische Erkrankung 
überhaupt in Erwägung zu ziehen. Eine typische generalisierte Lympha- 
denose kommt natürlich nicht in Frage. Wir haben ja auf die Atrophie 
aller Lymphknoten schon hingewiesen. Die sklerosierenden Vorgänge 
in ihnen sind allerdings ätiologisch nicht zu klären. Sollten die 3 Rönt- 
senbestrahlungen in der letzten Lebenszeit einen Anteil an der Sklerose 
haben, so ist trotzdem die Rückbildung eines etwaigen leukämischen 
Prozesses durch die Bestrahlung aus folgenden Gründen auszuschließen: 
1. Die Lymphknoten waren schon vor der Bestrahlung nicht zu fühlen, 
also sehr klein und spärlich. 2. Die Lymphämie wurde durch die Be- 
strahlungen nicht beeinflußt. 3. Die nicht sklerotischen Teile der Lymph- 


zwisehen perniziöser Anämie und atypischer Lymphadenose. 589 


knoten zeigen keinerlei leukämische Veränderung (Randsinus erhalten, 
Kapseln und umgebendes Fettgewebe niemals infiltriert). Wenn also 
eine typische generalisierte Leukämie nicht in Frage kommt, so handelt 
es sich nun darum, zu entscheiden, ob sich eine anatomische Unterlage 
für die Lymphämie finden läßt, oder ob diese als rein ‚funktionell“ 
gelten muß. Nun gibt es noch die atypischen, auf einzelne Organe be- 
schränkten Formen Iymphatischer Hyperplasie, welche die Grenzfälle 
der „Systemerkrankungen“ darstellen: die eine Lymphknotengruppe 
befallende Form, die lienale und die medulläre Form. Die beiden ersten 
scheiden nach den mitgeteilten Befunden aus*), während die großen 
‚und zahlreichen Iymphatischen Knötchen im Femurmark für die 
medulläre Form als anatomische Unterlage in Frage kommen könnten. 
Es ist notwendig, auf die Bedeutung von Lymphknötchen im Knochen- 
mark mit einigen Worten einzugehen. 

Lymphknötchen im Knochenmark sind bisher aufgefaßt worden: 


1. als Zeichen eines Status Iymphaticus [Hedinger®)], 

2. als Zeichen Iymphatischer Hyperplasie bei perniziöser Anämie 
[K. Ziegler?2)]; | 

3. als Frühstadium der Lymphadenose [.Banti2)]; 

4. als lokale Variation ohne Beziehung zu Erkrankungen des lympho- 
hämatopoetischen Systems [Askanazy})]. 


Askanazy fand bei wahlloser Untersuchung unter 126 Fällen 43 mal 
Lymphknötchen im Femurmark (= 34%); seine Schülerin O. v. Fischer?) 
untersuchte 61 Fälle (darunter keine Leukämie) und fand’ 38 mal 

—= 62%) Lymphfollikel in mindestens einem der untersuchten Knochen: 
Humerus, Wirbel und Rippe. Bei derartig häufigem positiven Befund 
läßt sich das bloße Vorhandensein von Lymphknötchen im Knochen- 
mark in keine Beziehung zu irgendwelchen pathologischen Vorgängen 
im Organismus bringen, also auch nicht zu abnormen Zuständen des 
Iymphohämatopoetischen Apparates. Nur besonders zahlreiche oder 
besonders große Knötchen werden von Askanazy als hyperplastisch 
anerkannt. Von Schridde?) und Naegelil5) wird dagegen nach wie 
vor der Standpunkt vertreten, daß Lymphfollikel im Knochenmark 
etwas Pathologisches darstellen und jedenfalls nur als Ausnahme ge- 
funden werden. Zur Nachprüfung dieser Frage hat der eine von uns 
(M.) gemeinsam mit Dr. Furuta eine Nachuntersuchung unternommen, 
über deren Ergebnisin Virchows Archiv berichtet wird. Esist, genau nach 
‚dem Verfahren Askanazys, in über 60 Fällen das Femurmark untersucht 
worden. Diese Untersuchungen haben gezeigt, daß auch hier in Berlin 
Lymphknötchen im Femurmark ziemlich häufig beobachtet werden, ohne 


*) Auf die Bedeutung der Milzpulpalymphocytose kommen wir weiter unten 
kurz zurück. 


38* 


590 G. Eisner und E. Mayer: Zur Differentialdiagnose 


daß eine Erkrankung desIymphohämatopoetischen Apparates vorzuliegen 
braucht. In unserem Falle zeichnen sich nun aber die Knötchen durch be- 
sondere Größe und Reichlichkeit aus. Unter Askanazys 43 positiven 
Fällen wurde nur 8mal ein Durchmesser zwischen 400 und 500 a er- 
reicht und nur I mal über 500 u. Unter O. v. Fischers 38 positiven Fällen 
wurde einmal im Humerus 500 u überschritten, als Maximalwert in einer 
Rippe 666 u erreicht. Die Größe unserer Knötchen beträgt nicht 
selten 500 - 500 u. Hierzu kommt noch ihre Dichtigkeit, bis zu 6 ım 
einem Gesichtsfeld. In den eben erwähnten Kontrolluntersuchungen 
fanden wir dagegen, ebenso wie Askanazy, maximal 4. Selbst wenn also 
die Askanazyschen Befunde als etwas „Normales‘‘ gelten dürfen, so 
stehen die Knötchen in unserem Fall zum mindesten an der Grenze 
dieser Norm. Besonders bemerkenswert ist, daß O. v. Fischer in einem 
Falle von Iymphatischer Leukämie Knötchen von 600 u, also etwa der 
sleichen Größenordnung fand. Berücksichtigt man ferner die Tatsache, 
daß in unserem Falle der gesamte übrige Iymphatische Apparat deutlich 
hypoplastisch bzw. atrophisch ist, so müssen um so mehr die Lymph- 
knötchen im Femurmark als hyperplastisch bezeichnet werden. 

Nun hat K. Ziegler?) die Meinung vertreten, daß bei perniziöser 
Anämie infolge der gleichzeitigen Schädigung der myeloischen Kompo- 
nente eine Hyperplasie der Iymphatischen Komponente eintritt. Er 
bringt Beschreibungen und eine Abbildung von Lymphknötchen im 
Knochenmark, die sich morphologisch durchaus mit unseren Befunden 
decken. Da aber in den Zieglerschen Fällen nur eine relative Lympho- 
cytose bestand, ferner nur ausnahmsweise Follikel gefunden wurden 
(anscheinend nur im Fall 1 einigermaßen reichlich), so ist unser Fall 
mit seiner absoluten Lymphocytenvermehrung im Blutbild und mit 
der isolierten Follikelhyperplasie im Knochenmark bei Atrophie des 
ganzen übrigen Iymphatischen Apparates mit den Zieglerschen Fällen 
nicht ohne weiteres vergleichbar. 

Es erhebt sich nun die Frage, ob die hyperplastischen Lymphknötchen 
im Knochenmark entsprechend der Angabe Bantis als Frühstadium 
einer Lymphadenose aufzufassen sind. Für diese Deutung unseres 
Falles spricht vor allem die absolute Lymphämie. Es würde sich dann 
um einen jener Grenzfälle der Lymphadenosen handeln, in denen die 
Iymphatische Hyperplasie vorwiegend ein Organ, und zwar in diesem Fall 
das Knochenmark betroffen hat. Die in der Literatur niedergelegten Fälle 
von „medullärer Pseudoleukämie‘ unterscheiden sich von dem unseren 
jedoch dadurch, daß entweder die Iymphatische Hyperplasie auch noch 
andere Organe betraf [Litten?), v. Domarus®)] oder aber das Knochenmark 
nicht in Knötchenform, sondern diffus Iymphatisch hyperplasiert 
war [Senator?!), Rubinstein®), Hess und Isaac’)]. Hierher gehören 
auch die von Pappenheim!%) als „Lymphämie ohne Lymphdrüsen- 


zwischen perniziöser Anämie und atypischer Lymphadenose. 591 


schwellungen“ bezeichneten 2 Fälle, vielleicht auch der von Dennigt). 
Der von Hirschlaff!P) mitgeteilte Fall ähnelt klinisch unserem Falle 
weitgehend, hatte aber keine Iymphatische Hyperplasie im Knochen- 
mark; eine Atrophie der Lymphknoten: wird nicht vermerkt. Unter 
den von H. Laissle!?2) als ‚schwere Anämien mit atypischem und 
wenig typischem Befund“ bezeichneten Fällen finden sich 2 (Nr.5 und 
6) mit Lymphämie, von denen der eine herdförmige, der andere diffuse 
Lymphocytenanhäufungen im Knochenmark aufweist, ohne wesent- 
liche Iymphatische Hyperplasie anderer Organe. Am nächsten scheint 
unserem Falle die Beobachtung von Körmöeczil!) aus dem Jahre 1899 
zu stehen: Hier finden wir ebenfalls Atrophie der Lymphdrüsen, Iy- 
phoide Wucherung (Lymphocyten oder Myeloblasten? Verff.) im 
Knochenmark und eine hochgradige absolute Lymphocytose (bis 95 %, 
bei 107000 weißen Blutkörperchen), die allerdings erst agonal auftrat. 
Auch hier beherrschte die hochgradige und zunehmende Anämie das 
Krankheitsbild. 

Die hier erwähnten Fälle sind von einigen der Autoren als Übergang 
von perniziöser Anämie in Iymphatische Leukämie aufgefaßt worden. 
Gegen diese Auffassung wenden sich Pappenheim und Hirschfeld). 
Obwohl nämlich diese Autoren für rote und alle weißen Blutkörper- 
chen die gleichen Stammzellen annahmen, lehnten sie den Übergang 
von Anämie in Iymphatische Leukämie ab, weil diese eine primäre 
Lymphohyperplasie sei, die perniziöse Anämie aber auf primärer Zer- 
störung und nachfolgender Regeneration der roten Blutkörperchen 
beruhe. Die angeblichen Übergangsfälle seien also Frühstadien von 
Leukämien. Naegeli!5), S. 434, sagt zur Frage des Überganges von 
perniziöser Anämie in Leukämie: „Dies kommt nie vor, sondern es ver- 
laufen viele ihrem Wesen nach unzweifelhafte Leukämien zuerst unter 
dem Bilde einer schweren Anämie und werden dann plötzlich manifest. 
Heute stößt man sich nicht mehr an der schweren Anämie und faßt 
die ganze Affektion als akute Leukämie auf, zumal das Blutbild der 
perniziösen Anämie nie voll erreicht wird. Selten ist chronisches 
aleukämisches Vorstadium und folgende chronische Lymphämie.‘ 

Folgen wir diesen Darlegungen, so ist die Deutungunseres Fallesgegeben. 
Es handelt sich dann um eine mit schwerer Anämie einhergehende, subakut 
und subleukämisch verlaufende Lymphadenose, die sich im Knochen- 
mark lokalisiert hat, in Gestalt von hyperplastischen Lymphknötchen. 
Naegelis Standpunkt ist darauf zurückzuführen, daß er im Gegensatz 
zu Pappenheim-Hirschfeld und K. Ziegler eine ‚„lymphatische Über- 
produktion‘, besonders auch das Auftreten „Iymphatischer follikulärer 
Bildungen“ im Knochenmark bei perniziöser Anämie bestreitet [?5), 
S. 324]. Die grundsätzliche Ablehnung ‚‚Iymphatischer Überproduktion“ 
bei perniziöser Anämie durch Naegeli ist insofern verwunderlich, als 


592 G. Eisner und E. Mayer: Zur Differentialdiagnose 


sein Mitarbeiter Schatiloff!?) ‘in 3 Fällen von perniziöser Anämie 
eine Lymphoecytose der Milzpulpa — einmal sogar ganz hochgradig — 
gefunden hat, ohne sie allerdings bei der Deutung der Befunde zu be- 
rücksichtigen. Aus dieser Einstellung ergibt sich für Naegeli und seine 
Schule die Notwendigkeit, jeden Fall von schwerer Anämie, bei dem 
Iymphatische Hyperplasien auftreten, als beginnende Lymphadenose 
zu deuten. 

In unserem Falle bestehen jedoch folgende Bedenken gegen eine 
solche Deutung. Gerade Naegeli betont immer wieder den generalisier- 
ten Charakter der Leukämien und lehnt ausdrücklich ein isoliertes 
Befallensein des Knochenmarkes bei Lymphadenosen ab [?5), S. 432]. 
Natürlich ist es völlig unmöglich, noch nicht generalisierte Hyper- 
plasien etwa als Beginn einer Systemerkrankung zu erkennen [Chri- 
steller?)]. 

Würden wir uns also Naegeli darin anschließen, daß einerseits zum 
Begriff der Leukämie eine generalisierte Hyperplasie nötig ist, daß 
andererseits bei perniziöser Anämie follikuläre Hyperplasien im Knochen- 
mark und deutliche absolute Lymphocytose nicht vorkommen, und 
daß schließlich Übergänge zwischen perniziöser Anämie und Leukämie 
nicht bestehen — so würden Fälle, wie der von uns beobachtete, in 
keine der bestehenden Rubriken einzuordnen sein. 

Andere Autoren fassen den Begriff der Leukämie jedoch weiter und 
dehnen ihn auch auf solche Fälle aus, in denen nur ein Organ befallen 
ist. So faßt ». Domaruss) den von Masing‘4) beschriebenen Fall als 
Iymphatische Leukämie auf, obgleich auch hier lediglich im Knochen- 
mark Iymphadenoide Herde gefunden wurden. | 

Als Mindestforderung für die Diagnose „Leukämie“ gilt zur Zeit: 

l. die wenigstens prozentuale Vermehrung einer Art von weißen 
Blutkörperchen im Blutbilde, 

2. der Nachweis einer anatomischen Hyperplasie derjenigen Gewebs- 
art, welche der im Blute vermehrten Zellart entspricht. 

Wenn wir also auf die Generalisierung des hyperplastischen Pro- 
zesses verzichten und uns mit der eben genannten Mindestforderung 
begnügen, so kann unser Fall als eine auf das Knochenmark beschränkte 
lymphatische Leukämie mit Begleitanämie aufgefaßt werden. Schwierig 
ist in diesem Zusammenhange die Pulpalymphocytose bei gleichzeitiger 
Atrophie der Milzfollikel zu deuten. Man könnte mit Banti?) eine 
Erdrückung der Milzfollikel durch leukämisch gewucherte Pulpalympho- 
cyten annehmen und dadurch eine weitere Stütze für die Leukämie- 
auffassung des Falles gewinnen. 

Aber auch die Deutung „perniziöse Anämie mit ungewöhnlich 
starker Iymphatischer Reaktion“ ließe sich rechtfertigen. 

Zwangsgründe für die eine oder andere Auffassung bestehen nicht. 


zwischen perniziöser Anämie und atypischer Lymphadenose. 593 


Die nosologischen Begriffe ‚Leukämie‘ und ‚„‚perniziöse Anämie‘ sind 
so starr und konventionell, daß eine große Zahl der zur Beobachtung 
kommenden Fälle sich ihnen nicht einfügen läßt. Solange der Aus- 
schwemmungsmechanismus wenig geklärt ist, können allzu strenge 
Beziehungen zwischen den beiden Grundlagen der Leukämiediagnose, 
nämlich dem Blutbilde und dem anatomischen Zustande des blutbe- 
reitenden Apparates, kaum erwartet werden. 

So ist es verständlich, wenn sowohl Lymphknötchen im Knochen- 
mark ohne Lymphocytose beobachtet werden als auch ‚reaktive 
Lymphoeytosen‘ ohne jede anatomische Hyperplasie des Iymphatischen 
 Apparates. Unter diesen Umständen können wir vom pathologisch- 
physiologischen Standpunkte aus nicht einmal mit Sicherheit ent- 
scheiden, ob in unserem Falle zwischen den hyperplastischen Knochen- 
marksfollikeln und der starken Lymphocytenvermehrung im strömenden 
Blute ein kausaler Zusammenhang bestanden hat. Gemeinsam mit 
den als ‚„Lymphämie ohne Lymphdrüsenschwellung‘, ‚‚medulläre 
Pseudoleukämie‘“, ‚„Leukanämie‘, ‚„atypische Anämie‘ bekannt ge- 
wordenen Beobachtungen weist unser Fall darauf hin, daß für eine 
weitgehende Systembildung in der Hämatologie zur Zeit sowohl die 
morphologischen als auch die funktionellen Unterlagen noch zu un- 
sicher sind. 


Zusammenfassung. 

l. Mitteilung eines Falles von schwerer fortschreitender Anämie mit 
absoluter Lymphocytose, Hyperplasie der Knochenmarksfollikel und 
Atrophie des übrigen Iymphatischen Apparates. 

2. In Betracht kommt entweder eine perniziöse Anämie mit un- 
gewöhnlich starker Iymphatischer Reaktion oder eine atypische sub- 
leukämische Lymphadenose, die sich in hyperplastischen Knochen- 
marksfollikeln äußert, vielleicht auch in einer lymphatischen Um- 
wandlung der Milzpulpa. 

3. Eine Entscheidung ist nicht sicher zu fällen. Sie hängt davon 
ab, wie man einmal die Lymphfollikel im Knochenmark bewerten will, 
und wie weit oder eng man andererseits den Begriff der Leukämie faßt. 





Literatur. 


1) Askanazy, Über die Lymphfollikel im menschlichen Knochenmark. Virchows 
Arch. f. pathol. Anat. u. Physiol. 220. 1915. — ?) Banti, Die Leukämien. Zentralbl. 
f. Pathol. 15. 1904. — °) Christeller, Eigenartige Lokalisation der aleukämischen 
Lymphomatose. Therapia (Preßburg) 2, H. 10. 1923. — *) Dennig, Über einen Fall 
von akuter Leukämie usw. Münch. med. Wochenschr. 1901, S. 140. — °) v. Do- 
marus, Chronische Leukämie. Handbuch der spez. Pathol. u. Therapie von Kraus- 
Brugsch 8. 1920. — *) v. Domarus, Ein Beitrag zur Frage der medullären Pseudo- 
leukämie. Münch. med. Wochenschr. 1909, S. 1173. — ?) Fischer, O. v., Über die 


594 G. Eisner und E. Mayer: Zur Differentialdiagnose usw. 


Lymphknötchen im menschlichen Humerus, Wirbel und Rippenmark. Frank- 
furt. Zeitschr. f. Pathol. 20. 1917. — ®) Hedinger, Über die Kombination v. Morb. 
Addisonii und Stat. Iymphatic. Frankfurt. Zeitschr. f. Pathol. 1. 1907. — ?) Hess 
und Isaac, Über medulläre Iymphatische Pseudoleukämie. Monatsschr. f. Kinder- 
heilk., Orig. 21. 1921. — 10) Hirschlaff, Über Leukämie. Dtsch. med. Wochenschr. 
1898, Vereinsbeilage, Nr. 23, S. 162. — 1!) Körmöczy, Das hämatologische Bild 
der Lymphämie ohne anatomischen Befund, im Anschluß an schwere Anämie. 
Dtsch. med. Wochenschr. 1899, 5. 238. — 1?) Laissle, Über schwere Anämien mit 
atypischem und wenig typischem Befund. Dtsch. Arch. f. klin. Med. 99. 1910. — 
13) Litten, Über einen in medulläre Leukämie übergehenden Fall von perniziöser 
Anämie. Berlin. klin. Wochenschr. 1877, S. 257. — !*) Masing, Zur Leukanämie- 
frage. Dtsch. Arch. f. klin. Med. 94. 1908. — 1°) Naegeli, Blutkrankheiten. 4. Aufl. 
1923. — 1%) Pappenheim, Über Lymphämie ohne Lymphdrüsenschwellung. Zeit- 
schr. f. klin. Med. 39. 1900. — 17) Pappenheim und Hirschfeld, Über akute myeloide 
und Iymphadenoide makrolymphocytäre Leukämie usw. Fol. haematol. 5, 347. 
1908. — 18) Rubinstein, Über die lymphadenoide Metaplasie des Knochenmarkes. 
Zeitschr. f. klin. Med. 61. 1907. — 19) Schatiloff, Über die histologischen Verände- 
rungen der blutbildenden Organe bei perniziöser Anämie. Münch. med. Wochen- 
schr. 1908, S. 1164. — ?°) Schridde, Die blutbereitenden Organe. Aschoffs Lehr- 
buch der pathologischen Anatomie. 4. Aufl. 1919. — 2!) Senator, Über lympha- 
denoide und aplastische Veränderung des Knochenmarkes. Zeitschr. f. klin. Med. 
54. 1904. — 22) Ziegler, K., Über die Morphologie der Blutbereitung bei perniziöser 
Anämie. Dtsch. Arch. f. klin. Med. 99. 1910. 








Be E 





Einwirkung von Tuberkulin und anderen Eiweißarten auf den 
Wasserhaushalt tuberkulöser Kinder. 


Von 
Walter Pockels. 


(Aus der Byersitate: Kinderklinik und Poliklinik [Göttingen Direktor: Prof. Dr. 
| Göppert].) 


Mit 12 Textabbildungen. 
(Eingegangen am 20. April 1924.) 


Schon in früheren Arbeiten war darauf hingewiesen worden, daß der 
Wasserhaushalt beim Tuberkulösen in irgendeiner Weise gestört sein 
müßte. Doch erst die interessanten Arbeiten von Meyer-Bisch!) brachten 
durch seine Reihenuntersuchungen bei Lungentuberkulosen verschie- 
dener Stadien und dank seiner längeren Beobachtung ein genaueres Bild 
von dieser Störung im Wasserhaushalt. 

Das Blut eines gesunden nüchternen Menschen besitzt morgens und 
abends stets einen Eiweißgehalt von 6,25—7,35%, (Veil), und zwar ist 
abends stets ca. 0,5%, mehr Eiweiß vorhanden als morgens, so daß also 
im Laufe des Tages eine Bluteindickung erfolgt. Demgegenüber wies 
Meyer-Bisch nach, daß beim Tuberkulösen die Verhältnisse meist um- 
gekehrt liegen, das Blut morgens einen höheren Eiweißgehalt besitzt als 
abends. Stellt man die tägliche Schwankung des Eiweißgehalts beim Ge- 
sunden und Tuberkulösen als Kurve dar, so zeigen beide einen entgegen- 
gesetzten Verlauf. Daß an sich diese Kurven durch Aufstehen des Pa- 
tienten oder veränderte Nahrung in gewisser Weise beeinflußt werden, in- 
dem sie mehr oder weniger große Ausschläge zeigen, unregelmäßig werden, 
ist selbstverständlich, doch bleibt der ursprüngliche charakteristische 
Kurvenverlauf deutlich erkennbar. Meyer-Bisch fand weiter, daß außer 
dieser Umkehrung sich sehr oft eine ständige Eiweißkonzentration 
zeigte, auf 7,5—8,5%, und darüber. In bestimmten Fällen, nämlich 
bei kachektischen Tuberkulösen, war wohl eine Umkehrung, aber keine 
Konzentration vorhanden. Bei subeutanen Tuberkulingaben änderte 
sich nun die Serumeiweißkurve in der Weise, daß bei normaler, mit 
erhöhter Eindickung einhergehender Kurve eine Umkehrung, bei um- 


1) Meyer-Bisch, Über die Wirkung des Tuberkulins auf den Wasserhaushalt. 
Dtsch. Arch. f. klin. Med. 134, H. 3/4. 1920. Daselbst ausführliche Literatur- 
angaben. 


596 W. Pockels: Einwirkung von Tuberkulin 


gekehrter, konzentrierter Serumeiweißkurve eine Rückkehr zum Nor- 
malen erfolgte. Gleichzeitig zeigte sich auch eine weitere Eindickung, 
zuweilen allerdings auch eine Verdünnung. 

Außerdem verglich Meyer-Bisch diese Serumeiweißkurven mit 
ebenfalls morgens und abends angelegten Gewichtskurven und fand, 
daß bei Tuberkulingaben eine starke, von dem sonstigen Kurvenver- 
laufe abweichende Gewichtszunahme eintrat, die Kurve auf diesem 
erhöhten Niveau stehenblieb. 

Meyer-Bisch hielt diese Erscheinungen für ganz spezifische, d. h. er 
glaubte, daß diese Wirkungen bei Tuberkulösen nur durch Tuberkulin 
hervorgerufen würden. 

Es interessierte nun zunächst die Frage: findet sich ein Analogon 
bei Kindern ? und wenn ja: liegt dann wirklich eine spezifische Wirkung 
des Tuberkulins vor, oder handelt es sich um eine Proteinkörperein- 
wirkung, deren Folgen durch beliebiges anderes Eiweiß genau so gut 
hervorgerufen werden ? 

Die Versuche wurden in der Weise angestellt, daß nüchternen Kin- 
dern morgens und abends Blut entnommen und dessen Eiweißgehalt 
refraktometrisch bestimmt wurde. Gleichfalls wurde eine Gewichts- 
kurve angelegt. Da sich in der Folge zeigte, daß bei Kindern, besonders 
wenn sie unter 3 Jahr alt sind, aber auch später, die Gewichtskurven sehr 
unregelmäßig verliefen, so wurde aus diesem, aber auch aus technischen 
Gründen von der Fortführung der Gewichtskurven wieder Abstand ge- 
nommen. 

Bei der Art der Blutentnahme und der refraktometrischen Unter- 
suchung könnte man, besonders bei Kindern, die längst nicht so ruhig 
und gleichmäßig im Bett zu halten sind, wie dies bei Erwachsenen der 
Fall ist, an eine Beeinträchtigung durch zu viele Fehlerquellen glauben. 
Diese wurden aber durch längere Beobachtung ausgeschlossen, wie durch 
die gemachten Untersuchungen, die bei manchen Kindern sich bis zu 
9 monatiger Dauer erstreckten, als bestimmt angenommen werden kann. 
Denn, wenn die Serumeiweißkurve stets die angeführten gleichen Werte 
zeigt, sich diese Werte nur nach Anwendung gewisser Mittel verschieben, 
so kann und muß man die Änderung nur als Reaktion auf diese Mittel 
betrachten. 

Da besonders aus den Arbeiten von E. Grunewald und E. Rominger!) 
zahlenmäßig hervorgeht, wie labil der Wasserhaushalt bei Kindern ist, 
was übrigens durch meine Untersuchungen bestätigt wurde, so war 
zunächst festzustellen, ob ein äußerer Reiz, z. B. die Höhensonne, eine 


1) E. Grunewald und E. Rominger, Untersuchungen über den Wasserhaushalt 
des Blutes in verschiedenen Altersstufen, namentlich beim Säugling. Klin. Wo- 
chenschr. 1, Nr. 21. — Dieselben: Zeitschr. f. Kinderheilkunde 33, H. ir S. 15. 
1922. 


2 " u 
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und anderen EKiweißarten auf den Wasserhaushalt tuberkulöser Kinder. 597 


ähnliche Wirkung auf den Wasserhaushalt ausübte. In diesem Falle 
wäre es unberechtigt, irgendwelche Schlüsse aus der Veränderung des 
Wasserhaushalts zu ziehen. 

Zur Entscheidung dieser Frage wurden 10 Kinder mit Höhensonne 
behandelt, nämlich 1 gesundes, 4rachitische, 3 tuberkulöse, einan Ekzem 
und ein an Arthritis deformans leidendes Kind. Trotz teilweise sehr - 
starker Hautreaktion zeigte sich keinerlei Wirkung auf den Wasser- 
haushalt, ein Beweis dafür, daß schon ein wichtigerer Faktor mitsprechen 
muß, wenn der Wasserhaushalt beeinflußt werden soll. 

Anknüpfend an die seit längerer Zeit hier übliche Anwendung des 
. Alttuberkulins nach der Pirquet-Methode zu ‚diagnostischen Zwecken 
erfolgten nunmehr Untersuchungen, in welcher Weise Alttuberkulin 
und Ektebin auf den Wasserhaushalt einwirkten. Während Meyer- 
Bischs Untersuchungen, sich auf die subcutane Anwendung des Alt- 
tuberkulins bei Lungentuberkulose beschränkt hatten, ergaben meine 
Versuche bei percutaner und cutaner Applizierung, daß, abgesehen von 
den schwersten Fällen, alle Tuberkulösen im Gegensatz zu Nichttuber- 
kulösen auf Tuberkulin, sei es nun Alttuberkulin (T.) oder Ektebin (Et.), 
mit einer Veränderung des Wasserhaushalts reagierten, obwohl doch 
eine weit geringere Menge als von Meyer-Bisch angewandt wurde. Die 
Wirkung von T. und Et. war in bezug auf Konzentration und Verlauf 
der Tagesschwankungen des Eiweißgehalts im Serum wie auch be- 
züglich der Wirkungsdauer beider Mittel stets gleichartig, wenn auch 
graduell verschieden. Die Veränderungen des Wasserhaushalts standen 
nicht im Zusammenhange mit der Hautreaktion. Genaueres wird zur 
Vermeidung von Wiederholungen erst weiter unten bei der Besprechung 
der gesamten Untersuchungsergebnisse ausgeführt werden. 

Es lag nun der Gedanke nahe, ob die Wirkung des Tuberkulins auf 
den Wasserhaushalt vielleicht auf seiner Eigenschaft als Eiweißkörper 
beruhte, mit anderen Werten, ob nicht auch anderes Eiweiß, z. B. 
Hammelserum (HS.), dieselben Erscheinungen im Wasserhaushalte 
auslösen würde. Es wurden daher 20 Kinder, von denen 9 gesunde als 
Kontrolle dienten, die übrigen an verschiedenen Arten von Tuberkulose 
litten, mit HS. behandelt, und zwar wurde dieses, zunächst mit 5 ccm 
beginnend, dann bis auf 2 ccm absteigend, subeutan verabreicht mit 
dem Erfolge, daß alle Kinder reagierten. Die gesunden reagierten mit 
Eindickung, die übrigen in derselben Weise wie nach Tuberkulingaben. 

Wichtig ist, daß dabei alle Kinder, weil das HS. noch sehr frisch 
war, am 5. bis 7. Tage ein Serumexanthem bekamen. In der Zwischen- 
zeit (vom 3. bis 6. Tage) war die Kurve wieder zu dem früheren Bilde 
zurückgekehrt. Während des Exanthems trat spontan wieder eine 
starke Reaktion ein (Kurve 1. — Es handelt sich bei der wiedergegebenen 
Kurve um die Serumkurve eines 8jährigen Knaben mit tuberkulöser 


598 W. Pockels: Einwirkung von Tuberkulin 


Pleuritis. Schon vor der Anwendung des HS. zeigte die Kurve eine 
Umkehrung gegenüber dem Verlaufe bei Gesunden, d. h. die Morgen- 
werte sind höher als die Abendwerte. Nach der subcutanen Zufuhr 
von HS. am 1. VIII. 23 trat am 2. VIII. eine Umkehrung ein, so daß 
nun die Abendwerte höher ale die Morgenwerte sind. Diese Umkehrung 
verschwindet am 4. VIII., die Kurve zeigt wieder ihren für Tuberkulöse 
charakteristischen Verlauf mit höheren Morgen- als Abendwerten. Nach 
dem Ausbruche des Serumexanthems am 6. VIII. tritt abermals eine 
Umkehrung ein, so daß am 8. und 9. VIII. die Morgenwerte unter den 
Abendwerten liegen. Vom 10. VIII. ab zeigt sich das ursprüngliche 
Bild. Nachdem am 16. VIII. Alttuberkulin appliziert ist, tritt am 
18. VIII. abermals Umkehrung ein. Es sei hier bemerkt, daß die Re- 
aktion nicht stets sofort eintritt, sondern zeitweilig erst am nächsten 
oder sogar 2. Tage nach der Gabe). 

Um übereinstimmende Versuchsbedingungen zu bekommen, wurde 
nun das HS. in derselben Weise wie Alttuberkulin pereutan mit dem 


76. 


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Kurve 1. Robert He. 8 J. Tbc. Pleuritis. 


—+—«— Eiweißgehalt im Serum. Umkehrung des Eiweißgehalts im Serum. 





Pirquetbohrer einverleibt. Als auch hierbei dieselben Wirkungen wie 
nach Tuberkulin eintraten, wurden noch verschiedene andere Eiweiß- 
arten versucht, sämtlich mit demselben positiven Ergebnisse. Um sicher 
zu gehen, ob es sich bei den eingetretenen Erscheinungen tatsächlich 
um eine Eiweißwirkung und nicht vielleicht nur um die eines einfachen 
Reizes handelte, wurden bei 10 gesunden und 10 kranken Kindern Ver- 
suche mit 10 proz. Kochsalzlösung und mit verdünnter Essigsäure nach 
der Pirquet-Methode gemacht. In allen Fällen ohne jede Reaktion, so 
daß die Ursache aller Veränderungen im Wasserhaushalte der Kinder 
zweifellos in der Wirkung des Eiweißes zu suchen ist. 

Bezüglich der Verusche selbst sei ausdrücklich hervorgehoben, daß, 
im Gegensatze zu allen bisherigen von anderer Seite angestellten, sowohl 
das Alttuberkulin als auch die anderen Eiweißpräparate, abgesehen von 
Fktebin, das cutan angewandt wurde, und abgesehen von den oben 
erwähnten ersten Versuchen mit größeren Dosen HS., nicht subeutan, 
sondern stets nach der Pirquet-Methode percutan einverleibt wurde, 
und zwar immer durch 2 Bohrungen gleichzeitig. Zur Verwendung 
kamen zunächst nur Ektebin (Et.) und Alttuberkulin (T.), später auch 








und anderen Eiweißarten auf den Wasserhaushalt tuberkulöser Kinder. 599 


albumosefreies Tuberkulin (AT.). Diesem fehlt das Eiweiß der Nähr- 
böden, es ist also wesentlich ärmer an Eiweiß als die sonstigen Tuber- 
kuline. Das albumosefreie Tuberkulin wird von den Höchster Farb- 
werken nach Angaben Möllers hergestellt und wurde mir auf seine 
Veranlassung für diese Versuche zur Verfügung gestellt. Herrn 
Prof. Dr. Möller und den Höchster Farbwerken danke ich an dieser 
Stelle verbindlichst für ihre Liebenswürdigkeit. 

Als sonstige Eiweißarten wurden verwandt: Hammelserum (HS.), 
Jatren (J.), Aolan (A.), Hühnereiweiß (HE.), Pferdeserum (PS.) und 
rohe Milch (M.). 

Die Versuche wurden bei 47 Kindern im Alter von 11/,—14 Jahren 
‚angestellt und erstreckten sich bei einzelnen bis zur Dauer von 9 Mo- 
naten. Hiervon waren 13 Kinder gesund, d. h. erhohlungsbedürftig; 
diese wurden als Kontrolle benutzt. Von den übrigen 34 wurden bei 
13 Kindern, die sämtlich an einer klinischen Tuberkulose der Haut oder 
der Knochen, der Lungen oder des Darms litten, und einem Kinde mit 
Keratitis phlyctaenulosa die Wirkung von Ektebin auf den Wasserhaus- 
halt in üblicher Weise beobachtet. Ferner bei 5 weiteren Fällen die 
Wirkung von Alttuberkulin und darauf folgend nach längerer Pause die 
Wirkung von Ektebin. Bei einem Patienten, der keine klinisch nach- 
weisbare Tuberkulose hatte, dessen Mutter und Stiefmutter (Schwestern) 
aber an florider Tuberkulose gestorben waren, der ständig erhöhte 
Temperatur hatte, und bei dem natürlich die Hautreaktion positiv aus- 
fiel, wurde Alttuberkulin und darauf folgend Hammelserum mit dem 
Pirquetbohrer appliziert. Von den übrigen 14 Kindern hatten 9 eine 
ausgesprochene, klinisch nachweisbare Tuberkulose. Bei 4 Kindern 
vermutete man eine Tuberkulose: sie hatten erhöhte Temperatur und 
waren anamnestisch stark belastet. 2 davon hatten vorher Keuchhusten 
und eine Bronchitis gehabt; die Hautreaktionen waren positiv. Der 
letztere, 5. Fall, kam ohne Tuberkuloseverdacht hierher, trotzdem wird 
er hier eingereiht, weil nach dem Ergebnis der Wasserhaushaltsunter- 
suchungen das Vorhandensein einer Tuberkulose nicht ausgeschlossen 
war. Inseinem Alter — 2 Jahre — konnte sicher schon eine versteckte 
Drüsentuberkulose vorhanden sein. 

Bei diesen 14 und bei 4 von den obigen 13 gesunden, letztere als 
Kontrolle dienenden Kindern wurde ebenfalls Alttuberkulin, außerdem 
aber nacheinander in genügenden Zwischenräumen die vorstehend ge- 
nannten weiteren Eiweißarten verabreicht. 


Von den 4 gesunden Kindern wurde behandelt 


Fall 1: mit T., HS., AT. 
et. HS.,-J:, AT. 
SE Em Ar, DS... AL. 
ers: HS., T., A; 


600 W. Pockels: Einwirkung von Tuberkulin 


Von den kranken Kindern erhielten . 


Kal YNESHS EISEN AH RSeA TS 

:SHSSNE; CA, 

tHSSHT., cPSAVA, 

HS, LI HR, 

HS. AN UHR AZU- 
sammen, verd. Essig- 
säure, AT. 

»  6:HS.,T., PS., verd. Essig- 

säure, AT. 








crwm 








DI REAL ELOEELTM LE, 




















Umkehrung. 














Umkehrung. 














Kurve 8. Irmg. Zie. 3 Jahr. Tbe. Fistel. 


—+—+— Eiweißgehalt im Serum. 











Kurve 2. Gümp. 2 J. Schiefhals. 











—+—:— Eiweißgehalt im Serum. 




















Fall: R7EH Re: 

» 8: HS. PS., 10 proz. NaCl-Lösung, AT. 
2 20-SHSS ET SAN EIEAT, 

10: HOSE. HRESNT 

SL LBHN SET. 

»„ 12: 1Oproz. NaCl-Lösung, AT., HE. 

» 13: T. und Et. zusammen, AT. 

Se l4s HS RAT T; 





und anderen Eiweißärten auf den Wasserhaushalt tuberkulöser Kinder. ‘601 


Das Ergebnis der Versuche zeigen deutlicher und genauer als alle 
Worte und Zahlen die Kurven, von denen des beschränkten Raumes 








Umkehrung des Eiweißgehalts. 
Umkehrung. 


Kurve 4. @eorg Oeh. Latente Tbe. 
Kurve 5. Erna Schr. 3 J. Scrophulodermata, Spina ventosa. 


—+—+— Eiweißgehalt im Serum, 


— :— + — Eiweißgehalt im Serum. 





wegen leider nur ein Teil hier wiedergegeben werden kann (Kurve 2 
bis 7). 

Im einzelnen sei hier nur folgendes bemerkt: Bei den 4 leichten Fällen, 
einer Spina ventosa, einer tuberkulösen Fistel und zweien der oben- 


602 W. Pockels: Einwirkung von Tuberkulin 


genannten latenten Lungentuberkulosen, bestand ein völlig normaler 
Wasserhaushalt, d. h. die Tagesschwankungskurve verlief gewöhnlich 
in der eingangs beschriebenen normalen Form, reagierte dagegen auf 
Tuberkulin- und andere Eiweißgaben sofort mit einfacher Umkehrung. 


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Bei 3 Fällen zeigte die Serumeiweißkurve eine ständige Umkehrung 
mit erhöhter Konzentration. Sie blieb durch Tuberkulin- und Eiweiß- 
gaben völlig unbeeinflußt; es handelte sich um schwerste tuberkulöse 
Fälle, die sämtlich moribund waren. | 





und anderen Eiweißarten auf den Wasserhaushalt tuberkulöser Kinder. 603 


Bei ‚2 Fällen, die mit einer exsudativen Pleuritis einhergingen, 
erwiesen sich die Tagesschwankungen des Eiweißgehalts als völlig regel- 
los. Nach Tuberkulin- oder Eiweißgaben bestand die Regellosigkeit zwar 
fort, jedoch änderte sich die Konzentration im Sinne einer Eindickung. 








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Die übrigen Fälle besaßen eine ständig über dem Normalen liegende 
Konzentration. Sie reagierten. auf Tuberkulin- oder Eiweißgaben 
mit einer Umkehrung; bei einigen war die Umkehrung mit weiterer 
Eindickung verbunden. 


Z. f. klin. Medizin. Bd. 100, 39 





604 W. Pockels: Einwirkung von Tuberkulin 


2 Fälle, beide mit epituberkulösen Pneumonien im Sinne Eliasbergs, 
reagierten, und zwar der eine auf Ektebin, der andere auf Hammel- 
serum und auf Jatren paradox, d. h. mit einer Verdünnung. Auf die 
übrigen Eiweiß- und Tuberkulingaben reagierten sie im gewöhnlichen 
Sinne (Kurve 8 und 9). 

5 weitere leichte Fälle, eine Spina ventosa, zwei latente Tuber- 
kulosen, eine peritoneale Tuberkulose und eine Spina ventosa mit 
Scrophulodermata, reagierten auf Tuberkulin und Eiweiß mit Um- 
kehrung der Kurven, ohne daß sich die schon erhöhte Konzentration 
änderte. 

Die übrigen, alles schwerere Tuberkulosen, hatten meist eine um- 
gekehrte Kurve mit ständig erhöhter Konzentration. Sie reagierten 
auf Tuberkulin und Eiweiß mit einer Umkehrung, d.h. in diesem Falle 


6.2. % 6. 9. 79, 77, N2. 73. 74 75, 76. 77. 























Kurve 9. E. Bierw. 3 J. Epituberc. Pneumonie Eliasberg. 





ee Eiweißgehalt im Serum. Umkehrung. 


also einer Rückkehr zur Normalen, bei unverändert erhöhter Konzen- 
tration, oder mit weiterer starker Eindickung. 

Es sei hier bemerkt, daß die von mir beobachtete höchste Eindickung 
2% betrug. 

Vergleicht man das Untersuchungsergebnis jeweils mit dem kli- 
nischen Bilde des betreffenden Falles, so lassen sich folgende Beziehungen 
erkennen, und zwar kann man danach ganz zwanglos 4 Gruppen unter- 
scheiden: 

Gruppe 1 umfaßt die Fälle mit normaler Eiweißkurve und normaler 
. Konzentration. Sie reagiert auf Tuberkulin- oder Eiweißgaben mit 
Umkehrung der Kurve, die normale Konzentration ändert sich nicht. 
Das klinische Bild zeigt leichte Formen der Tuberkulose. 

Gruppe 2 hat normale Eiweißkurve, aber erhöhte Konzentration. 
Nach Tuberkulin oder Eiweiß erfolgt Umkehrung oder Eindickung, aber 
auch Umkehrung und Eindickung. Klinisch gehören diese Fälle sämt- 
lich schon zu den ausgesprocheneren Formen von Tuberkulosen in 
fortgeschrittenen Stadien. 








und anderen Eiweißarten auf den Wasserhaushalt tuberkulöser Kinder. 605 


Gruppe 3 zeigt eine ständige. Umkehrung der Tagesschwankungs- 
kurve und außerdem erhöhte Konzentration. Sie reagiert noch durch 
Umkehrung und Eindickung. Klinisch sind dies die schweren Tuber- 
kulosen. 

Gruppe 4 unterscheidet sich von den 3 vorhergehenden durch völliges 
Fehlen jeder Reaktion auf Tuberkulin- oder Eiweißgaben. Es handelt 
sich klinisch um die moribunden Fälle von miliarer Tuberkulose. 





Kurve 10, Mom. 4J. Peritonitis tbe. Kurve 1l. Hug. Tbe. pulmon. 
ee Hiweißgehalt im Serum.  ° . Eiweißgehalt im Serum. 
Umkehrung. Umkehrung. 





Nach dem Gesagten gibt es Kurven mit pathologischer, also erhöhter 
Konzentration, und .stellt sich bei schweren Fällen eine Umkehrung 
der Eiweißkurve ein. Natürlich muß es einen Übergang geben zwischen 
diesen beiden Gruppen, einen Zustand, bei dem die Kurve fast das 
Bild einer Geraden bietet. Bei Tuberkulin- oder Eiweißgaben wird also 
hier die Reaktion verschieden ausfallen können. Wie lange ein solcher 
Zustand andauern kann, ist schwer zu sagen. Es fand sich einmal ein 


%0.IV. £ Te. 73. TU 78: 76. 77. 78. 79 20 

















Kurve 12. Erna Schr. 37. Scrophulodermata, Spina ventosa, 
1 Eiweißgehalt im Serum. —— Umkehrung. 


derartiger Fall von 2tägiger Dauer; eine längere Beobachtung wird aber 
stets das richtige Bild ergeben. | | 

Ähnlich verläuft das Abklingen der Wirkung von Tuberkulin- und 
Eiweißgaben; auch hier bekommt man zuletzt das Bild einer annähernd 
Geraden (Kurve 10—12). 

Wichtig ist die Beantwortung der Frage, ob es etwa möglich ist, 
auf diese Weise latent ruhende von latent fortschreitenden Tuberkulosen 
zu unterscheiden und letztere hierdurch zu diagnostizieren. 2 Fälle der 
latenten Tuberkulosen verliefen wie leichte, 3 Fälle wie schwerere 
(Gruppe 2). Einer davon war ja auch, wie schon oben erwähnt, anam- 

398 


605 W. Pockels: Einwirkung von Tuberkulin 


nestisch und klinisch äußerst verdächtig. Wie weit man berechtigt 
ist, aus den Untersuchungen diagnostische Schlüsse zu ziehen, müssen 
fortlaufende klinische Beobachtungen der Fälle und weitere Unter- 
suchungen lehren. 

Zweifellos wird die Stärke der Veränderungen des Wasserhaushalts 
von den verschiedensten, oft kaum kontrollierbaren Faktoren abhängen, 
doch geht aus den Kurven deutlich hervor, daß die zugeführte größere 
oder geringere Eiweißmenge auch eine stärkere oder schwächere Wirkung 
ausübt. Die in einem Tropfen Alttuberkulin enthaltene verhältnis- 
mäßig kleine Eiweißmenge zeigt eine schwächere Wirkung, als ein 
Tropfen konzentrierten Eiweißes, wie Aolan, Jatren oder Hühereiweiß. 
Das an Eiweiß noch ärmere albumosefreie Tuberkulin besitzt eine ge- 
ringere Wirkung als Alttuberkulin, hat teilweise überhaupt keinen Ein- 
fluß auf den Wasserhaushalt, obwohl die Hautreaktion nach seiner 
Anwendung noch eintritt. 

Aus den Untersuchungen ergibt sich, daß die Veränderung des Erweiß- 
gehaltes im Blute sowohl bezüglich der Tagesschwankungskurve als auch der 
Konzentration nicht eine spezifische Wirkung des Tuberkulins ist, auch 
nicht in Beziehung zu der Intensität der Hautreaktion steht, sondern nur 
verursacht wird durch die Menge des eingeführten Eiweißes. Die Art des 
angewandten Eiweißpräparates ist ohne Bedeutung, wohl aber die Kon- 
zentration des darin enthaltenen Eiweißes. Ganz besonders zeigt sich dies 
darin, daß trotz gleicher Hautreaktion das albumosefreie Tuberkulin be- 
deutend schwächer oder überhaupt nicht auf die Serumeiweißkurve des 


Blutes wirkt. Subcutan eingeführte größere Mengen konzentrierten Ei- 


weißes erzwingen bei jedem Kinde eine Änderung des Wasserhaushaltes, 
wobei dieselbe Veränderung sich bei Eintreten der Serumkrankheit 
wiederholt. Die percutan oder cutan eingeführten kleinen Mengen wirken 
dagegen nur beim tuberkulös infizierten Kinde!), und zwar je nach der 
Intensität der Tuberkuloseerkrankung gleichsinnig wie das Tuberkulin. 

Das Tuberkulin besitzt daher bezüglich der Beeinflussung des 
Wasserhaushalts zwar keine ihm eigentümliche Wirkung. Wohl aber 
geht aus den Versuchen mit Sicherheit hervor, daß der Tuberkulöse 
neben der spezifischen Tuberkulinempfindlichkeit, die sich in örtlicher 
und Herdreaktion sowie Fieber äußern kann, eine charakteristische 
Empfindlichkeit des Wasserhaushalts gegenüber der Zufuhr selbst 
kleiner Mengen Eiweiß besitzt. 

Untersucht man diese Empfindlichkeit des Wasserhaushalts Tuber- 
kulöser gegen Eiweißzufuhr in diagnostischer Hinsicht, so läßt sich weiter 
feststellen, daß je nach der oben angegebenen Reaktion der Serum- 





!) Es ist nicht ausgeschlossen, daß bei Ekzemkranken, die ja auch eine 
Veränderung des Wasserhaushalts zeigen. wenn auch in anderer Weise als dies 
beim Tuberkulin der Fall ist, eine ähnliche Reaktion eintritt. 


SIR 





und anderen Eiweißarten auf den Wasserhaushalt tuberkulöser Kinder. 607 


eiweißkurve leichte, mittlere, schwere und aussichtslose Fälle unter- 
schieden werden können. Wohl den bedeutendsten Wert könnte diese 
Methode dann haben, wenn es mit ihrer Hilfe gelänge, latent-ruhende 
von latent-aktiven Tuberkulosen zu unterscheiden. Darüber können erst 
weitere Untersuchungen Aufklärung geben. Ich hoffe in nicht zu ferner 
Zeit über in dieser Richtung angestellte Versuche berichten zu können. 

Fest steht indessen schon jetzt, daß die Serumeiweißkurve und ihre 
Reaktion eine bestimmte Diagnose wiederholt schon zu einer Zeit zu- 
ließen, als mit anderen Mitteln eine Klarstellung des wirklichen Zu- 
standes noch nicht möglich war, eine Diagnose, deren Richtigkeit durch 
den klinischen Verlauf des Falles später in vollem Umfange bestätigt 
wurde. Es empfiehlt sich daher unbedingt, einmal zur Unterstützung 
der Diagnose, dann aber auch zur weiteren Klärung der ganzen Frage 
bei allen tuberkuloseverdächtigen Kindern mit längerer Beobachtungs- 
möglichkeit, aber natürlich auch bei Erwachsenen, eine Serumeiweiß- 
kurve anzulegen und die Wirkung von Tuberkulin- oder sonstigen Ei- 
weißgaben zu beobachten. 


(Aus der Medizinischen Poliklinik der Universität Leipzig. — Direktor: 
Professor Dr. Rolly.) 


Über Reizversuche an milzexstirpierten Hunden nebst einigen 
Bemerkungen über die Yollykörperchen. 


Von 
Privatdozent Dr. J. Weicksel. 


(Eingegangen am 25. April 1924.) 


Schon seit langem ist es bekannt, daß Tiere ohne Milz leben können, 
jedoch war lange genug immer ein gewisses Dunkel über die Tätigkeit 
der Milz verbreitet. Erst allmählich ist es gelungen, einiges Licht in die 
physiologische Bedeutung dieses Organes zu bringen. Insbesondere war es 
die moderne Technik der histologischen Untersuchungen über die Milz, 
durch welche die Rolle der letzteren mehr und mehr aufgeklärt wurde, 
und heute wissen wir, daß der Organismus selbst ohne Milz leben kann. 
Die zahlreichen Beobachtungen, daß Patienten, welche durch irgendein 
Trauma die Milz verloren haben, störungslos weiterleben können, haben 
immer wieder gezeigt, daß die Lebensfähigkeit des Organismus in keiner 
Weise von der Milz beeinflußt wird, und heute wissen wir bestimmt, 
daß die Milz funktionsersätzlich ist und daß für ihren Ersatz im Organis- 
mus weitgehende Deckungsmöglichkeiten vorliegen. 

Die wichtigste Rolle, welche der Milz im Blutstoffwechsel zukommt, 
ist die Zerstörung der geformten Elemente; der Erythrocyten, der Leu- 
kocyten und der Thrombocyten. In jedem gutgelungenen Milzpräparat 
kann man die phagocytische Tätigkeit der großen Sinusendothelien 
beobachten. Es ist nun wunderbar, daß die Milz, welche doch eine so 
wichtige Rolle im Bluthaushalt spielt, plötzlich aus dem Körper ent- 
fernt werden kann, ohne daß stärkere nachweisbare Störungen im Or- 
ganismus auftreten. Wir wissen bereits seit einiger Zeit, daß die Funk- 
tion der Milz nach ihrem Wegfall sehr bald von der Leber, vom Knochen- 
mark, von Lymphknoten und anderem Gewebe übernommen werden 
kann, und Versuche, die ich an Hunden anstellen konnte, denen schon 
längere Zeit die Milz exstirpiert worden war, zeigten immer wieder die 
gleichen Erscheinungen, d.h. Reizungen und künstlich erzeugte Anämien 
und Blutgiftanämien gingen bei diesen Tieren mit oder ohne Milz 
immer mit den gleichen Reaktionen einher. Diese Versuche betrafen 
aber insbesondere Tiere, bei welchen die Milzexstirpation bereits längere 


ee 





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J. Weicksel: Über Reizversuche an milzexstirpierten Hunden ‘usw. 609 


Zeit zurücklag, wo also anzunehmen war, daß die ausgefallene Milztätig- 
keit bereits restlos durch vikariierendes Gewebe ersetzt worden war. 
Um nun zu sehen, ob die ausgefallene Milzfunktion bereits in kurzer 
Zeit übernommen wird oder ob doch längere Zeit bis zum Ausgleich 
vergeht, habe ich bei 3 Hunden die Milz exstirpieren lassen und dann 
bereits nach 6, 8 und IO Tagen durch Terpentineinspritzungen in die 
Muskulatur einen intensiven allgemeinen Körperreiz auf den Organismus 
durch Schaffung eines sterilen Terpentinabscesses ausgeübt. Es wurde 
den Hunden 6, 8 und 10 Tage nach der Milzexstirpation je 3 cem 
Terpentinöl in die Oberschenkelmuskulatur injiziert. Alle Tiere be- 
fanden sich zu Beginn des Versuches im Stickstoffgleichgewicht. Bei 
allen Tieren wurde vor der Operation, nach der Milzexstirpation und 
insbesondere nach der Setzung des Terpentinabscesses, das Blut mor- 
phologisch und chemisch untersucht, und zugleich wurde eine genaue 
Stoffwechselbeobachtung in betreff des Eiweißstoffwechsels vorgenom- 
men. Zum Vergleich wurde derselbe Versuch bei einem gesunden Milz- 
hund und dann auch bei einem Hund, der vor 13/, Jahren die Milz, ver- 
loren hatte, angestellt. 

Während jeder Operation wurde außerdem eine Resistenzbestimmung 
des Blutes aus der Milzvene vorgenommen, und es fand sich nun bei dem 
einen Tier bei einer Konzentration von 0,48 beginnende Hämolyse des Milz- 
venenblutes, und bei 0,34 trat vollkommene Hämolyse ein ; es bestand also 
eine Resistenzbreite von 0,14. In den anderen beiden Fällen war das Resi- 
stenzminimum bei 0,46 und das Resistenzmaximum bei 0,32 zu finden, 
also auch eine Resistenzbreite von 0,14; Werte, die absolut der Norm 
entsprechen. Daß nach Milzexstirpationen eine Resistenzsteigerung 
gegenüber hypotonischen Kochsalzlösungen auftritt, wie sie Pel be- 
schrieben hat, habe ich bei meinen früheren Tierversuchen auch bereits 
feststellen können, allerdings nicht kurz nach der Operation, sondern 
erst allmählich auftretend in der 2. bis 4. Woche nach der Operation. 
Auch ich fand bei diesen Versuchen ein Resistenzminimum bei 0,40 
bis 0,36 und ein Resistenzmaximum von 0,28 bis 0,22, also auch hier 
eine Resistenzbreite von 0,14 bis 0,12. Dagegen scheint die Resistenz 
bei den Fällen, wo die Milzexstirpation lange zurückliest, wieder nor- 
mal zu werden, wenigstens zeigte 1 Hund, der vor länger als 2 Jahren 
milzexstirpiert worden war, Werte von 0,44 bzw. 0,32, und ein Patient, 
dem wegen traumatischer Milzruptur das Organ vor 15 Jahren entfernt 
worden war, wies bei einer Konzentration von 0,46 beginnende Hämolyse 
auf. Diese Änderung der Resistenz nach Milzexstirpationen hängt wohl 
mit einer gewissen Schonung der Erythrocyten und stärkeren Wider- 
standsfähigkeit zusammen, bis im Organismus wieder normale korrela- 
tive Beziehungen zwischen Blutbildung und Blutzerstörung bestehen. 
Solange dies aber nicht der Fall ist, muß der Organismus etwas haus- 


610 J. Weicksel: Über Reizversuche an milzexstirpierten Hunden 


hälterischer mit den ihm zur Verfügung stehenden Zellen umgehen. 
Die Resistenzbestimmung wurde stets mit ausgewachsenen Eıythro- 
cyten angestellt. 

Verfolgt man nun das morphologische Blutbild nach der Milzexstir- 
pation, so konnte ich ebenfalls die bekannten Erscheinungen beobachten, 
die ja zur Genüge bekannt sind. Zunächst nach einigen Tagen Auftreten 
einer postoperativen Leukocytose, die aber schon nach kurzer Zeit 
einer relativen Lymphocytose Platz macht. Ebenso stiegen die eosino- 
philen Zellen gewöhnlich an. Weiter bestand schnell vorübergehende 
Polycythämie, als Folge des Ausfalls der hormonalen hemmenden 
Wirkung der Milz. Nach der Terpentineinspritzung tritt unter normalen 
Verhältnissen nach ganz vorübergehendem Leukocytenabsturz eine 
mäßige Leukocytose auf, wie sie uns ja bei der Reizkörpertherapie auch 
bekannt ist. Ebenso wie nach den anderen Einspritzungen konnte ich 
hier wie bei früheren Versuchen eine Zunahme der Gesamtleukocyten 
um etwa 50% beobachten mit relativer Leukocytose. Dasselbe fand sich 
bei dem einen Hund, wo die Milzexstirpation 13/, Jahr zurücklag. 
Dagegen fand ich bei den Tieren, wo ich schon 6 bzw. 10 Tage nach 
der Operation reizte, einen Anstieg der Gesamtleukocyten um mehr als 
das Doppelte, auch mit entsprechender neutrophiler Leukocytose. Sobald 
aber der Absceß aufgegangen war, war in allen Fällen der Blutverlauf 
wieder ein annähernd gleicher, d. h. allmählicher Rückgang der Ge- 
samtleukocyten mit Übergang des morphologischen Blutbildes zur Norm. 
Der Absceß ging gewöhnlich am 3. Versuchstag auf. Nur in einem Falle, 
bei dem durch den Terpentinabsceß eine schwere Nierenschädigung 
aufgetreten war, starb der Hund 4 Tage nach der Terpentineinspritzung 
im Stadium der Leukopenie mit relativer Lymphocytose. Bei diesem 
Tier konnte man bereits am nächsten Tage nach der Terpentinein- 
spritzung eine deutliche Hämoglobinurie mit Erythrocyten und Leuko- 
cyten im Urinsediment nachweisen. Die Erythrocyten fielen in allen 
Versuchsfällen stark ab. 

Man kann also nicht sagen, daß man einen wesentlichen Unterschied 
zwischen den ersten 3 Versuchen und den letzten beiden findet. In allen 


Versuchen erkläre ich mir das Auftreten der Anämie mit starkem Rück- 


gang des Hämoglobingehaltes als eine künstlich erzeugte sekundäre 
Anämie, bedingt durch die Eiterung, welche durch den Terpentinabsceß 
hervorgerufen worden war. Am stärksten war der Rückgang der Ery- 
throcyten und des Hämoglobingehaltes bei dem nierengeschädigten 
Hund (Fall IV), bei dem die Zahl der Erythrocyten am Tage vor seinem 
Tode um die Hälfte gefallen war. Die Thrombocyten stiegen gewöhnlich 
nach der Milzexstirpation an, um dann nach Auftreten des Terpentin- 
abscesses wieder abzufallen. Später, wenn der Absceß abheilte, stiegen 
die Thrombocyten in allen Fällen wieder zur Norm. Ich konnte also 





| 
| 
| 
| 
| 


. u u ae an 


nebst einigen Bemerkungen über die Yollykörperchen. 611 


im morphologischen Blutbild mit Ausnahme einer etwas stärkeren 
Reaktion von seiten der Leukocyten keinen Unterschied bei meinen 
Reizversuchen finden zwischen dem gesunden Hund und den eben 
milzexstirpierten Hunden. Es wird in der Literatur erwähnt, daß nach 
der Milzexstirpation immer eine Lymphdrüsenschwellung auftreten soll. 
Ich habe bei den Tieren, bei denen ich die Sektion vornehmen konnte, 
dies nicht beobachten können (Sektionsberichte folgen). 

Von Hirschfeld und Weinert wird angegeben, daß man regelmäßig 
nach Milzexstirpation der gesunden als auch der kranken Milz das Auf- 
treten von Yollykörperchen beobachten soll, und zwar fand Hirschfeld 
schon 2 Stunden nach der Operation Yollykörperchen. Ich konnte die 
- ersten Yollykörperchen bei gesunden Tieren immer erst 24—30 Stunden 
nach der Operation fipden. Diese Yollykörperchen sind kleine Kügel- 
chen, etwa von der Größe eines Mastzellengranulums. Ich habe immer nur 
ein einzelnes Yollykörperchen in einem Erythrocyten gefunden niemals 
2 oder mehr. Ihre Lage ist mehr peripher als zentral. Man muß aber solche 
Yollykörperchen genau kennen, denn als Anfänger könnten doch mal Ver- 
wechslungen mit Farbniederschlägen vorkommen, insbesondere, wenn die 
letzteren eine mehr rundliche Form aufweisen. Die Yollykörperchen 
färben sich nach Giemsa bläulich-violett; einen rötlichen Farbton habe 
ich selbst bei schwächeren Färbungen nicht finden können. Dagegen 
werden sie bei etwas längerer Färbung noch dunkler violett. Nach Jenner- 
May färben sich diese Körperchen dunkler als nach Giemsa und nehmen 
einen mehr bläulichen Ton an. Auch hier kann man beobachten, daß 
sie dunkler werden, je länger man färbt, und daß sie etwa den Farbton 
der Erythrocytenkerne aufweisen. Man nimmt ja auch seit langem an, 
daß die Yollykörperchen kleine Kernreste sind. Man findet diese Yolly- 
körperchen auch nie im gesunden Blut, sondern nur im sog. unreifen 
Blut, häufig in Verbindung mit Normoblasten, insbesondere mit poly- 
chromatophilen Zellen. Daß diese Yollykörperchen fast ausschließlich 
peripher auftreten, erweckt den Eindruck, als wenn man eine Zelle 
vor sich hätte, welche mit ihrer Entkernung noch nicht fertig ist, und 
welche im noch unfertigen und unreifen Zustande in das Blutgeschwemmt 
worden ist. Das Streben nach der Peripherie der Zelle läßt Weidenreich 
mehr auf eine Eliminierung der Zelltrümmer ins Blutserum als auf 
eine Auflösung innerhalb der Zelle schließen. Man findet also Yolly- 
körperchen immer in den Fällen, wo das Knochenmark stark in An- 
spruch genommen wird, also insbesondere bei gewissen Reizzuständen 
des Knochenmarks, dagegen nicht im Stadium der Erschlaffung. Ich 
habe auch Yollykörperchen bei perniziöser Anämie gefunden, aber nur 
in den Fällen, wo die Knochenmarkstätigkeit nicht sehr stark danieder- 
lag, also im Stadium der Remission oder nach gelungenen Bluttrans- 
fusionen, also immer bei noch funktionsfähigem Knochenmark. Nach 


612 J. Weicksel: Über Reizversuche an milzexstirpierten Hunden 


Milzexstirpation treten nun regelmäßig Yollykörperchen auf, und zwar 
beobachte ich die ersten Yollykörperchen etwa 24—30 Stunden nach 
der Operation. Die Zahl der gefundenen Yollykörperchen war zunächst 
immer sehr spärlich. Am ersten Tage zählte ich fast nie mehr als 10 Yolly- 
körperchen auf 200 Leukocyten. Täglich stieg dann die Zahl der Yolly- 
körperchen langsam an, so daß ich später gewöhnlich 100—120 Yolly- 
körperchen auf 200 Leukocyten im Blutausstrich fand. Bei Hunden, 
bei denen die Milzexstirpation länger zurückliegt, scheint die Zahl 
wieder zurückzugehen, wenigstens zählte ich bei 2 Hunden, die vor 11/, 
bzw. 2 Jahren die Milz verloren hatten, 60—80 Yolly-Erythrocyten auf 
200 Leukocyten, während, wie gesagt, dieersten Monatenach der Operation 
die Zahl der Yollyerythrocyten oft über 100 auf 200 Leukocyten be- 
trug. Nach der Milzexstirpation stieg, wie bereits erwähnt, die Zahl 
der Yollykörperchen an, aber nicht ganz regelmäßig und systematisch ; 
einmal zählte man etwas mehr, einmal etwas weniger. Doch im großen 
und ganzen war anfangs immer ein Anstieg zu beobachten. Man sollte 
nun annehmen, daß durch die Terpentininjektionen eine deutliche Be- 
einflussung der Zahl der Yollyerythrocyten auftreten würde, inso- 
fern, als durch den gesetzten Reiz mehr Yollyerythrocyten auftreten; 
dies war aber nicht der Fall. Nach den gefundenen Werten sind die 
Yollyerythrocyten bei den Fällen, wo ich infolge des Terpentinabscesses 
eine stärkere Reizung der Blutbildungsorgane versuchte, nicht stärker 
angestiegen als bei den Fällen, wo nicht gereizt wurde. Auch hier 
wieder der Beweis, daß selbst der kurz zurückliegende Milzausfall 
keinen wesentlichen Einfluß auf die Blutbildungsorgane hat. Nach An- 
sicht von Karlbaum sind die Yollyerythrocyten ein ganz normales 
Stadium im Entkernungsvorgang, und zwar sollen sie einen Übergang 
von den Normoblasten zu den reifen Erythrocyten darstellen. Für 
diese Ansicht spricht ja auch das Vorkommen von Kernresten in Ery- 
throcyten des embryonalen Gewebes und im Blute junger Säugetiere 
bis zur Geschlechtsreife. Es sind daher Yollyerythrocyten immer zu 
erwarten, wenn das Knochenmark stark in Anspruch genommen wird, 
sobald der Bedarf mit reifen Zellen nicht voll gedeckt werden kann. 
Ich fand daher das Auftreten von Yollyerythrocyten stets in Ver- 
bindung mit anderen jugendlichen Zellen sowohl des erythropoetischen, 
als auch des myeloischen Systems. Ich fand bei meinen Zählungen neben 
den Yollykörperchen Normoblasten oft 1—2 auf 400 Erythrocyten, ich 
fand Türksche Reizformen, Metamyelocyten und in vereinzelten Fällen 
sogar Myelocyten. Die Yollyerythrocyten selbst waren oft polychro- 
matophil, zeigten also einen bläulichen Farbton, oft fanden sich daneben 
noch polychromatophile Zellen ohne Kerntrümmer, also auch ein Beweis, 
daß wir hier jugendliche Formen des erythropoetischen Systems vor 
uns haben. Insofern ist die Erklärung des Auftretens von Yollyerythro- 





eisen Eu K. 








nebst einigen Bemerkungen über die Yollykörperchen. 613 


cyten bei anämischen Zuständen nicht schwer. Warum aber Yolly- 
erythrocyten immer nach Milzexstirpation auftreten, ist etwas schwie- 
riger zu erklären. Zunächst kurz nach der Operation könnte man ihr 
Auftreten einfach durch einen plötzlichen Knochenmarksreiz infolge 
des plötzlichen Ausfalls der Milztätigkeit erklären. Während bisher 
 engste korrelative Beziehungen zwischen Blutbildung im Knochenmark 
und Blutzerstörung in der Milz bestanden, fällt plötzlich die letztere 
aus, und es kommt zu vorübergehenden Überschußbildungen der Ery- 
throcytentätigkeit auf der einen Seite und zu plötzlichen Hemmungen 
in der Blutzerstörung, und der Organismus ist in seiner gesetzmäßigen 
Blutbildung gestört und schwemmt nun auch jugendliche Zellen mit 
Kernresten ins Blut. Sobald aber die Milztätigkeit voll ersetzt ist, 
sollte man annehmen, daß Yollyerythrocyten nicht mehr auftreten. 
Und tatsächlich findet man in den späteren Stadien nach der Milz- 
exstirpation, wo oftmals die Operation Monate und Jahre zurückliegt, 
außer den Yollyerythrocyten kaum irgendwelche Zellen, welche noch 
auf ein Reizblutbild schließen lassen. Nur bei sehr guter Färbung ge- 
lingt es noch, eine gewisse Polychromatophilie nachzuweisen. Dagegen 
fehlen in diesem Stadium die Normoblasten und auch die Jugendzellen des 
leukopoetischen Systems. Die Yollyerythrocyten werden allerdings auch 
spärlicher. Nach Karlbaum soll nun in diesen Fällen, wo also die Milz- 
exstirpation lange zurückliegt, das Auftreten der Yollykörperchen durch 
eine latente Anämie erklärt werden, hervorgerufen durch sonst von der 
Milz aufgefangene hämolytisch wirkende Stoffwechselprodukte. Dazu 
wäre ja auch die Resistenzerhöhung der Erythrocyten als Anpassungs- 
vorgang aufzufassen. Mit der Milz wird also ein antihämolytisch wir- 
kendes Gewebe entfernt. Die nach der Operation ungehemmt ein- 
tretende Hämolyse wird bei gesunden Tieren zugleich kompensiert 
durch eine vermehrte Tätigkeit des Knochenmarks und erzeugt langsam 
eine steigende Immunität der Erythrocyten gegenüber hypotonischen 
Kochsalzlösungen. Die latente, aber kompensierte Anämie kann durch 
hämolytische Substanzen, erhalten werden, die normalerweise von der 
Milz zerstört würden. Es läßt sich ja diese Ansicht nicht beweisen. Im 
morphologischen Blutbild sind aber die Störungen nach Milzexstirpa- 
tion so gering, daß man nicht von irgend stärkeren Ausfallserscheinungen 
sprechen kann und das Gleichgewicht in der Blutbildung und Blutzer- 
störung, welches nach der Milzexstirpation vorübergehend gestört ist, 
wird sicher auch sehr bald wiederhergestellt. Schon vor Jahren konnte 
ich zeigen, daß Hunde mit oder ohne Milz nach Caseosaneinspritzungen 
immer dieselben Reaktionen im Blutbild aufwiesen. Auch bei künstlich 
erzeugter Pyrogallolanämie boten sich bei den Experimentierhunden 
immer die gleichen Erscheinungen, und bei den morphologischen Blut- 
untersuchungen war hier nicht der geringste Unterschied zu beobachten, 


614 J. Weicksel: Über Reizversuche an milzexstirpierten Hunden 


so daß wir auch wieder den Beweis hatten, daß die Milz die Leukocyten- 
veränderungen kaum allein beeinflußt, und daß ihr Ausfall dann nichts 
ändert. Das einzige, was man eben noch längere Zeit nach Milzexstirpa- 
tion findet, ist das Auffinden einer geringen Anämie mit polychromato- 
philen Zellen und Yollyerythrocyten. Aber auch diese Erscheinungen 
schwinden dann mehr und mehr, sobald der Milzverlust lange zurück- 
liegt, so daß nach Jahren nicht die geringsten Veränderungen mehr 
zwischen dem Blutbild eines Gesunden und dem eines Milzexstirpierten 
gefunden werden können. 

Anatomisch-pathologisch werden nun von den verschiedenen Auto- 
ren Regenerationserscheinungen nach Milzexstirpation beschrieben. 
So hat Stubenrauch als Regenerationserscheinungen nach Milzexstirpa- 
tion neben Hypertrophie echter Nebenmilzen im Tierexperiment 
Schwellungen der präexistierenden Lymphdrüsen gefunden, Neu- 
bildung von Blutlymphdrüsen, Lymphombildungen in der Leber und 
Niere und Hyperämie des Knochenmarks. Außerdem fand er im 
Netz und Gekröse Gebilde, die von den meisten Autoren als neu- 
gebildete Milzen bezeichnet werden. Nach Stubenrauch sind dies 
aber keine Nebenmilzen, sondern Stubenrauch erklärt das Auftreten 
dieser Gebilde so, daß das Peritoneum, welches zu früher Zeit des Ent- 
wicklungslebens ein Anteil des mit der Bereitung blutbildender Organe 
betrauten Mesenchyms ist, daß das Peritoneum diese Fähigkeit in ge- 
wissem Sinne auch noch im postfötalen Leben inne hat; also schlum- 
mernde Potenzen hat, die aktiv später wieder in Erscheinung treten 
können, wenn Ereignisse, wie der Ausfall eines hämatopoetischen Or- 
ganes, den Haushalt des retikulären Organapparates gefährden können. 
Auch Morawitz fand im Tierexperiment, daß nach Milzexstirpation 
sich Milzgewebe vikariierend an anderen Stellen, z. B. aus den Kupfer- 
schen Sternzellen in der Leber, bilden könne. Kreuter hat dann an Affen 
experimentiert und nirgends nennenswerte Veränderungen des Blut- 
bildes nach Milzexstirpation beobachtet. Das Eintreten von vikariieren- 
den Organen für die Milz, z. B. in der Tyyreoidea, im Knochenmark, in 
den Lymphdrüsen, war nicht nachweisbar. Sogenannte vereinzelte 
Nebenmilzen waren abgekapselte Darmparasiten. Das restierende Milz- 
gewebe zeigte ein appositionelles Wachstum von Iymphoidem Gewebe, 
dagegen keine eigentlichen Regenerationsvorgänge. In der Leber fanden 
sich die von Schmidt bei entmilzten Mäusen beschriebenen Iymphom- 
ähnlichen Gebilde in der Umgebung der Pfortaderäste. Sie enthielten 
jedoch kein Blutpigment und waren am schwächsten bei den Tieren 
entwickelt, bei denen die Milz vollständig entfernt worden war. Ich 
konnte bei 3 Hunden die Sektion vornehmen, das eine Mal bei einem 
Hund, welcher 9 Tage nach der Milzexstirpation an den Folgen des 
Terpentinabscesses an Nephritis gestorben war. Ein zweiter Hund, 








nebst einigen Bemerkungen über die Yollykörperchen. 615 


bei dem die Milzexstirpation !/, Jahr zurücklag, und ein dritter, bei dem 
sie 2 Jahre zurücklag. Beim ersten Hund fand sich neben den Erschei- 
nungen der Nephritis (Glomerulischlingen sehr zellreich, teils noch gut 
durchblutet: Epithelgrenzen an den Tubuli etwas verwaschen, Inguinal- 
drüsen deutlich groß, sonst fanden sich nirgends Veränderungen an 
der Leber oder an den sonstigen Drüsenorganen, Knochenmark der 
langen Röhrenknochen war sehr blutreich). Bei dem zweiten Hund fiel 
eine mäßige Vermehrung der Kupferschen Sternzellen in der Leber auf, 
ebenso bei dem dritten Hund. Sonstige Veränderungen aber, Drüsen- 
vergrößerungen, Nebenmilzen, auch Veränderungen von seiten des 
. Knochenmarkes konnten wir hier nicht finden (die Tiersektionen wurden 
von Herrn Dr. Gebhardt, Assistent der hiesigen Poliklinik, ausgeführt. 
Genaue Sektionsberichte erscheinen noch). 

Vergleichen wir nun die chemisch-physikalischen Blutresultate mit- 
einander, so ist auch hier kein wesentlicher Unterschied zwischen den 
ersten beiden und den letzten 3 Tierversuchen zu beobachten. In allen 
5 Fällen war die Serumviscosität und zugleich der Eiweißgehalt des 
Serums zurückgegangen. Da nach den experimentellen Forschungen 
. die Salze auf die innere Reibung keinen Einfluß haben, so ist die 
Serumviskosität neben der Temperaturschwankung so gut wie ganz 
vom Eiweißgehalt des Serums abhängig und da wieder vom Gehalt 
an Serumglobulinen und Serumalbuminen, d. h., je grob disperser 
die kolloide Lösung ist, also je mehr Globuline im Serum sich fin- 
den, um so höher ist die Serumviscosität, und umgekehrt. Wir wissen 
nun, daß bei Kachexien und Anämien der Serumeiweißgehalt sinkt, 
folglich muß dann auch die Serumviscosität sinken. Und da wir hier 
in allen 5 Fällen infolge der chronischen Eiterung eine Anämie mit 
leichter Kachexie künstlich erzeugt haben, so lassen sich auch die ge- 
fundenen niedrigen Serumwerte und Viscositätswerte erklären. Bei 
künstlich erzeugter Blutungsanämie kann man ja auch eine bald ein- 
tretende niedrige Serumviskosität infolge Hydrämisierung des Serums be- 
obachten. Hätten wir die Versuche noch länger ausgedehnt, was aber 
nicht im Rahmen der Arbeit lag, so wäre sicher auch der Eiweißgehalt 
im Serum, nachdem die Abscesse abgeheilt waren, wieder angestiegen 
und dann natürlich auch die Serumviscosität. Die gesunkene Serum- 
viscosität ist also hier allein erklärlich durch den gesunkenen Eiweiß- 
gehalt im Serum, der in allen Fällen eine Folge der künstlich erzeugten 
Kachexie ist. Eins ist aber wichtig, daß die gefundenen Serumwerte in 
allen 5 Versuchen etwa gleichmäßig gefallen sind. Man kann keinesfalls 
sagen, daß der Eiweißgehalt bei den frisch entmilzten Hunden nach der 
Terpentineinspritzung sich stärker verringert hat als bei den ersten 
zwei Versuchen, daß also bei den frisch entmilzten Hunden die auf- 
getretene Anämie bzw. Kachexie eine stärkere war. Man kann also 


616 J. Weicksel: Über Reizversuche an milzexstirpierten Hunden 


auch hier keine Unterschiede im Verhalten des Serumeiweißgehaltes 
zwischen Milzhund und entmilztem Hunde finden. 

Nach der Milzexstirpation ist der Gehalt des Stickstoffs im Blute 
zunächst angestiegen, wohl sicher als Folge der Operation, indem natür- 
lich infolge der Operation eine größere Menge von Blutkörperchen zu- 
grunde gegangen ist. Der Anstieg hielt aber nur kurze Zeit an, und 
schon nach 2—3 Tagen, wie in allen Fällen, so auch bei meinen früheren 
Beobachtungen, ist der Blutstickstoffgehalt dann wieder zur Norm 
zurückgekehrt (s. Fall 4 und 5). Am Tage nach der Terpentineinspritzung 
haben wir dann in allen Fällen wieder einen Anstieg des Blutstickstoffes 
beobachten können, und zwar hält derselbe an, bis der Terpentin- 
absceß, der nach der Einspritzung natürlich auftreten mußte, auf- 
"gegangen war. Der Anstieg erklärt sich hier wohl auf der einen Seite 
durch die Abscessierung als solche, zu gleicher Zeit aber wohl auch 
als starker Zellreiz, im besonderen auf die blutbildenden Organe und 
somit auch als verstärkter Reiz auf die Zellzerstörung. Es ist nun tat- 
sächlich bei den 3 Tieren (Fall 3—5) der Blutstickstoffgehalt etwas 
stärker angestiegen als bei Fall 1 und 2, aber nur ganz vorübergehend. 
Auch hier konnten wir insbesondere bei Fall 3 und 5, nachdem der 
Absceß aufgegangen war, sehr bald wieder normale Stickstoffwerte im 
Blute finden. Nur Fall 4 verhält sich etwas anders infolge der als 
Komplikation hinzugetretenen Nephritis. Auch die ausgeschiedenen 
Harnstickstoffwerte lassen keinen großen Unterschied zwischen Fall 1 
und 2 und Fall 3—5 finden. Nach der Terpentineinspritzung kommt 
es natürlich infolge des vermehrten Zellzerfalls auch zu einer vermehrten 
Stickstoffausgabe, und es dauert wenigstens 8 Tage, ehe die Hunde wieder 
ins Stickstoffgleichgewicht kommen, gerechnet von der Zeit ab, nach- 
dem der Absceß aufgegangen war. Gewöhnlich war das Stickstoff- 
gleichgewicht wieder erreicht, nachdem der Absceß abgeheilt war. 
Das einzige, was mir bei diesen Versuchen auffiel, war das eine, daß 
die frisch entmilzten Hunde vorübergehend mit einer etwas stärkeren 
Stickstoffausgabe, also vorübergehend mit einem stärkeren Zellzerfall 
reagierten als Fall 1 und 2. Aber auch bei diesen ist das Stickstoff- 
gleichgewicht nach 8 Tagen wieder eingetreten (mit Ausnahme von 
Fall 4). Alle 4 Hunde kamen dann, nachdem der Terpentinabsceß auf- 
gegangen war und sie wieder ihre normale vorgesetzte Nahrung zu sich 
nahmen, ins Stickstoffgleichgewicht. Von einem besonders starken 
 Eiweißzerfall ist weder bei den ersten beiden Hunden, noch bei Hund 3 
und 5 etwas zu bemerken, wie ja auch die Gewichtskurve während der 
letzten Versuchstage eine ansteigende Tendenz aufweist. Diese Resultate 
beweisen also, daß der Organismus auch kurz nach der Milzexstirpation 
diese starken Reize überwinden kann, ohne stärkere Schädigung. Der 
verstärkte Zellzerfall hält nur ganz kurze Zeit an. Der Organismus muß 








nebst einigen Bemerkungen über die Yollykörperchen. | 617 


also über Deckungsmöglichkeiten für die verlorene Milz verfügen, die 
sofort nach ihrem Wegfall in Kraft treten. Sonst könnte der Organismus 
bei diesen intensiven Zellreizen, wo zugleich durch den Ausfall der 
Milzfunktion eine plötzliche Verschiebung in den Blutbildungsorganen 
vor sich geht, nicht sobald wieder ins Stickstoffgleichgewicht kommen. 


| Zusammenfassung. 

Die Milz gehört also, wie wohl alle Autoren jetzt zugeben werden, 
nicht zu den unbedingt lebenswichtigen Organen. Daraus, daß sie ent- 
behrlich ist, kann man natürlich nicht schließen, daß sie keine Funktion 
im Organismus zu erfüllen hätte. Man kann beim Menschen auch an- 
dere Organe herausnehmen, ohne daß das Leben des Menschen dadurch 
beeinträchtigt wird, und doch haben solche Organe (Gebärmutter usw.) 
im Organismus sehr wichtige Aufgaben zu leisten. Es ist nur wunder- 
bar, daß die Herausnahme der Milz im Organismus nicht mit stärkeren 
allgemeinen Störungen verknüpft ist. Gerade wo die Milz eine so wich- 
tige Funktion für die Bildung der Lymphocyten und die Zerstörung 
der Blutkörperchen hat, will man sich gar nicht vorstellen, daß bei 
ihrem plötzlichen Wegfall nicht stärkere Ausfallserscheinungen auf- 
treten. Und doch ist dies der Fall, wie ich durch meine Tierversuche 
wieder beweisen konnte. Immer nur ganz vorübergehende Ausfalls- 
erscheinungen, also Überschußbildungen der Erythrocytenzahl, Lympho- 
cytenanstiege, etwas verstärkter Zellzerfall bei starken Reizungen des 
Gesamtorganismus. Und dann nur bei den frisch milzexstirpierten 
Tieren. Wir finden in allen Fällen, daß der Organismus die Möglichkeit 
hat, sich den neuen Verhältnissen schnell anzupassen, und wir finden 
dabei, wenigstens bei meinen Tierversuchen, sowohl in chemisch-phy- 
sikalischer als auch in morphologischer Beziehung, nur ganz vorüber- 
gehende Störungen, die sehr bald wieder ausgeglichen sind, und jelänger 
die Milzexstirpation zurückliegt, um so geringer sind die Störungen, so 
daß ich sagen möchte, daß der Organismus in den Fällen, wo die Milz- 
exstirpation 1 Jahr und länger zurückliegt, bestimmt den Verlust des 
Organes vollkommen überwunden hat und die ausgefallene Funktion 
desselben bis dahin fast restlos ersetzt hat. Und bei den frisch Ent- 
milzten wird die Funktion der Milz so schnell als möglich ersetzt, 
ohne daß im Körperhaushalt merkliche Störungen auftreten. Nur 
eins fällt einem immer wieder auf: man findet bei den Tieren, bei denen 
die Milzexstirpation schon längere Zeit zurückliegt, noch Anzeichen 
einer leichten Anämie, welche sich charakterisiert durch das Auftreten 
von polychromatophilen Zellen und insbesondere von Yollyerythrocyten. 
' Je kürzer die Milzexstirpation zurückliegt, um so deutlicher sind diese 

"Erscheinungen. Das Gleichgewicht in der Zellbildung und in der Zell- 
zerstörung ist, wie ich zeigen konnte, äußerlich schnell ersetzt, aber 


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692 J. Weicksel: Über Reizversuche an milzexstirpierten Hunden usw. 


feine Nuancen sind doch noch nicht ausgeglichen. Gerade wenn man 
annimmt, daß die Milz einen Einfluß auf den Entkernungsvorgang der 
roten Blutkörperchen im Knochenmark ausübt, so wäre es ganz erklär- 
lich, wenn diese Funktion nach Wegfall der Milz erst allmählich von den 
anderen Organen ganz übernommen wird, und tatsächlich kann man 
beobachten, daß, je länger die Milzexstirpation zurückliegt, daß dann 
die genannten Erscheinungen der Anämie mehr und mehr weichen, und 
ich habe bei 2 Patienten, denen durch Trauma die Milz verlorenging 
und wo der Milzverlust in einem Fall 10, in dem anderen Fall 15 Jahre 
zurückliegt, in keinem der genannten Fälle weder Yollykörperchen noch 
polychromatophile Zellen mehr finden können. Auch Serienzählungen 
von Yollyerythrocyten bei meinen Tierversuchen haben ergeben, daß die 
Zahl der Yollyerythrocyten am höchsten war bei den Tieren, wo die 
Milzexstirpation 1—2 Monate zurücklag, und daß Tiere, welche 
schon seit 11/,—2 Jahren die Milz verloren hatten, kaum halb soviel 
Yollyerythrocyten im Ausstrichpräparat aufwiesen als erstere. Daß 
dies keine Zufallsbefunde waren, beweisen zahlreiche Kontrollen. Eben- 
so glaubte ich bei den älteren Versuchstieren ein Schwinden der poly- 
chromatophilen Erythrocyten beobachten zu können. Ich möchte nun 
nicht behaupten, daß man aus der Zahl der Yollyerythrocyten auf die 
Zeit des Milzausfalls schließen kann, aber daß sich noch nach Jahren 
Yollyerythrocyten finden, beweist, daß eben hier die Milzfunktion doch 
noch nicht restlos ersetzt ist; erst wenn gar keine Erscheinungen sich 
mehr nachweisen lassen, also keine Yollykörper und keine polychromato- 
philen Zellen, ist der Ersatz ein vollständiger. Aber auf das Leben und 
den Haushalt des Organismus haben diese Feinheiten natürlich keinen 
Einfluß. Die Versuche beweisen aber, daß die Milz im ganzen schnell 
funktionsersetzlich ist und daß ihr Wegfall auf das Leben und die 
Lebensdauer des Organismus nicht den geringsten Einfluß hat. 


Literatur. 


1) Briekmann, Zentralbl. f. Chirurg. 1918. — ?) Charlton, Therapeut. Halb- 
monatsschr. H. 4. — ?) de la Camp, Arch. f. klin. Chirurg. 126. 1923. — ?) Eppinger 
und Ranzı, Mitt. a. d. Grenzgeb. d. Med. u. Chirurg. %%. 1914. — 5) Eylenburg, 
Dissertation: Berlin 1919. — ®) Feld, Erich, Dissertation: Bonn 1922. — ?) Frangen- 
heim, Münch. med. Wochenschr. 1914. — 8) Hirschfeld, Dtsch. med. Wochenschr. 
1915. — ”) Hirschfeld, Zeitschr. f. klin. Med. 8%. — 1°) Kreuter, Arch. f. klin. Chirurg. 
1915. — 1!) Mayo, Zentralbl. f. Chirurg. 1913. — !?) Mühsam, Arch. f. klin. Chirurg. 
12%. — !?) Morawitz, Zentralbl. f. Chirurg. 1922. — 1*) Nägeli, Jahreskurse f. ärztl. 
Fortbild. H. 13. — 15) Nogucki, Berlin. klin. Wochenschr. 1912. — 1°) Pel, Dtsch. 
Arch. f. klin. Med. 106. 1912. — 17) Spengler, Wien. klin. Wochenschr. 1920. — 
18) Silvestrini, Zentralbl. f. Chirurg. 1921. — 1?) v. Stubenrauch, Zentralbl. f. Chirurg. 
1920. — ?°) Tietze, Zentralbl. f. Chirurg. 1923. — ?!) Türk, Dtsch. med. Wochenschr. 
1914. — °2) Weicksel, Zeitschr. f. klin. Med. 94, H. 1/3, 96, H. 4/6 und 9%, H. 1/3. 
— 2) Weidenreich, Fol. haematol. 1906, Nr. 4. 














(Mitteilung aus der III. Medizinischen Klinik der K. U. Päzmäny Peter-Universität 
Budapest. — Direktor: Prof. Baron Alexander v. Koränyi.) 


Studien zur Biologie der Niere. 


Die Beeinflussung der Harnsekretion durch vitale Farbstoffspeicherung. 


Von 
Dr. L. Paunz. 


(Eingegangen am 24. April 1924.) 


Das Ziel der vorliegenden Untersuchungen war es festzustellen, ob 
und wie die vitale Carbinol- bzw. Farbstoffspeicherung in den Kanälchen 
der Nierenrinde die Harnsekretion beeinflußt. 

Nicht nur als Problem der Vitalchemoskopie und der Vitalfärbung 
schien diese Feststellung wichtig zu sein, sondern auch bezüglich der 
Erforschung der Nierenfunktion, da die ev. Blockierung der wichtigsten 
Kanälchenabschnitte auf solche Weise streng elektiv und ohne jeden 
Zelluntergang bewirkt werden könnte, was bei den experimentell- 
toxischen Nierenentzündungen keineswegs der Fall ist. 

Zunächst beschränkten wir uns auf die Verfolgung der Wasser- und 
Kochsalzausscheidung während der allmählichen Carbinolspeicherung. 

Die Versuche wurden in der Weise vorgenommen, daß den über 
Nacht hungernden und durstenden Tieren (Kaninchen) frühmorgens, 
nach Entleerung der Harnblase, mittels der Schlundsonde eine bestimmte 
Wassermenge bzw. Kochsalz einverleibt wurde. Die Tiere wurden so- 
dann 2stündlich katheterisiert und die einzelnen Urinportionen ge- 
sammelt. Bestimmt wurde je nach dem Zweck des Experimentes die 
gewonnene Harnmenge, das spezifische Gewicht, die Gefrierpunkts- 
erniedrigung, das Kochsalz- und Eiweißgehalt. 

Während der Dauer der Ausscheidungsversuche erhielten die Tiere 
weder zu essen noch zu trinken. Im übrigen wurden sie mit Hafer und 
Grünzeug gefüttert. 

Folgende Protokolle geben unsere Resultate wieder: 


Versuch Nr. 1. Kaninchen. Gewicht: 2400 g. 
Vorversuch. 26. X. vorm. 11 Uhr bis 11 Uhr 45 Min. 100 ccm Leitungswasser 


intrastomachal. Ausgeschieden wurde: 

Zeit ccm Sp. G. A j NaCl % NaCl.-Gr. Eiweiß 
2 Uhr 48,0 1005 — 0,39° 0,11 —_ — 
4 Uhr 25,0 1008 — .— — 0 
6 Uhr 26,0 1006 — — —_ —_ 


8 Uhr 30Min. 22,0 = a Si w = 


624 L. Paunz: 


Innerhalb 7 Stunden wurde also die gesamte eingeführte Wasser- 
menge ausgeschieden und dabei eine Kochsalzverdünnung von 0,11% 
und eine Gefrierpunktserniedrigung von — 0,39° erreicht. 


28.X. vorm. 10 Uhr 30 Min. 1,0g NaCl in 10,0 ccm Wasser gelöst intrasto- 
machal: 


“ Zeit ccm Sp. G. A NaCl % NaCl.-Gr. Alb. 
12 Uhr 30 Min. 41,0 1016 — 0,81 0,33 _- 
2 Uhr 30 Min. 38,0 1014 = 0,94 0,36 _ 
5 Uhr 10,0 — — 0,63 0,06 0 
9 Uhr 32,0 1015 = 0,59 0,19 -- 


In 11 Stunden wird also das eingeführte 1,0 g Kochsalz so gut wie 
ganz (0,94 g) ausgeschieden, und zwar gelangt innerhalb 4 Stunden 
mehr als ?/, davon (0,69 g) zur Ausscheidung. 


Speicherungsversuch. Nachher erhielt das Tier 10 Tage hindurch täglich 
4,0 ccm 2,5% Wasserblaulösung subceutan injiziert. 

Die Conjunctiven sowie die sichtbaren Schleimhäute verfärbten sich dabei 
bläulich grau. Der Harn selbst blieb vollständig farblos, auf Säurezusatz wies 
jedoch derselbe eine leichte, grünliche Tinktion auf. Albuminurie konnte während 
der ganzen Zeit nicht nachgewiesen werden. Das Tier war lebhaft, fraß mit 
gutem Appetit. 


10. XI. vorm. 11 Uhr 20 Min. bis 11 Uhr 55 Min. 50 cem Leitungswasser intra- 
stomachal. Urinausscheidung: 


Zeit s ccm Sp. G&. A NaC1% NaCl.-Gr. Alb. 
2 Uhr 20,0 1006 = == . 0 
4 Uhr 5,0 _ — _ _ _ 
6 Uhr 2,5 = _ == _ _ 
8 Uhr 3,0 _ .- = _ _ 
11 Uhr 5,0 -- _ _ _ _ 
Vorm. 8 Uhr 22,0 — _ . = 


Es wurde also innerhalb 7 Stunden etwa !/, (27,5 ccm), innerhalb 
12 Stunden ca. !/; (35,5 ccm) der eingeführten Wassermenge ausge- 
schieden. 

Der Kochsalzversuch verlief am nächsten Tage folgendermaßen: 


12. XI. vorm. 8 Uhr 30 Min. 1,0g NaCl in 10 cem Wasser gelöst intrasto- 
machal. Ausgeschieden wurde: 


Zeit ccm Sp. G. A NaCl % Nacl.-Gr. Alb. 


10 Uhr 40 Min. 5,0 #3 = 1,14 0,06 = 
12 Uhr 35 Min. 15,0 2 se 1,17 0,18 0 
2 Uhr 45 Min. 11,0 a 1.40% hr 0,13 I 
5 Uhr 6,0 — ei 0,64 0,04 = 
7 Uhr 15 Min. 7,5 — — 0,64 0,05 ee 


Es wurde also innerhalb 11 Stunden kaum die Hälfte, innerhalb der 
ersten 4 Stunden nicht ganz !/, der eingeführten Salzmenge ausgeschieden. 

Wir finden also beim gefärbten Tiere eine Verzögerung sowohl der 
Wasser- als der Salzausscheidung. 


3 
| 
! 











Studien zur Biologie der Niere. 625 


Im weiteren nahmen wir Versuche mit intravenöser Farbstoff- 
verabreichung vor, um eine extrarenale Wirkung unresorbierbar ge- 
bliebener subcutaner Farbstoffansammlungen ausschließen zu können. 
Zugleich wendeten wir bei den Versuchen etwas größere Mengen von 
Wasser und Kochsalz an, um die Konzentrierungs- bzw. Verdünnungs- 
fähigkeit der Niere besser beobachten zu können. 


Versuch Nr. 2. Kaninchen. Gewicht: 2080 g. 


Vorversuch. 15. XI. vorm. 10 Uhr bis 10 Uhr 30 Min. 150 cem Leitungswasser 
intrastomachal. Harn: 


Zeit ccm Sp. G. A . Nac1% Na0l.-Gr. Alb. 
12 Uhr 90,0 1004 — = 4 in 
: 2 Uhr 70,0 1003 —0,28° 0,11 — 0 
4 Uhr 30,0 —_ — au en = 
6 Uhr 10,0 _ — = — Er. 


Wie ersichtlich, wurde das eingeführte Wasser binnen 4 Stunden 
vollständig ausgeschieden, es erfolgte sogar ein Überschießen danach. 
Es wurde dabei eine Kochsalzverdünnung von 0,11%, und eine Gefrier- 
punktserniedrigung von —0,28° erreicht. ? 


18. XI. vorm. 9 Uhr 40 Min. 2,0 NaCl in 20 ccm Wasser gelöst intrasto- 
machal. Ausgeschieden wurde: 


Zeit ccm Sp. G. A NaCl. % NaCl.-Gr. Alb. 
11 Uhr 45 Min. 25,0 1028 —2,30° 1,96 0,49 0 
l Uhr 45 Min. 16,0 .- = 2,40 0,38 — 
4 Uhr 15 Min. 15,0 u 2 2,40 0,36 — 
6 Uhr 5,0 _ — 
Dr En hS = 1,17 0,12 “= 
Vorm. 9 Uhr 30,0 1035 = 0,79 0,24 —_ 


Es wurde also binnen 6 Stunden etwa ?/, (1,23 g), innerhalb 24 Stun- 
den mehr als ®/, der eingeführten Menge (1,59 g) ausgeschieden. Es 
wurde dabei die Kochsalzkonzentration von 2,40%, das spezifische Ge- 
wicht 1035 und die Gefrierpunktserniedrigung — 2,30° erreicht. 


Speicherungsversuch. Nachher erhielt das Tier 12 Tage hindurch täglich 
0,0259 Wasserblau in 2,5 proz. Lösung intravenös injiziert. Das Allgemein- 
befinden wurde hierdurch augenscheinlich nicht alteriert. 


3. XU. vorm. 10 Uhr 15 Min. bis 10 Uhr 45 Min. 150 ccm Leitungswasser 
intrastomachal. Harn: 


Zeit ccm Sp. G. A NaCl % NaCl.-Gr. Alb. 
12 Uhr 30 Min. 38,0 1009 —0,46° 0,13 — sb 
2 Uhr 30 Min. 23,0 1012 ai 2. xÜ ve 
4 Uhr 30 Min. 22,0 1012 = = ie er 
6 Uhr 30 Min. 24,0 1010 —_ _ ar un 
8 Uhr 30 Min. 25,0 1012 > a 2 = 


Es wird also innerhalb 4 Stunden etwas mehr als !/,, auch inner- 
halb 20 Stunden nur ?/;, der verabreichten Wassermenge ausgeschieden, 
was einen ausgesprochenen Unterschied gegenüber dem Erfolg des 


626 L. Paunz: 


ersten Wasserversuches darstellt. Es wird dabei als maximale Ver- 
dünnung eine Kochsalzkonzentration von 0,13% und eine Gefrierpunkts- 
erniedrigung von — 0,46° erreicht. 

Am 4. XII. wird der Kochsalzversuch vorgenommen. In der Frühe um 
9 Uhr wird 2,08 NaCl. in 20 ccm Wasser gelöst, intrastomachal verabreicht. 


Urinausscheidung: 
Zeit ccm Sp. G. A NaC1% NaCl.-Gr. Alb. 
12 Uhr 40 Min. 26,0 1023 = 2,20 0,57 = 
2 Uhr 20 Min. 30,0 1020 = 2,13 0,64 en 
4 Uhr 30 Min. 18,0 = = 2,58 0,46 a 


Innerhalb 7 Stunden wird also mehr als ®/, der eingeführten Koch- 
salzmenge ausgeschieden. Die Kochsalzausscheidung ist also zu dieser 
Zeit noch nicht nachweisbar geschädigt. Die Konzentrationsfähigkeit 
ist noch gut erhalten. 

Anders gestaltet sich die Lage nach weiteren 18 Tagen, wobei täglich 
0,025 g Farbstoff intravenös injiziert wurde. 

Der Wasserversuch fiel folgendermaßen aus: 


24. XII. vorm. 11 Uhr 10 Min. bis 11 Uhr 40 Min. 150 ccm Leitungswasser 
intrastomachal. Urinausscheidung: 


Zeit ccm Sp. G. A NaCl % NacCl.-Gr. Alb. 
l Uhr 10 Min. 18,0 = —0,77° 0,37 _ — 
3 Uhr 10 Min. 16,0 —_ —0,78° 0,18 —_ 0 
6 Uhr 18,0 — —0,82° 0,09 _ = 
8 Uhr 15,0 _ —0,83° 0,09 _ _ 
10 Uhr 13,0 _ —0,85° 0,09 = — 
25. XII. vorm. 
11 Uhr 90,0 1015 —0,87° 0,07 — _ 


Wie aus diesem Versuch ersichtlich, ist das Wasserausscheidungs- 
vermögen schon schwer geschädigt. Es findet unbeeinflußt von der ein- 
maligen großen Wasserzufuhr während des ganzen Tages eine gleich- 
mäßige Harnabsonderung statt, welche 2stündlich 13,0—18,0 cem fast 
isostenurischen Harn liefert. Die Gefrierpunktserniedrigung beträgt in- 
dessen — 0,78° bis — 0,87°, ist also größer als diejenige des Blutserums. 

26. XII. wird der Wasserversuch vorgenommen. 

Vorm. 9 Uhr 15 Min. 2,0& NaCl in 20 ccm Wasser gelöst intrastomachal. 


Urinausscheidung: 

Zeit cem Sp. G. | NaCl % NaCl.-Gr. Alb. 
11 Uhr 15 Min. 18,0 _ — 1,07 ° 0,54 0,10 —_ 
2 Uhr 45,0 1015 — 1,04 ° 1,07 0,48 0 
4 Uhr 10 Min. 26,0 = —1,01° 1,04 0,27 _ 
6 Uhr 30 Min. 26,0 - — 1,04 ° 0,96 0,25 — 
NSIrUhr 22,0 — — 1,08° 0,94 0,21 .—_ 


Auch hier fällt in erster Linie die isostenurische Beschaffenheit des 
Harnes auf, welche allerdings höher als beim Wasserversuch eingestellt 
ist (= — 1,01° bis — 1,08°), jedoch die Werte der Normaltiere (— 2,30°) 
bei weitem nicht erreicht. Auch die Kochsalzkonzentration bleibt hinter 

















Studien zur Biologie der Niere. 627 


derjenigen des Normalversuches (2,40%) gewaltig zurück. In 7 Stunden 
wird 0,85 g, also ca. ?/, der eingeführten Salzmenge, ausgeschieden. 

Durch diese Versuche wurde festgestellt, daß die Harnsekretion durch 
die Farbstoffspeicherung eine beträchtliche Schädigung erleidet, und zwar 
in dem Sinne, daß sowohl die Wasser- als die Kochsalzausscheidung, die 
Verdünnungs- und die Konzentrierungsfähigkeit stark beeinflußt werd. 
Erstere früher und stärker als letztere. 

Dabei ist an den Epithelzellen jede tiefgreifende Schädigung auszu- 
schließen. Es besteht keine Albuminurie, und bei der angegebenen vor- 
sichtigen Dosierung des Farbstoffes finden wir auch histologisch kein 
Zeichen einer Epithelschädigung. 

Die weiteren zu beantwortenden Fragen waren, wie weit sich diese 
Funktionsstörung der Nieren steigern läßt und ob dieselbe ebenso, wie 
die Farbstoffspeicherung, einen rückbildungsfähigen Vorgang darstellt. 

Die zweite Frage war leicht zu beantworten. 

Das Kaninchen des Versuches 2 wurde 2 Wochen lang ohne Farb- 
stoffbehandlung gehalten. Der nachher vorgenommene Wasserversuch 
fiel folgendermaßen aus: 

Vorm. 10 Uhr bis 10 Uhr 30 Min. 150,0 cem Leitungswasser intrastomachal. 
Urinausscheidung: 

12 Uhr 55,0 ccm A =+0,22° 
2 Uhr 70,0 ccm — 

Die Verdünnungsfähigkeit war also nach einer Frist von 2 Wochen 
vollständig zurückgekehrt, was der zu dieser Zeit schon beginnenden Ent- 
färbung der Epithelzellen vollständig entspricht. 

Um die erste Frage zu beantworten, behandelten wir ein drittes 
Kaninchen längere Zeit hindurch 2täglich mit 10,0 ccm 2,5 proz. Wasser- 
blaulösung intravenös. (Versuch 3.) 

Bereits nach 2 Wochen erhielten wir das folgende Resultat: 


Wasserversuch. 
Vorm. 10 Uhr 30 Min. bis 11 Uhr 150,0 ccm Leitungswasser intrastomachal. 
Urinausscheidung: 
Zeit ccm Sp. G. | Natl. % Natl.-Gr. Alb. 
12 Uhr 30 Min. 10,0 — —0,90° 0,19 — Ar 
3 Uhr 6,5 -- —1,06° - — er 
5 Uhr 4,0 -- —1,04° _ — z 
10 Uhr 20,0 -- —0,98° 0,07 je 7 
Vorm. 10 Uhr 60,0 _ —0,90° — ar - 
Kochsalzversuch. 
Vorm. 10 Uhr 30 Min. 2,0 g NaCl in 20 cem Wasser gelöst instrastomachal: 
Zeit ccm Sp. G. A NaCl. % NaCl.-Gr. Alb. 
l Uhr 15 Min. 22,0 1018 —1,20° 1,20 —_ -r 
4 Uhr 30 Min. 52,0 1020 —1,29° 1,41 = = 
8 Uhr 45 Min. 30,0 1022 —1,39° 1,42 — = 


Vorm. 11 Uhr 62,0 1020 —1,33° 1,22 — = 


628 L. Paunz: 


Nach weiteren 2 Wochen fortgesetzter Behandlung gestalten sich 
die Versuche folgendermaßen: 


Wasserversuch. 
Vorm. 9 Uhr 30 Min. bis 10 Uhr 150,0 ccm Leitungswasser intrastomachal: 
Zeit ccm Sp. G. A NaCl % NaCl.-Gr. Alb, 
11 Uhr 30 Min. 4,1 = —0,68° — _ _ 
1 Uhr 30 Min. 14,2 ee — 0,54 ° 0,06 — _ 
4 Uhr 30 Min. 17,0 — —0,64° — = tan 
7 Uhr 10,0 = —0,77° _ - _ 
Vorm. 8 Uhr 90,0 1011 —0,55° —_ _ — 
Kochsalzversuch. 
Vorm. 9 Uhr 15 Min. 2,0g NaCl in 20,0 ccm Wasser gelöst intrastomachal. 
Urinausscheidung: 
Zeit ccm Sp. G. A NaCl. % Na0l.-Gr. Alb. 
11 Uhr 15 Min. 20,0 = —1,21° 1,28 0,26 — 
1 Uhr 15 Min. 25,0 e- —1,25° 1,60 0,40 e— 
4 Uhr 30 Min. 35,0 _ —1,43° 1,68 0,59 — 
7 Uhr 15 Min. 14,0 = —1,36° 1,46 0,20 _ 
11 Uhr 20 Min. 20,0 — = 1,18 0,24 — 
Vorm. 10 Uhr 55Min. 46,0 1025 - 1,07 0,49 = 


Die früher beschriebene Funktionsstörung können wir also auch hier 
beobachten, eine nennenswerte Steigerung derselben war aber durch die 
vermehrte Farbstoffverabreichung nicht zu erzielen. 

Versuche, durch eine noch längere Farbstoffbehandlung und durch 
gewisse technische Kunstgriffe eine Steigerung der Farbstoffspeicherung 
und — auf diesem Wege — der Nierenfunktionsstörung zu erreichen, 
sind in Gang gesetzt. 

Den Erfolg der bisherigen Versuche können wir im folgenden zu- 
sammenfassen: 

Durch die chronische Farbstoffbehandlung mit Wasserblau können 
wir erhebliche Funktionsstörungen der Niere veranlassen, indem so- 
wohl das Wasser- als das Kochsalzausscheidungsvermögen bzw. die Ver- 
dünnungs- und Konzentrierungsfähigkeit stark beeinflußt wird. 

Die mit Farbstoff behandelten Tiere unterscheiden sich von den 
nicht behandelten anatomisch nur dadurch, daß in ihnen die Zellen des 
Makrophagensystems sowie vieler Kanälchen der Nierenrinde und einiger 
Eierstockfollikel mit Carbinol- bzw. Farbstoffkörnern dicht beladen sind. 

Wenn auch einstweilen noch hypothetisch, so doch recht wahrschein- 
lich können wir die Störung der Harnabsonderung auf die Beladung 
der Epithelzellen der Nierenkanälchen zurückführen und die Carbinol- 
bzw. Farbstoffspeicherung im Makrophagensystem sowie in den 
Ovariumfollikelzellen als ein diesbezüglich indifferentes Nebeneffekt 
betrachten. 

Die Carbinol- bzw. Farbstoffspeicherung ist — wenigstens bei der 
zuerst geschilderten vorsichtigen Dosierung — von keinem Zellunter- 














Studien zur Biologie der Niere. 629 


gang begleitet. Weder eine Albuminurie, noch eine mangelhafte Kern- 
färbung oder gar schwerere Destruktionen der beladenen Zellen können 
dann gefunden werden. 

Sie stellt also eine sozusagen ‚physiologische‘ und jedenfalls re- 
versible Ausschaltung der betreffenden Kanälchenabschnitte dar. Ob 
diese Ausschaltung eine vollständige werden kann, müssen noch weitere 
Versuche entscheiden. 

Auch die nähere Analyse der Einzelheiten unserer Resultate (die 
Einstellung der Molarkönzentration des isosthenurischen Harnes auf 
ein höheres Niveau als dasselbe des Blutplasmas usw.), sowie ihre Ver- 
wertung zur näheren Erkenntnis der Nierenfunktion wird erst nach 
weiteren Untersuchungen (Verfolgung der Nitrogen-, Phosphat- usw. 
Ausscheidung) möglich. 

Die hier geschilderten Versuche ergeben nur soviel mit Sicherheit, 
daß sowohl an der Wasser- als an der Kochsalzausscheidung, an der 
molaren Konzentrierungs- sowie Verdünnungsfähigkeit die Kanälchen 
der Nierenrinde den Hauptanteil haben. 

Das Glomerulusepithel ist nicht blockiert; weder die Konzentrierung, 
noch die Verdünnung kann also eine Funktion desselben darstellen. 

Die Kochsalzausscheidung ist gestört, dieselbe ist also ebenfalls 
keine oder keine ausschließliche Funktion des Glomerulus. 

Es besteht die Blockade gewisser Abschnitte der Rindenkanälchen. 
Die Störung der Kochsalzausscheidung, der Konzentrierung und der 
Verdünnung muß darauf zurückgeführt werden. 

Das Kanälchenepithel besitzt also die Fähigkeit, bei der Verdünnung 
Wasser auszuscheiden. 

Den Mechanismus der Konzentrierungsarbeit können wir uns zweier- 
leiweise vorstellen: 1. durch Resorption, 2. durch Ausscheidung ge- 
löster Molekel. Wenn wir der Resorption eine Rolle zuschreiben wollten, 
so müßten wir annehmen, daß das Kanälchenepithel das Wasser je 
nach Bedarf in zwei entgegengesetzten Richtungen weiterbefördern 
kann, was man sich schwer vorstellen kann. Da es aber durch die 
Blockierungsversuche bewiesen wird, daß das Kanälchenepithel an der 
Salzausscheidung beteiligt ist, so spricht nichts gegen die Annahme, 
daß die Konzentrierung nicht durch Rückresorption von Wasser, son- 
dern durch die Sekretion gelöster Stoffe erfolgt. 

Für die Vitalfärbungsforschung ergeben unsere Versuche das wich- 
tige, bisher mehr nur vermutete als bewiesene Resultat, daß es durch 
die Carbinol- bzw. Farbstoffspeicherung zu einer gewaltigen Funktions- 
veränderung, und zwar — wie wir es annehmen können — Funktions- 
herabsetzung der Zellen, kommen kann. 


(Aus der Medizinischen Klinik der Stephan Tisza-Universität in Debreczen. — 
Vorstand: Prof. J. Osiky.) 


Thrombopenie und essentielle Thrombopenie. 


Von 
Dr. G. Nagy, 


Assistent der Klinik. 


(Eingegangen am 28. April 1924.) 


Der mehrmals beobachtete innige Zusammenhang, welcher in den 
mit Hämorrhagien einhergehenden Erkrankungen zwischen dem Auf- 
treten der Blutungen und dem hochgradigen Thrombocytenschwund 
besteht, beschäftigt die Forscher bereits mehr als 40 Jahre. Im Jahre 
1881 war Brohn, 2 Jahre später Krauß, beide Heidelberger Kliniker, 
die ersten, die in der hämorrhagischen Periode des Morbus maculosus 
Werlhofi das Verschwinden der ‚Hämatoblasten‘‘ beobachtet hatten 
und auf Grund dessen diese Krankheit für primäre Bluterkrankung 
hielten, welche sich unter den Hämatoblasten (Blutplättchen) ab- 
spielt. Nach ihnen, jedoch von ihnen unabhängig, teilten Denys und 
später Hayem kongruente Befunde mit. Nach ihrer Auffassung liegt 
die Ursache der hämorrhagischen Maculae in einer, in den peripheren 
Blutcapillaren stattfindenden toxischen Agglutination der Blutplättchen, 
demzufolge unzählige kleine Petechien, Haut- und Schleimhautblutungen 
auftreten. 

Santesson und Selling beobachteten ebenso das gleichzeitige Auftreten 
von Thrombopenie und Blutungen bei Benzolvergiftung. Duke sah bei 
Tieren, die durch Benzol und Diphtherietoxin vergiftet wurden, schwere 
Blutungen, welche mit einem progredienten Schwund, aller aus dem 
Knochenmark stammenden Formelemente und unter diesen in erster 
Linie der 'Thrombocyten, einhergegangen waren. Diese Blutungen er- 
folgten immer, wenn die Thrombocytenzahl unter 30 000 gesunken war. 
Er trennte die Gerinnungszeit von der Blutungszeit, welche letztere dem 
Grade der Thrombopenie proportionell ist. Es wird der Kern von jedem 
Thrombus von den Blutplättchen gebildet, wie es Eberth, Schimmelbusch, 
bald Aschoff nachgewiesen haben, und so stellen die Thrombocyten den 
bedeutendsten Faktor der capillären Blutstillung dar, ihr vollkommener 
Schwund würde theoretisch das ins Endloseziehen der Blutungszeit ver- 
ursachen. 














G. Nagy: Thrombopenie und essentielle Thrombopenie. 631 


E. Frank hat zuerst auf Grund dieser hier und da noch lückenhaften 
und teilweise in Vergessenheit geratenen Angaben der verschiedenen 
Autoren, aus der wirren Gruppe der hämorrhagischen Diathesen den 
Morbus maculosus Werlhofi abgetrennt. Er führte diese Krankheit 
auf eine zunehmende Insuffizienz der Thrombocytenproduktion als auf 
eine primäre und ausschließliche Krankheitsursache zurück, und be- 
nannte sie daher ‚Essentielle Thrombopenie‘“. 

Die Werlhofsche Krankheit stellt ebenso in ihrer akuten wie in der 
chronischen Form eine Erkrankung dar, welche durch exanthemartig 
auftretende petechielle Blutungen, profuse Menstruation, schwer still- 
bare Epistaxis und neben diesen klinischen Erscheinungen, durch hoch- 
gradige Thrombopenie, Irretraktibilität des Blutkuchens und durch die 
beträchtliche Verlängerung der Blutungszeit charakterisiert wird. 

Frank versuchte in seinen ersten, dieses Thema behandelnden Ab- 
handlungen (Berl. klin. Wochenschr. 1915, Nr. 18/19, 37, 41, — 1916, 
Nr. 21) die spontan auftretenden Purpuraeruptionen und die ganze 
hämorrhagische Disposition durch seine bekannte, auf die primäre 
Thrombopenie fußende mechanische Theorie vorstellbar zu machen. 
Nach seiner Meinung besteht bereits unter normalen Verhältnissen eine 
gewisse Neigung zur Extravasation per diapedesin durch die präfor- 
mierten Stomata der Capillarwandungen, welche Neigung jedoch durch 
das Vorhandensein der Thrombocyten unterdrückt wird. Die, als leich- 
teste Formelemente des Blutes in dem Wandungsstrome schwimmenden 
Thromboeyten verstopfen nämlich die Stomata. Es geht daher die 
Thrombocytenarmut ohne jedwede besonderen Hilfsmomente mit spon- 
tanen Blutextravasation einher. In seinen späteren Arbeiten (Brugsch, 
Ergebn. d. inn. Med. III) fühlte er sich veranlaßt, an seinen diesbezüg- 
lichen Anschauungen in gewissem Sinne zu ändern, — führte den Be- 
griff „‚Mikrotrauma‘“ ein, nach welchem für das Bild der ‚‚Essentiellen 
Thrombopenie‘‘ der Purpuraausschlag nicht wesentlich sei, und der 
Thrombopeniekranke braucht keine Blutungen zu bekommen, falls er 
keine Mikrotraumen erleidet, welche durch Verlangsamung des Blut- 
stromes zur Diapedese führen. Ein solches Mikrotrauma kann bereits 
durch den Druck des Hosenriemens, durch die Reibung des Kragens, 
durch die Stauung in dem venösen System der unteren Extremitäten, 
ja im Falle von hochgradiger Plättehenarmut sogar auch durch den nor- 
malen Blutdruck verursacht werden. 

Während Frank und mit ihm Glanzmann und Kaznelson das ganze 
Syndrom des Morbus maculosus Werlhofi auf einen alleinigen Faktor, 
d. i. die Thrombopenie, zurückführen, legen eine beträchtliche Anzahl 
der Autoren (Klinger, Morawitz, Stepp, Katsch) auch dem Zustande der 
Gefäße eine, wenn auch nicht ausschließliche, jedoch eine ansehnliche 
Rolle bei. Nach Klinger bringt diejenige Noxe, welche zum Schwund der 


632 | G. Nagy: 


Thrombocyten führt, auch im Zustande der Gefäßwandungen Ver- 
änderungen zustande. Die Stütze dieser Auffassung könnte derjenige 
genetische Zusammenhang sein, welcher zwischen der Endothelzelle 
und den Bluturzellen (z. B. in dem Entwicklungssystem Pappenheims) 
besteht. In diesem Sinne wäre die Endothelzelle der gemeinsame Ur- 
ahne, daher auch derjenige der Megakariocyten. Das System ist also 
ein gemeinsames und die Erkrankung eine Systemerkrankung. — An- 
dere wieder suchen im Stoffe der zerfallenden Thrombocyten selbst 
denjenigen schädigenden Faktor, welcher nach der Wirkungsart der 
Endotoxine die Auflockerung der Kolloide der Gefäßwandungen her- 
vorruft. Mehrere von den neueren Autoren, Sternberg, Herzog und 
Roscher, raten entschieden ab den 'Thrombocyten, gegenüber der Ge- 
fäßerkrankung, eine zu große Rolle zuzueignen. ‚Gerade in dem leichten 
Nachweis der Thrombopenie — gegenüber der Unmöglichkeit, die Ge- 
fäßdurchlässigkeit zu messen — liegt der Grund für die überragende 
Bewertung der Thrombopenie“ (Stahl). 

Wenn auch sowohl die Neigung zu Blutungen wie eine beträchtliche 
Thrombopenie unabhängig voneinander isoliert vorkommen können, 
ist es dennoch in den meisten Fällen feststellbar, daß der innige Zu- 
sammenhang dieser beiden nicht allein der Werlhofschen Krankheit 
eigen ist. Bei Blutungen, im Anschluß an sie, speziell nach parenchyma- 
tösen, capillaren Blutungen, wie Menstruation, myomatöse Blutungen, 
hämorrhagische Exanthemen usw., finden wir immer eine gewöhnlich 
nur vorübergehende Verminderung der 'Thrombocyten, wobei es mir 
unwahrscheinlich ist, daß die Thrombopenie das primäre Symptom, der 
Oberbegriff wäre. Die wichtige Rolle, welche die Plättchen gerade bei 
der Stillung und beim Lokalisieren der Blutungen spielen, legt den Ge- 
danken nahe, daß umgekehrt gerade die kleinsten, sich wiederholenden 
Blutungen diejenigen sind, welche infolge der fortdauernden Plättchen- 
zerstörung zur Thrombopenie führen. — 

Zur Entwicklung einer Thrombopenie bestehen zwei Möglichkeiten: 
entweder vermindert sich ihre Produktion oder wird ihre Zerstörung 
gesteigert. 

I. Eine verminderte Produktion kommt nach den heute allgemein 
anerkannten Wrightschen Lehren entweder durch Schwund der Mega- 
kariocyten des Knochenmarks oder durch eine funktionelle Lähmung 
derselben. In einem Fall von Dünner wurde das Knochenmark durch 
Carcinommetastasen zerstört, und die Zahl der Blutplättchen sank 
bis auf 21 000. (In dem aus der Milz angefertigten Striche konnte kein 
einziges nachgewiesen werden.) Eine ähnliche anatomische Verkleine- 
rung des Knochenmarks mit konsekutiver Verminderung der Thrombo- 
cytenzahl im peripheren Blut wird verursacht durch Lymphogranulo- 
matose, Wucherung Iymphosarkomatösen Gewebes, ferner durch Um- 








Thrombopenie und essentielle Thrombopenie. 633 


wandlung des Knochenmarks bei der Biermerschen Anämie, durch ge- 
wisse Gifte, wie Diphtherietoxin, Benzol usw., welche im Wege der Ver- 
ödung des ganzen Knochenmarkes zur aplastischen Anämie führen. — 
In den bis jetzt wissenschaftlich verarbeiteten, zweifellosen Fällen von 
_Werlhof fanden Kaznelson, Sternberg reichlich unversehrt ausseheend 
Riesenzellen im Knochenmark, — Foerster beschrieb sogar eine als Re- 
generation zu deutende Wucherung desselben. Diese Befunde bedeuten 
daher eine scharfe Widerlegung der Theorie Franks, nach welchem 
die Werlhofsche Krankheit die erste Stufe der aplastischen Anämie 
wäre. Frank führt, die Lehren von Hirschfeld und Klemperer über die 
endokrine Funktion der Milz weiterbauend, die Thrombopenie auf eine 
primäre Milzschädigung zurück. Das Milzhormon übt eine lähmende 
Wirkung auf das ganze Knochenmark, und zwar in erster Linie auf 
dessen empfindlichste Phase, auf die Megakariocyten, aus, welche es 
. erst funktionell, bald anatomisch lähmt und langsam vernichtet. In 
der weiteren Folge schwächt es den ganzen leukoblastischen Apparat, 
später auch die Erythrocytenbildung und führt schließlich zur Leuko- 
penie — Aleukie — und zur aplastischen Anämie. Glanzmann sucht 
die Lösung der Frage auf Grund eines anderen Gedankenganges, jedoch 
ebenfalls in der Veränderung der Megakariocyten. Nach ihm soll es 
sich um vererbte, konstitutionelle Minderwertigkeit der Megakariocyten 
handeln, welche infolgedessen nicht fähig sind, vollwertige Blutplättchen 
zu. produzieren (T’hrombasthenie Glanzmanns). 

II. Bei normaler, ja sogar regenerativer Produktion sucht Kaz- 
nelson in der gesteigerten Zerstörung, Thrombolyse, das Wesen der 
Krankheit. Die Untersuchungen E’ppingers, in welchen er in einigen mit 
schweren Anämien einhergehenden Krankheiten (hämolytischer Ikterus, 
Anaemia perniciosa, Morbus Banti) der blutmausernden Aktivität der 
Milz eine besonders große Bedeutung zuschrieb, veranlaßten Kaznelson, 
die Ursache der Thrombopenie beim Werlhof in einer überlebhaften 
Thrombolyse seitens der Milz zu erblicken. Die operativen Erfolge der 
auf Grund dieser Auffassung indizierten Splenektomien befestigten seine 
Theorie. Die Zahl der Blutplättchen vermehrte sich von Stunde zu 
Stunde um Hunderttausende, die. hämorrhagische Diathese hörte auf, 
und in der exstirpierten Milz, besonders in dem venösen Sinus, war eine 
große Menge zerfallender Thrombocyten nachweisbar. Die Enttäuschung 
aber, welche dem ersten Enthusiasmus folgte, wies darauf hin, daß das 
Problem noch lange nicht gelöst ist. Die Blutungsbereitschaft kehrte 
in Bälde wieder, die Zahl der Thrombocyten stürzte wieder herab, und 
es kam so langsam wieder zum vorherigen Zustand. — Die Ursache der 
Rezidive liegt zum Teil in dem Umstande, daß die Milz bloß ein Re- 
presentant, jedoch nicht das ausschließliche Organ des makrophag-reti- 
kulo-endothelialen Apparates ist, und so kann sich nach der Splenekto- 


634 G. Nagy: 


mie eine vikariierende Hyperplasie in den übrigen Teilen dieses Systems 
entwickeln, zum Teil auch darin, daß die zentrale Milzthrombolyse bloß 
ein Plus, eine verschlimmernde Komponente, jedoch nicht das Wesen der 
Pathogenese der Werlhofschen Krankheit darstellt. 

Die physiologische Rolle der Blutplättchen bringt es mit sich, daß 
eine jede parenchymatöse oder capillare Blutung zu einer beträchtlichen 
Thrombocytenzerstörung führt, welche aber durch das gesunde Knochen- 
mark rasch ersetzt, sogar überkompensiert wird. Diese posthämorrha- 
eische Verarmung an Thrombocyten ist um so mehr ausgesprochen, 
je kleinere, aber je zahlreichere Blutgefäße lädiert wurden. Es ist an- 
nehmbar, daß bei ganz geringfügigen Verletzungen keine Extravasation 
und so auch kein Erythrocytenverlust erfolgt, weil die Blutplättchen 
denselben auf Kosten ihrer eigenen Existenz verhindern. Wie aber die 
Regenerationsfähigkeit des Knochenmarks infolge eines andauernd 


blutenden Magengeschwürs abgeschwächt wird und sich eine sekundäre _ 


Anämie entwickelt, welche in ihrer weiteren Progredienz zu einer 
Knochenmarksatrophie führt, ebenso führen die konstant sich wieder- 
holenden Miniatürblutungen im Anfang zur Hyperfunktion des dauernd 
zur Bereitschaft gezwungenen Thromboblastischen Systems und dann 
— vielleicht durch Mitwirkung der von Glanzmann betonten konstitutio- 
nellen Momente — zur Erschöpfung desselben und manifestieren sich 
schließlich in einer Thrombopenie von konstantem Charakter. 

Wir können die Bedeutung dieser peripheren Thrombolyse, gegen- 
über der zentralen Milzthrombolyse, mit Hilfe des Stauungsversuches 
numerisch feststellen. Es ist bekannt, daß in den der Menstruation 
vorhergehenden Tagen das E. $. bei annähernd normalen Blutplättchen- 
zahl positiv zu sein pflegt. Wenn wir bei einem solchen Individuum 
den Arm für 5—6 Minuten abbinden und nach Entstehen der Purpura- 
flecke der abgebundenen Armvene in 3 Portionen, je 3—4 cem Blut 
entnehmen, so finden wir in der ersten Partie, welche sich während der 
Stauungin der Vene befand, im Oxalatplasma oder besser im Magnesium- 
sulfatstriche gezählt, normale oder annähernd normale Thrombocyten- 
zahlen. In der zweiten Partie dagegen, aus der sich die Petechien ent- 
wickelten, können wir mitunter eine auf mehrere Hunderttausende 
gehende Verminderung der Blutplättchen nachweisen. Die dritte Partie, 
welche bereits das frische, neu zugeführte Blut enthält, zeigt wieder 
eine gegen das Normale strebende Thrombocytenzahl. 

















Rs Thrombocytenzahl 
j I. Portion | II. Portion | III. Portion 
j 8 | 
KraurKerreree ——- 380 000 132 000 212 000 
Frau Bi Re ae 4 320 000 140 000 _ 
Fräulein Hrsg: E= 80 000 12 000 60 000 





Thrombopenie und essentielle Thrombopenie. 635 


Ähnliche, aller Wahrscheinlichkeit nach auf einer peripheren Throm- 
bolyse basierende Thrombopenie können wir oft finden. Pfeiffer und 
Hoff teilten interessante Daten in Nr. 43/44 des Zentralbl. f. Gynäkolo- 
gie 1922 mit — über die mit den Menses einhergehende Thrombopenie. 
Am ersten Blutungstage sinkt die Zahl der Blutplättchen nach ihren 
Untersuchungen auf 1/,, 1/,, ja sogar auf !/, des sonst gefundenen Wertes. 
Sie führen diesen Befund auf innersekretorische Ursachen zurück, nach 
welchen die Heranbildung des Corpus luteum im Wege der Beein- 
flussung der Milz die riesenkernigen Zellen des Knochenmarks lähmen 
soll. — Jedoch diejenige zweifellos festgestellte Wirkung, welche von 
der ovariellen Fluxion des Prämenstruums auf das ganze Gefäßsystem 
ausgeübt wird und welche sich durch das in dieser Periode oftmals 
positive Rumpel-Leedesche Phänomen manifestiert (Stephan), weist 
darauf hin, daß wir die Erklärung des Befundes zwar in der hormonalen 
Beeinflussung, jedoch nicht des Knochenmarkes, sondern in derjenigen 
des Gefäßsystems zu suchen haben und die Thrombopenie gerade den 
Ausdruck jenes Kampfes bildet, welcher vom Organismus gegen die 
emporgekommene, depressorische capilläre Veränderung und gegen die 
durch dieselbe verursachte Blutungsneigung geführt wird. 

Pletnew erwähnt es als eine auffallende Erscheinung (Zeitschr. f. 
klin. Med. 1922), daß man bei Typhus exanthematicus während der 
exanthematischen Periode eine beträchtliche Thrombopenie nachweisen 
kann, welche weder mit der Erythrocytenzahl, noch mit der Leuko- 
cytenzahl parallel läuft, sondern sich nach der een 
richtet. 

Auf die Frage, warum wir bei derartiger Auffassung der Thrombo- 
penie bei anderen hämorrhagischen Diathesen keine Thrombopenie 
finden können, wäre die richtige Antwort, daß erstens bei diesen die 
Eruption schubweise und niemals so intensiv auftritt wie beim Werlhof, 
und zweitens können dieselben infolge ihrer kurzen Dauer nicht zu einer 
Verschlechterung der Regeneration führen. Vorübergehende Thrombo- 
penie kann übrigens bei jeder ausgebreiteten capillären Blutung nach- 
gewiesen werden (auch bei den sog. angiopathischen : Purpuraformen 
nach den einzelnen Attacken, welche jedoch durch die schnell sich ein- 
setzende Regeneration überdeckt wird), — kann man jedoch dieselbe 
nicht finden bei venösen oder arteriellen Blutungen oder im Falle, wenn 
dem Knochenmark zur Regeneration reichliche Zeit zur Verfügung steht. 

Im Anschlusse der Versuche Dukes stellten Frank und Kaznelson 
bei der Werlhofschen Krankheit einen strengen Parallelismus zwischen 
dem Erscheinen der Blutungen und der Zahl der Blutplättchen fest. 
Nach ihnen stellt die hämorrhagische Diathese der E. S. und die Blutungs- 
zeit eine einfache Funktion (im mathematischen Sinne des Wortes) der 
Thrömbocytenzahl dar, über deren kritischem Werte (30 000) keine 

Z. f. klin. Medizin. Bd. 100. 41 


636 @. Nagy: 


Blutung stattfindet, unter diesem aber die Blutung obligat ist. Dieser 
Parallelismus bildet entschieden eine große Stütze ihrer primär throm- 
bopenischen Auffassung, jedoch kann dieser ebenso eine Stütze der 
primär angiopathischen, sekundär thrombopenischen Auffassung sein. 
Daß dieser Parallelismus nicht immer schlußgerecht ist, das zeigt der 
Umstand, daß diese Symptome durch gewisse Eingriffe in eine breite 
Divergenz gebracht werden können. — Diejenige Richtung, welche die 
Ersetzung der blutigen Eingriffe durch Röntgenbestrahlungen an- 
strebt, legte den Gedanken nahe, daß wir es versuchen können, die Milz 
in ihrer Funktion anstatt der oft sehr gut wirkenden Splenektomie 
auch durch Röntgenbestrahlungen in größeren Dosen zu lähmen. Es 
sind bekannt die Erfolge Stephans, der die Milz als „zentrales Koagula- 
tionsorgan“ durch ein Drittel der E. D. als Reizdose zur erhöhten 
Funktion zu bringen suchte. Der Dosierung Stephans gegenüber suchten 
wir eine lähmende Wirkung zu erreichen, und deshalb wandten wir 
im Sinne des Arndt-Schulzschen Gesetzes eine volle E. D. an. Über die 
günstigen, wenn auch oft nur temporären Erfolge der Bestrahlung be- 
absichtigen wir a. a. O. zu referieren, derzeit möchten wir die Auf- 
merksamkeit bloß auf diejenigen Erscheinungen ‚hinlenken, welche 
sich im Laufe der Heilung der Werlhofsymptomen geäußert haben 
und welche zuerst unsere Aufmerksamkeit auf die Möglichkeit lenkten, 
daß das Wesen dieser Krankheit auch in einer Umkehrung der Frank- 
schen Auffassung gesucht werden kann und gesucht werden soll. Nach 
der ersten Bestrahlung hörte die wochen- bis monatelang dauernde 
Blutung in ein paar Tagen auf. Die vorhandenen Petechien wurden 
gelb, es entstanden keine neuen, Nasenbluten, protrahierte Menstrua- 
tion stand still, das aufgelockerte Zahnfleisch wurde mehr und mehr 
fest, und sowohl das Stauungssymptom als der Perkussionsversuch wurde 
negativ. Die hämorrhagische Diathese besserte sich also auffallend, die 
Thrombocytenzahl blieb jedoch mehrere Tage hindurch unverändert, 
und die erste, beträchtlichere Steigerung derselben war erst in etwa 
8S—10 Tagen nach Sistierung der Blutungen zu konstatieren, und es 
vergingen Wochen, bis das normale Niveau erreicht wurde. Der Par- 
allelismus gab also einer ziemlich breiten Divergenz Platz — das 
Knochenmark war erst nach einer langen, mehrere Wochen andauernden 
Erholung imstande das cytologische Gleichgewicht herzustellen. Nach 
den Erfahrungen, die man nach langdauernden Carcinombestrahlungen 
machte, üben die Röntgenstrahlen auf die Thrombocytengenese keine 
nennenswerte Wirkung aus, was auch durch unsere Beobachtungen 
bestätigt wurde — daher dürfte man den Weg der Heilung, das Sistieren 
der Blutungen, nur in der Beeinflussung des capillären Systems suchen, 
wie das bereits auch schon Stephan suchte — doch in einer nicht eben 
glücklichen Richtung. Wir schätzen nämlich die Rolle der in den 








Thrombopenie und essentielle TIhrombopenie. 637 


Strahlenbündel hineinfallenden Nebenniere viel mehr als diejenige der 
bestrahlten Milz. | | 

Bei spontanen Inter- resp. Remissionen kann man eine ähnliche 
Reihenfolge in der Rückentwicklung der einzelnen Werlhofsymptomen 
beobachten. Die Blutungen sistieren bereits in der Zeit, wo noch in dem 
peripheren Blute praktisch keine Thrombocyten nachgewiesen werden 
können oder aber sind bloß in so kleiner Anzahl vorhanden, welche 
unter der festgestellten kritischen Zahl bleibt. Daher pflegt m. E. eine 
evtl. Thrombocytenkrise bei der spontanen Heilung der Werlhofschen 
Krankheit keine wesentliche Rolle zu spielen. 

Ebensowenig kann dem plötzlichen ‚‚Thrombocytensturze‘“ beim 
Entstehen der Blutungen eine Bedeutung zugemessen werden, — nicht 
einmal nach dem Prinzip des „post hoc ergo proter hoc“, — insofern 
nach unseren Beobachtungen die foudroyantesten Attacken sich bei 
vollem Thrombocytenwohlstand einstellen und letztere erst in 1 bis 
2 Tagen in dem destruierten Capillarsystem zugrunde gehen. — Der 
ausgebildeten Thrombopenie folgt natürlich ein beträchtliches Intensiv- 
werden der Blutungen, eine Verlängerung der Blutungszeit, Verlust der 
Retraktilität des Blutkuchens und eine lockere Struktur des Gerinnsels, 
was ja als direkte Folge der Thrombopenie aufgefaßt werden könne. 
Andererseits aber können weder das Rumpel-Leede-, noch das Perkus- 
sionssymptom und die spontanen Purpuraeruptionen mit ihr in Zu- 
sammenhang gebracht werden, sondern sie weisen allein auf die funktio- 
nelle Veränderung des Endothelsystems hin. Die Franzosen teilen die 
Symptome der Werlhofschen Krankheit in 2Gruppen: ‚Tares sanguines‘ 
und ‚tares vasculaires“. Die ‚Tares sanguines‘‘ sind: Thrombopenie, 
Irretraktibilität, lockeres Gerinnsel, Bilirubinämie (?), Anämie und. 
Verlängerung der Blutungszeit. Die ‚Tares vasculaires‘‘ sind wieder: 
Auflockerung der Endothelmembran, positives Rumpel-Leede, Per- 
kussionsversuch usw. und die auf die Asthenie des ganzen Gefäßsystems 
hinweisende Teleangiektasien, Varicen, Angiomen (®). 

Obzwar es bisher nicht gelungen ist, die anatomischen Veränderungen 


an den Capillaren nachzuweisen — was ja einerseits infolge der außer- 


ordentlichen Feinheit des Objektes, andererseits infolge des hauptsäch- 
lich funktionellen Charakters der Veränderungen, insofern dieselben 
reversibel sind — nicht zu verwundern ist, zweifelt dennoch der größte 
Teil der Autoren nicht an der gleichzeitigen Erkrankung des Endothels, 
wobei wir der Frage, ob es sich um gesteigerte Durchlässigkeit oder aber 
eine Zerreißlichkeit handelt, eine grundlegende Bedeutung beizulegen 
geneigt sind. Unsere Auffassung, welche der erhöhten Durchlässigkeit 
und der Blutung ‚per diapedesin‘‘ gegenüber — die Zerreiplichkeit 
und Fragilität der Capillaren und das Zustandekommen der Blutung 
„per rhexin‘‘ — behauptet, steht mit dem Standpunkt über die se- 
41* 


638 G. Nagy: 


kundäre Natur der Thrombopenie in engem Zusammenhang. Es scheint, 
daß die Mehrzahl der Autoren für die Auswanderung per diapedesim 
Stellung zu nehmen geneigt ist, wenn auch ein objektiver Beweis hier- 
für bis jetzt weder durch die Dermatoskopie noch durch die histolo- 
gischen Untersuchungen zu erbringen war. Nach unserer Ansicht 
scheint die Rhexis mehr wahrscheinlich und mit den Symptomen mehr 
vereinbar. Schon der Umstand, daß man die Blutungen am leichtesten 
durch Trauma auslösen kann, zeugt mehr für das Reißen der Capillar- 
wand. Wir können uns nicht vorstellen, daß das Trauma mittels der 
Verlangsamung des Blutstromes allein wirken und eine erhöhte Emi- 
gration verursachen könnte, ferner scheint es uns unwahrscheinlich, 
daß mit der Steigerung der Permeabilität gleichzeitig mit den Blutungen 
keine gesteigerte Auspressung des Blutplasmas oder kein Ödem ent- 
stünde. Das Zerstreutsein der Petechien, die regelmäßige runde Form 
derselben kann allein durch Zerreißen der einzelnen Capillarschlingen 
erklärt werden, demzufolge je ein kleiner Fleck durch das Blut über- 
schwemmt wird, währenddem aber die Umgebung frei bleibt. Endlich 
würde man bei der Annahme der Extravasation per diapedesim die 
sicherlich auf sekundäre Art entstandene Thrombopenie auch nicht 
verstehen, während doch die per rhexin entstandene kleine Petechie 
offenbar ebenso einen chemotaktischen Reiz auf die Thrombocyten 
ausübt wie ein Infektionsherd auf die Spezialleukocyten. Es entsteht 
daher eine Thrombocytenemigration, welche die Läsionsstelle verstopft 
und die Blutung zum Stillstand bringt. Natürlich fließen beim thrombo- 
penischen Zustand die einzelnen kleinen Capillarläsionen zusammen 
und bilden breite Echimosen. 

Die Zerreißlichkeit der Capillaren ist also derjenige Faktor, welcher 
den Kern der Werlhofschen Krankheit darstellt. Doch bedeutet die- 
selbe keine spezifische Veränderung, insofern sie nicht allein dieser 
Krankheitsform gehört, sondern wir können manche Manifestationen 
derselben in anderen Krankheiten, bei manchen Vergiftungen mehr oder 
minder ausgesprochen auffinden. So bei Infektionskrankheiten, wie be- 
sonders bei Scarlatina, spanischer Grippe, Typhus exanthematicus usw., 
ferner bei azothämischer Nephrosklerose (Beltz), bei Leberkrankheiten, 
bei Salvarsan, Chloroform, Anaphylatoxinvergiftungen usw., wo über- 
all den positiven E. S. die Thrombopenie folgt. Ebenso können die 
Inkrete der einzelnen innersekretorischen Blutdrüsen ähnliche Er- 
scheinungen erzeugen. Die bestehende, in die Konstitution sich ein- 
fügende capilläre Fragilität kann durch akzidentelle Momente gesteigert, 
eventuell zum Vorschein gebracht werden, des öfteren können diese 
Momente in ihrer Bedeutung derart zunehmen, daß sie die wichtigste 
Komponente der Krankheitsform darstellen. Jener Grad der Endothel- 
läsion, welcher zu einer hämorrhagischen Diathese führt, kann keines- 











Thrombopenie und essentielle Thrombopenie. 639 


falls eine organische Veränderung der Capillarwandung bilden, inso- 
fern dieselbe einer Rückbildung fähig ist, sondern sie repräsentiert bloß 
ein funktionelles Plus, welches die im vegetativen Nervensystem sich 
einstellenden Tonusschwankungen (während der hämorrhagischen Pe- 
riode ist der Blutdruck immer sehr. niedrig, um 100 Hgmm) und die 
Krisen der innersekretorischen Drüsen hervorbringen. Von den inner- 
sekretorischen Drüsen besitzt das Ovarium diesbezüglich eine dominante 
Rolle, und wir sehen im Krankheitsverlauf der Werlhofkranken eine 
Spiegelung der Exacerbation der Ovariumfunktion. 

Die chronisch intermittierenden oder kontinuierlichen Werlhoffälle 
sind fast ausnahmslos bei weiblichen Personen zu beobachten, und die 
ersten Erscheinungen fallen gewöhnlich mit der Pubertät zusammen 
oder gehen derselben einige Monate vor. Sie kommen öfters zwischen 
dem 9.—10. Lebenjahr vor. Nicht selten werden unstillbare virginelle 
Uterusblutungen, vikariierendes Nasenbluten und an die Menstruation 
gebundene Rhythmizität angetroffen. 

In einem unserer Fälle, bei R. H., 23jähr. Mädchen, sehen die 
einzelnen blutenden Perioden folgendermaßen aus: Die Kranke ist in 
vollem Wohlbefinden. Erythrocytenzahl: 4 500 000, 'Thrombocyten- 
zahl: 200 000, E.-S.-Perkussionsversuch fallen negativ aus. Blutungs- 
zeit 4 Min., 20 Sek. 8—9 Tage vor der Menstruation erscheinen Pe- 
techien auf den Beinen, welche aber bloß durch sehr genaue Unter- 
suchung entdeckt werden können, am nächsten Tage beginnt ihr Zahn- 
fleisch, welches andauernd etwas geschwollen ist, zu bluten, dieses hört 
jedoch nach einigen Minuten, nach einer Viertelstunde auf; an den 
folgenden Tagen zeigt sich eventuell ein kleines Nasenbluten oder eine 
leichte petechielle Eruption, und endlich tritt die Menstruation ein. 
Jetzt ist die Erythrocytenzahl 3 800 000, Thrombocyten um 80 000 bis 
100 000 und Leukocyten 12 000. An den Armen, welche von den Pe- 
techien immer freibleiben, ist der Stauungsversuch negativ. Die Men- 
struation dauert mit geringer Blutung 4 Tage an, mittlerweile sinkt 
die Thrombocytenzahl bis 50000, am fünften Tage der Menstruation 
stellt sich eine heftige Metrorrhagie ein, welche mehrere Tage anhält, 
so daß die Erythrocyten bis 800 000 stürzen und die Thrombocyten 
aus der Peripherie vollkommen verschwinden. Posthämorrhagische 
Leukocytose bis 15—20 000. Die Kranke liegt vollständig ausgeblutet, 


'wachsgelb da, kann keine Nahrung zu sich nehmen, da sie fortwährend 


Brechreiz hat, ihre Blutung kann durch keinerlei Haemostatica beein- 
flußt werden. — Alswann der Krankheitszustand vollkommen rettungs- 
los erscheint, und die Kranke von allen Schutzeinrichtungen beraubt 
apathisch, somnolent daliegt, kält die Blutung plötzlich an. Es vergehen 
1—2 Wochen, bis der Appetit zurückkehri und die roten Blutzellen ihre 
normale Höhenzahl erreichen. — Eine relativ schnelle Regeneration 


640 G. Nagy: 


erfahren die Thrombocyten in den ersten Krankheitsjahren. Von 1!/, 
bis 2 Jahren war bei dieser Kranken 4—5 Tage nach Sistieren der 
Blutung der Blutstrich voll von intensiv blau gefärbten Blutplättchen, 
man konnte übernormale Zahlen, 5—-600 000, verzeichnen. In der 
letzten Zeit wurde die Regeneration weniger prompt und weniger aus- 
giebig. Jetzt wird schon nicht einmal das normale Niveau erreicht 
und auch dies nimmt 3—4 Wochen in Anspruch. — In der Rekonvales- 
zenz zeigen sich auch auf die forme fruste des Basedow hinzeigende 
Symptome: Ihr Hals schwillt etwas an, die Augen werden glänzend, 
eine Tachykardie von 140—150 stellt sich ein, und im Blutbild kann 
eine Eosinophilie von 4—5% nachgewiesen werden. Das hormonale 
Übergewicht ist von den Ovarien auf die Schilddrüse verschoben worden, 
worauf dann die nächste Menstruation ausbleibt. 

Während die Menstruation wie ein wahres Damoklesschwert über 
dem Kopf der Werlhofkranken hängt, bedeutet ihnen die Gravidität 
eine wahrhaftige Erleichterung. Dieselbe Kranke, welche an einem 
Nasenbluten, an einer Regel beinahe zugrunde geht, trägt ihre Frucht 
aus und gebärt ohne die kleinste Beschwerde, ohne den geringsten Blut- 
verlust. Während der Schwangerschaft kommt die hämorrhagische 
Diathese zum Stillstand, ihre Symptome zeigen sich nie, und die Zahl 
der Thrombocyten schwankt zwischen normalen Grenzen. — Man be- 
gegnet nicht selten einem monosymptomatischen Werlhof, wo sich die 
Diathese mehrere Jahre hindurch bloß durch profuse, unstillbare Men- 
struation längerer Dauer äußert, weshalb die Kranke den Gynäkologen 
konsultiert. Bei einer unserer Kranken wurde eine Curettage im Alter 
von 16 Jahren bei Hymen imperforatum gemacht, infolge unstillbarer 
Methrorrhagie. Eine den monatlichen Perioden entsprechende Ryth- 
mizität zeigen auch sonstige Werlhofblutungen, weshalb Frank einen 
Teil der sogenannten vikariierenden Menstruationen mit vollem Recht 
für einen larvierten Werlhof hält. 

Die Hyperfunktion resp. Dysfunktion der Ovarien (Dysovarie) spielt 
entschieden eine große Rolle in der Regulierung des Gefäßtonus. Das 
Ovarium-Hormon, welches in der Regel bloß einen vasoparalytischen 
Effekt auf die Uterusmucosa ausübt, übt in manchen Fällen, zur Zeit 
des Prämenstruums, einen ähnlichen Einfluß auch auf das periphere 
Gefäßsystem. Als Folge dieser Hormonirradiation mittels der Lösung 
des Vasomotorengleichgewichts sinkt der Blutdruck um 15—20 Hgmm 
Riva-Rocci, und es erscheint das positive E. S. in den der Menstruation 
vorhergehenden Tagen. Letzteres ist zwar nicht eine immer auffind- 
bare, konstante Erscheinung, wie es Stephan behauptet, kommt jedoch 
allerdings häufig vor, ebenso die Positivität jenes Symptoms zur Zeit 
der klimakterischen Wallungen. Auch andere Inkrete, wie Nebenniere, 
Thyreoidea, Hypophysis, Hoden üben einen Einfluß auf den Zustand 





Thrombopenie und essentielle Thrombopenie. 641 


des Vasomotorentonus, obzwar der Einfluß, ausgenommen den der 
Nebennieren, nicht so deutlich verfolgbar ist wie derjenige der Ovarien. 
Das zeitweise beobachtete positive E. 8. bei Rachitis tarda, bei Base- 
dow, ferner die bei den einzelnen Werlhofkranken deutlich zu erkennen- 
den Spuren je einer als innersekretorische Anomalie anerkannten Ver- 
änderung, zeigen dahin, daß es nicht zureichend ist, bloß die Dys- 
funktion der Ovarien anzunehmen. Eine von unseren Kranken, die 
obengenannte R. H., zeigt zur Zeit der Sistierung der Blutungen ent- 
schieden Basedowsymptome, welche sich vor und während der Men- 
struation rückbilden. Eine andere unserer Kranken weist durch ihre 
abnorm langen Extremitäten, unverhältnismäßig lange Statur und durch 


ihre im 16. Jahre sich einstellende Menses auf das Interessement der 


Hypophyse. E. Well erinnert an Individuen von adiposo-genitalem 
Typus. 

Auf Grund des oben Gesagten halten wir die Werlhofsche Krank- 
heit, resp. die sog. konstitutionelle Form dieser für eine auf primärer 
Endothellabilität (Capillartoxikose) beruhende pluriglanduläre Affek- 
tion, mit einer dominanten Beteiligung der Ovarien, an welche sich die 
Thrombopenie bloß sekundär anschließt. Der Schwerpunkt des Blut- 
drüsensystems wurde auf das Ovarium verlegt, dessen abnorme perio- 
dische Schwingungen die Phasen der Krankheit lenken. Nach Nägelis 
Ansicht steht sowohl das Iymphoide wie das myeloide System unter 
hormonellem Einfluß, und so kann die Möglichkeit nicht in Abrede ge- 
stellt werden, daß die Thrombocytengenese durch die Dyshormonie un- 
mittelbar auch beeinflußt werden mag. Hierfür haben wir jedoch keine 
feste Stütze. Kaznelsons Auffassung von der primären Thrombolyse in 
der Milz ist in gewissem Maße jedenfalls berechtigt, wir bezweifeln bloß 
deren Bedeutung. Nach unserer Meinung geben die der hämorrhagischen 
Diathese folgende rasche Regeneration und die in diesem Wege ge- 
bildeten unreifen Thrombocytenmassen geringerer Resistenz den Boden 
zur gesteigerten Milzfunktion. Die von vielen gelobte, von anderen mit 
weniger Begeisterung erwähnte gute Wirkung der Milzexstirpation 
(Sternberg) kann nach unserer Ansicht nicht allein auf Kosten der aus- 
fallenden Milzthrombolyse geschrieben werden. Das der Exstirpation 
folgende Fieber, welches nach der Operation beinahe in jedem Falle 
eintritt und auch 40° erreichen kann (Pankreasfettnekrose?), kann 
auch allein dazu geeignet sein, daß es als eine mächtige Heteroprotein- 
wirkung die Krankheit umstimme. Hier wären die experimentellen 
Erfahrungen Fischeras zu erwähnen, nach welchen es nach der Milz- 
exstirpation regelmäßig zur Hypertrophie der Thymus- und Atrophie 
der Keimdrüsen kommt. Diese konsekutive Atrophisierung scheint 
nach unserer Ansicht in dieser Krankheit, wo die Dysfunktion der 
Ovarien eine große Rolle spielt, eine dauernde Besserung zu erzielen. 


642 G. Nagy: 


Von dem der Hämophilie analogen Verlauf des chronischen Werl- 
hofs unterscheidet sich sehr scharf die sog. akute Werlhof-purpura. 
Während wir die chronische Form am meisten an Frauen, und zwar 
nach der Regel mit glandulären Degeneration stigmatisierten Frauen, 
beobachten, betreffen die akuten Fälle häufiger, aber wenigstens in 
einer ebenso großen Anzahl männliche Individuen. Bei der chronischen 
Form finden wir in der Regel keinen Milztumor, welcher aber bei akuten 
Fällen stets nachzuweisen ist. Der Milztumor erreicht zwar nicht immer 
die Grenze der Tastbarkeit, jedoch ist er orthodiagraphisch stets immer 
zu konstatieren. Die akuten Fälle sind immer mit einer plötzlichen, 
exanthemartigen Purpuraeruption verbunden, welche die ganze Körper- 
fläche und die Schleimhäute bedeckt, während sich die Blutung bei 
chronischen Fällen sehr häufig Jahre hindurch auf je ein Organ, Uterus- 
schleimhaut, Nasenschleimhaut, Gingiva lokalisiert, als Vorbote der 
sich später entpuppenden hämorrhagischen Diathese. In akuten Fällen 
geraten wir in der Zeit der Eruption an einem jeden Punkte der Körper- 
oberfläche auf Symptome, die auf eine positive Angiopathie hindeuten: 
positiver Perkussionsversuch, positives E. S., während bei den chroni- 
schen Fällen die Positivität dieser Symptome, evtl. ihre Intensität, je 
nach den einzelnen Körperteilen in hohem Grade variieren kann. 
Z. B.: es kann bei vollem Thrombocytenmangel und dauernder Uterus- 
blatung oder bei sich wiederholender Epistaxis der Stauungsversuch 
am Arme und der Perkussionsversuch am Sternum negativ ausfallen 
(kann die Blutungszeit in den Fingerbeeren der linken resp. rechten 
Hand ganz verschiedene Werte aufweisen. Roskam). Die akute Werl- 
hofsche Krankheit trägt das Gepräge einer gutartigen Infektionskrank- 
heit, einer Anaphylazxieerscheinung (posthämorrhagische Eosinophilie!), 
an sich, wodurch sie der Therapie zugänglich wird (Bestrahlung der 
Milzgegend mit großen Dosen), da sie den Keim der spontanen Heilung 
schon in sich birgt. Dagegen stellt die „Pseudohämophilie‘“ eine schwere 
Diathese, eine konstitutionelle Veränderung dar, die sich jeder Therapie 
gegensträubt, und der aktiven Therapie bleibt nichts übrig, wie Re- 
missionen als momentane Erfolge zu verbuchen. (Es gehört gar nicht zu 
den Seltenheiten, daß bei chronischen, ovariogenem Werlhof auch bedeu- 
tende Eosinophilie [4—8%] gefunden wird, im Falle, wenn die Diathese 
zur generellen Purpuraeruption gelangt. Die Erklärung dieser Eosinophilie 
ist nicht einfach. Die Eruptionen können auch bei chronischen Fällen 
als anaphilaktische Erscheinungen aufgefaßt werden, jedoch wäre nicht 
von der Hand zu weisen, daß die Eosinophilie eine Teilerscheinung von 
konstitutionellen, innersekretorischen Veränderungen sein kann [Eosino- 
phile Diathese].) Das Verhältnis der akuten zum chronischen Werlhof ist 
dem Verhältnisse der akuten Polyarthritis, akuten Nephritis, akuten Leu- 
' kämie zu den chronischen Formen derselben in mancher Hinsicht analog. 








Thrombopenie und essentielle Thrombopenie. 643 


Die Werlhofsche Krankheit (Essentielle Thrombopenie v. Frank, 
Thrombolytische Purpura v. Kaznelson, .L’hemogenie de P. E. Weil) 
stellt also in der Pathologie eine Krankheit unbekannter Äthiologie 
vor, trotzdem, daß es in der Literatur zahlreiche Mitteilungen gibt, 
welche von Purpurafällen berichten, die nach Infektionen, nach Pocken- 
schutzimpfung, Erythema nodosum, nach Salvarsan usw. auftraten 
und meist mit Thrombopenie einhergegangen sind. So sah Nocke nach 
der ersten Pockenschutzimpfung eine typische, thrombopenische Pur- 
pura entstehen. In der Anamnese eines Falles von Frank spielt das 
Erythaema nodosum eine Rolle. Henoch sah in mehreren Fällen Pur- 
puraauschlag 3—4 Wochen nach typischer Scarlatina oder nach Masern- 
krankheit. Es ist bekannt, daß die Agenten der Infektionskrankheiten 
sich einer großen Affinität gegenüber der subtilen Struktur des Endothel- 
systems erfreuen. Die meisten Kinderkrankheiten führen sehr lebhafte 
Symptome in das Bereich der Capillaren herbei, so Exantheme, Ro- 
seolen, ab und zu Petechien, wie die Scarlatina, Masern, Typhus, Pocken 
usw. Die akute Glomerulonephritis bedeutet auch eine allgemeine 
capilläre Affektion. ‘Ebenfalls sehen wir bei Typhus exanthematicus, 
Sepsis, Anaphilaxie, bei einzelnen Vergiftungen, wie das Salvarsan, 
Chloroform, die deutliche Manifestation der capillären Schädigung. 
Die Exantheme heilen scheinbar ohne Spur, jedoch sie hinterlassen eine 
Veränderung, welche klinisch momentan nicht nachzuweisen ist, welche 
aber eine spätere, degenerative Veränderung anbahnen können. Heute 
besteht die Neigung, den Ursprung der ‚essentiellen Hypertonie“ auf 
Reste von überstandenen Infektionskrankheiten zurückzuführen, welche 


‘ sich im Capillargebiet abgespielt hatten. Die alleinstehende Mitteilung 


von W. Schultz, nach welcher er in gewissen Fällen von Werlhof eigen- 
tümlich vakuolisierte Leukocyten gefunden hat, welche sowohl in ihrer 
Kernstruktur als in ihrem Protoplasma solche degegenerative Stigmata 
zeigten, die nach der Regel allein in Fällen beobachtet werden können, 
in welchen das Knochenmark durch Bakterientoxinen unmittelbar an- 
gegriffen wird, zeigt ebenfalls auf infektiöse Genese. Außer dem Semio- 
logischen scheint es uns also auch anamnestisch zweifellos, daß in einem 
Teil der im Bilde des Morbus maculosus erscheinenden Krankheits- 
formen die Infektion eine bedeutende Rolle spielt, und hier äußert sich 
von neueren die große Diskrepanz, wodurch akute und chronische Form 
voneinander getrennt werden. 

Als wir unsere Fälle von diesem Standpunkte analysierten, stellte 


es sich heraus, daß, während die akuten Werlhofkranken beinahe immer 


' irgendeine Anamnese angeben können, die Anamnese der chronischen, 
' ovariogen Werlhofe vollkommen negativ ausfällt. Von unseren 3 akuten 


Werlhoffällen (alle 3 Männer) stellte sich die Purpura bei dem einen 


' nach einer Influenza, bei dem anderen 2 Wochen nach einer schweren 


644 G. Nagy: 


Schußverletzung, beim dritten während der Exacerbation eines 
aktiven Lungenprozesses ein. Alle unsere 5 chronischen (ovariogen) 
Fälle sind weiblichen Geschlechtes und eigentümlicherweise machten 
4 von ihnen nicht einmal jene gewöhnlichen Infektionskrankheiten durch, 
welche sonst in der Anamnese der meisten Kranken vorkommen, die 
fünfte, ein 14jähriges Mädchen, war in der frühen Kinderzeit rachitisch 
(Dyshormonie!). Währenddem man also beim akuten Werlhof der 
toxischen Degeneration der Capillaren ohne Zweifel eine Bedeutung 
zuerkennen muß, kann dieselbe bei der chronischen Form ausgeschlossen 
werden. Diese Momente scheiden die beiden Krankheiten scharf aus- 
einander. 

In einer ganz anderen Richtung suchen P. E. Weil und Isch- Wall 
die Ätiologie der ‚„‚L’hemogenie‘‘ (Presse Medicale 1921, Nr. 21). Nach 
ihrer Ansicht stößt das klinische Studium der Krankheit, wenn mit 
Mühe nicht gespart wird, in jedem Fall auf ein anamnestisches Moment, 
welches die Aufmerksamkeit gegen die Leber lenkt, so Icterus, Gallen- 
steine, Cirrhose, Diabetes und ähnliche homologe Symptome, welche 
nach der Regel auch in der Anamnese von Verwandten aufsteigender 
und Seitenlinie, mit einer auffallenden Prädomination des weiblichen 
Geschlechts immer nachgewiesen werden können. Sie führen mehrere 
Fälle an, in welchen die hämorrhagische Diathese der Leberläsion un- 
mittelbar gefolgt war und andererseits der Icterus sich in Status haemor- 
rhagicus ohne jedwede auf die Leber hindeutende Anamnese entwickelt 
und parallel mit dem Icterus die Schwere des hämorrhagischen Syn- 
droms zugenommen hatte. Die Krankheitsverwandtschaft wird nach 
ihrer Ansicht von dem Umstand unterstützt, daß das bei den sui generis 
Leberkrankheiten zutreffende ‚Syndrome d’insuffisance hemocrasique 
du foie“ bloß eine graduelle Abweichung vom Werlhofsyndrom auf- 
weist. 

Dieser französische Standpunkt, obzwar derselbe manche zu be- 
herzigenden Momente in sich birgt, ist gleichfalls nicht genug über- 
zeugend, um einer strengen Kritik standhalten zu können. Unsere Fälle 
von diesem Gesichtspunkte betrachtet, fanden wir bei keinem solche 
Erscheinungen, welche den Verdacht auf eine Leberläsion hinlenken 
möchten. Subikterus ist keine Seltenheit bei den mit Blutungen ein- 
hergehenden Erkrankungen. Derselbe spricht aber gar nicht für eine 
Lebererkrankung, um so weniger, da die der Fxtravasation folgende 
Polycholie, welche wir von der paraxysmalen Hämoglobinurie bis zur 
lobaren Pneumonie in allen mit Hämolyse verlaufenden Erkrankungen 
anzutreffen vermögen, die Ursache der gelblichen Verfärbung der Haut 
darstellen mag. Das ‚verminderte Blutgerinnungsvermögen auf das 
Wegfallen der fibrinogenproduzierenden Funktion der Leber zu be- 
ziehen, wie es Weil und Isch-Wall machen, ist heutzutage bereits ein 








Thrombopenie und essentielle Thrombopenie. | 645 


überholter Standpunkt — andererseits ist aber auch vermindertes Blut- 
gerinnungsvermögen kein beweisendes Zeichen für die Zusammen- 
gehörigkeit, insofern beim Werlhof die Blutgerinnung vollkommen in- 
takt ist. Die Verminderung der Thrombocytenzahl ist wieder bei jeder 
mit Anämie und Splenomegalie einhergehenden Cirrhose, welche ein 
Übergangsstadium der Bantikrankheit darstellt, als Tatsache bekannt. 
Diese Thrombocytenverminderung ist jedoch kein isolierter Befund, 
sondern sie repräsentiert bloß eine Teilerscheinung einer allgemeinen 
Myelotoxikose, vergesellschaftet mit Leuko- und Erythropenie. Bei 
mehreren, dem Morbus Banti nahestehenden Krankheitsformen, welche 
wir diesem Gesichtspunkte nach untersuchten, begegneten wir keinem 
an Werlhof erinnernden Symptom, mit Ausnahme der einzigen 
Thrombopenie. Die Lehre von Emile Weil und Isch-Wall ist eigent- 
lich eine Umschaltung und Weiterbildung der myelotoxischen Theorie 
Franks, nach welcher die essentielle Thrombopenie die erste Stufe 
einer allgemeinen Knochenmarkslähmung resp. der Anaemia aplastica 
vorstellt. 

Im Laufe unserer Serienuntersuchungen, welche wir an Werlhof- 
kranken während der Ruhe- und der hämorrhagischen Periode durch- 
geführt haben, konstatierten wir, daß zwischen der Steigerung oder 
Verminderung der absoluten Zahlen von den einzelnen Zellformen des 
Blutes keine Parallele gezogen werden kann. Die einleitenden kleinen 
Blutungen, dünn zerstreute Petechien, üben kaum einen merklichen 
Einfluß auf die Erythrocytenzahl aus, jedoch rufen sie bereits eine 
beträchtliche Verminderung in der Blutplättchenzahl hervor; sogar eine 
mächtige Purpuraeruption setzt die Erythrocytenzahl nur mäßig herab, 
sie verbraucht aber die Blutplättchen vollständig. In dem den Blutungen 
folgenden anämischen Zustand ist eine beträchtliche Leukocytose (post- 
hämorrhagische L.) oft konstatierbar, was aber bei einem toxisch ge- 
lähmten Knochenmark nicht denkbar ist. Franks Auffassung scheint 
doch durch das Schicksal einer unserer Kranken bestätigt zu sein; 
bei dieser nämlich haben die durch kurzdauernde Intermissionen unter- 
brochenen hämorrhagischen Perioden zu einem aplastischen, anämie- 
artigen Krankheitsbild geführt. Das noch vor 2 Monaten prompte Re- 
generation zeigende Knochenmark wurde abgeschwächt, die post- 
hämorrhagische Leukocytose (bis 30. 000) blieb aus, und die volle Auf- 
besserung schob sich 3—4 Wochen nach vollständiger Sistierung der 
Blutungen aus. Demgegenüber aber haben wir Kranke, bei welchen 
bei einer auf 10—15 Jahre zurückgehenden hämorrhagischen Anamnese 
noch immer ein vollkommen intaktes Knochenmark auffindbar ist. 

ach unseren Erfahrungen schließen wir uns der Ansicht Sternbergs 
an, der die aplastische Anämie auch bei Werlhof für eine Anämie se- 
kundären Ursprungs hält, zwar können wir die wichtige Rolle der Kon- 


646 G. Nagy: 


stitutionsfrage im Bereiche der Blutkörperchenregenerationsfähigkeit 
nicht leugnen. 

Die Schlußfolgerungen unserer hier auseinandergesetzten Prinzipien 
trachten wir in der Therapie auszunützen. Der akute Werlhof, welcher 
von uns für eine infektiös-anaphilaktische Erscheinung gehalten wird, 
beansprucht eigentlich keine spezielle Therapie, insofern die Krankheit 
eine beträchtliche spontane Heilungstendenz besitzt. Dessenungeachtet 
ließen wir in einigen Fällen eine Milzbestrahlung in großen Dosen durch- 
führen, welche nicht selten eine frappante Wirkung zeigt, und durch 
welche die Krankheitsdauer in jedem Falle bedeutend verkürzt wird. 
Den Wirkungsmechanismus suchen wir in der Reizung der Nebennieren. 
Den Angriffspunkt der Behandlung der chronischen Werlhoffälle ver- 
setzen wir auf das Ovarıum. In schwereren Fällen versuchten wir die 
temporäre Kastration mittels Röntgenstrahlen. Hierbei bereitet aber 
die nach der ersten Bestrahlung auftretende Reizfunktion der Ovarien, 
welche mit enormen Blutungen abläuft, besondere Schwierigkeiten. Wir 
machten Versuche auch mit den von Klemperer empfohlenen Thyreoidea- 
tabletten, jedoch mit geringerem Erfolg. Versuche mit Extr. Corporis 
lutei, Lutein, sind im Laufe. Zur momentanen Stillung der Blutungen 
geben wir wiederholte intramusculäre Adrenalininjektionen, mit welchen 
wir auch gewöhnlich zum Ziele kommen. Zur Reserve halten wir die 
Heteroproteintherapie. In Anbetracht der langen Krankheitsdauer und 
der monatelang anhaltenden spontanen Remissionen hüten wir uns, 
über die Heilerfolge ein endgültiges Urteil zu bilden. 


Schlußfolgerungen. 


Akuter und chronischer Werlhof sind nicht verschiedene Verlaufs- 
formen einer Erkrankung gemeinsamer Ätiologie, sondern im Gegenteil 
— sie stellen ähnliche Manifestationen zweier verschiedener Krank- 
heiten dar. — Der akute Werlhof ist eine infektiös-anafilaktische Er- 
scheinung (Scarlatina aequivalent im Sinne Sonntaghs, Eosinophilie), 
welche durch verschiedenste, voneinander weitstehende Krankheiten, 
Traumen, hervorgerufen werden kann (Pockenimpfung,. Salvarsan, 
Erythaema nodosum, Tuberkulose, Lues, Schußverletzung usw.) und 
prädominiert bei Männern (Purpura simplex der früheren Autoren). — 
Der chronische, eine nosologische und klinische Einheit bildende Werl- 
hof ist dagegen eine konstitutionelle, innersekretorische Anomalie, wo- 
bei die Dysfunktion der Ovarien eine dominierende Rolle spielt; sie ist 
fast ausnahmslos eine Erkrankung des weiblichen Geschlechts. Um- 
gekehrt gehören alle mit der Ovarienfunktion zusammenhängenden 
Werlhofattacken in diese Gruppe und sind von rezitivierender Natur. 

Die die beiden Krankheitsbilder verbindende Thrombopenie ist 
nicht primär, nicht essentiell, sondern sekundär. Die Thrombocyten 





Thrombopenie und essentielle Thrombopenie. 647 


gehen gemäß ihrer physiologischen Rolle in dem destruierten Capillar- 
netz zugrunde. . 

Im Falle eines positiven E. S. kann in dem aus der Vene des ab- 
gebundenen Armes in mehreren Partien entnommenem Blute die stufen- 
weise Verminderung der Thrombocyten nachgewiesen werden, so wie 
dieselbe in den neuentstandenen Petechien sukzessiv vernichtet worden 
sind. Die Thrompopenie ist also nicht die Ursache, sondern die Folge der 
Blutungen. 
ee Benennung ‚‚essentielle Thrombopenie‘“ ist also falsch, gerade 
so, wie die Benennung ‚‚thrombolytische Purpura‘“ falsch ist, indem eine 
jede Purpura zu Thrombocytenzerstörung, also zu Thrombolyse, führt. 
Je ausgedehnter die Capillarblutung, je länger sie dauert und je arm- 
seliger die Knochenmarksregeneration ist, desto ausgesprochener ist 
die Thrombopenie. Die hochgradige Thrombopenie verschlimmert dann 
die hämorrhagische Neigung, indem sie die Lokalisation der Blutungen 
verhindert und theoretisch ‚‚die Blutung sich in das Endlose zieht“. 

Zwischen Werlhof und der aplastischen Anämie besteht derselbe . 
Zusammenhang wie zwischen jedem langwierigen hämorrhagischen Zu- 
stand und der aplastischen Anämie. Der Zusammenhang ist also nicht 
spezifisch. 

Der akute Werlhof heilt spontan oder auf eine starke Milzbestrahlung. 
Bei dem chronischen ovariogenen Werlhof bildet das Ovarium den An- 
griffspunkt der Therapie. Während der Gravidität besteht kein Werl- 
hof, weil das Ovarium schlummert. Unser Ziel in der Therapie ist, 
diesen Zustand zu erreichen. Versuche mit Corpus iuteum und mit 
' temporärer Röntgenkastration sind im Gange. 





Zur Funktionsprüfung des vegetativen Nervensystems. 


Bemerkungen zum gleichnamigen Artikel von H. Hornig, Zeitschr. f. klin. 
Med. Bd. 98, S. 22. 


Von 


Privat-Dozent Dr. Karl Csepai. 
(Eingegangen am 15. Mai 1924.) 


Die von Hornig benutzte und angegebene Methodik weicht in 
mehreren Punkten von der von mir angegebenen Methodik ab und ist ge- 
eignet, die Brauchbarkeit meiner Probe zur Bestimmung der wirklichen 
Adrenalinempfindlichkeit des Organismus wesentlich zu beeinflussen. 
Aus diesem Grunde fühle ich mich veranlaßt, auf einige Fehlerquellen 
der Hornigschen Methodik hinzuweisen. 

1. Die Anwendung des Blutdruckmessers von Riva- Roccı anstatt 
des von mir benutzten Recklinghausenschen Tonometers ist nicht statt- 
haft, da die Blutdruckschwankungen, welche bei der Ausführung meiner 
Probe — bei richtiger Dosierung — in Betracht kommen, so schnell 
abklingen können, daß deren genaue Feststellung durch den Hg-Mano- 
meter sehr oft unmöglich ist. Die Blutdruckwerte (nur die maximalen 
Werte) müssen in den beiden ersten Minuten des Versuches in Ab- 
ständen von 15 Sekunden gemessen werden. Das Maximum der Blut- 
drucksteigerung wird nicht 2 Minuten nach der Adrenalininjektion er- 
reicht, wie dies Hornig behauptet, sondern in der 45.—60. Sekunde. 

2. Die Benutzung der Menge von 0,05 mg Adrenalin als Anfangs- 
dosis bei der Ausführung der Probe halte ich für zu hoch. Wenn man 
bedenkt, daß die Blutdrucksteigerung ungefähr in geradem Verhältnis 
zur angewandten Adrenalinmenge steht, weiterhin, daß ich nach der 
Injektion von 0,01 mg Adrenalin sehr oft Blutdruckerhöhung von 
50—60 cm H,O beobachtet habe (z. B. bei Basedow, Hyperthyreosen, 
Hypertonie usw.), so ist es leicht, einzusehen, daß die fünffache Menge 
derart hohe Blutdrucksteigerungen erzeugen kann, die nicht nur un- 
feststellbar, sondern auch für den Patienten durchaus nicht ungefährlich 
sind. 

3. Trotz der hohen Dosierung hat Hornig kein einziges Mal eine 
excessive Blutdrucksteigerung gefunden. Die Ursache besteht darin, 
daß er nicht frisch aus der Adrenalin- Phiole 1: 1000 zubereitete 

















K. Csepai: Zur Funktionsprüfung des vegetativen N ervensystems.. 649 


1 : 10 000-Lösung unmittelbar vor der Anstellung der Probe benutzte, 
dessen unbedingte Notwendigkeit ich an mehreren Stellen betonte, son- 
dern eine durch lange Zeit gestandene Lösung von 1 : 20 000, die zum 
größten Teile zersetzt war. Nur so ist zu verstehen, daß Hornig nach 
0,05 mg Adrenalin keine größeren Blutdrucksteigerungen feststellen 
konnte, wie ich und andere .(Plaiz, Hetenyi und Sümegi, Knaus) nach 
0,01 mg. 

4. Wegen den erwähnten Umständen sind natürlich die von Hornig 
angegebenen Daten für mäßig und stark erhöhte Adrenalinempfindlich- 
keit unrichtig. Ich verweise da auf meine früheren Arbeiten!), wo ich 
die richtigen Werte für die normale, erhöhte und abgestufte Adrenalin- 
empfindlichkeit angab. 


!) Dtsch. med. Wochenschr. 1921, Nr. 33; Dtsch. med. Wochenschr. 1923, 
Nr. 12; Wien. Arch. f. inn. Med. 6. 1923; Klin. Wochenschr. 1923, Nr. 47. 


Besprechungen. 


Abderhalden, Handbuch der biologischen Arbeitsmethoden. Abt. V, 
Methoden zum Studium der Funktion der einzelnen Organe des tie- 
rischen Organismus. Teil 7. Heft 3. Lieferung 105. Urban und 
Schwarzenberg, Berlin-Wien. aM 

Der erste und umfangreichste Abschnitt bringt eine ausführliche Beschreibung 
der Methoden zur Erforschung des Kehlkopfes, sowie der Stimme und Sprache 
aus der Feder des zu früh verstorbenen J. Katzenstein. Die Untersuchung mit 
dem Spiegel, sowie die Stroboskopie und die Technik der Röntgenaufnahmen wer- 
den geschildert. Der folgende Abschnitt über die Erforschung der Zentralorgane 
des Stimmorganes bringt viel Gedanken aus dem eigenen Forschungsgebiete des 

Verfassers. Er fand beim Hunde die Lautgebungsstelle mit der Rindenatmungs- 

stelle im Gyrus centralis verkuppelt, und im Kleinhirn entdeckte er ein Zentrum 

für die Bewegung des Kehlkopfes im Gebiete des Lobulus centralis. — Bemerkens- 
wert sind ferner die Untersuchungen mit dem Atemvolumenmesser nach du Bois- 

Reymond und Katzenstein. Sie ergaben, daß der Luftverbrauch beim Sprechen 

und Singen geringer ist, als bei ruhiger Atmung. — Mit Hilfe von zahllosen Vor- 

richtungen haben die verschiedensten Autoren versucht die Sprachbewegung des 

Unterkiefers, des Mundbodens, des Gaumensegels, der Lippen, der Zunge usw. 

festzustellen. Ebenso zahlreich sind die Versuche, die sog. Resonanz des Ansatz- 

rohres und seiner Teile zu beobachten und die einzelnen Laute klanganalytisch 
zu bearbeiten. Maßgebend sind hier die Untersuchungen von Stumpf. Die Technik 
der phonographischen Methoden wird von Hornbostel in einem besonderen Ab- 
schnitt geschildert. Er beschreibt die notwendigen Apparate und gibt ausführliche 

Anweisungen für das Aufnahmeverfahren, das Wiedergabeverfahren und für die 

Technik der galvanoplastischen Vervielfältigung. — Der folgende Teil über die 

Untersuchung des Geschmacks- und des Geruchsinnes stammt aus der Feder von 

Zwaardemaker. Man teilt die Geschmackstoffe ein in bittere, süße, saure und salzige. 

Die ‚„Saporiemetrie‘“ stellt zunächst das Minimum perceptibile eines Schmack- 

stoffes fest, hierbei muß die „Reizschwelle‘ von der „Erkennungsschwelle‘““ unter- 

schieden werden. Die regionäre und integrale Gustometrie erforscht den Geschmack- 
sinn in einer bestimmten Zone der Geschmackschleimhaut und im ganzen Organ. 

Die Einteilung der Riechstoffe stößt noch immer auf große Schwierigkeiten. 

Zwaardemaker unterscheidet 9 Klassen: den ätherischen, den aromatischen, den 

balsamischen, den Amber-Moschus-, den Allyl-Kakodyl-, den brenzligen, den 

Kapryl-, den widerlichen und den erbrechenerregenden oder ekelhaften Geruch. 

Die Wirksamkeit eines Riechstoffes hängt im wesentlichen ab von seiner Flüchtig- 

keit, seiner Diffusionsgeschwindigkeit und von anderen physikalischen Faktoren. 

Störend bei den Untersuchungen ist die meist hochgradige Adsorption der Riech- 

stoffe an Gegenständen und Wänden. Um sie möglichst auszuschalten, sind eine 

ganze Reihe von Maßregeln erforderlich. Das beste Mittel, den Adsorptionsgeruch 
zu beseitigen, sind die ultravioletten Strahlen. Bei der Odorimetrie stellt man das 

Minimum perceptibile fest (Olfactie Zwaademaker). Zur Messung wird dabei 

ein sog. Riechkasten benutzt, in dem kleine Mengen des Riechstoffes verflüchtigt 

sind. Mit feineren Apparaten kann man das vielfache von Olfactien finden, das 
in einem gegebenen Luftraum anwesend ist, und eine Anzahl von Riechstärken 
untereinander vergleichen. 

Der Absatz über die Untersuchung der Hautsinne ist von Basler. Er schildert 
die Methoden zur Untersuchung der Tastpunkte, ihrer Aufsuchung, sowie die 

Wirkung der großflächigen Reize, das Zustandekommen des sog. Vibrations- 








Besprechungen. 651 


gefühls, ferner die Vorrichtungen zum Studium des Raumsinnes und der Bewegungs- 
empfindung der Haut. Apparate, mit denen man die beim Tasten angewendete 
Geschwindigkeit der Fingerbewegung und den Druck, unter dem getastet wird, 
beobachten kann, werden beschrieben. — Die Verfahren zur Untersuchung der 
Temperaturempfindung gehen aus von der sog. „Indifferenztemperatur‘‘, sie liegt 
bei derjenigen Temperatur, bei der die Haut die gleiche Wärmemenge an die Sub- 
stanz abgibt, wie sie vom Körperinnern durch die Vermittlung der Blutgefäße 
erhält. Wie der Tastsinn so ist auch die Empfindung der Temperatur an bestimmte 
Sinnespunkte gebunden, es gibt besondere Kältepunkte und besondere Wärme- 
punkte. Man kann sie reizen durch direkte Berührung, ohne Berührung und 
durch den elektrischen Strom. — Im letzten Abschnitt des vorliegenden Heftes 
bespricht Karl L. Schaefer die Untersuchungsmethodik der Schallübertragung aus 
der Luft auf das innere Ohr: Verhältnismäßig einfach sind die Versuche über die 
Schalleitung der Ohrmuschel und des äußeren Gehörgangs. Schwieriger zu beobach- 
ten sind dagegen die Reflexion der Schallwellen am Trommelfell und die akustischen 
Schwingungsbewegungen des Trommelfells. Der Lösung am nächsten kamen hier- 
für die am Lebenden gewonnenen Köhler schen Schallkurven. Mittels geistreicher 
Verfahren gelang es auch die Trommelfellbewegungen, und zwar die durch den 
Spannmuskel ausgelösten wie die durch Luftdruckschwankungen innerhalb der 
Paukenhöhle entstandenen, photomanometrisch zu registrieren. — Das Heft ist 
mit vielen guten Abbildungen versehen und bringt in knapper Form eine außer- 
ordentlich gute Übersicht über die vielseitigen Untersuchungsmethoden. Der 
Hauptvorzug der Darstellung ist darin zu suchen, daß diese Verfahren allgemein- 
verständlich dargestellt sind, so daß auch der nichtphysiologisch geschulte Leser 
dem Gang der Untersuchungen folgen kann. Güttich, Berlin. 


Handbuch der biologischen Arbeitsmethoden. Abt. IV. Angewandte 
chemische und physikalische Methoden. Teil 3. Heft 3. Urban 
und Schwarzenberg, Berlin-Wien. 


Blutuntersuchungen. J. Feigl$ und W. Weise Hamburg beschreiben die 
Methoden zum Nachweis und zur Bestimmung der anorganischen Stoffe von Blut 
und Serum; E. Letsche Darmstadt beschreibt die Aufarbeitung des Blutes zur 
Gewinnung und Bestimmung seiner organischen Einzelbestandteile und W. Weise 
Hamburg die colorimetrische Bestimmung von Phosphorsäure. 

Es wird kein Gesamtaschenanalysengang beschrieben, sondern es werden 
Methoden für die einzelnen Elemente bzw. Fraktionen gegeben. Zuerst sind stets 
altbewährte, sichergestellte Verfahren beschrieben, dann folgen die praktischen 


Zwecken und den Erfordernissen von Reihenuntersuchungen angepaßten Mikro- 


und Schnellmethoden. Gudzent. 


Pfaundler und Scehlossmann. Handbuch der Kinderheilkunde. F. C. W. 
Vogel, Leipzig. 1923. 


Von diesem groß angelegten Handbuch ist Bd. I und Il in 3. Auflage erschienen. 
Die Herausgeber hatten den guten Gedanken gehabt, jedes Kapitel neu zu verteilen, 
so daß das Buch eigentlich als vollkommen neues Werk gelten kann. Der I. Bd. 
umschließt einen allgemeinen Teil, die Physiologie der Ernährung, des Stoffwechsels. 
spezielle Pathologie bestimmter Altersstufen, Krankheitsbereitschaft und All- 
gemeinerkrankungen, Pathologie der endokrinen Organe und als Anhang die 
multiplen körperlichen Entartungen. Der II. Bd. die Infektionskrankheiten. 

Über den Wert des Buches ist das Urteil so allgemein günstig gewesen, daß 
es nur wiederholt werden kann. Die Neubearbeitung hat für Auffrischung jedes 
einzelnen Kapitels sehr glücklich gesorgt; besondere Empfehlung verdient die 


Z. f. klin. Medizin. Bd. 100, 42 


652 Besprechungen. 


ganz vortreffliche Ausstattung mit einfarbigen und namentlich auch mit bunten 

Abbildungen, die für Studierende und Lehrzwecke hervorragend geeignet sind. 
Es ist zu hoffen, daß die beiden noch fehlenden Bände bald erscheinen 

werden. His. 


W. Neumann. Die Klinik der beginnenden Tuberkulose Erwachsener. 
I. Teil: Der Gang der Untersuchung. Mit 26 Abb. Wien-Leipzig- 
München. (158 8.) 1923. Goldmark 4.—/Dollar 0,95. 


Von diesem Buch ist der 1. Teil erschienen, der den Gang der Untersuchungen 
bespricht. Dabei kommt der Zögling der Wiener semiotischen Schule zur Geltung, 
der sehr eingehend und anziehend die eigentlich klinische Untersuchung, jedes 
einzelne ihrer Symptome, Anamnese, Familiengeschichte bespricht und mit Bei- 
spielen belegt. Es wäre eigentlich sehr interessant, wenn jemand, der diese ein- 
gehende Untersuchung mit älteren physikalischen Methoden beherrscht, einmal 
zusammenstellen wollte, wie sich die so gewordenen Ergebnisse mit denen der 
neueren Methoden der spezifischen und der Röntgenuntersuchungen decken; 
vielleicht findet der Verf. in einer späteren Arbeit Gelegenheit, solche Mitteilungen 
zu geben. Heutzutage besteht auf der einen Seite eine hohe Wertung, vielleicht 
Überwertung, diffiziler physikalischer Ergebnisse, auf der anderen Seite eine Ver- 
nachlässigung derselben und eine nicht minder bedenkliche Überschätzung der 
modernen Methoden. Ein Vergleich zwischen beiden würde sehr lehrreich wirken. 

His. 


v. Domarus. Grundriß der inneren Medizin. Mit 58 Abb. Springer, 
Berlin. 1923. (653 S.) Geb. Goldmark 12.50/geb. Dollar 3.—. 
Verf. hat versucht, auf den Raum von 640 Seiten die gesamte innere Medizin 
mit Einschluß der Nervenkrankheiten zusammenzufassen. Sieht man das Buch 
durch, so kann man gestehen, daß er seine Aufgabe mit Geschick gelöst hat. Es 
fehlt nichts Wesentliches, die gangbaren Kenntnisse und Meinungen sind klar 
und übersichtlich mitgeteilt, schematische Bilder eingestreut, wenngleich gerade 
für den Studierenden, für den das Buch doch in erster Linie bestimmt ist, ein etwas 
reichlicheres Bildermaterial wohl erwünscht wäre. Wenn es dem Buch gelingt, 
die kleinen Kompendien, aus denen der Student zu pauken beliebt, zu ersetzen, 
so ist dies sicher ein Gewinn. His. 


Marle. Einführung in die klinische Medizin. Urban und Schwarzen- 
berg, Berlin-Wien. 1924. 

Der Verf. stellt sich die Aufgabe, den Studierenden, der in die ihm noch fremde 
Welt der Klinik eintritt, mit den wichtigsten Tatsachen und Begriffen vertraut 
zu machen, und denkt sich, daß der Studierende unmittelbar nach der ärztlichen 
Vorprüfung das Buch durchlesen soll. Ich zweifle, ob das ein Student fertigbringen 
wird. Diese Fülle von Tatsachen und Namen ist nur faßbar, wenn sie mit geordneten 
Begriffen und zusammenhängenden Vorstellungen verknüpft werden kann. Solche 
zu geben, ist die Aufgabe einer propädeutischen Klinik oder klinischen Propädeutik. 
Nicht Gedächtnismaterial soll der Studierende aufnehmen, sondern gut gegründete 
Vorstellungen und klinisches Denken. Wenn ich somit den Zweck des Buches 
nicht anerkennen kann, so möchte ich seinen Wert als Nachschlagewerk hervor- 
heben, indem es nicht nur sehr vollständig alle Termini technici, sondern auch reich- 
lich Abbildungen bringt, die zwar oftmals etwas sehr primitiv sind und insofern 
die Natur keineswegs ersetzen können, aber immerhin als Erinnerungszeichen 
gelten können. Der 1. Bd., der bisher erschienen ist, umfaßt allgemeine Patho- 
logie, klinische Mikrobiologie und Immunitätslehre, allgemeine Untersuchungs- 
methodik, Diagnostik und allgemeine Therapie. His. 





Besprechungen. 653 


Knud Faber, Die Krankheiten des Magens und Darmes. Aus dem 
Dänischen übersetzt von Prof. Dr. H. Scholz, Königsberg i. Pr. 
Mit 70 Abb. Berlin: Julius Springer 1924. (Fachbücher für Ärzte. 
8. Bd.) (2898.) Geb. Goldmark 15.—/geb. Dollar 3.60. 


Hier liegt wieder ein Buch vor, wie wir es für alle Teilgebiete des Faches 
wünschen möchten. Von einem Meister geschrieben, mit Vermeidung überflüssigen 
theoretischen Ballasts auf dem Boden der anerkannten Anatomie und Physiologie 
‘ aufgebaut, die klinische Beobachtung in den Vordergrund gestellt, die Krankheits- 
bilder anschaulich geschildert, die Therapie eingehend und auf Grund solidester 
Erfahrung entwickelt. Das Buch ist für Studierende und Ärzte bestimmt, wird 
aber auch dem gelehrtesten Fachmann Freude bereiten. His. 


von Domarus. Taschenbuch der klinisehen Hämatologie. 176 S. Dritte 
verbesserte Auflage. G. Thieme, Leipzig. 1923. 1 Farbtafel. 


Die neue Auflage des kleinen Taschenbuches bringt wieder. Erweiterungen. 
Vorzüge des Buches sind übersichtliche Anordnung und sehr leicht faßliche, für 
praktische Arbeit wohl oft schon zu kurze Darstellung. Hoffentlich kann der 
Verf. bei einer weiteren Auflage seine im Vorwort geäußerte Absicht einer Erneue- 
rung der Farbtafel durchführen, da sie der im Buche beschriebenen modernen 
Bluttechnik nicht mehr entspricht. V. Schilling, Berlin. 


E. Abderhalden. Blutuntersuchungen. Handbuch der biologischen Ar- 
beitsmethoden. Abt. IV, Teil 3, Heft 2. Urban und Schwarzenberg, 
Berlin -Wien. 


Man findet eine sehr ungleichartige Sammlung von Abhandlungen über 
kleinere Teilgebiete, die trotz der originalen Abfassung einiger dieser Arbeiten 
durch die bewährten Vertreter oder Urheber der beschriebenen Methoden nicht 
den Eindruck eines erschöpfenden Handbuches insgesamt erwecken. Im Ver- 
hältnis z. B. zur Suspensionsstabilität und zu den Blutplättchen ist die Mikro- 
skopie des Blutes sehr zu kurz gekommen. Die vorliegende 106. Lieferung enthält 
Resistenzbestimmung der Roten (H.J. Hamburger), Refraktometrie (E. Reiss), 
Colorimetrie u. a. (Kleimann), Suspensionsstabilität (Fahraeus), Blutplätichen- 
technik (Degkwitz), Mikroskopie (Schlecht), Hämatopoetische Organe (E. Frank und 
Seeliger). V. Schilling, Berlin. 


0. Naegeli. Blutkrankheiten und Blutdiagnostik. Lehrbuch der klini- 
schen Hämatologie. 4., vermehrte und verbesserte Auflage. Mit 
37 Abb. im Text und 25 farb. Tafeln. Julius Springer, Berlin. 1923. 
(596 S.) Geb. Goldmark 31.—/geb. Dollar 7.45. 


Die 4. Auflage des Naegeli hat durch Verdienst des neuen Verlages in ihrer 
äußeren Ausstattung die Not des Krieges abgestreift. Auch der Text zeigt an vielen 
Stellen Umarbeitungen und Ergänzungen. Leider muß aber bemerkt werden, daß 
manche Kapitel, besonders die Morphologie der Erythrocyten, der Monocyten, die 
Kernverschiebungslehre, die wirklich praktische Auswertung der Blutbefunde u. a. 
nicht mehr die Vollständigkeit und Objektivität der übrigen Abschnitte erreichen. 
Bei der mit Recht autoritativen Bedeutung des einzig dastehenden Werkes für 
viele Jünger der Blutlehre pflanzen sich solche kleineren Mängel sogleich in zahl- 
reiche wissenschaftliche Arbeiten fort. Sicher findet der Verfasser in weiteren 
Auflagen Gelegenheit, auch hier den hohen Standard des Gesamtwerkes herzu- 
stellen. V. Schilling, Berlin. 

42* 


654 Besprechungen. 


Schilling, Das Blutbild und seine klinische Verwertung. Fischer, Jena. 


Das Schillingsche Buch erscheint in 3. und 4. Auflage als Beweis dafür, 
welchen lebhaften Anklang die früheren Auflagen gefunden haben. Wer sich mit 
der Methodik beschäftigt, wird bald innewerden, welche außerordentlich feine 
Reagenzien auf die verschiedensten Zustände im Knochenmark gegeben sind, und 
wie groß der diagnostische und prognostische Wert des Blutbildes bei den ver. 
schiedensten Krankheiten ist. Es ist deshalb sehr zu begrüßen, daß der Verf. 
das Werk durch ein sehr interessantes Kapitel mit Beispielen praktischer Hämo- 
gsrammverwertung bereichert hat. Gerade aus diesem Kapitel erhellt die diagno- 
stische Bedeutung des Hämogramms am eindringlichsten. His. 


W. Trendelenburg, Tübingen. Methodik der Physiologie des Zentral- 
nervensystems von Wirbeltieren. Handb. d. Biol. Arbeitsmethoden. 
Herausgegeben von F. Abderhalden, Abt. V, Teil 5B. Heft 2, 
S. 93—372. Urban und Schwarzenberg, Berlin -Wien. 


Gerade auf dem Gebiet der Physiologie des Zentralnervensystems ist der Fort- 
schritt an die Verfeinerung der Methodik geknüpft. Mit welchen Schwierigkeiten 
man zu kämpfen hat, wenn man die Leistungen bestimmter Zentralteile in vollem 
Umfang experimentell ergründen ‚will, weiß nur der, der lange Zeit sich mit der- 
artigen Fragestellungen abgemüht hat. T'rendelenburg ist nicht nur ein genauer 
Kenner auf diesem Gebiete, er hat selbst viele neue Methoden geschaffen, die von 
grundlegender Bedeutung für die Hirnphysiologie geworden sind. Nach einigen 
anatomischen Vorbemerkungen beschreibt er zunächst die allgemeine Methodik 
der Physiologie des Zentralnervensystems. Die Wahl der Tierart, die Vorbereitung 
der Tiere, die Narkose und künstliche Atmung, Assistenz, mechanische Tierhalter, 
Asepsis, optische Hilfsmittel, Instrumente, allgemeine Operationsregeln, die Me- 
thoden der Leistungsprüfung, Tötung, Sektion, mikroskopische Untersuchung 
und schließlich die künstliche Durchspülung des Zentralnervensystems werden 
nacheinander abgehandelt. Dann folgen sehr ausführlich die speziellen Methoden 
der Ausschaltung und der Reizung von Zentralteilen bei den verschiedenen Tier- 
arten. Die Methoden der Untersuchung des Kreislaufs, der Cerebrospinalflüssig- 
keit und des Stoffwechsels des Gehirns sowie endlich ein Ausblick auf die weitere 
Entwicklung der Methodik beschließen dies inhaltreiche Buch. Gerade weil noch 
weite Arbeitsgebiete vorliegen, deren Ergründung der Zukunft überlassen werden 
muß, ist zu wünschen, daß möglichst viele sich die Anregungen des Verfassers 
zunutze machen. Die genaueste Befolgung der so zahlreichen, aus persönlichen 
Erfahrungen gewonnenen methodischen Feinheiten wird spätere Untersucher vor 
vielen Enttäuschungen bewahren. Dresel (Berlin). 





Th. Sabalitschka, Berlin. Anleitung zum chemischen Nachweis der 
Gifte für Pharmazeuten, Chemiker und Mediziner. Berlin u. Wien, 
Urban u. Schwarzenberg. 1923. 123 Seiten mit 7 Abbildungen. 
Grundpreis 4.50 Mk. 


Eine aus der Praxis hervorgegangene kurze Anleitung, wohl hauptsächlich 
für den Apotheker gemacht. Einfach und klar geschrieben und sogar berück- 
sichtigend, daß man „keine Teile des Siegels in das Untersuchungsmaterial bringen 
darf“. Auf 8.77 soll das Glasrohr im Zerstörungskolben als Kühlrohr für etwa 
entstehendes AsCl, wirken. In der Chloratmosphäre wird aber alles As,O, zu der 
nichtflüchtigen Arsensäure oxydiert. Brahn. 











(Aus der I. Inneren Abteilung des städtischen Krankenhauses Berlin-Westend.) 


Zur Diagnose und Prognose der Glycosuria innocens. 


Von 
Prof. Dr. F. Umber und Priv.-Doz. Dr. Max Rosenberg. 


(Eingegangen am 10. Juni 1924.) 


Von der Krankheitsgruppe des echten Diabetes mellitus haben 
Lepine (1895) und @. Klemperer (1896) eine Reihe von Fällen abgezweigt, 
die trotz bestehender Glykosurie hauptsächlich durch einen normalen 
oder gar subnormalen Blutzucker auffielen. In der Annahme, daß es 
sich hier lediglich um eine abnorme Zuckerdurchlässigkeit der Nieren 
handle, wurden diese Fälle unter dem Begriff des renalen Diabetes 
zusammengefaßt, den @. Klemperer jüngst zugunsten des Namens 
„nephrogene Glykosurie‘“ fallen gelassen hat, da das Fehlen jeder für den 
Diabetes charakteristischen Stoffwechselstörung außer der Glykosurie 
die Bezeichnung ‚Diabetes‘ für Arzt und Kranken irreführend sei. 
Diese Gruppe ist dann erweitert und umbenannt worden von Salomon 
(1914), der die Gutartigkeit des klinischen Verlaufs in diesen und 
ähnlichen Fällen als Hauptcharakteristikum betonen wollte und deshalb 
die Bezeichnung ‚‚Diabetes innocens‘‘ vorschlug, die von Rosenfeld (1916) 
in die philologisch korrektere ‚Diabetes inocuus‘‘ umgewandelt wurde. 
Wir selbst ziehen, da es sich in diesen Fällen weder um einen Diabetes 
handelt, noch unseres Erachtens in den Nieren die Ursache, oder 
wenigstens die primäre und wesentliche Ursache, der Zuckerausscheidung 
zu suchen ist (s. u.), die Bezeichnung ‚„Glycosuria innocens‘“ oder 
„harmlose Glykosurie‘‘ vor. 

Als Kennzeichen der echten Glycosuria innocens wurden ursprünglich 
angenommen: 1. normaler oder subnormaler Blutzucker; 2. dauernd 
bestehende Glykosurie von wenigen Gramm, die in ihrer Stärke weit- 
gehend unabhängig ist von dem Kohlenhydratgehalt der Nahrung; 
3. Fehlen aller diabetischen Beschwerden; 4. nach Zuckerbelastung 
eine geringe und kurzdauernde Hyperglykämie, wie sie sich beim Stoff- 
wechselgesunden findet, aber im Gegensatz zu diesem dabei eine 
Glykosurie; 5. häufig familiäres und hereditäres Auftreten der Er- 
krankung (Bönninger, Salomon, Brugsch und Dresel). Diesem für die 
Diagnose der Glycosuria innocens erforderlichen Symptomenkomplex 
entsprechen nun nicht manche derjenigen Fälle, die Salomon (Dtsch. 
med. Wochenschr. 5. 1914) als Diabetes innocens zusammenfaßt, und 

Z. f. klin. Medizin. Bd. 100. 43 


656 F. Umber und M. Rosenberg: 


die nach 5jähriger Nachuntersuchung keinerlei Progredienz zeigten 
(Wien. klin. Wochenschr. 1919, Nr. 35). Es finden sich darunter solche, 
die einen erhöhten Blutzucker aufweisen, die eine die normale alimentäre 
Blutzuckererhöhung erheblich übersteigende Hyperglykämie nach 
Zuckerbelastung zeigen, bei denen die Glykosurie vorübergehend fehlt 
und eine Toleranzgrenze vorhanden ist, die transitorisch oder inter- 
mittierend Zucker ausscheiden, und die schließlich bis zu 3%, oder 40 g 
Zucker verlieren. Für viele dieser Fälle kann daher die Erklärung, die 
für die Pathogenese des „renalen Diabetes‘ vorausgesetzt wird, nicht 
mehr zutreffen, das sie einigende Band ist vielmehr die Gutartigkeit 
ihres Verlaufs, der keinerlei Progredienz zeigt, und die Diagnose und 
Prognose stützt sich bei der einmaligen Untersuchung im wesentlichen 
darauf, daß die übrigen Kennzeichen der Glycosuria innocens stets 
nachweisbar sind, wenn auch in dem einen Falle das eine, in dem 
andern das andere fehlt. Wenn man den Begriff der Glycosuria innocens 
in dem weiteren Sinne von Salomon faßt, wird natürlich die Differential- 
diagnose gegenüber dem echten Diabetes erheblich erschwert, da auch 
bei diesem unter Umständen normaler oder nur wenig erhöhter Nüchtern- 
blutzucker gefunden oder durch diätetische Maßnahmen erzielt werden 
kann, da auch er in leichten Fällen, wie wenigstens Niemeyer (Zeitschr. 
f. klin. Med. 1924, Nr. 98) neuerdings behauptet, einen normalen Verlauf 
der alimentären Hyperglykämiekurve aufweisen kann, während diese 
Untersuchungsmethode häufig bei der Glycosuria innocens, wie wir später 
entgegen unserer früheren Ansicht zeigen werden, durchaus nicht immer 
die eindeutigen Resultate gibt, die theoretisch postuliert werden. Auch 
der leichte Diabetes kann ferner eine ganz geringe Glykosurie aufweisen — 
ja diese kann beim latenten Diabetes ganz fehlen —, diabetische Be- 
schwerden sind zuweilen beim leichten Altersdiabetes auch nicht vor- 
handen, und das familiäre Auftreten der Erkrankung schließlich wird 
ja doch beim echten Diabetes ebenso häufig, und vielleicht noch häufiger 
beobachtet als bei der harmlosen Glykosurie. 

Es gibt natürlich Fälle, und sie sind nach unseren Erfahrungen in der 
großen Mehrzahl, deren Zuweisung in die eine oder andere Gruppe bei 
klinischer analytischer Prüfung der Stoffwechselverhältnisse kaum 
Schwierigkeiten bereiten. Unser eigenes Material von Glycosuria 
innocens aus den letzten 10 Jahren umfaßt 35 Fälle, die zum großen 
Teil in längeren Abständen wiederholt klinisch untersucht wurden, 
einzelne sind dem einen von uns schon seit erheblich längerer Zeit (bis 
zu 20 Jahren) aus früheren Beobachtungen her bekannt. Unter diesen 
befinden sich 29, die nach abgeschlossener klinischer Untersuchung 
ohne jeden Zweifel nach ihrer derzeitigen Stoffwechsellage als Glycosuria 
innocens bezeichnet werden mußten, während 6 weitere mancherlei 
Abweichungen von dem üblichen klinischen Bilde zeigten. 








Zur Diagnose und Prognose der Glycosuria innocens. 657 


Zunächst seien einige besonders charakteristische Fälle der ersten 
Gruppe herausgegriffen. 


Den Typus der vollkommen harmlosen, klassischen familiären Glycosuria 
innocens zeigt die folgende Beobachtung: Familie Bra. Am 18. XI. 1915 wurde 
uns ein lljähriger Schüler 1. Albert Bra. unter dem Verdacht eines Coma diabeti- 
cum eingeliefert. Bei seinem Vater (s. unten) war seit dem 18. Lebensjahr eine Gly- 
kosurie festgestellt worden, er selbst war immer etwas schwächlich und nervös 
gewesen, hatte Masern, Keuchhusten und Scharlach durchgemacht. Am 16.X. 
1915 hatte er ein Fischgericht gegessen, danach am 17. X. Übelkeit, am 18. X. Er- 
brechen, Leibschmerzen und übelriechenden Stuhlgang gehabt. Die dyspeptischen 
Beschwerden gingen auf entsprechende Diät im Verlauf einer Woche zurück, 
doch litt Pat. seitdem viel an Kopfschmerzen, zuweilen auch an Erbrechen. In 
der Schule, die er am 9. XI. 1915 vorübergehend besuchte, konnte er nicht auf- 
passen, weil er großen Durst hatte. Eine auf diese Angabe hin zum ersten Male 
ausgeführte Urinuntersuchung auf Zucker ergab 0,3%, Saccharum, kein Aceton. 
In den folgenden Tagen bestand bei gemischter Kost eine Glykosurie zwischen 0,8 
und 1,0% = 9,4—15,0 g, an einem KH-freien Tage von 0,3%, = 5,8 g, nie Aceton 
oder Acetessigsäure. Am Aufnahmetage trat eine plötzliche Verschlimmerung 
des Befindens ein, Pat. erbrach dauernd, zeigte eine große Hinfälligkeit, große 
Atmung, kleinen stark beschleunigten Puls (160) und einen deutlichen Aceton- 
geruch der Atemluft. Die Untersuchung im Krankenhaus bestätigte die vom Haus- 
arzt geschilderten Symptome und ergab außerdem einen dauernd stark eingezogenen 
Leib, angedeutete große Atmung, völlig freies Sensorium, Fehlen von Nackenstarre 
und Kernig sowie sonstiger Erscheinungen von seiten des Zentralnervensystems, 
im Urin am Aufnahmetage Nylander-Spur, aber keine Rechtsdrehung, Aceton 
und Acetessigsäure einfach +. Blutzucker 0,0859, (!). 19. 11. Zeitweise Erbrechen, 
sonst außer leichten Kopfschmerzen keine Beschwerden, Fieber zwischen 37,5 
und 38,7°. Die Lumbalpunktion ergab einen sehr niedrigen Druck und einen durch 
frische Blutbeimengungen geröteten Liquor. In der folgenden Nacht sehr kleiner 
bis zu 200 Schlägen beschleunigter Puls, starke motorische Unruhe mit zuweilen 
an Chorea erinnernden ausfahrenden Bewegungen. An diesem Tag war der 
Nylander +, doch bestand keine Rechtsdrehung bei einer Zufuhr von etwa 15 KH 
(starke Inappetenz), Aceton negativ, Acetessigsäure negativ. 20. XI. Dauernd 
hochgradigste Tachykardie, abends schnell zunehmende Benommenheit und Exitus 
unter hyperpyretischen Temperaturen (42,6°). 

Obduktionsbefund: Encephalitis haemorrhagica mit haselnußgroßer frischer 
Blutung im linken Scheitelhirn, an den übrigen Organen kein krankhafter Be- 
fund. 

Es wurden nunmehr die Blut- und Harnzuckerverhältnisse der Familie unter- 
sucht und dabei bei drei weiteren Mitgliedern eine Glycosuria innocens fest- 
gestellt. 


2. Dora Bra., Schwester unseres Pat., 9 Jahre alt. Nie ernstlich krank, nie 
diabetische Beschwerden, Harn nie auf Zucker untersucht. Der Nüchternblut- 
zucker betrug 0,0575 g-%, im Harn fanden sich Spuren bis 0,5%, Zucker bei Urin- 
mengen von 600—1200 ccm, Höhe der Glykosurie weitgehend unabhängig von der 
zugeführten KH-Menge, nur einmal bei Belastung mit 400 KH inkl. 75 g Zucker 
stieg die Glykosurie auf 1% bei allerdings nur 600 ccm Harnmenge. Auf die Zucker- 
ausscheidung wurde vor und nach der Untersuchung keinerlei diätetische Rück- 
sicht genommen. Pat. ist jetzt 9 Jahre nach der Beobachtung bis auf die Glykosurie 
völlig gesund. Januar 1921 Blutzucker 0,115 g-%, Harnzucker bei KH-Belastung 
0,31%. 

43* 


658 F. Umber und M. Rosenberg: 


3, Martin Bra., Vater unseres Pat., 48 Jahre alt. Seit dem 18, Lebensjahr 
ist Zucker im Urin festgestellt worden, hat aber nie in der Ernährung darauf Rück- 
sicht genommen, nie diabetische Beschwerden gehabt, fühlt sich völlig gesund. 
Glykosurie bei 157 und bei 332 KH 1,0% = 12,7—15,0 g, bei KH-freier Kost 
0,3% = 5,8 g. Blutzucker 0,0835%. Nachuntersuchung im Januar 1921 wegen 
Nierenkoliken. Uratdiathese festgestellt. Ißt alles, auch Süßigkeiten, Zucker 
nie über 1%. Blutzucker 0,125 g-%, Harnzucker (Stichprobe nach reichlicher 
KH-Zufuhr) 0,82%. 

4. Siegmund Bra., 52 Jahre alt. Vatersbruder unseres Pat. Seit 20—30 Jahren 
wird ihm vom Arzt gesagt, daß er Zucker im Harn habe, aber nie über 1%, meist 
0,2—0,3% ; zuckerfrei ist er nie gewesen. Leidet viel an Migräne, fühlt sich sonst 
völlig gesund, nimmt auf den Zucker keine Rücksicht. Blutzucker 0,06% g-%, 
. Harnzucker bei gemischter Kost 0,2 und 0,7% = 4,0 und 14,7 g nach starker 
KH-Belastung 0,35% = 5,6 8. 

Noch in einem 2. Falle konnten wir das familiäre Auftreten der 
Erkrankung feststellen, die außer bei unserm Pat., einem 39jährigen 
Kaufmann, bei dem die Zuckerausscheidung seit 20 Jahren nachgewiesen 
war, bei dessen Vater, einem Vatersbruder und der Zwillingsschwester 
unseres Pat. bestand, während 2 weitere Schwestern und 1 Bruder sie 
nicht aufweisen sollen. Bemerkenswert in diesem Falle ist noch, daß 
die Mutter unseres Kranken, in deren Familie die Glykosurie nicht 
vorhanden war, germanischer, der Vater jüdischer Rasse war. 

Als Beispiel einer 20 Jahre hindurch beobachteten intermittierenden 
Glycosuria innocens ohne nachweisbare familiäre Erkrankung möge 
folgender Fall dienen: 


5. Fritz Gul., Kaufmann. Erste Beobachtung im Jahre 1904 des damals 17jäh- 
rigen Pat. Der eine von uns (Umber) wurde damals wegen einer Gewichtsabnahme 
und Mattigkeit konsultiert, die Urinuntersuchung ergab 1/,% Zucker. Die klinische 
Beobachtung (Umber) zeigte, daß es sich um eine Bruchteile eines Prozents be- 
tragende Glykosurie handelte, die von der KH-Zufuhr unabhängig war. Eine 
Blutzuckeruntersuchung wurde damals noch nicht vorgenommen, eine leichte 
KH-Beschränkung angeraten. Sein Befinden war in den folgenden Jahren wech- 
selnd, besonders in Südamerika, wohin er 1909 übergesiedelt war, hat er sich zeit- 
weise sehr matt gefühlt, allerdings auch viel Arbeit und Aufregungen durchzu- 
machen gehabt. Der Zuckergehalt schwankte zwischen !/, und 2%, bei normaler 
Urinmenge, diabetische Beschwerden bestanden nie, doch ist die Potenz seit 
dem 22. Lebensjahre erloschen. Beobachtung Dezember 1921: Kein organischer 
Krankheitsbefund. Die Glykosurie beträgt maximal 0,5 = 6g, fehlt aber an 
mehreren Tagen, auch solchen mit starker KH-Belastung, völlig. Nüchternblut- 
zucker 0,098%. Dextroseversuch (100 g): Blutzucker nach !/, Stunde 0,100; nach 
1 Stunde 0,091, nach 1!/, Stunde 0,092 g. Dabei Glykosurie von 0,7 g (maximale 
Konzentration in den 3 Einzelportionen 0,86%) in diesen 1!/, Stunden. Letzte 
klinische Beobachtung in diesem Jahr: unveränderter Befund. 


Und schließlich sei noch ein weiterer einwandfreier Innocens-Fall, 
dessen Glykosurie nachweislich seit 20 Jahren besteht, ganz kurz skizziert 
wiedergegeben: 


6. Fri., 44jähriger Kaufmann. Familie 0. B. Vor 20 Jahren wurde wegen 
einer Furunkulose der Urin untersucht und Zucker darin gefunden, meist nur in 





Zur Diagnose und Prognose der Glycosuria innocens. 659 


Spuren, höchstens 0,21%. Pat. lebte daraufhin zunächst diät, nahm dann aber 
gar keine Rücksicht mehr auf die Zuckerausscheidung. Vermehrtes Hunger- und 
Durstgefühl oder sonstige diabetische Beschwerden hat er nie gehabt. Seit 15 Jahren 
besteht ein Magen- und Gallenleiden, wegen dieser Beschwerden kommt er jetzt 
zur Beobachtung, die Verwachsungen zwischen Duodenum und Gallenblase ergibt. 
Die Stoffwechseluntersuchung zeigt bei Belastung mit 427 KH, darunter 70 g 
Zucker, eine Glykosurie von 0,3% = 3,6g, bei KH-freier Diät 0,1%, = 1,28, 
bei 84 KH 0,2% = 2g. Nüchternblutzucker 0,1275—0,133%. Blutzucker in halb- 
stündlichen Abständen nach 100 Dextrose: 0,236; 0,233; 0,195; 0,178%. Während 
der Dextrosebelastung der folgenden 2 Stunden Glykosurie von 2,7 g mit maximaler 
Konzentration 1,76% in den Einzelportionen. 


An der Gutartigkeit derartiger Fälle dürfte bei der zum Teil Jahr- 
zehnte hindurch beobachteten Glykosurie kein Zweifel sein, so daß 
_ hier die Bezeichnung ‚‚innocens‘“ durchaus am Platze ist. Wir verfügen 
aus den letzten Jahren, in denen der Charakter der Glycosuria innocens 
schärfer umrissen wurde, über weitere 22 Fälle, deren Verlauf wir aber 
bisher nur ein oder wenige Jahre übersehen. Unter ihnen befindet sich 
auch ein Japaner, eine Tatsache, die deswegen von Interesse sein dürfte, 
weil in Japan unseres Wissens der Diabetes trotz des sehr reichlichen 
Kohlenhydratgenusses dieses Volkes ziemlich selten ist, und die schwere 
Form desselben fast nie beobachtet wird. 

Zu der Gruppe von Glycosuria innocens gehören ferner die Fälle von 
Schwangerschaftsglykosurie (5 eigene Fälle), deren Unterscheidung von 
echtem Diabetes besonders wichtig ist, da dieser bekanntlich in der 
Schwangerschaft einen besonders ungünstigen Verlauf zu nehmen pflegt 
und meist die frühzeitige Unterbrechung der Gravidität indiziert, 
während die Glycosuria innocens auch hier als eine völlig harmlose Er- 
scheinung angesehen werden kann, die kurz nach Beendigung der 
Schwangerschaft wieder verschwindet. Dabei sei besonders hervor- 
gehoben, daß hier das Auftreten einer Acidose durchaus nicht als Zeichen 
eines echten Diabetes angesehen werden darf, da auch die ganz gesunde 
Schwangere, wie wir uns mehrfach überzeugen konnten, bei KH-Ent- 
ziehung oder auch nur KH-Beschränkung eine recht beträchtliche 
Acidose aufweisen kann und somit auch eine Gravida mit Glycosuria 
innocens. Wir geben kurz die Krankengeschichten einer Schwanger- 
schaftsglykosurie mit und ohne Acidose wieder: 


7. Else F. Keine Stoffwechselstörungen in der Familie. Früher bis auf Lungen- 
entzündung im Kindesalter nie ernstlich krank. Beginn der jetzigen ersten Gravi- 
dität Anfang August 1923. Ende Februar 1924 wurde bei zufälliger Harnunter- 
suchung 2,5% Zucker festgestellt, am folgenden Tage in einer 11/, Stunden-Portion 
sogar 3,2% (!); bei leichter KH-Beschränkung ging in den folgenden Tagen die 
Glykosurie auf 0,4—0,1%, zurück, Acidose bestand nie, keinerlei diabetische Be- 
schwerden. Bei der Aufnahme am 13. III. 1924 zeigte die sonst ganz gesunde 
Frau einen Blutzucker von 0,097%, die Glykosurie betrug bei Harnmengen um 
11 bei 196 KH 0,32—0,76%, bei 102 KH nicht meßbare Spuren bis 0. Dabei war 
aber Aceton- und Acetessigsäurereaktion positiv und es bestand eine durch Insulin 


660 F. Umber und M. Rosenberg: 


übrigens nicht beeinflußbare ß-Oxybuttersäure-Ausscheidung, mit der Einschrän- 
kung der KH zunehmend von Spuren bis 3,17 g. Nach der Entbindung gingen 
Glykosurie und Acidose in wenigen Tagen zurück. 


8. Dora Ha., 26jährige Ehefrau. Aufgenommen am 2. IX. 1921. Letzte Men- 
ses im Januar 1921, seitdem besteht eine Gravidität, in deren ersten Monaten 
die mehrmalige Untersuchung auf Eiweiß und Zucker negativ war. Anfang Juli 
Spur Zucker im Urin, quantitativ nicht meßbar. Anfang August 1/,—3/,%,, am 
23. VIII. 2,08%, als Traubenzucker identifiziert. Keinerlei diabetische Beschwer- 
den. — Befund: Gesunde Gravida im 8. Monat. Blutzucker 0,129 g-%. Im Harn 
bei 80-100 KH 0,27— 0,92% = 5,3—7,7g Zucker. Bei 147 KH 1,5% = 12,0 g, 
bei 202 KH 1,10% — 15,8 g, keine Acidose. Dextroseversuch: Nüchtern 0,129 
Blutzucker, nach der Zufuhr von 100 Dextrose !/, Stunde 0,230, 1 Stunde 0,235, 
1'/, Stunde 0,225, 2 Stunden 0,204; dabei Glykosurie von 6g. Normale Ent- 
bindung, bald darauf Verschwinden des Zuckers bei gemischter Kost. 


Auch diesen Fall möchten wir zu den reinen Innocenserkrankungen 
rechnen, obwohl der Blutzucker etwas über die Norm erhöht und die 
Blutzuckerkurve nach 100 Dextrose zweifellos pathologisch ist. Beides 
haben wir aber wiederholt auch bei Schwangeren, die keine Glykosurie 
aufwiesen, gesehen (vgl. auch Pollack, Ergebn. d. inn. Med. u. Kinder- 
heilk. 23, 1923). Immerhin läßt sich hier über die Zukunft der Pat. 
nichts Bindendes aussagen, insbesondere muß die Frage offen bleiben, 
ob bei weiteren Graviditäten nicht allmählich eine deutlichere Stoff- 
wechselstörung in Erscheinung treten wird. 

Und gerade, um zu zeigen, wie vorsichtig in solchen Fällen die 
Prognose auf längere Zeit gestellt werden muß, gehen wir nunmehr zur 
Mitteilung unserer atypischen Fälle über und teilen von diesen zunächst 
2 Fälle von Schwangerschaftsglykosurie mit, die ein ungewöhnliches 
Verhalten zeigen: 


9. Lilly Rü., 24jährige Ehefrau. Bei der Mutter der Pat. wurde um das 
30. Lebensjahr Zucker festgestellt, sie hat 4 Jahre lang strenge Diät eingehalten, 
seitdem aber nur noch leichte KH-Beschränknng, lebt und ist sonst gesund. 
Die Mutter der Mutter ist 76 Jahre alt und leidet an leichtem Diabetes, Vater der 
Mutter war ebenfalls zuckerkrank, ist an anderer Erkrankung gestorben. Ferner 
sind mehrere Brüder der Pat. zuckerkrank und mehrere Vettern mütterlicherseits. 
Der Diabetes ist bei allen leicht, Die meisten halten gar keine diätetischen Vor- 
schriften ein und fühlen sich trotzdem wohl, doch scheint ein Familienmitglied 
sich durch zu reichlichen KH-Genuß verschlechtert zu haben und seitdem strengere 
Diät einzuhalten. — Pat. selbst hatte als Kind Masern und Scharlach, später leichte 
Influenza und Bronchitis, war sonst nie ernstlich krank. Im Januar 1920 wurde 
im 3. Monat der ersten Gravidität bei zufälliger Urinuntersuchung nach leichter 
Grippe ein Zuckergehalt von 0,3%, im Urin festgestellt, der allmählich im Laufe 
der Gravidität bis 1,2% stieg. Blutzuckeruntersuchungen im Anfang und Ende 
März 1920 ergaben Nüchternwerte von 0,133 und 0,140 g-%. Im den folgenden 
Monaten leichte KH-Beschränkung bis zur Entbindung. Drei Tage nach dieser 
enthielt der Urin bei gemischter Kost nur noch 0,3% Zucker, und war 4—6 Wochen 
später ohne diätetische Einschränkung zuckerfrei. September 1921 Beginn der 
zweiten Gravidität; im Oktober 1921 ergab die Urinuntersuehung wieder einen 
Zuckergehalt von 0,6%, keine Acidose. Dezember 1921 Dextroseversuch: Blut- 








Zur Diagnose und Prognose der Glycosuria innocens. 661 


zucker nüchtern 0,140, nach 100 g Dextrose nach !/, Stunde 0,230, nach 1 Stunde 
0,200, nach 1!/, Stunden 0,184, nach 2 Stunden 0,165 g-%; in diesen 2 Stunden 
wurden 6,7g Zucker (bis zu 4,20% [!] in den Einzelportionen) ausgeschieden. Die 
Glykosurie stieg in der Tagesharnmenge wieder zu Ende der Gravidität bis auf 
1,2% bei einer Diät von 60—84g KH und wöchentlich einem KH-freien Tage. 
Irgendwelche diabetische Beschwerden bestanden nie. 2—3 Wochen nach der Ent- 
bindung hörte die Glykosurie auf, trotzdem Pat. gemischte Kost aß und nur Zucker 
vermied. Im Oktober 1922, 4 Monate nach der Entbindung, nahm Pat. auch Süßig- 
keiten zu sich, es zeigte sich daraufhin aber wieder 0,3%, Zucker im Urin. Seit- 
dem genießt sie wieder nur etwa 84 KH täglich, an Feiertagen hat sie dann und wann 
allerdings auch etwas Kuchen gegessen. — Erneute klinische Beobachtung vom 3. bis 
6. /. 1923: Urin bei 108 KH zuckerfrei, bei 304 KH, darunter 75 g Zucker, zucker- 
haltig (0,6% = 6,6 g). Nüchternblutzucker 0,114 g-%. Zweiter Dextroseversuch: 
Blutzucker nach 100 Dextrose nach !/, Stunde 0,278, nach 1 Stunde 0,244, nach 
‘11/, Stunde 0,222, nach 2 Stunden 0,211. Während dieser Zeit Glykosurie von 
4,8 g, maximal 0,81% in den Einzelportionen. Zur Zeit (Mai 1924) bei gewöhnlicher 
Kost dauernd aglykosurisch. 


Es hat sich also bei dieser Pat., die nach der letzten Beobachtung 
immer noch in die Gruppe der harmlosen Glykosurie hineingehört, eine 
zweifellose Zunahme der KH-Stoffwechselstörung durch die beiden Gravi- 
ditäten feststellen lassen. Vor der 1. Gravidität war überhaupt keine Gly- 
kosurie vorhanden, diese trat in der 1. Schwangerschaft mit einer mäßigen 
Blutzuckererhöhung auf und schwand nach der Entbindung völlig. In der 
2. Schwangerschaft erscheinen wieder die gleichen Störungen mit einer 
leicht pathologischen Blutzuckerkurve, nun aber tritt einige Monate nach 
der Entbindung die Glykosurie bei reichlicherem KH-Genuß, ohne daß 
eine Gravidität bestände, wieder auf, es besteht eine Art Toleranzgrenze, 
und der Dextroseversuch zeigt eine stärker pathologische Veränderung 
der Blutzuckerkurve, als sie während der 2. Gravidität bestand. Aller- 
dings schwindet die Glykosurie später wieder völlig, doch rieten wir von 
weiteren Schwangerschaften ab. Und noch krasser zeigt ein weiterer 
Fall, wie vorsichtig man in der prognostischen Beurteilung der Schwanger- 
schaftsglykosurie sein muß, nämlich die Beobachtung eines typischen 
Coma diabeticum bei wahrscheinlich reiner Schwangerschaftsglykosurie. 
Dieser Fall ist bereits von einem von uns (vgl. Umber, Dtsch. med. 
Wochenschr. 1920, Nr. 28) auf dem Kongr. f. inn. Med. 1920 mitgeteilt 
worden und mag daher in diesem Zusammenhang nur ganz kurz wieder- 
holt werden: 


10. Erna Co., 3ljährige Ehefrau. Muttersmutter mit etwa 50 Jahren zucker- 
krank geworden, sonst keine Stoffwechselkrankheiten in der Familie. Pat. hat 
vor 10 Jahren an Diphtherie, früher viel an Halsentzündungen gelitten, 1 Abort 
und 3 Partus durchgemacht, war sonst nie ernstlich krank. Bei der Aufnahme am 
30. VIIL. 1919 besteht seit Ende Februar wieder eine Gravidität, seit 5 Wochen 
besteht starkes Jucken am Genitale und Oberschenkel. Vor 31/, Wochen wurde 
deshalb der Morgenurin auf Zucker untersucht, das Ergebnis war negativ; am 
27. VIII. dagegen ergab die Harnuntersuchung 4,1%, kein Aceton. Diabetische 
Erscheinungen außer dem Juckreiz bestehen nicht. — Befund: Kräftige, gesund 


662 F. Umber und M. Rosenberg: 


aussehende Frau im 7. Graviditätsmonat ohne krankhaften Befund an den inneren 
Organen. 1.1X. Nüchternblutzucker 0,156. Bei Zufuhr von 175 KH werden 
41 g Zucker im Urin ausgeschieden und 1,8g Oxybuttersäure, dabei auffallend 
niedrige Urinmengen von 700—900 ccm. 3.1IX. Nach 2 Gemüsetagen zuckerfrei 
bei einer NH,-Ausscheidung von 2,19 g und 31,3 g ß-Oxybuttersäure. 7.IX. Bei 
KH-freier Kost keine meßbare Glykosurie, ß-Oxybuttersäure- Ausscheidung von 
20—30g, NH, 2—3g trotz Zufuhr von 40g NaHCO,. 8.IX. Blutzucker auf 
0,107% abgesunken. Wegen der andauernd hohen Acidose werden 3 Reistage ein- 
geschaltet, an denen 380—476 KH gereicht und 2—10 g Zucker ausgeschieden werden; 
dabei geht die ß-Oxybuttersäure-Ausscheidung auf 3g, die des NH, auf 0,8g 
zurück. 12.1X. Am folgenden Gemüsetag und KH-freien Tag bleibt Pat. zucker- 
frei, die #-Oxybuttersäure steigt wieder bis 12,6 g, das NH, bis 2,29 g, deswegen 
wieder 2 gemischte KH-Tage. Am Abend des 13. IX. starkes Erbrechen, an diesem 
Tage kein Zucker, 13,1 g Oxybuttersäure, 3,3g NH, im Urin. Am 14. IX. hält 
das Erbrechen an, starke Mattigkeit und Völlegefühl im Magen. An diesem Tage 
Urin zuckerfrei, enthält 6,5g Oxybuttersäure, 1,93g NH,. Gegen Abend setzt 
ein ganz typisches Coma diabeticum ein, an dem Pat. trotz der sofort durch Kaiser- 
schnitt ausgeführten Entbindung und Infusion von Lävulose und NaHCO,-Lösung 
in 6 Stunden zugrunde geht. 


Wir sehen hier also eine Schwangere, die 6 Tage vor ihrem Tode einen 
normalen Blutzucker, positive Toleranz von 467 KH und eine Glykosurie 
von 2—10 g bei KH-Zufuhr von 330—476 KH aufwies, bei zweckmäßigster 
klinischer Behandlung im typischen Coma diabeticum zugrunde gehen. 
Obwohl dieser Fall außerordentlich selten ist und ein gleicher oder 
ähnlicher in der gesamten Diabetesliteratur nicht beschrieben ist, zeigt 
er doch außerordentlich schlagend, wie vorsichtig man mit dem Urteil 
„innocens“ in solchen Fällen von Schwangerschaftsglykosurie sein muß. 

Wie schwierig aber auch bei Nichtschwangeren die Differential- 
diagnose zwischen echtem Diabetes und harmloser Glykosurie und 
damit die Prognosenstellung im einzelnen Fall sich gestalten kann, 
mögen weiterhin die folgenden Beobachtungen an 4 jungen Männern 
zeigen: 

11. Wilhelm K., 19jähriger Friseur. Vor 6 Jahren nach Erkältung Nieren- 
entzündung mit starken Schwellungen, derentwegen Pat. 6 Monate lang zu Bett 
liegen mußte; danach völlige Wiederherstellung. Seit einigen Wochen Schmerzen 
in der Lendengegend, vor 8 Tagen heftiges Erbrechen, so daß Pat. sich ins Bett 
legen mußte. Der am folgenden Tage zugezogene Arzt stellte eine Nierenent- 
zündung fest und schickte Pat. in ein Berliner Krankenhaus. Hier wurde am 
16.1X. 1922 nach persönlicher Mitteilung des dortigen behandelnden Arztes 
26°/90 Eiweiß und 1,7% Zucker im Urin festgestellt, am 22. IX. nur noch Spuren 
Eiweiß und 1,0% Zucker. Keinerlei diabetische Beschwerden. Zur Aufklärung der 
Glykosurie wurde Pat. am 23. IX. 1922 unserer Stoffwechselabteilung überwiesen. 
Befund: Mittelgroßer, schmaler junger Mann; an den inneren Organen, insbesondere 
am Herzgefäßsystem keine krankhaften Veränderungen, Blutdruck 110/70 mm Hg, 
keine Ödeme. Im Urin Spuren Eiweiß und bei 168 KH 1% = 14 g Zucker, keine 
Acidose; im Sediment vereinzelte Leukocyten und Epithelien, keine Cylinder. 
Vom 24. 1X. ab ist der Urin eiweißfrei und enthält an diesem Tage bei 252 KH 
0,77% = 13g Zucker. 25. IX. Nüchternblutzucker 0,130 g-%. Pat. erhält nun 
8 Tage lang eine KH-freie Diät, wobei die Zuckerausscheidung auf 0,23, 0,13, 








Zur Diagnose und Prognose der Glycosuria innocens. 663 


0,11%, Spuren (= 4,6, 3,6, 4,7 g, Spuren) zurückgeht, am 5. KH-freien Tage ist 
Pat. völlig zuckerfrei, doch beträgt der Blutzucker am 8. KH-freien Tage immer 
noch 0,130%. Es werden nun allmählich steigende KH-Mengen zugelegt, die am 
16. X. 200 g betragen, ohne daß jemals wieder Glykosurie auftritt. Am 17. X. ist 
der Blutzucker trotz der starken KH-Belastung am voraufgehenden Tage auf 
0,118% abgesunken. Eine nun ausgeführte Belastung mit 100 g Dextrose ergab 
ebenfalls keine Glykosurie, aber eine pathologische Blutzuckerkurve, indem der 
Blutzucker erst nach 1 Stunde sein Maximum mit 0,231 g-% erreichte und nach 
2 Stunden noch 0,204%, betrug. An den folgenden Tagen auch bei gewöhnlicher 
Krankenhauskost zuckerfrei. Am 21. X. entlassen. Am 29. XI. wieder vorgestellt. 
Hat alles gegessen, ohne daß wieder Zucker im Urin aufgetreten ist. Der Blut- 
zucker beträgt 2 Stunden nach dem ersten Frühstück 0,121%, nach Belastung mit 
100g Dextrose keine Glykosurie, der Blutzucker erreicht sein Maximum nach 
!/, Stunde mit 0,186%, beträgt nach 2 Stunden noch 0,150%. Im Februar 1923 
' weiter gesund und ohne diätetische Einschränkung zuckerfrei. 


Bei dieser ebenfalls recht ungewöhnlichen Beobachtung mußte 
anfangs bei der leichten Hyperglykämie und der auf KH-Entziehung 
nur allmählich schwindenden Glykosurie an einen leichten echten 
Diabetes gedacht werden, und die 4 Wochen später gefundene Blut- 
zuckerkurve konnte diesen Verdacht bestärken. Der weitere Verlauf 
aber und die 6 Wochen später aufgenommene Blutzuckerkurve, die 
zwar noch nicht völlig normal, aber niedriger und kürzer als die erste 
ausfiel, zeigen, daß es sich offenbar um eine harmlose Glykosurie bei 
einer sehr schnell abheilenden Nephrose gehandelt hat, wenn auch so 
erhebliche ‚‚renale““ Glykosurien bisher nur sehr selten bei Nephrosen 
beschrieben sind. In der Literatur haben wir nur einen entsprechenden 
Fall gefunden, bei dem im Anschluß an eine Nephrose eine Glykosurie 
von maximal 169g ein Jahr lang nachgewiesen wurde (Lewis, Arch. of 
int. med. 29, 1922). 

Wir selbst haben noch einen zweiten Fall beobachtet, bei dem sich 
eine 7 Jahre später von uns klinisch analysierte, typische Glycosuria 
innocens anamnestisch an eine Feldnephritis anschloß. 

Der folgende Fall wurde von uns zunächst als ein leichter Diabetes 
aufgefaßt, zeigte dann aber bei weiteren Untersuchungen das Verhalten 
einer Glycosuria innocens: 

12. Paul Wan., 13jähriger Knabe. Aufnahme 24. IV. 1923. Hat früher an 
Brechdurchfall, Masern, Nasendiphtherie und 7mal an Lungenentzündung ge- 
litten. Seit 1915 soll ein Schwachsinn mittleren Grades bestehen. 1915 Leisten- 
hoden operiert; seitdem bestehen in mehrmonatlichen Abständen epileptische An- 
fälle, weswegen Pat. 1922 einer Epileptikeranstalt überwiesen wurde. Dort fiel 
im Juni 1922 ein starker Durst auf, und es wurden 2%, Zucker im Urin festgestellt; 
seit der gleichen Zeit haben die epileptischen Anfälle völlig aufgehört. Er wurde 
diätetisch behandelt und kam Herbst 1922 wieder nach Hause, wo er ebenfalls mög- 
lichst KH-arm ernährt wurde. Weihnachten 1922 0,9%, Zucker; seitdem hat er 
keine Diät mehr eingehalten, weil sie der Mutter zu teuer wurde. Im April 1923 


wurde uns das Kind zum erstenmal überwiesen, weil es über starke Mattigkeit klagte. 
— Befund: Körperlich normal entwickelter 13jähriger Junge mit der Intelligenz 


664 F. Umber und M. Rosenberg : 


eines 6—7 jährigen. Kein krankhafter Befund an den inneren Organen, keine Zeichen 
hereditärer Lues, WaR. negativ. Blutzucker bei der Aufnahme 0,214% (!); im 
Harn bei 108 KH 1,19% = 15,4g Zucker. Bei KH-freier Kost wurde Pat. erst 
erst nach 10 Tagen völlig zuckerfrei. Der Blutzucker sank nach 6 Tagen auf 0,143, 
nach 10 Tagen auf 0,120%. Bei weiterer KH-freier Diät 7 Tage lang zuckerfrei. 
Bei allmählicher Zulage von KH wurden dann anfangs kleine Mengen Zucker 
(1—5 g) wieder ausgeschieden, obwohl der Blutzucker auf 0,111 zurückging, schließ- 
lich aber konnte die KH-Zufuhr bis auf 72 g erhöht werden, ohne daß Glykosurie 
auftrat. Acidose bestand bei KH-Zufuhr nicht, trat aber bei KH-freier Kost in 
mäßigem Grade auf. Am 15. V. 1923 wurde Pat. mit KH-Beschränkung auf 72 g 
entlassen. Anfangs hielt er die vorgeschriebene Diät inne, aber schon nach wenigen 
Wochen konnte keine Diätbeschränkung mehr durchgeführt werden. Bei ambu- 
lanter Untersuchung im September und Oktober 1923 wurde jedesmal 1% Zucker 
festgestellt. Dem Hausarzt fiel aber auf, daß der Urin, trotzdem der Knabe KH 
in normaler Menge aß, mehrfach zuckerfrei war. — Zweite Aufnahme am 29. IX. 
1923. Bei der Aufnahme betrug der Blutzucker 0,119%, und der Harn war bei 
200 KH zuckerfrei! In den folgenden Tagen bei 204 KH Glykosurie von 13—19, 
bei 96 KH von 14—16g. Blutzucker in halbstündlichen Abständen nach peroraler 
Belastung mit 100 Dextrose: 0,224; 0,166; 0,144; 0,121, also normale Kurve. 
In der folgenden Zeit bei wechselnder KH-Zufuhr eine von dieser weitgehendst 
unabhängige Glykosurie bis 13 g, häufig auch bei größerer KH-Zufuhr zuckerfrei, 
bei geringerer Zuckerausscheidung. Die Glykosurie wird durch Insulin nicht be- 
einflußt, denn sie betrug bei 100 KH ohne Insulin 13 g, wenige Tage später bei 
100 KH und 2mal 10 Einheiten eines hochwirksamen Insulinpräparates 9,1 g; 
2 Wochen später bei 100 KH ohne Insulin aglykosurisch. Nach intravenöser Be- 
lastung mit 15 g Dextrose in 40 ccm Ag. dest. ergibt sich folgende normale Blut- 
zuckerkurve: Vor der Injektion 0,114%, unmittelbar danach 0,211%, weiter in 
Abständen von 25 Min. 0,157, 0,140, 0,123, 0,101%. Bei der Entlassung Ende 
November 1923 bestand bei gewöhnlicher Krankenhauskost eine Glykosurie bis 
15 g. — Ende Februar 1924 wurde Pat., dem inzwischen keinerlei diätetische Be- 
schränkung auferlegt worden war, zur dritten Beobachtung aufgenommen. Der 
Blutzucker betrug 0,112%, der Harn enthielt zuweilen bei KH-freier Kost Zucker, 
meist war er aber bei Zufuhr bis 100 KH zuckerfrei, bei 264 KH inkl. 50 g Rohr- 
zucker wurden 1,77% = 26,5g Zucker ausgeschieden. Bei gemischter Kost 
schwankte die Glykosurie zwischen 13,5 und 26,7 g, der Blutzucker blieb 
normal. 


Dieser Fall mußte anfangs mit einem Nüchternblutzucker über 0,2% 
und einem bei KH-freier Kost ganz allmählich zurückgehenden Blut- 
und Harnzucker durchaus als echter, leichter Diabetes imponieren, 
während er anderseits bei den späteren Beobachtungen durchaus den 
Eindruck einer typischen Glycosuria innocens macht mit stets normalem 
Blutzucker, normalen Blutzuckerkurven nach peroraler und intra- 
venöser Belastung und einer von der KH-Zufuhr fast unabhängigen 
Zuckerausscheidung. Man könnte ihn also als einen in Glycosuria 
innocens übergehenden Fall von Diabetes bezeichnen, ja sogar als einen 
mit Defekt geheilten Diabetes betrachten; ferner muß an eine anfangs 
stärkere, später schwächer werdende Glykosurie mit anfänglicher 
Hyperglykämie aus cerebraler (oder innersekretorischer?) Ursache 
gedacht werden. Jedenfalls hat die ganze Stoffwechselstörung offenbar 





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Zur Diagnose und Prognose der Glycosuria innocens. 665 


nichts zu tun mit einer Insuffizienz des Pankreas, da sie durch Insulin 
nicht beeinflußbar war. 


Es folgt nun zunächst ein weiterer Fall, bei dem ebenfalls das Ver- 
halten des Blutzuckers mehrfach zu differentialdiagnostischen Zweifeln 
führte, ob ein Diabetes oder eine Glykosurie vorläge, oder ob sich die 
Stoffwechselstörung umgekehrt wie bei der eben beschriebenen aus 
einer Glykosurie zu einem Diabetes entwickele: 


13. Alfred Bau., 25jähriger Arbeiter. Erste Beobachtung vom 18. VII. bis 
23. VIII. 1919. 

Keine Stoffwechselkrankheiten in der Familie. Bei 2 Brüdern des Pat. wurde 
das Fehlen einer Glykosurie von uns ausdrücklich festgestellt. Als Kind Masern 
und Scharlach, sonst nie ernstlich krank. Von jeher nervös, seit Anfang dieses 
Jahres Mattigkeit und zeitweise Kopfschmerzen, starker Durst und Hunger 
sowie mäßige Abmagerung, seit 11. VII. 1919 häufiges Urinlassen, 3—4mal am 
Tage, 2mal nachts. Am 13. VII. 1919 Anfall von Drehschwindel. Pat. fiel um 
und war !/, Stunde bewußtlos, keine Krämpfe, fühlte sich danach gleich wieder 
wohl. Am 14. VII. untersuchte der Arzt den Urin und stellte Zucker darin fest, 
wovon dem Pat. bisher nichts bekannt war. — Befund: Mittelgroßer, grazil gebauter 
Mann in leidlich gutem Ernährungszustande. Körpergewicht 52 kg. Leichte Ver- 
größerung der Schilddrüse, leichter Tremor der Augenlider, sonst keine thyreo- 
toxischen Erscheinungen. Innere Organe und Nervensystem sonst 0.B. Blut- 
zucker 0,100%. Bei Zufuhr von 100 KH Glykosurie zwischen 0,4—0,5%, = 5—8g; 
bei 250 KH 0,54% = 8,4g Harnzucker; am KH-freien Tag nur 0,19%, = 3g 
Zucker im Urin. 25. VII. Auf Injektion von 2 mal 0,001 Suprarenin im Laufe des 
Tages steigt die Glykosurie auf 1,01% = 25g gegen 0,31 bzw. 0,37% (11,2 bzw. 
8,9) am Vor- und Nachtag bei gleicher Einstellung auf 100 KH. 28. VII. Bei 
Zulage von 100 Dextrose zu der 100 KH-haltigen Kost Glykosurie von 0,41%, = 
14g. In den folgenden Tagen liegt die Glykosurie bei dauernder Einstellung auf 
100 KH zwischen 0,3 und 0,7% = 4—13g. 6. VIII. Blutzucker 3 Stunden nach 
Zufuhr von 100 Dextrose 0,124%, Zuckermenge an diesem Tag 0,42%, = 10,9 g. 
8. VIII. Bei Wiederholung der Suprarenininjektion in der gleichen Weise wie 
am 25. VII. werden nur 0,27% =7,5g Zucker ausgeschieden. 10. VIII. Auf 
2 Ampullen Pituitrin Glykosurie von 0,53%, = 15,9 g. 19. bis 22. VIII. Bei Zu- 
fuhr von 300—360 KH Glykosurie von 0,4—0,9%, = 5—7 g, gänzlich unabhängig 
von der in diesen Grenzen schwankenden Zufuhr. 

Zweite Beobachtung vom 29. VI. bis 14. VIII. 1921. In der Zwischenzeit wech- 
selndes Befinden, zeitweise matt gefühlt, nie Diät gehalten. War jetzt wegen einer 
frischen Gonorrhöe in spezialärztlicher Behandlung; dabei wurde wieder eine 
Glykosurie festgestellt und Pat. deswegen wieder hereingeschickt. Körpergewicht 
und sonstiger Befund unverändert. Blutzucker 0,130%. Glykosurie bei 100 KH 
0,1 und 0,4% = 2,4—6,3g schwankend. 8. VII. Blutzucker nüchtern 0,153%, 
100 Dextrose nüchtern, danach nach 1 Stunde 0,210, nach 2 Stunden 0,189, nach 
3 Stunden 0,129%; Glykosurie an diesem Tage 7,4g. 20. VIII. An 3 vorauf- 
gehenden Tagen, KH-freien Tagen, sinkt die Glykosurie auf 0,05—0,11%, = 1,0 bis 
2,2g, darauf am 4. Tage Nüchternblutzucker 0,166% (!). 3. VIII. Bei längerer 
Periode von 150 KH Glykosurie von 0,2—0,96%, = 4—11g. 4. VIII. Nüchtern- 
blutzucker 0,200% (!). */, Stunde nach 100 Dextrose 0,203, 1 Stunde 0,221, 
1?/, Stunden 0,196, 2 Stunden 0,187 (jedesmal bis auf 0,004 g übereinstimmende 
Doppelbestimmungen). 8.IX. Nach 3 KH-freien Tagen, an denen die Glykosurie 
bis auf 0,02% = 0,3 g sinkt, beträgt heute der Nüchternblutzucker 0,158%, und 


666 F. Umber und M. Rosenberg: 


ist nach Einschaltung eines Hungertages am folgenden Morgen auf 0,121%, ge- 
sunken. 13. IX. An 3 Tagen mit 140 KH erreicht der Harnzucker einmal 2,07% 
— 21,7 g, während er sonst nie 1% erreicht hat. Am Morgen des 4. Tages ist der 
Nüchternblutzucker wieder auf 0,168% gestiegen. 

Dritte Beobachtung vom 3. VII. bis 18. VIII. 1922. Ergibt kurz zusammen- 
gefaßt eine von dem KH-Gehalt der Nahrung nicht ganz unabhängige Glykosurie, 
die zwischen 1,3 und 0,1% schwankt, an Gemüse- und Hungertagen zuweilen bis 
auf nicht meßbare Spuren zurückgeht ode? gar vollständig verschwindet (negativer 
Nylander, Linksdrehung des Harns). Der Nüchternblutzucker beträgt am 4. VII. 
0,100%, am 15. VII. 0,110%, am 3. VILI. und 7. VIII. nach etwas stärkerer KH- 
Belastung 0,137%, am 14. VIII. trotz einer 4 tägigen Aglykosurie 0,139%. Am 
11. VIII. Dextroseversuch (100 g): Blutzucker nüchtern 0,137%, nach der Be- 
lastung !/, Stunde 0,275%, 1 Stunde 0,254%, 1!/, Stunden 0,250%, 2 Stunden 
0,249%- 

Vierte Beobachtung vom 7. bis 17. II. 1923. Hat im Dezember 1923 eine schnell 
vorübergehende Magenblutung ohne sonstige Beschwerden gehabt, sich aber sonst 
wohl gefühlt, wie früher, nie Diät gehalten; kommt auf unsere Veranlassung zur 
Nachuntersuchung ins Krankenhaus. Körpergewicht 52 kg. Nüchternblutzucker 
schwankt zwischen 0,13% und 0,155%. Glykosurie bei 200 KH 1,22% = 12—13g, 
bei 100 KH 0,5—0,6% = 5—6g, bei KH-freier Kost 0,1—0,25% = 1,7—2,7 Q. 
Dextroseversuch. Nüchternblutzucker 0,152, 2 Stunden nach dem ersten Früh- 
stück 0,230%, dann 100 Dextrose, danach nach !/, Stunde 0,294, nach 1 Stunde 
0,239, nach 1!/, Stunden 0,230, nach 2 Stunden 0,227%. 


Nach den verschiedenen Beobachtungen dieses Falles scheint es, als 
ob sich eine, wenn auch zunächst nur sehr leichte Progredienz der 
Stoffwechselstörungen im Laufe der 4 Jahre, über die sich die Beob- 
achtung erstreckt, bemerkbar macht. Sie findet ihren Ausdruck in dem 
langsamen, wenn auch nicht geradlinigen Anstieg des Blutzuckers, in 
einer zunehmenden Abhängigkeit der Glykosurie vom KH-Gehalt der 
Nahrung, einer Glykosurie, die zeitweise ganz schwindet, zeitweise auf 
Werte von 1—2% steigt und schließlich in einer zunehmenden ali- 
mentären Hyperglykämie beim Dextroseversuch, der stets eine abnorm 
lange Blutzuckererhöhung aufweist. 

Die ungewöhnlichste Beobachtung aber, mit der wir diese Kasuistik 
schließen wollen, ist die folgende: 


14. Walter Seb., 24jähriger Konditor, der als Ersatzreservist am 1. XII. 
1915 auf die Beobachtungsstation unserer Lazarettabteilung aufgenommen wurde. 
In der Familie keine Stoffwechselstörungen. Pat. will vom 12. bis 18. Lebens- 
jahr jeden Winter etwa 14 Tage lang an geschwollenen Füßen gelitten haben, 
sonst nie krank gewesen sein. Im 20. Lebensjahre wurde zufällig Zucker im Urin 
festgestellt, und Pat. war deswegen vom 4. bis 22. I. 1912 in einem Hamburger 
Krankenhaus in Behandlung. Aus der dortigen Beobachtung, die uns zur Ver- 
fügung gestellt wurde, geht nur hervor, daß die Zuckerprozentzahlen 1,75—5,25 
betrugen, die Harnmengen sind nicht gemessen, die KH-Zufuhr scheint 100g 
Brot pro Tag betragen zu haben. Das Körpergewicht betrug 68kg. Pat. hat danach 
nie Diät eingehalten, aber trotzdem nie irgendwelche Beschwerden gehabt. Er 
hat sich dann vom Dezember 1914 ab als Soldat, auch beim Vormarsch in Ruß- 
land, sehr wohl gefühlt, verspürte aber im Oktober 1915, als es schon zum Stellungs- 
krieg gekommen war, Mattigkeit, meldete sich krank, und bei der daraufhin vor- 





Zur Diagnose und Prognose der Glycosuria innocens. 667 


genommenen Urinuntersuchung wurde Zucker festgestellt, von dessen früherem 
Vorhandensein Pat. nie etwas gesagt hatte. Jetzt ohne Beschwerden. — Befund: 
Mittelgroßer, kräftig gebauter Mann in mittlerem Ernährungszustand, Körper- 
gewicht 70kg. An den inneren Organen kein krankhafter Befund, nur Schild- 
drüse diffus unwesentlich vergrößert, ohne irgendwelche thyreotoxischen Erschei- 
nungen. Nüchternblutzucker 0,085% (!), dabei eine Glykosurie von 6,0% = 90 g 
bei Zufuhr von 150 KH, keine Acidose. Pat. wurde nun 5 Monate lang auf unserer 
Stoffwechselabteilung, zum Teil unter Klausur, um alle Täuschungsversuche aus- 
zuschließen, beobachtet; die kurzgefaßten Ergebnisse dieser langfristigen Unter- 
suchungen sind folgende: 

Innersekretorische Störungen waren nicht nachweisbar, die Nierenfunktion 
normal. Die Blutzuckerwerte schwankten zwischen 0,056 und 0,085% erwiesen 
sich von der voraufgehenden Diät völlig unabhängig, indem höhere Werte nach 
längerer KH-Abstinenz und niedrigere nach KH-Zufuhr auftraten, doch wurde der 
Wert von 0,085% nie überschritten. Aceton und Acetessigsäure wurden im Urin 
nur ganz vorübergehend nach längerer KH-Karenz beobachtet und dann auch 
nur in Spuren. Die Urinmengen waren immer auffallend groß und schwankten 
zwischen 2 und 6 1, lagen meist zwischen 4 und 51. Pat. wurde die ersten 6 Wochen 
dauernd KH-frei ernährt, die Zuckerprozentzahlen schwankten in dieser Periode 
zwischen 1 und 3%, gingen aber im Laufe dieser Periode nicht allmählich zurück, 
sondern lagen ganz unregelmäßig zuweilen höher, zuweilen niedriger; die genau 
so schwankende @Gesamtzuckermenge lag zwischen 57 und 135 9. An zwei zwischen- 
geschalteten Bouillon- und Gemüsetagen sank allerdings die Glykosurie bis auf 
1% = 52 g. Nunmehr wurde eine Periode mit stark wechselndem KH-Gehalt ein- 
geschaltet, aus der im folgenden ein kurzer tabellarischer Auszug wiedergegeben sei, 
um das Verhältnis des zugeführten KH zu ausgeschiedenem Zucker zu illustrieren: 


Datum KH der Nahrung Harnmenge Zuckermenge % Zuckermenge g 
18: 150 4400 1,9 83,6 
20T. 150 4200 2,4 100,8 
al. L; 150 4000 2,75 110,0 
22:1; 0 3950 2,0 79,0 
23.1: 0 5400 1,32 at 
24.1. 0, Bouillontag 4800 0,32 15,4 
25.1. 273 4000 2,85 114,0 
26.1. 0 3600 2,15 77,4 
2771: 0 4400 1,5 66,0 
28.1. 0 5150 1,35 69,5 


Dieser kurze Beobachtungsausschnitt zeigt, daß die Größe der KH-Zufuhr 
einen gewissen Einfluß auf die der Glykosurie ausübt, indem im allgemeinen 
die Zuckerwerte bei KH-freier Kost niedriger sind als bei KH-haltiger; unbestreit- 
bar ist ferner die Wirkung des Bouillontages, an dem die niedrigste überhaupt 
je bei diesem Pat. beobachtete Glykosurie zu verzeichnen ist. Bei weiterer KH- 
Entziehung ging nun aber die Glykosurie nicht weiter zurück, sondern schwankte 
in den gleichen Grenzen wie in der ersten Periode. Doch zeigte sich immer wieder, 
daß reichliche KH-Zufuhr die Glykosurie, bis maximal 160 g, vermehrte. — Pat. ist 
1918 an Grippepneumonie gestorben, die Zuckerausscheidung hat bis zum Tode 
weiter bestanden, Pat. hat nie darauf Rücksicht genommen. 


Auch dieser Fall gehört zu den seltensten Beobachtungen, die auf 


dem Gebiete der harmlosen Glykosurie in der Literatur niedergelegt 
sind. Er findet höchstens seinesgleichen in mehreren von Salomon 


668 F. Umber und M. Rosenberg: 


(Wien. klin. Wochenschr. 1919, Nr. 35) mitgeteilten Fällen (Gruppe C), 
die allerdings maximal nur 3,2% = 39,6 g Zucker bei normalem Blut- 
zucker ausschieden, während in unserem Falle zwar die prozentuale 
Zuckerausscheidung 3% nicht überstieg, aber bei der sehr beträcht- 
lichen Polyurie die Gesamtzuckermenge sich doch bis zu 160 (\)g 
erhob. Ob der von Galambos (Dtsch. med. Wochenschr. 1914, Nr. 26) 
veröffentlichte Fall, der ebenfalls eine Polyurie aufwies und noch 
erheblich höhere relative und absolute Harnzuckerzahlen bei normalen 
Blutzuckerwerten zeigte, mit in diese Gruppe einzubeziehen ist, erscheint 
fraglich angesichts der Tatsache, daß er erstens eine beträchtliche 
Acidose aufwies und zweitens nach der Angabe Salomons, der ihn kurze 
Zeit darauf beobachtete, sich in nichts von einem schweren Diabetes 
unterschied (Blutzuckeruntersuchung wurde verweigert) und bald im 
Coma diabeticum zugrunde ging. Außer diesen beiden Fällen findet 
sich ein entsprechender noch in der amerikanischen Literatur (Marsh, 
Arch. of intern. med. Bd. 28, 1921), der bei 4 Monate langer Beobachtung 
mit einer durchschnittlichen Glykosurie von 60 g, maximal 123 g, bei 
Blutzuckerwerten zwischen 0,076—0,100%, einherging, durch die Diät 
in seiner Glykosurie unbeeinflußbar war, keine diabetischen Symptome 
aufwies und auf Belastung mit 100 g Dextrose keine nennenswerte Er- 
höhung des Blutzuckers noch Vermehrung der Glykosurie aufwies. 
Dieser Fall ist aber nur 4 Monate lang verfolgt, so daß sich über den 
weiteren Verlauf und Ausgang nichts Sicheres aussagen läßt. Und daß 
bei derartigen Raritäten nur eine jahrelange Beobachtung eine einiger-. 
maßen sichere Prognose zuläßt, wird am schönsten durch den eben 
genannten Fall von Galambos bewiesen, der als innozente Glykosurie 
zweifellos angesprochen werden müßte, wenn er nicht im diabetischen 
Koma zugrundegegangen wäre. 

Wenn wir die Besonderheiten der zuletzt geschilderten 6 Fälle zu- 
sammenfassen, so liegen sie im wesentlichen darin, daß der Stoffwechsel- 
zustand bei ihnen nicht konstant blieb, sondern sich besserte oder ver- 
schlechterte. Zu der ersten Gruppe gehören die Fälle 11 und 12; der 
erste zeigt das völlige Schwinden einer bis zu 1,7% betragenden, im 
Anschluß an eine Nephrose auftretende, also mit einem gewissen Recht 
als ‚‚renal‘‘ zu bezeichnende Glykosurie, der zweite eine anfangs mit 
starker Hyperglykämie verbundene Zuckerausscheidung, die zunächst 
als echter Diabetes, später als klassische Glycosuria innocens imponiert. 
Eine Verschlimmerung weisen auf der Fall 13, bei dem der anfangs 
normale Blutzucker bis zur doppelten Höhe ansteigt, in den nächsten 
Jahren wieder etwas absinkt, aber dann dauernd erhöht bleibt; ferner 
der Fall 14, der als reine Schwangerschaftsglykosurie beginnt, um nach 
der 2. Schwangerschaft eine Glykosurie nach Zuckerzufuhr bei normalem 
Blutzucker zurückzubehalten; und schließlich der Fall 10, der unter 











Zur Diagnose und Prognose der Glycosuria innocens. 669 


dem Bilde einer unschuldigen Schwangerschaftsglykosurie plötzlich im 
typischen diabetischen Koma zugrunde geht. Der Fall 14 zeigt bei unter- 
normalem Blutzucker Polyurie und Glykosurien bis zu 160 g; leider ist 
er frühzeitig an Grippepneumonie gestorben, so daß über den weiteren 
Verlauf der Stoffwechselstörung nichts ausgesagt werden kann. 

Die Fälle beweisen also, wie schwierig sich zuweilen Diagnose und 
Prognose einer Glykosurie gestalten kann, die auf den ersten Blick den 
Eindruck entweder einer harmlosen Zuckerausscheidung oder umgekehrt 
eines echten Diabetes macht und erst bei längerer Beobachtung ein ganz 
verändertes Bild zeigt. Es kann daher weniger die einmalige, noch so 
ausgedehnte Beobachtung als vielmehr der durch mehrere Jahre hindurch 
‚beobachtete Verlauf der Erkrankung ein einigermaßen sicheres Urteil 
zulassen. Diese diagnostischen und prognostischen Schwierigkeiten 
scheinen uns in der Literatur nicht genügend betont zu sein!). 

Hauptsächlich eine Form des echten leichten Diabetes kann bezüglich 
der differentialdiagnostischen Abgrenzung von der Glycosuria innocens 
solche Schwierigkeiten bereiten, nämlich der Diabetes mit von Naunyn 
sogenannter paradoxer Glykosurie; es sind das die Fälle, die bei stärkerer 
KH-Zufuhr nur eine mäßige Glykosurie aufweisen, aber diese auch bei 
langer KH-Entziehung außerordentlich hartnäckig festhalten, wenn 
auch die bei KH-Karenz ausgeschiedenen Zuckermengen sehr gering- 
fügig sind, wodurch die Stoffwechselstörung den Erscheinungen der 
renalen Glykosurie sehr ähnlich wird. Folgender Fall möge diese Tat- 
sache verdeutlichen: 


Fall 15. Ol., 33jähriger Kaufmann. Beobachtet vom 23. X. bis 2. XI. 1916. 
Ein Muttersbruder, eine Mutterschwester und eine Vatersschwester sind diabetisch. 
Näheres über die Art der Stoffwechselstörung ist nicht zu erfahren. Pat. leidet 
seit 1904 zuweilen an Durchfällen und war deswegen 1909 in Sanatoriumsbehand- 
lung. Dabei wurde eine geringfügige Glykosurie um 0,1%, festgestellt, die dann 
später von spezialistischer Seite als renaler Natur angesprochen wurde; Pat. hat 


1) Anmerkung bei der Korrektur: Die erheblichen Schwierigkeiten, die die 
Differentialdiagnose zwischen leichtem Diabetes und Glycosuria innocens zu- 
weilen bieten kann, werden auch durch folgenden kürzlich von uns beobachteten 
Fall besonders scharf beleuchtet: Ludwig Red., 59 jähriger Arbeiter. Keine 
familiäre Belastung. 1909 Nierenentzündung, die in einem Vierteljahr völlig 
ausheilte. Seit 1923 Gallensteinanfälle, die ihn ins Krankenhaus führen. Urin 
früher nie auf Zucker untersucht. Blutzucker 0,121—0,138%. Harnzucker bei 
gewöhnlicher Kost 0,2—0,8% bei Harnmengen von 1—1!/,1; nach starker KH- 
und Zuckerbelastung 1,16% = 18,6 g; bei KH-freier Kost sofort aglykosurisch. 
Nach intravenöser Belastung mit 15g Dextrose wird der Nüchternblutzucker 
erst nach 100 Minuten wieder erreicht. Nach Belastung mit 100 Dextrose per 
os steigt der Blutzucker nach !/, Stunde auf 0,361% (!) und fällt dann sehr 
langsam ab, so daß er nach 2 Stunden noch 0,294 beträgt. — Nur eine über 
Monate oder gar Jahre ausgedehnte Beobachtung ermöglicht hier die Ent- 
scheidung, ob ein echter Diabetes, eine Glycosuria innocens oder eine vorüber- 
gehende Pankreasinsuffizienz als Folge der Cholecystitis vorliegt. 


670 F. Umber und M. Rosenberg: 


Zucker vermieden, sonst alles genossen. — Die Beobachtung ergab bei Zufuhr 
von 188 KH eine Glykosurie von 1,3% = 16,3 g, die in 3 KH-freien Tagen auf 
0,4, 0,3, 0,2% (= 5,0, 4,5, 2,4 g) abfiel, bei einer darauffolgenden starken Belastung 
mit 286 KH auf 2,1% = 31,3 g anstieg, um sich bei abermaliger KH-Entziehung 
auf 0,6% (= 7,5, 7,2, 6,0 g) zu senken. Der Blutzucker betrug nach einem KH- 
freien Tage 0,066% (Bertrand), am Morgen nach der starken KH-Belastung 0,095%. 
Bei KH-Entziehung trat am 2. Tage regelmäßig eine leichte Acidose mit deutlich 
positiver Acetessigsäurereaktion auf. 


Das Besondere des Falles, das eine Einreihung in die Glycosuria 
innocens erschwert und die Zugehörigkeit zu den leichten Fällen von 
insulärem Diabetes mit paradoxer Glykosurie wahrscheinlich macht, 
liegt einmal in der recht ausgesprochenen Abhängigkeit der bis zu über 
30 g ansteigenden Glykosurie von der KH-Zufuhr, in der Beeinflussung 
des Blutzuckers durch den KH-Gehalt der Nahrung, in einer gewissen 
Schädigung der Toleranz durch die KH-Belastung mit 286 g und vor 
allem in der bei KH-Entziehung sich sofort bemerkbar machenden 
Acidose. 

Leider fehlt in diesem Falle, dessen Beobachtung schon 7 Jahre 
zurückliegt, die alimentäre Blutzuckerkurve nach Dextrosebelastung. 
Aber auch der diagnostische Wert dieser Methode, die von einem 
von uns (R., Klin. Wochenschr. 1922, Nr. 8) zur Differentialdiagnose 
zwischen echtem und renalem Diabetes empfohlen wurde, muß auf 
Grund unserer jetzt erheblich erweiterten Erfahrungen auf diesem 
(sebiet eingeschränkt werden. Die alimentäre Hyperglykämiekurve 
nach 100 g Traubenzucker wurde in 23 hierhergehörigen Fällen unter- 
sucht. Von einer normalen Blutzuckerkurve verlangen wir, daß sie 
maximal um 100% des Nüchternwertes ansteigt, daß dieses Maximum 
gewöhnlich nach !/, Stunde, seltener nach 1 Stunde erreicht ist, und daß 
nach spätestens 2 Stunden die Kurve wieder ganz zum Ausgangswert 
zurückgekehrt ist oder diesen nur um 2—3 Zentigramm übersteigt. In 
diesem Sinne normal war der Ausfall der Blutzuckerkurve nur in 9 Fällen 
(39%), und zwar teils in klassischen Fällen von Glycosuria innocens, 
teils in Übergangsfällen. In 2 Fällen wurde diese Untersuchungsmethode 
mehrfach in Abständen von Monaten oder Jahren vorgenommen mit 
dem Ergebnis, daß die Kurve zeitweise normal, zeitweise nach der 
diabetischen Seite hin verschoben war. Andererseits fanden wir den 
letzteren Kurventyp auch bei Fällen, die sich sonst völlig dem Rahmen 
der Glycosuria innocens einpaßten, so daß wir auf Grund dieser erweiterten 
Erfahrungen in völliger Übereinstimmung mit Salomon unser früheres 
Urteil über den differentialdiagnostischen Wert der alimentären Hyper- 
glykämiekurve dahin abändern müssen, daß normaler Ablauf der Kurve 
unbedingt für, leicht pathologischer nicht unbedingt gegen eine Glycosuria 
innocens spricht. Es soll aber daran erinnert werden, daß kürzlich 
Niemeyer (Zeitschr. f. klin. Med. 1924, Nr. 98) bei mehreren Fällen von 





Zur Diagnose und Prognose der Glycosuria innocens. 671 


ganz leichtem Diabetes ebenfalls eine normale Blutzuckerkurve beob- 
achtet hat und daher die Ansicht äußert, daß auch diese den Diabetes 
nicht mit Sicherheit ausschließt. 

Zur Erklärung der pathologischen Blutzuckerkurve bei reinen 
Innocensfällen möchten wir die von Eisner und Forster (Berlin. klin. 
Wochenschr. 1921, Nr. 30) und von Rosenberg (Klin. Wochenschr. 1923, 
Nr. 20) wahrscheinlich gemachte Annahme heranziehen, daß beim 
Zustandekommen der alimentären Hyperglykämie ein Reizzustand eine 
Rolle spielt, der beim Eintritt von Kohlenhydraten (bei manchen 
Diabetikern auch von Eiweiß) ins Duodenum reflektorisch auf die Leber 
ausgeübt wird und sie zur Zuckerausschüttung ins Blut veranlaßt. Der 
‚Reizeffekt aber wird um so größer, je reizbarer das Organ ist. Daher 
findet sich eine abnorm hohe oder lange Hyperglykämie nicht nur bei 
Diabetikern, sondern ebenfalls, wenn auch in geringerem Grade, bei 
Tonussteigerungen des vegetativen Nervensystems, wie sie sich z.B. 
beim Basedow, aber auch bei vielen ‚‚nervösen‘‘ Menschen findet, zu 
denen die Fälle mit Glycosuria innocens vielfach gehören. Um einen 
klareren Einblick in die Funktionen des KH-Stoffwechsels zu gewinnen, 
wäre es daher zweckmäßiger, eine Blutzuckerkurve nach einer KH-Be- 
lastung zu prüfen, die dieses Reizmoment ausschaltet. Diesen For- 
derungen entspricht die Blutzuckerkurve nach intravenöser Dextrose- 
belastung, wie sie besonders in systematischer Weise von Jörgensen und 
Plum (Acta medica scandinavica Bd. 58) durchgeprüft wurde; diese 
Autoren teilen in ihrem Material auch einen Fall von Glycosuria innocens 
mit, der nach peroraler Belastung eine pathologisch erhöhte Blutzucker- 
kurve aufwies, während nach intravenöser Glucoseinjektion der Kurven- 
ablauf normal, d.h. nach 90 Minuten der Nüchternblutzucker wieder 
erreicht war. 

Wir haben die intravenöse Belastung (15 g Dextrose in 40 ccm Wasser) 
bei 7 Diabetikern und 5 Fällen von Glycosuria innocens nachgeprüft und 
gefunden, daß nach 75—80 Minuten der Nüchternblutzucker beim Nor- 
malen und bei 4 von 5 Fällen von harmloser Glykosurie wieder erreicht 
war, während die 7 Diabetiker, ausnahmslos leichte Fälle mit erheblicher 
Toleranz, nach 75 und meist auch noch nach 100 Minuten eine Erhöhung 
gegenüber dem Nüchternniveau aufwiesen. Von den 4 wie Normale 
reagierenden Glykosurikern wurden 3 gleichzeitig auch mit peroraler 
Belastung geprüft, wobei 1 Fall eine normale, 2 aber eine pathologische 
Kurve zeigten. Wenn also nach diesem Ergebnis die intravenöse 
Belastung brauchbarere Resultate für die Differentialdiagnose zwischen 
Glykosurie und echtem Diabetes gibt als die orale, so scheint sie doch 
nicht von absolut entscheidender differentialdiagnostischer Bedeutung 
zu sein, da sie in einem Falle, den wir seinem ganzen Habitus nach als 
harmlose Glykosurie ansprechen müssen (normaler Blutzucker, keine 

Z. f. klin. Medizin. Bd. 100. 44 


072 F. Umber und M. Rosenberg: 


diabetischen Beschwerden, zufällige Feststellung der Glykosurie bei 
Krankenhausaufnahme wegen Ulcus duodeni, Zuckerausscheidung 
zwischen 0 und 14g bei normaler Kost), nach 75, ja selbst nach 
100 Minuten noch einen erhöhten Blutzucker von 0,146 bzw. 0,142 ergab 
(Nüchternblutzucker 0,117%); auch nach Belastung per os war übrigens 
in diesem Falle die Blutzuckerkurve pathologisch. 

Wir möchten demnach für die Unterscheidung einer harmlosen 
Glykosurie von einem echten Diabetes die Blutzuckerkurve nach intra- 
venöser Dextroseinjektion empfehlen, aber doch raten, sie nur im Rahmen 
aller bisher gebräuchlichen Untersuchungsmethoden anzustellen und zu 
verwerten. Zu diesen ist neuerdings noch das Insulin hinzugekommen, 
das zuerst von Woodyatt für diesen differentialdiagnostischen Zweck 
empfohlen wurde. Wir konnten bisher in 4 Fällen von Glycosuria 
innocens feststellen, daß Insulindosen, die bei Diabetischen durchaus 
genügt hätten, eine bestehende Glykosurie zum Schwinden zu bringen, 
keinen oder nur einen äußerst geringen Einfluß auf die Zuckeraus- 
scheidung hatten!). Wieweit sich aus einer solchen mangelhaften Insulin- 
wirkung bindende Schlüsse auf den Charakter der Glykosurie ziehen 
lassen, muß natürlich zunächst noch dahingestellt bleiben, immerhin 
ermutigen aber unsere bisherigen Ergebnisse zu weiteren Versuchen in 
dieser Richtung. 

Wir müssen somit feststellen, daß wir augenblicklich noch über kein 
einziges sicheres Mittel verfügen, das uns allein gestattet, mit Sicherheit 
einen Diabetes auszuschließen und die dauernde Harmlosigkeit der Zucker- 
ausscheidung sicherzustellen. Auch die Gesamtheit aller Untersuchungs- 
methoden läßt in der Mehrzahl der in Frage stehenden Fälle für den 
Augenblick einen Diabetes ausschließen, aber es gibt doch, wie unser 
Material zeigt, Fälle, die gewissermaßen einen Übergang zwischen 
Glykosurie und Diabetes darstellen und eine gewisse Re- oder Progredienz 
der Stoffwechselstörung erkennen lassen. Wir sind daher der Ansicht, 
daß die Prognose einer Glycosuria innocens im Einzelfall nur mit 
äußerster Vorsicht gestellt werden darf. Eine einmalige Beobachtung, 
die immer eine klinische, keine ambulante sein sollte, läßt bei sicherer 
Diagnose einer zurzeit harmlosen Glykosurie einen bindenden Schluß 
über den völlig unschuldigen Charakter der Glykosurie nur dann zu, 
wenn diese sicher schon mehrere Jahre besteht. Ist die Zuckeraus- 
scheidung aber erst kurz vor der Beobachtung bekannt geworden, so 
sollte eine mehrfach wiederholte Beobachtung, in Abständen, die von 
Fall zu Fall zu variieren wären, stattfinden und nicht vor Ablauf von 
3 Jahren der Glykosurie das Prädikat ‚innocens‘“ erteilt werden. 


!) Siehe Fall12 sowie Umber- Rosenberg, Dtsch. med. Wochenschr. 1924, 
Nr 





Zur Diagnose und Prognose der Glycosuria innocens. 673 


Aus dieser vorsichtigen Prognosenstellung ergibt sich eine gewisse 
Zurückhaltung in den diätetischen Vorschriften, die solchen Patienten zu 
erteilen sind. Zucker und Süßigkeit pflegen wir auch denjenigen Fällen 
zu verbieten, die wir als sichere Glycosuria innocens betrachten, und bei 
den noch fraglichen oder Übergangsfällen empfehlen wir außerdem, 
Mehl und Teigwaren nur 2—3mal wöchentlich in kleineren Mengen 
zu genießen und auch in der Zufuhr von Kartoffeln und Brot ein gewisses 
Maß einzuhalten. Andererseits dürfen bei der Schwangerschaftselyko- 
surie wegen der Acidose- und Komagefahr die KH nicht zu stark be- 
schränkt werden. 

Zum Schluß noch einige Worte über die Pathogenese der Glycosuria 
innocens. Eine renale Ätiologie könnte, wenigstens als alleinige Ursache 
der Zuckerausscheidung, theoretisch nur für diejenigen Glykosurien 
vorausgesetzt werden, die mit normalem oder subnormalem Blutzucker 
einhergehen. Die ‚renale‘“ Auffassung solcher Fälle findet eine gewisse 
Stütze in der spontanen oder alimentären Glykosurie, die im Anschluß 
an tubuläre Nierenerkrankungen (Nephrosen des Menschen, experi- 
mentelle Uran-, Chrom- usw. Vergiftungen) beobachtet worden sind. 
Eine ‚„renale‘“ Glykosurie ist daher in denjenigen Fällen am wahr- 
scheinlichsten, bei denen sich die Zuckerausscheidung an eine nephro- 
tische Schädigung anschließt. 

Anderseits muß aber hervorgehoben werden, daß auch in diesen 
Fällen die Vorstellung, daß der Blutzucker einfach durch eine irgendwie 
undichte Niere hindurchtließt, als zu primitiv bezeichnet werden muß, 
da intravenös injizierter Zucker hier keine stärkere Glykosurie hervorruft 
als bei gesunder Niere und eine ausschließliche Abhängigkeit des Harn- 
zuckers vom Blutzucker überhaupt als sehr unwahrscheinlich angesehen 
werden muß!). So konnten wir kürzlich einen Fall von subakuter 
Pankreasnekrose beobachten, bei dem zuerst bei normalem Nüchtern- 
blutzucker nur zeitweilige Glykosurien bestanden, an die sich erst nach 
Monaten ein echter Diabetes anschloß; auch von Noorden hat ja mehrfach 
hervorgehoben, daß beim beginnenden Diabetes der Blutzucker trotz 
deutlicher Glykosurie normal sein kann oder wenigstens nur unbedeutend 
erhöht zu sein braucht. Ferner muß die Deutung der Glykosurie als 
isolierte vermehrte Nierendurchlässigkeit für Zucker um so zweifelhafter 
sein, als gerade dem experimentellen Analogon, auf das bei der Ent- 
deckung des renalen Diabetes immer zur Erklärung der Zuckeraus- 
scheidung hingewiesen wurde, der Phlorrhizinglykosurie, wahrscheinlich 
keine ausschließliche Nierenwirkung zugrunde liegt, sondern sich diese, 
wie man auf Grund neuerer Feststellungen annehmen muß (vgl. hierzu 


1) Siehe Rosenberg, Blutzuckerstudien III. Arch. f. exp. Pathol. u. Phar- 
makol. 99. 1923. 
44* 


674 F.Umber u. M.Rosenberg: Zur Diagnose u. Prognose der Glycosuria innocens. 


Rosenberg, Klin. Wochenschr. 1923, Nr. 8), mit einer Leberreizung und 
vermehrten Zuckerbildung kombiniert. Von KRosenfeld sind die Er- 
scheinungen des ‚Diabetes innocens“ auf eine erhöhte Nebennieren- 
tätigkeit bezogen worden (,‚suprarenaler‘‘ Diabetes). Diese Hypothese 
würde sich wenigstens zwanglos mit der Tatsache vereinen lassen, daß. 
manche dieser Fälle eine Hyperglykämie aufweisen, während wiederum die 
hypoglykämischen Fälle bei diesem Erklärungsversuch nicht zu ihrem 
Recht kämen. von Noorden schließlich neigt zu der Annahme, daß es 
sich beim Diabetes innocens um einen im Anfangsstadium, gewisser- 
maßen mit Defekt, geheilten Diabetes handelt. Diese Auffassung könnte 
zwar alle verschiedenen Varianten der Glycosuria innocens durch ver- 
schiedene Schwere des Defektes erklären, doch sind wir sonst in der 
Physiologie im allgemeinen gewöhnt, daß Funktionsstörungen, die nach 
abgeheilten Erkrankungen zurückgeblieben sind, sich allmählich durch 
Kompensationserscheinungen anderer, in funktioneller Korrelation zu 
dem erkrankten Organ stehender Organe wieder ausgleichen, so daß 
auch diese Erklärung nicht völlig befriedigt, zumal die Glykosurie 
gegenüber Insulin refraktär ist. 

Wir möchten es überhaupt für zweifelhaft halten, ob alle Fälle von 
Glycosuria innocens einheitlicher Pathogenese sind. Bei den Schwanger- 
schaftsfällen liegt es natürlich am nächsten, an Störungen der inneren 
Sekretion (Ovarien, Hypophyse) zu denken, die fast in jedem Falle eine 
erhöhte Neigung zur Zuckerausscheidung bei besonderer Belastung oder 
nach kleinen Phlorrhizindosen hervorrufen, so daß die manifeste 
Schwangerschaftsglykosurie nur als eine Steigerung dieser an sich 
physiologischen Veränderung der Inkretion angesprochen werden darf. 
Vielleicht trifft eine ähnliche Erklärung auch für die übrigen Fälle zu, 
die ja häufig sehr ‚‚nervöse‘‘ Menschen sind, wenn auch die offenbar 
leichten Funktionsstörungen bei ihnen unter Umständen andere Drüsen 
(Thyreoidea, Nebennieren) betreffen mögen. Jedenfalls scheint uns, 
schon auf Grund unserer Insulinversuche, die eine Tatsache festzustehen, 
daß die reinen Fälle von Glycosuria innocens extrainsuläre Glykosurien 
sind. Im Gegensatz zum echten Diabetes beruhen sie nicht auf einer Minder- 
leistung des Pankreas, sondern vielleicht auf einer gesteigerten extra- 
insulären Glykopoese. Natürlich können länger dauernde Störungen 
im Blutdrüsensystem schließlich jeden Partner in Mitleidenschaft ziehen, 
und es wäre daher verständlich, wenn in manchen Fällen schließlich 
auch leichte funktionelle Ausfallserscheinungen im Pankreas entständen, 
die die Misch- und Übergangsfälle zwischen Glycosuria innocens und 
echtem Diabetes erklären könnten, 





(Aus dem Pharmakologischen Institut Göttingen.) 


Bemerkung zur Eisentherapie. 


Von 
Wolfgang Heubner. 


(Eingegangen am 10. Juni 1924.) 


Die Arbeit von Fischler und Paul!) gibt mir Anlaß, auf eine Reihe 
von Versuchen zurückzukommen, die im Sommer 1914 Herr Dr. Matsu- 
mura im Göttinger pharmakologischen Institut ausgeführt hat; infolge 
‚des Kriegsausbruchs verließ er uns mit den Protokollen dieser Versuche, 
die ich deshalb nicht publizieren konnte. Da sie jedoch Fragen berühren, 
für die Fischler und Paul das Interesse wieder erweckt haben, möchte 
ich aus dem Gedächtnis das Wesentliche wiedergeben. 

Trotz erfolgter Einigung über den therapeutischen Nutzen des Eisens 
in jeder oder mindestens in vielfacher Form bleibt die theoretische Frage 
von Interesse, in welcher Form oder in welchen Formen das Eisen aus 
dem Darmlumen in die Körpersäfte übergeht. Befunde an histologischen 
Präparaten sagen darüber nicht viel aus, da während der Präparation 
das Eisen umgewandelt werden kann. Sicher ist nach den Beobachtungen 
von Gaule?) und Abderhalden?), daß es in den Chylusgefäßen und in 
Leukocyten angetroffen wird, was am leichtesten bei einer Resorption 
kolloid-disperser Teilchen, etwa von Ferrihydroxyd, verstanden werden 
kann. Doch ist dies nicht bewiesen und braucht auch nicht die einzige 
Form der Resorption darzustellen. 

Wir haben an Hunden nach eintägigem Hunger ein Stück Darm- 
schlinge, meist Duodenum, unterbunden und in das Lumen eine bekannte 
Menge Eisen injiziert; nach einem halben bis ganzen Tage wurden die 
Tiere getötet, die abgebundene Schlinge frisch gewogen, nach Neumann 
verascht und auf Eisen analysiert. Eine etwa gleichgroße Nachbar- 
schlinge diente zur Abschätzung des im Gewebe primär vorhandenen 
Eisens. — Den operativen Eingriff vertrugen die Tiere sehr gut; sie 
zeigten nach Erwachen aus der Narkose keine besonderen Zeichen von 
Unbehagen, liefen umher usw. In Kontrollversuchen wurde gefunden, 
daß die Resorption anderer Stoffe, wie z.B. Jodid, aus einer solchen 
abgebundenen Schlinge sehr prompt erfolgte. 

Die Resorption des Eisens war gleich Null. Fast in allen Versuchen 
ergab die Analyse mehr Eisen als injiziert worden war, weil nicht einmal 
soviel verschwand als der primär im Gewebe vorhandenen Eisenmenge 

1) Klin. Med. 99, 447. 1924. . 


®) Dtsch. med. Wochenschr. 1896, $. 289, 373. 
3) Zeitschr. f. Biol. 39, 113. 1899. 


676 W. Heubner: Bemerkung zur Fisentherapie. 


entsprach. Dies galt für kolloidales Eisenhydroxyd, auch Lösungen 
von Eisenzucker, für Ferratin und Ferrosulfat. Das kolloidal injizierte 
Eisenhydroxyd lag bei der Eröffnung der Schlinge ausgeflockt der 
Schleimhautoberfläche auf. Nach Injektion von Ferrosulfat fiel es auf, 
daß die Schlinge bei der Autopsie (viele Stunden nach der Injektion) 
prall mit Flüssigkeit gefüllt war; dies legte den Gedanken nahe, daß die 
bekannte resorptionswidrige Eigenschaft des Sulfations der Eisen- 
resorption hinderlich sein könnte. Daher wurde die Injektion von Ferro- 
sulfat mit der gleichzeitigen Injektion einer genau äquivalenten Menge 
von Bariumchlorid kombiniert, damit sich im Darmlumen Bariumsulfat 
und Ferrochlorid bilden könne. In der Tat trat weder eine Spur von 
Bariumwirkung, noch eine Flüssigkeitsansammlung in der Schlinge ein 
und zugleich blieb das unser einziger Versuch, in dem wir eine — wenn 
auch noch immer geringe — deutliche Abnahme des Eisengehaltes in der 
injizierten Schlinge nachweisen konnten. Ohne einmalige experimentelle 
Befunde überschätzen zu wollen, möchte ich in diesem Ergebnis einen 
Hinweis darauf sehen, daß vielleicht Ferro-ionen auch eine resorptions- 
fähige Form des Eisens darstellen. Dies ist ja a priori nicht unwahr- 
scheinlich: Ferrohydroxyd steht chemisch nicht allzu fern von den 
alkalischen Erden, ist stark basisch, besitzt eine gewisse Löslichkeit und 
liefert fast neutrale Salze, die Eiweiß erst in sehr hohen Konzentrationen 
fällen — alles in schärfstem Kontrast zu Ferrihydroxyd. Ich bin daher 
mit Fischler und Paul nicht ganz einverstanden, daß sie die biologische 
Bedeutung der Ferro- und Ferriionen ziemlich gleichwertig behandeln; 
ich halte im tierischen Organismus die Existenz von Ferroionen in einer 
noch in Betracht kommenden Konzentration für denkbar, die von 
Ferriionen nicht!). 

Wenn es zutrifft, daß Ferrochlorid eine günstige Form für die 
Resorption des Eisens darbietet, so wäre es wohl verdienstlich, den Vor- 
schlag von Frschler und Paul?) ernstlich zu verfolgen und dem Jodeisen- 
sirup einen Sirupus ferri chlorati an die Seite zu setzen; man hätte dann 
ein haltbares Präparat in Lösung mit besten Resorptionsbedingungen 
ohne die Beigabe von Jod, das ja besondere Indikationen und besondere 
Aufmerksamkeit erfordert. Ob es technisch möglich ist, bei Ersatz 
des Jodwasserstoffs durch Salzsäure ein ebensolches, einigermaßen 
stabiles Produkt zu erhalten, wie es der Sirupus ferri jodati darstellt, 
wird Herr Paul besser beurteilen können als ich. 





Nachtrag bei der Korrektur: Durch eine freundliche mündliche Mitteilung 
des Herrn Geh. Rat Paul erfuhr ich, daß ihm kürzlich eine Stelle aus Wöhlers 
Briefen bekanntgeworden sei, in der ebenfalls die Bevorzugung des Oxydul- 
eisens vor dem Oxydeisen in der Therapie empfohlen wird. 

!) Vgl. W. Heubner, Therapeut. Monatsh. 1912, S. 44. 

?) 2.2.0. 8.466. 





(Aus der Medizinischen Universitätsklinik Frankfurt a. M. — Direktor: Prof. 
G. von Bergmann.) 


Klinisch-experimentelle Untersuchungen zum Krankheitsbilde 
| der arteriellen Hypertension. 


I. Teil. 
Über das Herzklopfen bei Kranken mit arterieller Hypertension. 


Von 
Privatdozent Dr. Friedrich Kauffmann, 
Assistenzarzt-der Klinik. 


Mit 2 Textabbildungen. 
(Eingegangen am 20. Juni 1924.) 


Es ist immer wieder auffallend, wie häufig es gerade Kranke mit 
konstanter arterieller Hypertension sind, die ohne Beschwerden, speziell 
von seiten ihrer Kreislauforgane leben. Man kann geradezu sagen, daß 
ein stabiler Hochdruck verhältnismäßig häufig ohne subjektive Symptome 
verläuft, wenigstens so lange, als das Herz seine Schuldigkeit als Motor 
des Kreislaufes tut. 

Um so zahlreicher und lebhafter dagegen pflegen die Beschwerden 
der Kranken mit labilen Blutdruckverhältnissen zu sein. Selten fehlen bei 
ihnen alle die mannigfachen Beschwerden, über deren Häufigkeit an 
anderer Stelle Angaben gemacht wurden!), und fast regelmäßig sind die- 
jenigen vorhanden, die auf den Kreislauf hindeuten: Herzklopfen, Be- 
klemmungs- und Angstgefühl; nicht auftretend im Anschluß an körper- 
liche Arbeit, sondern schon in der Ruhe bestehen sie und werden daher 
um so quälender empfunden. Ja, manche Kranke geben sogar an, daß 
körperliche Betätigung Linderung der Beschwerden von Seiten der 
Kreislauforgane bringt (s. später). 

Wenn man auch, soviel ich sehe, auf diesen Unterschied: stabiler Hoch- 
druck — wenig Beschwerden, labiler Hochdruck — viel Beschwerden, der 
immer wieder auffällt, wenn er auch nicht ohne Einschränkung gilt, 
noch nicht genügend aufmerksam geworden zu sein scheint, so hat man 
doch aus der Feststellung, daß hoher Blutdruck oft ohne Beschwerden 
einhergehen kann, die Berechtigung zu der Annahme herleiten zu dürfen 
geglaubt, daß es nicht die arterielle Drucksteigerung sei, welche als Ur- 
sache der Beschwerden in Frage kommt, da in diesem Falle die Kranken 
mit permanentem Hochdruck die meisten Beschwerden haben müßten. 


1) Vgl. Münch. med. Wochenschr. 1924, Nr. 36, S. 1230. 


678 F. Kauffmann : Klinisch-experimentelle Untersuchungen 


Ich möchte glauben, daß man mit größerem Recht auf Grund der zahl- 
reichen und heftigen Beschwerden beim labilen Hochdruck die Frage 
aufwerfen darf, ob nicht wenigstens in manchen, später näher zu charak- 
terisierenden Fällen die Schwankungen des Blutdrucks und die hiermit 
verknüpften Tätigkeitsänderungen bestimmter Kreislauforgane, besonders 
des Herzens, es sind, welche zu den: unangenehmen Empfindungen 
Veranlassung geben. 

Man wird nämlich Pal nicht zustimmen können, wenn er sagt, daß 
subjektive Beschwerden wie Herzklopfen und Kurzatmigkeit erst in den 
vorgeschritteneren Stadien auftreten. Bei Kranken mit labiler Blutdruck- 
steigerung, und bei vielen anderen Hypertonikern auch, sind diese Sym- 
ptome nicht das Zeichen erlahmender Kraft eines hypertrophischen 
Herzens, sondern bei völlig suffizientem Kreislauf stellen sich, anscheinend 
sogar in frühesten Stadien, die genannten Beschwerden ein. @erade die 
labile, d. h. für viele Fälle sicher die beginnende Hypertension, geht ganz 
besonders mit diesen subjektiven Symptomen: Herzklopfen, Oppressions- 
und Angstgefühl einher. 


1. Über Größe und zeitlichen Ablauf der Blutdruckschwankungen. 


Im allgemeinen macht man sich wohl über Größe und zeitlichen Ab- 
lauf der Blutdruckschwankungen bei den Kranken mit labiler Hyper- 
tension keinen richtigen Begriff. Im Hinblick auf das heute übliche Ver- 
fahren zur Beurteilung der Blutdruckverhältnisse erscheint es notwendig, 
darauf hinzuweisen, daß man durch 3 oder 4malige Messung des Blut- 
drucks im Verlaufe eines Tages, wie dies für die Gewinnung fortlaufender 
Blutdruckkurven zu geschehen pflegt, gar nicht die richtige Vorstellung 
davon erhält, wie außerordentlich rasch sich große Blutdruckschwankungen 
bei manchen Kranken mit labilem Hochdruck, ohne daß eine äußere 
Ursache hierfür erkennbar wäre, vollziehen. Man bekommt vielmehr 
erst dann die richtige Anschauung, wenn man z. B. den Blutdruck etwa 
1/, Stunde lang in Abständen von 1 Minute bestimmt. Die nebenstehen- 
den Abbildungen geben auf diese Weise gewonnene Kurven des systo- 
lischen Blutdrucks wieder (s. Abb. 1 und 2). 

Wir sehen ein fortwährendes Auf und Nieder und ganz beträchtliche 
Differenzen zwischen den Werten zweier Messungen. Dabei muß man be- 
denken, daß unsere Meßmethoden unvollkommen sind und daß geeig- 
netere Untersuchungsmethoden als die Messung nach Riva-Rocci wahr- 
scheinlich noch zahlreichere Gipfel und Täler erkennen lassen würde. 
Die beiden Abbildungen stellen die imponierendsten Beispiele dar, welche 
am unbeeinflußten Patienten gewonnen wurden. In anderen Fällen 
fanden sich geringere Schwankungen, Differenzen von 30 bis 35 mm 
Quecksilber zwischen 2 Messungen liegen schon an der oberen Grenze 
der bei diesen Untersuchungen gewonnenen Resultate. 





zum Krankheitsbilde der arteriellen Hypertension. 679 


Im Capillarsystem sind große, rasch ablaufende Druckschwankungen aus den 
Untersuchungen Landerers bekannt. Landerer schreibt sogar: Ich hatte den Ein- 
druck, daß die Labilität des arteriellen Druckes von der des Capillardruckes noch 
übertroffen wird. Bei einer vasomotorisch leicht erregbaren Patientin fand er 
während einer Untersuchung innerhalb von 5 Min. Werte von 15, 17, 30, 17, bei 
einem männlichen Kranken stieg der Capillardruck von 11 auf 19. — Ich möchte 
glauben, daß Landerer recht hat, wenn er annimmt, daß die Schwankungen des 
Capillardrucks mit dem Kontraktionszustand der Arteriolen zusammenhängen, 
die wie eine Stauwehr Füllung und Druck in den Haargefäßen regulieren. Die 


E: SITE UEIEnrEN 
Re N Ar 
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a Ban au ara ug 


Minuten 5 70 15 20 25 J0 
Abb. 1. 





Existenz selbständiger Kontraktionsvorgänge an den Capillaren, speziell solcher, 
denen man einen fortbewegenden Einfluß auf den Inhalt zuschreiben könnte, 
scheint mir noch nicht genügend bewiesen zu sein. Die heute noch herrschenden 
gegensätzlichen Anschauungen kommen in den beiden kürzlich erschienenen 
Abhandlungen von Marchand und Ebbecke zum Ausdruck. Den von Landerer 
festgestellten Schwankungen des Capillardrucks liegen möglicherweise die gleichen 
wechselvollen Zustandsänderungen der Arteriolen zugrunde wie den hier mit- 
geteilten Druckschwankungen im arteriellen System. 


780 









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Blutdruck 
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Minuten 5 70 15 20 25 30 
Abb. 2. 


Diese Verhältnisse, für die in manchen Fällen der Begriff der ‚‚vaso- 


motorischen Ataxwve‘ (Schrumpf) Anwendung finden könnte, muß man 


sich vor Augen halten, um sich klar zu machen, wie sehr bei manchen 
Patienten die Kreislaufverhältnisse von Minute zu Minute wechseln 
können und mit wie gewaltigen, rasch ablaufenden Blutdruckschwan- 
kungen bei Kranken mit labilen Blutdruckverhältnissen zu rechnen ist. 
Man wird sich zwar ohne weiteres vorstellen können, daß unter solchen 
wechselnden Bedingungen der Herzmuskel ganz besonders beansprucht 
wird und leicht ermüdet, daß der Herzmuskel schließlich auch frühzeitig 
an der „Grenze seiner Leistungsfähigkeit‘‘ angelangt ist, daß das Herz 


680 F. Kauffmann: Klinisch-experimentelle Untersuchungen 


also unter Bedingungen arbeitet, welche als die wichtigste Ursache für 
das Auftreten des Herzklopfens angesehen werden. (Krehl). Bei vielen 
Kranken mit labiler Hypertension aber findet sich das Herzklopfen im 
Ruhezustand auch dann, wenn das Herz noch voll leistungsfähig ist. 
Das Herzklopfen wird man hier nicht ohne weiteres als ein Zeichen ver- 
sagender Herzkraft auffassen können. Es fragt sich vielmehr, ob und wie 
weit etwa als Quelle der Beschwerden und besonders des Herzklopfens 
die wechselnden Kreislaufverhältnisse, die in den obigen Kurven zum 
Ausdruck kommen, in Betracht zu ziehen sind. 


2. Über den zeitlichen Ablauf der Herzrevolution beim H erzklopfen. 


So alltäglich das Gefühl des Herzklopfens auch für die meisten Ge- 
sunden ist, so unklar ist heute noch die Pathogenese dieses klinisch so 
wichtigen Symptoms. Krehl sagt: sobald wir auch nur den Versuch 
machen, einige Schritte in das Verständnis einzudringen, sind unsere 
Kenntnisse recht gering. | 


Über den Mechanismus des H erzklopfens ist wenig bekannt. Bamberger sprach 
von der „„Hyperkinese‘‘ des Herzens, wies aber andererseits, wie auch spätere Autoren, 
immer wieder darauf hin, daß zwischen objektiver Verstärkung der Herztätigkeit 
und subjektivem Gefühl des Herzklopfens kein zwangsmäßiger Zusammenhang 
besteht. Es gibt Kranke, die über letzteres klagen, ohne daß bei der objektiven 
Untersuchung eine vermehrte Herztätigkeit wahrzunehmen wäre. 

Nach @ermain See, welcher in seiner Klinik der Herzkrankheiten dem Herz- 
klopfen ein kleines eigenes Kapitel gewidmet hat, äußert sich dasselbe haupt- 
sächlich durch häufige, manchmal auch kürzere Herzschläge, er beschuldigt ferner 
Herzkontraktionen, die intensiver zu sein scheinen und erwähnt das häufige Zu- 
sammentreffen mit Arhythmien. Man weiß ferner, daß es nicht nur durch beschleunigte 
Herztätigkeit ausgelöst wird, sondern auch durch verstärkte Kontraktionen, z. B. bei 
Extrasystolen, bei welchen in der Mehrzahl der Fälle der Schlag nach der kompen- 
satorischen Pause als „‚klopfend“ empfunden zu werden pflegt. Ebenso kann die 
langsame Herztätigkeit während der exspiratorischen Phase der respiratorischen 
Arhythmie mit dem Gefühl des Herzklopfens einhergehen. 

Was man unter „Verstärkung‘‘ der Herzaktion zu verstehen habe, geht aus 
den Ausführungen der Autoren nicht hervor. A priori könnten verschiedene Ab- 
weichungen von der normalen Tätigkeit des Herzens bei der Beobachtung am 
lebenden Menschen als Verstärkung derselben imponieren. In vielen Fällen ist ein 
„starker Herzstoß‘‘ mehr von der Größe des Herzens als von seiner Funktion ab- 
hängig und auch bei sehr großen Herzen kann bekanntlich das Gefühl des Herz- 
klopfens fehlen. f 

Katsch hat aus der v. Bergmannschen Klinik kürzlich über systolisches und 
diastolisches Herzklopfen berichtet, je nachdem, ob die abnorme, als Herzklopfen 
empfundene Sensation in die systolische oder diastolische Phase der Herzrevolution 
verlegt wird. 


Krehl hat es als unsere nächste Aufgabe bezeichnet, ‚für die ätiologisch 
verschiedenen Formen von Palpitationen das Verhalten der Herzre- 


volution eingehend zu untersuchen.‘ Einen Versuch dessen stellen die 
folgenden Ausführungen dar. 








ED ZZ 


zum Krankheitsbilde der arteriellen Hypertension. 681 


a) Über die Kontraktionsform des Herzens beim Herzklopfen des Nervösen. 


An Hand kardiographischer Untersuchungen hat Friedrich v. 
Müller vor annähernd 30 Jahren die ‚Verstärkung‘ der Herzaktion 
bei psychischen Erregungen, die mit Herzklopfen einhergingen, zu ana- 
lysieren versucht und einen unter nervösen Einflüssen veränderten Kon- 
traktionsmodus der Ventrikel und zwar eine Verkürzung der Dauer der 
ganzen Systole angenommen. 

Diese Angabe, die sich auf Untersuchungen mit einem trägen Apparat 
gründet und anscheinend später nie eine Nachprüfung, besonders nicht 
mit den neuen Methoden, welche die Dauer der einzelnen Phasen der 
Herzrevolution sehr viel genauer verzeichnen und bestimmen lassen, 


' erfahren hat, kann ich auf Grund von Untersuchungen mit einem nach 


den Frankschen Prinzipien gebauten Kardiographen zunächst be- 
stätigen, und dahin erweitern, daß beim Herzklopfen des Nervösen die 
Verkürzung hauptsächlich die Austreibungszeit betrifft, während die 
Anspannungszeit in vielen Fällen gar nicht, in anderen nur wenig ver- 
ändert ist. 

Da die diesbezüglichen Ergebnisse an anderer Stelle ausführlicher 
dargestellt werden sollen, will ich mich hier mit der Beifügung eines 
Beispiels von Herzklopfen bei einem nervösen Menschen begnügen. Es 
soll zum Vergleich mit später zu schildernden Befunden dienen. 


Es handelt sich um einen 21 jährigen Pat. M. E., der wegen einer leichten Cysti- 
tis eingeliefert wurde. Fieber bestand nicht. Der Kranke klagte über heftiges Herz- 
klopfen. Man fand lebhaftes Pulsieren der Carotiden. Bei einer Pulsfrequenz von 
etwa 70 Schlägen wurde die Herzgegend mit jedem Herzschlag kräftig erschüttert. 
Das Herz hatte normale Größe. 

Die zu dieser Zeit aus dem Kardiogramm abgelesenen Werte für die einzelnen 
Phasen der Herzrevolution sind in Tab. I wiedergegeben. Hier finden sich die 
Werte für die einzelnen Phasen von 6 aufeinanderfolgenden Pulsschlägen verzeich- 
net. Die hieraus errechneten Mittelwerte betragen für die Diastole 52,5/100 Sek.., 
für die Anspannungszeit 6,1/100 Sek., für die Austreibungszeit 26,4/100 Sek. 
Die mittlere Systolendauer beträgt demnach 32,5/100 Sek. bei einer Pulsfrequenz 
von 71 Schlägen in der Minute. Der Blutdruck betrug 142/70 mm Quecksilber. 

3 Tage später bestand das subjektive Gefühl des Herzklopfens nicht mehr. 
Objektiv fehlten Erschütterung der Herzgegend wie Klopfen der Carotiden, die 
Pulsfrequenz war vermindert. Die zweite Serie der Tab. I gibt die jetzt gewonnenen 


"Werte. Die Diastolendauer beträgt 65,8/100 Sek., die Anspannungszeit 6,0/100 Sek., 


die Austreibungszeit 31,5/100 Sek., die Systole folglich 37,5/100 Sek. Pulsfrequenz 
57 Schläge. Blutdruck 144/68 mm Quecksilber. 


Man erkennt ohne weiteres die Verkürzung der Systole, die z. Zt. des 
Herzklopfens gegenüber dem beschwerdefreien Zustand 13,3% beträgt 
und sieht weiter, daß hauptsächlich die Austreibungszeit von derselben 
betroffen ist. Ihre Verkürzung beträgt 16,2%, während die Dauer der 
Anspannungszeit während des Herzklopfens, wohl der bei erhöhter Fre- 
quenz verminderten Ventrikelfüllung entsprechend, eher ein wenig ver- 


682 F. Kauffmann: Klinisch-experimentelle Untersuchungen 


























































Tabelle 1. 
ERREGER a u nn. 
= E <, E 3 E | 
2 |8|c-a lab 'p—c|E3| 3 Ö = Mittelwerte 
a |& as|2|8| 5 
& al ea ee 
12. 6.1.|48,9 | 6,5 [25,2 80,5 131,51 74.1 ee 52,5 
= |2.151,9 | 6,4 [26,4| 84,8 132,8 Eh a 6,1 | 
=,|3.|53,9| 5,6 [26,2] 85,4 |31,8 rare 26,4 N 
= |I4.| 52,2 | 5,4 127,4 | 84,7 132,8 Pulsperiodendauer 84,8 
= 15. 85,6 32,8 Systolendauer. . 32,5 
= |e. 88,0 132,9\ 68.11 Pulsfrequenz . . 71 Schlägei.d.M. 
15. 6. 1.1 66,5 | 5,9 [31,2)103,4|37 1 ee, 65.8 
_ 8 2.\ 66,1 5,7 |31,7[103.4|37 4 RT 1.5 6.0 
'© &|3.| 61,3 | 6,3 132,1/100,0138,4 160,0 1144/68|b—c. . . . . . 315 
22 |4.63,5| 6,2 |31,0/100,6|37.2 Pulsperiodendauer 103,4 
= 5 |5.| 71,7 6,1 [31,5 1109,51 37,6 154,7 Systolendauer. . 37,5 
HB Pulsfrequenz . . 57 Schlägei.d.M. 














Fall Ebel, 21 Jahre alt. 12. u. 15. 6. 23. 
Veränderung der einzelnen Phasen der Herzrevolution beim H erzklopfen eines Nervösen. 
Erläuterung: c—a = Diastolendauer; a—b = Anspannungszeit; b—c = Aus- 
treibungszeit. In der ersten während des Herzklopfens gewonnenen Serie sind 6, 
in der zweiten aus beschwerdefreier Zeit sind 5 aufeinanderfolgende Pulsperioden 
analysiert. Die Mittelwerte jeder Serie, welche die Veränderungen der einzelnen 


Phasen am besten zum Ausdruck bringen, sind in der letzten Spalte angegeben. 
Alle Zahlen in Y/,oo Sekunden. 


längert ist. Der Blutdruck war während der beiden Aufnahmen annähernd 
der gleiche. 

Die übrigen mir vorliegenden 7 kardiographischen Kurven, bei Pa- 
tienten mit nervösem Herzklopfen gewonnen, haben zu dem gleichen 
Ergebnis geführt: Verkürzung der Austreibungszeit bei nicht wesentlich ver- 
änderter Anspannungszeit. Eine deutliche Verkürzung der Austreibungs- 
zeit zeigten auch 2 Patienten, bei denen z. Zt. des Herzklopfens eine 
Beschleunigung der Pulsfrequenz fehlte, so daß man demnach annehmen 
darf, die Verkürzung der Systole hänge nicht nur mit der Beschleu- 
nigung der Pulsfrequenz, d. h. nicht nur mit der Verkürzung der ge- 
samten Herzrevolution zusammen. 

Die Annahme Fr. Müllers, während des Herzklopfens beim Ner- 
vösen sei die Dauer der Systole verkürzt, scheint demnach den Ver- 
hältnissen der Wirklichkeit zu entsprechen und man wird wie dieser 
Autor mit der Möglichkeit rechnen dürfen, daß die in der geschilderten 
Weise veränderte Kontraktionsform des Herzmuskels die Ursache für die 
subjektive Empfindung des Herzklopfens abgibt. 











zum Krankheitsbilde der arteriellen Hypertension. 683 


b) Über die Kontraktionsform des Herzens beim H erzklopfen während 
künstlicher Blutdrucksenkung. 


Über die wechselnde Arbeitsform des Herzens beim Herzklopfen 
labiler Hypertoniker und über die Art und Weise, wie sie zustande 
kommt, können vielleicht Beobachtungen einen Schritt weiter führen, 
die man an Kranken mit erhöhtem Blutdruck nach Erschlaffung der 
peripheren Gefäße durch Nitroglycerin erheben kann: gleichzeitig mit der 
reaktiven Senkung des Blutdrucks stellt sich nämlich fast regelmäßig Herz- 
klopfen ein, Druckgefühl auf der Brust, häufig verknüpft mit Angstzuständen. 
Diese Klagen, die gleichen, wie sie von so vielen Kranken mit labiler 
Hypertension schon im Ruhezustand vorgebracht werden, hört man nach 
Darreichung von Nitroglycerin auch von solchen Patienten, die im all- 
gemeinen beschwerdefrei sind. Mit der in der Regel eintretenden Tachy- 
kardie haben diese Beschwerden anscheinend nichts zu tun, da sie auch 
in Fällen, die ausnahmsweise mit Pulsverlangsamung reagieren, nicht 
fehlten. Unter der Voraussetzung, daß eine einigermaßen beträchtliche 
Senkung des Blutdrucks erfolgt und daß sie sich in kurzer Zeit vollzieht, 
pflegten sich regelmäßig, mit nur wenigen Ausnahmen, das Gefühl des 
Herzklopfens und mehr oder weniger auch die oben genannten ver- 
wandten Sensationen in der Herzgegend einzustellen. 

Diese Beobachtung, daß bei plötzlicher Erniedrigung des Blutdrucks 
das Gefühl des Herzklopfens auftreten kann, dürfte durchaus in dem Sinne 
zu verwerten sein, daß an der Möglichkeit, das Herzklopfen der Kranken 
mit labiler Hypertension stehe in ursächlichem Zusammenhang mit den 
Blutdruckschwankungen, etwas Wahres zu sein scheint. Das Herzklopfen 
bei starkem Blutverlust ist wohl in entsprechendem Sinne zu verwerten. 

Durch kardiographische Untersuchungen läßt sich nun die Tätigkeit des Herzens 
und ihre Veränderung nach Nitroglycerin, d.h. also während künstlicher Blut- 
drucksenkung, ohne große Schwierigkeiten analysieren: zunächst wird am un- 
beeinflußten Patienten ein Kardiogramm gewonnen, dann, nach Darreichung 
von Nitroglycerin in bestimmten zeitlichen Zwischenräumen die Aufnahme, evti. 
mehrfach, wiederholt. Durch gleichzeitige Registrierung des arteriellen Blutdrucks 
und seiner Veränderungen ist man dann weiter in der Lage, das Auftreten des 
Herzklopfens und auch die Veränderungen der Herztätigkeit, soweit man aus der 
Phasendauer der Herzrevolution im Kardiogramm über sie Aufschluß bekommt, 
mit dem jeweiligen Blutdruck in Beziehung zu setzen. 

Auf Grund der Ergebnisse zahlreicher kardiographischer Aufnahmen 
läßt sich zeigen, daß nach Darreichung von Nitroglycerin Blutdruck- 
senkung und Herzklopfen und gleichzeitig eine wohlcharakterisierte und in 
allen Fällen gleichartige Veränderung der Herztätigkeit Hand in Hand gehen. 


aa) Methodische Bemerkungen. 
Die einzelnen, in den folgenden Tabellen angegebenen Werte für die ver- 
schiedenen Phasen der Herzrevolution wurden an kardiographischen Kurven be- 
stimmt, deren Analyse durch gleichzeitig erfolgte Registrierung des Carotispulses 


684 F. Kauffmann : Klinisch-experimentelle Untersuchungen 


erleichtert wurde. In der Abtrennung der einzelnen Phasen voneinander und 


ihrer Bezeichnung wurde den Angaben von Weitz gefolgt. Stets wurden mehrere 
aufeinanderfolgende Herzrevolutionen ausgemessen. Die Pulsfrequenz wurde aus 
der absoluten Dauer jeder Herzrevolution errechnet, der Blutdruck wurde von 
einem zweiten Beobachter verfolgt. 

Alle Kardiogramme wurden mit einem nach den Frankschen Prinzipien 
gebauten Sphygmographen der Firma Siemens & Halske aufgenommen. Als Auf- 
nahmevorrichtung diente ein mit Gummimembran überzogener Trichter mit einem 
Durchmesser von 4,1 cm, welcher in der Gegend des Herzspitzenstoßes am sitzenden 
Patienten mittels eines um den Brustkorb geführten kräftigen Gummibandes fixiert 
wurde. Während der Registrierung mußte der Patient den Atem anhalten. 

Bei der Ausmessung der Kurve habe ich die Herzrevolution jedesmal von Be- 
ginn der Diastole bis zu dem Beginn der nächsten Diastole gerechnet und nicht, wie 
bisher allgemein üblich, den Beginn der Anspannungszeit als Beginn der Herz- 
revolution gewählt. Es geschah dies deswegen, weil unter den mechanischen Be- 
dingungen der Herztätigkeit die Ventrikelfüllung eine wesentliche Rolle spielt. 
Da man bekanntlich aus der Dauer der Diastole auf die Füllung des Ventrikels 
schließen kann, insofern lange Diastole — große Füllung, kurze Diasiole — kleine 
Füllung bedeutet, und die Kenntnis der Ventrikelfüllung andererseits für die 
Beurteilung der folgenden Systolendauer und besonders der Dauer ihrer einzelnen 
Phasen wichtig ist, die Beziehungen von Systole zu folgender Diastole dagegen 
unvergleichlich viel lockerere sind, scheint mir ein solches Verfahren für Unter- 
suchungen wie die vorliegenden nur Vorteile zu bieten. Wegen der engen funk- 
tionellen Beziehungen von vorangehender Diastole zu folgender Systole ist also in 
den Tabellen stets in der ersten Rubrik die Diastolendauer, in den folgenden der 
Wert der nächsten Anspannungszeit und Austreibungszeit angegeben. 

Von größerer Genauigkeit würde es freilich sein, wenn auch die Diastole in 
ihren einzelnen Phasen, die Entspannungszeit und die Anfüllungszeit, angegeben 
worden wäre. Da aber auf der Mehrzahl meiner Kardiogramme das Ende der 
II. isometrischen Periode nicht scharf zum Ausdruck kommt, mußte allgemein 
darauf verzichtet werden. Auch Weitz erwähnt, daß sich die Entspannungszeit 
nicht immer mit genügender Schärfe in der Kurve abhebt. 


bb) Beispiele und Ergebnisse. 
Die Werte stammen von einer 28j ährigen Pat. M.S., deren Vater an ‚„‚Asthma“, 
57 Jahre alt, gestorben ist, und welche selbst seit der Jugend viel unter „‚Nerven- 
kopfweh“ zu leiden hat. Während fast 4wöchiger Beobachtung hielt sich der Blut- 
druck, welcher innerhalb der ersten 4 Tage von 180 mm Quecksilber auf 125 mm 


absank, auf Werten im Bereich des Normalen. Die Nierenfunktion erwies sich als. 


intakt. Der Versuch wurde am 2. Tage des Krankenhausaufenthaltes angestellt. 

Vor Darreichung des Nitroglycerins beträgt der Blutdruck 167 /94 mm 
Quecksilber. Bei einer Pulsfrequenz von 88 Schlägen als Mittelwert 
aus der Periodendauer jeder einzelnen Herzrevolution bezogen auf Mi- 


nutenfrequenz errechnet, zeigen die Werte für die einzelnen Phasen der 


Herzrevolution unter sich nicht unbeträchtliche Differenzen. Ich möchte 
dieselben nicht auf Meßfehler beziehen. Bei Normalem kann zwar die 
Diastolendauer große Schwankungen, wie bekannt, zeigen. Anspannungs- 
zeit und Austreibungszeit aber pflegen bei regelmäßigem Puls recht kon- 
stant zu sein. Eine gewisse Unregelmäßigkeit der Werte für die beiden 


letzteren Phasen bei Kranken mit arterieller Drucksteigerung, etwa in 


a er zn re an 


EEE 








zum Krankheitsbilde der arteriellen Hypertension. 685 













































































Tabelle II. 
rn ee er Fe Ba LE a RE DE AB 
& c-ala-b|b—c 83 : B = 2 Mittelwerte 
= RAR Er 
1. 31,9| 6,9 |23,9162,7130,8| 961 |SIc—ıa...... 35,8 
2. |33,2| 7,3 |25,4165,9|32,7| 91 x Ban ee a 2 
3. 136,0] 7,4 |24,6/68,0132,0| 8 |" [pe ...... 25,0 
4. 38,7 7,0 |26,9|71,1133,9) 84|% = Pulsperiodendauer 67,8 
5. 138,7 | 6,9 |25,0[70,2[31,9| 85 | S [Systolendauer ... 32,1 En 
6. 136,7 | 7,4 124,6 69,1132,0| 87 = [Pulsfrequenz . . 88 Schläge i.d.M. 
1. 19,056,8 25,3| 106 TER 29,9 
2. 21,8/60,5128,11 9| |Sla-b...... 6,4 
3. BELIBBOBERLIDT IS ES Ibeo.n un. 20,2 
4. 19,5/55,8 25,91 107 | ” Pulsperiodendauer 56,7 
5. 20,4|55,5 126,51 108 > = Systolendauer . . 26,6 
BG: 19,5|56,9/26,4| 105 ı [Pulsfrequenz . .106 Schläge i.d.M. 
T. 20,2 56,1,27,5 106| | 
1. [38,6| 6,8 121,0/66,5127,8| 90] |sle—a...... 36,3 
2. 36,7| 7,2 121,7/65,4128,9| 21» Slam...... 6,7 
3. 185,5 6,7 [21,6164,01283]| 94 2 Je Ip—e...... 24,7 
4. \35,3| 6,5 |22,8164,6129,3| 931% | = | Pulsperiodendauer 65,0 
5. 135,5| 6,6 122,5/64,7129,11 931° |D [Systolendauer . . 28,4 
6. 36,5 6,4 |21,0165,0127,4| 92 = |Pulsfrequenz . . 92 Schlägei.d.M. 








Fall Schramm. 4. 7. 23. 

Veränderung der einzelnen Phasen der Herzrevolution mit sinkendem Blutdruck. 
12 Uhr 4 Min. Darreichung von 2 mg Nitroglycerin. 

Erläuterung: c—a = Diastolendauer; a—b= Anspannungszeit; b—c = Aus- 
treibungszeit. In der ersten Serie, bei einem Blutdruck von 167/94mm He, sind 6, in 
der zweiten, Blutdruck 129/91 mm Hg, sind 7, in der dritten, Blutdruck 125/83mm He, 
sind wiederum 6 aufeinanderfolgende Pulsperioden analysiert. Die „Mittelwerte“ 
jeder Serie, die dem angegebenen Blutdruck entsprechen und die die Veränderung 
der Herztätigkeit am besten zum Ausdruck bringen, sind in der letzten Spalte 
angegeben. Alle Zahlen in !/ıoo Sekunden. 


dem Ausmaß, wie Tab. II zeigt, ist mir immer wieder aufgefallen. In 
mehreren Fällen war es hauptsächlich die Anspannungszeit, welche von 
Pulsperiode zu Pulsperiode, auch bei verhältnismäßig konstanter 
Dauer der Diastole und demnach wohl auch konstanter Ventrikelfül- 
lung erheblich wechselte. Es liegt nahe, diese Erscheinung, die ohne 
Frage weiterer Beachtung wert sein dürfte, nicht nur mit wechselnder 
Füllung des Ventrikels, sondern auch mit rasch ablaufenden Druck- 
schwankungen im arteriellen System in Verbindung zu bringen. 

Soviel ich sehe, findet sich nur bei Robinson und Draper eine Angabe über 


auffallende Differenzen der Anspannungszeit beim gleichen Patienten. Diese 
Autoren schreiben: Beim ‚‚nervösen Herzen‘ kann zu verschiedenen Zeiten eine 


686 F. Kauffmann: Klinisch-experimentelle Untersuchungen 


wechselnde Anspannungszeit gefunden werden ohne nachweisbare Abhängigkeit 
von der Pulsfrequenz. Sie fanden z.B. zu verschiedenen Beobachtungszeiten 
Schwankungen von 6,4 bis 8,8/100 Sek. Allerdings handelte es sich nicht um eine 
Änderung von Pulsschlag zu Pulsschlag, sondern es liegt zwischen den zu verschie- 
denen Zeiten beobachteten Werten ein längerer Zwischenraum. 


Die Unregelmäßigkeit in der Dauer der Anspannungszeit und auch 
der Austreibungszeit pflegt, wenn der Blutdruck durch Nitroglycerin 
künstlich herabgesetzt wird, in fast allen Fällen noch zuzunehmen. 
Auch aus dem hier gebrachten Beispiele geht dies für die Anspannungs- 
zeit hervor: die größte Differenz der Werte für dieselbe beträgt in der 
1. Serie 0,5/100 Sek., der 2. 1,8/100 Sek., in der 3. 0,8/100 Sek. 


Um günstigere Vergleichsbedingungen zu schaffen, sind in der letzten Rubrik 
der Tabelle die Mittelwerte angegeben, die für die einzelnen, aus dem Kardiogramm 
abgelesenen Zahlen errechnet sind: an der unbeeinflußten Patientin dauert die 
Diastole 35,8/100 Sek., die Anspannungszeit 7,1/100 Sek., die Austreibungszeit 
25,0/100 Sek. Die letzteren sind Werte, die durchaus mit den Weitzschen Angaben, 
die ich im allgemeinen und auch bezüglich der Hypertonien bestätigen kann, im 
Einklang stehen. Die Dauer der ganzen Systole beträgt 32,1/100 Sek. 

Um 12 Uhr 4 Min. wurden 2 mg Nitroglycerin verabreicht. 6 Min. später, um 
12 Uhr 10 Min., ist der Bludruck auf 129/91 mm Quecksilber gesunken, während die 
Pat. über Herzklopfen und Druckgefühl sowie geringe Atembeklemmung klast. 
Die jetzt gewonnene kardiographische Kurve zeigt die charakteristischen Ver- 
änderungen: die Pulsfreguenz ist von 88 auf 106 Schläge in der Minute gestiegen, 
dementsprechend die Diastole verkürzt. Diese beträgt nunmehr 29,9/100 Sek. 
Auch die Anspannungszeit, die 6,4/100 Sek., und die Austreibungszeit, welche 
20,2/100 Sek. beträgt, haben eine Verkürzung erfahren. Daraus resultiert eine 
Abnahme der ganzen Systole, die 26,6/100 Sek. währt. 

8 Min. später ist eine weitere geringe Senkung des Blutdruckes eingetreten, 
welcher zu 125/83 mm Quecksilber bestimmt wurde. Die subjektiven Empfin- 
dungen der Pat. haben an Intensität nachgelassen. Die Diastole dauert 36,3/100Sek.., 
die Anspannungszeit ist gegenüber der vorigen Serie ein wenig verlängert und be- 
trägt 6,7/100 Sek., in gleicher Weise die Austreibungszeit, welche 21,7/100 Sek. 
dauert. Die Systolendauer beträgt 28,4/100 Sek. Die Pulsfrequenz ist auf 92 Schläge 
zurückgegangen. 


Das, was aus diesem Beispiel als charakteristisch hervorgeht und 
worauf es in diesem Zusammenhang hauptsächlich ankommt, sind die 
Beziehungen von Systolendauer und der Dauer ihrer einzelnen Phasen zu 
dem jeweiligen arteriellen Druck. Mit sinkendem Blutdruck kommt es zu 
einer beträchtlichen Verkürzung der Anspannungszeit, der Austreibungs- 
zeit und demnach der ganzen Systole. 


Man könnte glauben, daß diese Veränderungen mehr von der Veränderung 
der Pulsfrequenz als von anderen Faktoren abhängig seien, daß die Verkürzung 
der Systole mit der Verkürzung der ganzen Pulsperiode in unmittelbarer Beziehung 
stehe. Zwar wissen wir heute, daß die Ansicht der älteren Autoren von der relativen 
Konstanz der Systole trotz bedeutender Schwankungen der Pulsfrequenz (Hender- 
son; auch A. Weber und A. Wirth fanden bei 107 Personen mit gesunden und 
kranken Kreislauforganen die Dauer der Systole in ziemlich engen Grenzen zwischen 
28 und 35/100 Sek. schwanken, sägen aber: immerhin nimmt mit steigender Puls- 








zum Krankheitsbilde der arteriellen Hypertension. 687 


frequenz auch die Systolendauer etwas ab) auch beim Gesunden nicht mehr zu 
Recht besteht (Zuntz und Schumburg, Brugsch und Blumenfeld, Weitz) und daß 
durchaus mit einer gewissen Abhängigkeit der Systolendauer von der Pulsfrequenz 
zu rechnen ist. Brugsch und Blumenfeld fanden einen proportionellen Wert der 
Systolendauer (im Verhältnis zur Dauer der Herzrevolution) beim Gesunden 
und in der Ruhe mit nur geringen Schwankungen zwischen 33,5 und 37,5% bei 
einer Pulsfrequenz zwischen 50 und 78 Schlägen. Wenn wir aber sehen, daß in 
dem angeführten Beispiel, wenn wir die beiden ersten Serien miteinander ver- 
gleichen, die Verkürzung der Diastole 16,5%, und die der ganzen Systole 17,1% 
beträgt, so ist das ein Verhältnis, welches auf keinen Fall nur mit der Än- 
derung der Pulsfrequenz in Zusammenhang gebracht werden kann. Auf die Fak- 
toren, die hier von Einfluß sein könnten, wird im folgenden Abschnitt zurück- 
zukommen sein. 


Ganz besonders betrifft die Verkürzung die Austreibungszeit, bei 
welcher dieselbe 19,2%, beträgt und die demnach am meisten von allen 
Phasen der Herzrevolution in Mitleidenschaft gezogen ist. 

Trotz der Erhöhung der Pulsfrequenz hat auch die Anspannungszeit 
mit sinkendem Blutdruck eine Verkürzung erfahren, und zwar um 9,8%. 

Mit sinkendem Blutdruck stellt sich das Gefühl des Herzklopfens ein, 
über welches die Patientin spontan klagte. Es wird naheliegen, wie beim 
Herzklopfen des Nervösen auch hier die Verkürzung der Systole, an wel- 
cher in der Mehrzahl der Fälle wie bei jenem ganz besonders die Aus- 
treibungszeit beteiligt ist, im ganzen also die veränderte Kontraktions- 
form im Sinne Fr. Müllers als auslösendes Moment der subjektiven Emp- 
findungen anzusehen. 

Daß tatsächlich die Verkürzung der Systolendauer, welche eintritt, 
wenn man den Blutdruck durch Nitroglycerin künstlich rasch herab- 
setzt, nicht in unmittelbarer Beziehung zur Frequenzänderung steht, 
geht mit besonderer Deutlichkeit aus einer Beobachtung unter den olei- 
chen Versuchsbedingungen hervor, bei welcher an Stelle der in der Regel 
nach Nitroglycerin eintretenden Beschleunigung eine Verlangsamung 
der Pulsfrequenz erfolgte und dennoch die Systole eine Verkürzung er- 
fahren hat (s. Tab. III). 


Tab. III stammt von einem 50jährigen Pat. G. K., der während 8 wöchiger 
Beobachtung einen permanenten Hochdruck von über 200 mm Quecksilber zeigte. 
Über irgendwelche Beschwerden hatte er nicht zu klagen. Keinerlei Nierenfunk- 
tionsstörung war nachweisbar. 

Der Blutdruck, dessen Ausgangswert zu Beginn des Versuches 225/117 betrug, 
sinkt, nachdem 2 mg Nitroglycerin verabreicht waren, binnen 6 Min. auf 179/114mm 
Quecksilber ab, um später noch eine geringe weitere Senkung zu erfahren. Die 
Pulsfrequenz verminderte sich von 64 auf 63 bzw. 59 Schläge, nachdem zunächst 
eine vorübergehende Erhöhung auf 66 Schläge eingetreten war. 

Die Systole wird mit sinkendem Blutdruck fortschreitend kürzer. Anfänglich 
43,6/100 Sek. betragend, dauert sie in der nächsten Serie 39,1 /100 Sek., bei einem 
Blutdruck von 177/119 in der 3. Serie 38,3/100 Sek., um diesen Wert auch bei 
der weiteren Erniedrigung des Blutdrucks auf 169/113 mm Quecksilber beizu- 
behalten. 


Z. f. klin. Medizin. Bd. 100, 45 


688 F. Kauffmann : Klinisch-experimentelle Untersuchungen 


Tabelle III. 
































































en 5 S E |“ 
2 3s|8|3[3 
| ala 32|8|13 |8|&8 Mittelwerte 
5 25 |S |2|E |” 
2 a |5|& |” 
1. /49,8| 8,4 ,36,0| 94,2 44,4 ea ee 49,6 
2. 149,5| 7,8 [35,11 92414291 8 | lab. ..... 8,2 
3. |49,2| 8,2 |34,9| 92,3|43,1 Ss /&|b-e...... 35,5 
4. \50,1| 8,6 |36,3| 95,0 44,9 x = IPulsperiodendauer 93,4 
& | | Systolendauer . . 43,6 
= | Pulsfrequenz 64 Schläge i.d.M. 
1. 151,6) 7,2 |32,2| 91,0139,4 loan 
2. 51,5] 6,9 [31,9] 90,3)88,8| | N a rn 
{er} 
DE 
Ss = |Pulsperiodendauer 90,6 
= © [Systolendauer . . 39,1 
| © |Pulsfrequenz . . 66 Schläge i.d.M. 
1. |60,1| 5,0 |33,4| 98,5138,4 = 58.1 
ORTE ae ae 5,7 
3. |55,8| 6,1 [32,1 9.0382] |S |» |b-c......832,5 
4. 156,4 6,7 |32,1| 95,2 38,8 % = |Pulsperiodendauer 95,9 
= |D |Systolendauer . . 38,3 
= |Pulsfrequenz . . 63 Schläge i.d.M. 
1. 163,0, 5,8 133,0,101,8138,8 = N 63,5 
2. 164,1) 6,0 |31,81101,9137,8 SD FR er EA 5,9 
N m b—c a 32,4 
= ‚= | Pulsperiodendauer 101,9 
= 9 Systolendauer . . 38,3 
 |Pulsfrequenz . . 59 Schläge i. d.M. 
































Fall Kılb, A. 5. 23. 
Veränderung der einzelnen Phasen der Herzrevolution mit sinkendem Blutdruck. 
Um 12 Uhr 23 Min. wurden 2 mg Nitroglycerin verabreicht. 
Erläuterung: s. Tabelle II. 


Die Anspannungszeit beträgt zunächst 8,2/100 Sek., liegt also trotz des hohen 
Blutdrucks noch im Bereiche des Normalen (vgl. Weitz); ihre Dauer wird fort- 
schreitend, und zwar ganz beträchtlich vermindert, in der 2. Serie auf 7,1/100 Sek., 
in der 3. Serie auf 5,7/100 Sek., in der 4. Serie beträgt sie 5,9/100 Sek. 

Die Austreibungszeit erfährt ebenfalls eine Verkürzung, wie aus der Tabelle 
ohne weiteres ersichtlich ist. Sie sinkt von 35,5/100 Sek. auf 32,4/100 Sek., in der 
2. Serie sogar auf 32,1/100 Sek. ab. 


Trotz der wenn auch nur geringen Verlängerung der Pulsperiode also 
Verkürzung der Systole, hier vor allem die Anspannungszeit, aber auch die 
Austreibungszeit betreffend. Auch dieser Kranke, der im Allgemeinen 
„Herzklopfen nicht kannte‘, klagte über solches wenige Minuten nach 





zum Krankheitsbilde der arteriellen Hypertension, 689 


Darreichung des Nitroglycerins, doch gab er an, die Empfindung sei 
nicht sehr heftig. 

In einer weiteren Tabelle seien noch die Ergebnisse von 3 weiteren Ver- 
suchen mitgeteilt, bei denen ich mich aber auf die Wiedergabe der errech- 
neten Mittelwerte beschränke (Tab. IV). Man erkennt ohne weiteres, daß 
in allen Fällen ganz die analogen Veränderungen sich eingestellt haben, 
wie sie bereits in Tabelle 2 zum Ausdruck gelangt sind. 































Tabelle IV. 

——,—ı[l— mn 

Kusk:8ch.H 

Su |l8S 5 

Serie, c—a |a—b |b—c | & 3 3 Ö | Blutdruck . Zeit 

5912 || 

FE: 
Pat. E.G. 49. alt. I [42,8| 7,4 124,8| 75,0 32,2| 80|178/100\ 5 Uhr 24 Min. 
2 mg Nitroglycerin || II |35,3| 6,8 18,8| 60,9 125,6) 981134/89 |5 Uhr 83 Min, 
um 5 Uhr 25 Min. III |34,6| 6,5 117,5| 58,6 24,0. 103 1128/85 |5 Uhr 40 Min. 
Pal MP 37 Frält, I |35,1| 9,2 |24,5 68,8 133,7| 87/183/98 |11 Uhr 25 Min. 
2 mg Nitroglycerin 30,8! 8,3 119,4 | 58,5 27,71103 1141/78 |11Uhr 31 Min. 














um 11 Uhr 26 Min. || III [31,6| 8,1 \18,9| 58,6 |27,0|103 1126/75 |11Uhr 39 Min. 


Pat. L.H. 51J. alt. | I 1605| 7,7 32,4 100,6 |40,1| 59 180/92 |5Uhr 8Min. 
2 mg. Nitroglycerin || II |51,1) 7,1 27,3, 85,5 134,4] 70140/81 |5 Uhr 12 Min. 
um 5 Uhr 9 Min. III |52,4| 6,9 [26,8 86,1 |33,7| 69 151/83 |5 Uhr 19 Min. 






















Veränderung der einzelnen Phasen der Herzrevolution mit sinkendem Blutdruck. 
Erläuterung: vgl. Tabelle II, S. 685. Alle Zahlen in 1/00 Sekunden, 


Zusammenfassend hat also die kardiographische Registrierung der 
einzelnen Phasen der Herzrevolution bei künstlicher Blutdrucksenkung 
durch Nitroglycerin ergeben, daß eine ganz charakteristische Veränderung 
eintritt: es kommt mit sinkendem Blutdruck zu einer Verkürzung der An- 
spannungszeit, die bis zu 30,5%, betragen hat, und gleichzeitig zu einer 
beträchtlichen Abnahme der Austreibungszeit. Daraus ergibt sich eine 
Verkürzung der ganzen Systole, und diese kann beträchtlicher sein, als 
nach der gleichzeitig eingetretenen Frequenzänderung zu erwarten wäre. 


Es sei darauf hingewiesen, daß die Verkürzung der Systole nach Verabfolgung 
von Nitriten (Amylnitrit) bereits von Friedericia festgestellt worden ist. Den Blut- 
druckverhältnissen hat er aber bei seinen Untersuchungen keine Beachtung ge- 
schenkt. Friedericia hebt hervor, daß die Systolendauer bei seinen 5 Versuchs- 
personen viel weniger verkürzt sei, als nach der eingetretenen bedeutenden Tachy- 
kardie und der von ihm über die Beziehungen von Pulsfrequenz und Systolendauer 
aufgestellten „‚Normalkurve‘“ zu erwarten wäre, In meinen Versuchen mit Nitro- 
glycerin ist die Systolenverkürzung recht beträchtlich gewesen. Friedericia hat seine 
Messungen am Elektrokardiogramm vorgenommen, indem er die Systole vom Be- 
ginn.des Ventrikelelektrokardiogramms bis zum Ende der T-Zacke gemessen hat. 
Abgesehen von der Schwierigkeit genauer Ausmessung, auf die Friedericia selbst hin- 
weist, muß man es aber auch als durchaus fraglich bezeichnen, ob man aus den 


45* 


690 F. Kauffmann: Klinisch-experimentelle Untersuchungen 


elektrischen Vorgängen auf den Ablauf des Kontraktionsvorganges am Herzen 
schließen darf. Ein Ausdruck der Herzkontraktion ist ja das Elektrokardiogramm 
keinesfalls. T'rendelenburg fand ebensowenig wie z. B. Weitz ein genaues Zusammen- 
fallen von T mit dem Ende der Kontraktion, welches Friedericia voraussetzt. Manch- 
mal endete die Herzkontraktion früher, manchmal später als das Ende von T. 
Die Angabe von J. de Meyer, die Höhe von T falle mit dem Schluß der Semilunar- 
klappen und daher mit dem Ende der Austreibungszeit zusammen, wird man 
demnach auch kaum Glauben schenken. Die Untersuchungen von Henriques 
und Zindhard und ihre hypothetischen Schlußfolgerungen, die in Deutschland bis- 
her wenig Beachtung gefunden zu haben scheinen, zeigen erst recht die Berechtigung 
eines Zweifels. 


Mit Eintritt der Blutdrucksenkung, die sich binnen weniger Minuten 
zu vollziehen pflegte, stellen sich in der Regel bestimmte Beschwerden 
ein, in deren Vordergrund das Gefühl des Herzklopfens steht. Wie beim 
Herzklopfen des Nervösen wird man auch unter diesen Versuchsbe- 
dingungen in der Verkürzung der Systole, d. h. also in einer veränderten 
Kontraktionsform des Herzens im Sinne Fr. Müllers das auslösende Mo- 
ment der subjektiven Empfindungen sehen dürfen. 


Auf welchem Wege die veränderte Herztätigkeit zum Bewußtsein gelangt 
und hier zu dem Gefühl des Herzklopfens Veranlassung gibt, läßt sich nicht sicher 
entscheiden. Am meisten Wahrscheinlichkeit hat noch die unter anderem auch von 
Krehl geäußerte Ansicht für sich, daß die im Herzen selbst gelegenen Nervenendigungen 
durch die besondere Kontraktionsform in eigenartiger Weise gereizt werden. Eine 
abnorme Empfindlichkeit der Brustwand, gegen welche das Herz anklopft (Huchard), 
und die unter anderen Verhältnissen bei manchen Kranken doch nicht so ganz 
ohne Bedeutung scheint (G. See spricht in solchen Fällen von Hyperästhesie der 
Brustwand von ‚„Pseudoherzklopfen‘“), wird man beim Herzklopfen nach Nitro- 
glycerin nicht zu berücksichtigen brauchen. Dagegen wird man vielleicht mit der 
Möglichkeit zu rechnen haben, daß infolge der Verkürzung der Systole der Ven- 
trikelinhalt schneller in die Aorta geworfen wird, daß es dadurch zu einer vermehrten 
Dehnung der aufsteigenden Aorta kommt und von hier aus die zentripetalen, als 
Herzklopfen empfundenen Reize ihren Ausgangspunkt nehmen. 

Nach v. C’yon kennen wir mit Sicherheit nur eine zentripetale Bahn, welche 
unserem Bewußtsein Nachricht über die vor sich gehenden Veränderungen der Herz- 
schläge zusendet, nämlich den N. depressor, über dessen Ursprung, ob er unmittel- 
bare Beziehungen zum Herzen selbst hat, wie die älteren Autoren, v.Cyon, Lud- 
wig meinten, oder ob er nur aus dem Aortenbogen entspringt (Koester und T'scher- 
mak), freilich sichere Kenntnis noch nicht zu herrschen scheinen. 


c) Über die Entstehung der veränderten Kontraktionsform des Herzens 
während des sinkenden Blutdrucks. 


Vergleichen wir die Veränderungen der Herztätigkeit beim Herzklopfen 
des Nervösen mit denjenigen, welche die künstliche Blutdrucksenkung be- 
gleiten, so wird es naheliegen, bei den sich ergebenden Unterschieden 
auch auf ihre Entstehungsbedingungen zu achten und zunächst der Frage 
nachzugehen, wie weit sich etwa die Veränderungen nach Darreichung 
von Nitroglycerin in Anbetracht der eintretenden starken Verminderung 
des arteriellen Widerstandes auf mechanische Gründe zurückführen lassen. 


ne re ar ae 


un! 


| TEL ZDAEIES 2, 





zum Krankheitsbilde der arteriellen Hypertension. 691 


Zunächst läßt sich ein Unterschied erkennen in dem Verhalten der 
Anspannungszeit. Beim Herzklopfen des Nervösen fand sich dieselbe 
im Wesentlichen unverändert gegenüber der beschwerdefreien Zeit, in 
einem Teil der Fälle war sie ein wenig verlängert. Bei künstlicher Blut- 
drucksenkung ergibt sich in allen Fällen eine deutliche Verkürzung, die 
gelegentlich sogar, wie wir sahen, einen ganz beträchtlichen Grad er- 
reichen kann. 

Man wird für die Verkürzung der Anspannungszeit in erster Linie 
an mechanische Gründe als auslösenden Faktor denken müssen. 


Die Veränderungen in der Pulsfrequenz und speziell der Diastolendauer, 
aus welcher man indirekt auf die Füllung des Herzens schließen kann, sind in dem 
zweiten Beispiel (Tab. III) zu gering, als daß die Abnahme der Anspannungszeit 
auf Füllungsänderung der Ventrikel zurückgeführt werden könnte. Erst in der 
3. und 4. Serie wird man vielleicht mit einer geringen Vergrößerung der Ventrikel- 
füllung zu rechnen haben, während in der 2. Serie entsprechend der geringen Puls- 
beschleunigung eher eine Verminderung derselben anzunehmen ist. In Tab. II 
' nimmt die Pulsfrequenz von der 1. zur 2. Serie um 18 Schläge in der Minute zu, 
die Diastole verkürzt sich um 5,9/100 Sek., d.h. um 16,5%. Ähnliche Verhält- 
nisse zeigen die Beobachtungen in der Tab. IV. In allen diesen Fällen wird man 
eine Abnahme der Ventrikelfüllung annehmen dürfen, die bekanntlich in verlängern- 
dem Sinne auf die Zeit der ersten isometrischen Periode einwirkt. Und dennoch 
findet sich bei den vorliegenden Versuchen regelmäßig eine Abnahme der An- 
spannungszeit. 


Die Verkürzung der Anspannungszeit, die beim Herzklopfen des Ner- 
vösen fehlt, wird mit der eintretenden Blutdrucksenkung in Zusammen- 
hang zu bringen sein. 

Daneben dürfte unter den mechanischen Einflüssen auch die relativ 
zu große Füllung des Ventrikels während der Blutdrucksenkung von Be- 
deutung sein. 


Bei sinkendem Blutdruck kommt es, wie besonders aus experimentellen Unter- 
suchungen Socins hervorgeht, zu einer vorübergehenden Vergrößerung der Schlag- 
volumina, weil der Ventrikel infolge der Widerstandsverminderung einerseits 
und der (relativ zu großen) Länge seiner Muskelfasern andererseits relativ zu 
kräftig ist. Das vergrößerte Schlagvolumen bleibt so lange bestehen, bis der bei 
hohem Blutdruck vorhandene systolische Rückstand je nach dem nunmehr herr- 
schenden arteriellen Druck reduziert ist. Auf diese Weise nimmt die Kraft des 
Herzens, die nach den Zuckungsgesetzen mit der Dilatation wächst, allmählich ab. 
Am isolierten Kreislaufpräparat vollzieht sich diese Anpassung des Herzens an ver- 
änderte periphere Widerstände binnen weniger Sekunden; unter natürlichen Ver- 
hältnissen, bei welchen die Widerstandsregulierung ganz peripher in den Arteriolen 
zu erfolgen pflegt, wird sich, darauf weist Socin selbst hin, eine solche Regulation 
nicht mit gleicher Schnelligkeit abspielen. Wenn man ferner bedenkt, daß die reak- 
tive Blutdrucksenkung nach Nitroglycerin nicht plötzlich eintritt und nicht sofort 
den höchsten Grad erreicht, sondern sich während einer größeren Zahl von Minuten 
mehr oder weniger langsam entwickelt, so wird man trotz der aus der Frequenz- 
erhöhung abzuleitenden Füllungsverminderung damit rechnen müssen, daß während 
dieser ganzen Zeit der linke Ventrikel dennoch mit relativ zu großer Kraft, d.h. 
mit relativ zu langen Muskelfasern arbeitet, daß im Verhältnis zum fortschreitend 


692 F. Kauffmann: Klinisch-experimentelle Untersuchungen 


verminderten Entleerungswiderstand trotz der Verkürzung der Diastole die Füllung 
anhaltend eine zu große ist. Diese relativ zu große Füllung wird neben der Erniedri- 
gung des Aortendruckes durchaus in verkürzendem Sinne auf die Anspannungszeit 
sich geltend machen. 


Hat es somit den Anschein, als ob das Verhalten der Anspannungs- 
zeit sich aus mechanischen Faktoren, durch unmittelbare Beanspruchung 
der in den Herzmuskelfasern selbst gelegenen regulatorischen Fähigkeiten 
des Herzens erklären ließe, so kann wohl für die Veränderung der Aus- 
treibungszeit nicht Entsprechendes angenommen werden. 


Die festgestellte Verkürzung der Austreibungszeit ist vorhanden trotz der Er- 
niedrigung des arteriellen Druckes, die bei gleichbleibender Füllung in verlängern- 
dem Sinne zu wirken pflegt (Weitz). Die in der Regel eintretende Pulsbeschleunigung 
wird nur ein Moment darstellen, mit welchem man die Veränderung in Zusammen- 
hang bringen kann. Ohne Zweifel wird man dieselbe zu berücksichtigen haben, 
ihr aber eine wesentliche Bedeutung nicht zuerkennen können, da sie sich im Ver- 
hältnis zur Blutdrucksenkung in geringen Grenzen hält, und die Verkürzung der 
Austreibungszeit auch dann besteht, wenn wie in Tab. III von einer Beschleunigung 
der Pulsfrequenz, d.h. Abnahme der Ventrikelfüllung nicht die Rede sein kann. 
Auch bei anderen Untersuchungen hat sich herausgestellt, daß die Veränderung 
der Herztätigkeit im menschlichen Organismus mit den Ergebnissen am isolierten 
Kreislaufpräparat nicht restlos übereinstimmen. Wie H. Straub die Discrepanz 
des klinischen Befundes und des experimentellen Ergebnisses bei den Klappen- 
fehlern hervorhebt, so hat sich weiter gezeigt, daß auch bei körperlicher Arbeit 
der Herzbefund den veränderten mechanischen Bedingungen nicht entspricht. Bei 
angestrengter körperlicher Arbeit überwiegen, wie Bruns und Roemer gezeigt 
haben, ‚biologische und psychische Vorgänge bzw. sympathikotone inotrope 
Einflüsse auf Herznerven und Herzmuskel über die rein mechanischen Gesetze, 
die eine Zunahme des Herzvolumens bei Steigerung des Aortendrucks verlangen“. 
Eine gesetzmäßige Beziehung zwischen Herzgröße und Blutdruck, wie sie nach den 
Experimenten am isolierten Kreislauf der obengenannten Autoren erwartet werden 
müßten, konnten Bruns und Roemer nämlich nicht auffinden. 


Auch in den vorliegenden Untersuchungen wird der Einfluß der extra- 
cardialen Herznerven, die auf die Geschwindigkeit des Kontraktionsablaufes 
von Einfluß sein können, für die resultierenden Veränderungen der Herz- 
tätigkeit, besonders für die Verkürzung der Austreibungszeit von großer 
Bedeutung sein. Bekannt ist, daß Blutdrucksenkung Erhöhung des Acce- 
leranstonus zur Folge hat. Seit den Arbeiten von Baxt und Engelmann 
ist die Verkürzung der Systolendauer durch Acceleransreizung bekannt. 
Im Hinblick’ auf die mitgeteilten Ergebnisse wird man anzunehmen 
haben, daß die den Kontraktionsablauf beschleunigende, die Austrei- 
bungszeit verkürzende Wirkung des gesteigerten Acceleranstonus den 
Einfluß der mechanischen Faktoren, d. h. den in verlängerndem Sinne 
wirkenden Einfluß der Blutdrucksenkung übertrifft, und daß daher die 
Verkürzung der Austreibungszeit resultiert. 

Da Acceleransreizung zu Verkürzung der ganzen Systole führt und 
den ganzen Kontraktionsvorgang beschleunigt, so wird man wohl weiter 


are 





zum Krankheitsbilde der arteriellen Hypertension. 693 


annehmen müssen, daß der erhöhte Acceleranstonus sich auch auf die 
Anspannungszeit geltend macht und daß die Verkürzung derselben, 
die in manchen Fällen sehr beträchtlich gewesen ist, neben den oben 
erörterten mechanischen Gründen auch den gleichsinnig wirkenden 
nervösen Einflüssen ihre Entstehung verdankt. 


Auch Huerthle gibt an, daß nach Durchschneidung der beiden Hemmungs- 
nerven des Herzens die Anspannungszeit trotz erheblicher Blutdrucksteigerung 
sich. verkürzt oder jedenfalls sich nicht verlängert und daß auch bei elektrischer 
Reizung des N. accelerans beim Hunde eine ähnliche Verkürzung der Anspannungs- 
zeit trotz Steigerung des arteriellen Drucks, wenn auch nicht immer, zu beobachten 
ist. Das geht zahlenmäßig aus der Tab. II auf S. 99 der Arbeit Huerthles hervor. 

Wie kommt die Acceleransreizung zustande? 

Weder das Nitroglycerin noch die Blutdrucksenkung reizen das Accelerans- 
zentrum unmittelbar, vielmehr wird der Accelerans durch Nachlassen des Vagus- 
tonus infolge Erniedrigung des arteriellen Drucks das Übergewicht erhalten. Man 
wird gewisse Beziehungen annehmen dürfen zu der in der Regel eintretenden 
Beschleunigung der Pulsfrequenz, die ebenfalls auf Verminderung des Vagus- 
tonus bezogen wird. Nach den Untersuchungen von Filehne scheinen die Nitrite 
nicht unmittelbar auf das Vaguszentrum zu wirken. Im Tierexperiment verschwin- 
det nämlich die Pulsbeschleunigung, wenn man durch Abklemmung der Bauch- 
aorta den durch Amylnitrit erniedrigten Blutdruck wieder in die Höhe treibt. 
Schon Bernstein fand den Erregungszustand des Vaguszentrums von der Höhe des 
Blutdrucks abhängig und so wird man mit Filehne anzunehmen haben, die Be- 
schleunigung der Pulfsrequenz und die zugrunde liegende Dämpfung des zentralen 
Vagustonus nach Nitroglycerin sei hervorgerufen durch die Blutdrucksenkung. 
Man wird sich vorstellen dürfen, daß der überwiegende Acceleranstonus nicht 
nur in der chronotropen Funktion dieses Nerven am Herzen zum Ausdruck kommt, 
sondern daß auch die anderen Eigenschaften des Herzmuskels, auf die sich sein 
Einfluß bekanntermaßen erstreckt, z. B. die Geschwindigkeit im Ablauf der Kon- 
traktionsvorgänge in beschleunigendem Sinne beeinflußt werden und so die Ver- 
kürzung der Austreibungszeit und der ganzen Systole zustande kommt. 


Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die Veränderung der Herz- 
tätigkeit bzw. der Kontraktionsform, welche nach Darreichung von 
Nitroglycerin durch die eintretende reaktive Blutdrucksenkung hervor- 
gerufen wird, sicher nicht nur nach den mechanischen Gesetzen des Kreis- 
laufs erklärt werden kann. Für die eintretende Verkürzung der Anspan- 
nungszeit scheint zwar die Annahme mechanischer Faktoren bis zu einem 
gewissen Grade möglich, auch wohl richtig zu sein. Die Verkürzung der 
Austreibungszeit, die, wenn man den Angaben von Weitz folgen. darf, 
entgegen den mechanischen Gesetzen sich einstellt, wird auf erhöhten 
Acceleranstonus zurückgeführt. 

Da Acceleransreizung den Ablauf des ganzen Kontraktionsvorganges 
beschleunigt, ist anzunehmen, daß für die Verkürzung der Anspannungs- 
zeit neben den mechanischen auch nervöse Einflüsse eine Rolle spielen. 
Daß aber mechanische Faktoren für die Verkürzung der Anspannungs- 
zeit nicht völlig zu vernachlässigen sind, wird man auch der Tatsache 
‚ entnehmen dürfen, daß diese Erscheinung bei der Herztätigkeit des 


694 F. Kauffmann: Klinisch-experimentelle Untersuchungen 


Nervösen, die ebenfalls auf erhöhter Tätigkeit des Acceleranszentrums 
beruht, bei der aber die Blutdruckverhältnisse so gut wie unverändert 
bleiben, nicht vorhanden zu sein pflegt. 


d) Über „nervöses“ und „dynamisches“ Herzklopfen. : 


Die Entstehung der veränderten Kontraktionsform und ebenso die 
des Herzklopfens, welche nach Nitroglycerin auftreten, ist also recht 
kompliziert, und zwar deswegen, weil im menschlichen Organismus für 
die motorischen Erscheinungen des Herzens nicht nur der Herzmuskel 
und die Herzganglien, sondern auch das Zentralnervensystem in Betracht 
kommen. 

Schrötier hat gesagt, man könne das Herzklopfen ‚definieren als 
Widerstreit zwischen den verschiedenen Innervationsfaktoren dieses Or- 
gans“. In dieser Auffassung liegt sicher viel Richtiges. In neuerer Zeit 
spricht R. Kaufmann in einer lesenswerten Abhandlung ‚über das lei- 
stungsunfähige Herz‘ inähnlicherWeise von ‚‚Innervationsschwankungen“ 
als Quelle der Beschwerden. Beide Autoren haben das Herzklopfen beim 
Nervösen im Sinn. Für das Herzklopfen, welches während rasch ein- 
tretender Blutdrucksenkung aufzutreten pflegt, hat man neben den 
nervösen auch anderen, die Tätigkeit des Herzens bestimmenden Fak- 
toren Rechnung zu tragen: man wird nicht so sehr einen Widerstreit 
verschiedener nervöser Faktoren anzunehmen haben, als vielmehr einen 
Wettkampf zwischen nervösen Einflüssen einerseits und den veränderten 
mechanischen Bedingungen andererseits. Die resultierende Disharmonie 
zwischen nervösen und mechanischen Impulsen, die auf den Herzmuskel 
einwirken und die geschilderte Kontraktionsform zur Folgehaben, dürfte 
es hauptsächlich sein, welche die Quelle der Beschwerden darstellt. 

Vergleichen wir den Mechanismus der veränderten Herztätigkeit und 
des Herzklopfens, wie sie bei künstlicher Blutdrucksenkung durch Nitro- 
glycerin eintreten, mit denjenigen bei psychischer Erregung oder körper- 
licher Arbeit: 


Wenn wir das Herzgefäßsystem in den Mittelpunkt rücken, so ergibt sich, daß 
beim Herzklopfen des Nervösen und nach Körperarbeit das Herz primär unter den 
Kreislauforganen beteiligt ist. Die Veränderungen, die bei körperlicher Anstrengung 
gleichzeitig an den Gefäßen .auftreten, und die in einer Erweiterung derselben in 
den tätigen Muskelgruppen bestehen, sind verhältnismäßig unwesentlich, da 
gleichzeitig in anderen Gefäßbezirken, vornehmlich denen der Eingeweide, eine 
ausgleichende Gefäßkontraktion eintritt. Die vermehrte Tätigkeit des Herzens, 
welches mit erhöhter Frequenz arbeitet und in der Zeiteinheit mehr Blut in die 
Aorta wirft, steht hier so sehr im Vordergrunde, daß trotz der Erweiterung 
einzelner Gefäßbezirke eine Steigerung des allgemeinen Blutdrucks resultiert. 
Bei Nervösen wird das Acceleranszentrum von der Psyche her in Erregung ver- 
setzt. Wie der gesteigerte Erregungszustand desselben bei körperlicher Arbeit zu- 
stande kommt, ist noch nicht endgültig bekannt: die einen denken an Stoff- 


wechselprodukte, die im Muskel bei ihrer Tätigkeit gebildet werden und in die , 





zum Krankheitsbilde der arteriellen Hypertension. 695 


Blutbahn gelangen, andere an eine Miterregung beim Abgeben der willkürlichen 
Impulse (Kornjeld, Masing, Moritz, Kissling, Deutsch und Kauf), und schließlich 
hat man auch der Erhöhung der Bluttemperatur, die auch direkt am Herzen an- 
greifen soll, eine ursächliche Rolle zugeschrieben („Erwärmungsacceleration‘“, 
Mansfeld, Glaus). Wie dem auch sei, in diesem Zusammenhang kommt es auf die 
Feststellung an, daß bei. Körperarbeit wie bei psychischer Erregung das Herz vor- 
nehmlich auf dem Nervenwege vom Acceleranszentrum her die vermehrten Impulse 
empfängt und die medulläre Erregung (R. Kaufmann) die veränderte Herztätigkeit 
auslöst. 

Nitroglycerin, welches zur Erzielung der Blutdrucksenkung verwandt wurde, 
wirkt nicht unmittelbar auf den Herzmuskel (Schloss) und nicht unmittelbar auf 
die medullären Zentren (Filehne), seine Angriffspunkte sind das Vasomotoren- 
zentrum und die kleinen Gefäße. Die Umstellung der Herztätigkeit erfolgt erst sekun- 
där, die reaktive Blutdrucksenkung stellt den auslösenden Reiz dar. Ihr Angriffs- 
punkt ist ein doppelter, teils liegt er peripher im Herzen, teils im Zentralnerven- 
system. Im allgemeinen gilt, daß der Verlauf der Systole in seiner ursprünglichen 
Anlage eindeutig bestimmt wird von der Beschaffenheit des Herzmuskels und von 
den Anfangsbedingungen, unter denen derselbe steht (H. Straub). Wir sahen frei- 
lich, daß bei der künstlich hervorgerufenen, rasch eintretenden Blutdrucksenkung 
innerhalb des menschlichen Organismus nervöse Einflüsse den Verlauf der Systole, 
wie er nach den infolge der Widerstandsverminderung geänderten mechanischen 
Anfangsbedingungen zu erwarten wäre, modifizieren. Ja, es scheinen sogar ebenso 
wie bei körperlicher Arbeit (Bruns und Roemer) die nervösen Einflüsse "schließlich 
das Übergewicht über die mechanischen zu erhalten, wenigstens dann, wenn man die 
zeitlichen Verhältnisse der ganzen Systole und besonders die der Austreibungszeit 
betrachtet. Dieses Ergebnis wird aber nicht Grund sein müssen, die Bedeutung 
mechanischer Faktoren als Anstoß für die Umstellung der Herztätigkeit und für die 
resultierende Veränderung der Kontraktionsform gänzlich zu leugnen. Die Ursache 
des Herzklopfens nach Darreichung von Nitroglycerin liegt nicht im Herzen und nicht 
in den nervösen Zentren, sondern in den Gefäßen. Die Gefäßerschlaffung und die an- 
schließende Blutdrucksenkung stellen den ersten Vorgang in der Kette der Verände- 
rungen am Kreislaufsystem dar. 


Die engen funktionellen Beziehungen, die zwischen dem Herzen, 
den Gefäßen sowie den zugehörigen nervösen Zentralorganen bestehen, 
haben zur Folge, daß jede Beeinflussung, die an irgendeiner Stelle dieses 
ineinandergreifende System trifft, stets den ganzen Kreislauf und alle 
ihn regulierenden Faktoren in Mitleidenschaft zieht. Bei der Analyse einer 
Veränderung in der Tätigkeit der Kreislauforgane wird es daher darauf 
ankommen, den primären Angriffspunkt der Reize festzustellen und dar- 
aus den gesamten Komplex der Folgeerscheinungen verständlich zu 
machen. Das wurde hier besonders für die veränderte Herztätigkeit 
während künstlicher Blutdrucksenkung versucht: Beim Nervösen und 
bei körperlicher Arbeit wird das Herz primär von den medullären Zentren 
her erregt. Nach Darreichung von N BROS liegt der primäre Angriffs- 
punkt an den Gefäßen. 

Erkennt man den Unterschied in dem Mechanismus der veränderten 
Herztätigkeit sowie auch des Herzklopfens unter den erwähnten ver- 
schiedenen Bedingungen an, so wird auch der Versuch einer begrifflichen 


696 F. Kauffmann: Klinisch-experimentelle Untersuchungen 


Gegenüberstellung der zwei sich ergebenden Entstehungsmöglichkeiten 
eines so alltäglichen Symptoms wie des Herzklopfens nicht unberechtigt 
sein, weil dadurch die Anschauung, die man über die zugrunde liegende 
Veränderung mit dem Begriff des Herzklopfens verbindet, eine Klärung 
erfahren dürfte. 

Man könnte geneigt sein, in dem letzteren Falle von „vasculärem H erzklopfen“ 
zu sprechen, aber diese Bezeichnung hat bereits bei Germain See in anderem Sinne 
Verwendung gefunden, z. B. für das Herzklopfen bei der Aorteninsuffizienz: Da 
der linke Ventrikel nur noch eine ungenügende Blutmenge in den Kopf und das 
Gehirn sende, wodurch die so oft mit der anämischen Entfärbung verwechselte 
Gesichtsblässe resultiere, so bestehe eine Art von @Gehirnanämie, die das Herz- 
klopfen veranlasse, durch Blutmangel in den intrakraniellen Organen und haupt- 
sächlich im verlängerten Mark. — Der Begriff des vasculären Herzklopfens be- 
rücksichtigt also nicht mechanische Einflüsse auf das Herz. Nach Nitroglycerin 
handelt es sich gewiß nicht um eine Anämie des Gehirns, es kommt im Gegenteil 
eine Hyperämie zustande. 

Im Hinblick auf den primären Angriffspunkt und auf die wichtigsten 
die Umstellung der Herztätigkeit auslösenden Faktoren könnte man 
vielleicht das Herzklopfen, welches nach Darreichung von Nitroglycerin 
sich einstellt, als ‚vorwiegend dynamisches Herzklopfen‘ bezeichnen, 
während es sich bei körperlicher Anstrengung und psychischer Erregung 
um „vorwiegend neurogen, bzw. medullär bedingtes Herzklopfen‘‘ handelt. 


3. Über das Herzklopfen bei labiler Hypertension. 


Nachdem wir gesehen haben, daß die reaktive Blutdrucksenkung 
nach Nitroglycerin mit dem Gefühl des Herzklopfens einhergeht, wobei 
als Ursache desselben eine ganz bestimmte Veränderung der Kontrak- 
tionsform des Herzens wahrscheinlich gemacht werden konnte, und wir 
uns andererseits erinnern, wie gewaltig und rasch ablaufend die anschei- 
nend spontanen Blutdurckschwankungen bei manchen Kranken mit 
labiler Hypertension sind, scheint die Annahme nicht unberechtigt zu 
sein, daß dem Herzklopfen, über welches so viele derartige Kranke 
schon im Ruhezustand klagen, ganz analoge Enntstehungsbedingungen 
und ein ganz entsprechender Mechanismus zugrunde liegen könnten wie 
demjenigen bei künstlicher Blutdrucksenkung durch Nitroglycerin. 

Je nach der Entstehung der starken und rasch ablaufenden Blutdruck- 
schwankung wird man dem „dynamischen“ Herzklopfen eine größere 
oder geringere praktische Bedeutung zuerkennen müssen. 

Es ist ja gewiß nicht zu bezweifeln, daß in nicht wenigen Fällen die 
Ursache der Blutdruckschwankungen im Herzen gelegen ist. Gerade die 
Kranken mit stark schwankendem Blutdruck sind besonders oft auch 
psychisch labile Menschen mit häufigem Stimmungswechsel und ab- 
normer Reizbarkeit. Wie oft findet sich hier ‚‚,hoher Blutdruck mit den 
Symptomen allgemeiner Neurasthenie vereinigt‘ (Israel). Unter dem 





zum Krankheitsbilde der arteriellen Hypertension. 697 


Einfluß alltäglicher Affekte, die den Gesunden unberührt lassen, klopft 
das Herz solcher Kranker vor Erregung, und es scheint ein glücklicher 
Vergleich zu sein, den R. Kaufmann braucht, wenn er sagt, daß den 
Trägern solcher Herzen schon in der Ruhe zu Mute sei, wie jemandem, 
der läuft und läuft und ein Ziel, das er nicht kennt, nicht erreichen kann. 
Vielfach hat man ja darauf hingewiesen, daß die Angst der Herzneurosen 
die gleichen Kreislaufveränderungen auslöst wie körperliche Anstrengung 
beim Gesunden (Hensen, Krehl, R. Kaufmann). Wie bei körperlicher 
Arbeit im gesunden Organismus wird bei diesen Kranken, nur von 
anderer Seite, nämlich von der Psyche her, auf demselben Apparat 
der medullären Zentren gespielt, welche das Herz zu vermehrter Arbeit, 
die Blutdrucksteigerung zur Folge hat, antreiben. In solchen Fällen ist 
die veränderte Herztätigkeit, welche zu dem Gefühl des Herzklopfens 
Veranlassunggibt, wiedie Blutdruckschwankungen aufdiegleicheUrsache, 
nämlich auf die medulläre Erregung von der Psyche her zurückzuführen. 

In anderen Fällen aber wird die Ursache hochgradiger Labilität des 
Blutdrucks vorwiegend in rasch ablaufenden, durch wechselnde Inner- 
vationsverhältnisse bedingte Kaliber- oder Tonusschwankungen der 
kleinen Gefäße gelegen sein. Bei Kranken, besonders Frauen mit leb- 
haften vasomotorischen Erscheinungen, mit raschem Wechsel der Ge- 
sichtsfarbe, mit Neigung zu Angiospasmen an den Extremitäten oder 
Gefäßkrisen, wird man hieran hauptsächlich zu denken haben. Schrumpf 
hat für solche wechselvollen Blutdruckverhältnisse die Bezeichnung 
„vasomotorische Ataxie‘ geprägt. Immer wieder muß sich der Herz- 
muskel von Minute zu Minute und wahrscheinlich noch häufiger den ver- 
änderten peripheren Widerständen anpassen, so daß man sagen kann: 
die Gefäße lassen das Herz nicht zur Ruhe kommen. Immerfort dürften 
sich die gleichen Veränderungen, wie sie im Nitroglycerinversuch an der 
Herztätigkeit beobachtet werden konnten, wiederholen. So schwierig 
es ist, im Einzelfalle den Anteil von Herz- und Gefäßtätigkeit an den je- 
weiligen Kreislaufverhältnissen mit befriedigender Sicherheitabzugrenzen, 
und wenn auch in der Mehrzahl der Fälle Labilität der Herz- und Gefäß- 
tätigkeit nebeneinander bestehen dürften, so wird doch darüber kein 
Zweifel sein, daß es Kranke gibt, bei denen die vasomotorischen Erschei- 
nungen vm Vordergrunde stehen und bei denen man daher die großen 
und rasch ablaufenden Blutdruckschwankungen vorwiegend auf ent- 
sprechende Veränderungen der kleinen Gefäße beziehen wird. Das 
Herzklopfen, über das derartige Kranke klagen, wird ein ‚vorwiegend 
dynamisches Herzklopfen‘ in dem oben entwickelten Sinne sein. Hier 
sind die Dlutdruckschwankungen die Quelle der veränderten Herztätigkeit, 
des wechselnden Acceleranstonus und der Beschwerden. 


Daß Blutdruckerniedrigung, wenn sie einigermaßen schnell eintritt, die er- 
wähnten Beschwerden verursachen kann, dürfte durch ihr Auftreten nach Verab- 


698 F. Kauffmann: Klinisch-experimentelle Untersuchungen 


folgung von Nitroglycerin erwiesen sein. Daß für einen raschen Blutdruckanstieg 
das gleiche gilt, erscheint wahrscheinlich, läßt sich aber vorläufig nicht auf so ein- 
deutige Art nachweisen, da wir kein Mittel haben, welches, wie das Nitroglycerin, d.h. 
ohne den Herzmuskel unmittelbar zu beeinflussen, durch Verengerung der peripheren 
Gefäße den Blutdruck zum Steigen bringen kann, also diej enigen Verhältnisse nach- 
ahmt, welche bei manchen Hypertonikern für das Zustandekommen der Blut- 
druckschwankungen sicher maßgebend sind und welches indirekt auf dem Wege 
der arteriellen Drucksteigerung dem Herzmuskel den Anstoß zu der Umstellung 
seiner Herztätigkeit zukommen läßt. Adrenalin z. B. wirkt neben den Gefäßen auch 
auf den Herzmuskel selbst und die Sympathicusendigungen unmittelbar ein. Das 
Elektrokardiogramm ändert sich bei Steigerung des Blutdrucks 2. B. durch Aorten- 
kompression nicht wesentlich, wohl aber nach Adrenalin, da die hiernach auftretenden 
Veränderungen eben nicht die Folge der Drucksteigerung, sondern der spezifischen 
Reizung der sympathischen Endigungen sind ( Rothberger und Winterberg). Adre- 
nalin ist daher nicht geeignet zu derartigen Untersuchungen, bei denen es sich um 
die Frage handelt, ob Blutdruckschwankungen und deren Folgen auf die Tätig- 
keit des Herzens zu den erwähnten Beschwerden, besonders zu Herzklopfen, Ver- 
anlassung geben kann. 


Auf zwei Punkte sei zum Schluß noch kurz hingewiesen: 


Oben wurde erwähnt, daß manche Kranke angegeben haben, bei körperlicher 
Arbeit weniger Herzklopfen zu empfinden als im Zustand der Ruhe; gerade dieser sei 
für sie besonders quälend. Zur Erklärung dessen wird man nicht nur an eine Ab- 
lenkung der Aufmerksamkeit denken müssen. Man wird sich vielmehr vorstellen 
dürfen, daß bei körperlicher Betätigung gleichsam der Schlendrian, in dem in der 
Ruhe die Organe des Kreislaufes, nicht nur das Herz, sondern auch die Gefäße 
bei diesen Kranken arbeiten, aufhört und daß, da die Innervation in einer bestimm- 
ten Richtung (Accelerans) beansprucht wird, der Einfluß gewisser innervatorischer 
Impulse kräftiger und daher die Labilität und der anhaltende Wechsel im Funk- 
tionszustand der Kreislauforgane geringer wird. Das Verschwinden des Herz- 
klopfens bei geringer körperlicher Arbeit wird man daher vielleicht für die Richtig- 
keit der Ansicht von der ursächlichen Bedeutung von Innervationsschwankungen 
(Schroetter, R. Kaufmann) für die Entstehung der Beschwerden verwerten dürfen. 

Und schließlich: auch unter den Formen des labilen Hochdrucks gibt es Kranke, 
welche keinerlei Beschwerden, die auf den Kreislauf hinweisen, vorzubringen haben. 
Subjektive Empfindungen können, wenn auch nur in seltenen Fällen, völlig fehlen. 
Diese Tatsache wird uns nicht von der Ansicht über die Bedeutung der Blutdruck- 
schwankungen für die Entstehung der Beschwerden abbringen können. Man könnte 
hier nämlich auf die ähnlich liegenden Verhältnisse für das Auftreten von Reflex- 
hyperästhesien der Haut bei Erkrankungen der Eingeweide hinweisen. Wer auf 


ihr Vorhandensein regelmäßig achtet, dem wird es nicht unbekannt sein, daß die 


Ausdehnung der hyperalgetischen Zonen und der Grade der Hyperalgesie in keinem 
Verhältnis steht zu der Schwere der auslösenden Organerkrankung. Wenn wir in 
vielen Fällen schwerer Eingeweideerkrankung jegliche Irradiationserscheinungen 
und in Fällen von labiler Hypertension jede Beschwerden vermissen können, so 
werden uns solche Beobachtungen ein Hinweis darauf sein, daß für ihr Zustande- 
kommen alle die individuell verschiedenen Faktoren maßgebend sein dürften, die 
man unter dem Begriff des Konstitutionellen zusammenzufassen pflegt, wobei 
ferner auch Alter, Erziehung und Lebensweise eine Rolle spielen. Der Empfindlich- 
keit eines Individuums z. B. gegenüber schmerzhaften Reizen und ihrer Beziehung 
zu anderen persönlichen Eigentümlichkeiten hat man bisher wenig Beachtung 
geschenkt, und doch eröffnet sich hier ein anregendes Arbeitsgebiet im Rahmen 
einer Pathologie der Person. 








zum Krankheitsbilde der arteriellen Hypertension. 699 


4. Zusammenfassung. 


Permanenter und konstanter Hochdruck gehen verhältnismäßig oft, 
labiler Hochdruck fast nie ohne Beschwerden, die auf den Kreislauf hin- 
weisen, einher. Es scheint daher die Frage berechtigt, ob es nicht die 
Schwankungen des Blutdrucks sind, die zu gewissen Beschwerden, in deren 
Vordergrund das Herzklopfen steht, Veranlassung geben. Die Beobachtung, 
daß rasch eintretende Blutdrucksenkung nach Darreichung von Nitro- 
glycerin mit dem Gefühl des Herzklopfens einherzugehen pflegt, dürfte 
zu Gunsten einer solchen Ansicht sprechen. 

Über Größe und zeitlichen Ablauf der Blutdruckschwankungen bei 
Kranken mit labilem Hochdruck scheint man sich bisher nicht die rich- 
tige Vorstellung gemacht zu haben. Bei kurz aufeinanderfolgenden 
Messungen lassen sich ganz gewaltige rasch ablaufende Blutdruckschwan- 
kungen bei einzelnen Kranken feststellen. 

Unsere Kenntnisse über die Entstehungsbedingungen des Herz- 
 klopfens sind bisher sehr gering. Krehl hat es als unsere nächste Aufgabe 
bezeichnet, für die ätiologisch verschiedenen Formen von Palpitationen 
das Verhalten der Herzrevolution eingehend zu studieren. Dies wird 
auf Grund von Aufnahmen des Herzspitzenstoßes mit einem nach den 
Frankschen Prinzipien gebauten Kardiographen zunächst für das 
„Herzklopfen des Nervösen‘“ versucht, wobei die älteren Angaben von 
Fr. Müller über die Verkürzung der ganzen Systole bestätigt werden. 
Im einzelnen ergab sich, daß die Verkürzung hauptsächlich die Aus- 
treibungszeit betrifft, während die Anspannungszeit sich nicht deutlich 
ändert. 

Auf die gleiche Weise wurde die Kontraktionsform des Herzens fest- 
zustellen versucht, die unter dem Einfluß künstlicher Blutdrucksenkung 
durch Nitroglycerin zustande kommt. In bestimmten zeitlichen Zwischen- 
räumen wurden während gleichzeitiger Kontrolle des Blutdrucks vor und 
nach Darreichung von Nitroglycerin Kardiogramme gewonnen. Deren 
Analyse ergibt, daß während der Blutdrucksenkung eine ganz charak- 
teristische Veränderung der Herztätigkeit zustande kommt, die in einer 
Verkürzung der Anspannungszeit und der Austreibungszeit, somit der 
ganzen Systole besteht. 

Die veränderte Herztätigkeit bei künstlicher Blutdrucksenkung 
läßt sich nicht nur nach den Gesetzen der Dynamik des Herzmuskels er- 
klären. Für die eintretende Verkürzung der Anspannungszeit scheint 
zwar die Annahme mechanischer Faktoren im wesentlichen richtig zu 
sein. Die Verkürzung der Austreibungszeit wird auf erhöhten Accelerans- 
tonus bezogen. Wie bei angestrengter körperlicher Arbeit (Bruns und 
Römer), so erweisen sich anscheinend auch bei künstlicher Blutdruck- 
senkung die nervösen Einflüsse auf das Herz mächtiger als die mecha- 
nischen. 


700 F. Kauffmann: Klinisch-experimentelle Untersuchungen 


Vergleicht man den Mechanismusder veränderten Herztätigkeitunddes 
Herzklopfens bei künstlicher Blutdrucksenkung durch Nitroglycerin mit 
der Entstehung der veränderten Kontraktionsform und des Herzklopfens 
bei psychischer Erregung oder körperlicher Arbeit, so zeigt sich, daß 
beim Nervösen und bei Körperarbeit unter den Kreislauforganen das Herz 
primär von den medullären Zentren her erregt wird, während bei Dar- 
reichung von Nitroglycerin der primäre Angriffspunkt an den Gefäßen 
gelegen ist. Im Hinblick auf den jeweiligen primären Angriffspunkt 
und die wichtigsten die Umstellung des Herzens auslösenden Faktoren. 
könnte man vielleicht das Herzklopfen, welches nach Darreichung von 
Nitroglycerin sich einstellt, als „vorwiegend dynamisches H. erzklopfen“ 
jenem bei seelischer Erregung oder körperlicher Arbeit als „vorwiegend. 
neurogen bzw. medullär (R. Kaufmann) bedingtem H erzklopfen‘‘ gegenüber- 
stellen. 

Je nach der Entstehung der starken und rasch ablaufenden Blut- 
druckschwankung wird man dem dynamischen Herzklopfen eine größere 
oder geringere Bedeutung bei Kranken mit labiler Hypertension zu- 
erkennen müssen. Bei Patienten, bei denen vasomotorische Erschei- 
nungen im Vordergrunde stehen, wird man die Blutdruckschwankungen 
zum guten Teil auf entsprechende Veränderungen der kleinen Gefäße 
beziehen dürfen. Das Herzklopfen, über welches derartige Kranke 
klagen, wird ein „vorwiegend dynamisches Herzklopfen‘ sein. Hier 
scheinen die Blutdruckschwankungen die Quelle der Beschwerden. — 





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(Aus der Medizinischen Universitäts-Klinik Frankfurt a.M. — Direktor: Prof. 
G. v. Bergmann.) 


Kliniseh-experimentelle Untersuchungen zum Krankheitsbilde 
der arteriellen Hypertension. 


IV. Teil. 
Über die inverse Blutdruckwirkung der Wärme. 


(Ein Beitrag zur Pathogenese arterieller Hypertension.) 


Von 
Privatdozent Dr. Friedrich Kauffmann, 
Assistenzarzt der Klinik. 


(Eingegangen am 20. Juni 1924.) 


Vertritt man die Ansicht, es liege den meisten Fällen von arterieller 
Hypertension eine erhöhte tonische Einstellung der kleinen Gefäße, 
also gewissermaßen eine Übertreibung ihres physiologischen Dauerzustan- 
des zugrunde, so wird es unsere Aufgabe sein, in jedem Einzelfalle das 
Quellgebrvet der tonisierenden Impulse festzustellen, hauptsächlich, um dar- 
aus Richtlinien für unser therapeutisches Handeln zu gewinnen. 

In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle bleiben freilich das Qxell- 
gebiet der tonisierenden Reize und auch die Wege, auf welchen die ver- 
mehrten Dauerimpulse den kleinen Gefäßen zufließen, unbekannt. Trotz 
sehr zahlreicher Untersuchungen und mannigfacher Befunde ist es ferner 
bis heute nicht gelungen, eine bestimmte chemische Substanz als 
ursächlichen Faktor zu erkennen. Die meisten Autoren, welche aus dem 
Blut einen pressorisch wirkenden Stoff isolieren konnten, pflegen mit 
Recht über die pathogenetische Bedeutung desselben sich sehr zurück- 
haltend zu äußern (vgl. z. B. Tannhauser und Weiß). 

Bei dem fast negativen Ausfall aller derartiger Untersuchungen muß 
man sich, besonders im Hinblick auf gewisse anamnestische Angaben 
und Klagen der Hypertoniker und anderer Kranker mit verwandten 
Gefäßzuständen fragen, ob es nicht möglich wäre und ob sich nicht 
Anhaltspunkte dafür gewinnen ließen, daß infolge einer bestimmten, 
vorläufig noch nicht näher definierbaren Zustandsänderung des Organis- 
mus und speziell der kleinen Gefäße die schon normalerweise und in 
physiologischer Menge im Körper kreisenden, pressorisch wirksamen Sub- 
sianzen zu vermehrter Wirksamkeit gelangen, daß die arterielle Hyperten- 
sion also besteht, weil die Ansprechbarkeit des Erfolgorgans, d. h. der kleinen 
Gefäße, aus irgendwelchen Gründen gesteigert oder verändert ist. 


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F. Kauffmann: Klinisch-experimentelle Untersuchungen usw. | 703 


Man sollte den Veränderungen des Milieu interne und seiner Bedeutung 
für das Zustandekommen der Blutdrucksteigerung bei den Kranken mit 
arlerieller Hypertension mehr als es bisher geschehen ist nachgehen. Wie 
sehr in dem ganzen pathologischen Geschehen auch beim Hypertoniker 
Schwankungen der allgemeinen Körperverfassung, mit Umstimmung der 
Reaktionsfähigkeit der kleinen Gefäße einhergehend, eine Rolle spielen 
dürften, mag unter anderem einer Zusammenstellung über die Häufung 
der Hirnblutungen zu bestimmten Jahreszeiten entnommen werden, 
die ich kürzlich an anderer Stelle!) vorgelegt habe: 

Die Häufung der Apoplexien im Frühjahr und Herbst ist imponierend: 
Frühjahr und Herbst scheinen kritische Zeiten für den H ypertoniker zu 
sein. Die Beobachtungen von L. Adler an Winterschläfern (Bedeutung 
der jeweiligen hormonalen Formel) und die Feststellungen von H. Straub 
und Mitarbeitern über die jahreszeitlichen Schwankungen der aktuellen 
Reaktion des Blutes dürften Fingerzeige für das Verständnis der Zu- 
' sammenhänge solcher Beobachtungen liefern. 

Ich möchte glauben, daß von ähnlichen Gesichtspunkten wie die 
jahreszeitlichen Schwankungen der Reaktionsverhältnisse einzelner, 
besonders vegetativ innervierter Körperorgane und auch der Gefäße so- 
wie gewisser krankhafter Erscheinungen auch die im folgenden zu 
schildernden Beobachtungen an manchen Kranken mit arterieller Hyper- 
iension unter dem Einfluß erhöhter Außentemperatur zu betrachten sind. 


1. Die Überempfindlichkeit mancher Hypertoniker gegenüber höheren 
Außentemperaturen. 


Es muß auffallen, wie. viele Kranke mit arterieller Drucksteigerung 
angeben, sich bei höherer Außentemperatur schlechter zu fühlen. Wenn 
man die Kranken fragt, ob sie sich lieber im warmen oder im kalten 
Zimmer aufhalten, so bekommt man sehr häufig zu hören, daß sie zwar 
leicht frieren, ‚aber im Winter habe ich mich stets wohler gefühlt wie 
im Sommer. Ich habe immer Angst vor der Hitze, vor warmen, schwü- 
len Tagen, und im warmen Zimmer kann ich gar nicht sein.“ Der Haus- 
frau wird es in der Wohnung leicht zu warm, Angst- und Beklemmungs- 
gefühle stellen sich ein, Luftmangel, Blutandrang zum Kopf, Herzklopfen, 
quälendes, subjektives Hitzegefühl mit heftigen Kopfschmerzen und 
starker innerer Erregung. Wird das Fenster geöffnet oder geht der 
Kranke aus dem Zimmer ins Kühle hinaus, tritt sofort Linderung ein. 
Eine Kranke gab an, im warmen Zimmer werde ihr alles zu eng, sie werde 
zittrig, und sehr starke innere Unruhe stelle sich ein. Im warmen Bad 
sei sie zweimal ‚fast ohnmächtig‘‘ geworden. Wenn man darauf achtet 
und regelmäßig danach fragt, so wird man erstaunt sein, wie häufig 





1) Über die Häufigkeit einzelner wichtigerer Klagen und anamnestischer An- 
gaben bei Kranken mit arterieller Hypertension. Münch. med. Wochenschr. 1924. 


Z. f. klin. Medizin. Bd. 100, 46 


704 F. Kauffmann : Klinisch-experimentelle Untersuchungen 


Kranke mit arteriellem Hochdruck und auch solche, die nur gelegent- 
liche Blutdrucksteigerungen zeigen, die Angabe machen, gegen Wärme 
überempfindlich zu sein. Man wird ferner feststellen können, daß es 
stets Kranke mit essentieller Hypertension sind, welche über die er- 
wähnten Beschwerden berichten. 

In der Literatur habe ich nur bei @eisboeck eine ähnliche Angabe gefunden. 
Von den Kranken, die an dem von ihm aufgestellten Krankheitsbilde der Poly- 
cythaemia hypertonica leiden, sagt er: „Auch wurde über ein Gefühl abnormer Hitze 
Klage geführt, das den Kranken den Aufenthalt in warmen Räumen unerträglich 
sein ließ und sie veranlaßt, kühle Außentemperaturen zu bevorzugen.“ 

Nie habe ich diese Angabe gehört von Kranken mit chronischer Nephri- 
tis. Im Gegenteil, diese sind oft wahre Fanatiker der Wärme. An 
heißen Tagen fühlen sie sich am wohlsten, im Zimmer können sie es 
nicht warm genug bekommen. Solche Kranke suchen die Wärme. 

Der Gegensatz ist ohne Zweifel auffallend. Nimmt man doch an, daß im all- 
gemeinen Patienten mit krankhafter Blutdrucksteigerung die Wärme als wohl- 
tuend empfinden. Mit Vorliebe und wohl auch mit gutem Erfolg hat man des- 
wegen früher solche Patienten in das subtropische, allerdings trockene Klıma 
von Assuan und Heluan geschickt, und Wärmeapplikation gilt seit langem als ein 
auch therapeutisch angewandtes Mittel (Heißluftkasten, Schwitzkuren), um den 
Blutdruck herabzusetzen. 

Auch bei anderen Zuständen, bei denen Angiospasmen eine Rolle 
spielen, hat man Wärme als schmerzlinderndes und therapeutisches Mittel 
empfohlen. So z. B. bei der Angina pectoris. Mancher Arzt wird sich 
aber wohl einzelner derartiger Kranker erinnern, die auffallenderweise 
den Eisbeutel, d. h. also die Kälte, unter deren Einfluß es sonst geradezu 
zur Auslösung eines Anfalles kommen kann (H. C'urschmann), vorgezogen 
haben und die unter der heißen Kompresse sich schlechter fühlten. 
Nimmt man entsprechend der allgemeinen Anschauung an, daß die 
wesentlichste Wirkung der Wärme im Angina-pectoris-Anfall auf reflek- 
torischer Erweiterung der Coronargefäße beruht, so ist die erwähnte 
Beobachtung am Krankenbett bereits geeignet, den Verdacht zu erwecken, 
ob die Wärme wirklich unter allen Umständen gefäßerweiternde Wirkung 
hat, und ob, da bei einzelnen Kranken unter ihrem Einfluß die Erschei- 
nungen sich verschlimmern, in solchen Fällen nicht ein umgekehrter 
Erfolg möglich wäre. Auf die Beobachtungen von H. Schlesinger, der bei 
Kranken mit intermittierendem Hinken durch Wärmeapplikation Zu- 
nahme der Beschwerden sah und dessen Beobachtungen in unserem 
Zusammenhang von ganz besonderer Bedeutung sind, wird später 
zurückzukommen sein. 

Um den eigentümlichen, immer wiederkehrenden anamnestischen 
Angaben und Klagen über Wärmeüberempfindlichkeit bei einzelnen 
Hypertonikern nachzugehen, habe ich bei einer ganzen Reihe von solchen 
Kranken bei künstlich erhöhter Außentemperatur das Verhalten des Blut- 








zum Krankheitsbilde der arteriellen Hypertension. 105 


drucks beobachtet. Dabei haben sich tatsächlich Unterschiede bei Wärme- 
überempfindlichen und solchen Kranken, welche die Wärme als wohltuend 
empfinden, feststellen lassen. 

Zunächst seien die Beobachtungen mitgeteilt. 


2. Versuchsanordnung. 


Anfänglich wurde versucht, den Einfluß eines warmen Bades auf den Blut- 
druck bei den verschiedenen Kranken zu untersuchen. Im Hinblick auf die Er- 
gebnisse O. Müllers wurde eine Wassertemperatur von 38° C gewählt, bei welcher 
nach den Angaben dieses Autors die Senkung des Blutdrucks am ausgesprochensten 
ist. Da es aber schwierig ist, im Bade den Blutdruck zuverlässig zu messen, wurde 
dieses Verfahren bereits nach wenigen Vorversuchen wieder aufgegeben. 

Um auch die Versuchsbedingungen den alltäglichen Verhältnissen möglichst 
anzupassen, wurden die zu untersuchenden Kranken in bekleidetem Zustand in 
ein Zimmer (Badezimmer) gebracht, dessen Temperatur auf eine Höhe von 
23—25° C eingestellt worden war. Der Feuchtigkeitsgehalt der Luft dieses Raumes 
war ein sehr hoher, er betrug 90—97%, relativer Feuchtigkeit. ‚Vorher hatte man 
in Abständen von mehreren Minuten wiederholt den Blutdruck gemessen. Das’ 
gleiche geschah alle 3 Min. im warmen Zimmer. Nach 21 Min., also nachdem der 
Blutdruck 7 mal dort gemessen worden war, wurden die Kranken wieder heraus- 
gefahren und die Blutdruckmessung noch einige weitere Male vorgenommen. Bei 
jeder Bestimmung des Blutdrucks wurde auch die Pulsfrequenz festgestellt. 


3. Beispiele und Ergebnisse. 


Im ganzen wurden auf diese Weise 28 Hypertoniker untersucht. 


Unter ihnen befinden sich zunächst 6 Kranke mit chronischer Nephritis bzw. 
sekundärer Schrumpfniere. Bei 10 weiteren ließ sich eine sichere Entscheidung, 
ob renale oder essentielle Hypertension, nicht treffen. Schließlich sind 12 Kranke 
mit sicher essentieller Hypertension untersucht worden. Von diesen letzteren hatten 
8 über große Empfindlichkeit gegenüber Wärme geklagt, von den 10 unbestimmten 
Hypertonikern 2. 

Bei den 6 Kranken mit chronischer Nephritis ist unter den erwähnten 
Versuchsbedingungen eine nennenswerte Änderung des Blutdrucks im 
warmen Zimmer nicht eingetreten, in 3 Fällen kam es zu Blutdrucksenkung, 
bei einem Kranken um 28, bei einer Patientin um 34, bei einer weiteren 
um 21 mm Quecksilber. Auch die Pulsfrequenz hat sich nicht deutlich 
verändert. Zu erwähnen ist, daß diese Kranken über keinerlei unange- 
nehme Sensationen geklagt haben; im Gegenteil; sie fühlten sich im war- 
men Zimmer wohl. 

Im Gegensatz dazu steht das Ergebnis bei einer Reihe von Kranken 
mit essentieller Hypertension. 

Es wurden, wie erwähnt, 8 derartige Kranke untersucht, die in der 
Anamnese die oben geschilderten Beschwerden angegeben hatten. Von 
diesen soll zunächst die Rede sein. Wurden diese Patienten in das warme 
Zimmer gebracht, so sagten sie z. T. schon beim Eintritt, es sei ihnen dort 
zu heiß. Bald klagten sie über Kopfschmerz, Druckgefühl auf der Brust, 

46* 


706 F. Kauffmann: Klinisch-experimentelle Untersuchungen 


Atembeklemmung. Das Aussehen wurde gerötet, sie gaben ein Gefühl 
innerer Hitze an. 3 Patienten wurden unruhig und verlangten 
hinausgebracht zu werden. Waren die Kranken in normale Zimmer- 
temperatur zurückgekehrt, so fühlten sie sich ‚wie erlöst‘“. 

Von besonderem Interesse ist das Verhalten des Blutdrucks: Von den 
hier zunächst zur Rede stehenden & Kranken haben 7 mit einer deutlichen 
Blutdrucksteigerung im warmen Zimmer reagiert. 2 Beispiele seien dafür 
angeführt: 


Beispiel 1: Frau L. H., 51 Jahre alt. Eltern an unbekannter Krankheit ge- 
storben, der Vater soll viel an Kopfschmerzen gelitten haben, 1 Bruder hat 
ebenfalls viel Kopfschmerzen mit Erbrechen. Die Pat. selbst hat schon als 
junges Mädchen viel unter migräneartigen Zuständen zu leiden gehabt. Seit 
dem Klimakterium haben diese Beschwerden nachgelassen. Krank war sie 
sonst nie, nur klagt sie über häufige Schwindelanfälle und über ‚„Rheumatis- 
mus“ in den Gliedern, der seit etwa 10 Jahren bestehe. Im warmen Zimmer 
kann sie es nicht aushalten und schildert die oben angegebenen Beschwerden. 
Früher hat sie bei solchen Gelegenheiten oft die migräneartigen Zustände bekommen. 
Jetzt stellt sich dann hatıptsächlich noch Herzklopfen, Hitzegefühl und zu- 
nehmender Schwindel ein. Beim Kartoffelschälen erlitt sie eine Apoplexie: Die 
Schalen wurden plötzlich immer dicker, die Pat. konnte nicht mehr sprechen, 
es trat Lähmung des rechten Armes und rechten Beines ein. 

Aus dem Befund: Bei Einlieferung kann die Pat. wieder sprechen. Sym- 
ptome rechtsseitiger Hemiplegie, die binnen 8 Tagen im wesentlichen zurück- 
gehen, so daß Pat. wieder laufen kann. Nierenfunktion intakt, maximale Kon- 
zentration 1030, Reststickstoff 30 mg-%. Harnsäure 1,5 mg-%, Cholesterin 
0,13%, Erythrocyten 5,3 Mill. Vergrößerung des Herzens, periphere Gefäße zart, 
nicht geschlängelt, Capillarpuls vorhanden, Augenhintergrund (Dr. Grafe): rechts 
Glaskörpertrübung, dicke Fibrinflocken im unteren Teil der Netzhaut, wahrschein- 
lich schwere Hämorrhagie aus der Gegend der Papille in den Glaskörper. Periphere 
Teile besser sichtbar, ohne Veränderungen. Links: Starke Füllung der Venen, 
Arterien mittleren Kalibers zum Teil korkzieherartig geschlängelt, nicht besonders 
eng, keine Blutung oder Degenerationsherde. Macula frei. 

Im Nitroglycerinversuch: Geringe Senkung, also geringe Entspannungsbereit- 
schaft der Gefäße (Kauffmann). Im allgemeinen hielt sich der Blutdruck bei dieser 
Pat. mit nur geringen Schwankungen zwischen 160 und 180 mm Quecksilber. 

Das Verhalten des Blutdrucks bei dieser Pat. mit essentieller Hypertension 
ist aus Tab. I unter Nr. 1 ersichtlich. Ohne weiteres sieht man, daß im warmen 
Zimmer eine deutliche Steigerung des Blutdrucks eingetreten ist, die nach 18 Min. 
mit einer Erhöhung um etwa 35 mm Quecksilber ihr Maximum erreicht. Nach 
Rückkehr in normale Außentemperatur erfolgt rasche Senkung zum Ausgangswert. 


Nicht nur Kranke, bei denen eine anhaltende Blutdrucksteigerung 
wie in dem ersten Beispiel besteht, haben mit Steigerung des Blutdrucks 
bei warmer Außentemperatur reagiert, sondern auch solche, die während 
längerer Beobachtung nur gelegentliche Blutdruckerhöhung zeigten, Kranke 
also, bei denen man von einer ‚„‚Hypertensionsbereitschaft‘ sprechen kann. 
Interessant in dieser Beziehung ist der folgende Fall: 


Beispiel 2: Die 35jährige Krankenschwester M. F. leidet seit einigen Jahren 
an heftiger Migräne, hauptsächlich während der Menstruation. Im Frühjahr und 


Er, 


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zum Krankheitsbilde der arteriellen Hypertension. 


707 


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708 F. Kauffmann: Klinisch-experimentelle Untersuchungen 


im Herbst sind die Kopfschmerzen besonders heftig. Sie werden auf die rechte 
Seite lokalisiert, gehen mit starkem Brechreiz, gelegentlich mit Erbrechen sowie 
Flimmern vor den Augen einher. Die Mutter und ein Bruder leiden ebenfalls an 
Migräne. Krankheiten hat die Schwester nie durchgemacht, sie kann ihren Dienst 
als Stationsschwester auf besonders anstrengender Abteilung im allgemeinen regel- 
mäßig versehen. Nur nach Aufregungen und Ärger oder: „wenn ich einen Kranken 
gebadet habe“, stellen sich heftige Kopfschmerzen mit Brechreiz ein. „Im warmen 
Zimmer kann ich mich nicht aufhalten, im kühlen fühle ich mich leicht wieder wohl, 
ins warme Badezimmer darf ich gar nicht mehr gehen.‘‘ Zweimal ist sie selbst im 
warmen Bad kollabiert und mußte ins Bett getragen werden. Schwitzt nur sehr 
wenig, hat nie Fieber gehabt, auch nicht während einer vor Jahren überstandenen 
Angina. Kein Insuffizienzgefühl, kein Rheumatismus, guter Schlaf, kein morgend- 
licher Kopfschmerz, leidet viel an kalten Händen und Füßen. 

Der Blutdruck bewegte sich bei dieser sonst gesunden Pat. bei wiederholter 
täglicher Messung zwischen 125 und 166 mm Quecksilber, wobei die morgend- 
lichen Werte nie über 136, in der Regel unter 130, die abendlichen Werte in der 
Regel nicht über 150 mm Quecksilber gelegen haben. Ab und zu aber kamen höhere 


Werte vor. Diese Bestimmungen sind vorgenommen worden zu einer Zeit, wo die 


Pat. tagsüber ihren Dienst versah. 

Das Verhalten des Blutdrucks im warmen Zimmer ist unter Nr.2 in Tab.I 
ersichtlich. Es kommt zu einer deutlichen, wenn auch nicht starken Steigerung des 
Blutdrucks, des systolischen wie des diastolischen, die größte Zunahme für den 
ersten beträgt 17 mm Quecksilber. Die Pulsfrequenz nahm zunächst ein wenig ab, 
um gegen Ende des Versuches anzusteigen. Nach Verlassen des warmen Zimmers 
sinkt der Blutdruck rasch unter den Ausgangswert ab. 


Unter Nr. 3—8 der gleichen Tabelle sind die Ergebnisse bei den 
6 weiteren wärmeüberempfindlichen Kranken mit essentieller Hyper- 
tension wiedergegeben. Nur inNr.S8 bleibt der Blutdruck unbeeinflußt. 
In allen übrigen Fällen läßt derselbe ein mehr oder weniger deutliches An- 
steigen erkennen. Nr. 4 zeigt den stärksten beobachteten Anstieg um 43 mm 
Quecksilber bei einer 40jährigen Kranken, deren Blutdruck, bei der 
Einlieferung etwa 200 mm Quecksilber betragend, binnen weniger Tage 
auf Werte zwischen 140 und 170 mm Quecksilber abgesunken ist. Die 
Niere war klinisch gesund, der Augenhintergrund unverändert, ein Capil- 
larpuls fehlte. 

Von den übrigen 4 Kranken mit essentieller Hypertension, die in der 
Anamnese über die geschilderten Beschwerden nicht zu klagen hatten, 
haben 2 unter den gleichen Bedingungen ebenfalls mit einer Blutdruck- 
steigerung reagiert, die in dem einen Fall 17, in dem anderen 12 mm 
Quecksilber betragen hat (vgl. Nr. 9—12 in Tabelle Nr. I). 

Schließlich ist der gleiche Versuch bei 10 Kranken ausgeführt worden, 
bei denen eine sichere Entscheidung, ob renale oder essentielle Hypertension 
nicht zu treffen war. 2 von diesen hatten über Wärmeüberempfindlichkeit 
zu klagen, von denen I Patientin mit Blutdrucksteigerung um 28 mm 
(Quecksilber reagierte, die andere unbeeinflußt blieb; von den übrigen 
ließen 2 eine Blutdruckerhöhung, 1 Patientin um 11, 1 Patient um 
19 mm Quecksilber erkennen. Bei den übrigbleibenden 6 Kranken 





zum Krankheitsbilde der arteriellen Hypertension. 709 


änderte sich der Blutdruck in 2 Fällen nicht, bei 4 trat eine Senkung 
um 12—32 mm Quecksilber ein. 

Arrak hat kürzlich bei Hypertonikern das Verhalten des Blutdrucks im warmen 
Bade (30° R) untersucht und fand im allgemeinen eine Erniedrigung des Blutdrucks 
um 20—25, auch 40—45 mm Quecksilber. Doch hat auch er zweimal eine Blut- 
drucksteigerung festgestellt und sagt: „In diesen Fällen fühlten sich die Kranken 
im Bade schlecht.“ 


Während im allgemeinen die Wärme einen blutdruckerniedrigenden 
Einfluß hat, ist ihre Wirkung bei manchen Hypertonikern eine andere; 
hier führt Wärme zu Blutdrucksteigerung. Diese umgekehrte oder inverse 
Wirkung der Wärme scheint auschließlich bei Kranken mit essentveller 
Hypertension zu bestehen, bei Kranken, die vielfach in der Anamnese an- 
geben, sich bei warmer Außentemperatur unbehaglich zu fühlen und 
immer wieder die gleichen Beschwerden, die unter solchen Verhältnissen 
eintreten sollen, vorbringen. Man wird daher annehmen dürfen, daß 
zwischen der Blutdrucksteigerung und den Beschwerden, die sich im 
Warmen einstellen, ein gewisser Zusammenhang besteht. Die Blutdruck- 
steigerung scheint freilich zu gering zu sein, um sie etwa als Quelle der 
Beschwerden ansehen zu können; und, da die Blutdruckerhöhung auch 
bei einzelnen Kranken aufgetreten ist, die keine unangenehmen Sensa- 
tionen empfanden, so wird man sie andererseits auch nicht oder jeden- 
falls nicht nur als die Folge der Beschwerden betrachten dürfen. Man 
wird sich vielmehr vorstellen müssen, daß Blutdrucksteigerung und Be- 
schwerden koordinierte Erscheinungen einer mangelhaften Anpassungs- 
fähigkeit an veränderte äußere Bedingungen (erhöhte Außentemperatur) 
sind, wobei die Möglichkeit nicht geleugnet werden soll, daß der Ein- 
tritt der Beschwerden die Blutdrucksteigerung in verstärktem Maße 
entstehen läßt. 


4. Kann man sich das Zustandekommen der inversen Blutdruckwirkung 
der Wärme erklären? 

Wenn man der Frage nachgeht, wodurch das geschilderte, eigentüm- 
liche Verhalten mancher Kranker mit essentieller Hypertension, nämlich 
auf einwirkende Wärme richt mit Blutdruckerniedrigung, sondern mit 
Blutdrucksteigerung zu antworten, zu erklären sei, so kann man an 
verschiedene Möglichkeiten denken. 


A) Über das Verhalten der Körperwärme bei höherer Außentemperatur. 


Zunächst könnte man geneigt sein, an Störungen der Wärmeregulation 
als Ursache zu denken. Im Hinblick auf die Angabe zahlreicher wärme- 
überempfindlicher Hypertoniker, nur sehr schwer oder gar nicht in 
Schweiß geraten zu können, schien die Möglichkeit nahezuliegen, daß 
bei warmer Außentemperatur die Wärmeregulation durch Wasserver- 
dunstung auf der Körperoberfläche nicht ausreichend sei und daß es 


710 F. Kauffmann: Klinisch-experimentelle Untersuchungen 


daher schon frühzeitig zu einer Wärmestauung im Organismus kommen 
könne. Unter solchen Verhältnissen würde man dann in der Wärme- 
stauung eine Ursache für die Blutdrucksteigerung erblicken dürfen. 


Die Annahme, infolge mangelhafter Schweißsekretion könnte es zu einer 
Wärmestauung im Organismus kommen, schien zunächst eine Stütze zu finden 
in den Angaben anderer Autoren, welche Gelegenheit hatten, Patienten, bei denen 
über das Bestehen einer Störung der Wärmeabgabe durch mangelnde Schweißsekretion 
kein Zweifel besteht, unter dem Einfluß verschiedener Temperaturen zu beobachten. 

Aus den Krankengeschichten von Löwy und Wechselmann, Günther, Siebert 
geht zunächst die interessante Tatsache hervor, daß derartige Kranke bei warmer 
Außentemperatur über ganz entsprechende Beschwerden klagen wie wärmeüberemp- 
findliche Hypertoniker: Kopfschmerzen, Unruhe, psychische Erregung, Dyspnöe 
stellen sich ein. 

Löwy und Wechselmann berichten von einem Kranken mit vollkommener 
Anhidrosis, der dadurch viele Qualen erlitten habe, daß er schon als Kind es im 
Sommer vor innerer Hitze nicht habe aushalten können. Oft habe sich Blutandrang 
nach dem Kopf eingestellt, ein anderer konnte die Hitze in Lokalen nicht ver- 
tragen und mußte daher seinen Beruf wechseln. Siebert berichtet von seiner Patien- 
tin über analoge Beschwerden. 

Bei solchen schweißdrüsenlosen Individuen kommt es unter dem Einfluß der 
Wärme zu sehr beträchtlicher Erhöhung der Körpertemperatur. Bei einem Patienten 
von Löwy und Wechselmann steigt dieselbe z. B. unter dem Einfluß von Wärm- 
flaschen auf 38,6° oder, nachdem der Kranke bei 23—25° Lufttemperatur 1 Stunde 
lang in der Sonne umhergegangen war, auf 39,1°. Bei den beiden Kranken von 
Linser und Schmidt stieg bei Erwärmung im Heißluftapparat die Körpertempe- 
ratur etwa doppelt so rasch wie bei Normalen um mehrere Grade an. Über das 
Verhalten des Blutdrucks machen die Autoren aber keine Angaben. Auch mir ist 
es bisher leider nicht möglich gewesen, ein schweißdrüsenloses Individuum unter 
den angegebenen Bedingungen auf das Verhalten des Blutdrucks zu untersuchen. 

Aus dem T'ierexperiment aber weiß man, daß künstliche Erhöhung der Körper- 
wärme zu Blutdrucksteigerung führt. Stefani hat eine solche bei Erwärmung des 
Carotisblutes ebenso wie bei Aufträufeln von warmer Kochsalzlösung auf die 
Medulla oblongata gesehen. Kahn beobachtete das gleiche trotz beträchtlicher 
Erweiterung sämtlicher oberflächlicher Gefäße. Den Anstieg des Blutdrucks 
führt Kahn darauf zurück, daß die Gefäßerweiterung an der Körperoberfläche 
durch Verengerung in anderen Gebieten, und zwar im Splanchnicusgebiet, über- 
kompensiert werde. 


Um die Frage zu entscheiden, ob man etwa für das Zustandekommen 
der Blutdrucksteigerung bei den wärmeüberempfindlichen Hypertonikern 
mit der Wärmestauung zu rechnen habe, galt es festzustellen, ob derartige 
Kranke bei Erhöhung der Außentemperatur mit größerer Steigerung der 
Körperwärme reagierten als Gesunde und besonders als andere Hypertoniker, 
die sich im Warmen wohlfühlten und bei denen die Blutdrucksteigerung 
nicht zustande kam. 

Zu diesem Zweck habe ich eine ganze Anzahl von Kranken verschiedener Art 
für 1/, Stunde in ein warmes Bad von 38°C gebracht, nachdem vorher die Körper- 
temperatur bestimmt worden war. Nach dem Bade wurde die Körpertemperatur 


wiederum gemessen und die Messung in Abständen von !/, Stunde mehrfach 
wiederholt. 


Fe N 


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BE a EN — 


Tessa RE en en > el a 


1 
| 





zum Krankheitsbilde der arteriellen Hypertension. 


ıl 


‚ In der folgenden Tabelle II sind einige Ergebnisse beispielsweise zu- 

































































sammengestellt. 
Tabelle Il. 

1. 2 3. 4. D. 6. 1 8 

Bi EN id 8.v..| A.w.| @.M. | E.H | B.H. | L.H. 

Alter 47 9 | 48 > ER En We: 52 51 
, unbe- Mirsirlichöle sekund. | essent. | essent. | essent. 
Diagnose stimmte | Ischias .... |Schrumpf-| Hyper- | Hyper- | Hyper- 
Hypert. stenose | cystitis niere tension | tension | tension 

°C °C °o °C | 0 °G °C °C 
Vor dem Bad. . 37,6 37,3 | 36,9 | 36,8 37,8 36,8 | 37,1 37,3 
Nach dem Bad . 38,2 en RG ae RR Sy 37,5 5 YA BR Wa YR: aA 
15 Min. 38.1 BL, DE WoSTarN 307 37,8 FLO ROTEN 70 
307. 37,8 DESLMSTHA ELT 37,8 3.3 1937.09 37,4 
45 „ 3742 LE 97.8 1.9700 ut 97,: | 37,4 37,5 
Late; 37,6 BuDIEALON. 137 37,1 2.070 87,41 360 
1Y/, St. DEINES TE STIER ARTE N 137,3 5 




















Bemerkungen zu Tab. II. 

Zu Nr.1: Bad wurde gut vertragen, nach dem Bad wenig Schwindel, stark 
gerötetes Aussehen. 2: Fühlt sich wohl. 3: Etwas Beklemmungsgefühl, Druck- 
gefühl in der Herzgegend, hinterher Kopfschmerz und Müdigkeit. 4: Etwas Übel- 
keit, Kopfschmerz. 5: Fühlt sich sehr wohl. 6: Erschwertes Atmen, Druckgefühl 
in der Herzgegend, bleierne Schwere in den Gliedern, nach dem Bad Schwindel, 
Zittern am ganzen Körper, stark gerötetes Aussehen, Kopfschmerz, Atemnot. 
7: Kopfschmerzen, Angstzustände, Schwächegefühl, Kribbeln in beiden Händen. 
Die Pat. mußte bereits nach 9 Min. wegen Übelkeit, starker Hitze und innerer 
Erregung aus dem Bade herausgenommen werden. Nach dem Bade Zittern aller 
"Glieder, Kopfschmerzen, Weinkrampf, Müdigkeit, stark gerötetes Aussehen. 8: Hef- 
tige Kopfschmerzen und Brechreiz, Parästhesien, besonders heftig in den Füßen. 
Nach dem Bade Flimmern vor den Augen, Brechreiz. 

Versuch 6, 7 und 8 stammen von Kranken mit sicher essentieller Hyper- 
iension, von denen die beiden letzten geringe Neigung zum Schwitzen 
angaben und im warmen Zimmer mit Blutdrucksteigerung, erstere um 
25 mm, letztere um 35 mm Quecksilber reagierten. Man sieht, daß die 
Körpertemperatur nach dem Bade zwar ein wenig angestiegen ist, daß 
der Anstieg aber nicht beträchtlicher ist als bei. anderen Individuen, die in 
der Tabelle verzeichnet und unter den gleichen Bedingungen untersucht 
worden sind. Bei der Patientin, von welcher Versuch 7 stammt und die 
wegen Übelkeit bereits nach 9 Minuten aus dem Bade genommen werden 
mußte, ist die Temperatur während der folgenden Zeit zunächst noch 
weiter angestiegen. Das gleiche Verhalten ließen aber auch andere Patienten 
ohne Hypertension erkennen. In Versuch 5, bei welchem die gleiche 
Erscheinung eingetreten ist, handelt es sich um sekundäre Schrumpf- 
niere mit Hypertension. 

Aus 21 derartigen Versuchen bei wärmeüberempfindlichen Hypertonikern 
und anderen Kranken geht hervor, daß von einem stärkeren Anstieg der 


12 F. Kauffmann : Klinisch-experimentelle Untersuchungen 


Körpertemperatur im, warmen Bade bei den ersteren nicht die Rede sein 
kann. Eine Beeinflußbarkeit der Körpertemperatur durch höhere Außen- 
temperaturen, wie bei schweißlosen Individuen oder auch z.B. bei Men- 
schen, die wie Myxödemkranke weniger schwitzen und im warmen Bade 
mit starker 'Temperaturerhöhung reagieren (Cori), läßt sich nicht fest- 
stellen. Vielmehr verhält sich die Körpertemperatur bei den zur Rede stehenden 
Patenten nicht anders als bei Gesunden und Hypertonikern überhaupt. 

Mit der Möglichkeit einer Wärmestauung als Ursache der Blutdruck- 
steigerung bei warmer Außentemperatur wird man demnach bei wärmeüber- 
empfindlichen Hypertonikern kaum zu rechnen haben. 


B) Über die Empfindlichkeit der Kranken mit essentieller Hypertension 
gegenüber Pilocarpin. 


Ehe ich auf andere Möglichkeiten der inversen, blutdrucksteigernden 
Wirkung der Wärme, die in Betracht zu ziehen wären, eingehe, seien 
noch einige weitere Befunde mitgeteilt, die sich auch hauptsächlich auf 
wärmeüberempfindliche Hypertoniker beziehen und deren eigentümliche 
Reaktionsverhältnisse erkennen lassen. 

Schon seit langem ist mir immer wieder aufgefallen, wie häufig man 
Hypertoniker antrifft, welche ganz außerordentlich empfindlich gegen- 
über Pilocarpin sind. Billigheimer erwähnt das gleiche. Achtet man 
genauer auf die auftretenden Reaktionen, so ergibt sich folgendes: 
Während bei Gesunden und Kranken anderer Art auf subeutane Injektion 
von 0,01 g Pilocarpin nur in verhältnismäßig seltenen Fällen Erbrechen 
auftritt, stellt sich solches bei Kranken mit essentieller Hypertension außer- 
ordentlich häufig ein. Dabei ist es auffallend, daß Schweißausbruch, der 
im allgemeinen neben dem Speichelfluß die hauptsächlichste pharma- 
kologische Wirkung darzustellen pflegt, bei den gleichen Kranken oft 
sehr gering ist. Von der verschiedenartigen Wirkung bei den verschie- 
denen Gruppen von Kranken mit arterieller Drucksteigerung gibt 
Tab. III einen Überblick. 

Tabelle III. 





























Zahl | on ae |Speichelfiuß 
Essentielle jwärmeüberempfindlich . . . 9 9 2 9 
Hiypertension\ nicht wärmeüberempfindlich . 8 + 4 6 
Benale:Hoypertension.! nett. er 15 5) jet 10 
Unbestimmtef wärmeüberempfindlich . . 2 2 — 2 
Hypertension\ nicht wärmeüberempfindlich . 20 6 16 18 


Während von 13 Kranken mit chronischer Nephritis oder sekundärer 
Schrumpfniere nur 5 mit Erbrechen reagierten, aber 11 mit starkem 
Schweißausbruch und 10 mit starker Salivation, haben von den 7/7 Kran- 
ken mit essentieller Hypertension 13 mit Erbrechen, nur 6 mit stärkerem 











zum Krankheitsbilde der arteriellen Hypertension. 213 


Schweißaubruch und 15 mit starkem Speichelfluß reagiert. Es ergibt 
sich also ein deutliches Überwiegen der Brechreaktion bei Kranken mit 
essentieller Hypertension und ganz besonders bei den Wärmeüberempfind- 
lichen unter ihnen, während bei chronischen Nierenkranken weniger als 
_ die Hälfte mit Erbrechen reagiert hat. 

Es ist ja nun freilich bekannt, daß die Wirkung des Prlocarpins eine 
individuell verschiedene sein kann, daß bald die eine Reaktion, bald die 
andere im Vordergrund steht. Falta, Newburgh und Nobel sprechen in 
diesem Sinne von einer „Dissoziation der Wirkungen‘‘. Aus der oben mit- 
geteilten Tabelle dürfte hervorgehen, daß bei den Kranken mit essen- 
tieller Hypertension und speziell bei den Wärmeüberempfindlichen eine 
besondere Ansprechbarkeit ganz bestimmter Organe auf vagale Reize 
besteht und daß eine verschiedene Reaktionsfähigkeit einzelner, vom 
vegetativen Nervensystem versorgter Organe bei Kranken mit essen- 
tieller Hypertension einerseits und Gesunden und Kranken mit chronischem 
Nierenleiden andererseits vorhanden ist. — Aus diesen Differenzen wird 
man freilich nicht auf Unterschiede in dem Zustand des gesamten para- 
sympathischen Systems schließen dürfen, sondern man muß annehmen, 
daß für die Wirkung die Verfassung bzw. die Erregbarkeit des Erfolg- 
organs maßgebend ist. 

Darum kann man aus diesen Beobachtungen auch keine Schlüsse 
ziehen auf den Zustand der Gefäße, auf die es in diesem Zusammenhang 
ankommt und deren Vasodilatoren ja ebenfalls dem parasympathischen 
System angehören dürften. 


C) Über die inverse Blutdruckwirkung des Adrenalins. 


Wichtiger sind Beobachtungen über die Wirkungsweise des Adre- 
nalins. Vielen Autoren, die sich mit dem Einfluß des Adrenalins auf den 
Blutdruck beschäftigt haben, ist es bereits aufgefallen, daß es immer 
wieder einmal Individuen gibt, bei denen auf die gleiche Dosis nicht nur 
eine initiale Blutdruckerniedrigung mit nachfolgendem Blutdruckanstieg 
(Dresel) zu beobachten ist, sondern bei denen eine Blutdrucksteigerung 
überhaupt ausbleibt, ja sogar eine langdauernde Senkung des arteriellen 
Druckes als einzige Blutdruckwirkung festzustellen ist. Belligheimer 
z. B. vermißte unter 36 verschiedenartigen Kranken dreimal die Blut- 
drucksteigerung. 

Vor kurzem hat Kylin die Blutdruckreaktion nach Adrenalin bei Kranken 
mit arterieller Hypertension untersucht. Seine Ergebnisse, die sich freilich nur 
auf ein verhältnismäßig kleines Material beziehen, sind überraschend: er hat 4 Kranke 
mit akuter Glomerulonephritis untersucht; alle reagierten .‚wie normale Personen“, 
d.h. mit Blutdrucksteigerung. Von 16 Kranken mit essentieller Hypertension aber 
zeigten 14 ein Absinken des Blutdrucks, welches bei den einzelnen Patienten un- 


gleich stark war und maximal bis zu 50 mm Quecksilber, im allgemeinen 15 bis 
25 mm Quecksilber, betragen hat. Aus diesen Beobachtungen zieht Kylın den 


714 F. Kauffmann: Klinisch-experimentelle Untersuchungen 


Schluß, daß die Adrenalin-Blutdruckreaktion bei diesen beiden Formen von 
Hypertension, der essentiellen Hypertension und der Hypertension bei der akuten 
Glomerulonephritis, verschieden sei. 

Ich habe ebenfalls bei zahlreichen Hypertonikern die Wirkung des Adrenalins 
auf den Blutdruck untersucht. Die Ergebnisse, die sich auf im ganzen 51 Patienten 
beziehen, sind in Tab. IV zusammengestellt. Als unbeeinflußt hat der Blutdruck . 
wiederum dann gegolten, wenn die Steigerung oder die Senkung nicht mehr als 
10 mm Quecksilber betragen hat. 











Tabelle IV. 
m], ——————. 
Zahl Anstieg) Senkung MN 
Essentielle j wärmeüberempfindlich . . . 9 1 8 = 
Hypertension\ nicht wärmeüberempfindlich . 6 3 ıt 2 
henale Hypertenson ne 14 12 2 
Unbestimmtef wärmeüberempfindlich . . . 2 1 —_ 1 
Hypertension\ nicht wärmeüberempfindlich . | 20 14 1 5 

















Aus Tabelle IV ergibt sich in Analogie zu den Befunden Kylins ein 
deutlicher Unterschied in der Reaktionsweise zwischen den einzelnen For- 
men von arterieller Hypertension. Auch unter meinen Kranken haben 
die Patienten mit renaler Drucksteigerung mit nur 2 Ausnahmen mit 
Blutdrucksteigerung reagiert, während bei zahlreichen Kranken mit 
essentveller Hypertension eine z. T. recht beträchtliche Senkung des Blut- 
drucks eingetreten ist. Bei den wärmeüberempfindlichen Kranken 
fand sich eine solche ganz besonders häufig, nämlich bei 8 von 9 Fällen. 
Hier betrug die größte beobachtete Senkung 61 mm, die kleinste 24 mm 
Quecksilber. 

Im ganzen habe ich unter 51 Hypertonikern auf subeutane Injektionen 
von 1 mg Adrenalin IO mal eine Blutdrucksenkung, d. h. also eine inverse 
Adrenalinreaktion beobachtet; von diesen erwiesen sich $ als überemp- 
findlich gegenüber Wärme. Ich möchte glauben, daß dieses Ergebnis 
kein zufälliges und daß der Befund der inversen Adrenalinreaktion im- 
stande ist, einen Fingerzeig für die Auffassung der umgekehrten Blut- 
druckreaktion bei warmer Außentemperatur zu liefern. 


D) Über die Ursache der inversen Blutdruckwirkung des Adrenalins und 
der Wärme. 


Wenn wir uns fragen, ob man sich eine Vorstellung von den Fak- 
toren machen kann, welche für die Umkehr der Adrenalinreaktion bei 
manchen Hypertonikern maßgebend sein könnten, so sind vielleicht 
folgende zwei Möglichkeiten in Erwägung zu ziehen. Die eine derselben 
ergibt sich aus den Untersuchungen und Schlußfolgerungen von Kolm 
und Pick, mit der anderen wird man rechnen dürfen auf Grund gewisser 
Beobachtungen und Vorstellungen W. Freys und experimenteller Be- 
funde von Heymann. 











zum Krankheitsbilde der arteriellen Hypertension. 715 


Es liegen bereits eine ganze Reihe von Untersuchungen vor, aus 
denen hervorgeht, daß die Wirkung eines Pharmakons nicht unter allen 
Umständen die gleiche ist, daß die pharmakologische Wirkung vielmehr 
von dem jeweiligen Erregungszustand des Erfolgorgans weitgehende Ab- 
hängigkeit zeigt. An verschiedenen Objekten und unter verschiedenarti- 
gen Einflüssen hat man gefunden, daß unter ganz bestimmten Voraus- 
setzungen sogar eine Umkehr der Wirkung eintreten kann. 


Ich will hier nur hinweisen auf die diesbezüglichen Beobachtungen am Magen- 
Darmkanal nach Applikation verschiedener Gifte, besonders Atropin, Adrenalin, 
Acetylcholin (Magnus, Weiland und le Heux, Trendelenburg, Klee, Lasch, Kolm 
und Pick), an den Gallenwegen (Westphal), am Herzen (Kaufmann und Donath, 
Kahn, Nobel und Rothberger, Kolm und Pick). 

So finden sich auch über die umgekehrte oder inverse Wirkung von Gefäßgiften 
eine ganze Reihe von Feststellungen vor. Eine inverse Wirkung ist vom Strychnin 
bekannt: Langley sah bei decerebrierten Katzen, bei denen der Blutdruck durch 
Adrenalin gesteigert war, durch Strychnin Blutdrucksenkung. Fröhlich und Bauer 
fanden Entsprechendes am Laewen-Trendelenburgschen Präparat: das adrenalin- 


‘ vergiftete Froschpräparat reagiert auf Durchströmung mit Strychnin mit erheb- 


licher Gefäßerweiterung. — An Kranken mit intermittierendem Hinken sah 
H. Schlesinger nach Strychnininjektion eine auf das kranke Bein beschränkte 
Rötung und Erwärmung der Haut, also ebenfalls eine Umkehr der sonst bekannten 
Reaktion. 

Die Umkehr der Adrenalinwirkung nach Lähmung der Vasoconstrictoren 
durch Ergotoxin (Dale) ist allgemein bekannt. Auch Vorbehandlung mit Pepton 
oder Histamin kann die gefäßverengernde Wirkung des Adrenalins aufheben 
(Fröhlich und Pick). Bauer und Fröhlich fanden sogar, daß im Experiment nach 
längere Zeit fortgesetzter Durchleitung von adrenalinhaltiger Ringerlösung am 
Laewen-T'rendelenburgschen Froschpräparat auf Adrenalinzusatz eine weitere 
Gefäßverengerung ausbleibt, ja sogar Gefäßerweiterung eintreten kann. Die Autoren 
sagen: Unter solchen Bedingungen muß man annehmen, daß die inverse Adrenalin- 
reaktion durch Angriff des Adrenalins an dem peripheren vasodilatatorischen ner- 
vösen Apparat zustande kommt, dessen Erregung unter normalen Verhältnissen 
von der der constrictorischen Nervenendigungen übertroffen wird. — 

Wichtige Feststellungen verdanken wir besonders Kolm und Pick. Katsch 
hatte schon früher am Bauchfensterkaninchen gefunden, daß die Darmgefäße 
beim mit Physostigmin vorbehandelten Tier, bei dem also eine starke, vagale Er- 
regung besteht, nur durch sehr starke Adrenalindosen (4 mg) zur Verengerung zu 
bringen sind. Kolm und Pick beobachteten, daß Gefäße, welche unter Acethyl- 
cholin, also ebenfalls unter starken vagalen Impulsen stehen, durch Adrenalin 
nicht verengt,.sondern sogar erweitert werden können. Die Autoren sagen: es scheint 
uns, daß die Anspruchsfähigkeit des einen (sympathischen) Systems von dem je- 
weiligen Erregungszustand des anderen (vagischen) abhängt. Gefäßgifte, welche 
elektiv das eine der autonomen Systeme beeinflussen, sind imstande, das Wirkungs- 
bild von Gefäßgiften für das andere System wesentlich zu ändern. Eine starke 
vagale Erregung erzeugt eine Umkehr oder wenigstens eine Hemmung der normaler- 
weise zu beobachtenden constrictorischen Adrenalinwirkung. 


Die Befunde von Kolm und Pick wird man bei der Beurteilung der 
inversen Blutdruckwirkung des Adrenalins zu berücksichtigen haben. 
Sie scheinen nämlich auf eine Erklärungsmöglichkeit hinzuweisen. 


716 F. Kauffmann: Klinisch-experimentelle Untersuchungen 


Kylin, der, wie erwähnt, ebenfalls bei vielen Kranken mit arterieller Hyper- 
tension eine Umkehr der Adrenalinreaktion beobachtet hat, nimmt eine Störung 
des vegetativen Nervensystems als Ursache an. Er verweist auf die parasympathische 
Blutdruckkurve Dresels und auf die Angaben Munks, daß man bei Kranken mit 
essentieller Hypertension oft an „‚Vagotonie“ erinnernde Symptome antreffe. Kylin 
sagt: „Man sollte zu der Annahme verlockt werden, daß das sympathische Nerven- 
system in diesen Fällen wenigstens teilweise gelähmt sei und daß das parasym- 
pathische statt dessen überwiege.‘“ 

Was zunächst die Annahme einer teilweisen Lähmung des Sympathicus an- 
belangt, so erscheint eine solche Ansicht wenig wahrscheinlich. Erstens kann man 
aus einer anscheinend bestehenden Unempfindlichkeit gegenüber einem Phar- 
makon nicht ohne weiteres auf eine Lähmung des reagierenden Organs oder Ge- 
webes schließen. Ferner wird man von einer Lähmung des Sympathicus bei den 
Kranken mit arteriellem Hochdruck auch deswegen wohl kaum sprechen können, 
weil doch die kleinen Gefäße verengt und diese Verengerung in vielen Fällen durch 
vermehrte, auf dem Wege der dem sympathischen System angehörenden Vaso- 
constrictoren zufließende Impulse unterhalten werden dürfte. Man könnte sich 
sogar vorstellen, daß ein exzessiver Erregungszustand des Sympathicus vorliegt, 
der einer weiteren Steigerung durch Adrenalin gar nicht mehr fähig ist. Kylin 
scheint noch an dem Vergleich mit dem Wagebalken festzuhalten, nach welchem 
Tonuszunahme im einen System mit Tonusabnahme im anderen einhergeht. Aus 
zahlreichen Untersuchungen geht aber hervor, daß im allgemeinen immer dann, 
wenn ein erhöhter Erregungszustand im sympathischen System vorhanden ist, 
gleichzeitig ein solcher im parasympathischen besteht, daß in der Regel also beide 
Systeme gleichzeitig veränderte Ansprechbarkeit zeigen (J. Bauer, Petren und T'hor- 
ling, v. Bergmann, Katsch und Westphal, Knauer und Billigheimer, Billigheimer). 

Auch aus den experimentellen Untersuchungen von Kolm und Pick geht her- 
vor, daß für das Zustandekommen einer Blutdrucksenkung nach Adrenalin, auf 
vagotroper Wirkung des Pharmakons beruhend, eine Lähmung des Sympathicus 
nicht erforderlich vst. Auf Grund ihrer Untersuchungen gelangen die Autoren 
zu der Anschauung, daß für die Ansprechbarkeit des einen vegetativen Systems 
jeweils der Erregungszustand des anderen bestimmend ist. Unter physiologischen 
Verhältnissen überwiegt bei gleichmäßig abgestimmter Erregbarkeit der beiden 
Systeme die sympathicotrope Adrenalinwirkung und ‚verdeckt‘ die schwächere 
vagale. Besteht aber eine Steigerung der vagalen Erregung, so kann diese die 
Ursache dafür sein, daß die gefäßverengernden Sympathicusendigungen für 
Adrenalin unempfindlich sind und daß eine vagotrope Wirkung des Adrenalins 
resultiert. 

Arnstein und Schlesinger haben z. B. gefunden, daß im Senium Adrenalin 
nur wenig wirksam ist, daß in mehr als !/, der Fälle sogar Blutdrucksenkung und 
Pulsverlangsamung resultieren. Kolm und Pick sind geneigt, diese Feststellung 
mit dem im Alter überwiegenden Vagustonus zu erklären. Da die Vasodilatatoren 
dem vagischen System anzugehören scheinen (Stricker, Biedl und Bayliss, Pearce, 
Billigkeimer, Kolm und Pick), so ist die resultierende Blutdrucksenkung, die auch 
Arnstein und Schlesinger bereits als vagotrope Adrenalinwirkung vermutet hatten, 
verständlich. 


Eine Erklärung für das Zustandekommen der inversen Adrenalinreak- 
ton bei Kranken mit essentieller Hypertension wird man in der Annahme 
erblicken dürfen, daß neben dem erhöhten sympathischen Erregungszu- 
stand gleichzeitig eine vermehrte Ansprechbarkeit der vagalen Nervenendi- 
gungen der Gefäße für Adrenalin vorhanden ist und diese die Ursache 








zum Krankheitsbilde der arteriellen Hypertension. 217 


bzw. die Voraussetzung für die vagotrope Adrenalinwirkung, die zu Blut- 
drucksenkung führt, darstellt. 

Kylin hat also vielleicht recht, wenn er eine Störung innerhalb des 
vegetativen Nervensystems bei manchen Formen von essentieller Hyper- 
tension als Ursache für die inverse Adrenalinblutdruckreaktion annimmt. 
Seiner Ansicht, es handle sich möglicherweise um eine teilweise Lähmung 
des Sympathicus, wird man freilich nicht zustimmen können. Haupt- 
sächlich sind es die Untersuchungen von Kolm und Pick, die gezeigt 
haben, daß die Adrenalinwirkung von dem jeweiligen Erregungszustand 
des vagischen Apparates abhängig ist. Eine vermehrte Erregung der vaga- 
len Endapparate, die gleichzeitig mit erhöhtem Erregungszustand im 
sympathischen System besteht, liegt bei Kranken mit arterieller Hyper- 
tension durchaus im Bereich der Möglichkeit. Die mitgeteilten Befunde 
über die Pilocarpinempfindlichkeit lehren, daß in gewissen Erfolg- 
organen des vegetativen Nervensystems gerade bei den wärmeüberemp- 
findlichen Kranken, den gleichen, die auch das größte Kontingent der 
inversen Adrenalinreaktion geliefert haben, tatsächlich eigentümliche 
Reaktionsverhältnisse auf vagale Reize zu bestehen scheinen. Wir 
sahen, daß auch andere Autoren an ‚„Vagotonie‘ erinnernde Sym- 
ptome bei Kranken mit arterieller Hypertension beobachtet haben. Die 
vermehrte Ansprechbarkeit der vagalen Endapparate im Sinne von Kolm 
und Pick dürfte möglicherweise eine Ursache für die inverse Adrenalın- 
reaktion bei Hypertonikern darstellen. 

Wenn Kolm und Pick daher sagen: ‚Es ist wahrscheinlich, daß die 
Beispiele der veränderten Reaktionsfähigkeit der Gefäße durch Ände- 
rung des Tonusgleichgewichts beider autonomer Systeme sich werden in 
der Folge durch weitere Beobachtungen vermehren lassen‘, so wird man 
die hier vorgelegten Untersuchungen vielleicht in diesem Sinne ver- 
werten dürfen. 


Die andere Möglichkeit, die zu berücksichtigen wäre, ist folgende: 


In Anlehnung an ältere Untersuchungen von Latschenberger und Deahna, 
Heger, Kaufmann hat Frey mit Hagemann die Entstehungsbedingungen der Blut- 
drucksteigerung nach intraarterieller Injektion verschiedener Substanzen, von 
denen hier besonders Kohlensäure, Monokaliumphosphat, Milchsäure zu nennen 
sind, untersucht und vertritt auf Grund seiner Ergebnisse wie Heger und Kauf- 
mann die Ansicht, daß die nach Injektion der erwähnten Substanzen zu beobach- 
tende Drucksteigerung nicht, wie Latschenberger und Deahna angenommen, unter 
dem Einfluß veränderter intraarterieller Druckverhältnisse zustande komme, 
sondern auf reflektorischem Wege durch Reizung der im Gewebe oder den Capillaren 
liegenden sensiblen Nervenendigungen entstehe. Die Gefäßwand an sich scheint 
an dem Reflexvorgang nicht beteiligt zu sein, da man nach Injektion physiologischer 
Kochsalzlösung in die abgebundene Arterie eine Blutdrucksteigerung nicht beob- 
achtet. Nach Durchschneidung der zugehörigen sensiblen Nerven bleibt auch nach 


Injektion von reizenden Substanzen die Erhöhung des Blutdrucks aus. 


718 F. Kauffmann: Klinisch-experimentelle Untersuchungen 


Frey ist der Ansicht, daß auch beim: Menschen mit analogen Ent- 
stehungsbedingungen arterieller Drucksteigerung zu rechnen sei, daß, 
wie im Tierexperiment, besonders saure Stoffwechselprodukte, z. B. 
solche, die bei der Muskelarbeit entstehen (Milchsäure, Phosphorsäure), 
zu einer Säuerung der Gewebe, Reizung von sensiblen N ervenendigungen 
und auf reflektorischem Wege zu Blutdrucksteigerung führen könnten. 

In dieser Anschauung liegt viel Bestechendes. Bekannt ist, daß viele 
Hypertoniker bei körperlicher Arbeit abnorm leicht ermüden. Man kann 
sich sehr wohl vorstellen, daß dieses auf abnormer Säuerung der Organe 
beruht. Die Verengerung oder erhöhte tonische Einstellung der kleinen 
Gefäße dürfte für ihr Zustandekommen einen wichtigen ursächlichen 
bzw. begünstigenden Faktor abgeben. Besteht eine derartige Verän- 
derung, so wird der Eintritt der Hyperämie, wie eine solche z. B. in den 
Muskeln bei Steigerung ihrer Tätigkeit notwendig ist, beeinträchtigt sein; 
infolge mangelhafter Zirkulationsverhältnisse entsteht Sauerstoffmangel; 
die dissimilatorischen Stoffwechselvorgänge überwiegen über die assi- 
milatorischen, und es kommt zu Anhäufung von Milchsäure und Phos- 


phorsäure. 


Daß die Verengerung oder erhöhte Tonisierung der kleinen Gefäße für die Ent- 
stehung der Muskelermüdung und der vorzeitigen Ermüdung einzelner Glieder nicht 
ganz ohne Bedeutung ist, erscheint sehr wahrscheinlich auf Grund der an anderer 
Stelle (Münch. med. Wochenschr. 1924) bereits mitgeteilten Befunde, die an Kranken 
mit Angina pectoris oder solchen, bei denen nur Druckschmerzhaftigkeit des linken 
Plexus brachialis, also ein unterschmerzlicher Erregungszustand besteht, erhoben wer- 
den konnten: Solche Kranke klagen häufig über vorzeitige Ermüdung des linken Armes, 
und es dürfte naheliegen, diese mit der veränderten Gefäßeinstellung in Zusammen- 
hang zu bringen, die sich an diesem Körperteil teils durch die Capillarbeobachtung 
am Nagelfalz unmittelbar, teils durch das eigentümliche, gegenüber der gesunden 
Seite veränderte Verhalten bei experimentell erzeugter lokaler Hyperämie (Kauff- 
mann und Kalk) gewissermaßen indirekt zur Anschauung bringen läßt. Die abnorm 
leichte, vorzugsweise die auf einzelne Glieder beschränkte Ermüdbarkeit scheint 
man geradezu in dem Sinne verwerten zu dürfen, daß bei vielen Hypertonikern 
die Blutversorgung der Organe bei ihrer Tätigkeit nicht in der richtigen Weise vor 
sich geht und daher die Stoffwechselvorgänge zugunsten der dissimilatorischen 
Prozesse verschoben sind. Die Zellermüdung des tätigen Organs führt dann, viel- 
leicht deswegen, weil vermehrte, vom Willen abhängige innervatorische Impulse zur 
Fortsetzung der Tätigkeit notwendig sind, zum subjektiven Ermüdungsgefühl. 

Wenn wir hören, daß Frey im Experiment bei intraarterieller Injektion von 
1 cem N/;., d.h. einer etwa 0,2 proz. Milchsäure eine Blutdrucksteigerung auslösen 
konnte, also einer Menge, die wohl im Bereich physiologischer Konzentration gelegen 
sein dürfte — Laquer fand im ermüdeten Froschmuskel 0,14—0,19%, als höchsten 
Wert 0,193% Milchsäure, Meyerhof bei Ermüdung durch Tetanus bis zu 0,249, 
bei Ermüdung durch Einzelreize sogar bis zu 0,43%, im Durchschnitt 0,3% 
Milchsäure —, so wird man z. B. der Ansicht Freys, die Blutdrucksteigerung bei er- 
müdender Muskeltätigkeit des Menschen sei nicht so sehr, wie man bisher annahm, 
auf eine abnorme Funktion des Zentralnervensystems als vielmehr auf den Muskel, 
speziell auf die übermäßige Bildung von Milchsäure zu beziehen, durchaus Beachtung 
schenken. 











zum Krankheitsbilde der arteriellen Hypertension. 719 


Jedenfalls wird man damit rechnen dürfen, daß es beim Hypertoniker 
nicht nur in den Muskeln, sondern auch in anderen Organen, besonders 
dann, wenn bei starker Verengerung der Arteriolen die Blutzufuhr zu den- 
selben gehemmt ist, abnorm leicht zu Ansammlung bei der Tätigkeit gebil- 
deter saurer Stoffwechselprodukte und daher zu einer mehr oder weniger 
ausgedehnten Säuerung der Gewebe kommt. 

Am Froschpräparat nach Pissemski und bei Durchspülung des 
Kaninchenohres hat Heymann gefunden, daß unter dem Einfluß von Säure 
die Adrenalinwirkung eine veränderte ist: nach Durchleitung von schwä- 
cherer Milchsäure-Ringer-Lösung hat die Zufuhr von Adrenalin entweder 
gar keine Wirkung auf die Gefäßweite, wie dasschon Arnoldi nach Kohlen- 
säureapplikation beschrieben hat, oder es tritt sogar eine @efäßerweite- 
rung ein. „Diese Erscheinung ist das eklatanteste Beispiel der Adrenalin- 
umkehr, das man sich denken kann.‘‘ Saures Milieu hat also inverse 
Adrenalinreaktion zur Folge. 

Vielleicht darf man mit der Möglichkeit rechnen, daß auch beim Hyper- 
'toniker die Säuerung der Gewebe als ursächliches Moment bzw. als Vor- 
bedingung für die Inversion der Adrenalinwirkung in Frage kommt. 

Für die Entstehung der inversen Strychninwirkung beim Menschen 
macht Zak eine analoge Annahme; er glaubt, daß für ihr Zustande- 
kommen ein „ischämisches Milieu der Gefäße‘ notwendig sei, wie es sich 
z. B. nach Anlegung einer Esmarchschen Binde und besonders nach 
aktiver Bewegung der im anämischen Gebiet gelegenen Muskeln hervor- 
rufen läßt. Er vermutet, daß im abgeschnürten Teil und besonders bei 
der Arbeit Abbauprodukte vermutlich saurer Art entstehen, und diese mit 
ihrer vasoconstrietorischen Wirkung die Vorbedingung für die Umkehr 
der Strychninwirkung schaffen. Auch am kranken Bein von Patienten 
mit intermittierendem Hinken nimmt Zak eine Ischämie, d.h. also wohl eine 
abnorme Säuerung der Gewebe als Ursache für die lokal eintretende Umkehr 
der Strychninreaktion, d.h. Gefäßerweiterung anstatt Verengerung, an. 


Wenn wir nun sehen, daß bei gewissen Hypertonikern im Gegensatz 
zu gesunden und andersartigen Kranken unter dem Einfluß der Wärme 
eine Blutdrucksteigerung resultiert, so möchte ich glauben, daß ganz 
die gleichen Veränderungen, welche die Vorbedingung für die Entstehung 
der inversen Adrenalin- bzw. Strychninreaktion darstellen, auch die Vor- 
aussetzung für die inverse Blutdruckwirkung der Wärme sein können. 


Die gefäßerweiternde, also umgekehrte Wirkung des Strychnins am kranken 
Bein von Patienten mit intermittierendem Hinken wurde bereits erwähnt. Auch 
andere Reize haben hier inverse Wirkung: auf mechanische Reizung der Haut bleibt 
z. B. die reaktive Hyperämie aus oder es kommt sogar zum Erblassen der Haut 
(Zak), welches 5—10 Min. lang anhalten kann; ‚dieser Effekt einer mechanischen 
Hautreizung gehört offenbar zur Umkehr mancher Gefäßreflexe beim intermittierenden 
Hinken‘ (H. Schlesinger). 


Z. f. klin. Medizin. Bd. 100. 47 


720 F. Kauffmann: Klinisch-experimentelle Untersuchungen 


Am wichtigsten aber ist die Beobachtung von H. Schlesinger, daß am 
kranken Bein beim intermittierenden Hinken auch die Wärme einen um- 
gekehrten Erfolg hat: Taucht man dasselbe nämlich in heißes Wasser, 
so tritt am kranken Bein nicht, wie üblich, Rötung, sondern hochgradige 
blässe ein; der Fuß wird „leichenfahl“. 

Wie bei Kranken mit intermittierendem Hinken die Gefäßreflexe derart 
verändert sein können, daß man von einer Umkehr sprechen kann, und die 
Vasoconstrictoren das Übergewicht haben, wenn Reize einwirken, 
welche bei Gesunden Gefäßerweiterung herbeiführen, Wärme also z. B. 
Angiospasmen hervorruft, so möchte ich mir vorstellen, daß es bei ge- 
gewissen Hypertonikern, die oft auch durch ihr Verhalten gegenüber ge- 
wissen pharmakologischen Substanzen eigentümliche, von der Norm ab- 
weichende Reaktionsverhältnisse erkennen lassen, unter dem Einfluß der 
Wärme ebenfalls zu Gefäßkontraktionen kommt und dadurch der Blut- 
druck in die Höhe getrieben wird. Daß tatsächlich wie bei Kranken mit 
intermittierendem Hinken auch bei Hypertonikern in heißem Wasser Er- 
blassen der Finger, also eine paradoxe Vasomotorenreaktion auf Wärme 
eintreten kann, hat Rudolf Schmidt kürzlich in einem Falle beschrieben 
(vgl. Med. Klinik 1923, Nr.45, S. 1479), und ich habe inzwischen das 
gleiche Phänomen zu beobachten Gelegenheit gehabt: 

Es handelte sich um eine 48jährige Pat. E. R. (aufgenommen 21.I. 1924), 
deren Mutter im 64. Lebensjahr am Schlaganfall gestorben ist und die selbst 
ihre Klagen in typischer Weise vorbrachte. Von Nierenerkrankung wußte 
sie nichts. Im 36. Lebensjahr war eine Totalexstirpation des Uterus und 
der Adnexe vorgenommen worden. Große UÜberempfindlichkeit gegen höhere 
Außentemperaturen und Unbehagen bei schwülem Wetter: „Im Winter fühle 
ich mich immer am wohlsten.“ Der Blutdruck hielt sich ziemlich konstant auf 
Werten um 180/135 mm Hg. Im Anschluß an eine leichte interkurrente fieberhafte 
Influenza sank derselbe auf ganz niedrige Werte ab, um im Laufe von 10 Tagen 
allmählich wieder auf die alte Höhe anzusteigen. Ließ man diese Kranke die Hände 


in heißes Wasser tauchen, so trat Leichenblässe derselben ein, ein Phänomen, 
welches die Pat. seit mehreren Jahren bereits an sich selbst beobachtet hatte. 


Auch Eppinger, v. Papp und Schwarz!) haben bei ihren vergleichenden 
Gasanalysen des arteriellen und venösen Blutes bei einzelnen ‚‚nervösen 
Menschen“ abnorme Wirkungen von warmen Bädern beobachtet, Wir- 
kungen, die nicht wie sonst auf Gefäßerweiterung, sondern auf Gefäß- 
verengung hinweisen. In diesen Fällen wirkte, wie sie berichten, ‚Hitze 
paradox verengend“ auf die kleinen Gefäße ein. 


In welchen. Körperbezirken bei hohen Außentemperaturen die Gefäßverenge- 
rung im menschlichen Körper eintritt, läßt sich freilich vorläufig nicht sagen; 
die Hauigefäße aber scheinen es unter diesen Bedingungen nicht zu sein, da auch 
bei den Kranken, die mit Blutdrucksteigerung reagierten, Rötung der Körperober- 





\) Eppinger, v. Papp und Schwarz, Über das Asthma cardiale. Jul. Springer, 
Berlin 1924. 





zum Krankheitsbilde der arteriellen Hypertension. 791 


fläche und besonders des Gesichts zu beobachten war. Am meisten wird man 
wohl an das Splanchnicusgebiet zu denken haben. - 

Unentschieden muß es vorläufig bleiben, welche der beiden erwähnten 
Möglichkeiten, die als Ursache bzw. Voraussetzung der inversen 
Wirkung in Frage zu kommen scheinen, unter den Verhältnissen der 
Wirklichkeit eine größere Rolle spielt, d. h. ob die Voraussetzung der 
inversen Blutdruckwirkung der Wärme wie des Adrenalins in abnormer 
Säuerung der Gewebe oder in einer unter dem Einfluß veränderter nervöser 
Dauerimpulse zustande gekommenen Änderung der funktionellen Gleich- 
gewichtslage der kleinen Gefäße, mit Veränderung ıhrer Erregbarkeit ein- 
hergehend, gegeben ist. Die Annahme einer abnormen Säuerung der Ge- 
webe wird hauptsächlich auch durch die Beobachtungen von H. Schle- 
singer und Zak an Kranken mit intermittierendem Hinken gestützt, 
einem Zustand, bei dem es sich um lokale Angiospasmen und lokal ver- 
änderte Reaktionsverhältnisse handelt. 


5. Über die Bedeutung der inversen Blutdruckwirkung der Wärme für die 
Pathogenese des Krankheitsbildes der arteriellen Hypertension. 


Wenn sich auch zeigen ließ, daß bei einzelnen Hypertonikern unter 
dem Einfluß höherer Außentemperatur eine mehr oder weniger starke 
Blutdrucksteigerung auftreten kann, und ein ursächlicher Zusammenhang 
von Blutdrucksteigerung und Wärme in solchen Fällen nicht zu leugnen 
sein dürfte, so geht aus den bisherigen Ausführungen doch ohne weiteres 
hervor, was :man vielleicht als selbstverständlich ansehen wird, daß 
nämlich die Wärme nicht ohne weiteres die erste Ursache der Blutdruck- 
erhöhung sein kann, denn in der Regel hat Wärme, jedenfalls im Bereich 
der bei den vorliegenden Untersuchungen angewandten Temperaturen, 
Blutdrucksenkung zur Folge. 

Die Wirkung jahreszeitlicher Einflüsse wie die Wetterempfindlich- 
keit einzelner Individuen ist ohne Zweifel von der Beschaffenheit des 
reagierenden Organismus abhängig (s. 0.). Für die Inversion der Blutdruck- 
wirkung der Wärme liegt die Ursache ebenfalls um Organismus selbst. Eine 
bestimmte Zustandsänderung, mit veränderter Ansprechbarkeit der kleinen Ge- 
fäße einhergehend, stellt die Vorbedingung für die blutdrucksteigernde Wer- 
kung höherer Außentemperaturen dar. Der Wärme kommt dann, bei sonst 
vorhandenen endogenen Bedingungen, die Rolle eines auslösenden Faktors zu. 

Wenn man bedenkt, daß höhere Außentemperaturen im alltäglichen 
Leben eine große Rolle spielen, und andererseits sich erinnert, dab 
seit Huchard die Ansicht Anerkennung gefunden hat, daß wieder- 
holte Blutdrucksteigerung zu chronischer Hypertension führen könne, 
ja, daß „der Übergang von Gefäßkrisen in dauernde Hypertonie etwas 
ganz Gewöhnliches‘ ist (Frey), so wird man anerkennen müssen, daß die 
Blutdrucksteigerung durch Wärme ein Moment darstellt, dessen Bedeu- 

47* 


799 F. Kauffmann: Klinisch-experimentelle Untersuchungen 


tung für die Entwicklung des Krankheitsbildes der arteriellen Hyperten- 
sion nicht völlig zu vernachlässigen ist. 

Unsere Kenntnisse über die ohne Zweifel sehr mannigfachen Fak- 
toren, welche für die Pathogenese des Krankheitsbildes der arteriellen 
Hypertension maßgebend sind, sind heute noch außerordentlich gering. 
Die psychogene Hypertension ist sicher nicht selten. In der Mehrzahl der 
Fälle aber pflegt man vergebens nach einem Faktor zu suchen, der im 
Einzelfalle von besonderer Wichtigkeit sein könnte. Immer wieder kann 
man sich beim Aufnehmen der Anamnese oder auch bei längerer Beob- 
achtung zahlreicher Kranker des Eindrucks nicht erwehren, daß die 
Gesamtheit der im Laufe des Alltags auf den Kranken einwirkenden Reize 
und das Milieu, in welchem er lebt, eine ganz wichtige Rolle spielen. 
Die auffallende Häufigkeit, mit welcher Hypertoniker darüber klagen, 
sich in warmer Außenluft nicht wohlzufühlen, bildete den Ausgangs- 
punkt der vorliegenden Untersuchung. 

Ich möchte glauben, daß die feucht-warme Außentemperatur durchaus 
einen Faktor darstellt, welcher, so oft er sich wiederholt, bei bestimmten 
Kranken, besonders solchen, bei denen die Symptome lokaler Angio- 
spasmen und vasomotorischer Phänomene überhaupt (zu denen vornehm- 
lich die Migräne, der morgendliche Kopfschmerz und der ‚„Hochdruck- 
rheumatismus‘‘ gehören) häufige Erscheinungen sind, den Blutdruck 
in die Höhe treibt und so im Einzelfalle einen mehr oder weniger breiten 
Raum einnimmt unter der Menge der im allgemeinen noch unbekannten, 
alltäglichen exogenen Reize, die bei bestehender Hypertensionsbereitschaft auf 
dem Wege über die Anfallshypertension zu essentieller Dauerhypertension 
führen, deren Endstadium die genuine Schrumpfniere sein kann. 

Für unser therapeutisches Handeln ergibt sich, daß man Hypertoni- 
kern, welche über die angeführten Beschwerden unter dem Einfluß 
warmer Außentemperaturen klagen, und bei denen, wie gezeigt werden 
konnte, unter solchen Verhältnissen eine Blutdrucksteigerung eintritt, 
zu empfehlen hat, den Aufenthalt in warmen Räumen zu vermeiden und 
an heißen Tagen sich ganz besonders zu schonen. 


6. Zusammenfassung. 


Es ist auffallend, wie viele Kranke mit essentieller Hypertension, nicht 
aber solche mit sekundärer Schrumpfniere oder chronischer Nephritis, 
über Überempfindlichkeit gegen höhere Außentemperaturen klagen. 
Untersucht man derartige Kranke unter entsprechenden äußeren Be- 
dingungen, und achtet man dabei auf den Blutdruck, so ergibt sich bei 
der Mehrzahl derselben ein von Gesunden und anderen Kranken abwei- 
chendes Verhalten: sie reagieren nicht mit Blutdrucksenkung, sondern 
mit Blutdrucksteigerung. Es kommt also bei ihnen eine inverse Blut- 
druckwirkung der Wärme zustande. 


zum Krankheitsbilde der arteriellen Hypertension. 723 


Über die Ursache dieses eigentümlichen Verhaltens mangelnder An- 
passungsfähigkeit an die wechselnden Einflüsse der Umwelt, die nur im 
Organismus des Kranken gelegen sein kann, lassen sich vorläufig nur 
Vermutungen äußern. Um eine Störung der Wärmeregulation, mit 
Wärmestauung im Organismus einhergehend, scheint es sich nicht zu 
handeln. Als Ursache der inversen Blutdruckwirkung der Wärme kommt 
jedenfalls eine bestimmte Zustandsänderung des Organismus in Betracht, 
bei welcher es sich entweder um eine Störung des vegetativen Nerven- 
systems, mit verändertem Erregungszustand der N ervenendigungen 
an den kleinen Gefäßen einhergehend, oder um eine abnorme Säuerung 
der Gewebe (Frey, Heymann) handeln dürfte. 

Da höhere Außentemperaturen im alltäglichen Leben eine große 
Rolle spielen und andererseits ein Übergang wiederholter, anfallsweise 
auftretender Blutdrucksteigerung zu Dauerhypertension angenommen 
werden darf, so wird man der Blutdrucksteigerung durch Wärme unter 
der Menge der im allgemeinen noch unbekannten alltäglichen exogenen 
. Reize für die Pathogenese des Krankheitsbildes der essentiellen H yperten- 
sion eine gewisse Bedeutung nicht absprechen können. 





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(Aus der II. Medizinischen Universitätsklinik der Charite zu Berlin. — Direktor: 
Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Fr. Kraus.) 


Über den Grundumsatz bei Hypertonien. 


Von 
Dr. Marcel Händel. 


(Eingegangen am 1. Juli 1924.) 


Vor einigen Jahren hat Mannaberg!) auf das häufige Vorkommen 
von Tachykardie bei Patienten mit essentieller Hypertonie aufmerksam 
gemacht; es fand sich bei 43% der Fälle eine Frequenzerhöhung des Pul- 
ses geringeren oder höheren Grades. Mannaberg spricht von einer Hoch- 
. drucktachykardie und faßt die Erhöhung sowohl der Pulsfrequenz wie 
des Blutdruckes als den Ausdruck einer endokrinen Störung, am wahr- 
scheinlichsten der Schilddrüse auf. Als im Sinne dieser Annahme spre- 
chend führt er das häufige Vorkommen von starken Schweißen und 
Glykosurie bei Hypertonikern, das Versagen der Digitalis, das gele- 
gentliche Auftreten der Struma an. Um seine Annahme weiter zu stützen, 
ließ Mannaberg bei seinen Patienten den Grundumsatz bestimmen. 
Es hat sich nun herausgestellt, daß die Fälle von essentiellem Hochdruck 
in der Regel eine nicht unbeträchtliche Steigerung des Grundumsatzes 
aufweisen. Aber auch bei einem Teil der Nephritiker mit Hypertonie 
fand sich eine Umsatzerhöhung. Zwei Fälle von Aortitis luetica mit 
Hochdruck ergaben dagegen einen normalen Befund. Andererseits 
fand Arnoldi bei Hypotonikern häufig einen herabgesetzten Umsatz 
(mündliche Mitteilung). 

Ich hatte Gelegenheit anläßlich meiner Grundumsatzbestimmungen 
an Patienten der II. medizinischen Klinik und Poliklinik auch eine grö- 
Bere Anzahl von Hypertonikern zu untersuchen. Mit Rücksicht auf die 
Wichtigkeit der Frage, die angesichts der so rätselhaften Pathogenese 
der genuinen arteriellen Hypertonie theoretisches und praktisches En- 
teresse beanspruchen darf, will ich hier über meine an einem größeren 
Material gesammelten Erfahrungen berichten. Die Untersuchungen 
wurden mit dem Kroghschen Apparat ausgeführt, selbstverständlich unter 
den gewöhnlichen Kautelen (die Kranken waren nüchtern und haben 
längere Zeit vor der Untersuchung geruht). Der Umsatz ist im Calorien, 
bezogen auf 1m? Körperoberfläche und eine Stunde. ausgedrückt. Die 
Berechnung geschah nach der Tabelle von Du Bois. Ich lasse zunächst 
die Untersuchungsresultate, in Tabellen zusammengefaßt, folgen. 

















726 M. Händel: 
Tab. 1. Hwypertonien ohne Nephritis. 
Grundumsatz 
Name, Körper- Körper- Puls- |Blutdruck| in Cal. pro m? Steige- rise 
Alter, gewicht größe | frequenz | n. Riva- u. Stunde rung Einiges ee 
Geschlecht | in Kg | m cm | pro Min. | Rocei ge- iu yo E 
funden | normal 
1)KI.Sch. 57 164 | 70—96 |180/115| 36 36 > Große Erregbarkeit, Blutdru 
43.J>0 wechselnd; R.N.39 mg, U: 
Bi; enthält Phosphate, sonst o. 
Verdünnung u. Konzentrati 
normal. 

2) Marg. || 62 170 | 76—100! 170/110 | 38 36,5 4,1 | Große Nervosität, nach 14 Tag 
P sinkt der Blutdruck auf 135/8 
x r R. N. 35 mg, Urin 0.B. Verdü 
39J. Q nung u. Konzentration norm 

3) Th.M. 63 16277922909 180/100 34 36 — 5,5 Me en 

5) ANn/ E sinkt der Blutdruck auf 150/ 
ss ‚> 150/90 | 33,0 R.N. 40 mg, Urin o.B. Verdi 
= er Er nung u. Konzentration norm) 

4)R.Sch. | 70 | 175 |70—86 \175/1056| 41,5) 38,5| 7,7| Reizbarkeit; Blutdruck wee 

= selnd. R.N. 32 mg. Urin o. 

u aa NEED: Verdünnung u. Konzentrati 

Es hun normal. Zweite Untersuchu!' 
8 n nach 18 Tagen. 

DNA 67 154 |70—82 |215/120| 43 34 26,4 Atembeschwerden ;Blutdrucku| 
61J g' beeinflußbar. R.N.43mg. Uri 
A Albumen in Spuren, Ss. 0. 

Konzentration herabgesetzt. 

6) M.T. 69 173 |74—88 |210/105 | 37 37,5 |— 1,3 | Herzklopfen, Atembeschwerde | 

56J QO Blutdruck unbeeinflußbar. R. 
i 60 mg. Urin 0. B. Konze 
tration herabgesetzt. 

a 102 170 |80—96 |200/130| 42 35 20,0 ; Atembeschwerden ; Blutdruck u 
Rein. beeinflußbar. R.N.46mg. Ur 
50J Q 0.B. Konzentrat. herabgeset; 

s)Alf.Kr. | 58 | 169 |90-110|190/115| 39 | 37,5| 4,0) Rhematoide Beschwerden; Blu 
50.J g druck wenig beeinflußbar. R.! 
- 3 34 mg. Urin 0.B. Verdünnul, 

und Konzentration normal. 

9) B.Han. | 63 151 | 90—100) 210/98 41 33 24,2 | Atembeschwerden; Blutdruı 
7 Q wenig beeinflußbar. R.N. 40m 

Im Urin Albumen in Spure 
s.0.B. Konzentration etwi 

herabgesetzt. 
a) Bil os 74 1712470853] 2301407556 38,5 | — 3,9 | Kopfschmerzen, Schwindel, Ve 
48J.' geßlichkeit; Blutdruck unb 
vn einflußbar. R. N. 47 mg. Ur) 
0.B. Konzentrat. herabgesetz 
Ba! #2, 63 162 |105-115| 205/115 | 42 36 16,6 | Atembeschwerden, Herzklopfei 
45 J.0 Blutdruck wenig beeinflußba 
T R.N.58mg. Urin: Albumen j 
Spuren, s.0.B. Konzentratic 
herabgesetzt. | 
| 
AIR 64,5 167 |90--96 190/125 33,8 35 — 3,4 | Kopfschmerzen; Blutdruck etw: 

Hirt. | beeinflußbar. R.N.55 mg. Un | 
6J.O 0. B. Polizythämie. Konzel| 
! N: tration etwas herabgesetzt. 















































LA inne” s 





Über den Grundumsatz bei Hypertonien. 


‘ Tabelle 1 (Fortsetzung). 


127 








nen 













































































Grundumsatz 
Name, Körper-| Körper-| Puls- |Blutdruck| in Cal. pro m? Steige- u 
Alter, gewicht| größe | frequenz | n. Riva- u. Stunde rung Eallgen ana der, Kränban.- 
Geschlecht | in kg | incm | proMin.| Rocei ge- in % : geschichte 
funden | DOrmal 
) B. St. 71,2, 168 | 72—80 |1190/120| 44 36 22,2 | Blutdruck wenig beeinflußbar. 
43). ®) R.N.60 mg. Urin 0.B. Kon- 
zentration etwas herabgesetzt. 
1 P.F. 69 163 | 90—94 |205/110| 36,3| 36 0,8 | Irtermittierendes Hinken; Blut- 
45 J.Q druck wenig beeinflußbar. R.N. 
40 mg. Im Urin ein wenig Eiweiß. 
Konzentration herabgesetzt. 
3) C.W. 76 171 | 75—84 |195/115| 37,5| 375| — | Alte Hemiplegie; Blutdruck un- 
56.J. Qg' beeinflußbar. R.N.34 mg. Urin 
0.B. Konzentration etwas her- 
abgesetzt. 
) M.R 67 168 | 66-76 170/95 43 33 30,3 | Blutdruck wenig beeinflußbar. 
1.72) Urin o. B. Verdünnung und 
j Konzentration normal. 
') M.S. 66 164 | 74—84 [195/115 | 47 36 30,5 | Blutdruck wenig beeinflußbar. 
44. J.0 Urin o.B. Verdünnung normal, 
Konzentr. etwas herabgesetzt. 
uk, 71 176 | 70—76 |220/145| 39,5| 37,5| 5,3 | Kopfschmerz. Herzbeklemmung; 
2. Blutdruck unbeeinflußbar. Urin 
Albumenin Spuren. R.N.50 mg 
Konzentration herabgesetzt. 
) Ph.R 68 176 | 68—78 1200/135 | 41 34 20,5 | Atembeschwerden; Blutdruck un- 
67J. Q beeinflußbar. Urin: Albumen 
in Spuren. Konzentration her- 
abgesetzt. 
) B.0. 62 170 | 78—92 |230/140| 38,5| 36 6,9 | Angina pectorisartige Beschwer- 
48J.0 den. Atembeschwerden. Blut- 
druck unbeeinflußbar. Urin: 
Albumenin Spuren. R.N.72mg. 
Konzentration herabgesetzt. 
M.H. | 60 | 166 | 70-80 165/90 | 36,5| 35 4,2 | Blutdruck wenig beeinflußbar. 
50J.Q Wallungen. Urin 0. B. Konzen- 
tration ein wenig herabgesetzt. 
L.N. 66 165 | 76—86 |170/120| 36 35 2,8 | Blutdruck wenig beeinflußbar. 
56.J. Q Rhematoide Beschwerden. Urin 
o0.B. Konzentration ein wenig 
herabgesetzt. 
ER.K. 79 175 | 70—80 |185/130| 39 37,5| 4,0 | Blutdruck wenig beeinflußbar. 
29. J.cf Ödeme geringen Grades. Urin: 
Albumen in Spuren Ss. 0. B. 
Konzentration herabgesetzt. 
) A.Fr. 64 167 | 80—86 |175/120| 35 33 6,0 | Blutdruck wenig beeinflußbar. 
21.5.0) Urin 0.B. R.N.36 mg. Ver- 
dünnung und Konzentration 
nur wenig gegen die Norm 
geändert. 
@.V. 64 169 | 74—84 |190/115 | 35,0| 34 2,9 | Mittelschwerer Diabetes. Im Urin 
64J. Q Soccharum s.0.B. Verdünnung 
und Konzentration normal. 





















































728 M. Händel: 
Tabelle 1 (Fortsetzung). 

, y= Grundumsatz 
Name, | Körper- Körper-, Puls- \Blutdruck; In Cal. pro m? | Steige- Einiges aus der Kranken- 
Alter, ' gewicht) größe | frequenz | n. Riva- u. Stunde rung RN 

Geschlecht || in kg | in tm | pro Min. Rocei ge- 1120, 
| funden | normal | 

26) Fr. L. | 59 | 164 | 70-80 |190/120| 37 | 35 5,7 | Leichter Diabetes. Im Urin Soı 
ae charum s. 0.B. Konzentratio 
51J.G | etwas herabgesetzt. 

97) UL. B. 67 170 4 79-86 195/120 36.0 36 — Diabetes mellitus mit Azetonuri 

iu 19.J.0 k lm Urin Soccarum, Azetoı 

Ue% körper s. 0.B. Konzentratio 
etwas herabgesetzt. 

28) Alf.@. || 74 170 | 76—88 |180/100 | 39,0 | 38,5 1,2 | Aortahochgrad. erweitert. Aten 
49 I. ! not, Angina pectorisartige Bı 

SEHE schwerden. Urino.B. Wasse 
mann +++. Mesaortitis lu 
tica. 

29) K. Sch. | 71 175 86-96 180/95 39,5 35,5 11,2 Aorta erweitert, Atemnot, Zy: 
418]. nose. Hochgestellter Ur 

Ne) | Wassermann ++. Mesaortit 
| luetica. 

30) Fr.@Gr. | 66 | 165 | 74-82 |175/100\ 34,5 | 35 |—1,4| Aorta erweitert. Urin o. ] 
Se 9,0 | Wassermann ++++. Mes 
IJy.% ortitis luetica. 

Tabelle 2. Chronische Nephritis. 

3l) M. 8. 61 170 | 78—88 |185/130 | 38 39,5 | — 3,7 | Urin: Albumen, Zylinder, spä 
& Tr lich Erythrozyten. R.N.76m 
RD Ödeme. Verdünnung und Ko; 

zentration eingeschränkt. 

Sa. 70 173 | 75—90 |200/120 | 37 36 2,7 | Kopfschmerzen, Erbrechen. Uri: 
10T.0 Albumen. Zylinder. R.N. 146m 

Fe: Isosthenurie. 

Bau EL 56 164 72—88 190/125 40,5 37 9,4 Ödeme. Urin: Albumen, Zylinde 
947.0 spärlich Erythrozyten u.Niere 
4 Di: epithelien. R.N.140 mg. Ve 

dünnung und Konzentratio 
eingeschränkt. 

34) M.N. 61 164 70—82 180/120 39 36,5 6,8 Urin: Albumen, Zylinder, Erythr 
3410 zyten. R.N.96 mg. Verdünnuı 
2 er u.Konzentration eingeschränl 

35) St. W. | 66 | 169 | 76—94 |195/130| 34 | 36 |— 5,5 | Urin: Albumen, Zylinder. R.. 
13.J0 110 mg. Ödeme. Verdünnuı 

Dei u.Konzentration eingeschränl 

36) Kr. 69 171 74-—-90 |210/130 39,5 36 97 Urin: Albumen, spärliche Z 

48.J. 0 i linder. R.N. 198mg. Erbreche 
en Kopfschmerzen, vollständij 
Appetitlosigkeit, Isosthenuri 

3) J.R. | 66 | 165 | 76-88 |175/100| 38,5 | 39,5 |— 2,5 | Urin: Albumen, Zylinder, Erythr 
Ten zyten. R.N.7S8mg. Verdünnu 
3I4.0 u.Konzentration eiugeschränl 

38) B. Ar. 57 166 70-—84 175/90 37 37 Sat Urin: Albumen, Zylinder, Niere 


293.0 


























epitnelien. R.N. 110 mg. Ve 
dünnung und Konzentratic 
eingeschränkt. 





Über den Grundumsatz bei Hypertonien. 729 


Unter den angeführten Fällen lassen sich, wenn wir zunächst die- 
jenigen, wo der Nachweis eines nephritischen Erkrankung einwandfrei 
gelingt, ganz vernachlässigen, einige Gruppen auseinanderhalten. Da 
sei zuerst auf die Fälle 1—4 hingewiesen. Es handelt sich um nervöse, 
vagolabile Patienten, die eine nicht sehr hochgradige Blutdrucksteige- 
rung darbieten, die sich durch Ruhe, Milieuwechsel glatt beheben oder 
weitgehend bessern läßt. Manchmal kann das verhältnismäßig rasche 
Hinaufschnellen des Blutdruckes direkt beobachtet werden. Diese Fälle 
dürften zu denjenigen von Gefäßkrisen (Pal), Tabes, Basedow Berüh- 
rungspunkte bieten. Kahler!) spricht vom zentralreflektorischen Hoch- 
druck. Die zweite Gruppe umfaßt die Fälle 5—24; es sind dies Kranke 
mit typischer permanenter genuiner Hypertonie. Der Blutdruck ist 
bedeutend erhöht und trotzt jeder Therapie. Für Nephritis fehlen An- 
haltspunkte, der Reststickstoff war bei den meisten meiner Fälle der 
Norm entsprechend, die Beschwerden vorwiegend kardialer Natur. Aus 
dieser Gruppe möchte ich — besonders mit Rücksicht auf die hier in- 
teressierende Fragestellung — einige Fälle herausheben, die die Kom- 
bination von Hypertonie mit Diabetes mellitus aufweisen. Der Diabetes 
ist hier im allgemeinen ein leichter oder mittelschwerer, immerhin 
schied ein Fall (Nr. 27) größere Mengen von Acetonkörpern aus. Vierte 
Gruppe endlich wird von den Fällen 28—30 gebildet: Mesaortitis lue- 
tica mit Hypertonie. In diesen 4 Gruppen lassen sich alle Fälle von Hy- 
pertonie ohne Nephritis, die mir zur Verfügung standen, unterbringen. 
Dazu kommen 8 Fälle von chronischer Nephritis. 

Nach dieser kurzen Orientierung über das untersuchte Material sei 
auf die Resultate eingegangen. Ich will mit der Besprechung der Puls- 
frequenz beginnen. Die Fälle der ersten Gruppe zeichnen sich durch 
eine große Labilität der Pulsfrequenz aus. Wie der Blutdruck, so 
ist auch die Pulsfrequenz leicht einem jähen Wechsel unterworfen. 
Es ist eben die ungeheure Reizbarkeit des kardiovasculären Appa- 
rates, die diese Leute auszeichnet. Im ganzen bekunden diese Fälle 
eine deutliche Tendenz zur Tachykardie. Die Fälle mit dem typischen 
essentiellen Hochdruck verhalten sich verschieden. Setzt man als Grenze 
der normalen Frequenz 80, so findet sich Tachykardie bei vielen Pa- 
tienten dieser Gruppe. Einen höheren Grad erreicht diese Tachykardie 
nur in vereinzelten Fällen. Gleich sei bemerkt, daß ich die höchste Fre- 
quenz durchaus nicht bei höchstgradigen Hypertonien gefunden habe. 
Auch verteilt sich die Tachykardie nicht etwa nur auf jene Fälle, die durch 
sonstige Symptome eine relative oder absolute Insuffizienz des Kreis- 
laufs dokumentieren. Die Diabetiker mit Hypertonie bieten nichts be- 
sonderes dar. Die Pulsfrequenz ist normal oder eine Spur erhöht. Die 
Fälle 23—29 mit Aortitis luetica zeigen Tachykardie, verraten aber deut- 
lich eine relative Herzinsuffizienz. Beim Fall Nr. 30 ohne Herzinsuffi- 


730 M. Händel: 


zienz bewegt sich die Pulsfrequenz in normalen Grenzen. Die letzte 
Gruppe schließlich (chronische Nephritis) bietet Verschiedenheiten. 
Bei den meisten Kranken findet sich Tachykardie, aber auch mehr oder 
weniger ausgesprochene Kreislaufsinsuffizienz. Die übrigen Einzel- 
heiten sind aus den Tabellen zu ersehen. 

Nun komme ich zu der Besprechung des hier am meisten interessie- 
renden Grundumsatzes, um dann noch gemeinsam auf beides — Tachy- 
kardie und Umsatz — einzugehen. 

Der Umsatz bei den Patienten der ersten Gruppe war entweder 
der Norm entsprechend oder nur wenig erhöht. Die zweimal vorgenom- 
mene wiederholte Untersuchung ergab, daß das Niveau des Grundum- 
satzes bei diesen Kranken sich auf einer viel größeren Konstanz hält, 
als z. B. die Pulsfrequenz und der Blutdruck. So konnte insbesondere 
beobachtet werden, daß bei der zweiten Untersuchung der Blutdruck 
wesentlich niedriger war, während der Grundumsatz nur eine unwesent- 
liche Veränderung — und zwar nach unten — zeigte. — Nun komme ich 
zu der Hauptgruppe, die die Mehrzahl meiner Fälle — typische genuine 
Hypertonie — umfaßt. In Übereinstimmung mit Mannaberg!) kann ich 
feststellen, daß zahlreiche Kranke dieser Gruppe eine Umsatzerhöhung, 
und zwar vielfach eine nicht unbeträchtliche, aufweisen. Die Umsatz- 
steigerung läßt sich weder mit der Blutdruckhöhe noch mit der Puls- 
frequenz in Parallele setzen. Es fand sich eine Erhöhung des Umsatzes 
auch bei einigen Fällen mit durchaus mäßiger Blutdrucksteigerung, 
ebenso bei Fällen mit normaler Pulsfrequenz. Anderseits zeigten einige 
Kranke mit hochgradiger Hypertension und teilweise mit hoher Tachy- 
kardie normalen Grundumsatz. Die Kranken mit Hypertonie und Dia- 
betes ließen durchgehend einen Umsatz an der oberen Grenze der Norm 
erkennen. Der eine der Patienten mit Mesaortitis luetica hatte eine Um- 
satzerhöhung mäßigen Grades, die anderen zeigten keine wesentliche 
Abweichung von der Norm. Die letzte Gruppe endlich — chronische 
Nephritis — zeigte in den meisten Fällen normalen Grundumsatz, bei 
einigen Patienten war der Umsatz erhöht. Auch diese Resultate stimmen 
mit denen von Mannaberg!) überein. 

Welche Anhaltspunkte liefern die angeführten Untersuchungs- 
ergebnisse für die Pathogenese der genuinen Hypertonie? Wie oben 
gesagt, sieht Mannaberg!) das Auftreten von Tachykardie und Umsatz- 
erhöhung bei Hypertonikern — neben anderen klinischen Beobachtun- 
gen und Erwägungen — als das Zeichen einer thyreogenen Komponente 
im Symptomenbilde des essentiellen Hochdruckes an. Nun muß man die 
Frage aufwerfen, ob überhaupt und welche gesicherten Kenntnisse über 
den Zusammenhang Schilddrüse, Blutdruck bereits vorliegen. Zunächst 
ist einer experimentell gefundenen Tatsache zu gedenken. Durch intra- 
venöse Injektionen von Schilddrüsenpräparaten wird der Effekt von 





Über den Grundumsatz bei Hypertonien. 17131 


Adrenalineinverleibung auf den Biutdruck und die Glykosurie erhöht 
(v. Fürth?), Oswald*). Das würde also mit der Annahme übereinstimmen, 
daß Hyperfunktion der Schilddrüse eine Blutdrucksteigerung hervor- 
rufen kann. Nicht ganz so eindeutig sprechen Versuche von Falta, 
Newburgh und Nobel5) und Pilcz®). Bei großen Dosen von Schilddrüsen- 
präparaten kann der Blutdruck stark sinken. Ferner findet man bei 
Morbus Basedowii durchaus nicht regelmäßig einen erhöhten oder sich 
auch nur an der oberen Grenze des Normalen haltenden Blutdruck. Der 
Blutdruck kann sogar leicht herabgesetzt sein, wie Ja bei Basedowikern 
der Gefäßtonus niedrig ist und ein abnormes Gefälle zwischen Zentrum 
und Peripherie besteht. (Fr. Kraus). Meine ad hoc ausgeführten wieder- 
holten Blutdruckbestimmungen ergaben ähnliche Resultate. N euerdings 
will Boothy?) einen Hyperthyreoidismus bei Adenomen der Schilddrüse 
abgrenzen mit Hypertension, Grundumsatzerhöhung und anderen Sym- 
ptomen. Ebenso findet man bei Myxödemkranken nicht immer einen her- 
abgesetzten oder an der unteren Grenze liegenden Blutdruck. Interessant 
ist in dieser Hinsicht ein Fall von Myxödem bei einer Frau, den Doz. 
Arnoldi an unserer Klinik beobachtet hatte. Es war in dem Fall ein 
etwas erhöhter Blutdruck vorhanden, bei stark herabgesetztem Grund- 
umsatz; nach durchgeführter Thyreoidinbehandlung stieg der Grund- 
umsatz beträchtlich an, während der Blutdruck eher sank. — Wie aus 
diesen kurzen Angaben ersichtlich, können die Beziehungen der Schild- 
drüsenfunktion zur Blutdruckhöhe bisher kaum mit einer genügenden . 
Klarheit übersehen werden. Ganz einfach von einem Plus an Schild- 
drüsenfunktion bei genuiner Hypertonie zu sprechen, geht m.E. trotz 
des häufig erhöhten Grundumsatzes nicht an. Man wird vielmehr — 
wenn man schon der Schilddrüse eine Rolle zuschreiben will — zu der 
Anschauung einer Dysfunktion, einer pluriglandulären Störung resp. 
Störung in den Wechselbeziehungen zwischen den Blutdrüsen gedrängt, 
wie ja die letztere Betrachtungsweise überhaupt in der Pathologie der 
endokrinen Drüsen in den Vordergrund tritt. Um dieser Frage — Stö- 
rung mehrerer Drüsen oder ihrer Wechselbeziehungen — näher zu kom- 
men, muß ich noch etwas näher auf das Verhalten einzelner Blutdrüsen 
bei der genuinen Hypertonie und die diesbezüglichen Zusammenhänge 
überhaupt eingehen. 

Der am nächsten liegende Gedanke war, der vermehrten Adrenalin- 
produktion eine ausschlaggebende Rolle in der Pathogenese der essen- 
tiellen Hypertonie beizumessen, wie es zuerst von v. N eusser, Schur und 
Wiesel?) vermutet wurde. Aber weder experimentelle Untersuchungen 
noch anatomische und klinische Beobachtungen haben entscheidend 
in diesem Sinne gesprochen. Untersuchungen über den vermehrten 
Adrenalingehalt der Nebennieren wie auch des Blutes — auch die in der 
neuesten Zeit mit verbesserter Methodik ausgeführten — sind nicht 


732 M. Händel: 


unwidersprochen geblieben. Auch die Bestimmungen des Blutzuckers 
bei Hypertonikern sind nicht eindeutig ausgefallen (s. z. B. E. Neubauer®), 
E. Frank!®), Hitzenberger und Richter-Quittner!!) u. a.). Bei Nebennieren- 
tumoren ist zwar Blutdrucksteigerung beobachtet worden, so in der 
letzten Zeit z. B. von M. Labbe, Tinel und Doumer!?). Etwaige hyper- 
plastische Vorgänge in der Nebenniere finden sich jedoch nicht bei Hyper- 
tonikern. Wenn man andererseits nach den Beziehungen der Neben- 
nierenfunktion zum Umsatz fragt, so ist darüber wenig Sicheres zu sagen. 
Bei der Addisonschen Krankheit scheint der Umsatz herabgesetzt zu 
sein (s. Fr. Kraus).!3) 

Für die Beziehungen der Geschlechtsdrüsenfunktion zur Hypertonie 
läßt sich ausgedehnte klinische Erfahrung ins Feld führen. Nicht nur 
die bekannten vorübergehenden vasomotorischen Störungen treten im 
Klimakterium auf, sondern auch häufig typische permanente genuine 
Hypertonie (s. B. Schauta!*), Meyer!) u. v. a.). Oft gehen der Hyper- 
tonie Störungen der Ovarialfunktion voraus. Auch nach der Kastration 
wurde das Entstehen der Blutdrucksteigerung beobachtet. Beim 
Manne sind die betreffenden Zusammenhänge kaum mit Sicherheit zu 
eruieren. Den Umsatz setzt die Kastration meist herab (Loewy und 
Richter‘), L. Zuntz!”). Einige klimakterische Hypertonien unter 
meinen Fällen wiesen eine Umsatzerhöhung auf. Durch Fehlen der 
endokrinen Ovarialfunktion allein läßt sich diese Erscheinung nicht 
erklären. 

Da über Beziehungen der Hypertonie zu anderen Blutdrüsen (Epi- 
thelkörperchen, Hypophyse, Thymus, Epiphyse) wenig zu sagen ist, 
so will ich gleich die Frage Hypertonie und Diabetes besprechen. Über 
die Häufigkeit des gemeinsamen Auftretens der beiden Symptomen- 
bilder machen verschiedene Autoren verschiedene Angaben (Kylin!®), 
Hitzenberger!?), Maranon??). Beim Altersdiabetes scheint der Blutdruck 
ziemlich häufig erhöht zu sein. Nach Maranon?®) geht die Hypertonie 
dem Auftreten der Glykosurie in vielen Fällen voraus. Über das Wesent- 
liche dieses Zusammenhanges ist nichts Sicheres bekannt. Es könnte sich 
zunächst um eine Steigerung der Adrenalinproduktion handeln, die so- 
wohl die Hypertonie, wie den Diabetes erklären würde. Kylin!S) erwägt, 
ob die Geschlechtsdrüsen dabei eine Rolle spielen. Für eine Störung 
der Schilddrüse würde sprechen das nicht seltene Zusammentreffen von 
Diabetes und Basedow (s. Baer?!) und die Herabsetzung der Zuckertole- 
ranz bei der letzteren Krankheit. Viel Wahrscheinlichkeit für sich hat 
die Annahme, daß es bei Hypertonie sekundär zu einer Störung des 
Pankreas kommen kann. Schließlich könnte man an eine Störung der 
nervösen Regulierapparate und dadurch bedingte Störung des Zucker- 
stoffwechsels und der Blutdruckregulation denken (s. Dresel2?2) — even- 
tuell durch sklerotische Veränderungen. Der Energieumsatz bei zucker- 











Über den Grundumsatz bei Hypertonien. 133 


arm gemachten und auf Erhaltungskost gesetzten Diabetikern — und 
um solche handelt es sich bei meinen Fällen — geht oft auf die niedrig- 
sten Werte des Gesunden herab (s. Fr. Kraus!?). Soweit meine spär- 
lichen Beobachtungen auf diesem Gebiet zu verwerten sind, scheinen 
Diabetiker mit Hypertonie sich eher der oberen Grenze des Normalen 
zu nähern. 

Kann man auf Grund der vorhandenen Kenntnisse über die Bezie- 
hungen der Blutdrüsen zur genuinen Hypertonie, wie sie in der vor- 
gehenden nur skizzenhaften Zusammenstellung zum Ausdruck gekom- 
men sind, schon jetzt ein Bild über die endokrine Ätiologie der Hyper- 
tonie entwerfen? Ich glaube diese Frage verneinen zu müssen. Den 
Befund der Steigerung des Grundumsatzes bei vielen Hypertonikern 
wie auch zum Teil den der Tachykardie möchte ich als einen Beitrag zur 
Kenntnis des so interessanten Syndroms betrachtet wissen, der bis 
zu einem gewissen Grade als im Sinne endokriner Störungen sprechend 
verwertet werden kann. Man ist im allgemeinen geneist, für eine bei 
einem Menschen — bei Ausschluß einer akuten fieberhaften Erkrankung 
— gefundene Umsatzerhöhung die gesteigerte Schilddrüsenfunktion 
verantwortlich zu machen. Und so hat es viel für sich, eine analoge Be- 
trachtung auch für die Hypertonie anzustellen. Da nun aber eine sichere 
Grundlage für die Heranziehung der Schilddrüse zur Erklärung der Blut- 
drucksteigerung fehlt, so gelingt es nicht, das ganze Symptomenbild 
auf die Schilddrüse allein zurückzuführen. Noch viel weniger möglich 
ist es, an Stelle der Schilddrüse eine andere Blutdrüse zu setzen. Das geht 
ohne weiteres aus dem früher Angeführten hervor. Es bleibt also vor- 
derhand nichts anderes übrig, als nur allgemein von Störungen im endo- 
krinen System, wohl pluriglandulärer Natur oder solcher in den Wechsel- 
beziehungen zwischen den Blutdrüsen zu sprechen und die Umsatz- 
steigerung wie gesagt als einen sich gut in diese Anschauung einfügenden 
Befund zu registrieren. Die genauere Umschreibung und auch eine 
reinlichere Scheidung zwischen den zweifellos vorhandenen verschie- 
denen T'ypen im großen Kreise der genuinen Hypertonie muß der weiteren 
Forschung vorbehalten bleiben. 

Ich möchte dieses Gebiet nicht verlassen, ohne noch auf einen Punkt 
hingewiesen zu haben. Es wird angenommen, daß die Stoffbewegung 
und Stofftransport auf die Intensität der Umsetzungen nicht ohne Ein- 
fluß sind (Arnoldi)2®). Nun haben in der letzten Zeit Erpinger, v. Papp 
und Schwarz?*) im Verlaufe ihrer ausgedehnten Untersuchungen bei Hy- 
pertonikern Änderungen in der Blutgeschwindigkeit nachweisen können. 
Es ist die Möglichkeit nicht von der Hand zu weisen, daß durch die 
Hypertonie sekundär eine Umsatzänderung zustande kommen kann. 
Das würde vielleicht auf das sonst unerklärliche Vorkommen von Um- 
satzerhöhung bei Nephritikern einiges Licht werfen. — 


“ 


734 M. Händel: Über den Grundumsatz bei Hypertonien. 


Zusammenfassung. 


1. Es wird der Grundumsatz bei verschiedenen Arten der Hyper- 
tonie untersucht. 

2. Bei der typischen permanenten genuinen Hypertonie wurde 
häufig eine nicht unbeträchtliche Umsatzsteigerung festgestellt. Pa- 
tienten mit Diabetes und Mesaortitis zeigten nur geringe Abweichungen 
von der Norm. 

3. Bei der chronischen Nephritis mit Hera findet sich nur ver- 
einzelt eine mäßige Umsatzerhöhung. 

4. Es werden die Erklärungsmöglichkeiten dafür diskutiert. 


Literatur. 


1) Mannaberg, Wien. klin. Wochenschr. 1922, Nr. 7; 1924, Nr. 4; Wien. Arch. 
f. inn. Med. 36. 1923. — ?) Kahler, Wien. klin. Wochenschr. 1923, Nr. 14/15. — 
2) v. Fürth, Ergebn. d. Physiol. 8. 1909. — *) Oswald, Zentralbl. f. Physiol. 30. 
1915; Pflügers Arch. f. d. ges. Physiol. 164, 166. 1916. — °) Falta, Newburgh und 
Nobel, Zeitschr. f. klin. Med. %2. 1911. — ®) Pilez, Jahrb. d. Psychiatrie u Neurol. 
1901. — ?) Boothy. Endocrinology 5. — ®) v. Neusser und Wiesel, Erkrankungen der 
Nebennieren. Hölder, Wien 1910. — °) Neubauer, E., Biochem. Zeitschr. %5. 1910. 
— 10) Frank, E., Dtsch. Arch. f. klin. Med. 103. 1911; Berlin. klin. Wochenschr. 
1911, Nr. 14. — 11) Hitzenberger und Richter-Quittner, Wien. Arch. f. inn. Med. 
H.2. — !?) Labbe, M., Tinel und Doumer, Bull. et mem. de la soc. med. des höp 
de Paris 1922, Nr.22. — 1?) Kraus, Fr., Mering-Krehl, Lehrbuch der inneren 
Medizin. 11. Aufl. 1919. — !*) Schauta; Die Frau von 50 Jahren. Wien-Leipzig 
1917. — 1°) Meyer, Med. Klinik 1920, Nr. 27. — 1%) Lewy und Richter, Arch. f. Anat. 
u. Physiol., physiol. Abt., Suppl. 1899, S. 174. — 17) Zuntz, L., Arch. f. Gynäkol. 96. 
1912. — 18) Kylin, Zentralbl. f. inn. Med. 4%. 1921. — 1?) Hitzenberger, Wien. Arch. 
f. inn. Med. 2. 1921. — 2°) Maranon, Zentralbl. f. inn. Med. 43. 1922; Arch. de car- 
diol. y hematol. 3. 1922. — 21) Baer, in: Mohr-Staehelin, Handbuch der inneren 
Medizin. Bd. IV. — 22) Dresel, in: Kraus-Brugsch, Spezielle Pathologie und The- 
rapie, Nervenkrankheiten. — 2?) Arnoldi. Ergebnisse der gesamten Medizin. Hrsg. 
v. Brugsch. Bd. V. — 2%) Eppinger, v. Papp und LE Über das Asthma car- 
diale. Springer, Berlin 1924. 





(Aus der 1. Medizinischen Universitätsklinik der Charite, Berlin. — Direktor: Ge- 
heimrat Prof. Dr. W. His.) 


Zur Frage des Mineralstoffwechsels bei der Acidose, 
zugleich ein Beitrag zur Therapie rhachitischer Knochenverkrümmungen!'). 


Von 
Dr. Hermann Bernhardt, 
Assistent der Klinik. | 
Mit5 Textabbildungen. 
(Eingegangen am 4. Juni 1924.) 


Die stark erhöhte Kalkausscheidung im Urin ist als ein konstantes 
Symptom bei acidotischen Diabetikern schon lange bekannt. Es fehlen 
aber Untersuchungen, ob hier nur eine Verschiebung der Kalkaus- 
scheidung von den Faeces in den Urin oder eine wirkliche negative Bilanz 
vorliegt. 

Bei Anwendung des Bilanzstoffwechselversuchs zur Entscheidung 
dieser Frage ergeben sich insofern Schwierigkeiten, als Änderung der 
Diät, therapeutische Maßnahmen usw. eine genaue Einstellung unmöglich 
machen. Immerhin sprachen die in eigenen Versuchen gewonnenen 
Resultate eher im Sinne einer negativen Kalkbilanz als einer Ver- 
schiebung. 

Eine genaue quantitative Prüfung der Verhältnisse ermöglicht aber 
die artifizielle Acidose. Zu ihrer Erzeugung bewährte sich das Ammonium- 
chlorid (Salmiak; NH,CI) am besten. 

Bezüglich der Dosierung gibt eine Mitteilung von Freudenberg und 
György?) einen Anhalt. Sie behandelten die Tetanie bei Säuglingen 
mit Ammoniumchlorid in Dosen von 1,0 g Ammoniumchlorid pro kg et 
die und mehr, allerdings meist nur kurze Zeit. Für den normalen Er- 
wachsenen ermittelten wir die verträgliche Menge in Eigenversuchen, 
besonders ein Versuch, den Dr. Rabl, Assistent der Chirurgischen Klinik, 
an sich vornahm, klärte diese Frage. Bei gleichmäßiger Kost nahm er 
jeden zweiten Tag steigende Mengen von Ammoniumchlorid per os, 
mit 0,1g pro kg et die beginnend. Der Urin wurde täglich analysiert, 


!) Vgl. Diskussionsbemerkung auf dem 36. Kongreß der Dtsch. Ges. f. inn. 
Med. in Kissingen. 


®) Klin. Wochenschr. 1922, 8. 222 u. 410. 
Z. f. klin. Medizin. Bd. 100. 48 


136 II. Bernhardt: 


3A 


(2 


/ 
are Ra BR SO E u 
HH 











rn NaOH NH, mg 
705 30 1300 


7200 






095 2,5 1100 
7000 
085 2,0 900 


800 





075 15 700 
600 


065 70 500 


S 


EBEISERR:N 


\ 


ES 
SD 
Ei; 
ES 





055 0,5 300 
ccm gr mg 
TEETRTE EIS EZOTIZNEZLZEZITRZEZITEZEITRLIF 
Kurve 1. 
— Kurve der CaO-Ausscheidung im Urin. 
— — - Ammoniakausscheidungskurve. 
LET —- Kurve der Titrationsreaktion des Urins gegen Phenol- 
phthalein auf 1000 eem tägl. Urinmenge reduziert. 


mmHg 
ccm Oz 
Atemvolumen 

(reduz.) 


36 340 77000 
34 330 10000 
32320 9000 





30 370 8000 





28 300 7000 








26 290 6000 





24 280 5000 
22 270 4000 


260 




















IONNTENICH IS EN SDIN LEN BIN DE DFTERTT 


Kurve 2. 
————— = Kurve der alveolaren CO,-Spannung in mm He. 
— — — = Atemvolumenkurve (reduziertes Volumen!) 
Se Ha lleite = Kurve des O,-Verbrauches (Grundumsatz, früh nüchtern). 


Zur Frage des Mineralstoffwechsels bei der Acidose. 737 
außerdem tolle ich den Gasstoffwechsel und die alveolare CO,- 
Spannung [nach der von mir angegebenen Methodet)]. 

Wie aus den beistehenden Kurven hervorgeht, kommt es entsprechend 
den steigenden Dosen von N H,Cl zu einer zunehmenden Acidosis (Sinken 
der alveolaren CO, ne Steigerung des O,-Verbrauchs, vermehrte 
NH,-, Ca- und Mg-Ausscheidung im Urin). Erst bei einer Dosis von 0,5 g 
pro kg und die (= 35,0 g NH,Cl) trat Mattigkeit, Übelkeit und Kurz- 
atmigkeit ein, so daß von einer weiteren Steigerung abgesehen werden 
mußte. Die alveolare CO,-Spannung war auf 224mm Hg gesunken 
und sogar die 9, im Blute, die bis dahin immer noch innerhalb der 
normalen Grenzen gelegen hatte (um 7, 50) bot jetzt einen extremen Wert: 


P, im ungestauten Venenblute 7,26 
P, im gestauten Venenblute 7,21. 


Diese Bestimmung wurde, da wir ganz sicher gehen wollten, dankens- 
werterweise im Ronaschen Laboratorium (von Dr. Wittkover) vor- 
genommen. Ein so abweichender Wert wurde bisher nur von Michaelis 
und Davidoff bei einem schweren Coma diabeticum gefunden (aus 
C.Oppenheimer, Handbuch der Biochemie, 1. c. Ergänzungsband $. 53). 
Hieraus ergibt sich, daß man bei normalen Erwachsenen nicht mehr 
als 0,2—0, 3g NH,Cl pro kg et die ohne Schaden geben kann. Von der 
parenteralen Darreichung von Ammoniumchlorid ist dringend abzuraten. 
Schon 1 mg pro kg wirkt im Tierversuch letal, wie aus einer amerikanischen 
Arbeit hervorgeht (The comparative toxieity of Ammonium salts, Journ. 
of biol. chemistry 54, 451. 1922). 
Von den an Normalen ausgeführten Bilanzstoffwechselversuchen sei 
als Beispiel von 4 gleichsinnig verlaufenen der folgende angegeben. 
Methodik: Das Ammoniumchlorid wird in einer Lösung 
Ammonii chlorati 12,0— 24,0 
Sachari albi 180,0 
Aqu. dest. ad volumen 300,00 ccm 


oder als gezuckerte Pillen & 0,3—0,5 Ammoniumchlorid gegeben. Man 
muß es während oder gleich nach der Mahlzeit nehmen lassen, damit es 
die Magenschleimhaut nicht reizt. 

Um auch die normalen Schwankungen auszuschalten, nahm ich 
2 Vorperioden, dann erst Haupt- und Nachperiode. Der Urin wurde 
täglich, die Faeces in Perioden von 3—4 Tagen analysiert, zur Stuhl- 
abgrenzung bewährte sich Carminpulver (0,25) am besten. Die Standard- 
kost wurde mehrmals auf Kalk analysiert. 

Frl. Ku., 19 Jahre, 48,0 kg, Perioden von 4 Tagen. Sie erhält in 
der Hauptperiode täglich 14,0 Ammoniumchlorid per os. Neben- 





1) Biochem. Zeitschr. 136. 
48* 


38 H. Bernhardt: 








ss | 32 8 erscheinungen sind bis auf leich- 

AB Ras tes Übelsein nicht aufgetreten. 

Ra Eh Die Standardkost enthielt pro 

A 2 Tag 1500 mg CaO, sie bestand 

>=, ganz aus 508g Butter, 240g Brot, 
- oO 


300 & Kartoffelbrei, 1 Ei, 600 ccm 





l 


Urin | Stuhl 





























3 
oO 
RES EEE = Milch, 400 ccm Kaffee, etwas 
TEN re = Obst. 
oO * es . en 
80 2er 8 Bas! Einen raschen Überblick über 
2 a 2 = die Kalkbilanz bei den übrigen 
Sa an E x : 
E °z Et = 3 Versuchen gewähren die fol- 
sag“ SI de) 2 © . 2 
5377 AN co 2 2 genden Kurven. Sie zeigen deut- 
u ui .. 
ei = _ B= = . . . 
a8 20 3% 2 8 lich, wie weitgehend die Über- 
EIS 5.»  einstimmung der Resultate ist. 
oO = } E 
z ee do Die verabfolgten Dosen liegen 
(®) 
3 BE = — = 5 5 auch hier um 0,25 g Ammonium- 
= Ba a B>) Be) R . 
Si Fa An = °  chlorid pro kg et die. 
‚= | See: - > 
E | Ste Der Chemismus der Wirkung 
| us, 2 : E 
Su BE 7 8 S@5,.5 des Ammoniumchlorids ist schon 
Y ie || Er I: = On ®* [0 [ 
_ _ TRIER S seit langem bekannt. Ein Teil 
- ° == 5 \ 
S II & = iR Al So 58 des Salzes wird ausgeschieden, 
ET) ER) = FE = N g 
SI. &@ Add an “2 © ohne das Säure - Basengleich- 
rO > — a lies; - = 
Ss || # ER Ai gewicht des Körpers zu stören, 
NS i= > ı0 Eu na BD : } 
ES. a3 wie die Zunahme des Ammo- 
r” u Ben 
MT En, 5 niaks und Chlors im Urin an- 
nn oo co = S : , i 
LES en 85 zeigt. Ein anderer Teil dagegen 
Ser all men) N nn = = . 
SER \ S ae setzt sich nach folgender Glei- 
ri a et 
DNOE co eQ ; 2 
2 Eul = 5 = A E 3 chung um 
D Yerı een 2 
EEE 2 NH,C1 + CO, > (NH,),CO 
w San 4 2 2)2 
= Sag + 2,HCl + H,O 
ee oe) I Fee Er = ae 
5 El EI DOES 005 
Ei Sa, = 53572° Hier sieht man eine reine Säure- 
<« 7) z R e 
Sl 52.8 wirkung entstehen. Meine Ver- 
— EDIT 4 , e 
99% 387”. suche erlauben, in die Größen- 
Sye= o re e ö s > . 
== = = 2% »  verhältnisse dieser beiden Teile 
2 : aa ao : ; } . 
Sssıas _=E5355 einen Einblick zu gewinnen. 
yollige) o ve! > 5 N: 
| a = = = nr: i 
| S:S%s 3 .2% Mittels der Zunahme des Ammo- 
I #3 > n mo 8 | { / 
an, RR 555753 niaks auf der einen Seite und 
pr = I ja} } } 
37306 “ der des Harnstoffs andererseits 
© FAHNEN 5 . . 
Et kann man die beiden Teile be- 
De = oo ae 
MI Ne ehem rechnen. Es ergibt sich, daß, 
| Re wenn man von den ersten beiden 
| - >} © . . 
ee Tagen der Einstellung absieht, 





Zur Frage des Mineralstoffwechsels bei der Acidose. 139 


bei einer Dosis von 0,25g NH,CI pro kg et die sich die reich- 
liche Hälfte des Salzes zur Säurewirkung entfaltet. Bei dauernder 
Zufuhr steigert sich der ‚„Säureanteil“ sogar noch um ein Beträcht- 
liches. 

Berechnet man weiterhin, wieviel Kalk die mehr eingeführte Salz- 
säure zu lösen vermöchte, wenn sie nur durch Ca abgesättigt werden 
müßte, so findet man Zahlen, die der wirklichen Mehrausscheidung an 
CaO nahekommen. Fügt man noch die Mehrausscheidung an Magnesium 
hinzu, so kommt man zu fast völligem Ausgleich. Es zeigt sich somit, 
daß wenn man von den ersten Tagen der Einstellung absieht, die Kalk- 
vorräte des Körpers in der Hauptsache die Aufgabe der Säureregulation 
übernehmen. Dabei kommt es zu großen Kalkverlusten, wie aus der 
obigen Tabelle hervorgeht (negative Bilanz von über 1,0 g CaO pro die). 
Diese Kalkmengen können nur mgLa0 
dem Skelett entstammen, denn + 200 
die Weichteile des mensch- D 
lichen Körpers enthalten in 
ihrer Gesamtheit nur 7—8g 
CaO, wie aus Arbeiten von 
Katz, Krüger, Magnus-Levy!) _- 600 
u.a. geschlossen werden kann. - 800 
Zudem wird der Kalkgehalt 
in den Geweben der Weich- 
teile zäh festgehalten, da mit 
seinem Verluste ein Weiter- 
leben nicht vereinbar ist. 

Wichtig ist noch die Tatsache, daß der Körper seine Magnesium- 
vorräte erst in zweiter Linie angreift und bei Aussetzen der Säure- 
medikation viel energischer retiniert. Dies stimmt im Prinzip überein 
mit den Ergebnissen von Schiff und Stransky?), die zeigen konnten, daß 
man mit parenteraler Magnesiumzufuhr die Kalkausscheidung steigern 
kann. Vielleicht treten schwerere Erscheinungen überhaupt erst dann 
auf, wenn die Magnesiumbilanz zu stark negativ geworden ist. 

Kurz zusammengefaßt: Ammoniumchlorid per os ruft eine Acidose 
hervor, es wird bis zu einer Dosis von 0,3 pro kg et die von normalen 
Erwachsenen vertragen. Verfolgt man dabei im Bilanzversuche den 
Kalkhaushalt, so zeigt sich, daß bei kleinen Dosen die Kalkausscheidung 
im Urin steigt, ohne daß die Ausscheidung durch den Darm sich 
wesentlich ändert. 








V 
Hauptperiode Wachperiode 


Kurve 3, 


!) Katz, Pflügers Arch. f. d. ges. Physiol. 63. 1896. — Fr. Krüger, Zeitschr. 
f. Biol. 31. 1895. — A. Magnus-Levy, im Noordenschen Handbuch der Pathologie 
des Stoffwechsels. 2. Aufl. 8. 461. 

°) E. Schiff und E. Stransky, Jahrb. f. Kinderheilk. 93. 1919. 


740 H. Bernhardt: 


Bei großen Dosen (besonders von 0,1 pro kg und die an) aber steigt 
auch die Kalkausscheidung durch den Darm beträchtlich an, so daß es 
nun zu einer negativen Kalkbilanz kommt. 

Das Magnesium verhält sich etwa dem Kalke gleich, doch wird es 
später angegriffen und bei 
Aussetzen des Ammonium- 
chlorids stärker sofort wieder 
retiniert. 

Genau wiederholte Kalk- 
analysen der Nahrung sind 
bei Kalkbilanzversuchen un- 
bedingt nötig, da der Kalk- 
gehalt in manchen Nahrungs- 
mitteln ziemlich schwankt 
(Milch!). 

Die Untersuchungen über 
die Wirkung des Ammonium- 
chlorids haben auch ein prak- 
tisches Interesse, wie Rabl 
gezeigt hat. Bei seiner Me- 
thode, die alten rhachitischen 
Knochenverbiegungen durch 
Erweichung des Knochens zu 
korrigieren, spielt die Ammo- 
niumchloridmedikation per os 

| j PR A eine wichtige Rolle. Gemein- 
Abb. 1.” 7. 179.8 Anlang Nov. 15232 Verkrüm- E ) ' 
mung der Tibia infolge alter Osteomyelitis. Es eitern sam sind wır dabei, die Grund- 
einige Sequesterfisteln. lagen des Verfahrens festzu- 
legen. 

Der Körper nimmt den Kalk natürlich aus allen Knochen. Durch 
die Biersche Stauung (18 Stunden am Tage angelegt) und Ruhigstellung 
bei strenger Bettruhe kann man ihn aber zwingen, sein Kalkdefizit in 
der Hauptsache aus einem ganz bestimmten Knochen zu ergänzen. 
Das Wichtigste aber ist, daß Kalkausfuhr allein noch nicht Weichwerden 
der Knochen bedingt; man erzielt wohl eine deutliche Aufhellung der 
Knochen im Röntgenbilde (Osteoporose), doch sie bleiben hart. 





Rö-Bilder. 


Bisher gelang es Rabl nur bei Kindern in einem Alter, in dem an und 
für sich kindliche Rhachitis noch vorkommt, ein Biegsamwerden der 
Knochen zu erhalten und zwar bedurfte es außer der Ammoniumchlorid- 
medikation (0,28 pro kg und die) und Bier’schen Stauung noch eines 


Zur Frage des Mineralstoffwechsels bei der Acidose. al 


dritten Faktors, der Einschränkung der Lichtzufuhr. Erst wenn diese 
3 Bedingungen gegeben waren, kam es zur Erweichung des Knochens, 
die allerdings dann sehr hochgradig ist und verhältnismäßig rasch ein- 
tritt (nach 6—14 Tagen!). Hüten muß man sich, solche Kinder aufsitzen 


zu lassen, mit Rücksicht auf 
die Wirbelsäule. Merkwürdig 
ist, daß an den nicht ge- 
stauten Extremitätenknochen 
so gut wie keine Erweichung 
nachzuweisen ist. 

Ist die Verkrümmung 
korrigiert und die  Extre- 
mität  eingegipst, so wird 
die Entkalkungstherapie von 
einer Verkalkungstherapie ab- 
gelöst (Licht, antirhachi- 
tisches Vitamin, Belastung, 
Kalkzufuhr, wobei die Art 
der Kalktherapie verhältnis- 
mäßig gleichgültig ist, nur 
Caleiumchlorid muß man 
meiden), 

Wegen technischer Einzel- 
heiten usw. verweise ich auf 
die Mitteilung Rabls auf 
dem Chirurgenkongreß 1924 
in Berlin. 

In einem Stoffwechsel- 
versuch an einem dieser The- 
rapie unterworfenen Kinde, 
das 0,2 pro kg et die erhielt, 
konnte ich feststellen, daß die 
negative Kalkbilanz verhält- 
nismäßig größer als bei den 





Abb. 2. Derselbe Patient. 14.12.23. Nach 4!/, Wochen 

Bierscher Stauung (tägl. 18 Std.); 3 mal tägl. 1 Eß- 

löffel einer 12% NH,Cl1= Lösung. Aufhellung der Meta- 
physe, keine Erweichung, Fisteln geschlossen. 


normalen Erwachsenen war. Es ergab 


sich bei dem 20,0 kg schweren Kinde schon in den ersten Tagen eine 
tägliche negative Bilanz von 1,2g CaO. Auch vertrugen die Kinder 
das Ammoniumchlorid in gezuckerten Pillen oder Tabletten ohne alle 


Beschwerden. 


(Aus der 1. Medizinischen Universitätsklinik — Leiter: Geh. Med.-Rat Prof. Dr. 
W. His — und der Psychiatrischen Universitätsklinik, Berlin NW, Charite — 
Leiter: Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Bonhoeffer.) 


Biologisch-klinische Blutstudien über allgemeine 
Infektionsfragen an der Impfmalaria der Paralytiker, besonders 
über ihre unspezifische Wirksamkeit. 


Von 
Prof. Dr. Viktor Sehilling, Dr. Jossmann, Dr. Karl Hoffmann, 
Dr. Rubitsehung und Dr. van der Spek (Hertogenbusch). 


Mit 11 Textabbildungen. 
(Eingegangen am 21. Mai 1924.) 


Die nachfolgenden gemeinsamen Studien wurden unter dem leitenden 
Gesichtspunkt unternommen, das menschliche experimentelle In- 
fektionsmaterial einer Malariatherapie der progressiven Paralyse für 
einige biopathologische Fragen mitheranzuziehen, deren Studium bei 
natürlichen Infektionen durch die Unsicherheit des Krankheitsbeginns, 
die Ungleichheit des Infektes und durch den schwer einheitlich kon- 
trollierbaren Ablauf nicht so gut oder gar nicht möglich ist. 

Vor allem interessierten uns folgende Grundfragen der Infektionslehre: 

l. Wann und wie beginnen in der Inkubation die Krankheits- 
erscheinungen ? 

2. Ist der Krankheitsablauf beim Paralytiker ein nachweislich 
anderer, als beim vorher gesunden Individuum ? 

3. Wie klingt das künstliche Krankheitsbild unter Einwirkung der 
Therapie ab? 

4. Gibt es in der Gesamtheit des Krankheitsablaufes Anhaltspunkte 
für die Annahme einer besonderen Wirksamkeit der Malariainfektion 
auf die paralytischen Prozesse ? 

Wir sind überzeugt, daß man ähnliche Fragestellungen an diesem 
seltenen Material mit Vorteil in der allerverschiedensten Methodik 
studieren könnte, haben uns aber, abgesehen von der allgemeinen 
klinischen Beobachtung, die in den Händen der Herren Jossmann und 
Stenaerts!) lag, eines neueren Werkzeugs, der Hämogrammkurven- 
Beobachtung”) bedient, da wir in ihr ein sehr geeignetes Mittel zum 
biologisch-klinischen Studium des Infektionsablaufes besitzen. 





*) Siehe Zeitschr. f. Klin. Med. 99, 232. Das Hämogramm in der Poliklinik. 
V. Schilling, Biologische Kurven der Leukocytenbewegung usw.; ferner V. Schilling, 
Das Blutbild und seine klinische Verwertung. 3.u.4. Aufl. G. Fischer, Jena 1924. 


V. Schilling usw.: Biologisch-klinische Blutstudien usw. 743 


Hierzu waren wir übrigens auch durch räumliche Gründe, die ge- 
trennte Lage beider Kliniken, wie durch die Art der unruhigen para- 
Iytischen Kranken veranlaßt, die schwierigere Untersuchungstechniken 
nicht zugelassen hätten, während wir andrerseits für die sehr häufigen 
kurzen Blutentnahmen kaum eine geduldigere Klientel hätten finden 
können. 

Als Ausgangspunkt diente eine von V. Schilling ausgewählte, sicher 
ganz reine und relativ gutartige Tertianainfektion, vom Balkan ent- 
stammend; sie wurde dann von den Herren der Bonhoefferschen Klinik 
in der üblichen Weise ständig intravenös oder intramuskulär auf Para- 
Iytiker aller Stadien weiter übertragen, wobei nur durchaus einwandfreie 
Fälle Berücksichtigung fanden. Über die allgemeinen klinischen und 
die besonderen psychiatrischen Beobachtungen haben Jossmann und 
Stenaerts!) bereits Bericht erstattet, worauf wir im Zusammenhang mit 
den übrigen Arbeiten kommen werden. 


Die Malariabehandlung der Paralyse ist der konsequente letzte Aus- 
läufer einer Reihe von Versuchen der Paralysebehandlung durch Er- 
zeugung von Infektionszuständen, zu der eine im Jahre 1887 erschienene 
höchst fruchtbare Arbeit Wagner v. Jaureggs den Anstoß gab. Zahl- 
reiche Beobachtungen in der Literatur und einige tastende Versuche 
anderer Autoren hatten bei v. Wagner?) die Überzeugung hervorgerufen, 
daß bei Psychosen aller Art gelegentlich ein auffallend günstiger Heil- 
erfolg durch interkurrente Infektionen eintreten könnte. 

Diese Beobachtungen knüpften direkt an an die alte Derivantien- 
therapie, die überlebte Haarseil- und Moxenbehandlung, denn es war 
L. Meyer?) durch Anwendung der Autenriethschen Brechweinsteinsalbe 
als Derivans gelungen, bei 15 progressiven Paralysen 7 gute Remissionen, 
darunter 4 über 3 Jahre, bis zur Veröffentlichung 1877 zu erzielen. 
Allerdings waren dazu tiefgreifende, oft knochenzerstörende Nekrosen 
mit langwierigen Eiterungen nötig, die mittels der Salbe auf der Kopf- 
haut der Paralytiker erzeugt wurden. 

In der Literatur fanden sich zahlreiche kasuistische Mitteilungen 
über wunderbare Remissionen durch schwere interkurrente Infektionen, 
so durch Malaria (Nasse 1870), Phlegmonen u.a. Eiterungen (Schüle 
1875, Gauster u. a.), Scharlach (Fiedler), Erysipel (Marschand, Oehbecke), 
Typhus (v. Pastan, Schlayer, Gluschkow, v. Halban u.a.). Nach einem 
Bericht von Oks hatte Rosenblum®) in Rußland bereits 1874 /75 12 Fälle 
von Psychosen, vielleicht auch schon eine Paralyse, gelegentlich einer 
Rekurrensepidemie absichtlich infiziert und auffallende Besserungen 
erzielt. 

. Das Verdienst v. Wagners war es, systematisch diese Fingerzeige zu 
verfolgen, und so begann er 1887 mit Pyocyaneuskulturen, 1891 mit 


744 V. Schilling, Jossmann, K. Hoffmann, Rubitschung, v. d. Spek: 


Kochschen 'Tuberkulininjektionen bei Psychosen seine Versuche pyro- 
gener Therapie. Die Erfolge ermunterten seine Schüler Boeck?) 1896 
(unter 41 Psychosen eine Paralyse) und vor allem Pilcz6) 1909 an die 
Behandlung der progressiven, fast als unheilbar angesehenen Paralyse 
heranzugehen. Pilcez impfte 69 Fälle mit Tuberkulin Koch und ver- 
folgte 66 davon 3—4 Jahre, ehe er 1905 als Erfolg ein Drittel etwa gute 
oder leidliche Remissionen bekannt gab, während gleichartiges, unbe- 
handeltes Material nur ein Zwanzigstel Remissionen aufwies. v. Wagner”) 
versuchte später im gleichen Sinne mit gewissem Erfolg Staphylokokken 
in hohen Dosen von 25—1 000 000 000 Keimen, und Besredkasche 
Typhusvaceine in Verbindung mit spezifischen Quecksilberkuren. 

Eine unabhängige Versuchsreihe knüpfte sich an Mitteilungen 
Minkowskis und Renners®) über die prophylaktische und therapeutische 
Wirksamkeit von Nucleinsäureinjektionen gegen Infektionen, angeblich 
durch Leukocytoseschutz (nach Pfeiffer-Friedberger). Stern?) hatte hier- 
mit 1907 auffallend günstige Beeinflussung von Luesinfektionen ver- 
schiedener Grade und eine starke Steigerung der Quecksilberwirkung in 
viel kleineren Dosen gefunden. Dies bewog Donath!%), seine 1903 
empfohlenen Kochsalztransfusionen bei Paralyse, die auch einige Erfolge 
hatten, durch Einführung von intravenösen Injektionen mit 50 ccm 
2 proz. Natr. nucleinic. zu verbessern (zuletzt 41,1%, Remissionen). 
Auch ©. Fischer!!) hatte unabhängig, angeregt durch ZL. Meyers und 
v. Wagners Versuche, seit 1907 Injektionen von Natr. nuclein. 10%, 
je 5cem an jedem dritten bis fünften Tage, begonnen. Die Nach- 
untersuchungen [Klieneberger!?), Loewenstein!2) u.a.] verwarfen aber 
die Donathsche Behandlung alz zu angreifend und hatten mit der 
Fischerschen Dosierung zu wenig wirkliche Erfolge. 

Es war wieder Wagner von Jauregg"*), der 1917 durch Verwendung 
der Impfmalaria als infektionserzeugendes Mittel die Methode der Wahl 
entdeckte und den letzten Abschnitt der Arbeiten einleitete; ähnlich 
wirksam erwies sich nur noch die Rekurrensinfektion [Weichbrodt®), 
Plaut und Steiner!%), Mühlens und Kirschbaum!?) u. a.]. 

Die Erfolge aller dieser Behandlungsarten erscheinen nach der 
Literatur zweifellos gesichert, wenn sie auch noch selten den Grad der 
alten Kasuistik durch zufällige Infektionen erreichen; man muß aber 
bedenken, daß diese Zufälle eine verschwindende Auswahl aus einem 
riesigen Material bedeuten, so daß günstigste Nebenumstände mit- 
gespielt haben können. Bei den künstlichen Infektionsbehandlungen 
aber imponiert die steigende Sicherheit eines Erfolges in einem hohen 
Durchschnitt. 

von Wagner und sein Schüler Gerstmann!s) beziffern ihre Voll- 
remissionen auf ein Drittel, einige von mehrjähriger Dauer. Kürschbaum, 
Mühlens und Weygandt!?), die als Nachprüfer zuerst große Ziffern 


Biologisch-klinische Blutstudien über allgemeine Infektionsfragen usw. 745 


brachten, hatten nach Weygandts?° Mitteilung 1923 unter 179 Fällen 
38,2% Vollremissionen, 12,3%, defekte Berufsfähige, 16,3%, Gebesserts, 
21,5% Versager, 11,2% während der Kur Gestorbene. Schuülze!)-Dall- 
dorf (168 Fälle) hatte 44%, Remissionen, Plehn?2) (41 Fälle) je ein Drittel 
Vollremission, Besserung und Versager, Sagel®) (55 Fälle mit Rekurrens), 
43,6% Berufsfähige, 12,7%, arbeitsfähig Gebesserte, d.h. 56,3%, „sozial“ 
Geheilte, im ganzen 70,4%, Gebesserte. Reese und Peter**) fanden in 
der Nonneschen Klinik unter 75 Fällen 20%, praktisch geheilt, 30,6% 
gebessert. 

Unser eigenes Material (74 Fälle) hat nach Jossmann und Stenaerts!) 
bei strenger Kritik 28,4%, gute, 21,6%, geringe, 33,8%, fehlende Remission 
und 16,2%, Todesfälle. 

Dattner®) glaubt unter von Wagner noch durch Kombination mit 
starker Salvarsannachkur bei 30 Fällen 69,9%, gute Remissionen, 6,6% 
Besserungen als weitere Steigerung zu erhalten. 

Selbst die strengste statistische Sicherungskorrektur der Ergebnisse 
von Kirschbaum) mit Anrechnung von Zufällen und spontanen 
Remissionen, die auf etwa 11%, errechnet wurden (902 Paralysen 
1911—1915, 1918 in Hamburg), ergibt immer noch 46,8%, deutliche 
Remissionen durch Therapie, etwa zur Hälfte voll und defekt berufs- 
fähig. 

Die Verschiedenheit der Zahlen erklärt sich teilweise durch die 
verschiedene Auswahl der Paralysestadien. Zweifellos sind es die 
maniakalischen und initialen Fälle [schon v. Halban?”)], die das Haupt- 
kontingent der „Heilungen“ stellen, und ebenso zweifellos ist der Maß- 
stab der Autoren ungleich in der Bewertung der Remission, die nach 
Schröder immer ein Abklingen der Exazerbation nach einem paralytischen 
Anfall bedeutet. Es bleiben danach die feststellbaren oder unmerklichen 
Defekte, die zwar nicht die Berufsfähigkeit und die soziale Stellung, wohl 
fast immer aber das Wesen des Kranken selbst noch beeinflussen. 

Die klinische ‚Heilung‘ geht häufig, ohne strengere Parallele, mit 
bald eintretenden Besserungen der Pleocytose des Liquors einher 
[W. v. Jauregg!?) 1918 u.a.], der in längerem Abstande die langsame 
Besserung der sonstigen Liquorbefunde, der kolloidalen Reaktionen und 
besonders des Wassermann folgen kann [@erstmann's), Mühlens und 
Kirschbaum”), Kaffka, eit. bei Weygandt2°), Dattner®) u. a.]; aber es 
sind nicht immer die guten Remissionen, die vollkommener reagieren, 
noch werden die Liquorbefunde regelmäßig bei Remission beeinflußt. 
Kyrle?®) (1923) sah auch bei Luetikern gerade durch Malaria die stärkste 
Besserung der Liquorbefunde. Besondere Bedeutung billigen O. Fischer, 
Pötzl, Herrmann und Münzer??) der Weilschen Hämolysinreaktion zu, 
in der sie einen Gradmesser aktiv vordringender Infektion (Reaktion 
der Spirochäten mit den Nervenzellen selbst) erblicken. Sie wurde 9 von 


746 V. Schilling, Jossmann, K. Hoffmann, Rubitschung, v. d. Spek: 


10 mal sehr prompt negativ. Auch die Goldsolreaktionskurve schlägt 
ebensooft vom Paralysetyp in den Luestyp um oder wird gar negativ 
[vgl. auch Biberfeld?°)]. Pötzl findet dabei aber die Wirkung der 
Malaria sichtlicher und durchgreifender als die „Phlogetan“-Behandung 
Fischers. 

Am weitesten geht Kaltenbach®!)\, der in der Normomastixreaktion 
einen direkten parallelen Gradmesser der psychischen Besserungen 
sieht; sie sinkt mit den Remissionen und bleibt gleich stark bei Ver- 
sagern oder bei Nichtbehandlung. 

Die Pupillenstarre bleibt fast ausnahmslos bestehen; Sagel®?) sah 
aber auch in 6 Fällen Rückkehr der Pupillenreaktion, Reese und Peter®*) 
Besserung derselben; die Wiederherstellung der Kniesehnenreflexe ist 
etwas häufiger. Auffallend bessert sich dagegen meistens die Merkfähig- 
keit, die Artikulation der Sprache, die Handschrift und der allgemeine 
Körperzustand. Wiederaufnahme schwieriger und verantwortungsvoller 
Berufszweige (Kaufmann, freie Berufe u.a.) ohne grob merkliche Defekte 
ist in manchen guten Remissionen verbürgt. Selbstverständlich kann bei 
vorgeschrittenen Fällen im günstigsten Falle nur ein Stillstand mit blei- 
benden Defekten erzielt werden, da die histologischen Zerstörungen nicht 
mehr reversibel sind [Gerstmann!) u.a.]. 

Zweifelhafter erscheint die histologische Besserung, wenn auch 
Sträussler und Koskinas??) Zunahme der entzündlichen Erscheinungen 
der Paralyse (Reizerfolg) bei Tod während der Behandlung, Stillstand 
der parenchymatösen Degeneration und Abnahme der Infiltration 
später berichten. Jacob vermißte in allen 6 untersuchten Gehirnen von 
Paralytikern, die durch Komplikationen nach Malariabehandlung 
starben, die Spirochäten, doch ohne Änderung der histologischen Befunde 
sonst [zit. bei Mühlens und Kirschbaum 1921)]; auch Bratz-Dalldorf3®) 
teilte mit, daß Bielschowsky in 7 Gehirnen nach der Malariatherapie mit 
modernsten Methoden keine Spirochäten mehr gefunden habe. Diese 
Befunde bedürfen der Erweiterung, obgleich eigentlich eine histologische 
Feststellbarkeit der Besserungen erwartet werden darf. 


Überblicken wir dieses Material vom allgemeinen Standpunkte, so 
ist die Annahme einer vielseitig erzielbaren, unspezifischen Wirkung 
aller Mittel nicht mehr abzulehnen. Aber es gibt deutliche Gradunter- 
schiede, die nach von Wagner in der Reihenfolge: 1. nicht von Mikro- 
organısmen stammende Stoffe (Milch, Deuteroalbumosen, Nuclein- 
säure); 2. Abkömmlinge von Mikroorganismen (Tuberkulin, Vaccinen); 
3. lebende Infektionen, steigend wirksam feststellbar sind. Allerdings 
rechnet Fischer??) neuerdings auch für Natr. nucleinicum für frischere 
Fälle 75% Besserungen, davon 58%, ‚„Heilungen“. Bei „Phlogetan“- 
Behandlung (Reizkörpertherapie) hat Fischer sogar 100%, Berufsfähig- 





Biologisch-klinische Blutstudien über allgemeine Infektionsfragen usw. 747 


keit bei initialen Sprechstundenfällen, 57%, bei initialen Anstaltsfällen 
errechnet. Trotzdem hat sich in der Tat bei den Autoren der Eindruck 
in der v. Wagnerschen Reihenfolge gebildet. 


Was erscheint als das Gemeinsame aller dieser Behandlungsweisen ? 


Anfangs neigte man teilweise zur Fiebertheorie (W.v. Jauregg u. a.), 
die in Weichbrodt und Jahnel?5) lebhafte Verteidiger fand; diese Autoren 
stellten experimentell fest, daß wiederholte Erhitzung von Kaninchen 
im 'Thermostaten auf 42—43° rectal Absterben von Spirochäten in 
Primärschankern und restlose Heilung bewirkte. Die Remissionen 
ohne auch nur annähernd solche Temperaturen sind aber doch zu häufig. 
Als einer der letzten Ausläufer kann die Meinung von Dattner®) auf- 
gefaßt werden, daß die @esamtfieberdauer über 39° für die Gesetze der 
Remission wesentlich sei. Wir möchten gleich hier sagen, daß uns das 
Fieber nur als Begleitzustand, als Symptom der starken Umsetzungen 
im Körper so wichtig erscheint, obgleich es ja eine zweifellose Unter- 
 stützung an lokalen Abwehrprozessen im biologischen Sinne bedeutet. 

Die Anhänger der Metschnikoffschen Lehren sahen naturgemäß den 
Heilfaktor in den hohen Leukocytosen der Eiterungen der Kasuistik und 
der Nucleinversuche. Aber mitten im Eiter einer Meningitis wurden 
lebende Syphilisspirochäten gesehen [Jahnel35)]. Gerade diesehohen Leuko- 
cytosen fehlen auch der Malaria in der Regel, die zu den leukopenisch- 
Iympho-monoeytären Infektionen zählt. Die meisten dieser Ausführungen 
berücksichtigen gar nicht, daß bei chronischen Infektionen fast immer die 
Rolle der Bekämpfung der Parasiten übergeht an die Iymphocytären und 
histiocytären Elemente und daß gerade die ausheilenden Infektionen 
begleitet sind von niedrigeren lympho-monocytären Blutbildern. Nur 
Sagel®®) beschreibt sehr interessante Anheftungen der Spirochäten des 
Rekurrensfiebers an peritoneale, Iymphocytoide Elemente bei der Maus 
und mißt diesen Zellen wesentliche Bedeutung auch für die Immuni- 
sierung bei, ebenso der Blutlymphocytose. Auch hier bemerken wir 
voraus, daß wir die leukocytären Prozesse wie das Fieber als Symptome 
der innerlichen Umwälzungen werten, nicht als eigentlich kausalen Faktor 
der Remissionen. 

Unbestimmter, aber erfassender und glücklicher ist die Heranziehung 
der unspezifischen Reiztherapie, zuerst von R. Müller?s) gerade auf die 
v. Wagnersche frühere Behandlung angewendet. R. Müller nimmt 
Blutdrucksenkung durch Vasodilatation, bessere Durchspülung der 
therapeutisch sonst nicht mehr erreichbaren Parenchymherde der 
Paralyse, Wegbahnung für die natürlichen Abwehrstoffe des Plasmas 
bzw. für spezifische Nachkur zu den Spirochäten an. 

Plaut®®) bezieht sich dann direkt auf die Weichardtsche?”) ‚„‚Proto- 
plasmaaktivierung‘. Allerdings glauben Plaut und Steiner!?) diese un- 


748 V. Schilling, Jossmann, K. Hoffmann, Rubitschung, v. d. Spek: 


spezifische Wirkung bei Verwendung von Spirochäten durch eine spezielle 
Anregung ‚„spirochätozider‘‘ Substanzen unterstützen zu können. Sie 
erörtern auch Moldovans Idee, daß die Spirochäten aus dem Salvarsan 
selbst durch Zersetzung die Toxine erzeugen, wozu die biologisch 
minderwertigen Paralysespirochäten nicht mehr imstande sein sollen 
und daher keine Schädigung mehr durch die Droge erfahren. Hiergegen 
führt Sagel mit Recht an, daß bei Paralytikern die Salvarsantherapie 
auch gegen Rekurrensspirochäten versagte [Plaut und Steiner!®), 
Mühlens, Weygandt und Kirschbaum!?)], während sich hierbei doch 
augenscheinlich sehr lebhaft aktive Spirochäten auf der Höhe ihrer 
biologischen Entwicklung befinden. Der gleiche Spirochätenstamm 
reagierte in der Maus und bei Nichtparalytikern prompt auf Salvarsan. 
Der Grund müßte also im Körper des Paralytikers zu suchen sein. 

Mangel an spirochätoziden Stoffen konnte Sagel ebenfalls in Serum 
und Liquor nicht finden; im Gegenteil blieben Rekurrensspirochäten 
bei Luetikern und Paralytikern nicht so lange beweglich wie bei Ge- 
sunden, bzw. Nichtsyphilitikern. Sagel führt aber eine merkwürdige 
Beobachtung an, die eine Lösung anbahnen könnte: Zusatz von Neo- 
salvarsan beschleunigt in nichtparalytischem Serum und Liquor das 
Absterben der Spirochäten, nicht aber bei frischer, unbehandelter Lues 
und bei Nichtluetikern. 

Eine Reihe anderer Autoren haben sich ebenfalls für reine unspezifische 
Wirkung in der Hauptsache ausgesprochen, zum Teil mit Bezugnahme 
auf die Wichtigkeit der Blutveränderungen (Mühlens und Kirschbaum, 
Fischer u. a.), für die wir nachfolgend genauere Unterlagen bringen 
wollen. 

Die unspezifische Hauptwirkung scheint allen Stoffen gemeinsam 
zu sein. Aber es handelt sich hier um einen biologischen Vorgang, der 
nicht als einfaches Rechenexempel auf jede Anregung gleich antwortet. 
Falsche Reize im unrichtigen biologischen Moment, zu starke Reize ohne 
Vorbereitung wirken nach bekannten Gesetzen eher schutzvermindernd, 
als steigernd. Gewiß erscheint es möglich, daß gerade sehr heftige 
natürliche Infektionen gelegentlich die allerstärkste Wirkung ent- 
falteten, wenn sie eben in ihrer langsameren Entwicklung im geeigneten 
Augenblick genau den optimalen Reiz erreichten, aber das scheinen eher 
Ausnahmen als Regeln. Sicherer wirken die Reize, die in glücklichen 
Intervallen auf einen stets zu stärkerer Leistung erholten Körper treffen, 
die, ohne zu sehr zu schaden bzw. dadurch zu hemmen, optimale Gegen- 
wirkungen erzielen. 

Und von diesem, weniger beachteten Gesichtspunkte aus, der das 
Wirksame und Gemeinsame nicht in der Art, sondern in der ständigen 
Wiederholung eines günstigen Reizes auf den Körper sieht, möchten wir 
im folgenden die Malariainfektion biologisch zergliedern, um festzustellen, 


u re 





Biologisch-klinische Blutstudien über allgemeine Infektionsfragen usw. 749 


ob sie in der Tat dieser Grundforderung unspezifischer Behandlungs- 
weisen so entspricht, daß dies die empirischen Erfolge erklärt. 

Wir werden zuerst den ganzen Infektionsvorgang der Malaria in 
seine klinischen Phasen zerlegen und dann zur Beantwortung unserer 
Fragestellung zurückkehren. 


Beobachtungen in der Inkubation. 


Die künstlichen Infektionen sind leider keine getreuen Abbilder der 
natürlichen Infektion, die selbst bei stärkster Mückenübertragung doch 
etwa 10—14—20 Tage und mehr zum Ausbruch braucht. Ursere 
intravenösen Infektionen zeigten dagegen durchweg kürzere Inku- 
bationen, ja in einigen Fällen ließ sich bereits am Tage nach der Impfung 
der erste subakute Anfall in Spuren erkennen. Ursache ist die intra- 
venöse Einbringung relativ sehr zahlreicher Keime, die in einem ganz 
unvorbereiteten Körper überall volle Möglichkeit zur schnellen Entwick- 
lung finden. Allerdings kommen ganz refraktäre Patienten vor, die selbst 
auf mehrmalige Impfung steril bleiben, und andere, bei denen die sonst 
so virulente Infektion einen gehemmten Verlauf nimmt. Bei Nachunter- 
suchungen würde ich intrakutane Impfung mit kleinen Mengen als der 
Natur näherkommend empfehlen, die wir nur gelegentlich anwandten. 

Klinisch verhielten sich die Kranken in der Inkubation entsprechend 
ihrer Grundkrankheit ziemlich indifferent; einige klagten allerdings 
sehr bald über schlechten Schlaf oder über rheumatische Erscheinungen ; 
auch ließ der Appetit nach. 

Die Bearbeitung der Blutbilder übernahm Dr. Karl Hoffmann, der 
aber leider wegen Auslandreise seine Untersuchungen frühzeitig ab- 
brechen mußte und der bereits erkannten Forderung, mehrmals täglich 
zu untersuchen, nicht mehr gerecht werden konnte. Im ganzen konnte 
nur 1 tägliche Festlegung des Hämogrammes vorgenommen werden 
mit Stichproben der Leukocytenzahlen und sonstigen Befunde. Dafür 
geben die Untersuchungen einen willkommenen Anhaltspunkt für die 
praktische Brauchbarkeit des Hämogramms zur Erkennung beginnender 
Infektionen, da man selbstverständlich dann auch nicht häufiger unter- 
suchen könnte. 

Die Blutentnahme fand möglichst zu den gleichen Tageszeiten, in 
der Regel nachmittags oder abends ohne Rücksicht auf das Fieber statt 
und hatte die verschiedenste Stellung zu den Anfällen, da die Kranken 
ihre Fieber zu ganz verschiedenen Zeiten bekamen. 

Trotzdem zeigen die untersuchten Fälle durchweg genügend deutliche 
Einwirkungen der Infektion auf die Kernverschiebung, die hier vor 
allem interessiert. Aus Raumersparnis und im Hinblick auf die weiteren 
viel eingehenderen Untersuchungen werden immer nur die wichtigsten 
einleitenden Blutbilder der 5 bearbeiteten Fälle gegeben und im übrigen 


Anstieg der Kernverschiebung in der Inkubation. 


7 B u Ära ke Es Fe hl 
N NER Eunenn: 


5 Alln, UHIEIHDE 
NY za 2 






























































































































































IN AV UNE 
EEE 




















































































































Biologisch-klinische Blutstudien über allgemeine Infektionsfragen usw. 751 


die Indexkurve der Kernverschiebung mit dem Fieber direkt verglichen. 
Die erste Feststellung der Parasiten findet sich auf der Kurve. (P+). 


Falll: T., 55 Jahre alt, beobachtet 16 Tage mit 11 Anfällen. Der erste leichte 
Fieberanstieg erfolgt bereits 3 Tage nach Impfung; K.V. steigt gleichzeitig auf 
9,5 und sehr steil über den fieberfreien Tag fort bis 32,5%, überbrückt auch später 
die fieberfreien Intervalle. Am 5. Tage Schüttelfrost. 

Fall2: R., 44 Jahre alt, beobachtet 26 Tage. Das Fieber steigt schon am 
Tage nach der Impfung leicht an, die K.V. erst am nächsten fieberfreien Tage bis 
9,5%. Sie folgt dem kleinen Anfall am 3. Tage parallel und sinkt mit der nach- 
lassenden Fieberbewegung der nächsten Tage ab, bleibt aber stets über 10%. 
Den fieberfreien Zwischenraum vom 7. bis 15. Tage überbrückend, steigt die K.V. 
vom 11. Tage ab auf 15— 25% lange, ehe die Fieberkurve den nächsten Anfall andeutet. 
Mit dem ersten Schüttelfrost am 18. Tage erklettert sie 38,5%, wie eine fünfmalige 
Tagesuntersuchung aufdeckt. 

Fall 3: B., 35 Jahre alt, beobachtet 12 Tage bis zum 6. Schüttelfrost. Fieber 
bereits am Tage nach Impfung deutlich. Blutbild zeigt hier nur Neutrophilie 
ohne K.V. (untersucht im ansteigenden Fieber). Am nächsten fieberfreien Tage 
dagegen schon K.V. 16%, steigend bis 28°/,% beim ersten Schüttelfrost. Bei 
diesem Falle bestand vorher Rechtsverschiebung (Antagonismus?). 

Fall4: Frau R., 53 Jahre alt, beobachtet 12 Tage mit 4 Anfällen. Vom Tage 
der Impfung an geringe, etwas zunehmende: Temperaturen unter 38°, denen die 
K.V. erst am 3. Tage auf 6%, am 6. Tage auf 9% etwa folgt. Hoher Anstieg erst 
im zweiten Schüttelfrost mit 26,5%, festgestellt. Die K.V. bleibt hier deutlich 
hinter dem Fieber zurück; die Blutentnahmen erfolgten aber durchgehends im 
absteigenden Fieber oder nach dem Anfall. 

Fall 5: H., 42 Jahre alt, beobachtet 14 Tage bis vierten Schüttelfrost. K.V. 
steigt sofort am Tage nach der Impfung bis 6,5%, 2 Tage vor der Temperatur- 
kurve. Am 3. Tage erfolgt kleiner Anfall mit Anstieg der K.V. auf 12,5%. Am 
5. fieberfreien Tage steigt die K.V. erneut auf 14%, am 6. Tage mit kleinem Anfall 
auf 18,5%. Dann folgt eine anscheinend fieberfreie Spanne (8. bis 11. Tag), aber 
die K.V. überbrückt sie in hohem Bogen bis 35,5%, zweifellos latente Infektions- 
vorgänge anzeigend, die vielleicht auch bei genauerer Temperaturmessung nicht 
verborgen geblieben wären. Absinkend bis 17% erreicht sie mit dem ersten Schüttel- 
frost sofort wieder 24,5%. Die Bedeutung der Hämogrammkurve für die 
Deutung des Prozesses tritt hier klar in Erscheinung. 

Aus Gründen der Raumersparnis teilen wir nur die Zahlentabellen der Fälle 2 
und 3 mit, um auch die anderen Zellklassen zu zeigen; wegen der nur einmaligen 
täglichen Feststellung ist der Wert geringer (siehe S. 752). 


Fassen wir zusammen: 

1. In vier Fällen zeigt sich die Kernverschiebung gut parallel, bald 
ein wenig vorauseilend, bald etwas zurückbleibend hinter der Temperatur; 
nur im Fall4 schleppt sie deutlich nach, vielleicht nur durch Ungunst 
der Zeit der Blutentnahme. 

2. In allen Fällen erreicht die Kernverschiebung schon in den ersten 
kleinen Anfällen ohne genaue Festlegung des Höhepunktes und wahr- 
scheinlich außerhalb desselben Werte von etwa 9%. In allen Fällen 
klettert sie unter gleicher einmaliger Bestimmung auf mindestens 25%, 
beim ersten Schüttelfrost. 

Z. f. klin. Medizin. Bd. 100. 49 










































































752 V. Schilling, Jossmann, K. Hoffmann, Rubitschung, v. d. Spek: 
Fall2. Patient R. (Kurve II). Zu S. 751. 
Tag Entnahme Bas. | Eos. | sel. J. | St. S. Lymph. | Monoc. 
Voruntersuchung, danach | 
1. | abends ee u.8 Uhr 0 3 or > 2,5 58 31,5 5 
2; 1.2 _ — 3 62 25 8 
N — 1 — _ 95 | 60,51 24,55 | 4,5 
4.| -| —- I — 0,5°| 15:54 64 15,5 | v4;5 
5. 1 14. 40 36 6 
6. | — 1 — —_ 11 54 29 D 
1» 0,5 1051| — _ 14,5.) 50,5 1.20 5 
8. | —. 7 9er 77157, 61,0 1000 Du 
9. a] ten 1 L1l.5002059 29 5,5 
10. — 1 —_ —_ 11 58 25 D 
119 —4l 1,5, 2,9 09,54 °41,5.1238 7 
12. — 1 _ 0,5 10 39 38 9,5 
13. | a) — 2 14 30,2: 25 9 
14. —i1" 2 — 6 14,5 | "35,51 SB 779 
15, —ı 1 _ 5,5 | 19 33 32 8,5 
16. | —.r.1 == 6 17 3715 |. So un 
17 7 0,5 17,5°| »29,5’1 741,57°26.5 
18. | —- [151 — 8 15 32 33,51 8,5 
19. 7 Uhr 30 Min. morgens = 121851 1,3 15 36 33:5 4 
19. |9 Uhr 30 Min. morgens| — | — 10,5 | 13,5 | 24,5 | 32,5 | 23 6 
19.|1 Uhr 30 Min. mittags — | —- 1 — 5.591: Pbı®SB 3l 5 
19. 5 Uhr nachm. > .I — 1 _ 2 18 28 42 9 
19. | 10 Uhr abends . — 10,51 — 0,07.110 26.5.1 80:be 1: 
Fall 3. Patient B. (Kurve III). Zu S. 751. 
Tag Entnahme | Bas. | Eos. |ayeı. I. St. Ss. |Lymph. |Monoe. 
1. | Voruntersuchung zirka 6 Std. 
a ne ameohen | 0,5-1.8721:2.821920,541.1,5%1053:0: Koo Er 
3 — !3,5]| — = se. 60 27 4,5 
4. — 12 — = 4 76 14 2 
5. 05 | —_ —_ 16 59 19,5 5 
6. | — 1351 — — 22 46 24 3,5 
7.| — |!1 _ — 1/18 40,5 | 36 3,5 
8. | — || - 1,5 | 26,5] 42 25,5 AR5, 
9. | — 1 —-.[05|- 2 20 32,5 | 43,5 1:5 
10 | — 1 —| 0,5 |13 40 44,5 0,5 
11. RR, _ 125 9,5 | 38,51 43 3,5 
12: et RT 4,5 1,52) 241 35,5 3 
13. | 0,51 —-— I — 0,5%1710.209]758 43 0,5 
14. | 
15. || —:). —'!10,5°| 7 20 44 22,5 5 











3. In zwei Fällen, 2 und 5, überbrückt die Kernverschiebung längere 


fieberfreie Intervalle durch bleibende oder steigende Verschiebung und 


erhält dadurch die Kontinuität des Prozesses. 


Biologisch-klinische Blutstudien über allgemeine Infektionsfragen usw. 753 


Patient H. Fr., 53 Jahre, Zahnarzt. Progr. Paralyse, Malariaimpfung am 21. III. 
Zu 8. 755, Fall l. 
























































































































Dat. |Stunde E s2 = ER & J. | St. Ei Lymph. | 2 [3 E Bemerkungen 
52 a |IAle 
12 Uhr 26,0 ittelb h der int 
21. III. mittag 36,514570|— [0,51 — | — 33 48. 5 1315 10,5 v U Ban Ta- 
57,5 
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>. 100.,0111186,l6850| 4,01 | — 18,5 54,51 185193 0 10,01 |— grob, zahfreiche Biutplätt 
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30Min. — [6500[—11,0]0,5| 1,0/13,5149,5 o H123.D 11,01 — |—|P. +++ BP. ++ 
ak EEE RE 
64,5 
30Min. — |6240]1,011,51—| 2010562,01120h14,5| 81 |-[r. +++ 2e.+ + 
74,5 
2 Uhr 13,0 
30Min. 87914925] 11,0] — | 1,0111,063,5] 199115,0| 801-1 —]R.+++ Br. ++ 
75,5 | 
4 Uhr 16,0 . p. BP.++ei 
S0MinI 5150 I— 1115| — ,0112,057,0 019,0 ee fin ++ einzelne 
70,0 
6 Uhr 9,5 P. BP. 
30Min.| — |98509,5/0,51—| 2012,557,01 Pa411,0l10,51— |—["ri4 + BP ++ emzeine 
71,5 
9,0 P. BP. inzel 
9 Uhr88 37025] 0,5] — | 2,0116,054,0 5 13,01 |—[P4,4, + + BP- ++ einzeine 
72,5 
6 Uhr 1,3 ) 5 ve in 
27. 1.8 vor)! — [382510,50,5[0,5| 6,024,520,5 eo 12d.b 81.512310 Sba/Binde-@umeren) ER +++ 
6,3 — : viele erwachs. 
9 Uhr 3 515 
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30Min.“ er 0 = 2,0 on iR er, Teil) + 
7 Uhr : 1,0 j. Ringe, zahlr. einz. ++ 
15Min 4991875|—| — [4,0116,5 '0,13,0| 4511| alt. Ringe, Game: | Ei 
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j-, Ringe, Gameten, i 
son 40,612925|— —[2,0| 9,0 0 Hu Oh, 5|15,0[0,5.—| "zunenm. 1, Ringe | ++ 
35 








Ein praktisch-klinischer Wert der Hämogrammbestimmung springt 
also schon bei nur einmaliger Tagesbestimmung heraus, teilweise unab- 
hängig von der Temperaturkurve. 

Bezüglich der Inkubationserscheinungen weist die Kernverschiebung 
den gesetzmäßigen Anstieg des Prozesses in allmählicher Steigerung vom 
49* 





154 


V. Schilling, Jossmann, K. Hoffmann, Rubitschung, v. d. Spek: 


Patient O. S., 38 Jahre, Architekt. Progr. Paralyse, am 24. III. 24. intravenös mit Malari 
tert. geimpft. 



































ER a : HE 
Dat. ‚Stunde = = = |Bas ° St & | Lymph.| s |® S Poly.| B.P. Bemerkungen 
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27.1IL| 8Uhr 3% ai; 1 
15 Min. | — [asso| 1,0. || 7040| 55 95-1] ++ | + | Wenig Innes minges halb 
Y9Uhr 37,9 73,5 ; x \ 

ERER|N 4,0 |20,0|41,0122,5 Junge Ringe, 
10 Uhr 188,0/8900| — 11,0] — NET mr 0,5j280 10 I ER vermehrte Blutplättcheı 
12 Uhr 88,5 [3125] 1,0 |1,01 — | 15.128,0189,5 5150 140|— —| ++ | +27, | ältere Ringe einzeln 
69,0 
2 Uhr - 2,0 |24,5 | 40,0 | 22,0 Jüngere, ältere Ringe, ein 
15 Min. Bien AKEe IE 66,5 0) a lEalse| Ecker na zelne Gameten 
4 Uhr 2,0 |20,0 39,0 [29,0 Junge, ältere Ringe, halb- 
15 Min. 39,014675| 0,5 | — | — 610 051295 Sa | Da erw. Paras. 
‚Ahr aas]aaso| 1,0 || 115 12201360 305 9,01 —| ++ |+ +2, einzeine Ringe 
59,5 > 

9 Uhr 5,0 |28,0| 25,0 halberw. Paras. einzeln; 
30 Min. 87,2]8850| — | —|— | Sn 880 11401—-|—-| ++ |++V/d einz, Ringe 














Tage der Impfung an nach. Erhebliche prämonotorische Abweichungen 
Versuchsanordnung nicht ergeben; insbesondere 
einer vorausgehenden hohen neutrophilen Leuko- 
cytose gefunden, wie sie von mancher Seite vor der Entwicklung neutro- 
penischer Dauerbilder erwartet wurden. Die Arnethsche Anisohypo- | 
leukocytose erscheint auch hier weniger als Folge eines übermäßigen | 


haben sich in dieser 
sind keine Anzeichen 


Verbrauches der Leukocyten, als einer sofort charakteristisch ein- | 


78.27.24, 73. 


20, 





21, 


3. 
24 


6. 





S 


(+) 





Kerrwerschiebung 
& 


S Temp. 





KV: 


40 


” 8. 


29. 


3. 


TO.IQ 
30. “ 


37, 























25 39 


20 38 











15 37 


70 36 

















983; 
—AlU4% normal 


Kurve 6. Kernverschiebungs-Tageskurven in der Inkubation. 






































Biologisch-klinische Blutstudien über allgemeine Infektionsfragen usw. 755 


setzenden Infektionswirkung auf das leukopoetische System, das den 
gleichen Typus mit den Phasen der Anfälle von vornherein zeigt. 

Rubitschung hat die Hoffmannschen Feststellungen an zwei weiteren 
Fällen durch etwa zweistündliche Auszählungen über 12 Stunden ergänzt, 
und zwar an vier Tagen (je zwei) während der Inkubation. Da die 
Untersuchung im einen Falle bereits in den ersten Schüttelfrost hinein- 
geriet, haben wir die beiden Fälle, die sich fast parallel entwickelten, 
in den folgenden Kurven kombiniert. 


21 22.10.24. 1lagnachdImpfurg, 27.07. 3.ag mach der Impfung. 21. 6,Tag nach der Impfung. 
12° BE IWNNIT23H5678 9 BEIWNRILESYSEETEIM BIWMRIL2LIHSETEIM 

































































































































































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N 
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S 
SD 
20 70 40 
75 60304 37 
70 50 20 3 36 
0) 70 
Bine 
Dasoph.Punktg. 


Kurve 7. Leukocytenschwankungen in 2stündlichen Kurven während der Inkubation (s. Kurve 6). 


Die erste Untersuchung des Falles 1 (S. 753) fand am Tage nach der Impfung 
statt, die zweite am 6. Tage bei Schüttelfrost, Der Pat. war 53jähriger Zahnarzt 
mit sicherer Paralyse. 

Bei dem 2. Falle fand die erste Untersuchung am 3. Tage nach Impfung statt 
bei Fieber ohne Schüttelfrost bis 39°. Diese Untersuchung ist in den Kurven 
zwischen die Befunde des anderen Falles eingesetzt (statt am 27. schon am 24., 
der 3. Krankheitstag!) Beide Fälle waren intravenös geimpft und hatten ihren 
ersten Schüttelfrost im: gleichen Intervall nach Impfung. 

Bereits am Tage nach der. Impfung zeigt Fall 1 (Kurve 7) eine ausgesprochene 
ansteigende K.V. und Neutrophilie bis zum Abend; im Verlauf des Anfalles folgt 
eine Monocytose; die Lymphocytose fällt leider erst außerhalb der Beobachtungs- 
zeit, ist aber nach der deutlichen Lymphocytopenie und den späteren Befunden 


756 V. Schilling, Jossmann, K. Hoffmann, Rubitschung, v. d. Spek: 


anzunehmen. Da bereits Fieber bis 38° und spärlicher Parasitenbefund besteht, 
ist dieses „‚Vorfieber‘‘ zweifellos schon eine subakute Malaria. 

Die Untersuchung am 3. Tage nach der Impfung traf bei dem anderen Pat., 
einem 38jährigen Architekten, auf einen anscheinend in die Breite gezogenen 
subakuten Anfall. Das Bild verläuft nicht ganz so typisch; ein Schwanken der K.V., 
die jetzt viel höher liegt und ausgesprochene Jugendformen zeigt, ein zweimaliger 
Anstieg der Monocyten und eine Unterbrechung im Lymphocytenanstieg deuten 
die Nachwirkung eines verlängerten Anfalles vom Vortage (postponierende Para- 
siten) an, ebenso wie die Fieberkurve (s. Kurve 7 Mitte). 

Die Untersuchung am 6. Tage (Fall 1) fällt mit dem ersten Schüttelfrost zu- 
sammen und bietet durchaus ähnliche Befunde, wie wir sie im nächsten Abschnitt 
besprechen werden. Auch hier wirkt in der hohen anfänglichen Monocytose noch der 
Vortagsanfall nach. Die K.V. ist ausgesprochen jugendlich und sehr viel höher. 

Überblicken wir die Rubitschungschen Ergänzungen insgesamt, so 
erläutern sie sehr gut den vollkommen stufenartigen Anstieg der Blut- 
veränderungen, die dem ansteigenden Fieber gut parallel gehen. Ob 
man die etwas höhere Zahlreaktion als eine Besonderheit der Inkubation 
betrachten darf, ist nicht sicher; wir haben auch bei ganz regelmäßigem 
Ablauf der Malariaanfälle gelegentlich einmal derartige mäßige Leuko- 
cytosen vorübergehend gesehen. Bemerkenswert ist die starke Poly- 
chromasie und basophile Punktierung, die sich hier initial schon zeigt, 
während auf der Höhe der Infektion die Befunde oft viel geringer, aber 
prinzipiell gleichartige sind. 

Trotz der Schwankungen kann aber schon eine einmalige Feststellung 
zur gleichen Tageszeit genügen, um die steigende Kurve des Hämogramms, 
besonders der Kernverschiebung, aufzudecken, denn durchschnittlich liegt 
die Basıs der Kernverschiebung auf der Höhe des Gipfels vorher. 


Der einzelne Malariaanfall. 


Die Untersuchung der Malarialeukocytose im einzelnen Anfall nach 
unserer Methode übernahm Herr Dr. Rubitschung. Seiner Ausdauer 
gelang es, den lange gehegten Plan einer fast stündlichen Überwachung 
der Veränderungen über 48 Stunden und länger selbstdurch die Nacht 
noch durchzuführen und damit sehr wertvolles Material zu beschaffen. 

Das klinische Bild des einzelnen Malariaanfalles ist in Deutschland 
weniger bekannt, weshalb es kurz geschildert sei. Aus fast völligem 
Wohlbefinden heraus, selbst noch bei vielen schon länger bestehenden 
Malarien, meldet sich der Anfall u.a. mit Unbehagen, rheumatoiden 
Schmerzen, Reizbarkeit an; oft aber setzen auch die fieberhaften Er- 
scheinungen fast unvermittelt mitten in der Beschäftigung ein. Gleich- 
zeitig läßt sich der rasche Anstieg der Temperatur verfolgen, der in 
wenigen Stunden zum Gipfel führt; kurz vorher oder auf der Höhe 
pflegt ein heftiger Schüttelfrost mit starken allgemeinen Kreislauf- 
störungen, Cyanose, Blässe, und nervösen Erscheinungen wie Gänsehaut, 
Reizbarkeit, Schwäche, Apathie oder Aufgeregtheit zu erfolgen. Der 











Biologisch-klinische Blutstudien über allgemeine Infektionsfragen usw. 757 


Puls wird klein und gespannt, oft hochfrequent. Die Fieberhöhe 39—40°, 
bis über 42° ausnahmsweise, während deren der Patient sich in der Regel 
schwerkrank fühlt, dauert etwa 4—5 Stunden bei Tertiana, kann aber 
durch verschleppte Teilungen hingezögert, auch in zwei Gipfel auf- 
gespalten werden. Mit dem Abfall bricht ein kritischer Schweiß aus; 
schon nach wenigen Stunden werden subfebrile Werte erreicht.. Der 
Kranke fühlt sich matt, schlafbedürftig, manchmal sehr erleichtert. 
Im Intervall stellt sich oft überraschende Frische, Arbeitsfähigkeit und 
Wohlbefinden ein in einem Grade, wie er bei anderen derart fieberhaften 
Krankheiten kaum bekannt ist. Die Parasitenteilungen fallen in die Zeit 
des Temperaturanstiegs und besonders in die Zeit des Schüttelfrostes. 

Während und nach dem Anfall verraten auch andere klinische Wahr- 
nehmung die Körperschädigung, z. B. manchmal auftretende oder zu- 
nehmende Albuminurie meist nur spurweise, Harnretention mit nach- 
folgender Flut, Zunahme der ikterischen Verfärbung und der Gallen- 
farbstoffe im Urin (besonders Urobilin und Urobilinogen), Steigerung 
von der Malaria unabhängiger Krankheiten wie Neuralgien, Narben- 
symptome, komplizierende Krankheiten, Verdauungsstörungen ver- 
schiedener Artu. a. Nach zahlreicheren Anfällen tritt Anämie, Gewichts- 
abnahme und Schwäche ein, aber selten in zunächst hedrohlichem Grade. 

Fassen wir das klinische Bild zusammen, so ergibt sich: schnelles 
Durcheilen eines hochinfektiösen Prozesses in weniger als 24 Stunden von 
Prodromen über akutesten Ausbruch bis zu den Symptomen der Krise 
nnd der Rekonvalescenz, auch subjektiv als vorübergehender schwerer 
Krankheitszustand empfunden. Bezüglich der Parasiten muß man 
annehmen, daß ihre Anwesenheit im Blut an sich selbst bei hoher Zahl 
sehr wenig einwirkt, abgesehen von der Anämisierung, sondern daß 
bekanntermaßen die eigentliche Schädigung auf Produkte der zerfallenden 
Parasiten, freiwerdendes artfremdes Eiweiß, Pigmentreste u. a. entfällt. 

Über die Leukocytenbewegung im Anfall sind wir durch eine sehr 
reiche Literatur (Billet, Poech, Türk, Laveran, erweitert durch Gothein, 
V. Schilling, Scheerschmidt u.a.) gut orientiert, wenn auch eine Zu- 
sammenstellung (V. Schilling in Mense, Handbuch der Tropenkrank- 
heiten Bd. 2, 2. Auflage, 1914 und Bd.1, 3. Auflage 1924) erst nach 
Ausscheidung und Kombination einer Unmenge scheinbar wider- 
sprechender Literaturmitteilungen möglich war. 

Der Verlauf ist etwa folgender: 

Kurz vor dem Anfall oder im Schüttelfrost bzw. ansteigendem Fieber 
werden kurze, seltener hohe neutrophile Hyperleukocytosen beob- 
achtet. Am richtigsten sagte Poech, daß es oft mehr Wiederanstieg auf 
normale Werte aus der sonstigen neutropenischen Leukopenie der Malaria 
wäre. Immer aber macht sich die starke regenerative Reizung des 
Knochenmarkes durch eine schwere neutrophile Kernverschiebung bis 


7158 V, Schilling, ‘Jossmann, K. Hoffmann, Rubitschung, v. d. Spek: 


zu den Jugendlichen, ausnahmsweise bis zu Myelocyten bemerkbar. 
Die Eosinophilen fallen dabei schnell ab. | 

Auf der Höhe bzw. kurz nach dem Anfall stürzen die Leukocyten 
herab auf sehr niedrige Werte und der Typus des Hämogrammes wird ein 
ausgesprochen neutropenischer. Die Eosinophilen verschwinden oft 
ganz. Bereits jetzt beginnen die Monocyten deutlich, manchmal stark 
zu reagieren (Dolega, Bastianelli, Stephens und Christophers u. a.). Die 
Kernverschiebung wird weniger gereizt, stabkernig und beginnt zu 
sinken. /m Intervall besteht eine Hypoleukocytose von ausgesprochen 
Iympho-monocytären Charakter mit wiederkehrenden Eosinophilen 
und fortbestehender niedrigerer Kernverschiebung. 


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Kurve 8. Leukocytenbewegung in einem Malariaanfall. Nach Woensdregth und van Dam kon- 
struiert nach den Angaben der Arbeit, Geneesk. Tijdschrift Bd. 67, S. 2002, 1928. 


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„Der Gesamtablauf dieses Blutbildes kann als ein experimentell klarer 
bezeichnet werden und zeigt in schreffster Weise das typische Verhalten 
der Bosinophilen (infektiöse Hypeosinophilie, postinfektiöse Eosinophilie), 
die gewöhnliche Reaktion der Neutrophilen mit Kernwverschiebung, die 
selbständige intermediäre Stellung der Monocyten und die chronische 
lymphatische Reaktion kurz nacheinander“ (l.c. 1914, 8. 77). 

Kontinuierliche Durchprüfungen dieser kombinierten Verhältnisse 
lagen aber kaum vor. Scheerschmidt??) hatte die Nachfieberperiode, 
Hülse!!) 1 Fall ziemlich genau auf moderner Basis studiert. Kliene- 
bergers angeblich sehr genaue Kurvenstudien halten schärferer Prüfung 
nicht stand. | 

Die beste Darstellung haben unseres Wissens die holländischen 
Forscher Woensdregth und van Damt*!) gegeben, die vier holländische 
Malariafälle in sehr kurzen Intervallen nach der Hämogrammtechnik 
durchuntersuchten und mit ihrem Fall3 tatsächlich ein fast vollständiges 
Kurvenbild des Leukocytenablaufes im Einzelanfall erzielten. 


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75 


70 


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Biologisch-klinische Blutstudien über allgemeine Infektionsfragen usw. 759 


Das Bild zeigt: Vor Anfall Abwärtsbewegung der Leukocyten, mit kurzem An- 
stieg bei Fieberbeginn, im Schüttelfrost tiefste Leukopenie, relativ höchste Neutro- 
philie und Kernverschiebung, tiefster Absturz der Mono- und Lymphocyten, Ver- 
schwinden der Eosinophilen. Auf der Fieberhöhe Wiederanstieg der Leukocyten, 
unterbrochen durch eine nochmalige kleine Senkung mit K.V., kurze Rückkehr 
der Eosinophilen, Wiederanstieg der Monocyten. Am Schluß des Fiebers ist die 
alte Zahlhöhe wieder erreicht; die Neutrophilen stürzen ab, die Monocyten stehen 
hoch und die Lymphocyten steigen rapide an. Das Intervallbild fehlt hier leider, 
doch beweisen die Anfangsbefunde vor Anstieg eine noch höhere Lymphoctyose 
und Rückkehr der Eosinophilen. 


































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Kurve 9. Tägliche Leukocytenbewegung während 3 Malariaanfällen. 


Rubitschung prüfte diese Angaben an 6 Patienten in 16 Anfällen 
nach, wobei sich die Gesetzmäßigkeit dieses Ablaufes und noch eine 
Anzahl interessanter Einzelheiten ergaben, über die anderen Ortes 
berichtet werden wird. Schon kurze Untersuchungslücken durch die 
Nachtruhe oder andere äußere Verhältnisse ergaben gröbere Täuschungen 
und verdeckten den gesetzmäßigen Ablauf. Das Widersprechende der 
Literatur wird dadurch zwanglos erklärt, da jede Stunde das Bild ver- 
ändert. 

In einem Punkte unterscheiden sich die Untersuchungen entsprechend 
unseren übrigen Erfahrungen wesentlich von den Berichten der Hol- 
länder, in dem relativen Fortbestehen der Kernverschiebung auch im 
Intervall, so daß niemals der Charakter eines infektiösen Blutbildes trotz 


7 


aller Schwankungen verloren gehen kann, wann man auch untersucht. 
Nur so ist verständlich, daß auch die ohne Berücksichtigung dieser 
Einzelschwankungen mit einmaliger Untersuchung zur gleichen Tageszeit 
angelegten Kurven einen charakteristischen Ablauf erkennen lassen. 
Aus der Arbeit Rubitschungs will ich hier nur eine, die gelungenste, 
über zwei Tage verfolgte Kurve anführen (Fall 5 seiner Arbeit): 


60 


„Pat. O. Sch., Arbeiter, 36 Jahre alt. 
am 27. XII. 1923 intravenös mit Malaria tertiana geimpft. Pat. sehr ruhig. 

Am 10. I. 1924, 14 Tage nach der Impfung, beginnt die Untersuchung. Morgen- 
temperatur bereits 39° bei 4720 Leukocyten. Um 12 Uhr mittags starker Schweiß- 
ausbruch bei geringem Schüttelfrost. Kurz vorher und auf der Höhe regenerative 
Kernverschiebung bis Myelocyten. Leukocytenzahl im allmähligen Steigen. 

Die neutrophile Kampfphase bei hoher K.V. klingt mit der Temperatur ab. 
Die anschließende monocytäre und etwas später folgende Iymphocytäre Reaktion 
wird in der Krise und nach dem Anfall deutlich. 6 Stunden nach der Acme normale 
Leukocytenzahl, nach weiteren 6 Stunden wieder neutropenische Leukopenie. 


Gegen Mitternacht wieder Anstieg. 























V. Schilling, Jossmann, K. Hoffmann, Rubitschung, v. d. Spek: 


Progressive Paralyse, demente Form, 





























































































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6 Uhr 36,7[6450| — —| —\0,5119,5142,011%5\58,5 |8,5 [1,01 — | + Junge Ringe, älter 
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7 Uhr! SG + [Junge Ringe, ältere 
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30Min. | Tre" zo — | Ringe;halberw. ParS 
9 Uhr 36,0|4500[— —| — |1,0/15,5/32,5] 20 Ma 15,0/0,5|— | + 2 [Junge Ringe, älterg 
| BEI — 1 15.0 > Ringe;halberw. Pa 
11 Uhr 35,714000| — 0,5 UM 1101| +2 Tinge, Aiere Rinz 
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Biologisch-klinische Blutstudien über allgemeine Infektionsfragen usw. 761 


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7 Uhr » 16,0 + 
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9 Uhr |36,6[ 4400| — 11,51 1,5/25,0|45,5 01205 5,00,51 |" I ORANGE NORShEL 
73.0 
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15Min S [4550 | — |0,5|— | 7,0|25,5|40,0 6 1250 1.510,51 — junge Ringe, halberw., 
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70,5 
4 Uhr ; 22,0 + 1/, | Junge, ältere Ringe halb- 
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6 Uhr 37,0| 3700 | — [0,5 | 3,0'20,5|38,5 01255 11,00,5/0,5 x z ee, 
62,0 
7 Uhr | 422.3 " + '/g2 
30Min.) — | 4330 10,512,0[12,0119,0139,5| 7 5530,0| 5,5) 11,5| | | Zahlreich 
60,5 
9 Uhr r 15,5 SZ i 
30Min. 37:5[ 3700 [— | —|— 1,0112,5 142,5 ,'5730,0 12,50,511,0| | | zantreich 
‚1 Uhr 38.71 473005 | 98,0 26,5] + 1/, | Junge, ältere Ringe, viele 
30Min.” er 1=k1,0 => 36,0 9,0529» 6,5[1,011,0 n Fe 2 beginnen- 
12.1 : 
e - 14,5 ++ | Junge, ältere Ringe, erw. 
„Uhr 139,7[4000 | — 1,01 3,5[28,0|38,0 90723 Sl 100 |) Par, Besmmehae Tai 
nachts 69,5 Si 








Nach 4!/,stündiger Nachtruhe am 11.1. 6 Uhr früh Fortsetzung der Unter- 
suchung. Die Leukocytenzahl steigt weiter zur unteren Normalgrenze, um von 
7*/, Uhr ab, mit Ausnahme vorübergehender Zunahme im Schüttelfrost, im Anfall 
abzustürzen. Die K.V. beginnt am frühen Morgen schon wieder zu klettern und 
erreicht mit dem Schüttelfrost die Höhe, ebenso die Neutrophilen, während Lympho- 
eyten, Monocyten und Eosinophile abnehmen. 

Es findet sich dasselbe Zusammenspiel der drei Phasen in typischer Folge 
während des Anfalles. Die nach geringer Erholung wieder abgleitende Leukocyten- 
zahl am Ende der Krise, die geringe Erhebung der Lympho- und Monocyten 
deuten bereits auf eine Störung hin, die darin zum Ausdruck kommt, daß die Tem- 
peratur 6 Stunden nach der Acme gerade 37° erreicht und dann allmählich im sanften 





















































762 V. Schilling, Jossmann, K. Hoffmann, Rubitschung, v. d. Spek : 
PabsiLY. .0..80h4012. 1.1924: 
Ss |Leuko- ; ; ae: i 
a % = 8 | Lympho- | S |& | s 
Stunde E ak: ® = = I. ® Ber) E E 3 FB» Bemerkungen 
| 170 + !y, | Parasiten sehr zahlreich] 
6 Uhr 40,1] 2550 | — |0,5|— | 6,0|28,0 32,0 29,0 | 3,5] — |— junge Ringe, Teilungs- 
—— — | 12,0 % formen 
66,0 
15,5 7 Ringe, reife Tei- 
7 Uhr | — [2425| || |8,0/37,0|31,0 50119 3,1101 Pe 
N 13,0 ++ z Patient apathisch, 
9 Uhr 40,2] 3400 | — | — I— | 8,5/31,5|37,0 18,5 | 2,512,01— Teilung, junge Ringe, 
5,0 7 halberwachsene Par. 
10 Uhr u 8,5 ++ | Gameten, ä. Ringe, halb- 
s0Mi 4800 10,5 /0,5|— | 4,5, 27,5/41,5 5 0135 11,5]0,5 | — erwachs., junge Ringe, 
ın. 735 ’ 1: einzelne Teilungsform. 
13,0 + | Junge, ältere Ringe, halb- 
12 Uhr\39,6| 5200 | — | — || 3,5|23,0)40,0 55195 12,02,01 721 Too ee 
66,5 

















Bogen in den nächsten 15 Stunden steigt. Trotzdem es aber am 12.1. zu 
keinem vollen Anfall kommt (keine steile Fieberkurve, kein Schüttelfrost), 
spielen sich wieder dieselben Vorgänge etwas verzögert ab. Daß die Parasiten an 
der Störung Schuld haben, beweist das Auftreten von anteponierenden Teilungs- 
formen schon am 11. I. abends 11!/, Uhr und 1!/, Uhr nachts bis zum 12. 1. 10!/, Uhr 
vormittags, also über 11 Stunden! Wieder folgt auf eine Leukocytose im Fieber- 
anstieg eine Leukopenie vor der Fieberhöhe. 

Während am 10.1. nur wenige Parasiten vorhanden sind, zeigen sie sich am 
11.1. zunehmend und am 12.1. sehr zahlreich. Polychromasie nimmt in der 
Krise zu und ist im gestörten Anfall vom 12.1. in der Fieberhöhe am stärksten, 
im Intervall gering. Die Parasiten fast umgekehrt. Die K.V. begleitet fast auto- 
matisch die Temperaturkurve. Der Fall wurde mit Ausnahme weniger Nacht- 
stunden über 50 Stunden beobachtet.“ 


Während am 11. die Kernverschiebung ausgesprochen dem Fieber 
vorauseilt, bleibt sie am 12. etwas dahinter zurück, vielleicht, weil die 
Reaktionsbereitschaft des Markes noch durch den früheren Anfall 
gestört ist (wie z.B. nach Hämoklasie Widals).. Andere Kurven 
Rubitschungs zeigen, wie auch die holländische Kurve, das Vorauseilen 
der Kernverschiebung um Stunden oder mindestens Gleichzeitigkeit. 

Auf die drei Phasen wird noch am Schluß einzugehen sein; es ist 
biologisch sehr interessant, daß bereits der kurze Infektionsprozeß das 
Spiel von Kampf, Abwehr und Heilung so widerspiegelt. Mehr oder 
weniger deutlich kehrt der Ablauf in allen vollständigeren Beobachtungen 
Rubitschungs wieder, so daß er auch hier gesetzmäßig genannt werden 
darf (vgl. Literatur, Anm. $. 742). 

Sehr bemerkenswert ist die außerordentliche Höhe der Kernver- 
schiebungskurve, die ganz dem schweren Zustand im Anfall entspricht, 
ebenso erstaunlich die relative Zurückbildung. 





Biologisch-klinische Blutstudien über allgemeine Infektionsfragen usw. 763 


Alles in allem zeigen uns die Leukocytenbefunde in vertiefter Form 
den gleichen Umwälzungsprozeß, den auch das klinische Bild andeutet. 
In ihrer Folge betreffen sie alle Arten der Leukocyten in überraschender 
Stärke und mit vollkommener Inversion der Befunde. 


Untersuchungen während der Therapie. 


Über die Veränderungen nach dem Malariaanfall während der 
Therapie liegen zahlreiche Mitteilungen bereits vor, da ja die meisten 
klinischen Beobachtungen nur an behandeltem Malariamaterial gemacht 
wurden. Herr Dr. van der Spek übernahm jedoch die Nachprüfung von 
dem Gesichtspunkte aus, daß sich hier ein genau gleichartiges Infektions- 
material von bekannter Krankheitsdauer auf therapeutische Wirkung 
untersuchen ließ. Auch sollte festgestellt werden, ob im Verhalten des 
abklingenden Blutbildes Besonderheiten gegenüber dem Ablauf natür- 
licher Fälle vorlägen. Endlich konnte der Mechanismus der Verände- 
rungen des roten Blutbildes mit der dicken Tropfenmethode einmal 
genau analysiert werden. 


Neopanchinaltherapie. 


Während unserer Untersuchungen haben wir bei einem Teil der Fälle (etwa 25) 
ein neues Chininpräparat, Neopanchinal, hergestellt von Dr. Schmitz, Breslau, 
angewendet, das uns zufällig in diesen Tagen zur Auswertung angeboten wurde. 
Wir wollten dabei die Brauchbarkeit der Blutkurvenfeststellung zur Kontrolle 
von therapeutischen Eingriffen an sich erweisen und hofften, bei der Feinheit der 
Reaktion aus Abweichungen auf evtl. verschiedene Wirkungen der Medikamente 
schließen zu können, wie das in der Tat gelungen ist (s. die Kurven S. 767/768). 

Neopanchinal ist nach Angabe seines Herstellers ein sirupartiges, im Vakuum 
eingedicktes Fluidextrakt der käuflichen Chinarinde, und zwar besonders hoch- 
wertiger Sorten. Das wässerige alkohol-, harz- und ballaststofffreie Extrakt ent- 
hält etwa 10% Gesamtalkaloide der Chinarinde, darunter 2,5%, Chininbase. Nach 
älteren Angaben der Literatur ist es nicht ganz ausgeschlossen, daß auch die Neben- 
alkaloide der Rinde Wirkungen unterstützender Art entfalten. Vor allem bewog 
uns der zur Zeit der Anstellung dieser Versuche sehr viel geringere Preis des Mittels 
gegenüber dem sehr teuren Reinchinin, die Angaben des Herstellers klinisch nach- 
prüfen. 

Ein Teelöffel des Extraktes enthielt ungefähr 0,125 g Chininbase. Wir be- 
gannen daher mit 3 Teelöffeln täglich unsere Therapie, gingen aber sehr bald auf 
2 Teelöffel, je einen vor- und nachmittags, herab, da sich die Wirkung gleichstark 
zeigte. Mit dieser Dosis, gleich 0,25 g Chininbase, erzielten wir die in der Malaria- 
literatur beschriebene Heilwirknng der 1g-Chinindosen sehr regelmäß, d.h. 
die Parasiten verschwanden bereits am folgenden, spätestens am 3. Tage ganz, 
das Fieber fiel am nächsten bzw. übernächsten Tage nach der Anwendung. Nach 
10—14 Tagen dieser Dosierung hatten wir ausnahmslos rezidivfreie Heilungen. Ver- 
suchsweise erzielten wir einmal den gleichen Erfolg nach 3 Tagen schon, 5 mal 
nach 6—9 Tagen. Am Ende unserer Versuche sahen wir eine Dosierung von 2 Tee- 
löffeln täglich für etwa 10 Tage als sicher ausreichend an. Einmal genügte schon 
ein einziger Neopanchinaltag, um 3 Tage Fieberfreiheit, dann Rückfall ohne Para- 
siten eintreten zu lassen. 


764  V. Schilling, Jossmann, K. Hoffmann, Rubitschung, v. d. Spek: 


Leider fehlt uns das Vergleichsmaterial mit anderen Malariainfektionen und 
mit reiner Chinintherapie. Daß die übliche Grammdosierung fast ausnahmslos 
rezidivfrei heilte, stimmt mit den Beobachtungen anderer Autoren überein und 
geschah auch bei unseren Fällen prompt. Immerhin beobachteten wir einen Rück- 
fall nach 24 Tagen einer 1 g-Chinintherapie mit vielen Parasiten, der durch 12 Tage 
Neopanchinal vom 2. Tage an parasitenfrei geheilt wurde. Bei 2 Kontrollen mit 
nur 0,25 g Chinin. muriat. täglich trat in dem einen Falle schon am 10. und 11. Be- 
handlungstage Rezidiv mit viel Parasiten ein. 

Zur Vorsicht in allzu günstiger Beurteilung des Neopanchinals stimmt aller- 
dings die übereinstimmend von allen Autoren angegebene besonders gute Heil- 
barkeit der Impftertiana, die man wohl der exakten Anwendung des Chinins 
auf nicht vorbehandelte und ganz akute Malaria zuschreiben darf, und die besonders 
von Kirschbaum und Mühlens'”), Mühlens'*) allein besonders hervorgehobene 
Tatsache, daß man allgemein zu hohe Chinindosen anwendet. Die Autoren kamen 
mit 0,5g Chinin 3—5 Tage, wiederholt noch 4—5 Wochen in etwa 5—Ttägigen 
Pausen etwa 3 Tage lang ganz gut aus; ja sogar Dosen von 0,3 g Chinin erwiesen 
sich in gleicher Weise angewendet schon als brauchbar. Unsere vereinzelten Miß- 
erfolge mit Chinin könnten also bei ihrer zu geringen Zahl als Zufälle ungünstiger 
Wirkung angesehen werden. 

Das aber ist wohl nicht zuviel gesagt, daß das Neopanchinal eine überraschend 
gute, durchaus dem Reinchinin ebenbürtige Wirkung entfaltet hat. 

Schädlichkeiten des Mittels haben wir nicht gesehen. Ein Nachteil ist der 
sehr bittere Geschmack, der aber nur ganz ausnahmsweise die Verabreichung 
unmöglich machte. Allerdings sind die Paralytiker hierin wohl weniger empfind- 
lich als sonst Gesunde. Ein Schwarzwasserfieber entstand bei einem mit 
Neopanchinal etwa 1 Woche behandelten Pat., als er nach eintägiger Unter- 
brechung 1g Chinin erhielt (Näheres siehe $. 771). Bei einigen Fällen trat 
während der Therapie Erbrechen auf. Im ganzen aber wurde das Mittel gut 
ertragen. 

Es ist hier die geeignete Stelle, um auf die Gefahren der ganzen Malariabehand- 
lung einzugehen. Unbedingt muß verlangt werden, daß reine Tertianastämme durch 
erfahrene Fachleute ausgesucht werden, denn Mischinfektionen sind an sich immer 
unberechenbarer. Tropica macht allzu schnell Überschwemmungen mit Parasiten; 
Quartana ist als hartnäckiger bekannt. 

Bei Tertiana wirkt die Therapie, ausnahmsweise noch verstärkt durch intra- 
venöse Chininzufuhr von Urethanchinin (0,75 in 10 ccm NaCl 0,5), so sicher, daß 
Malariagefahren kaum entstehen können; allerdings muß ein geübter Malariaunter- 
sucher die Parasiten täglich kontrollieren (dicke Tropfenmethode). Die Über- 
tragungsgefahr durch Anophelen ist nicht zu unterschätzen, da auch in Deutsch- 
land überall die Malariamücken vorhanden sind, aber die Ausreifung erfolgt doch 
wohl nur im Hochsommer. Es sei aber an die Berliner Tropicaendemie erinnert, bei 
der sich etwa 50 nachgewiesene Fälle an einem von Wollenberg®°) und V. Schilling*) 
festgestellten, nur in Berlin infizierten Tropicafall anschlossen, alle von einem 
unentdeckt gebliebenen Tropicaherd stammend. 

Was die Paralytiker selbst angeht, so ist von allen Seiten betont worden, daß 
initiale Fälle mehr Raum für Heilungen bieten, doch kommen auch im letzten Sta- 
dium mindestens noch soziale Besserungen vor. Die relative Gutartigkeit der 
Malariaattacken darf nicht zum Leichtsinn führen, denn die Malariafolgen, Herz- 
schwäche, Anämisierung, Leberschädigung, Parasitenüberschwemmung, können 
geradezu blitzartig eintreten. So ist die Mortalität in den meisten Arbeiten hoch, 





*) Verein f. inn. Med. Berlin, Sitz. v. 16. I. 1922. Med. Klin. 12. II. 1922, 
Heft 7. 





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Biologisch-klinische Blutstudien über allgemeine Infektionsfragen usw. 765 


wenn auch reine Malariatodesfälle bei Tertiana kaum vorgekommen sind. Man 
kann also auch in vorgeschrittenen Fällen immer noch die Malariatherapie versuchen, 
muß nur manchmal rechtzeitig bei auffälliger klinischer Verschlechterung abbrechen. 
Eigentlich marantische oder kachektische Fälle bieten wenig Aussicht und werden 
daher besser nicht geimpft. Sie erkranken leicht an Komplikationen, Decubitus, 
Pneumonie, Sepsis u.a. Gefährlich sind auch die plötzlichen Herzschwächen, 
obgleich man ihnen mit frühzeitiger Digitalistherapie gut vorbeugen kann. 
Wenn auch die Malaria nach unserer ganzen Beobachtung im Verhältnis zur 
Fieberhöhe und zum klinischen Bild eine relativ harmlose Krankheit ist, so ge- 
hört absolut doch immer eine sehr erhebliche Anstrengung des Körpers zu ihrer 
Überwindung hinzu, die dekrepide Paralytiker nicht dauernd mehr aufbringen*). 


Aus der Literatur ist bekannt, daß sich bei Beginn einer wirkungs- 
vollen Malariabehandlung schnelle Änderungen im Blutbilde vollziehen. 
Die Parasiten vermindern sich in 24—48 Stunden rapid bis zum Ver- 
schwinden; nur bei den „resistenten‘“ Fällen nimmt die Zahl der Para- 
siten weniger ab, und spärlichere Parasiten können sich während der 
ganzen Behandlung halten. Davon konnte bei dieser leichten Versuchs- 
malaria hier keine Rede sein. Gameten, die der Therapie trotzten, 
beobachteten wir nicht im allgemeinen, obgleich bei längeren Anfällen 
spärliche Gameten zu finden waren. 

Die Leukocytenformel wird in der Regel ausgesprochen Iympho- 
monocytär bei mäßig hohen Gesamtzahlen an der oberen Grenze des 
Normalen. Die Monocytenwerte sind dabei besonders ganz kurz nach 
der Einwirkung der Therapie vorübergehend auffallend hoch, ebenso 
in schlecht ausheilenden, rezidivierenden Fällen für längere Zeiten. 
Sehr auffallend ist das Aufschnellen der Polychromatischen in dem 
zunächst oft wenig regenerativen Blutbilde, das auch bei schwereren 
Anämien, solange die Anfälle dauern, relativ wenig Polychromasie als 
Anzeichen regenerativen Ersatzes der E-Verluste erkennen läßt. Von 
P. Schmidt), V. Schilling (l.c.) u.a. ist auf die Häufung des Auf- 
tretens der basophilen Punktierung gerade in den ersten Behandlungs- 
tagen aufmerksam gemacht worden. 

Ross und Thomsen*‘) haben auf eine angeblich häufige Besonderheit 
der Leukocytenzahl bei geheilten Malarikern hingewiesen. Sie sahen 
bei häufigen Zählungen in mehrstündigen Abständen plötzliche ganz 
enorme Anstiege der Leukocytenzahlen und faßten sie als Wirkung 
latenter Teilungen von Parasiten in den inneren Organen auf. Sie glaubten 
sogar, den Typus der früheren Malaria, Tertiana oder Quartana, in dem 
Auftreten solcher Leukocytosen zwischen 30—50 000 und mehr sich 
widerspiegeln zu sehen. Scheerschmidt??) konnte nur in 1 Drittel seiner 
Nachuntersuchungen überhaupt derartige, aber geringere Schwankungen 
finden, ohne wegen ihrer oft sehr vorübergehenden und leicht überseh- 


*) Mühlens hat Klin. Wochenschr. 2, 2340. 1923 die Gefahren der Malaria- 
behandlung übersichtlich zusammengestellt. 


766 V. Schilling, Jossmann, K. Hoffmann, Rubitschung, v. d. Spek: 


baren Feststellung praktischen Wert anerkennen zu können. Er be- 
zeichnet relativ hohe Lympho-Monocytosen mit leichter, nicht ganz 
abklingender Kernverschiebung als die sichersten Anzeichen noch nicht 
abgeheiiter Infektion. V. Schilling wies auf die deutlichen Kern- 
verschiebungen im Verlaufe der Behandlung, mit und ohne Fieber, hin, 
die sich manchmal plötzlich einstellen, ohne daß Parasiten zu finden sind. 
Sie entsprechen den „parasitenfreien Rückfällen“ von Nocht und Werner, 
ftoss und T’homsen und unterscheiden sich eben nur durch das Latent- 
bleiben der Parasiten von den häufigen echten Rückfällen. 

In den Kreisen der Tropenärzte wird auf das Verhalten der Monocyten 
mit Recht viel Wert gelegt, obgleich oft in zu einseitiger Weise, da nega- 
tive Monocytose zu wenig besagt gegen latente Infektion, andererseits 
viele andere Krankheiten positive Monocytosen gleicher Art und Dauer 
haben können. Es bleibt aber bei festgestellter früherer Malaria der 
Wert eines allgemeinen Indicators für noch nicht abgeklungene Infektion, 
da die Monocyten augenscheinlich die lebhafteren Immunisierungs- 
vorgänge im Körper begleiten, nicht mehr aber die eigentlichen Hei- 
lungen. Justi?”) sieht die Heilung erst dann als sicher an, wenn die 
Neutrophilen ihre normale Höhe gegenüber dem Lymphocyten wieder- 
erreicht haben. 

Das Absinken der Kernverschiebung wurde von Gothein8), 
V. Schilling®), Scheerschmidt3?) u. a. als wertvoller Maßstab der Heil- 
wirkung erkannt. 

Von dem Beobachtungsmaterial, das diesen älteren Erfahrungen 
zugrunde liegt, unterscheiden sich die künstlichen Infektionen durch 
die fehlende längere Inkubation, die Steilheit und Heftigkeit der sehr 
parasitenreichen Anfälle, in der Regel auch durch die Dauer der unbe- 
einflußten Fieberserie (10—16 Anfälle mit Schüttelfrost). 

Van der Spek untersuchte 6 Fälle täglich einmal bzw. weiterhin mit 
kleinen Intervallen, 


Zwei mit Chinin (Nochtsche Kur) behandelte Fälle zeigten bereits am 6. bzw. 
9. Tage Rückkehr des gesamten Leukocytenbildes zur Norm, allerdings mit noch fol- 
genden kleineren Abweichungen. Monocytosen traten vorübergehend am 1. bis 
3. Tage der Behandlung in geringer Höhe auf (8—11,5%, einmal 19,5%). Sicher 
würden bei stündlichen Untersuchungen höhere Werte gefunden sein, aber, da 
wir die Frage vom praktischen Standpunkt beurteilen wollten, ergeben sich bei 
der üblichen täglichen Untersuchung keine höheren Werte. 

Vier mit Neopanchinal, d. h. mit sehr viel geringeren Dosen von Chinin (siehe 
vorstehend) behandelte Fälle ergaben erst am 12., 15., 22. und 35. Tage Rückkehr 
zur Norm, trotz klinisch anscheinend gleicher Wirkung auf Fieber und Parasiten. 
Auch hielten sich die Monocytosen (9—17,5%) im ganzen etwas länger, bis zum 
5. Tage etwa. Trotzdem war der therapeutische Enderfolg gleich. Die Patienten 
erholten sich etwa gleich schnell und hatten keine Rezidive. Der vierte abweichende 
Fall mit lange nachklingenden subfebrilen Temperaturen muß wegen schweren 
Decubitus ausscheiden. 








Biologisch-klinische Blutstudien über allgemeine Infektionsfragen usw. 767 


Die Kernverschiebung spiegelt diesen verschiedenen Ablauf ebenfalls 
wider. In sämtlichen Fällen ist der Abstieg der Kernverschiebung nach 
Einsetzen der Behandlung ein prompter, aber er erfolgt nicht mit der 
Plötzlichkeit der Fieberkurve, sondern klingt in der Regel langsam ab. 
Es sollen an dieser Stelle nur zwei Kurven und Zahlentabellen, je ein 
unkomplizierter Chinin- und ein Neopanchinalfall, wiedergegeben 
werden, um den gleichen Charakter der Veränderung im ganzen zu 
zeigen. 


Pat. Randow, Neopanchinaltherapie (s. Kurve 10). 























Tag Bas. Eos. Myel. | J. St. Segm. | Lymph. | Monoc. | Plasma 
A re a ana s 38,5 | 29 9 0,5 
2 — 1,5 0,5 6,5 20,5 42 24,5 4,5 = 
3 _ 0,5 0,5 6,5 13,5 33 38 8 — 
4 0,5 1,5 _ 3 12,5 28 37 17,5 — 
5 _ 1 — 5,5 10,5 36,5 34 12,5 _- 
6 0,5 0,5 -- 1:5 7 40 41 9 — 
f! _ 1 — 1 9,5 50 32 6,5 — 
8 0,5 0,5 — 1 j | 53,5 3l 6,5 — 
3) 0,5 0,5 — 1 6 45 37 10 — 

12 _ _ — — fi 39 49 5 — 

14 0,5 0,5 _ 1 9,5 52 38 7,5 — 

16 0,5 1 E— - 3 50 40,5 4,5 — 

18 1 2 _ — 4 42 43 8 — 

23 = 1,5 — = 7 42,5 | 40 9 | _ 

28 — 2 _ — 4 44 46 4 — 























& Leukoz. 


































































































u - oz 7 
7 ni | | 


Te 
LI EI == > Seht = = = = = = Tuieebarharden 


ILL EEE v 
Polychromasie. Bas. ERS Neopanchinal. 


Kurve 10. Abklingen der K.V. und Anwachsen der Bas. Punktierung unter Neopanchinaltherapie. 
Z. f. klin. Medizin. Bd. 100, 50 


768 V. Schilling, Jossmann, K. Hoffmann, Rubitschung, v. d. Spek: 


Gerade bei den übrigen drei Neopanchinalfällen stellten sich unerwartete 
Komplikationen ein (Decubitus; starker Ikterus; Bronchialkatarrh, 
der später mit Pneumonie tödlich ausging). 


Pat. Scholz, Chinintherapie (s. Kurve 11). 














Tag Bas. Eos. Myel. d. St. Segm. | Lymph. | Monoc. | Plasma 
1 0,5 == 1,5 3 13,5 28 47 5 6 
2 0,5 _ 0,5 1,5 10 41,5 38 8 -- 

3 == — 2 — 8 33 öl 8 e 

4 0,5 0,5 — 2 12,5 37 37 10,5 — 

) _ —_ — 1 8 57 3l 3 

6 1 — il 9 46,5 38,5 4 = 

1 = 2 u _ 4 65 24 5 _ 

8 0,5 2 e = 5 46 42,5 4 E= 
10 = 1 — 0,5 10,5 53 27 8 
11 0,5 2,5 _ = 3 54 38 2 _ 
12 0,5 3,5 _ _ 4 59 28 5 - 
17 2 6,5 = = 2 47,5 38,5 5,5 - 


















































LZ7 [22] 
Polychromasie. Bas. Punktierung. Chinin muriat. 
Kurve 11. Desgl. unter Chinintherapie. 


Im ganzen bieten diese Kurven nur eine Bestätigung der bekannten 
Tatsachen in etwas genauerer Aufzeichnung, so daß irgendein prinzipieller 
Unterschied gegen natürliche Malaria nicht zu erkennen ist. 

Interessanter waren die Kurven der Polychromasie und der baso- 
philen Punktierung, die mit der Abschätzung des dicken Tropfens nach 
dem Schillingschen??) Verfahren erzielt wurden. Die Schätzung erfolgt 


Biologisch-klinische Blutstudien über allgemeine Infektionsfragen usw. 769 


nach der Zahl der mit Ölimmersion an optimalen Stellen sichtbaren 
basophilen ‚‚Netzfiguren‘‘ oder „basophilen Punkte‘ mit P oder B. P. + 
(ab und an einzeln), +-+ (3—10 in jedem Gesichtsfeld), +-+-+ (viele), 
++++ (massenhaft). So subjektiv die Methode erscheint, liefert sie 
doch praktisch gut brauchbare Maße. Wir haben die unabhängig von- 
einander festgelegten Werte nachträglich verglichen und meistens nur 
um halbe Stufen oder gar nicht abweichende Angaben des Befundes 
gesehen. 

Die Ergebnisse waren in allen 6 Fällen recht identisch, nur etwas 
breiter oder kürzer ablaufend. Sie ergaben eine volle Bestätigung der 
bekannten Angabe, daß die basophile Punktierung als eine besondere 
Erscheinungsform der Polychromasie zu gelten hat, daß sie die in den 
ersten Tagen der Rekonvaleszenz vorherrschende Erscheinungsform 
der basophilen Erythrocytensubstanz ist, und daß sie daher praktisch 
gerade in Malariafällen, die schon Chinin genommen haben und para- 
sitenfrei geworden sind, als wichtiges Kardinalsymptom verwertet 
werden kann. Die beobachtete basophile Punktierung war meist 
vorübergehend ungewöhnlich reichlich, mittelstark bis ziemlich grob 
und war auch im Ausstrich, allerdings viel mühsamer, aufzufinden. 
Die Kurven van der Speks zeigen den Ablauf der basophilen Punktierung 
im Verhältnis zur Polychromasie übersichtlich an. 

In 4 von 6 Fällen trat die basophile Punktierung in nennenswertem 
Maße erst nach Einleitung der Therapie auf, wie auf den Kurven; in 
den beiden anderen Fällen stieg sie von + 1 /s auf +++. Inallen Fällen 
steigerte sich die Polychromasie ebenfalls sehr erheblich, obgleich sie 
am Schluß einer Serie von etwa 10 und mehr hohen Fiebern mit 
Schüttelfrost bei fortgeschrittener Anämisierung schon +-+- erreicht 
zu haben pflegte (2 Fälle) oder sogar +++ (4 Fälle) feststellbar 
waren. | 

Die Befunde ergeben also eine gewisse Hemmung des Erythrocyten- 
ersatzes während der eigentlichen Infektion, nicht aber einen vollkommenen 
Ausfall. Ursache können die fortwährenden Störungen durch die 
täglichen Reaktionsprozesse im Leukocytensystem mit ihren Anfor- 
derungen an das Knochenmark sein. Sie zeigen aber die rasche Beseitigung 
dieser Hemmung durch die aufschnellenden Zahlen der basophilen E, 
zuerst in der noch pathologischen Form der basophilen Punktierung, 
dann in der Überschwemmung mit physiologischen Jugendformen, die 
viele Tage nur in langsam abklingender Weise anhält. Der Erfolg ist für 
die Wiederherstellung der Anämie ein glänzender: Im Falle Scholz 
wurden z.B. am 3.IV. 2920 000E und 48%, Hb, am 9.IV. bereits 
#420 000 E und 62%, Hb gefunden. Manchmal sind diese Befunde 
aber nur ein Zeichen für eine gewaltige „Blutmauserung“ (Eppinger): 
bei Randow betrug z. B. der Anfangswert 4 080 000 E mit 64% Hk, 


50* 


770 V. Schilling, Jossmann, K. Hoffmann, Rubitschung, v. d. Spek: 


der Schlußwert 3 820 000 E mit 58%, Hb. Man muß bei diesen anormalen 
Werten beachten, daß es sich um Paralytiker handelt, die gelegentlich 
als Ausgangswert schon torpide Anämien hatten. 

Gerade die Erythrocytenbefunde spiegeln die außerhalb der Leukocyten- 
reaktion langnachhallende, gewaltige Umwälzung im Körper sehr schön 
wider. Sie zeigen, wie diese scheinbar hinfälligen Körper unter dem 
energischen Reiz der Infektion mit Malaria wochenlang in frischester 
Weise erythropoetisch reagieren. Sie beweisen auch, daß durch die 
Superinfektion mit Malaria in der Regel keine körperliche Schädigung 
von Dauer erzeugt wird, denn gerade das am meisten von der Malaria 
betroffene Erythrocytensystem kehrt mit frischen Kräften zur Norm 
zurück. Auch die Leukocyten erreichen ohne auffällige Besonderheiten 
die Norm; das langsamere Abklingen der Kernverschiebung beruht, 
abgesehen von den Komplikationen, wohl mit auf dem dauernden Reiz 
durch die Erythropoese, die bei der engen Nachbarschaft der Stamm- 
zellen im Mark erfahrungsgemäß bei heftigeren Anlässen (Blutgifte, 
starke Blutung) stets einen leichten Parallelismus im Leukocytensystem 
anregt. 


Schlußbetrachtung. 


Kehren wir nun nach Durchwanderung des ganzen Malariaablaufes 
zu den eingangs gestellten Fragen zurück, so können wir einige allgemeine 
Gesichtspunkte gewinnen. 

Die Krankheitserscheinungen beginnen bei dieser experimentellen 
Malaria zweifellos am Tage der Injektion und steigern sich stufenweise, 
ohne daß auffallende abnorme Reaktionen, etwa durch die noch nicht 
eingetretene Sensibilisierung des Körpers, nachweisbar wären. Ins- 
besondere erscheint zwischen dem klinisch einschneidenden Befunde 
eines wenig auffallenden Fieberzustandes und dem ersten Schüttelfrost 
nur ein Gradunterschied zu bestehen. Fieber, Leukocytenbewegung 
und Parasitenzahl erreichen parallel ihren Höhepunkt. Anscheinend 
bewirkt erst eine sehr heftige Reizung des Wärme- und Gefäßzentrums 
die kollapsartige Schüttelfrostreaktion, ohne daß im Blutbild ein 
prinzipieller Unterschied herausgelesen werden kann. 

Die Inkubation läßt sich, wie schon gesagt, mit der natürlichen nicht 
vergleichen, da die Parasiten infolge der Massenübertragung schon am 
Tage nach der Impfung oft im dicken Tropfen auffindbar sind, aber 
auch bei natürlicher Malaria finden sich oft leichte subakute Fieber und 
Parasitenbefunde prodromal in ähnlicher Weise, nur etwas später erst. 
Immerhin wäre es denkbar, daß ähnlich wie bei abklingenden oder 
latenten, schwachen Infektionen eine hyperleukocytotische Reaktion 
an Stelle der Senkung mit Kernverschiebung treten könnte, da ganz 
leichte Reize biologisch mehr steigernd als hemmend wie die starken 


Biologisch-klinische Blutstudien über allgemeine Infektionsfragen usw. 771 


Anfälle einwirken könnten. Auch dann wäre es qualitativ nur ein Grad- 
unterschied. 

Die Stärke der Blutbildveränderungen erleidet während des Verlaufes 
manchmal, aber nicht regelmäßig eine geringe Abschwächung, so daß 
die höchsten Kernverschiebungen in die ersten Schüttelfrosttage fallen, 
aber auch noch nach mehr als 10 vollen Anfällen arbeitet der ganze 
Blutapparat in der Regel mit mächtigen Ausschlägen ohne prinzipiellen 
Unterschied. Die Kernverschiebung ist am Schluß immer noch so hoch, 
daß ihr Abstieg auf mittlere Werte durch die Therapie als prompter 
Heilerfolg erscheint. Daß die Blutbildveränderungen dann weniger 
scharf wie die Fieberkurve abschneiden, ist klinisch ein Zeichen ihrer 
feineren Reaktion, nicht eine Unvollkommenheit. Der deutliche Unter- 
schied der Neopanchinalkurven spricht dafür, daß es doch die noch 
nicht gänzlich unterdrückten Parasiten sind, die die langsamer abfallende 
Reaktion des Blutbildes unterhalten. Dies steht in Übereinstimmung 
mit den erwähnten Ross- und Thomsenschen Untersuchungen und mit 
der zögernden Rückbildung des Blutbildes gerade in rezidivierenden 
Fällen oder bei Komplikationen, die allerdings bei mehreren unserer 
Fälle vorlagen. 

In den unkomplizierten Fällen klingt das Krankheitsbild der Impf- 
malaria nach unserer Erfahrung genau so ab, wie bei natürlicher In- 
fektion. Eine Besonderheit des Paralytikers an sich haben wir nicht ent- 
decken können, was in Übereinstimmung steht mit der meistens recht 
guten Überwindung eines so langen Infektionsprozesses und mit der 
stets sehr kräftigen Regeneration des roten Blutbildes. Daß gelegentlich 
schwere Anämien vorkommen, haben Mühlens und Kirschbaum!”) in 
einem Falle besonders erwähnt (25%, Hb, E = 1310 000, L = 36 500; 
sehr zahlreiche kernhaltige E., darunter ‚„‚Megaloblasten‘‘ ; schnelle Besse- 
rung in 10 Tagen bis zu 65%, Hb). Nachdem wir einen kurzen Fall von 
Schwarzwasserfieber beobachtet haben, erscheint es möglich, daß der- 
artige autfallende Anämien latente Hämolysen sind. Schwarzwasser ist 
höchst wahrscheinlich nur die anaphylaktoide Steigerung von Blut- 
prozessen, die weniger akut in jeder Malaria sich abspielen. 


Es handelte sich um einen ziemlich kräftigen, jüngeren Pat.*), dernach 16 recht 
hohen regelmäßigen Anfällen 3 Tage 2mal 2 Teelöffel Neopanchinal, dann 5 Tage 
2mal 1 Teelöffel bekommen hatte und sehr prompt entfiebert war. Am 9. Tage 
wurde die Therapie wegen Schwächezuständen unterbrochen. Am 10. Tage be- 
kam er 2mal 0,5 Chinin, worauf unter Fieberanstieg bei negativem Parasiten- 
befunde dunkelroter, bald fast schwarzer Harn entleert wurde und Ikterus ein- 
trat. Der Pat. wurde sehr schnell stark anämisch. Die Blutbefunde am 11. Tage 
nach der Einleitung der Chinintherapie (2. Tag der Hämolyse) und später waren 
folgende: 


*) Genauere Angaben siehe V. Schilling und Jossmann, Klin. Wochenschr. 
1924, H. 33, 1498. 


















































Lenk Iympho-| S Dicker Hb | Erythro- |83 

Datum dA, B/|E/|M|J|S]|S ee © Tropfen % cyten |&% 

.4.\14600[— | ı [151951 53 [21,573 5 10[|[P + +++! — | 9200001 — 

.4.1100011,5l115|— | ı | 7 |62,5| 165 |ıolp++-+ |60| 2505000 | — 
zerrissen 

24.4.|11500|— | 4]—|—|8 | 66 | 11/5 | 6 |72| 4610. 000 | — 











Nach Absetzen ‘des Chinins erholte sich der Patient unter Fieber- 
abfall in zwei Tagen sehr schnell. 


Wir kommen nun zu der schwierigen Frage der theoretischen Er- 
klärung der Malariawirkung. 

Alle Vorgänge, die wir im Hämogramm der Malaria beobachtet 
haben, sind zweifellos Symptome unspezifischer Reaktionen im Körper. 

In besonders schöner Weise zeigt die Malaria den Ablauf jedes 
infektiösen Blutbildprozesses, der nach unseren eingangs zitierten 
Arbeiten in gesetzmäßiger Weise in drei Abschnitte zerfällt: eine neutro- 
phile Kampfphase, eine monocytäre Abwehr- oder Überwindungsphase 
und eine Iymphocytär-eosinophile Heilphase. Schon der einzelne Anfall 
durchläuft in typischer, mit stündlicher Untersuchung fast immer 
erkennbarer Weise diese drei Phasen; allerdings wird, wie nicht selten 
bei leukopenischen Infektionen, die eigentliche Neutrophilie ersetzt 
durch eine starke Kernverschiebung, die die neutrophile Reizung 
repräsentiert. Aber diese Wellen sind aufgesetzt auf eine große Gesamt- 
kurve, die mit der Inkubation ansteigt, unter den Gipfeln der Anfälle 
als erhöhte Basis hinwegzieht und mit der Therapie abklingt; auch hier 
liegen die stärkeren neutrophilen Reize im Anfang des Kampfes, die 
stärksten Monocytosen nach früherer Erfahrung in den ersten Tagen 
nach Einsetzen der Therapie, die dauernden, hohen Lymphocytosen und 
höheren Eosinophilien erst in der Rekonvaleszenz. Diese Befunde 
widerlegen ebenso die von Dattner?5) aufgestellte Behauptung einer 
fehlenden Gesetzmäßigkeit der Malariablutveränderungen, wie die von 
Reese und Peters?*) herangezogene Erklärung E. F. Müllers, daß es sich . 
um abdominale Verteilungen allein handelte. 

Nicht spezifisch, aber klinisch sehr charakteristisch für Malaria ist 
die Art der Auslösung dieser gesetzmäßigen Blutreaktion: die mächtigen 
Ausschläge, die gleichmäßige Wiederholung, der kurz-zusammengedrängte 
Ablauf, die sofort bei Behandlung einsetzende stark wirksame Regeneration. 
Wir sehen eine oft vollkommene Parallele zu der anderen unspezifischen 
Hauptreaktion des Körpers, dem Fieber, das auch nur durch die Art 
des Ablaufes, nicht an sich zum charakteristischen Symptom vieler 
Infektionen wird. Aber der Ablauf des Blutbildes ist viel feiner, viel- 
seitiger, überbrückt auch fieberfreie Intervalle. 


Biologisch-klinische Blutstudien über allgemeine Infektionsfragen usw. 773 


Ein derartig prompter Ablauf des ganzen Blutbildapparates ist nur 
denkbar, wenn die Schädigungen des Körpers an sich geringe sind. 
Wie eine intravenöse Injektion etwa wirkt der Zerfall der Parasiten in der 
Teilung. Sobald die Ringe wieder in den Erythrocyten liegen, erholt sich 
der Körper in wenigen Stunden. Das ist ganz anders als z. B. bei einer 
Pneumonie, bei der die tagelang fortwirkenden Pneumokokken mit ihrer 
schweren Gewebsschädigung die neutrophile Kampfphase kontinuierlich 
unterhalten, oder wie beim Typhus, wo ein torpide nachwirkender, 
toxisch hemmender Prozeß nach schleichender Entwicklung langsam 
Iympho-monocytär abklingt, oder bei einer Endokarditis, wo eine fort- 
gesetzt schwach reizende Aussaat wenig virulenter Keime in einem 
hochimmunisierten Körper von unerreichbarem Winkel aus die dauernde 
Monocytoseabwehr in den Vordergrund rückt. | 

Selbstverständlich erscheint es denkbar, daß ein unspezifisches Reiz- 
mittel irgendwelcher Art durchaus ähnliche Prozesse auslöste, aber die 
bisher bekannten wirken nicht so stark oder nicht bei derartigem Ausschlage 
so unschädlich. Wahrscheinlich sind es sekundäre Schädigungen, ent- 
zündliche Gewebsprozesse u. a., die bei stärker wirkenden Milchinjek- 
tionen und verwandten die Reaktion mehr neutrophil und langsamer 
abklingend erscheinen lassen [R. Schmidt und Kaznelson??)], oder es 
sind toxische Nebenwirkungen wie bei Nucleinsäuren, die bei einiger- 
maßen starkem Fieber mächtige neutrophile Leukocytosen [15—28 000 
nach Fischer!!), durchschnittlich 23 000 bis zu 61 000 nach Donath!P)] in 
mehreren Tagen abklingend hervorrufen. Hämatologisch erscheint die Ma- 
lariaeinwirkung höher, reiner ablaufend, ein viel kräftigeres Wechselspiel aller . 
Elemente. Die erythrocytäre Reizung fehlt bei den Proteinkörpern fast ganz. 

Gegenüber intravenösen Injektionen von Reizstoffen erscheint es 
als großer Vorzug, daß infolge der mehrstündigen Breite des Teilungs- 
zerfalles eine automatische an- und abschwellende Dosierung des Reizes 
stattfindet, die man durch eine künstliche Applikation nur sehr schwer 
ersetzen kann. Die Erträglichkeit so hoher Alteration beruht wahr- 
scheinlich auf dieser Tatsache mit. 

Von den natürlichen Infektionen kann nur eine mit Malaria an- 
nähernd verglichen werden, das Recurrensfieber, das in etwas ver- 
längerter, aber ebenso ausgiebiger und prompter Art regelmäßig sich 
.wiederholende Hämogrammkurven liefert (vgl. V. Schilling, Menses 
Handbuch, 3. Auflage, Bd. 1, 1924 und A. Mayer, Zeitschr. f. klin. 
Med. 93, 1923). Und gerade bei Recurrensinfektion sind nach Sagels Be- 
richt u. a. die Erfolge gleichwertig der Malaria. Wir möchten es 
bezweifeln, daß ein hohes kontinuierliches Fieber ohne stärkere 
Remissionen (Friedländer) geeigneter zur Behandlung sein würde. 

Das Unspezifische der Wirkung schließt es nicht aus, daß gelegentlich 
eine kurze heftige, andere Infektion, etwa ein Erysipel, in noch stärkerem 


1774 V. Schilling, Jossmann, K. Hoffmann, Rubitschung, v. d. Spek: 


Reiz die Gesamtwirkung der Malaria herausholte, aber wahrscheinlicher 
und mit der Empirie übereinstimmend ist, daß die günstige Wirkung 
sicherer durch Wiederholung harmloserer Reize erzielt wird. 

1. Die Malaria erfüllt die Anforderungen R. Schmidts®*) an die unspezi- 
fische Reiztherapie in ganz besonderer Weise. Malaria ist sehr thermo- 
genotrop. Sie bewirkt ein sehr hohes, regelmäßig wiederkehrendes, 
wenig schädigendes Fieber. 

2. Malaria hat eine ganz besondere Affinität zu den Organen, die 
auf Reiztherapie am stärksten ansprechen: zur Milz, zum Knochenmark, 
zum Blutsystem. 

Gerade die Lymphocyten und Monocyten, das retikulo-endotheliale 
System von Milz und Mark, die Sternzellen der Leber, treten in 
kräftigste Reaktion. 

3. Die Malaria hat von Natur den Rhythmus der Pendelbewegung, 
der das Charakteristische aller biologischen Immunisierungsreaktionen 
ist. Es ist anzunehmen und im Blutbilde erkennbar, daß die ‚‚Alteration“ 
eine ungewöhnlich starke, aber sehr kurze ist und infolgedessen, da 
schädigende Hemmungen nicht erkennbar sind, eine ebenso starke 
Gegenreaktion erfolgt (phlogistische und antiphlogistische Wirkung). 

Infolge der geringen Eigenschädlichkeit der Malariaparasiten gegen 
andere Körperzellen entsteht keine spezifische Immunität. Der Nach- 
weis spezifischer Schutzstoffe ist bisher mißlungen und die Erfahrung 
lehrt, daß Malaria ohne Therapie nur zu einer Immunitas non sterilisans 
zu führen pflegt, die dann auch stets sehr labil bleibt, daß aber die 
Mehrzahl der Erkrankten ohne Therapie mangels Ausheilung der 
kachektischen Wirkung der Dauerinfektion erliegt. Eine Miterzeugung 
spezifischer ‚„spirochätozider‘‘ Schutzstoffe gegen die Paralyse durch 
eine gewisse Gruppenverwandtschaft [Kirschbaum®%)] mit den den 
Protozoen nahestehenden Spirochäten ist also gar nicht wahrscheinlich 
und selbst für Recurrens nicht erwiesen [Sagel2)]. Auch hat die spezi- 
fische Therapie der Paralyse mit Spirochaeta pallida bisher keine Er- 
gebnisse gehabt (Hempelmann, Kyrle, Schuricke u. a.), ebensowenig die 
immunisatorischen Versuche mit Eigenblut u.a. (Kaffka, Jakobi). 

Andererseits gehört Lues zu den Infektionen, die nur äußerst gering 
auf die allgemeine Abwehr und das Blutbild einwirken. Dieser Mangel 
ist so auffallend im Gegensatz zu den oft ausgeprägten klinischen Er- . 
scheinungen der inneren Lues, daß wir praktisch eine ganz geringe 
toxisch-infektiöse Alteration des Hämogramms in allen seinen Teilen 
einschließlich roten Blutbildes oft mit Glück diagnostisch auf Syphilis 
bezogen haben. Bekanntlich ist auch das Fieber bei reinen Fällen ebenso 
selten oder nur sehr niedrig trotz ausgedehnter histologischer Verände- 
rungen in allen Organen. Dafür sind aber die spezifischen allergischen 
Erscheinungen (Gummi), die spezifische Immunität, sehr ausgeprägt. 


Biologisch-klinische Blutstudien über allgemeine Infektionsfragen usw. 775 


Es ist gut denkbar, daß gerade die unspezifischen Abwehrkräfte 
des Körpers durch den symbiotisch angepaßten Syphiliserreger zu wenig 
gereizt werden, um in Aktion zu treten, und die stets allein nicht aus- 
reichende spezifische Abwehr, die mehr durch die zerfallenden Parasiten 
erregt wird als durch die lebenden, zu unterstützen. Der Frreger siedelt 
sich infolgedessen an und verändert im Wassermannschen Sinne die 
Körperzelle biologisch (lipoider Stoffwechsel), vielleicht zu seinem 
eigenen Nutzen (vgl. v. Wassermann, Berlin. klin. Wochenschr. Heft 9, 
1921). 

Die Malariatherapie würde also hier die Protoplasmaaktivierung 
Weichardts im reinsten Sinne zu besorgen haben, um durch Erhöhung der 
Reizbarkeit des Protoplasmas die Abwehrleistung einzuleiten und die Zelle 
zur Überwindung der Schädlichkeiten umzustimmen. In diesem Sinne 
haben auch Stern?), Luithlen®*), Biach’®), Kyrle5%) u.a. ihre Erfolge 
mit einfacher Proteinkörpertherapie bei der Zues erzielt, die bessere 
Beeinflussung torpider Fälle und die stärkere Reaktion auf geringe 
Dosen Quecksilber. Neuerdings ist auch hier die Malariatherapie von 
Kyrle28) mit großem Erfolge gebraucht worden. 

Die strenge Immunität der Paralytiker gegen Wiederinfektion, die 
stets positiven Liquor- oder Serumreaktionen, die Befunde Sagels u.a. 
machen es wahrscheinlich, daß spezifische Immunstoffe genug im para- 
lytischen Kranken gebildet sind ; die Histologie der Paralyse, die oft aner- 
gische Reaktion gegen Luetin (Nonne, Much, W.Gärtner) zeigen aber, daß 
ein unspezifisches Bindeglied fehlt oder eine Barrikade vorliegt, die die 
Spirochäten schützt. Nach neuerer Auffassung dieser Autoren sind es 
gerade die früh behandelten, aber nicht ausgeheilten Fälle, bei denen die 
spezifische Immunität infolge Schwächung der Infektion nicht bis zur 
vollen Abtötung der Erreger entwickelt wird, aus denen die Paralysen 
entstehen. Möglich ist es aber auch, daß gerade die unspezifische Ab- 
wehr ausfällt, wofür der starke Erfolg der Proteinkörpertherapie spricht. 

Sind die theoretischen Vorstellungen der unspezifischen Therapie und 
der Protoplasmaaktivierung richtig, dann ist die Malaria mit ihrer starken 
pyrogenen Wirkung, mit ihrer automatischen Auslösung kräftigster physvo- 
logischer und unspezifischer Abwehrerscheinungen im Blute und Gesamt- 
blutsystem, mit ihrer automatisch-rythmischen Wiederholung, ihrer relativen 
Unschädlichkeit in der Tat eine Methode der Wahl für die Behandlung 
torpider Allgemeininfektionen nach Art der Paralyse, wie die feinere 
Zergliederung ihres Mechanismus mit der Hämogrammethodik biologisch- 
klinisch belegt. Gleichzeitig wurden durch das experimentelle Malarva- 
material wertvolle Grundlagen für den Ablauf der Blutbildbewegung von 
der Inkubation bis zur Heilung gewonnen, die die strenge Gesetzmäßigkeit, 
die objektive Feststellbärkeit' und Verwendung des Blutbefundes ein- 
leuchtend beweisen. 


776 V. Schilling usw.: Biologisch-klinische Blutstudien usw. 


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(Aus dem Senckenbergischen Pathologischen Institut der Universität Frank- 
furt a..M. — Direktor: Prof. Dr. B. Fischer.) 


Über die Ursache der Lebereirrhose bei Polyeythämie. 
Lebersehädigung durch Phenylhydrazintherapie. 


Von 
Ernst Levi, 
Medizinalpraktikant, 


(Eingegangen am 8. Juli 1924.) 


Über die Ursache der Lebereirrhose ist sehr viel geschrieben worden. 
Zahlreiche klinische und experimentelle Arbeiten suchten diesem Pro- 
blem näherzukommen. Ohne auf die einzelnen Arbeiten einzugehen, 
will ich nur betonen, daß trotz aller Untersuchungen eine Einigkeit in 
der erwähnten Frage noch nicht erreicht ist, besonders auch deswegen, 
weil die Ergebnisse des Tierexperimentes nicht ohne weiteres auf den 
Menschen übertragen werden können. Deswegen erscheinen menschliche 
Fälle von besonderer Wichtigkeit, bei denen durch irgendeine gleich- 
zeitig bestehende andere Erkrankung der Weg der Pathogenese der 
Cirrhose deutlicher zutage tritt, als es etwa bei der reinen genuinen Form 
der Fall ist. Eine solche Erkrankung, die uns vielleicht einen Einblick 
in die Pathogenese der Lebereirrhose verschaffen kann, ist die Polycyth- 
ämie, und ich will es daher im folgenden, auf Veranlassung von Herrn 
Prof. Dr. Rudolf Jaffe an Hand eines Falles, der ganz besonders geeignet 
erscheint, etwas Licht in diese Frage zu bringen, versuchen, der Patho- 
genese der Lebercirrhose näherzutreten. 

Ich lasse zunächst meinen eigenen Fall folgen. Die klinischen An- 
gaben verdanke ich der Liebenswürdigkeit von Herrn Oberarzt Adler 
von der hiesigen Medizinischen Poliklinik. Es handelt sich um einen 
Patienten, der lange Jahre an Polycythämie litt. Der etwa 50 Jahre 
alte Pat. K. J. wurde dann etwa 1!/, Jahr lang mit Phenylhydrazin 
behandelt. Insgesamt wurden ihm in dieser Zeit 7,5 g Phenylhydra- 
zin. hydrat. puriss. Merck verabfolgt. Er hat im ganzen 5 Kuren mit- 
gemacht. Während dreier dieser Kuren wurden ihm je 1,5 g verabfolgt, 
in einer weiteren 2g und in einer letzten 1g. Jede Kur wurde mit Pillen 
zu je 0,2g durchgeführt. Das Mittel wurde in Gelatinekapseln täglich 
einmal gegeben. Die Kur setzte jedesmal wieder ein, wenn das Hämo- 
globin auf 110 gestiegen war. 


178 E. Levi: 


Während einer solchen Phenylhydrazinkur war der Patient stets 
ikterisch und zeigte starke Urobilinurie. Einmal fand sich Hämato- 
porphyrin im Harn. Ein Trinker war der Patient nach bestimmten 
eigenen Angaben und Angaben der Angehörigen sowie des Arztes, der 
ihn sehr genau kannte, sicher nicht. Als es dem Patienten wieder schlech- 
ter ging, wurde er von dem behandelnden Arzt in ein andres Kranken- 
haus verlegt. Der dortige behandelnde Arzt entnahm ein Stückchen 
Haut vom Oberschenkel zur mikroskopischen Untersuchung. Im An- 
schluß an diesen kleinen Eingriff entwickelte sich ein Erysipel, dem der 
Patient schnell erlag. 

Die am 23. VIII. 1922 von Prof. JaffE vorgenommene Sektion 
(S. Nr. 1066/22. d. S. P. I.) ergab folgende Befunde: 


Leiche eines kräftig gebauten Mannes in sehr gutem Ernährungszustande. 
Stark vorgeschrittene Fäulnis. Am Oberschenkel eine Incisionswunde in der Haut, 
deren Grund eitrig belegt ist. In der Umgebung dieser Wunde ist die oberfläch- 
liche Epidermis auf große Strecken abgehoben. Die Besichtigung der Bauchhöhle 
zeigt stark geblähte Darmschlingen, Fäulnis. Sehr stark vergrößerte Milz, die mit 
der Umgebung fest verwachsen ist. In der Thymusgegend reichlich Fettgewebe, 
das von Gasblasen durchsetzt ist (Fäulnis). 

Die Lungen, besonders die linke, ausgedehnt mit der Pleura costalis verwachsen, 
im ganzen lufthaltig, blutreich. An einzelnen kleinen, fest umschriebenen Partien 
kein Luftgehalt, Lungengewebe trübe, grau. Gefäße und Bronchien o.B. Herz 
von mittlerer Größe, schlaff. Linker Ventrikel weit. An der Rückwand des linken 
Ventrikels eine etwa fünfmarkstückgroße Schwiele. Der absteigende Ast der 
linken Coronararterie zeigt an der entsprechenden Stelle eine sehr erhebliche 
Wandverdickung, die zur hochgradigen Einengung des Gefäßlumens geführt hat. 
Die übrigen Coronararterien 0. B. Schilddrüse o. B. 

Im Magen an der kleinen Kurvatur ein etwa kleinfingernagelgroßes Geschwür 
mit glattem Grund. Ein ebensolches im Anfangsteil des Duodenums, während sich 
ein erheblich kleineres am Pylorus selbst findet. Der übrige Darm zeigt außer 
Fäulnis keine Veränderung. Gallenblase und Gallenwege o. B. Nebennieren zentral 
erweicht. Leber von mittlerer Größe, Oberfläche leicht höckerig. Auf der Schnitt- 
fläche von eigenartig gelber Farbe und zahlreichen kleinen gelbgrauen Flecken. 
Vena portae und cava inferior enthalten flüssiges Blut. Pankreas von entsprechender 
Größe, o0.B. An den Nieren ist die Fettkapsel beiderseits außerordentlich reich- 
lich entwickelt. Nieren selbst von mittlerer Größe, auffallend weich. Auf der Ober- 
fläche rötlich, mit zahlreichen dunkelroten Flecken. Auf der Schnittfläche ist 
die Zeichnung vollkommen verschwommen, doch ist wegen vorgeschrittener Fäul- 
nis nichts Sicheres mehr zu erkennen. Die Milz ist außerordentlich groß, mehr als 
zweifaustgroß, durch feste Adhäsionen mit der Umgebung verwachsen. Auf der 
Schnittfläche außerordentlich weich mit reichlich abstreifbarer Pulpa. Etwa in 
der Mitte der Milz eine tiefe Narbe. Im unteren Teil ein keilförmig verdichteter 
Herd. Beckenorgane o.B. 

Das Knochenmark des Öberschenkels ist weich und rot. Die Beinvenen 
enthalten ausschließlich flüssiges Blut. Das Gehirn wird auf besonderen Wunsch 
nicht seziert. 


Anatomische Diagnose: Himbeermark. Sehr großer Milztumor mit 
Infarktnarbe und frischem Infarkt. Große Herzschwiele im linken Ven- 


Über die Ursache der Lebereirrhose bei Polycythämie. 779 


trikel bei Sklerose des absteigendes Astes der linken Coronararterie. Bron- 
chopneumonische Herde im linken Unterlappen. Ulcera ventriculi et 
duodeni. Lebercirrhose. Kleine Operationswunde am rechten Öber- 
schenkel und Erysipel in der Ungebung. 


Mikroskopisch. Schilddrüse: Reichlicher Kolloidgehalt. In den kleinen Blut- 
gefäßen. reichlich Gerinnsel mit auffallend reichlich Leukocyten. 

Niere: Einzelne Glomeruli in verschiedenen Stadien der Hyalinisierung. 

Leber: Starke Wucherung des interlobulären Bindegewebes, so daß das Leber- 
parenchym in einzelne Knoten abgetrennt erscheint. Überall zahlreiche Regene- 
rationsherde, die unregelmäßige Gestalt zeigen. Das interlobuläre Bindegewebe 
zeigt eine mäßig starke Infiltration mit Rundzellen und überall lebhafte Gallen- 
gangswucherungen. Die Leberzellbalken scheinen stark auseinandergedrängt. Im 
Scharlachrot-Präparat zeigt sich eine geringgradige Verfettung der peripheren Aci- 
nusabschnitte. Diagnose: Typische, mäßig stark entwickelte Lebercirrhose. 

Milz: Mäßig zellreich. Reichlich Leukocyten, ausgedehnte Ablagerungen 
von eisenhaltigem Blutpigment. 

Knochenmark: Außerordentlich zellreich, alle Formen von Myeloblasten und 
Myelocyten erkennbar. Hinter der Masse der letzteren treten die kernhaltigen roten 
Blutkörperchen in den Hintergrund. Das Gewebe ist durchsetzt von reichlich 
Knochenmarkriesenzellen. 

Haut (von Unterschenkel und großer Zehe entnommen): Keine pathologischen 
Veränderungen. Auch die kleinen Hautgefäße lassen nichts Besonderes ent- 
decken. 


Unser Fall zeigt also bei einem Patienten, der klinisch eine einwand- 
frei diagnostizierte Polycythämie hatte, und der vielfach mit großen 
Dosen von Phenylhydrazin behandelt worden war, bei der Sektion neben 
anderen Nebenbefunden eine typische Lebereirrhose. Es erhebt sich 
somit die Frage, ob und wie ein Zusammenhang zwischen der Leberecir- 
rhose einerseits, der Polycythämie oder aber den therapeutischen Ein- 
griffen andererseits, anzunehmen ist. 

Die Behandlung der Polycythämie mit Phenylhydrazin ist von 
Eppinger und Kloss angegeben worden und hat auch in vielen deutschen 
Kliniken Eingang gefunden. Da es für die Beurteilung unseres Falles 
‘von Wichtigkeit ist, möchte ich aus den in der Literatur über die Phenyl- 
hydrazinbehandlung vorhandenen Fällen hier noch einige für uns wich- 
tige Daten anführen. Eppinger und Kloss veröffentlichen im ganzen 
4 Fälle, welche wegen Polycythämie mit Phenylhydrazin behandelt 
wurden. Bei Fall 1 färbt sich während der Darreichung des Phenyl- 
hydrazins der Urin tiefdunkelbraun bis schwarzrot, und es läßt sich in 
ihm Urobilin und Urobilinogen deutlich vermehrt nachweisen. Zu einem 
sichtbaren Ikterus kommt es jedoch nicht. Fall 2 zeigte während 8 Tagen 
deutlich ikterische Verfärbung der Scleren und der übrigen Haut. Dabei 
starke Urobilinurie, während vorher im Harn kein Urobilin gefunden 
wurde. Auch bei Fall 3 war vorher der Harn normal. Während der Kur 
wird der Harn sehr dunkel, Urobilin ist stark vermehrt, Glykuronsäure 


780 E. Levi: 


stark positiv. 14 Tage lang deutliche ikterische Färbung von Haut und 
Scleren. Dabei Hautjucken. Im letzten Fall zeigen sich in dem vorher 
normalen Harne während der Behandlung mit Phenylhydrazin starke 
Urobilinurie, Glykuronsäure ebenfalls stark vermehrt. In diesem Falle 
kein sichtbarerlkterus. Die Kuren werden durchgeführt mit 5proz. 
Phenylhydrazinlösungen, von denen bis zu 10 cem gegeben wurden. 

Taschenberg hat, angeregt durch Eppinger und Kloss, einen weiteren 
Fall mit Phenylhydrazin behandelt. Der Patient zeigte während der 
Kur subikterische Farbe der Scleren, später deutlichen Ikterus. Im Harn 
kein Urobilin und Urobilinogen. Aldehyd positiv. Er hält das Mittel 
für nicht ungefährlich und wegen der Affinität der NH,-Gruppe zur Leber 
als bedrohliches Lebergift. 

Auch Strasburger spricht sich für eine vorsichtige Medikation aus, 
da das Mittel durchaus different sei. Im Harn beobachtete er während 
der Kur Hämatoporphyrin und Urobilin. 

Auffallend ist an diesen klinisch beobachteten Fällen also, daß häufig 
während der Kur Gallenfarbstoff im Urin oder sogar Auftreten von leichtem 
Ikterus beobachtet wurde, ein deutlicher Hinweis auf eine Leberwirkung. 

Diese Wirkung auf die Leber könnte erklärt werden entweder durch 
direkte Einwirkung des Giftes auf die Leber selbst oder aber durch eine 
Wirkung des zerfallenen Blutes auf die Leber. Man könnte schließlich 
auch daran denken, daß die Leber selbst nicht geschädigt sei und der 
vermehrte Gallenfarbstoff durch das vermehrte Freiwerden von Blut- 
farbstoff zu erklären sei. Diese letztere Annahme wäre für die rein kli- 
nisch beobachteten Fälle möglich, für unseren Fall aber, bei dem eine 
Lebereirrhose anatomisch festgestellt wurde, kann sie nicht zutreffen. 
Wenn wir also dazu kommen, für unseren Fall eine Schädigung der Leber 
entweder durch das Gift selbst oder durch das zerfallene Blut anzuneh- 
men, so ist es von Interesse zu sehen, daß schon verschiedene Autoren 
als Ursache für die Leberzirrhose überhaupt einen primären Blutzerfall 
angenommen haben. 

So konnte Kretz z. B. in allen eirrhotischen Lebern eine Hämochro- 
matose nachweisen, und er gelangte, auf diesem Befunde aufbauend, zu 
der Ansicht, daß der verstärkte Blutabbau es ist, der die Leber krank 
macht. Naunyn führt als Stütze hierzu an, daß zahlreiche unter Hämo- 
Iyse einhergehende Prozesse die Leber in ganz ähnlicher Weise schädigen. 
Gleiche Ansichten äußern auch Nothnagel und Rössle, und Eugen Albrecht 
sagt zur Frage der Entstehung der Lebercirrhose durch Alkohol: ‚Da 
die Schädigungen der roten Blutkörperchen durch Alkohol für die Ätio- 
logie der Cirrhose herangezogen wurden, möchte ich darauf hinweisen, 
dal nach meinen Untersuchungen über die fettartige Oberflächenschicht 
der Erythrocyten für die Wirkung des Alkohols wie anderer in Fett 
löslicher Stoffe (Chloroform, Äther usw.) es naheliegt, hier an analoge 


Über die Ursache der Lebercirrhose bei Polycythämie. 781 


Einflüsse zu denken, wie sie in der physikalischen Theorie der Narkose 
von Overton und Meyer für die bei der Narkose erfolgenden Veränderungen 
im Zentralnervensystem angenommen werden. Gleichviel wie hoch wir 
die Wirkung des Alkohols auf die Erythrocyten ansetzen wollen, ein ge- 
wisser schädigender Einfluß wird auf eine Anzahl Erythrocyten nach 
der Resorption wirksam sein müssen ... Die häufige Wiederholung der- 
artiger kleiner Schädigungen könnte sich bei Alkoholgenuß sehr wohl 
zu größeren Effekten summieren.‘“ 

Ganz besonders scharf hat Jaffe sich in diesem Sinne ausgesprochen. 
Er nimmt direkt an, daß durch alle das Blut schädigenden Gifte eine 
Cirrhose zu erzeugen sei. Er versuchte von dieser Ansicht ausgehend mit 
Mitteln, die als blutschädigend bekannt waren, experimentell eine Leber- 
cirrhose zu erzeugen und konnte nachweisen, daß beim Kaninchen nach 
Injektion von Hydrazin. sulf. und Phenylhydrazin. hydrochlor. tatsäch- 
lich genau dieselben Veränderungen zu erzielen waren wie durch andere 
als Lebergifte bekannte Pharmaca, z. B. Chloroform und Amylalkohol: 
es gelang jedesmal, mit großen Dosen mehr oder weniger ausgedehnte 
Nekrosen zu erzielen, während nach Injektion mittlerer Dosen Degene- 
rationen, nach chronischer Injektion kleiner Dosen zirrhotische Ver- 
änderungen beobachtet wurden. 

Aus diesen Literaturangaben sehen wir also, daß auch für die genuine 
Leberecirrhose schon häufig eine primäre Blutschädigung angenommen 
worden ist, und daß es sogar experimentell gelungen ist, durch Mittel, 
die sicher eine Blutzerstörung hervorrufen, experimentell cirrhotische 
Veränderungen zu erzeugen. 

Bevor wir aber aus diesen Untersuchungsergebnissen den Schluß 
ziehen, daß die durch die Phenylhydrazinbehandlung verursachte Zer- 
störung der roten Blutkörperchen in unserem Falle die Entstehung der 
Lebercirrhose verursacht hat, müssen wir erst einmal feststellen, ob etwa 
bei Polycythämie auch ohne Phenylhydrazinbehandlung Lebereirrhose 
beobachtet worden ist und wie sie in diesen Fällen zu erklären wäre. 


Einzelne Fälle von Polyeythämie mit Lebercirrhose sind tatsächlich in der 
Literatur mitgeteilt worden. Der erste Fall einer Polycythämie mit Lebereirrhose 
wurde 1904 von Türk beschrieben. Eine 35jährige Frau mit gelblicher subikte- 
rischer Farbe und Scleralikterus. Leber und Milz vergrößert. Im Harn starker 
Urobilingehalt. Die Zahl der roten Blutkörperchen bewegte sich zwischen 7,3 bis. 
8 Millionen. Die von Privatdozent Störk am 8. X. 1902 vorgenommene Sektion 
ergab folgenden Befund: „Cirrhose der Leber mit Atrophie des linken Lappens 
und sekundärer Vergrößerung des rechten durch regenerative Hypertrophie (mul- 
tiple Adenombildung). Chronischer Milztumor. Konsistenz der Leber derb, leder- 
artig. Auf der graubraunen Schnittfläche wölben sich im Bereiche des rechten Lap- 
pens zahlreiche licht-olivgrüne bis kirschgroße Knoten vor. Im übrigen das Paren- 
chym ziemlich strukturlos, Lebergewicht 1600 g.“ 

In derselben Veröffentlichung beschreibt Türk noch einen zweiten Fall, bei 
dem er zu der klinischen Diagnose einer Lebercirrhose mit diffuser Adenombildung 


182 E. Levi: 


gelangt. Der Fall ist jedoch höchst unklar, die Diagnose sehr zweifelhaft, so daß 
sich Schlüsse nicht darauf aufbauen lassen. Türk mißt der bei der Sektion ge- 
fundenen außerordentlichen Blutfülle eine besondere klinische Bedeutung zu. 
Er glaubt, daß sie die Ursache sei für die zumeist vorhandene Urobilinurie, ja daß 
sie sogar bei längerer Einwirkung zu Gewebsveränderungen wie einer Lebereirrhose 
führen könne. Er bringt also die vorgefundene Lebereirrhose in einen ursäch- 
lichen Zusammenhang mit der Polyeythämie, so daß diese durch ihre Plethora 
sekundär die Veränderungen im Aufbau der Leber hervorruft. 

Neuerdings (1912, die Arbeit liegt mir leider nur im Referat vor) trennt Türk 
die Erythrämie von den Erythrocytosen. Er faßt die bei der Lebereirrhose vor- 
gefundene Polyglobulie als Erythrocytose, also als sekundären Vorgang auf und 
sieht in der Erkrankung der Leber die primäre Ursache für die Polyglobulie. Die 
sich jedem sofort aufdrängende Frage, warum denn bei Lebercirrhose in so ver- 
schwindend wenigen Fällen Polyglobulie und meist Anämie beobachtet wird, 
beantwortet er damit, daß die Gifte, die in starker Konzentration bei Bantischer 
Krankheit Anämie hervorrufen, schwächer konzentriert durch die von ihnen her- 
vorgebrachten Schädlichkeiten den Anstoß zur Hyperkompensation des myeloischen 
Gewebes geben und so eine Erythrocytose verursachen. 

Ein weiterer Fall wird von Tel Axel Blad (1905) berichtet: Der Patient, dem 
zur Behandlung der Polycythämie die Milz exstirpiert wurde, starb an innerer 
Verblutung, und die Sektion ergab neben den charakteristischen Veränderungen 
der Polycytkämie eine beginnende Lebercirrhose. 

Hamilton und Morse veröffentlichen einen Fall von Polycythämie, der Ähn- 
lichkeit mit dem vorhergehenden hat. Es handelt sich um eine Patientin mit gelb- 
licher Haut und gelblichen Scleren und geringer Cyanose. Leber ist deutlich ver- 
größert. Erythrocyten 7,4—7,7 Mill. Die Sektion ergab eine Lebereirrhose mit Ne- 
krose vieler Acini und einer Vermehrung des inter- und intralobulären Bindegewebes. 

Chauffard und Troisier berichten über einen Fall von Polyeythämie mit Bili- 
rubin im Serum, Urobilin im Harn und Erscheinungen von Pfortaderverschluß 
mit Ascites. Sie stellen die klinische Diagnose auf Pfortaderthrombose mit sekun- 
därer Cirrhose. Die Fälle von Türk und Guwinon, Rist und Simon erklären sie durch 
Knochenmarksreaktion, die sekundär der Erythrolyse folgt, ähnlich der häufiger 
beobachteten Hyperglobulie und paroxysmalen Hämoglobinurie. 

Hess und Sazxl veröffentlichen eine größere experimentelle Arbeit, die für uns 
Interesse hat. Auch sie berichten von mehreren Fällen von Polyglobulie und Leber- 
cirrhose, die sie selbst beobachtet haben. Schon früher veröffentlichte Versuche 
ergaben eine Unfähigkeit der tierischen Leber, Hämoglobin im Brutschrank zu 
zerstören, wenn die Tiere intra vitam mit Giften wie Phosphor, Arsen usw. be- 
handelt worden waren. Diese Versuche dehnen die Autoren nun auf den Menschen 
aus. Bei Lebern, die ganz frischen Leichen entnommen waren, fanden sie ganz 
ähnliche Ergebnisse wie im Tierversuch. Die Hämoglobinzerstörung blieb aus bei 
Lebern, die wahrscheinlich durch infektiös-toxische Ursachen geschädigt waren. 
Mit dieser Unfähigkeit der Leber, Hämoglobin zu zerstören, erklären sie die Stei- 
gerung der Erythroeytenzahl. Diese Annahme fand eine Stütze in einem Ver- 
suche, in dem sie Ratten die erwähnten Gifte einspritzten und prompt Hyper- 
globulie erzeugten. Auch bei sich selbst konnten sie nach Injektion der Gifte 
in einigen Fällen erhöhte Blutwerte finden. Sie sehen also die primäre Erkrankung 
in der Leber, die kein Hämoglobin mehr abbaut und dadurch Polyglobulie erzeugt. 

Dem kombinierten Auftreten von Polyglobulie und Lebererkrankung widmet 
Mosse eine ausführliche Arbeit, in der er einen weiteren derartigen Fall veröffent- 
licht. Das klinische Bild dieses Krankheitsfalles hatte Mosse schon 1907 veröffent- 
licht. In der Arbeit von 1914 fügt er nun das Sektionsprotokoll dieses Falles hinzu. 


Über die Ursache der Lebereirrhose bei Polyeythämie. 183 


58jähriger Pat., der schon 6 Jahre früher wegen Milz-Leberschwellung be- 
handelt wurde, hat regelmäßig Alkohol, vom 30. Jahre an Schnaps, jedoch in 
mäßigen Mengen, getrunken. Gelbgraue Hautfarbe, Scleren deutlich ikterisch. 
Urobilin im Harn und im Blutserum. Milz in Nabelhöhe, rote Blutkörperchen 
6,7—7,8 Mill. Aus dem Sektionsprotokoll (Prof. Benda): Hauptkrankheit Leber- 
eirrhose, Thrombophlebitis im Pfortadergebiet. Todesursache Pseudoleucaemia 
lienalis (Banti) mit Stauungserscheinungen und Blutungen. Caput Medusae. Aus- 
gedehnte Thrombophlebitis der Vena lienalis und portae. Hochgradige weiche 
Hyperplasie der Milz. Hämatopoetische Metamorphose des Knochenmarks. Groß- 
knotige atrophische Lebereirrhose. Mikroskopisch zeigt sich das Bild einer typi- 
schen ausgeprägten Lebercirrhose. 

In der Arbeit bespricht Mosse ausführlich die gesamte Literatur, die über diese 
Erkrankung erschienen ist, und stellt dann eine Gruppe von Erkrankungen zu- 
sammen, die charakterisiert ist durch: „Intra vitam Polycythämie mit Urobilin- 
ikterus und Milztumor, bei der Sektion blutreiche Milz, hyperplastisches, rotes 
Knochenmark, in der Leber die Zeichen von Cirrhose.‘‘ Nach Mosse läßt sich dieses 
Krankheitsbild auf 3 Wegen erklären: 

1. Theorie von Hess und Saxl: Verlust der hämoglobinzerstörenden Funktion 
der Leber durch Leberzellalteration und dadurch bedingte Hyperglobulie. 

2. Theorie Türk (1912): Primäre Erkrankung der Leber und Blutschädigung 
durch Toxine und sekundäre Überproduktion von roten Blutkörperchen im 
Knochenmark. 

3. Die von Mosse selbst geäußerte Ansicht, daß die Leber geschädigt wird 
„durch die Mehrleistung, die ihr infolge von übergroßem, vielleicht auch krank- 
haftem Material erwächst“. Mosse hält also die Polyglobulie für das Primäre und 
erklärt sich die Lebererkrankungen durch die übergroße Blutfülle und den damit 
einhergehenden verstärkten Blutabbau. Aus mehreren Degenerationsattacken 
von Leberparenchym soll dann im Sinne von Kretz eine Lebercirrhose ent- 
stehen. 


Wir ersehen also aus dieser Literaturzusammenstellung, daß tat- 
sächlich auch in einer kleinen Anzahl von Fällen von Polycythämie, die 
nicht mit Phenylhydrazin behandelt worden waren, Lebercirrhose be- 
obachtet worden ist. Der Zusammenhang zwischen diesen beiden Er- 
krankungen wurde verschieden gedeutet. Die einen Autoren glauben, 
daß die Lebererkrankung das Primäre sei und erst die Polycythämie 
eine sekundäre Erscheinung. Gegen diese Auffassung spricht aber der 
Befund, daß in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle von Polycythämie 
eine anatomisch nachweisbare Leberveränderung fehlt. Es erscheint 
nicht angängig, etwa annehmen zu wollen, daß in diesen Fällen eine funk- 
tionelle Leberschädigung bestanden hat, die nur in wenigen Fällen zu 
anatomisch nachweisbaren Veränderungen führt. Es erscheint vielmehr 
sehr viel naheliegender, daß der Kausalnexus umgekehrt anzusehen ist, 
daß zunächst die Polyeythämie, sekundär erst die Lebereirrhose sich 
entwickelt. Über die Frage, wie es überhaupt zur Vermehrung der roten 
Blutkörperchen kommt, besteht auch dann noch keine Klarheit. Man 
könnte daran denken, daß es zunächst zu einer Zerstörung der roten 
Blutkörperchen und dann zu einer übermäßigen Regeneration und da- 
mit zur Polycythämie käme. Man kann aber auch sich vorstellen, daß 

Z. f, klin. Medizin. Bd. 100. 51 


784 E.Levi: Uber die Ursache der Lebereirrhose bei Polycythämie. 


die Vermehrung der roten Blutkörperchen das Primäre ist. Aber auch 
bei letzterer Annahme würde die Möglichkeit eines vermehrten Abbaues 
bestehen, sehen wir doch sogar mitunter Remissionen eintreten, die nur 
durch Zerstörung von roten Blutkörperchen bedingt sein können. Wenn 
wir also einen Zusammenhang zwischen der Zerstörung der roten Blut- 
körperchen bei Polycythämie und der Lebereirrhose annehmen, so kön- 
nen wir rückläufig schließen, daß eine solche vermehrte Zerstörung von 
Erythrocyten nur in einem geringen Prozentsatz der Fälle von Poly- 
cythämie auftritt, da wir sonst häufiger Leberschädigung beobachten 
müßten. Einen solchen Zusammenhang zwischen vermehrtem Blutab- 
bau und Leberschädigung macht unser Fall wahrscheinlich. Denn in 
diesem Fall wurde durch wiederholte Phenylhydracinkuren ein Blut- 
zerfall herbeigeführt. Während der Kuren trat Ikterus und Urobilin- 
ausscheidung auf, die Sektion zeigte eine Lebercirrhose. 

Wir kommen also auf Grund unserer Erwägungen zu dem Schluß, 
daß die Lebercirrhose bei Polycythämie eine Folgeerscheinung des ver- 
mehrten Blutabbaus darstellt. Wird durch therapeutische Eingriffe 
(Phenylhydrazinbehandlung) der Blutabbau verstärkt, so tritt eine ver- 
mehrte Schädigung der Leber ein, die sich klinisch in dem Auftreten 
von Gallepigment im Urin oder auch in allgemeinem Ikterus zeigen kann. 
Bei wiederholten derartigen Kuren kann es zur dauernden Leberschä- 
digung, zur Cirrhose, kommen. 

Auf Grund dieser von mir mitgeteilten Befunde und der im Anschluß 
daran entwickelten Anschauungen erscheint also eine wiederholte 
Phenylhydrazinkur bei Polycythämie bedenklich, insofern als durch 
den vermehrten Blutzerfall die Entstehung einer Cirrhose begünstigt 
wird. Ob die Schwere des sonst so aussichtslosen Krankheitsbildes auch 
eine so gefährliche Behandlung rechtfertigt, um wenigstens vorüber- 
gehende Besserung zu erzielen, muß der Kliniker im Einzelfalle ent- 
scheiden. 


Literatur. 


Chauffard und Troisier, Bull. et mem. de la soc. med. des höp. de Paris 1913. — 
Eppinger und Kloss, Zur Therapie der Polycythämie. Therapeut. Monatsh. 1918. 
— Gaisböck, Die Polyeythämie. (Ausführliches Literaturverzeichnis.) Ergebn. 
d. inn. Med. 1922. — Hamilton und Morse, Erythrocythämie mit Autopsie. Boston 
med. journ. 1912. — Hess und Saxl, Hämoglobinzerstörung in der Leber. Dtsch. 
Arch. f. klin. Med. 1911. — Jaffe, Entstehung und Verlauf der experimentellen 
Lebereirrhose. Frankfurter Zeitschr. f. Pathol. 1921. — Kretz und E. Albrecht, 
Verhandl. d. pathol. Ges. Breslau 1904. — Mosse, Polyeythämie mit Urobilinikterus 
und Milztumor. — Mosse, Polyglobulie und Lebererkrankung. Zeitschr. f. klin. 
Med. 1914. — Strasburger, Behandlung der Polyceythämie. Therapeut. Monatsh. 
1921. — Taschenberg, Behandlung der Polyeythämie mit Phenylhydrazin. Dtsch. 
med. Wochenschr. 1921. — Tel Axl Blad, ref. Folia haematol. 1905. — Türk, 
Wiener klin. Wochenschr. 1904. 





(Aus der I. medizinischen Abteilung des Allgemeinen Krankenhauses St. Georg, 
Hamburg. — Direktor: Prof. Deneke.) 


Erfahrungen mit dem Hämogramm nach Schilling. 


Von 
Fritz Joseph, 
Assistenzarzt. 


(Eingegangen am 8. Juli 1924.) 


Aufbauend auf den Arbeiten Arneths hat V. Schilling neuerdings 
immer wieder auf den hohen diagnostischen und prognostischen Wert 
des Differentialblutbildes hingewiesen. Das von Arneth zuerst systema- 
tisch verfolgte Auftreten von Jugendformen der neutrophilen Leuko- 
cyten, die sogenannte Linksverschiebung der neutrophilen Leukocyten, 
erwies sich als eine nicht ausreichende Grundlage, um daraus in der 
Praxis sofort verwertbar Schlüsse zu ziehen, auch war die Methode 
zu umständlich. Schilling lehrte uns statt dessen die Erfassung des 
gesamten Blutbildes, die er mit dem treffenden Namen Hämogramm be- 
legte. Sein Vorgehen findet immer allgemeinere Anerkennung und seine 
Methode verspricht infolge ihrer außerordentlich leichten Verwendbar- 
keit immer mehr zu einem unentbehrlichen diagnostischen Hilfsmittel 
zu werden. Auch dem praktischen Arzte, dessen Ausrüstung unter den 
heutigen Verhältnissen auf ein Minimum beschränkt zu sein pflegt, ist 
das Hämogramm eine einfache und leicht zu erlernende, billig auszu- 
"führende und reiche Erfolge bringende Methode. 

Die richtige Bewertung des Blutbildes bzw. des Hämogramms hin- 
sichtlich seiner symptomatischen, prognostischen oder diagnostischen 
Bedeutung für bekannte oder erst zu erkennende Krankheiten an zahl- 
reichen Einzelfällen nachzuprüfen, war der Leitgedanke der nachfol- 
genden Arbeit. Aus der Praxis des täglichen Krankenhausbetriebes hat 
sie sich entwickelt, um festzustellen, ob Schillings Methode mit Recht 
den Anspruch erhebt, in eine Reihe mit den fundamentalen Unter- 
suchungsmethoden am Krankenbett, mit Puls, Fiebermessung, Urinkon- 
trolle, Auskultation und Perkussion zu rücken und demnach als ein not- 
wendiger Bestandteil einer kunstgerechten Untersuchung in allen irgend- 
wie zweifelhaften oder schwierigen Fällen betrachtet werden zu können. 

Merkwürdigerweise ist die Zahl derjenigen, die Schillings Methode 
und seine Lehre über die Bedeutung des Hämogramms nachgeprüft 
haben, bisher eine spärliche geblieben!) ; die Veröffentlichung unserer aus 
einem größeren Material genommenen Ergebnisse wird daher nicht un- 
willkommen sein. 


1) Die Arbeit war im Laufe des Jahres 1923 fertiggestellt. 
DIE 


786 F. Joseph: 


Wir haben seit Juni 1922 bis Januar 1924 etwa 700 Kranke mit durch- 
schnittlich 5 Einzelhämogrammen untersucht. Die Versuchsanordnung 
war folgende: In der ersten Hälfte der Zeit haben wir auf der einen Seite 
eines Zehnbettenzimmers alle dort hingelegten internen Kranken wahl- 
los auf ihr Hämogramm hin untersucht und in der zweiten Hälfte auf 
einem Pavillon für innere Kranke von 40 Betten alle irgendwie in Frage 
kommenden Patienten. 

Wie Ockel!) berichtet und wir bestätigen können, ist die Tageszeit 
zur Blutentnahme ohne Bedeutung, auch die Mahlzeiten zeigten keinen 
Einfluß auf das Hämogramm. Doch haben wir wo irgend möglich 
morgens etwa eine Stunde nach dem Morgenkaffee untersucht. 

Die Art des Vorgehens war derart, daß bei jeder Neuaufnahme 
ein Aufnahmehämogramm angefertigt wurde. Auf den Fieberkurven 
wird von vornherein genügend Platz für den Hämogramm-Stempel (zu 
beziehen durch Lautenschläger-Berlin) gelassen. Auf diese Weise wird 
die schnelle klinische Überblickung eines Falles außerordentlich ver- 
einfacht. 

Für uns stand stets die Frage im Vordergrund, ob die Methode des Hä- 
mogramms sich für den praktischen Arzt eignet, und wir haben deswegen 
möglichst auf diese Beantwortung Wert gelegt. 

Völlige Beherrschung der Technik der Anfertigung von Blutprä- 
paraten und deren Auszählung ist Vorbedingung und wir verweisen 
auf Schillings genaue Angaben. (V. Schilling: Das Blutbild und seine 
klinische Verwertung, 2. Auflage, @. Fischer, Jena 1922)2), insbesondere 
ist der dicke Tropfen als unentbehrlich anzusehen. Vorbedinguug für eine 
richtige Auswertung des Hämogramms ist gründliche Einarbeitung 
und längere Erfahrung mit der Methode. Anscheinende Widersprüche 
und Fehldiagnosen sind meist durch Mangel an genügender Erfahrung 
mit dem Hämogramm verursacht. Schematische Regeln für die Aus- 
wertung des Hämogramms gibt es nicht. | 

Hauer?) sagt mit Recht ‚Die Tatsache seiner Variabilität verlangt 
für jeden einzelnen Fall individuelle Einstellung, biologische Denkweise 
und kombinierende Überlegung. Völlige Beherrschung der Technik, 
eine fast kleinliche Sauberkeit des Instrumentariums, sind unerläßliche 
Vorbedingung für die Richtigkeit präziser Ergebnisse.‘ 

Wenn wir uns der Auswertung unseres Materials zuwenden, so er- 
scheint es zweckdienlich aus den 500 Fällen einzelne Krankheitsgruppen 
herauszuschälen und aus diesen einzelne Typen oder einzelne Besonder- 
heiten zu beschreiben. 


1) Zeitschr. f. klin. Med. 9%, 1923. 

®) Nach Fertigstellung dieser Arbeit erschien die 3. und 4. Aufl., die be- 
sonders bezüglich Tuberkulose weiter übereinstimmendes Material brachte. 

®) Dtsch. med. Woch. 8. 678. 1923. 


Erfahrungen mit dem Hämogramm nach Schilling. 187 


1. Polyarthritis: 
Fall: Libitowski. I, 3b. 











Neutrophile 





























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en = & = B s E Fi E & 8 Sg Bemerkungen: 
Krankheitstag Chr e 212, 3|8|!s8|®8]|3| Dicker Tropfen 
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Pr EN RE 11200 | —| — 2 |12| 48 |36| 2 + 
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RN A 9600 I2| 2|—-| —| 3| 52 |30| 2 
a EA 6000 |1| 8SI|—| —ı 6| 53 I26| 6 











Bei jedem Hämogramm ist die Frage zu stellen: was können wir aus 
diesem Hämogramm entnehmen? 1. Wie ist das Hämogramm ins kli- 
nische Bild einzuordnen, 2. Was können wir über die Schwere der Er- 
krankung aussagen und wie können wir die Prognose stellen ? 

Ich habe absichtlich an der Spitze unseres Materials den Verlauf 
einer Hämogrammkurve etwas länger als weiterhin dargestellt. Wir 
sind in diesem Falle in der Lage, die ganze Krankheit an uns vorbei 
passieren zu lassen. 


Am Einlieferungstag handelt es sich um ein sehr krankes, hochfieberhaft 
erscheinendes junges Mädchen von 18 Jahren mit der für Polyarthritis typischen 
Rötung und Schwellung der verschiedenen schmerzhaften Gelenke. 

Das Einlieferungshämogramm zeigt aber nur eine Leukocytose mäßigen Grades, 
eine mäßig starke, doch deutliche Linksverschiebung, Aneosinophilie und normale 
Lymphocytenwerte. Es handelte sich nach dem Hämogramm um einen Infekt 
mit nur mäßig starker Reaktion. Prinzipiell stellen wir keine Prognose aus einem 
einmaligen Hämogramm, was ich unten begründen werde. Am 3. Tage war auf 
Salicyl die Temperatur abgefallen und das Hämogramm ergab eine wesentliche 
Besserung gegenüber dem Einlieferungstage, die Linksverschiebung war zurück- 
gegangen, Eosinophilie traten auf, Monocyten wurden zahlreicher. Die Prognose 
konnte günstig gestellt werden. Im weiteren Verlauf hielt sich das günstige Hämo- 
gramm in voller Übereinstimmung mit dem klinischen Befunde, bis am 16. XI. 
mit einem erneuten Rezidiv eine deutliche Verschlechterung des Hämogramms 
einherging. Anschließend daran Besserung und normales Hämogramm, bis Pat. 
geheilt mit einem Normalhämogramm das Haus verläßt. In Anbetracht der Art 
der Erkrankung lag, wie fogende Fälle zeigen, schon eine relativ starke Blutver- 
änderung vor, während sie im Verhältnis zu den klinischen Symptomen charakte- 
ristisch gering selbst auf der Höhe ist. 

In der ganzen Arbeit werden von hier ab alle weiteren Hämogramme 
umgeformt, wie folgt: 


7188 F. Joseph: 


Fall Paulsen.=1718b: 











Datum | Zahl |». | E. Kt | J. | st. | S. |iv.| Mon. | m: Tropfen usw. 
9X. nel 500 a res E 


Normal verlaufende Polyarthritis rheumatica. Im weiteren Verlauf hielt 
sich das als günstig beurteilte Hämogramm stets gleich. 

8 weitere Beobachtungen von akutem Gelenkrheumatismus ergaben 
stets ungefähr gleiche Werte, so daß wir mit Schilling und neuerdings 
Ockel obiges Hämogramm als das für Polyarthritis rheumatica typische 
Hämogramm anzusehen haben. Wir fanden stets: leichte Hyperleuko- 
cytose, Aneosinophilie im akuten Stadium der ersten Tage, die auf 
Salicyl sofort in Hypeosinophilie umschlug, fehlende oder geringe Links- 
verschiebung, die nur bei schweren Fällen, wie bei Fall Libitowski 
stärkere Grade zeigte und normale oder leicht verminderte Lympho- 
cytenzahl. Dicker Tropfen, anfangs stets Polychromasie vorhanden. 

Im Anschluß an die Polyarthritis wollen wir uns den 


Endokarditiden 


zuwenden, die auf unserer Abteilung in der letzten Zeit gehäuft auftraten 
und uns oft im Anschluß an rheumatische Erkrankungen beschäftigen. 
Zuerst das Hämogramm der sogenannten 


2. Endocarditis benigna 
Fall: Kaderewski. I, 6a. 














Datum | Zahl |». | E. |». | I. | St. S. | is. | on. | D. Tropfen usw. 
| sooo. [2] 1 121212 1s0[s7[ 10. 22 


K. kam herein, nachdem er vor 4 Jahren wegen Gelenkrheumatismus behandelt 
worden war. Klinisch das Bild einer wohlkompensierten Mitralinsuffizienz, die 
wegen leichter Beschwerden die Krankenhausaufnahme erforderlich gemacht 
hatte. 

Das Hämogramm ergibt einen vollkommen mit dem klinischen Ein- 
druck übereinstimmenden, fast normalen Befund. Das Hämogramm 
blieb bis zur Entlassung ‚‚als fast geheilt‘ gleich normal. 














Desgleichen: 
Fall: Hans Otto. II, 55. 
Datum | Zahl B. | E. |». | J: | St. | S. | is. | ron. | D. Tropfen usw. 
28... 8 | 9100. | 212 |2 E25 Feols5 [see 


Fast normaler Befund. 


In beiden Fällen stellten wir eine günstige Prognose von der zweiten 
Hämogrammprüfung an und behielten durch den Verlauf recht. 

Bedeutend schwerer ist die Auswertung des Hämogramms bei den 
viel zahlreicheren Fällen von 


Erfahrungen mit dem Hämogramm nach Schilling. 789 


3. Endocarditis maligna. 
Fall: Rickert. II, 22. 






































Datum Zahl |» | RB. |». T. | st. | s. |1y.| Mon. | D. Tropfen u 
N EEE 4 100 | 1-1} :6 | 10148118] 10 E= I 
Ne a, 6 000 TV 3 + ? 
1 E32 I EEE 12 000 — 117 716/59] 16 R ++ + 
1 be BER FE AA 14 600 —_ | — I — 31| 38117 4 ++ + 








Pat. kommt herein mit schwerster septischer E. m. und hohen septischen 
Temperaturen. Im Blut Pneumostreptokokken gewachsen. Exitus. Sektion be- 
stätigt Diagnose. 

Die Prognose wurde sofort bei Aufnahmehämogramm als sehr ernst 
gestellt und bei der zweiten Kontrolle als absolut schlecht. Ausschlag- 
gebend ist hierfür nicht das nicht so schwere Blutbild an sich, sondern 
die klinische Erfahrung, daß Herzkrankheiten mit so deutlich feststell- 
barer Infektion stets prognostisch schlecht verlaufen. 


Fall: Jückstock. II, 41. 




















Datum | Zahl |»: | E. |». | J. | St. | S. |. Mon. | D. Tropfen usw 
a EN | 12 500 E Mm [* h Ar IE ih 1 I + 
Da Ne 11 200 ee 


Klinisch schwere Mitralinsuffizienz, Mitbeteiligung der Aorta. Die starke. 
Linksverschiebung ergab bereits bei der Einlieferung einen Beweis für die schwere 
Infektion des Falles. Die Prognose stellten wir, als sich aus Kontrollhämogrammen 
keinerlei Besserung zeigte, trotz leichter klinischer Besserung als ungünstig. Sek- 
tion: Schwere Endocarditis maligna. 


Fall: X. II, 42. 





Datum | Zahl |®- | E. |». | J. | st. | S. |ty.| von. | D. Tropfen usw. 








rue I 1200 |2|2|-|eJı6|s5|35| a | ++ : 
Fall: Lindner. II, 49. 


























Datum Zahl |®- E. |». | J. | st. | s. | %y.| mon. | D! Tropfen usw. 
1 N ea 8 400 ZASGLENNZ NTT7 FAST 23 + +? 
ISSN UI ee Le O0 2 BE 4 
A Vs ak, 12 200 2124151218 1.201.40127 10:47 Ps ER Te 
ER TA BT REN 12 400 1.115I—- | —1|13|44|28| 4 ++ + 
TAB en 13 000 a RE Te ED 01 DS Ds ++ + 


Beide Fälle, die durch Sektion erwiesen wurden, ergaben bezüglich 
Schwere und Prognose ein durch den Verlauf bestätigtes Bild. 

Erwähnenswert erscheint, daß wir bei einer Reihe von 20 ähnlich ver- 
laufenden Endorkarditiden mit gleichen Hämmogrammen Leukocytenwerte 


um 9—13000 fanden. 


790 F. Joseph: 


4. Endocarditis lenta. 


Als letzte Abteilung der Endokarditiden lassen wir diejenigen Fälle 
folgen, bei denen es sich klinisch um eine Lenta-Form handelte und bei 
denen wir zweimal einen Viridans-Stamm und viermal einen hämoly- 
tischen Streptokokkus zu wiederholten Malen aus dem Blute züchten 
konnten. 


Fall: Sachse. I, 23. 














Datum | Zahl B. | E. | M. | Ji | st. | S. |y.| mon.| D. Tropfen usw. 
KT et \ 29.000 en 1 | 4 |25 A a | RR: 
15.XI. 32.5005 30000817011 5.110] 51] 21200 re 











Endothelien +-+--, endotheliale Monocyten 20%. 
Fall: Bromberg. II, 85. 














| Datum | Zahl |»: | E. ja. | % | st.| 8. |s.| son. D. Tropfen usw. 
4 VILMRRE | 22000 |-/-]-|2Jı2|7s|e| 7 | + + 


In beiden Fällen, die sub finem noch stärkere Linksverschiebung er- 
gaben, konnten wir die Prognose von Anfang an richtigstellen. 

Als besonders schwerwiegend ist im obigen Hämogramm das Ver- 
schwinden der Lymphocyten anzusehen. 

Auffallend für diesen Typ der Endokarditis und von Anfang an darauf 
verdächtig waren die stets hohen Leukocytenzahlen um 15—30 000. 

In 5 Fällen gelang es uns im ersten Tropfen aus dem Ohrläppchen 
endotheliale Monocytenformen in großer Menge bis zu 80%, der gesamten 
weißen Blutzellen nachzuweisen. Es handelt sich dabei um die zuerst 
von Leede 1911 in den Hamburger Jahrbüchern als ‚Phlogocyten“ und 
später von Schilling, Frank u. a., und neuerdings von I. Seyderhelm in 
einzelnen Fällen beschriebenen pathologisch veränderten Zellformen, die 
Schilling als retikuloendotheliale Vorstufen der Monocyten auffaßte. Wir 
werden diese Befunde ihrer Seltenheit wegen in einer besonderen Arbeit ge- 
nauer besprechen, glauben aber doch, hier kurz über sie berichtenzu dürfen. 

Bei systematischer Untersuchung ist es in 5 von 6 Fällen gelungen, 
diese Zellen zu finden und pathologisch-anatomisch konnten wir Schillings 
Ansicht bestätigen, daß wir im Retikulo-endothelialen Apparat eine große 
Reihe dieser pathologischen jugendlichen Monoeyten in Loslösung be- 
troffen anfanden. In dem einzigen Falle, in dem wir trotz täglicher 
Nachforschung diese Formen nicht fanden, ergab das mikroskopische 
Bild des retikulo-endothelialen Apparates post mortem eine patholo- 
gisch starke Hyperplasie und wir fanden auffallend große Zahlen nor- 
maler Jugendformen der Monocyten, z. T. noch zu Verbänden angeordnet. 
Ein Vergleich mit den Originalpräparaten Schillings ergab die Identität 
unserer Zellbefunde. 


Erfahrungen mit dem Hämogramm nach Schilling. 791 


Kunstformen sind auszuschließen, auch sind es keine künstlichen 
Monocytosen im Sinne Wollenbergs. 

Als einen Übergang zu dem uns als nächste größere Abteilung inter- 
essierenden Kapitel der 


d. Sepsis 


können wir einen jungen Mann bezeichnen, der 5 Wehen vor Beginn 
der Einlieferung eine Gonorrhöe abortiv durchgemacht hatte, und fol- 
gendes Hämogramm bot: 


Fall: Bohnstedt. II, 7. 


























Datum Zahl |» E. |. I st. | S. |{y.| mon. | D. Tropfen usw. 
II L WM). Yen 29 000 —t—I—|]1 3/1 84I110I 1 4 ; 
BRHUVERE IR 56 000. 1— | —1— | —| 6| 851 9|I 2 + ? 
N A TED ee 7 ri re _ 
N N NE 36000 :I1— I} -—:| 3 | 8179| 51 5 E= - 
NE NER FE FE ne 40000 I1—=|—12 141151701 51 4 -_ E= 











Bei Eintritt wurde die Diagnose: Sepsis gonorrhoica gestellt. Am Herzen 
war nichts zu hören. Die anhaltende hohe Neutrophilie mit ausgesprochener degene- 
rativer Linksverschiebung (Schilling, 2. Aufl., Tafel III, 3) ließ uns immer wieder 
auf einen Fall schwerster septischer, jedoch wenig virulenter Infektion fahriden 
und eine eingehende Anamnese ergab zum Schlusse von den Angehörigen, daß 
Pat. in der Jugend 2 mal einen schweren Gelenkrheumatismus überstanden hatte. 
Die Diagnose wurde daraufhin auf eine Endokarditis vom Lentatyp gestellt. Zwei 
Tage vor dem Exitus typische endokarditische Herzgeräusche. Sektion: Endo- 
carditis maligna. Aus dem Leichenblut hämolytische Streptokokken gezüchtet. 

Trotz hoher Leukocytose und schlechten klinischen Befundes konnten wir 
uns in den ersten Tagen nicht zu einer infausten Prognose entschließen, die wir 
erst am 20. IV. infolge anhaltender Linksverschiebung, Aneosinophilie und voll- 
kommenem Rückgang der Lymphocyten stellten. 

Was die Sepsis und ihr Hämogramm anbelangt, so gelingt es eben- 
sowenig für sie, wie für die septische Endokarditis ein Standard-Hämo- 
gramm aufzustellen. Im allgemeinen, aber nicht immer, handelt es sich 
um hochgradige Neutrophilien mit starker Kernverschiebung. Stets 
werden wir finden, daß das Hämogramm als Maßstab nur für den ein- 


zelnen Fall zu gelten hat und leichte Fälle fast normal reagieren können. 


Fall: Reinke. II, 9. 





























Datum Zahl B. | E. |». kr | st. | s. S. [ts] Mon.| D. Tropfen usw. Mon n.| D , Tropfen usw. 
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N en SE nd, 13 600 - na 6175,60 5 — — 

De 7.000 u Bolalk ne u 


792 F. Joseph: 


Seit 4 Wochen starke Schmerzen in der linken Nierengegend, Fieber dauernd 
um 40°. Urin 0.B. 

27. 11. Hämogramm ergibt gering virulenten entzündlichen Prozeß. Blut- 
kultur steril. Klinisch wird paranephritischer Absceß diagnostiziert. 

28. Ill. Hämogramm hält sich, spricht zwar für septischen Prozeß: Hyper- 
leukocytose, Neutrophilie mit R.V., Lymphopenie. Operation wird aber abgelehnt 
infolge günstigen Hämogramms. 

3. IV. Operation wieder abgelehnt trotz 40° Fieber und schlechten klinischen 
Befindens, da Blutkultur steril und Probepunktion des Paranephriums ohne Er- 
folg ist. 

20. IV. Sehr schlechtes Allgemeinbefinden. Trotz der nicht gefundenen Eite- 
rung stellen wir auch klinisch die Indikation zur Operation. Überraschenderweise 
ergab sich beim Kontrollblutbild eine deutliche Besserung des Hämogramms. 
Rückgang der Linksverschiebung, Zunahme von Lymphocyten und Eosinophilen. 
Der Pat., der bereits auf der Tragbahre lag, wurde auf diesen Befund hin von 
der beabsichtigten Operation zurückgerufen. Prognose konnte bedeutend günstiger 
gestellt werden. 

21.1V. Temperatur auf 37,8° gefallen. 

28. IV. Nochmalige Temperaturerhöhung mit Schmerzen. Klinisch nichts 
zu finden. Ureterenkatheterismus o.B. Urinsediment o.B. 

1. VI. Geheilt entlassen mit normalem Hämogramm. 

1. VIII. Kontrolluntersuchung o.B. 


Im Bereich der Sepsis bieten die vielen Fälle, die vom Genitale aus- 
gehen, das wichtigste Gebiet. 


Fall: Knüpfer. II, 30, 
EEE BEE GREEN EEE. 























Datum | Zahl BOB. | M. | J. | St. | S. |Lv.| ron. | D. Tropfen usw. 
18. IX a RE u 1,121 8.125103106 10 zur er 
20:1 N 12300 I— | —|—- 4 |18/60lıs]| — + = 
a ONE ne 8000 I—/211!/91!29|54| 3| 2 u —_ 


Vor 6 Wochen schwerer Abort, seither hohes septisches, Fieber. Aufnahme- 
hämogramm ergibt schwersten Befund. 

20. und 24. IX. zunehmende prognostisch infauste Verschlechterung. Exitus. 
Sektion: Eitrige Thrombophlebitis im Gebiet der ÖOvarialgegend. 


Fall: Mutscher. II, 46. 














BIN IBEHRTD:.:.. 
16.%. 2.2.0202... 21100. |-|2 [1% [12 |20f10]: oo ereaeee 


Verhielt sich fast wie der nächste, 


Fall: Kosyma. II, 36. 

















Datum Zahl |». E. |». B | st. |.8. |1v.| ron. | D, Tropfen usw. 
DV  e u — K11T173 5327131607101 0 — — 
17 AV EEE IN EIADTH — 1/11} 4 3/74115| 3 —_ —_ 
19. VE 11 000 — 1 2565 Fe: 5|/68120| 5 —_ — 

















Das Hämogramm spricht für sich selbst. 


Erfahrungen mit dem Hämogramm nach Schilling. 7193 


Anfangs schwerer, von uns prinzipiell prognostisch nicht beurteilter Befund, 
hohe Leukocytenzahl, Hypeosinophilie, starke Linksverschiebung, geringe Lympho- 
cytenzahl. Der klinischen Gesundung lief das Hämogramm stets voran, Ent- 
lassung als geheilt mit normalem Hämogramm. 


6. Typhus und Grippe. 


Ein weiteres, den praktischen Arzt besonders interessierendes 
Kapitel ist das T’yphus-abdominalis-Hämogramm. Da wir im Laufe des 
letzten Sommers sehr häufig den Typhus differentialdiagnostisch gegen 
endemisch auftretende Grippe abzugrenzen hatten, so wollen wir beide 
zusammen behandeln. 

Unsere 10 Typhusfälle boten folgendes Hämogramm: 


Fall: Irma. I, 3a. 


























Datum Zahl |»-|® . m. J. | st. | S. |1v. zanı |». m. |ar. | 2. |st.] s. |üs-|2ton.| D. SroDten usw D. Tropfen usw. 
ER AMT APR 4300 — | 1 | 6 I15 30148] — + _ 
DIENEN a DZ, 3000 FE 2 2166124] 6 — _ 
DI en 6400 = ehe 2720 5621151 —_ er 
I ee Ts 7800 — el 4149143| 3 _ _ 
Mr NEE REN 7400 rn iu 23700 — _ — 
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RU PER Bee TEA]. 165 KABLATI 1 
a a N 73 } 8400 Beraten 1743803 
a DL 1 SE I 8000 Zaren 1,415 3 











Normal verlaufender Typhus, kompliziert durch Otitis media. Nach mittel- 
schwerem Verlauf Ausgang in Heilung. 

Das Typhushämogramm ist unserer Erfahrung nach charakterisiert 
durch Hyperleukocytose, Neutropenie mit relativer Linksverschiebung, 
Lymphocytose, Aneosinophilie. 

Treten septische Prozesse wie oben eine Otitis media oder im folgenden 
Falle eine Gonorrhöe hinzu, so kann folgendes Hämogramm vorkommen: 


Fall: Grotkopp. 1, 2. 




















Datum | Zahl B. | E. |». | I: st. | S. |ws.| Mon.| D. Tropfen usw. 

ES er Ränge 3 500 —|-[—-|3|7|42|44| 4 _ _ 
a a rag 4 000 —|—1-—-|1|21|41][54| 2 u _ 
WIEN E a 67 3 900 —|1—1-—[|0|2 1|22[69| 4 _ 

20 ER ER E _ —|-1-|—-|3122I75| — 

ER PEN 7900 3172 ]2:171.|,5:}231621- 4 
TA Be a 9 400 1|111—-|—| 2 |18]785| — 
DR u Sa 15 500 — | 4|1-|-|1135[53| 2 








Hier flackerte am 12. XI. eine alte Gonorrhöe auf und bei klinisch sehr gutem 
Befinden hatten wir obiges günstiges Hämogramm. 


794 F. Joseph: 


Wir können aus beiden Hämogrammen genau den Verlauf der Er- 
krankung ablesen, so daß sich eine weitere Erläuterung erübrigt. 

Mit hohem Fieber unter Typhusverdacht wurden oft Patienten ein- 
gewiesen, die folgendes Hämogramm boten: 


Fall: Petersen. II, 4. 


EEE... 
Das | Zahl |»: | E. M.| 1. Ist. | S. [üv. |won. | D. Tropfen usw. 











an h.4900  |—.3:1- [9.13] ] m ee 


Trotz hoher Temperatur hämatologisch günstig beurteilt. Differen- 
tialdiagnose zwischen Typhus abdominalis und Grippe wurde infolge vor- 
handener Eosinophilen auf letztere gestellt. 

In kurzer Zeit Besserung. 

Die Anwesenheit von Eosinophilen, die während der letzten endemischen 
Grippe oft bis zu 6%, betrug, bei einem sonst fast normalen Hämogramm 
(d. h. ohne stärkere Linksverschiebung und mit normaler evt. etwas er- 
höhter Lymphocytenzahl), ließ uns jedesmal richtig eine Grippe, und zwar 
eine gutartig verlaujende, diagnostizieren. 

Nicht diagnostische, wohl aber prognostische Schwierigkeiten 
machten öfters die Grippe-Bronchopneumonien. 


























oe EEE EREEEBENERERIERESIEE ESG 0 5. 22. 

Name | Datum | Zahl BEE, | MIT AISEHES: |1v-| von.| D. Tropfen usw. 
Brüning. 1,10. \14.x1.|11300| ı |-[- | ılısleslıs| 3 | + — 
| 158. XI. 113000 — | —} 1 °6[151701 91 = _ _ 
1 21. X: 1 12.000 De ae De — —_ 
Bahr. 1,15% 1. 1.X11.122000 [1 3) 2 120953 4918| 1 — — 
Jäntsch. 1,16 . | 4. XII [40000|— |\—|6| 5114 67| SI — nn _ 

Schwester Dana. 

O1 uME 5.X 111 11000 | Peer — — 
Laur PL I, Ba 232% 64001 —- | —I1[!13| ı| 1|79| 5 4 _ 
8 Uhr | 23. V 58001 —-|—17 [52| 2|.1]37| 1 + — 
Schmuda. II, 60 | 30. V. 9400] — | —-I—-[|12|14|35|38| ı E= = 
9 Uhr || 31. V 88001 — 1 —1— | 8/35!42[18| ı En — 
12 Uhr | 31.V. |110001- | -| 1 |ı1 | 12| 30144 2 + E= 
5 Uhr | 31.V. [12000] — ! -| 4 |17|22| 29] 28 1 — — 
1L2V8. 112400 | = 112473 50 P65 [10129 + _ 
»..912:712.600 | = 2290 617019 We _ _ 
11>V2157400 1 8-1 ER ao lee — = 
14. VI. | 29200 | A271 ee ar 60:93.l22d = 














Pat. Bahr: Schweres klinisches Bild. Hämogramm als ernst aufzufassen. 
Drei Tage später Abfall der Leukocyten, Rückgang der Linksverschiebung. und 
Besserung des klinischen Befundes. Heilung. 


er ee ee 


Erfahrungen mit dem Hämogramm nach Schilling. 795 

Pat. Schwester Dora: ähnlich wie Bahr. Heilung. 

Pat. Jäntsch: Nicht so schweres klinisches Bild wie Bahr, doch auf Grund 
des Hämogramms sofort als absolut infaust angesehen, denn Infekte, die derartige 
Linksverschiebungen machen, sahen wir fast nie einer Heilung fähig. Ausgang: 
Exitus letalis. 

Pat. Lau: Vor 3 Tagen erkrankt. Benommen eingeliefert. Über beiden Lungen 
bronchopneumonischer Befund. Hämogramm infaust. Wichtig ist die anfangs 
hohe Lymphocytenzahl, die 8 Stunden später rapide fiel, dabei äußerst starke 
Linksverschiebung. Exitus. Sektion: Grippe-Bronchopneumonie. 

Pat. Schmuda: Grippepneumonie. Zustand trotz des üblichen Grippebildes 
bereits bei Einlieferung auf Grund des Hämogramms als ernst angesprochen. 
Im Verlauf des 31.V. plötzlicher unter Verschlechterung fast agonales Hämogramm, 
das mit krisisartiger Besserung sofort zur günstigen Seite umschlägt. Normaler 
Verlauf. Heilung. 


Ein Fall, der besonders zur Illustrierung der von Schilling mehrfach 
beschriebenen außerordentlichen diagnostischen und prognostischen 
Wichtigkeit des Hämogramms dienen kann, war: 


Fall: Feindt, II, I, 






































Datum | Zahl E, M St. | 8. ILy. Mon.| D. Tropfen usw. 
16. VII. 2 es IL Ar BE 
19. VII. 8900 I—!—13 1,71 8/6512] 5 + _ 
24. VII. 12000 |—| 1] 1 | 6 |10|67112] 3 | — _ 


16. VII. Eingeliefert mit einer Grippe am 3. Tage, leichte bronchopneumo- 
nische Herde über dem rechten Unterlappen. Allgemeinbefund günstig. Hämo- 
gramm wurde als mittelschwer angesehen. 

19. VII. Besserung des klinischen Befundes, jedoch deutliche Verschlechterung 
des Hämogramms. Pat., der fieberfrei war, wollte aufstehen. Infolge des Hämo- 
gramms nochmalige KliseBehlinte Untersuchung, ohne jedoch den Infekt, der das 
schlechte Hämogramm bedingte zu finden. Endlich am 

22. VII. schwere Pericarditis sicca. 

24. VII. Bereits Besserung der Perikarditis, jedoch etwa 14 Tage hohes 
Fieber. Mit Beginn der Heilung langsam normales Hämogramm. 


7. Pneumonte. 
Fall: Kröger. II, 3. 























Datum | Zahl |» E. M . | St. S. | iy.| aron.| D. Tropfen m 
been |&läl2ejarizefie. [2% = 
BEN 18000+F= 2112| 7leslıcla 2: > 
FINE, . 10000 |) 3 |-\— | 6|51[35| 5 ER ne 








Typisches Hämogramm einer mittelschweren Pneumonie. Am ersten Tage 
hohe Leukocytenzahlen, Aneosinophilie, starke Linksverschiebung. Lympho- 
cytenzahl o. B., desgleichen Monocyten. Polychromasie anfangs +-+. 

Mit beginnender Besserung, oft schlagartig mit der Krisis, Besserung des Hämo- 
gramms. 


796 F. Joseph: 


Fall: Christensen. II, 29. 















































Datum za |B.|8.|m.| >. |se|s. |1y.| Mon.] D. Tropten usw. 
3. V. 18000 I|— | —I|-[|5 12|71| 9| 3 — = 
HEnVa 13500 |3 | 2I1-|5| 9/6|13I 5 _ _ 
12,.V: 11500 I—| 1|—|7110/60|12| 4 — u 
24," Ve. Dee 8400 I|—| 11—-|11|12[/67|18| 1 — e— 
31.V. san, 10 000.5]34, 42 800 
Verhielt sich wie Kröger. 
Anders dagegen die von vornherein als infaust zu betrachtenden Fälle: 
Fall: Löwenstein. II, 28. 
Datum Zahl B. | E. | M. | J. | St. | S. | 1. | 3ton.| D. Tropfen usw. 
12.1X. 2. > 38000. 112 [jra>@ 9 o1)reg >>, [Kr ee 


Hämogramm vom 3. Tage. 

Aneosinophilie, starke Linksverschiebung, starke Lymphopenie, Monopenie. 

Der klinische Eindruck deckte sich hier durchaus nicht mit dem Hä- 
mogramm, da letzteres einen bedeutend schlechteren Befund ergab. — 
Exitus. Sektion bestätigt Diagnose. 

Eine fortlaufende Reihe von Untersuchungen wurde auf dem Tuber- 
kulosepavillon angestellt, und auch hier konnten wir uns dauernd von 
dem Wert des Hämogramms überzeugen: 


8. Tuberkulose der Lungen. 
Leichter Fall: 
Fall: Albrecht. II, 17. 

















Datum Zahl | B. | E. |». | Jr: | St. | S. |wr.| Mon.| D. Tropfen usw. 
De 10.000 ba: ee 3 
Entlassung 10000 I—| 31 -— | — | 5 |30]59] 3 











Nur wenig erhöhte Leukocyten, Eosinophile +, keine Linksverschiebung 
bei normaler Zahl der Neutrophilen, Lymphocyten o. B., meist etwas vermehrt. 
Monocyten o.B. 

Das Hämogramm hielt sich gleich bis zur Entlassung nach 6 Monaten als 
„fast geheilt“. 


Schwerer Fall: 
Fall: Kantorowitsch. II, 19. 

















Datum Zahl |» | E. |M. | F Ist. | S. |y.| von. D. Tropfen usw. 
90:1V.) 3 a ER 2.00 no 
14. Vi, ERS ELO 0005 Se ale 
DEV ea 12.000 Er a Be 
6. VL. re 2A eo 
8. VII SE 3 130400, 2 Teer ee 
15. VI... 0 0.0 2100008 BE oe sone 























Erfahrungen mit dem Hämogramm nach Schilling. 797 


Entsprechend dem klinischen Befunde Aufnahmehämogramm sofort als schwer 
bewertet. Erhöhte Leukocyten, Aneosinophilie, zunehmende Linksverschiebung. 
Relative Lymphopenie. 

Der zunehmenden Verschlechterung entsprechend Verschlechterung des 
Hämogramms bis zum Exitus. 


Mehrfach sahen wir Pat., deren klinischer und röntgenologischer Be- 
fund als zweifelhaft anzusehen war, deren Hämogramm sich bei fortlau- 
fender Kontrolle jedoch als durchaus schlecht erwies. Der weitere Verlauf be- 
stätigte stets das Hämogramm. Unsere zahlreichen Fälle mit Himogramm 
bei der Lungentuberkulose ergaben zusammenfassend, das leichte und 
schwere Fälle auch hier ein entsprechendes Hämogramm ergeben, 
daß aber schon eine geringe Verschiebung nach links, die sich konstant vor- 
findet, auch bei nicht erhöhten Leukocyten als viel schwerer zu bewerten 
ist, als bei jeder anderen Erkrankung. Schon ein dauerndes Hämogramm, 
wie zum Beispiel | 


Fall: X. 








| 


a ———— 
Datum Zahl B. | E. a. | Ak | st. | S. |{y.| aron.| D. Tropfen usw. 








| 12000 [-|1ı]-|-|6|es[z2o| 5 | 
würde als ungünstig zu beurteilen sein. 


Eine differentialdiagnostisch interessierende Krankheit ist die 


9. Miliartuberkulose. 


Wir haben in unserem Material einen Fall, der bis kurz vor seinem 
Tode, der in 4 Wochen eintrat, ein normales Hämogramm ergab und 
3 weitere mit stark veränderten Hämogrammen, wie: 


Fall: Köppen. II, 37. 




















Datum | Zahl Ba: |». J: St. S. |1s.] Mon. | D. Tropfen usw. 
De. ı 6000 |-1-1-1| alıaleılız] s 
Or 2 950 I—|—-1I-—- | 8[27/43|14| 4 
1 43» a a SE 12400 |—|—11 1|35|17/26117| 3 




















Vollkommen in Übereinstimmung mit der auch mündlich von 
Schilling erhaltenen Auskunft fanden wir in einem Fall bei einer derartig 
schweren Erkrankung keine Hämogrammveränderung, die wir uns nur 
durch vollkommene Anergie erklären können, sind aber der Meinung, 
daß wir auf Grund von nur 4 Fällen hierüber kein abschließendes 
Urteil abgeben dürfen. 

Eine große Reihe weiterer Erkrankungen, die wir untersuchten, 
wie Empyem, Meningitis, Parotitis, Erysipel, Furunkel usw. verhielten 
sich bezüglich des Hämogramms gleichwertig. Auch 8 Fälle der Ence- 
phalitis lethargica ergaben ähnliche Anwendungen. 


798 F. Joseph: 


Fall: Malchow. I, 14. 

















Datum | Zahl B; | E. |. | Jr | st. | S. 1: | Mon.| D. Tropfen usw. 
30.1. IRRE 13.000 ERER:: 70 = en 
DRITT ı 10000 I—|31—|-|2154|35I 6 











Ausgang in Heilung. 


Beim Fleckfieber, wovon wir 6 Fälle zu beobachten Gelegenheit hatten, 
konnten wir das Hämogramm prognostisch verwenden, jedoch fanden 
wir nie das für Fleckfieber angeblich typische ‚bunte Blutbild“. 


10. Carcinom. 


Bezüglich der mehr oder weniger chronischen Fälle interessierte uns 
das große Material der (arcinome besonders und wir hatten Gelegenheit 
mehrfach auf Grund fortlaufender Hämogramme den Beweis für ein 
vorliegendes schweres Leiden erbringen zu können. 


Fall: Detlow. I, 4b. 











Datum | Zahl B. | E. M. | J. | St. | S. |1s.| Mon.| D. Tropfen usw. 
10: Ren I 8000 |-|2 ae, a u 
23. RE en ea A12.000 le ker 6015| 5 [| i+F 














Anhaltende starke Linksverschiebung. Sektion: ulceriertes Ca. ventrikuli. 


Fall: Zuckschwert. II, 33. 





Datum | Zahl B: | E. M. | I. | St. | S. |1»-] Mon. | D. Tropfen usw. 








Te N | eo |-|=-]2 |. 15)8[o “ee a 


Sektion: Ca recti. 


Unsere zusammenfassenden Beobachtungen beim Carcinom sind, 
daß wir Neutrophilie ohne wesentliche Verschiebung lediglich beim un- 
komplizierten bösartigen Tumor fanden, daß wir dagegen bei der Mehr- 
zahl die in der Klinik zu Gesicht kommenden komplizierten Tumoren, 
insbesondere solcher, die wie bei Fall Detlow zur Ulceration neigen, Neu- 
trophilie mit zunehmender starker Verschiebung fanden. Es handelte 
sich hier eben um Prozesse, die die Neutrophilie überhaupt reizen. Stets 
fanden wir die Gesamtleukocytenzahl erhöht, da es sich ja um Reizungen 
handelt. 

Nach unserer Erfahrung bestätigte auch bei perniciöser Andmie das 
Hämogramm stets die Diagnose. Wir konnten oft trotz ansteigender 
Remission und Rückgang der Polichromasie und basophilen Punktie- 
rung mit einer relativ starken Linksverschiebung oft schon auffallend 
frühzeitig den fatalen Verlauf vorhersagen. 


Erfahrungen mit dem Hämogramm nach Schilling. 799 


11. Vergiftungen. 


Eine Zahl von & Bleivergiftungen, die anscheinend in sehr ernstem 
Zustande eingeliefert wurden, ergaben durchweg günstige Hämogramme, 
wWIezZeBie 


Fall: Schubert. II, 47. 


























Datum Zahl |» | 2. |. | era | S. |y.| 3ron. | D. Tropfen usw. 
a TE 7 200 | Ser 2 0s[2o| 6 Bo  arnaue 
Pe re re ea Ua ea a 29 I a ee 
a EM 102) BRRE a 171 E Eee 
A a er 8200 r2. hehe 3 17611301, 1 0 + 








Wir konnten den Angehörigen von Anfang an eine günstige 
Prognose mitteilen. 

Ein außerordentlich schwerer Fall von Nirvanolexanthem, der kli- 
nisch als infaust angesehen werden mußte, ergab: 


Fall: Berger. II, 77. 


























Datum | Zahl |» E. M. | 1E | St. | S. |wv.| on. | D. Tropfen usw. 
IV IE ori 9300 |— 18113 | 2| 9/57|13| 1 
A TR I — —| 41 — | 7/21/50|12]| 6 
ET N 22000 |— 15] 3/10/18126[|20| 3 
ZONEN er. 10000 I1— 1281 — | 3| 8/42|16| 3 
a a TEA 8000 I|— 112] — | — | 7/61]19| 1 











Gcheilt entlassen. 


12. Hitzschlag. 


5 Fälle von Hitzschlag ergaben sofort bei Einlieferung direkt von 
der Straße: 


Balle X. 155.76, 














Datum | Zahl | B. | r. | =. | T | St. | S. | Ly.| Mon. | D. Tropfen usw. 
22 22 Sera Berne ae arlaohn Pose 
Exitus. 


Leider hatten wir keine Gelegenheit den Wert des Hämogramms bei 
der Malaria zu beurteilen. 

Wenn wir am Schluß unserer Besprechung zu einem gewissen Ergeb- 
nis kommen wollen, so müssen wir immer der Schillingschen Sätze ein- 
gedenk bleiben: ‚Blutbilder sind stets nur im Zusammenhang mit dem 
Gesamtblutbefund der Klinik zu betrachten, dann aber auch wertvoll 
und ausschlaggebend. Überhaupt muß stets der erfahrungsgemäß vorhan- 
dene Typus des Butbildes die Grundlage der allgemeinen Beurteilung 
eines bestimmten Krankheitsfalles bilden.‘ 

Z. f. klin. Medizin. Bd. 100. 52 


800 F. Joseph: 


Auch Ockel!) sagt mit Recht: ‚Man muß von der Methode nicht mehr 
verlangen, als von anderen guten und allgemein anerkannten klinischen 
Untersuchungsmethoden auch.“ 

Stets ist die Zugehörigkeit eines Hämogramms zu einer bestimmten 
Gruppe von Erkrankungen festzulegen, erst dann lassen sich aus Grad 
und zahlenmäßigen Unterschieden symptomatische vergleichende und 
prognostische Schlüsse über Intensität, Dauer und Allgemeinwirkung 
der Erkrankung ziehen. Das Vorhandensein einer Linksverschiebung 
ist zunächst wichtiger als der Grad derselben. Sind zahlreiche Jugend- 
formen und evt. Myelocyten vorhanden, so ist der Krankheitsfall als 
schwerer, die Prognose als bedenklicher anzusehen. 

Was die feinere Auswertung des Hämogramms anbelangt, sö konnten 
wir Sthillings und seiner Nachuntersucher Erfahrungen auch unserer- 
seits vollauf bestätigen. 

Es handelt sich bei dem Hämogramm um eine festbegründete und 
zuverlässige Methode, deren Resultate konstant sind. Der Kernpunkt 
ist die Zinksverschiebung, die, wie wir auch an Hand unserer Fälle zeigen 
konnten, der Schwere des Falles parallel geht. Wir fanden, daß das Hä- 
mogramm in allen Fällen ein genaues Zustandsbild, etwa einer Moment- 
photographie des augenblicklichen Zustandes vergleichbar, liefert. 

Auf Grund unserer sehr zahlreichen Einzeluntersuchungen stehen wir 
auf dem Standpunkt, daß wir entscheidenden Wert auf die gefundenen 
Prozentzahlen legen und auch schon kleinere Abweichungen bei Kon- 
trolluntersuchungen dementsprechend als Zustandsänderungen ver- 
zeichnen. Das Hämogramm eignet sich entgegen der Meinung anderer 
Untersucher zur exakten zahlenmäßigen Darstellung des Krankheits- 
bildes. 

Was das Verhältnis der übrigen Zellformen, wie Lymphocyten, 
Monocyten und Eosinophilen usw. anbetrifft, so bedürfen wir ihrer zur 
Vervollkommnung des Hämogramms, um die Wechselbeziehung klar- 
zustellen. Wir verweisen betreffs der Auswertung dieser einzelnen 
Formen, die hier zu weit führen würde, auf Schillings Ausführungen 
in seiner Monographie. 

Was die diagnostische Seite des Hämogramms anbelangt, so bestätig- 
ten unsere Untersuchungen die bisher von anderen Forschern aufgestellten 
Regeln. Ein Punkt, der unseres Erachtens bis jetzt zu wenig berück- 
sichtigt wurde, ist die Prognosenstellung, auf die wir oben besonders hin- 
wiesen. Immer wieder wurden uns Blutbilder zugesandt, deren Ein- 
sender den größten Wert auf die Prognosestellung legten. Grundsätzlich 
haben wir nie aus einem einmaligen Hämogramm eine Prognose ge- 
stellt, es sei denn, daß die Linksverschiebung derart war, daß sie nach 
unserer Erfahrung als irreparabel angesehen werden mußte. Auch 


1) Die Arbeit war im Laufe des Jahres 1923 fertiggestellt. 


Erfahrungen mit dem Hämogramm nach Schilling. 801 


Schilling sagt: „Der Wert aller Blutbefunde wird sehr erhöht durch fort- 
laufende Untersuchung und Anlegung von Kurven in wichtigen Fällen.‘ 
— Das kurvenmäßige Verfolgen unserer Fälle bestätigte den großen Wert 
besonders in prognostischer Hinsicht. Ein oder zwei Kontrollhämo- 
gramme ließen uns meist die richtige Prognose stellen, z. B. bei einem 
anfänglich schweren Hämogramm eines septischen Aborts, bei dem das 
Fieber auch nach der Ausräumung anhielt. Trotz schlechten klinischen 
Befundes Besserung des Hämogramms und Heilung; oder bei einer 
48jährigen Frau mit Pneumonie, deren Hämogramm sich trotz klini- 
scher Besserung verschlechterte und die 3 Tage später starb. 

In der Einfachheit und dem geringen Zeitverbrauch liegt der Haupt- 
wert der Methode. Die Auszählung von 200 Leukocyten dauert durch- 
schnittlich nur 5 Minuten. 


Zusammenfassung. 

Übereinstimmend mit Schilling und Nachuntersuchern konnten wir 
uns von dem großen diagnostischen und prognostischen Wert des Hämo- 
gramms überzeugen. 

Die Methode ist einfach und leicht zu lernen und nimmt wenig Zeit in 
Anspruch. 





62% 


(Aus der medizinischen Universitätspoliklinik zu Leipzig. — Direktor: Prof. 
Dr. Rolly.) 


Über Stoffwechsel- und Harnsäureuntersuchungen bei 
bluttransfundierten Perniziösen. 


Von 
Privatdozent Dr. Weicksel. 


(Eingegangen am 24. Juli 1924.) 


Es ist das Verdienst von Norden gezeigt zu haben, daß der Eiweiß- 
stoffwechsel selbst bei schweren chronischen Anämien vollkommen nor- 
mal gestaltet sein kann, und daß die Anämie als solche den Eiweiß- 
bestand des Körpers nicht zu gefährden braucht. Wenn bei anämischen 
Zuständen sich ein erhöhter Eiweißverbrauch vorfindet, so darf man 
diesen nicht der Anämie die Schuld geben, sondern muß vielmehr die 
Ursache in einem anderen schädigenden Momente suchen. Und wenn 
bei perniziöser Anämie eine Steigerung des Eiweißzerfalls beobachtet 
worden ist, wie zuerst von Quinke beschrieben, so ist dies hier nicht 
die Ursache der Anämie, sondern eine schädigende Noxe, welche Organ- 
zellen zerstört und den verstärkten Eiweißzerfall hervorruft. Rosenquist 
hat nun an einem zahlreichen Material den Eiweißstöffwechsel bei der 
Bothriocephalus-latus-Anämie studiert, und zwar vor und nach der 
Wurmabtreibung und könnte finden, daß der Eiweißstoffwechsel vor der 
Wurmabtreibung gewöhnlich sehr erhöht war und viel Ähnlichkeit mit 
dem von echter kryptogenetischer perniziöser Anämie hat, während nach 
der Wurmabtreibung gewöhnlich ein Eiweißansatz beobachtet werden 
konnte. 

Meine Aufgabe soll nun sein, den Eiweißstoffwechsel und den Purin- 
stoffwechsel bei echter kryptogenetischer perniziöser Anämie zu verfolgen, 
und zwar bei den Fällen, bei denen eine Bluttransfusion vorgenommen 
war. Im Ganzen habe ich 12 Fälle von perniziöser Anämie, welche 
transfundiert worden sind, längere Zeit beobachten können. Wenn ich 
hier nur den Verlauf von 5 Fällen genauer schildre, so hat dies seinen 
Grund darin, daß bei den erst beobachteten Fällen die genauen chemischen 
Untersuchungen noch nicht exakt genug waren und wir uns erst in die 
Untersuchungsmethoden einarbeiten mußten. Doch die geschilderten 
Fälle konnten wenigstens eingehend genug verfolgt werden. 

Zur Technik einer tadellosen Stoffwechseluntersuchung betreffs des 
Eiweiß- und Purinstoffwechsels gehört es unbedingt, daß die Versuchs- 


Weicksel: Über Stoffwechsel- und Harnsäureuntersuchungen usw. 803 


person möglichst einige Tage vor Beginn der Untersuchung die gleiche 
Diät einnimmt, welche während der Versuchsperiode eingesetzt wird. 
Dieser Forderung wurde, soweit es in meinen Fällen möglich war, Rech- 
nung getragen, denn eine längere Beobachtung ist an der Poliklinik 
außerordentlich erschwert. Trotzdem glaube ich, daß die Zeit, während 
deren die Patienten bei uns aufgenommen werden konnten, genügt, um 
die gewonnenen Resultate verwerten zu dürfen. Die Patienten wurden 
schon 3 Tage vor ihrer Aufnahme ermahnt, eine purinfreie und stickstoff- 
arme Kostverordnung zu sich zu nehmen, welche aus Milch, Brot, Butter, 
Reis und Mehlspeisen bestand. Kaffee und Tee war während dieser Zeit 
verboten und die Flüssigkeitzufuhr pro Tag wurde auf etwa 2 bis 21/, 
Liter festgesetzt. Die Patienten bekamen nach ihrer Aufnahme etwa 
35 bis 40 Kalorien pro Kilo Körpergewicht und das tägliche Eiweiß- 
quantum betrug während dieser Zeit nur 40 bis 50g, dabei wurden aber 
reichlich Kohlehydrate gereicht. Als Stickstoffgehalt der eingenommenen 
Nahrungsmittel wurde ein aus zahlreichen bekannten Analysen sich er- 
gebender Mittelwert in die Rechnung eingesetzt. Während der Dauer des 
Versuchs wurde von jeglicher medikamentöser Behandlung Abstand ge- 
nommen. Das Gewicht der Patienten wurde zu Anfang und am Ende der 
Untersuchung geprüft. Der Harn wurde von 12 Uhr mittags bis zum näch- 
sten Tage um dieselbe Zeit gesammelt und sofort untersucht. Die Menge 
des Kotes täglich gewogen und vor und nach der Transfusion eine Stick- 
stoffuntersuchung des Kotes vorgenommen und das gewonnene Resultat 
als Mittelwert eingesetzt. Sämtliche Stickstoffbestimmungen erfolgten 
nach Kyeldahl, und zwar wurde der Harn und der Kot mit N-Zehntel 
Normallösung titriert, während bei Bestimmungen des Blutes N-50stel 
Normallösungen verwendet wurden. Als Indikator wurde Metylorange 
verwendet. Die Bestimmungen der Purinbasen im Blute erfolgte durch 
Behandlung mit Kupferoxyd und Sulfitlauge in der von Krüger- Reich 
Schittenhelm angegebenen Weise. Die Bestimmungen der Harnsäure 
im Harn wurden nach Folin-Shaffer mittels Ammonsulfat und Uran- 
acetat ausgeführt, und es wurde mit N-20stel Permanganlösung titriert. 
Blutuntersuchungen wurden in allen Fällen täglich vorgenommen. Sie 
umfaßten Zählungen der Erythrcocyten, der Leukocyten, Bestimmungen 
des Hämoglobingehaltes, Zählungen der Thrombocyten und mikrosko- 
pische Untersuchung der Ausstrich Präparate. Die Untersuchung wurde 
stets morgens 12 Uhr vor dem Essen vorgenommen. Die Transfusionen 
wurden stets morgens 8 Uhr vorgenommen, wobei Spender und Emp- 
fänger stets nüchtern waren. 
Kurze Besprechung der Fälle. 


Falll: 54jähriger Wärter. Früher niemals krank, niemals Würmer. Lues 
negativ. 2 gesunde Kinder: Huntersche Zunge. Blutbefund: 1 250 000 Erythro- 
cyten, 2500 Leukocyten, 43,7% Hämoglobin. Differenziert: 45% Segmentkernige, 


804 Weicksel: Über Stoffwechsel: 


43,5%, Lymphocyten, 1% Monocyten, 0,5% Mastzellen. Direkte Diazoreaktion 
im Blute negativ, indirekte positiv. Resistenzbestimmung: bei 0,53 beginnende 
Hämolyse. Am 19. VI. Bluttransfusion von 500 ccm Blut. Spender: Tochter. 
Der Erfolg der Transfusion hielt ?/, Jahr an. Nach ?/, Jahren wird eine zweite Trans- 
fusion vorgenommen, 600 ccm Blut, ebenfalls von der Tochter. Der Erfolg ist 
dieses Mal ein wenig befriedigender. Blutbefund am 19. XII. 1922: 1 350 000 Ery- 
throcyten, 2000 Leukocyten, 40% Hämoglobin. Blutviscosität 2,2. Serum- 
viscosität 1,6. Eiweißgehalt im Serum 6,5. Resistenzbestimmung: 0,52 be- 
ginnende Hämolyse. Seit Anfang Februar 1923 ist Pat. bettlägerig.. Ende 
Februar 1923 erfolgte Exitus. Die Sektion bestätigte die Diagnose. 


Fall2: 44jähriger Grubenarbeiter. 1908 Gelenkrheumatismus. 1919 Carbid- 
gasvergiftung. Lues negativ. Seit 1922 krank an Blutarmut. Im Dezember 
1922 bereits eine Bluttransfusion von 500 cem Blut vom ersten Sohn, in der 
Heimat vorgenommen. Seit Juli 1923 in poliklinischer Behandlung. Damaliger 
Blutbefund: 1 750 000 Erythrocyten, 4100 Leukocyten, Hämoglobingehalt 55%, 
Im Ausstrich: 55% segmentkernige Leukocyten, 36,5% Lymphocyten, 3,5% Eosin- 
nophile, 2% Mastzellen und 3% Monocyten. Am 31. VII. Transfusion von 600 ccm 
Blut von seinem zweiten Sohn. Erfolg der Transfusion ziemlich gering. Pat. 
ist bereits am 28. X. 1923 nach Angabe der Angehörigen zu Hause gestorben. 

Fall 3: 50jähriger Landwirt. Früher nie krank gewesen. 2 gesunde Kinder. 
Lues negativ. Niemals Wurmkrankheiten. Erkrankte vor einem Jahr an schwerer 
Blutarmut. Ist bereits zu Hause mit Arsen und Röntgenbestrahlung behandelt 
worden. Im Juli 1923 suchte er die Poliklinik auf. Typisches Blutbild: 1 500 Ery- 
throcyten. 3500 Leukocyten, 43%, Hämoglobin, 56,5% segmentierte Leukocyten, 
42% Lymphocyten + 60 000 Blutplättchen. Magenuntersuchung: keine freie 
Salzsäure. Gesamtacidität 4, kein Blut und keine Milchsäure. Indirekte Diazo- 
reaktion im Blute positiv. Am 7. VIII. 1923 Bluttransfusion von 600 ccm Spender: 
blut (Ehefrau). Nach der Transfusion wesentliche Besserung. Blutbefund am 
19. IX. 1923: 1 990 000 Erythrocyten, 4000 Leukocyten, 60% Hämoglobin, 65 000 
Thrombocyten. Pat. hat sich !/, Jahr lang wohl gefühlt. Er ging uns dann verloren 
und ist im Januar 1924 bettlägerig geworden und nach Angabe der Ehefrau am 
15. II. 1924 zu Hause gestorben. 

Fall4: 54jähriger Polier. Früher nie krank gewesen. Ein gesundes Kind. 
Lues o.B. Niemals Würmer. Erkrankte im Frühjahr 1923 an Mattigkeit und Ohren- 
sausen. Befund Anfang Juli 1923: Typische gelbweiße Verfärbung der Haut. Systo- 
lisches Geräusch in der Herzspitze. Leber und Milz eben fühlbar. Magenunter- 
suchung: Keine freie Salzsäure. Gesamtacidität 3. Kein Blut und keine Milch- 
säure. Diazoreaktion im Blute: indirekte —= positiv, direkte = negativ. Urobilin 
im Urin negativ, Urobilinogen nicht vermehrt. Am 7. IX. Vornahme der ersten 
Bluttransfusion 750cem. Erfolg günstig. Anhaltende Besserung bis zum März. 
Damaliger Blutbefund am 30 III.: 1700 000 Erythrocyten, 3000 Leukocyten, 
75% Hämoglobin, 70 000 Thrombocyten, 45% Segmentkernige, 2% Eosinophile, 
48% Lymphocyten, 3% Monocyten und 2% Mastzellen. Im Ausstrich sieht man 
außerdem noch die typischen Zellen für perniziöse Anämie: hyperchrome Megalo- 
cyten, vereinzelte Megaloblasten, Poikilocytose und Anisocytose. Ganz verein- 
zelte Yollyerythrocyten. Am 4.IV. erneute Bluttransfusion: 500 ccm von der 
Tochter. Erfolg dieses Mal ein ziemlich geringer. Pat. hat bereits am 28. V. das 
letztemal die Poliklinik aufgesucht. Damaliger Blutbefund: 1 100 000 Erythro- 
cyten, 1700 Leukocyten, 37% Hämoglobin, 50,5% Segmentkernige, 1% Eosino- 
phile, 1% Mastzellen, 43%, Lymphocyten und 4% Monocyten, 28 000 Thrombo- 
cyten. Am 28. V. 1924 Aufnahme ins Krankenhaus. Daselbst am 17. VI. 1924 
Exitus. Sektion ergibt typische periniziöse Anämie. 






















































































































































































' und Harnsäureuntersuchungen bei bluttransfundierten Perniziösen. 805 
Tabelle I. Zahlaus. 
Ri =2| #0 |Gesamt-| Rest | Ges. | 3al; = ar Blut, 
Fdasım 1 Gm BE] 38 mm] son imumm|E&| = | evten Noten jobin|F.1.| pist 
g g % | mg% u 197923 % chen 
2 Uhr v. | - | | | 
18. VI. 22|| 65 6,4 | 6,92 [1,641 10,01847]) — 1/71 ‚1,7 [1062 500 11 600|32,5 | 1,4 |41 600 
=ı19. VI.: 
8 Uhr V. 
Transfus. 
19. v1.22| — [/4,9| 7,43 11,858 10,02718| — 7,1 |1,7 |1 487 500 [2 700/41,25, 1,4 |29 520 
20. v1.22| — [5,9| 9,81 |1,933 ‚0,0274 — [7,2 11,6 11512 500 12 600|38,75| 1,5 | 34 500 
21. VvI.22| — [6,4| 9,751|1,840 10,02665| — 17,4 ‚1,7 |1 640 000 12 600128 1,0 42 640 
22. V1.22| — [6,5| 8,434 | 1,797 0,0194 — 172 11,6 |1 850 000 2 400.40 1,2 |42 575 
23. v1.22| — 16,5| 7,521 1,8251 0,0231 — 7,1 [1,6 |1 740 000 [2 300!|35 1,0 |43 521 
27. V1.22|| 65,4 [6,5 | 6,992 | 1,8925, 0,0291 — /6,921,7 |1 975 000 I2 900165 1,4 147 450 
18.1X.22|| 68 ne An 1,868 — — 6,9511,71|12043 750 12 800155 1,3 [42 524 
Tabelle II. Röbbenack. 
“&2| & „ ‚Gesamt-| Rest- Ges. 5 u | 
= h < = |stickst. | stick- | Harns. = 28 = Erythro- |Leuko- Hämo- Rt e 
Datum Gew. |z, &| z ® |imBlut, stoff im Urin| $ E & & ceyten eyten globin F. L| plätt- 
kg | g g hm sh ee h % a 
12 Uhr V. | 
50. VI.23 | 71 74| 81 11,360 0.0231 0,162 17,53! 1,6 1 450 000 3 700143,75 1,58| 38 450 
31, vll. 
8 Uhr Trans- | | 
fusion 600 ccm | | 
31. vIL.23| — 5,6| 9,46 | 1,4904 0,0245] 0,195 |7,20| 1,7 2012 000 13 400/47,5 |1,13| 53 950 
1. VOL.23| — |7,1| 10,59 [1,862 |0,0251| 0,216 |7,51| 1,6 | 2 150 000 |4 600 61,25 1,45 | 47 500 
2. VIL23| — [|74| 10,51 1,740 |0,023 | 0,183 |7,07| 1,5 |2 218 750 3 900|68,75|1,63| 48 650 
3. VIII.23| — [7,4| 8,38 11,503 10,024 | 0,179 7,3 | 1,6 12081 500 |3 700163,75 1,59 | 39 450 
4. VIII. 23 | 71,5 |7,4| 7,32 11,871 |0,027 | 0,169 [7,41| 1,6 2 074 500 |3 500154,5 11,4 45 740 
5. vII.23| — |7,4| 8,21 1,745 |0,022 | 0,159 |7,57| 1,7 | 1 887 500 13 400,55 1,52 71 400 
13. vII1.23| — |— — — — —  [7,46| 1,7 11 987 500 |5 400158,75 1,54 | 64 200 
27. VIIL.23 | 71,4 | — | 1,354 — —  [7,42| 1,7 |1 381 250 |4 500/35 1,34 40 600 
Tabelle III. Berger. 
RE a Arkana) EE WIR: j Blut 
Datum | oem. Bel 28 Mark m Bama| E31 55| amt Tanemamoin z| um 
kg g g 0 g nenn % chen 
12 Uhr V. | | | 
6. VIIL.23|| 63,5 |6,6| 6,372 1,369| — | 0,174 18,1 | 1,6 [1 360 000 |3 500152,75[1,86| 49 400 
VIE 
8 Uhr Blut- 
transf. 600 ccm 
7. vIN.23| — |5,6| 7,694| 1,78 — 0,199 |7,27, 1,6 |1 806 250 12 800162,5 |6 4157400 
8. VII.23| — 16,5 110,931) 1,8981 — 0,263 18,06 1,7 |2 150 000 12 300/63,7511,51|58 510 
9. v1I.23| — [6,6110,291| 1,852 | — 0,224 |8,28| 1,7 |2 306 250 |2 700|66,25|1,44| 50 150 
10. vII.23| — [6,6| 8,12 |2,098| — | 0,176 18,06! 1,6 12231 500 12 9001 63,7511,45| 60 500 
11. VIII.23 || 63,4 |6,6| 7,24 11,864| — 0,172 1821| 1,6 |2 145 000 13 100162 1,45, 59 500 
24. VIII. 23 - — | — — — 7,81! 1,7 |1 981 250 |3 50060 1,57| 58 980 
81. VIII.23|| 632 | — Dr 1,495 a — /7,2 | 1,6 11793 750 13 400|62,5 11:8 66 900 


806 Weicksel: Über Stoffwechsel- 


Tabelle IVa. Becker I. 
En un. | 














































































































4 8] & © |Gesamt- Ge. |, |.8 
r = E = = Et. Rest- a are =) = = = Erythro- |Leuko-Hämo- Blut- 
Datum Gew.z &| 5 & |im Blut a, im Urin & EBIRS| cyten cyten |globin FL BEN 
kei g | % Ri: % 
11 Uhr vorm. 
6.X1.23 [64,2] 6,5 [6,82 1,5940| — 10,0843 7,59 1,8 |1 525 000 | 5800 |35 1,16) 61000 
EERTR: 
8 Uhr Trans- |) 
fusion 750 cem | 
7.X123 || — |4,217,41 1,9436 — 0,07087 17,4 1,7 |1 850 000 | 5000 |35 0,99| 48 400 
12 Uhr 
3:X1,28 — [5,6 [9,966 12,0432| — 0,20763 17,42 1,7 1 900 000 ' 2900 37,5 11,04 39603 
12 Uhr 
9.X1.23 | — 6,1 9,430 |1,9875| — 0,21562 7,86 1,6 |2 062 500 | 3500 48.7511,43| 58 545 
10.X1.23 | — [6,4 7,902 |1,9024| — 0,17531 17,70] 1,7 1 831 200 | 4200 47,5 11,34] 40 200 
11..Xx1.232110,41077456 1,8132] — 0,14965 17,70] 1,7 1 660 000 | 5475 47,5 11,483) 41500 
12. X1.23 | — |6,4 7,646 ı1,8394| — 0,16272 17,61 1,711 575 000 | 6700 43,75/1,46| 60065 
13. XI. 23 |65,1| 6,4 6.553711,6924| — 0,14287 7,7 [1,71 606 250 | 6000 46,25 1,44| 31 055 
19.X1.23 | — |! — | — — — — — | — [1 268 250 | 4500 36,25/1,61) 101 860 
28. XII. 23 || — | — — | — - —- a: 1 918 750 | 4400 52.5 11,38| 75 128 
6. III. 24 166,5 — ee — | 202 500 | 5800 [67,5 1,68| 101 250 
Tabelle IVb. Becker II. 
„2| 5 „ |Gesamt-| Rest- Ges. 8 
Dt 5 = E = = stickst, Sea ENTER = = = 5| Erythro- |Leuko-Hämo- Eh 
u BE la en im Blut | stoff im Urin [4 215 8 cyten cyten |globin Pieue 
kg | g g % Im % g An a 5 R 
(Vom 2.8) | 
12 Uhr mitt. 
3 LV.2471109270.35 6,28 12,098 [0,0202 0,12742 8,67 11,65| 1 712 500 | 2500 56. 1,65 | 71 650 
A. TV; : 
8 Uhr v. Blut- | | 
transf. 500 ccm 
4. IV. 24 _— 19,9 6,164/2,151 [0,0241 0,14031 8,4911,7 2 175 000 | 6100 63,75 1,51! 52 200 
12 Uhr mitt. 
5. IV. 24 — /6,40| 9,37412,210 |0,0237 0,2056 8,0411,6 1 862 500 | 3100 55 1.52] 37 25@ 
6. IV. 24 — /6,25| 7,84 11,909 0,0287 | 0,193 8,4111,7 | 1 670 000 | 3200 |50 1,50) 37 040 
TE 1IN. 24 — 6,5 |10,678|2,147 0,0298] 0,182 18,62 1,6 1 706 000 | 2400 |50 1,4739 860 
8. IV. 24 — /6,0 |10,887\2,1408 0,0236 0,1509 18,91 1,7 |1 687 500 | 2900 |50 1,56| 46 250 
BIIVL 24 —. 16,7 110,851/2,1575[|0,0251 0,10965 9,1 /1,65/ 1 506 250 | 2800 |45 1,5 |41 520 
10.IV.24 [62 6,7 | 9,452|2,045 0,0245 | 0,1064 8.9 11,65! 1 645 200 | 2700 |46 1,5 36 450 
DONE DA 61,5 — 712.051 90:02] — 7,0611,6 |1 162 500 | 1800 37.5 ı LO SLIM 
28.1IV.24 161 ES —  12,1042/0,0195 _ 6,2 11,5 11 251 000 | 1700 52 1,9 |24 530 











Fall5: 42jähriger Kaufmann. Früher nie krank gewesen. Seit Anfang 1924 
erkrankt an. Mattigkeit, Ohrensausen. Kommt Anfang April in die Poliklinik. 
Lues negativ. Niemals Würmer. Am 11.IV. 1924 Vornahme der ersten Trans- 
fusion: 800 cem Spenderblut von der Ehefrau. Danach wesentliche Besserung. 
Die Schwäche war verschwunden. Pat. fühlt sich wohler und gesünder. Letzter 
Blutbefund am 29. V.: 1 670 000 Erythrocyten, 3400 Leukocyten, 35% Hämo- 
globin, 39 000 Thrombocyten, 45,5%, segmentkernige, 45,5% Lymphocyten, 3%, 
Monocyten, 3%, eosinophile, 3%, stabkernige, Normoblasten, vereinzelte Mesalo- 
blasten, Megalocyten, punktierte Erythrocyten, Anisocytose und Poikilocytose. 
Pat. befindet sich noch in Behandlung. 


und Harnsäureuntersuchungen bei bluttransfundierten Perniziössen. 807 


Tabelle V. Rau. 




































































= S a © |Gesamt-| Rest- Ges. PR „3 Blut 
B 3 |stickst. | stick- | Harns. = |8%| Erythro- | Leuko- |Hämo- NR 
Datum |@ew. SIE a im Blut stoff im Urin BE er 3 Gen Be, A F. 1) plätt- 
kk|lgsı 8 N u, 2.9 05 % Ben 
v. 9.—10.) | 
2 Uhr mitt. 
0.IV. 24 61 |6,4 6,7 2,001 /0,0221/0,2214 | 8,99 11,7 1297 500| 2300 '33,75!1,40!| 50 600 
Uhr Trans- 
ıs. 800 ccm 
wel, IV.: Opales- 
2 Uhr.mitt. cens 
1. 1V. 24 | — 16,4/7,21 12,124 |0,02020,2951 | — | — |1575000| 1800 137,5 |1,25| 50 400 
2.1V. 24 | — 6,5 | 9,520 | 2,2967| 0,0221/0,39925| 8,04 11,7 11 862 500| 2000 |40  :1,11[ 44 700 
8. IV. 24 || — | 6,5 | 9,1875] 1,9071| 0,024 0,3620 | 8,21 11,7 11881 250| 2500 143,75[1,56| 42 700 





4. IV. 24 | — 6,5 |8,8704|1,9875[ 0,021 0,3469 | 8,41 1,7 |1699 250, 1400 143,75|1,36| 36 437 
5.IV.24 | — | 6,5 |7,05601 2,0318) 0,018 |0,31075| 8,49 11,7 11 850000| 1500 137,5 11,04| 34 772 
6. IV. 24 || — |6,5 17,014 | 2,1427|0,017 0,2232 | 8,41 11,7 11600 000| 1875 140 11,251 29200 
7 
“ 
) 





24/62 6,46.451 [1,9971 0,01810,1921 | 8,37 |1,7 [1 675000| 1600 138 11,251 31 340 
61:46: 1E 
|| _ | — [00191] — | 781 1,7 1900000! 2600 |s5 [1,0536 540 
2416051 — | _ [1,71640.0195| — | 7,98 1,6511 675000| 3400 |35 1,1059 420 























Betrachten wir nun zunächst das morphologische Blutbild, so kann 
man schon 3 Stunden nach der Transfusion einen Anstieg der Erythro- 
cyten um etwa 20 bis 30% beobachten. Die nächsten Tage sieht man 
nun die Erythrocyten auf gleicher Höhe, fast immer ist noch ein weiterer 
Anstieg zu beobachten, so daß man daraus schließen kann, daß zunächst 
durch die Transfusion des gesunden Blutes allein die Zahl der Erythrocyten 
pro cmm beim Empfänger vermehrt worden ist. Der weitere Anstieg 
spricht aber dafür, daß die Transfusion als solche zweifellos belebend 
auf das Knochenmark gewirkt hat, so daß durch die Funktionsanregung 
desselben neue Blutkörperchen vom Knochenmark in das Blut ge- 
schwemmt worden sind. Ein Beweis also, daß wir es in solchen Fällen 
immer mit einem noch einigermaßen funktionsfähigen Knochenmark 
zu tun haben. Anders verlief Fall4, s. Kurve 4b, das ist auch der Fall, 
der auf die letzte Transfusion gar nicht reagierte. Dieser Patient ist 
bereits 9 Wochen nach der letzten Transfusion gestorben. Hier sehen 
wir, kurz nach der Transfusion einen Anstieg der Erythrocyten, der 
aber nicht anhält, sondern schon am nächsten Tage wieder die Anfangs- 
zahl erreicht hat, langsam fällt und 14 Tage nach der Transfusion noch 
erheblich niedere Werte ergibt. Hier hat also die Transfusion nicht mehr 
den gewünschten Reiz auslösen können, da dieses Knochenmark in seiner 
Funktion zu stark geschwächt war. In den Ausstrichpräparaten fanden 
sich gewöhnlich die ersten Tage nach der Transfusion zahlreiche Jugend- 
formen des erythropoetischen und leukopoetischen Systems, prozentual 
ausgedrückt: mehr kernhaltige, mehr polychromatophile Zellen, vereinzelt 
Yollyerythrocyten und mehr Myelocyten, als vor der Transfusion, also 





s08 Weicksel: Über Stoffwechsel- 


Reizzellen als Folge des Transfusionsreizes. Myeloblastenvermehrung 
war nie zu beobachten. Die Zahl der Leukozyten wurde durch die Trans- 
fusion weniger beeinflußt, es findet sich bei den günstig beeinflußten 
Fällen geringer Leukocytenanstieg. Nur in Kurve 4b sieht man wieder 
nach dem kurzen steilen Anstieg einen ständig sich mehrenden Abfall 
der Gesamtleukocyten als Ausdruck eines ungünstigen Verlaufs. Auch 
aus der Zahl der Blutplättehen kann man über den Verlauf des einzelnen 
Falles so viel sagen, daß ein Anstieg der Blutplättchen zweifellos als 
günstig, ein Abfall als ungünstig zu betrachten ist, Beobachtungen, die 
von anderen Autoren, auch bereits seit Jahren von mir gemacht worden 
sind und die auch in unseren Fällen im großen und ganzen zutreffen. 
Daß wir bei Fall 4 einen so ungünstigen Verlauf haben, hat sicher seinen 
Grund darin, daß bei diesem Patienten bereits 3 Transfusionen vorge- 
nommen worden waren. Ich konnte bei meinen Patienten schon vor Jahren 
immer wieder beobachten, daß die 1. Transfusion immer am besten wirkt. 
Hier spricht das Knochenmark auf den neuen Reiz noch am sichersten 
an. Auch hält der Erfolg der 1. Transfusion gewöhnlich am längsten an. 
Etwas weniger günstig ist gewöhnlich der Verlauf der 2. Transfusion. 
Dagegen ist fast ausnahmslos die 3. Transfusion ganz erfolglos. Bei 
2 Fällen, die nicht näher erwähnt sind, konnte ich auch ein völliges Ver- 
sagen der 3. Transfusion finden, und beide Patienten sind dann auch 
bereits 6 bzw. 10 Wochen nach der 3. intravenösen Transfusion von 5 
bzw. 600 ccm Spenderblut gestorben. 

Die Anschauung über die Lebensdauer der transfundierten Erythro- 
cyten ist noch recht verschieden. Götting glaubt an eine kurze Lebens- 
dauer der Erythrocyten und nimmt eine durch die Transfusion hervor- 
gerufene intensive Reiztherapie an, wobei es nach seiner Ansicht darauf 
ankomme, ob der Reiz zu einem Wiederaufleben der Funktion führt 
oder nicht. Dorner hat oft kurz nach der Transfusion Verminderung 
der Erythrocyten gezählt und nimmt an, daß das fremde Blut sofort in 
der Milz und im Knochenmark niedergeschlagen wird und demgemäß 
nur eine reiztherapeutische Wirksamkeit entfalten kann. Stich sagt, 
daß die transfundierten Erythrocyten kurz vor dem Untergang kurze 
Zeit als O,- und CO,-Träger funktionierten, dies sei aber nicht leicht zu 
beweisen. Sicher ist, und das ist wohl jetzt die allgemeine Ansicht, 
daß die Erythrocyten zu Zerfallsprodukten der Erythrocyten im Kreis- 
lauf abgebaut werden, und diese Zerfallsprodukte regen nun das Knochen- 
mark in irgendeiner Weise zu einer kräftigen N eubildung von jungen 
Blutkörperchen an. Wie lange aber die transfundierten Erythrocyten 
im Organismus existieren und ob sie überhaupt längere Zeit im Blute 
des Empfängers kreisen, ist noch nicht bewiesen. 

Durch meine Stoffwechseluntersuchungen konnte ich nun 1. einen An- 
stieg der Gesamtstickstoffausgabe im Urin bis 4—5 Tage nach der Trans- 





und Harnsäureuntersuchungen bei bluttransfundierten Perniziösen. 809 


fusion feststellen. Die Stickstoffausgabe war gewöhnlich am Tage nach 
der Transfusion am höchsten, d.h., wenn die Transfusion 8 Uhr vormittag 
vorgenommen wurde, so war die Stickstoffausscheidung, gemessen von 
mittag 12 Uhr des gleichen Tages bis zum nächsten Mittag, am höchsten, 
sie fällt dann vom zweiten Tage an langsam ab, um gewöhnlich 4—5 Tage 
nach der Transfusion ihre alten Werte erreicht zuhaben. Was kann man 
daraus schließen ? Sicher ist das eine, daß während dieser Tage der Or- 
ganismus weit mehr Stickstoff ausgegeben als er eingenommen hat. 
Die Stickstoffeinnahme war während der Versuchstage immer die gleiche, 
und zwar betrug sie etwa die Höhe des erlaubten Stickstoffminimums. 
Wenn nun auch bekannt ist, daß bei perniziöser Anämie ein Stickstoff- 
gleichgewicht schwer zu erreichen ist, da Patienten mit perniziöser An 

ämie fast immer einen vermehrten pathologisch gesteigerten Eiweiß- 
zerfall aufweisen; so ist doch hier auffallend, daß in allen Fällen die Stick- 
stoffausscheidung immer nach der Bluttransfusion sehr stark anstieg und 
daß man sie zweifellos mit dem transfundierten Spenderblut in Zusam- 
menhang bringen darf. Andererseits ist ja bekannt, daß durch starke 
Reize ein Zellabbau von ÖOrganeiweiß angeregt wird. Wieweit die 
Transfusion einen solchen Zellreiz ausübt, ist natürlich schwer zu 
beweisen. Der Hauptanteil des ausgegebenen Stickstoffs ist aber 
wohl sicher auf den Abbau des Spenderblutes zurückzuführen. Rosen- 
quist hat in einer sehr eingehenden Studie festgestellt, daß die ge- 
steigerte Eiweißeinschmelzung bei p. A. sicher toxogen bedingt ist und 
nicht von der Temperatursteigerung abhängt. Er hat weiter feststellen 
können, daß bei den Fällen von Botriocephalusanämie vor der Wurm- 
abtreibung ein pathologisch verstärkter Eiweißzerfall stattfand und 
nach der Wurmabtreibung gewöhnlich Eiweißansatz zu beobachten war; 
während wir bei der kryptogenetischen p. Anämie, wo wir die Ursache 
der Krankheit nicht kennen, einen toxogenen Eiweißzerfall annehmen. 
Und daß das zerstörte Blut die hauptsächlichste Quelle der im Harn 
erscheinenden Stickstoffverluste ist, das ist wohl sicher anzunehmen. 
Wenn wir nun bei unseren Fällen immer nach der Bluttransfusion einen 
besonders hohen Stickstoffanstieg finden, der 4 Tage anhält, so ist dieser 
wohl zum größten Teil auf die nach der Transfusion entstandenen 
Eiweißzerfallsprodukte des Spenderblutes zurückzuführen. Denn daß 
das transfundierte Blut nicht längere Zeit beim Empfänger lebt, sondern 
bald zerstört wird, das ist wohl bestimmt anzunehmen. Es ist nur immer 
die Streitfrage, wie lange es überhaupt lebensfähig bleibt. Und daraus 
kann man doch aus der Stickstoffkurve und aus der Harnsäure- 
kurve einige Schlüsse ziehen. Daß die Stickstoffmehrausscheidung noch 
4—5 Tage nach der Transfusion anhält, aber in dieser Zeit schon 
wieder langsam abfällt, während auf der anderen Seite die Zahl 
der Erythrocyten bei den günstig beeinflußten Fällen ansteigt, läßt 


810 Weicksel: Über Stoffwechsel- 


einem doch die sichere Vermutung aussprechen, daß die Mehrstickstoff- 
ausscheidung hauptsächlich der Ausdruck des abgebauten Spender- 
blutes ist und daß dann nach 4-5 Tagen, wenn die Stickstoffkurve 
annähernd wieder die alten Werte erreicht hat, sämtliches Spenderblut 
angebaut worden ist, daß dagegen die im Organismus durch Reizung 
ausgeschwemmten eigenen Blutkörperchen längere Zeit lebensfähig ge- 
blieben und noch nicht wieder zerstört sind, sonst dürfte trotz des 
Anstiegs der Erythrocyten die Stickstoffkurve nicht abfallen, wenn die 
bluteigenen ausgeschwemmten Erythrocyten auch so schnell abgebaut 
würden wie die Spenderblutkörperchen. 

Harnsäurebestimmungen sind bei der perniziösen Anämie in recht 
beträchtlicher Zahl ausgeführt worden. Doch sind alle diese Bestim- 
mungen der Purinkörperausscheidung ohne genaue Berücksichtigung 
der Diät an sich wertlos. Nach den Arbeiten von Kaufmann und Mohr 
sind nun die endogenen Purinwerte bei verschiedenen Personen zwar 
verschieden, bei ein und derselben Person aber einigermaßen konstant, 
unter der Berücksichtigung einer entsprechenden purinarmen Diät; 
und zwar schwankten die Werte zwischen 0,15 bis 9,3 g pro die; Ergeb- 
nisse, die auch wir bestätigen konnten. Es besteht nun kein Zweifel, daß 
bei einer Anzahl von Fällen von perniziöser Anämie die Ausscheidung 
der endogenen Purinkörper zeitweise gesteigert ist. Insbesondere konnte 
Rosengquist dies bei der Bothriocephalusanämie vor der Abtreibung des 
Wurmes beobachten. Aus dieser Steigerung bei der perniziösen Änämie 
kann man den Schluß ziehen, daß im Verlaufe der Krankheit zeitweise 
ein erhöhter Zerfall von kernhaltigem Gewebe stattfinden muß. Nach 
den Literaturangaben scheint die gesteigerte Purinkörperausscheidung 
bei der Bothriocephalusanämie hochgradiger zu sein als bei der kryp- 
togenetischen Anämie; wenigstens waren bei den Fällen, die wir an 
unserer Poliklinik untersuchen konnten, sehr hochgradige Schwankungen 
der Harnsäureausscheidung nicht zu beobachten. Außerdem wurden 
unsere Patienten im Versuch stets purinarm ernährt. Nach den Blut- 
transfusionen war nun stets ein Anstieg der Harnsäureausscheidung im 
Urin zu konstatieren, und zwar begann der Anstieg gewöhnlich schon kurz 
nach der Transfusion. Die Höchstausscheidung fand sich dann am näch- 
sten Tag, und hielt diese Mehrausscheidung auch wieder 3-4 Tage 
an, um dann am 4. bzw. 5. Tage wieder annähernd die alten Werte 
zu erreichen. Wie soll man sich nun diese Mehr ausscheidung der Harn- 
säure erklären? Daß sie kurz nach der Transfusion auftrat und nach 
etwa 4 Tagen wieder geschwunden war, läßt doch zweifellos den Schluß 
nahe, daß die Mehrausscheidung mit dem Zerfall der kernhaltigen Zellen 
des Spenderblutes in Zusammenhang gebracht werden darf. Um dies 
zu ergründen, haben wir auch Untersuchungen der Purinbasen im Blute 
bei Gesunden und Perniziösen vorgenommen und wir konnten fest- 








und Harnsäureuntersuchungen bei bluttransfundierten Perniziösen. 811 


stellen, daß der Purinbasengehalt des gesunden Blutes weit höher ist 
als der unserer perniziösen Patienten!). Zahlreiche Untersuchungen 
an Gesunden (nüchtern), die nach unseren Angaben 3 Tage lang eine 
möglichst purinarme Diät zu sich genommen hatten, ergaben Werte 
von 25 bis 30 mg in 100 ccm Blut. Dagegen war der Purinbasengehalt 
im Blute von Hypertonikern weit höher und betrug 50 und mehr mg 
in 100 ccm. Es muß natürlich betont werden, daß diese Werte nur als 
Vergleich Anspruch auf Exaktheit haben, wenn auch mit Hilfe der 
Murexidprobe der qualitative Nachweis der Anwesenheit von Purin- 
basen erbracht werden konnte, so wird die quantitative Bestimmung 
der Purinbasen so durchgeführt, daß der Stickstoffgehalt der als Kupfer- 
salze gefällten Purine bestimmt wird. Da nun die Methode genau immer 
in der gleichen Weise gehandhabt wurde, so darf ein evtl. Fehler vernach- 
lässigt werden. Wir haben nun in 3 Fällen das gesunde Spenderblut und 
zugleich das perniziöse Empfängerblut auf Purinbasen untersucht und 
wir fanden in 1 Fall (Nr. 5) einen Purinbasengehalt von 30,54 mg auf 
100 cem Blut und bei dem Perniziösen einen Purinbasengehalt von nur 
19,6 mg auf 100ccm. In einem anderen Fall (3) fanden wir einen Purin- 
basengehalt von 25,8 mg im gesunden Blut und von 17,3mg pro 100 ccm 
im perniziösen Blut. Bei Fall 4b wurde Blutkuchen und Serum getrennt 
untersucht. Das Spenderblut gab durch Zentrifugieren 40 ccm Serum 
und 60 cem Blutkuchen. In ersterem fanden wir 4,6 mg Purinbasen und 
im Blutkuchen 20,4, insgesamt also 25 mg pro 100cem Blut. Das perni- 
ziöse zentrifugierte Blut ergab 80 ccm Serum und 20 ccm Blutkuchen; in 
ersterem fand sich dann 3,9 und im Blutkuchen 12,4 mg, insgesamt also 
16,3 mg Purinbasen pro 100 cem Blut. Wir sehen also, daß das Serum 
' an freien Purinbasen zwischen gesundem und perniziösem Blut nicht 
sehr unterschiedlich ist. Dagegen ist der Purinbasengehalt der gebun- 
denen Purine in den Kernen beim gesunden Blut weit höher als beim 
perniziösen, was zweifellos durch die starke Differenz der Leuko- 
zyten beim Gesunden und Perniziösen bedingt wird. Mit anderen 
Worten, die freien Purine können wir bei unseren Versuchen wohl außer 
Rechnung setzen, da die Mehrausscheidung an Harnsäure nach der 
Transfusion bei den perniziösen Patienten zweifellos auf den Zerfall der 
kernhaltigen Zellen des Spenderblutes zurückgeführt werden darf. Wenn 
man auch gewöhnlich einen Parallelismus zwischen den Schwankungen 
der Purinkörperausscheidung und denen der Stickstoffbilanz nicht ziehen 
kann, da ja die Bilanz nur ein Bild des gesamten Eiweißzertalls 
gibt, während die Purine das Resultat des Kernzerfalls darstellen 
und beide Prozesse keineswegs parallel zu verlaufen brauchen, so können 
wir doch in unseren Fällen zweifellos einen gewisen Parallelismus fest- 


1) Die Purinbasceuntersuchungen wurden von Herrn Dr. Kampfhammer im 
physiologisch-chemischen Institut ausgeführt, wofür ich ihm hier nochmals danke. 


812 Weicksel: Über Stoffwechsel- 


stellen, und zwar kommt das daher, daß ja nach der Transfusion der ge- 
samte Eiweißzerfall der Erythrocyten und der Kernzerfall der Leuko- 
cyten des Spenderblutes etwa zu gleicher Zeit stattfindet und folglich 
auch bei den Untersuchungen zu gleicher Zeit festgestellt werden 
mußte. Ob daneben noch infolge des Reizes der Transfusion Harnsäure 
aus dem Organismus des Perniziösen mobilisiert worden ist und im Urin 
dann wieder erscheint, darüber wage ich kein Urteil zu fällen; möglich, 
daß eine geringe Menge davon mit ausgeschieden wird. Die Hauptaus- 
scheidung ist aber wohl zweifelsohne durch den Zerfall der kernhaltigen 
Zellen des Spenderblutes bedingt. Aus diesen Untersuchungen kann man 
vielleicht doch einen Schluß für die Lebensdauer der transfundierten 
fremden Zellen ziehen, und zwar möchte ich annehmen, daß wenigstens 
ein Teil davon eine Zeitlang noch lebensfähig bleibt, da die wesentliche 
Mehrausscheidung von Gesamtstickstoff und Purinkörpern doch bei 
allen untersuchten Fällen 3—4 Tage anhält und wir in allen Fällen erst 
am 4. bzw. 5. Tage wieder annähernd normale Stickstoff- und Harn- 
säurewerte finden, mit anderen Worten, daß bis dahin das transfun- 
dierte Blut restlos aus dem Organismus des Empfängers wieder abge- 
geben worden ist. Würde es dagegen sehr schnell schon nach Stunden 
völlig abgebaut, so dürfte die Mehrausscheidung nicht 4 Tage anhalten. 
Natürlich dürfen diese wenigen Fälle nicht genügen, um daraus absolute 
Schlüsse ziehen zu wollen, und weitere Untersuchungen müssen selbst- 
verständlich noch vorgenommen werden. Aber immerhin sind meine 
Resultate doch bis zu einem gewissen Grad zu verwerten. 

Bei der Gesamtstickstoffbestimmung im Blut fand man, wie auch 
zu erwarten war, kurz nach der Transfusion einen geringen Anstieg. 
Derselbe war aber nie sehr erheblich, da doch sicher ein Teil der 
transfundierten Zellen sofort in Leber und Milz niedergeschlagen wird. 
Würde andererseits alles Spenderblut sofort niedergeschlagen, so dürfte 
wieder die Blutstickstoffkurve nicht ansteigen. Nur in Fall 3 waren die 
Schwankungen ziemlich stark. Eine Erklärung hierfür kann ich nicht 
erbringen. 

Der Reststickstoff ist bei den untersuchten Fällen gar nicht beein- 
flußt worden. Ein Anstieg des Reststickstoffs im peripheren Blute ist 
ja auch, wie ich bereits in meiner Arbeit über ‚künstlich erzeugte 
Pyrogallolanämie‘‘ zeigen konnte, bei intakter Niere selbst bei ver- 
stärktem Eiweißzerfalls nicht unbedingt erforderlich, weil ja die Aus- 
scheidung des Stickstoffs regulatorisch durch die Niere erfolgt. | 

Das Serumeiweiß und die Serumviscosität ist bei meinen Fällen auch 
relativ normal gefunden worden. Es ist ja bekannt, daß gerade das 
Serumeiweiß bei perniziöser Anämie ziemlich lange normal bleibt, und 
erst in den letzten Stadien vor dem Tode kann man einen Abfall des 
Serumeiweißes beobachten. Siehe Fall 4b. Die relativ hohen Werte sind 





und Harnsäureuntersuchungen bei bluttransfundierten Perniziösen. 813 


wohl bedingt durch den ständigen verstärkten Eiweißabbau bei der perni- 
ziösen Anämie, und erst in den schwersten Fällen, wo eine allgemeine 
Funktionslähmung eintritt, sinkt auch der Eiweißgehalt im Serum und 
mit dem relativ hohen Eiweißgehalt im Serum geht natürlich auch 
parallel eine ziemlich normale Serumviscosität, die ja hauptsächlich vom 
Eiweißgehalt des Serums abhängt. Viscositätsuntersuchungen des Ge- 
samtblutes, die wir auch vorgenommen haben, ergaben natürlich im 
Vergleich zum Normalen weit geringere Werte und schwankten je nach 
der Zahl der geformten Elemente im Blute zwischen 2, 5 und 4,0. 
Nach diesen Resultaten kann man sagen, daß die intravenöse Trans- 
fusion nativen Blutes, wie sie mittels des Oehleckerschen Apparates sehr 
einfach möglich ist, zweifellos das Leben des Empfängers verlängert. 
Eine Ansicht, die wohl heute von fast allen Autoren geteilt wird. Ge- 
wisse Vorsichtsmaßregeln (Agglutinations- und Hämolyseproben und 
Wassermann) müssen natürlich immer beachtet werden. Nebenerschei- 
nungen der Transfusion (Fieber usw.) sind im allgemeinen nicht er- 
heblich. Mann kann aber mittels dieser Transfusion nach Oehlecker 
auch nur einen vorübergehenden Erfolg erzielen. Von den meisten 
Autoren wird die Transfusion nativen Blutes nur als Stimulanz des 
Knochenmarks angesehen. Viele empfehlen daher auch die intramus- 
kuläre Injektion von nur 10—2) ccm Blut in kürzeren Pausen, da sie 
glauben, daß nur der Reiz als solcher aufs Knochenmark das Wirksame 
der Injektion ist. Bürger will neuerdings mit großen wiederholten Trans- 
fusionen defibrinierten Blutes eines Blutsverwandten eine echte Sub- 
stitutionstherapie treiben. Eigene Erfahrungen fehlen mir über diese 
Methode. Aber ob nicht bei der Transfusion die Blutzellen eines Bluts- 
verwandten nicht doch länger lebensfähig beim Empfänger bleiben als 
die eines Fremden, ist mir mehr als wahrscheinlich! Auch meine Ver- 
suche schienen dafür zu sprechen. Aber um diese Frage entscheiden zu 
können, muß man selbstverständlich über ein sehr reiches Material ver- 
fügen. Mittels der intramuskulären Injektion kleinerer Mengen Blutes 
habe ich persönlich nur wenig Erfolge gesehen, während die Oehleckerschen 
Transfusionen das Leben unserer Patienten zweifellos verlängert haben. 
Wie gering aber die Dauererfolge sind, beweist, daß von den 12 Patienten, 
welche wir beobachten konnten, nur noch einer am Leben ist, und zwar 
der, welcher zuletzt, also erst vor kurzer Zeit in unsere Behandlung ge- 
kommen ist. Alle anderen Patienten sind nach der 2., spätestens nach 
der 3. Transfusion gestorben. Die Dauer der Beobachtung betrug bei 
5 Patienten etwa 1 Jahr, bei den übrigen 1!/,—2 Jahre. Die Dauer der 
Erkrankung schätzungsweise 1—3 Jahre. Nach der Transfusion wurde 
natürlich in allen Fällen noch Arsen verordnet, und zwar in großen Dosen. 
Es ist ja bekannt, daß seit Einführung des Arsens in die Therapie der 
perniziösen Anämie viel häufiger als früher Remissionen bei dieser Er- 


814 Weicksel: Über Stoffwechsel- und Harnsäureuntersuchungen usw. 


krankung beobachtet worden sind. Milzexstirpationen haben wir bei 
unseren Kranken niemals vorgenommen. Da aber die Funktion der Milz 
ja bekanntlich sehr schnell von Knochenmark, Leber und Lymphdrüsen 
übernommen wird, so kann ich mir von dieser Operation auch keinen 
Dauererfolg vorstellen, sondern glaube nur, daß durch die Entfernung 
der Milz vorübergehend ein starker Reiz auf das Knochenmark ausgeübt 
wird, der dasselbe zu verstärkter Tätigkeit anregen kann, aber auch nur 
ein vorübergehender sein kann. Bluttransfusion und Arsentherapie 
bleiben noch die erfolgreichsten Maßnahmen bei echter perniziöser 
Anämie. 





Literatur. 


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S. 1143 u. 1663; 1, Nr. 10. 1924; Zeitschr. f. klin. Med. 9%. — 36) Wetterer, Dtsch. 
med. Wochenschr. 1922, Nr. 23. 








Ein Beitrag zur röntgenologischen Darstellung der Harnwege 
mit Kontrastmitteln. 


Von 
Dr. Paul Wichels und Dr. Alfred Behrens, 
Assistenten der Medizin. Universitätsklinik Göttingen (Direktor: Prof. Erich Meyer). 


(Eingegangen am 9. Juli 1924.) 


Über die Lage und Gestalt der Harnwege gibt die Cystopyelographie 
klinisch die exaktesten Aufschlüsse. Sie ist von Voelker und von 
Lichtenberg in die Untersuchungsmethoden der Urologie eingeführt 
_ worden. Als Kontrastmittel wurde das Collargol empfohlen. Wenn auch 
von Lichtenberg selbst nie Schädigungen von der Collargolfüllung der 
Harnwege gesehen hat, so gibt er doch zu, daß colloidale Präparate un- 
kontrollierbar sind in Fabrikation und Wirkung, und daß sie besonders 
bei ungeeignetem Schutzkolloid Blut- und Gefäßschädigungen auslösen 
können. 

In der Literatur wird verschiedentlich über Schädigungen der Harn- 
wege durch Collargolfüllung berichtet. Neben Allgemeinerscheinungen, 
die mit Fieber und Leibschmerzen einhergingen, hat man umschriebene 
Reizungen und Läsionen des Nierenbeckens (Barreau), Infiltrationen 
des perirenalen Gewebes und des Nierenparenchyms (Brütt, Cecil W. Vest) 
beobachtet, die in drei Fällen vielleicht den Tod der Patienten verur- 
sachten (Vest). Das Platzen eines Hydronephrosensackes mit nachfol- 
gender Peritonitis bei einem Patienten von v. Hoffmann ist wohl nicht 
als reine Collargolschädigung aufzufassen. Von anderen kolloidalen 
Kontrastmitteln hat sich das Pyelon, ein kolloidales Jod-Silberpräparat, 
wegen seiner großen Giftigkeit nicht in die urologische Praxis einzuführen 
vermocht. Es löste Schüttelfrost, hohes Fieber und heftige Schmerzen 
aus bei einwandfreier Technik (Barreau, Narath). 

Die Mehrzahl der Kliniker bevorzugt heute kristalloide Lösungen und 
zwar Brom- und Jodsalze, deren Gefahren wesentlich geringer sein sollen 
(Brütt, Merritt). Besonders das Bromnatrium hat sich einen hervor- 
ragenden Platz in der Cystopyelographie erobert und wird in 20— 30 proz. 
Lösung angewandt. Nach von Lichtenberg ist eine 25 proz. Lösung ungiftig 
und ruft trotz ihrer hochgradigen Hypertonie keine lokalen Reizerschei- 
nungen hervor. 

Dennoch sind in der Literatur mehrfache Beobachtungen über Schä- 
digungen infolge resorptiver und lokaler Bromnatriumwirkung bekannt 
geworden. 

7. f. klin. Medizin. Bd. 100. 53 


s16 P. Wichels und A. Behrens: Ein Beitrag 


Boehringer sah nach Anwendung von 30 proz. Natriumbromidlösung 
Hämaturie und Koliken, eine Cystographie mit 150 ccm der Lösung 
hatte eine hämorrhagische Cystitis zur Folge. Neupert berichtet über eine 
nekrotisierende Cystitis bei Anwendung einer 20 proz. Lösung. Armen- 
trough beschreibt renale Koliken, Grauhan heftige Schmerzen und 
Temperatursteigerungen nach einer Pyelographie mit 25 proz. Lösung. 
Beobachtungen über Blasentenesmen teilen Dehmel, Gaudy und Stob- 
baerts mit. 

Neben dieser lokalen Schädigung sind auch resorptive Giftwirkungen 
beobachtet, die besonders leicht bei entzündeter Schleimhaut aufzu- 
treten scheinen (Krdd, Francois). 

Eine Kombination von lokalen und resorptiven Schädigungen konn- 
ten wir in der hiesigen Chirurgischen Klinik (Prof. Stich) mit beobachten. 
Der Fall wird von Herrn Dr. Lanzius demnächst veröffentlicht werden. 
Neben Brennen in der Blase und Harnverhaltung, die nach der Sektion 
auf eine tiefgreifende nekrotisierende Cystitis zu beziehen waren, trat 
bei dem Patienten eine zunehmende Somnolenz ein, die allmählich unter 
den Erscheinungen einer Bromvergiftung zum Exitus führte. 

Solche resorptiv entstehenden Vergiftungen können auf verschie- 
denem Wege eintreten. Die Resorption könnte einmal von der in- 
takten Blasenschleimhaut aus erfolgen, der Bazy, Maß und Pinner eine 
Resorptionsfähigkeit zuschreiben. Gegen diese Auffassung sprechen 
allerdings ältere Versuche von Boyer und Guinard, Alapy, Levin und 
Goldschmidt. 

Nach experimentellen Untersuchungen von Morro und @äbelein 
hängt die Resorptionsfähigkeit der Blase von der Konzentration des in 
sie hineingebrachten gelösten Stoffes ab: je höher die Konzentration, 
desto mehr wird resorbiert. Mit der Resorption einher geht der Über- 
tritt von Wasser und Kochsalz aus dem Gewebe in die Flüssigkeit. 
Eine gewisse Bestätigung finden diese Befunde durch Shoji. Er wies 
nach, daß eine 1 proz. Kochsalzlösung in der Blase unverändert bleibt; 
aus einer 0,5proz. Lösung wird Wasser resorbiert, bei einer 0,25 proz. 
Lösung nimmt der Wassergehalt ab und der Kochsalzgehalt zu. Bei einer 
2 proz. Lösung dagegen tritt Wasser in die Blase, und Kochsalz kommt 
zur Resorption. 

Daß eine entzündete Blase resorbiert, erwähnt Kidd (L. c.). Gerade 
deswegen warnt er ja vor der Anwendung des Bromnatriums bei Cystitis. 
Auch Caspar hält die entzündete Blase für besonders resorptionsfähig. 
Nach Oohnheim findet eine Diffusion von Kochsalz-Traubenzucker- 
lösung nur bei Läsion des Epithels statt. 

Eine derartige Entzündung und Epithelschädigung der Blase kann, 
wie aus den zitierten Arbeiten hervorgeht, das Bromnatrium bewirken. 
Es bereitet so durch eine lokale Schädigung, die wohl als osmotische 


zur röntgenologischen Darstellung der Harnwege mit Kontrastmitteln. 817 


Wirkung aufzufassen ist, seine eigene Resorption vor. Die von allen 
Autoren erwähnte Latenzzeit zwischen dem ersten Auftreten von 
Blasenbeschwerden und allgemeinen Vergiftungserscheinungen läßt sich 
auf eine langsam einwirkende osmotische Schädigung der Schleimhaut 
und der dadurch bedingten besseren Resorptionsfähigkeit der Blase 
zurückführen. 

Ein anderer Weg der Resorption des Bromnatriums ist durch die aus- 
gezeichnete Aufnahmefähigkeit der Schleimhaut der Urethra, der Ure- 
teren und des Nierenbeckens gegeben. Dieses der Blasenschleimhaut 
gegenüber abweichende physiologische Verhalten wird von Lewin und 
Goldschmidt, Alapy und Bazy betont. Es ist wohl mit Sicherheit auf die 
Verschiedenheit des Epithels dieser Organe und der Blase zurückzu- 
führen (Cylinder-Plattenepithel) und findet eine Analogie in den Be- 
obachtungen Heubners, der bei Inhalationsversuchen mit flüssigen Farb- 
lösungen die gute Resorptionsfähigkeit der mit Cylinderepithel ausge- 
kleideten Abschnitte der Luftwege gegenüber den mit Plattenepithel 
ausgestatteten hervorhebt. 

Die Toleranzgrenze des tierischen Organismus dem Bromnatrium 
gegenüber ist im allgemeinen hoch. Aber wenn auch in Anbetracht der 
geringen Kapazität der in Frage kommenden Organe — von Hydrone- 
phrosen und dergl. abgesehen — nur kleine Mengen von Natriumbromid 
zur Resorption gelangen können, so zeigt doch die Beobachtung von 
Beard, daß schon eine Menge von 6,5 g Bromkali per os unter Umständen 
eine typische Bromvergiftung hervorrufen kann. 

Die von einigen Autoren vorgeschlagene Anwendung von Jodsalzen 
an Stelle von Bromsalzen scheint uns keine Verbesserung zu sein. Das 
Jodnatrium ist nach vielen Beobachtungen (Meritt u. a.) bedeutend 
toxischer als das Bromnatrium. Besonders die gegen Jod vorkommenden 
Idiosynkrasien sind unserer Ansicht nach ein wichtiger Gegengrund 
gegen die Verwendung der Jodsalze. Auch das neuerdings für die Pyelo- 
graphie empfohlene (Golm) und von Kahlbaum in den Handel gebrachte 
Umbrenal, eine Jod-Lithiumverbindung, erscheint uns ebenso wie 
das von Pretorius empfohlene kolloidale Jod-Silber aus diesem Grunde 
nicht unbedenklich. 

Wenn wir auch einen Teil der Schädigungen .bei der Cystopyelo- 
graphie als Folgen fehlerhafter Technik — zu hoher Injektionsdruck, zu 
langes Verweilen des Kontrastmittels in den Harnwegen — ansehen 
können, so bleiben doch genug Beobachtungen von Unfällen, die bei 
einwandfreier Technik allein auf das Kontrastmittel zurückzuführen 
sind. Es ist wünschenswert, besonders für die röntgenographische Dar- 
stellung von Blasendivertikeln, ein Kontrastmittel zu haben, das auch 
bei längerem Verweilen in der Blase möglichst geringe Schädigungen 
lokaler oder gar resorptiver Art auslöst. 

53* 


818 P. Wichels und A. Behrens: Ein Beitrag 


Angeregt durch die Untersuchungen von Berberich und Hirsch u. a. 
über die röntgenographische Darstellung von Gefäßen am Lebenden 
durch Strontiumbromid glaubten wir, in diesem Mittel einen ungefähr- 
lichen Ersatz für das Bromnatrium bei der Cystoradiographie zu 
finden. Eine 20 proz. Strontiumbromidlösung gibt röntgenographisch 
einen nur etwas weniger intensiven Schatten als eine entsprechende 
Bromnatriumlösung, wie wir in eigenen vergleichenden Untersuchungen 
feststellen konnten. 

Da aber der Bromgehalt des Strontiumbromids (64,63%) gegenüber 
dem des Bromnatriums (77,5%) nur etwa 13% geringer ist, konnten wir 
die Gefahr einer unerwünschten Bromwirkung nicht ausschließen. 
Ein wesentlicher Vorteil schien jedenfalls mit der Wahl dieses Stoffes 
nicht gewonnen zu sein. Deshalb dehnten wir unsere Versuche auch auf 
andere Strontiumsalze aus, um einen geeigneteren Ersatz zu finden. 

Strontium steht pharmakologisch dem Calcium nahe, besondere 
Schädigungen waren daher von ihm in der anzuwendenden Dosierung 
seiner Salze nicht zu erwarten und sind uns aus der Literatur auch nicht 
bekannt geworden. Nach Gmelin führen 7 g Strontiumchlorid beim 
Kaninchen zu keiner Schädigung, 15 g zu motorischer Lähmung und Tod. 
Die völlige Unschädlichkeit der löslichen Strontiumsalze betont Laborde. 
Blake hat in Versuchen als tötliche Dosis pro Kilo Körpergewicht 0,38 g 
Strontium ermittelt. Die letale Dosis bei intravenöser Verabreichung 
steht also der des Calciums mit 0,5g pro Kilo Körpergewicht nahe. 
Eine Kontraindikation gegen die Verabreichung größerer Mengen Stron- 
tium besteht — allerdings wohl nur bei länger dauernder Zufuhr — nach 
Lehnerdt nur bei graviden und stillenden Frauen, deren Kinder durch die 
Verabreichung des Strontiums an die Mutter sich schwere Knochen- 
erkrankungen zuziehen können. 

Wegen des hohen Bromgehaltes des Strontiumbromids gingen wir 
daher zu anderen Strontiumsalzen über und prüften zunächst das Nitrat. 
Eine 35—40 proz. Lösung ergab röntgenographisch ungefähr die gleiche 
Schattentiefe wie eine 20 proz. Strontiumbromidlösung. Dies Strontium- 
salz ist am besten löslich, seine Lösung jedoch nicht sterilisierbar, da 
das Nitrat beim Kochen Sauerstoff abgibt und in der Flüssigkeit Nitrite 
nachweisbar werden. Unsere Versuchstiere gingen sämtlich an Nitrit- 
vergiftung zugrunde. Es ist aber wohl anzunehmen, daß in einer so hoch- 
prozentigen Salzlösung Bakterien zugrunde gehen und eine Sterilisation, 
wenn man nur steriles Wasser zur Lösung nimmt, unnötig ist. Wenn 
man auch so das Hereinbringen von Nitritverbindungen in die Blase 
vermeidet, erscheint doch eine Reduktion des Nitrats in Nitrit im Or- 
ganismus nach der Resorption wohl möglich, trotzdem exakte Unter- 
suchungen in der Literatur jedenfalls für anorganische Verbindungen 
fehlen. | 


EEE 


zur röntgenologischen Darstellung der Harnwege mit Kontrastmitteln. 819 


Von anderen löslichen Strontiumsalzen kommen nur das Laktat und 
das Chlorid in Frage. Der Verwendung des Strontiumlaktats ist eine 
Grenze durch seine relativ schlechte Wasserlöslichkeit gesetzt. Wir 
benutzten deshalb später für unsere Versuche ausschließlich Strontium- 
chlorid. Das Strontiumchlorid ist bei Zimmertemperatur bis zu 35% 
löslich. Angewandt wurde eine 20—30 proz. Lösung; die 30 proz. Lösung 
entspricht röntgenographisch ungefähr einer 20 proz. Bromnatrium- 
lösung, wie wir in verschiedenen Versuchsreihen feststellen konnten. 
Sie ist für die Cystoradiographie vollkommen ausreichend. Es gelingt 
auch die Darstellung des Nierenbeckens und des Ureters, der Schatten 
ist jedoch etwas schwächer, als der der sonst üblichen 25 proz. Brom- 
natriumlösung. 

Die Möglichkeit einer osmotischen Schädigung der Schleimhaut der 
Blase und des Nierenbeckens ist beim Strontiumchlorid viel geringer 
als beim Bromnatrium in gleicher Konzentration. So ist z. B. die 25 proz. 
Strontiumchloridlösung 1,5 n; die 25 proz. Natriumbromidlösung 2,4 n. 
Einer 1,5 n Strontiumchloridlösung entspricht eine Gefrierpunkts- 
depression von — 6,8° (interpoliert nach Landoldt-.Boernstein- Roth), 
einer 2,4 n Natriumbromidlösung eine solche von — 10,0° (extrapoliert 
nach L. B. R.). Die osmotischen Drucke verhalten sich also wie 6,8 zu 
10. Physikalisch ist demnach die 25proz. Strontiumchloridlösung viel 
weniger wirksam als die 25proz. Natriumbromidlösung. Man müßte 
also bei der Cystopyelographie Strontiumchloridlösungen vor Natrium- 
bromidlösungen den Vorzug geben wegen der geringeren Gefahr einer 
osmotischen Schädigung der Epithelien. Dies ist auch bei unseren 
Versuchen zum Ausdruck gekommen. Wir haben bei der Cystoradio- 
graphie niemals Tenesmen gesehen, wie sie bei der Verwendung von 
Natriumbromidlösungen häufig beobachtet werden. 

Wegen der in der Literatur niedergelegten Schäden durch das Brom- 
natrium und die kolloidalen Metalle möchten wir daher die Anwendung 
des Strontiumchlorids für die Cystoradiographie empfehlen. 

Besonders bei der radiographischen Darstellung von Blasendiver- 
tikeln scheinen uns die Strontiumsalze von Wert zu sein. Auch wenn 
sie im Divertikel in größerer Menge retiniert werden, ist außer einer et- 
waigen osmotischen Einwirkung keine resorptiv toxische Schädigung 
zu erwarten. Über die Brauchbarkeit der Strontiumchloridlösungen zur 
Darstellung des Nierenbeckens können wir noch kein endgültiges Urteil 
fällen, da die Zahl unserer Untersuchungen auf diesem Gebiet noch zu 
gering ist. Wir werden später darüber berichten. 


820 P. Wichels und A. Behrens: Ein Beitrag usw. 


Literatur. 


1) v. Lichtenberg, Zeitschr. f. urol. Chirurg. 8, 24. 1921. — ?) Barreau, Zeitschr 
f. Urol. 15 .1921. — ?) Brütt, Zeitschr. f. urol. Chirurg. 10. 1922. — ?) Cecil, W. 
Vest, zit. nach Kongreßzentralbl. f. inn. Med. 10, 352. 1914. — 5) v. Hoffmann, 
Folia urol. 8, 393. 1914. — ®) Narath, Zeitschr. f. Urol. 16, 365. 1922. — ?) Meritt, 
zit. nach Kongreßzentralbl. f. inn. Med. 21, 322. 1912. — 8) Neupert, Klin. Wochen- 
schrift 1924, Nr. 6. — °) Grauhan, Zeitschr. f. urol. Chirurg. 10. — 10) Demel, Mitt. 
a. d. Grenzgeb. d. Med. u. Chirurg. 35, 477. 1922. — !!) Gaudy und Stobbaerts, ref. 
im Zentralorg. f. Chirurg. 21. — 1?) Kitt, ebenda 19. — 1?) Francois, ebenda 15. — 
14) Bazy, zit. nach Maly, Jahresber. d. Tierchem. 24, 356. — 1°) Mass und Pinner, 
Dtsch. Zeitschr. f. Chirurg. 14. — 1%) Boyer und Guinard, zit. nach Maly, 1. c. 
24, 256. — 17) Alapy, zit. nach Maly, 25, 356 u. 360. — 18) Lewin und Gold- 
schmidt, zit. nach Maly, 26, 531. — 1?) Morro und Gaebelein, zit. nach Maly, 
27. 331. — 2?) Shoji, Jahresber. f. d. ges. Physiol. 6, 96. — ?!) Caspar, Lehr- 
buch der Urologie. — 22) Cohnheim, zit. nach Maly. 31, 568. — 2) Kunkel, 
Toxikologie. — **) Kobert, Toxikologie. — ®) Alwens, Therapeut. Halbmonatsbl. 
1, 1.1921. — ?°) Berberich und Hirsch, Klin. Wochenschr. 1923, S. 2226. — 2°) Lan- 
dois-Rosemann, Physiologie. Bd.I. 8.436. 28) Landoldt-Boernstein- Roth, 
Physikalisch-chemische Tabellen. — 2%) Golm, Med. Klinik 1924, Nr. 12, S. 379. 





Neues zur Lehre vom Pulse und zur Auffassung der 
Hochdruckstauung. 


Von 
Dr. med. Max Reh. 


(Eingegangen am 25. Juni 1924.) 


Nach Weber, dessen Darstellung der Wellenbewegung für die Puls- 
lehre von größter Bedeutung gewesen ist, wird die Fortbewegung des 
Blutes in den Arterien ‚nicht nur durch Wellen sondern auch durch 
Strömung‘ bewirkt (1850). Es war nicht von Vorteil für die Theorie des 
Kreislaufs, daß man den Anteil der Wellen an der arteriellen Blutbe- 
förderung ganz vernachlässigt und sich dieser Eigenart der Blutbewegung 
nie erinnert hat, wenn es galt, eine Erklärung für Kreislaufsprobleme 
zu finden; ja, daß man durch Webers klare Definition des Begriffs der 
Welle: unda enim non est materia progrediens sed forma materiae 
progrediens (1834), sich veranlaßt fühlte, die Pulswelle lediglich als eine 
durch die rhythmische Tätigkeit des Herzens bedingte Begleiterschei- 
nung der arteriellen Blutbewegung zu betrachten. 

Wenn man sich überlegt, daß die Pulswelle ihre Entstehung dem Be- 
streben der Gefäßwände verdankt, eine im Anfang des Gefäßsystems 
bewirkte Massenanhäufung auszugleichen, so liegt der Gedanke nahe, 
daß gerade die Pulswelle bei der arteriellen Blutbeförderung die Haupt- 
rolle spielt. Da dies jedoch den Prinzipien der Wellenlehre in ihrer seit- 
herigen Entwicklung zu widersprechen scheint, war es angebracht, 
durch einfache Versuche die Möglichkeit einer überwiegend durch 
Wellen bewirkten Flüssigkeitsbeförderung nachzuweisen. Ein solcher 
Versuch sei hier geschildert. Ich rief in einem 10 m langen Gummi- 
schlauch durch rasches Einpressen von 1 ccm Wasser mit Hilfe einer 
Stempelspritze eine Welle hervor. Schloß ich nun das letzte Viertel des 
Schlauches, das mit einer aufrechten Bürette endigte, durch einen (vor- 
her offen gehaltenen) federnden Quetschhahn unmittelbar nach dem 
Durchgang der Welle ab, so konnte ich (nach Senkung der Bürette auf 
den Anfangsdruck) feststellen, daß in der Bürette fast genau 1 ccm Wasser 
mehr vorhanden war. Es war in der kurzen Zeit des Wellenablaufs ein 
dem eingepreßten äquivalentes Volum durch den Schlauch befördert 
worden. Ich weise ferner auf eine Tatsache hin, welcher in bezug auf 
die durch den Puls erfolgende Blutbeförderung eine gewisse Beweis- 
kraft zukommen dürfte. Es ist die Blutbeförderung unter einer Blut- 
druckmanschette hindurch, welche den diastolischen Teil des Pulses 


822 M. Reh: Neues zur Lehre 


unterdrückt. Wenn das möglich ist, so ist nicht einzusehen, warum die 
Pulswelle im unbeeinflußten Pulse nicht Ähnliches leisten sollte. In der 
Tat ergaben die Untersuchungen Hewletts und seiner Mitarbeiter, die mir 
erst später bekannt wurden, daß mit dem Pulse eine erhebliche Weiterbe- 
förderung von Blut verbunden ist, ja, daß in den mittleren Arterien 
die pulsatorische Blutbeförderung normalerweise die einzige ist, wogegen 
in diesen Gefäßen die Strömung in der Pulspause gleich null ist, ja herz- 
wärts verlaufen kann. Damit dürfte als bewiesen betrachtet werden, 
daß die Pulswelle von überwiegender Bedeutung für die arterielle Blut- 
beförderung ist, wie das neuerdings auch Sahli annimmt. — 

Wenn wir im folgenden die pulsatorische Blutbeförderung als Tatsache be- 
trachten, so ist im Auge zu behalten, daß die Pulswelle nicht etwa das ursprüng- 
liche Schlagvolum mit Pulswellengeschwindigkeit bis in die Peripherie des Arterien- 
systems schafft, obwohl die Wirkung fast die gleiche ist, als wenn das geschähe. 
Es wird vielmehr von Abschnitt zu Abschnitt des Systems das beförderte Blut 
ständig erneuert, wenn auch nicht verlustlos. Durch diese Bewegung, welche sich 
— nacheinander Teil für Teil ergreifend — über die Blutsäule hinzieht, wird der 
Schwerpunkt der gesamten Arterienfüllung um eine gewisse Strecke verschoben. 
Das ist an sich nichts Neues, sondern eine bekannte Eigenschaft der Bergwelle 
(Grashey). Für die Auffassung des Pulses als Hauptfaktor der arteriellen Blut- 
beförderung ist es aber nötig, dieser Verschiebung einen nicht unerheblichen 
Größenwert zuzuerkennen, die „fortschreitend schwingende Bewegung der Einzel- 
teilchen, welche die einzig wirkliche Bewegung der Flüssigkeit während des Durch- 
gangs der Welle vorstellt‘‘ (Weber), als eine einseitig gerichtete Bewegung von 
großer Ausdehnung zu betrachten, wie das O. Frank seinerzeit erwogen hat. 

Die Bedeutung der pulsatorischen Blutbeförderung für die Kreislaufs- 
physiologie geht über die einer formalen Richtigstellung hinaus. Es han- 
delt sich um eine grundlegende Änderung in der Lehre von den Gefäß- 
widerständen. 

Das Arteriensystem wirkt nicht nur richtunggebend, indem es das 
Blut den Organen zuführt, sondern dient auch als Druckbehälter, dessen 
elastischen Ausgleichs das rhythmisch arbeitende Herz bedarf und aus 
dessen Öffnungen das intermittierend eingetriebene Blut in kontinuier- 
lichem Strome ausfließt. So finden wir an den beiden Enden des arte- 
riellen Druckbehälters hier pulsatorische dort kontinuierliche Blutbe- 
förderung. Unsere Anschauung, daß die Umwandlung der ersten in 
die zweite nicht so sehr gleichmäßig im Verlauf der Arterienlänge statt- 
findet, daß vielmehr der größte Teil des systolischen Zuwachses durch 
die Pulswelle weit in die Peripherie getragen wird, hat nichts Befrem- 
dendes, wenn wir uns überlegen, daß infolge des stark zunehmenden 
Gesamtquerschnitts die Hauptkapazität des Arteriensystems in seiner 
Peripherie liegt, und sie findet ihre Erklärung darin, daß die Reibung, 
welche die Pulswelle hauptsächlich vernichtet, in der Peripherie stark 
zunimmt. Aber erst dann, wenn wir feststellen können, daß die Kreis- 
laufsarbeit durch die pulsatorische Blutbeförderung erleichtert wird, 





vom Pulse und zur Auffassung der Hochdruckstauung. 823 


gewinnt diese eine Bedeutung, welche über das arterielle System hinaus- 
reicht, eine Bedeutung für Herzarbeit und Blutversorgung. — In wei- 
teren Versuchen, welche ich im Juli 1920 mit einem 10 m langen Gummi- 
schlauch und einem Druckgefäß mit konstantem Spiegel anstellte unter 
Variierung desrein statischen Einfluß- und Ausflußdruckst), ergab sich für 
ein regelmäßig und gleichmäßig unterbrochenes Einfließen (bei inter- 
mittierendem Ausfluß) gegenüber kontinuierlicher Durchströmung eine 
Erhöhung der Ausflußmenge bis um etwa 20% (berechnet auf gleiche 
Einströmzeiten), wenn für bestimmte statische Druckhöhen ein bestimm- 
tes Optimum der Pulszahl eingehalten wurde. Mit W. R. Heß führe ich 
die Vorteile der rhythmischen Durchströmung darauf zurück, daß durch 
die pulsatorische passive Erweiterung der Gefäße die Reibungswider- 
stände sich verringern (um so mehr, als vielleicht für das Blut die Por- 
seutllesche Formel auch bei größerer Lichtung noch Geltung hat. (Heß 
nach Tigerstedt). Gerade meine Untersuchungen sind für diese Erklärung 
beweisend, denn jedem ccm der Ausflußmenge entspricht bei meiner 
Anordnung der Verbrauch einer ganz bestimmten, stets gleichen Menge 
von potentieller Energie aus dem Druckgefäß. Wenn diese Energie bei 
kontinuierlichem Strom nur langsameren Ausfluß zustande bringt, 
so muß angenommen werden, daß die Reibungswiderstände bei diesem 
geringeren Effekt bereits größere Höhe erreichen als bei dem größeren 
des pulsatorischen Durchflusses. — Die rhythmische Einströmung bedeu- 
tet gegenüber der kontinuierlichen eine relative Ersparnis an Energie 
Wir können annehmen, daß im Kreislauf eine analoge Ersparnis statt- 
findet und wir erkennen, daß hier eine Beziehung bestehen muß zu dem, 
was man als ‚„Windkesselwirkung‘‘ der Arterien zu bezeichnen pflegt. 
Ein Windkessel erfüllt einen doppelten Zweck. Einerseits dient er der 
Erleichterung der Pumparbeit andererseits der Erzeugung gleichmäßiger 
Strömung. Die Realisierung der ersteren besteht darin, daß die Ein- 
strömungsöffnung nicht überlastet wird. Die Größe des Widerstandes, 
welcher hier der Austreibung des Schlagvolums durch das Herz entgegen- 
steht, richtet sich nicht nur nach der Weitbarkeit der für die Aufnahme 
des Schlagvolums in Betracht kommenden Gefäßstrecke?) sondern auch 
nach der Höhe des Anfangsdrucks, d. h. des diastolischen Drucks in der 


1) Verengerung der Ausflußöffnung wurde vermieden, um einfachste Be- 
dingungen zu erhalten. Die Flüssigkeit wurde lediglich gezwungen, zuletzt eine 
gewisse statische Druckhöhe zu überwinden. Diese ist hier unter Ausflußdruck 
zu verstehen. Die Höhe des Einflußdrucks war für beide Strömungsarten die 
gleiche. 

2) Die Länge dieser Strecke, welche von der Weitbarkeit der großen Gefäße 
abhängig ist, möchte ich als das Gebiet des Herzschubs bezeichnen. Gekennzeichnet 
ist dieses Gebiet durch seine noch unter der Wirkung der Herzentleerung stehende 
„zentrale‘‘ Pulsform, die sich auch an der Radialis geltend macht, wenn der Herz- 
schub infolge verringerter Weitbarkeit soweit reicht. 


824 M. Reh: Neues zur -Lehre 


Aorta. Nach diesen Gesichtspunkten ist auch die Bedeutung der pul- 
satorischen Blutbeförderung für die Herzarbeit zu erfassen. Ihr Ein- 
setzen macht sich dadurch bemerkbar, daß der Kammerdruck nicht bis 
zum Schluß der Entleerung ansteigt, sondern schon früher seinen Gipfel 
erreicht, weil die pulsatorische Fortschaffung der ersten Teilvolumina 
(resp. ihres Äquivalents) das Einpressen des Restes erleichtert, indem 
die Weitbarkeit der größeren Gefäße, deren Fassungsfähigkeit ja eine 
beschränkte ist, weniger stark in Anspruch genommen wird. Die Er- 
giebigkeit der Windkesselwirkung ist so in gewissem Maße an das Vor- 
handensein und die Größe pulsatorischer Blutbeförderung gebunden. 
Dieser direkten Wirkung der Pulswelle im Gebiet des ‚„Herzschubs“ 
steht eine indirekte zur Seite. Wäre die pulsatorische Blutbeförderung 
nicht vorhanden, so müßte die ganze in die großen Gefäße eingepreßte 
Blutmenge durch Strömung weiterbefördert werden. Das hierfür er- 
forderliche Gefälle würde mit sich bringen, daß der diastolische Druck 
in der Aorta bedeutend höher wäre als in der Peripherie des Systems. 
Da nun das Schlagvolum gegen diesen Anfangsdruck bewegt werden 
muß, so bedeutet jedes Zurückbleiben von Blut hinter der Pulswelle, 
d. h. jede Vermehrung der kontinuierlichen Strömung eine Mehrbela- 
stung des Herzens. Diese Mehrarbeit, welche dem Herzen erwächst, 
ist um so größer, als bei steigendem Druck die Weitbarkeit der großen 
Gefäße sich verschlechtert (Strasburger). Die optimale Einstellung des 
arteriellen Windkessels verlangt demnach, daß diastolisch auch in sei- 
nem herznahen Abschnitt kein wesentlich höherer Druck herrscht als 
der, welcher in seiner Peripherie zur kontinuierlichen Entleerung der in 
der Zeiteinheit einfließenden Blutmenge notwendig ist, daß der dyna- 
mische Schwerpunkt (so möchte ich den Punkt nennen, welchen wir so- 
zusagen als Ausgangspunkt der Entleerung des arteriellen Systems be- 
trachten können) etwa mit dem Volumschwerpunkt des kegelförmig 
(Basis peripher) gedachten Arteriensystems zusammenfällt und somit 
weit in der Peripherie desselben liegt. Das wird durch die pulsatorische 
Blutbeförderung erreicht. 


Der mechanische Vorteil rhythmischer Durchflutung, welchen wir hiermit 
festgestellt haben, ist experimentell für die Verhältnisse des tierischen Kreislaufs 
nachgewiesen worden. Ich verweise auf die Untersuchungen, welche — eine Fort- 
setzung der Versuche Hamels — an überlebenden Organen und am Frosch- 
präparat von Hühne!), Schäfer, Schleier, Uhlenbruck angestellt wurden, sowie auf 
die an den gleichen Objekten sowie am Modell ausgeführten Versuche von Fleisch, 
der die Kritik der Befunde weitgehend gefördert hat. Die Ergebnisse dieser Ar- 
beiten miteinander vergleichend und vereinigend, komme ich zu folgender Fest- 
stellung: Im Arteriensystem ist die rhythmische Einströmung der kontinuierlichen 
in bezug auf den relativen Energieverbrauch überlegen. Diese Überlegenheit 


‘) Dieser Autor hält seine Ergebnisse irrigerweise für einen Beweis zugunsten 
der Hypothese einer aktiven pulsatorischen Tätigkeit der Arterien. 


vom Pulse und zur Auffassung der Hochdruckstauung. 825 


ist daran gebunden, daß einem bestimmten Tonus ein passender Mitteldruck 
und eine passende Druckschwankung entspricht; und sie ist deshalb, wie ich auf 
Grund meiner Versuche hinzufügen möchte, auch von der Innehaltung einer passen- 
den Schlagfrequenz abhängig. Führt man als Grundbedingung ein, daß der Mittel- 
druck gleich sei (Fleisch), so dürfte die Überlegenheit der rhythmischen Durch- 
strömung, welche sich ausdrücken läßt in dem Verhältnis der Ausflußmengen 
VR/VK, eine Funktion der Weitbarkeit (s. unten) und der Schlagfrequenz sein 
(abgesehen von der relativen Dauer der Systole). 


Der Vorteil der pulsatorischen Blutbeförderung gegenüber der kon- 
tinuierlichen ist, wie wir gesehen haben, in der passiven Erweiterung 
der Arterien durch die Pulswelle begründet. Dies führt uns zur Betrach- 
tung der arteriellen Widerstände. Handelt es sich auch im Grunde stets 
um Reibung, so ist es doch zweckmäßig festzustellen, daß die Wider- 
stände für die Pulsbewegung anderer Art sind als die, welche sich der 
Strömung in den Weg stellen, etwa, wie die Hindernisse für Gleich- 
strom und Wechselstrom verschieden sind (Drosselspule, Kondensator). 
Der Widerstand für die Strömung wird bedingt durch die Weite des Rohrs, 
während derjenige für die Pulswelle in erster Linie durch seine Weitbar- 
keit bedingt ist, welche eben die Erweiterung durch den Puls ermöglicht. 
Sehr instruktiv zeigt sich die große Bedeutung der Weitbarkeit und die 
außerordentlich geringe der Weite an sich bei der Einwirkung der Blut- 
druckmanschette auf den Puls. Wählen wir den Manschettendruck so, 
daß die Arterie in der Diastole gerade komprimiert wird (Kompressions- 
druck), so ist die Weite gleich Null. Infolge der erhöhten Weitbarkeit 
(Reh) jedoch passiert die Pulswelle mit nicht nur unverminderter, son- 
dern sogar vermehrter Intensität (Gumprecht u. a. vgl. Reh), während 
die lokale pulsatorische Drucksteigerung und die Pulswellengeschwin- 
digkeit abnimmt. (Letzteres wird durch die schönen Beobachtungen 
von Bramwell, MacDowall und MacSwiney bestätigt). Gleicherweise 
erwarten wir beim Pulse, wenn die arterielle Weitbarkeit vergrößert wird, 
Verringerung der Reibungsverluste, Vermehrung der pulsatorisch be- 
förderten Blutmenge, Erniedrigung des Mx, Herabsetzung der Puls- 
‚wellengeschwindigkeit!). Bemerkenswert ist, daß anscheinend die Weit- 
barkeit im Arteriensystem peripherwärts sich verringert (Hürthle), 
während bezüglich der Weite das Umgekehrte gilt. Wir finden also dort, 
wo die Strömung im Vordergrunde steht, einen außerordentlich großen 
Gesamtquerschnitt aber geringe Weitbarkeit, wogegen dort der Quer- 
schnitt nur klein, die Weitbarkeit groß ist, wo die pulsatorische Be- 
förderung die Hauptrolle spielt. Während Veränderungen in der Weite 
des Arteriensystems Größe und räumliche Anordnung seines Fassungs- 


1) Es ist in diesem Zusammenhange von Interesse, daß Bramwell und Hill 
bei der Umarbeitung der Moensschen Formel für die „Pulswellengeschwindigkeit‘ 
zu einer Formel gekommen sind, welche die Bedeutung der Weitbarkeit unschwer 
erkennen läßt. 


26 'M. Reh: Neues zur Lehre 


ud 


raumes beeinflussen und — soweit es sich um die Peripherie (das 
Schleusensystem) handelt — den Abstrom resp. den diastolischen Druck. 
regulieren, bestimmt die Weitbarkeit in erster Linie das Verhältnis der 
pulsatorischen zur kontinuierlichen Phase der Blutbeförderung. Sie ist 
ferner der Hauptträger der Windkesselwirkung der größten Gefäße. 

Die Bedeutung der Weitbarkeit ist demnach eine mehrfache. Bei 
den zentralen Gefäßen steht die reine Windkesselwirkung im Vorder- 
grunde. Eine Verringerung ihrer Weitbarkeit muß bewirken, daß die 
Blutbewegung eine stoßende wird und ihr intermittierender Charakter 
deutlicher in Erscheinung tritt. Das Herz wird dabei entweder Mehr- 
arbeit leisten oder sein Schlagvolum verringern und die Austreibungs- 
zeit verlängern. Wenn wir berücksichtigen, daß die Weitbarkeit der gro- 
ßen Gefäße bei normalen Druckwerten eine gute ist, bei hohem Druck 
aber rapide abnimmt, ist es verständlich, daß bei geringerer Erhöhung 
des diastolischen Drucks die Windkesselwirkung zunächst in bezug 
auf die Erleichterung der Herzarbeit leidet, daß aber das Zurück- 
bleiben einer gewissen Blutmenge hinter der Pulswelle noch nicht er- 
schwert ist. Wir nähern uns damit den Verhältnissen im Bereich der 
mittleren und kleineren Gefäße. In diese wird das Blut nicht so eigent- 
lich durch die Herzpumpe eingepreßt als vielmehr durch die Pulswelle; 
während das Herz seine Arbeitsleistung den Widerständen anpassen kann, 
ist die Pulswelle mit einem bestimmten Energiegehalt versehen. Hier 
bedeutet Verringerung der Weitbarkeit ein Hindernis, dessen Folgen 
in einem Zurückbleiben von Blut und von erhöhter Spannung hinter 
der Pulswelle bestehen müssen, welches durch diastolischen Abstrom 
ausgeglichen wird, während die pulsatorische Blutbeförderung infolge 
des Abbaus der Pulswelle verringert ist. Je geringer also die Weitbar- 
keit der mittleren und kleineren Arterien, um so größer der Anteil, welchen 
die kontinuierliche Strömung an der Blutbeförderung hat, um so näher 
dem Herzen die Lage des dynamischen Schwerpunkts, um so größer 
also, wie oben gezeigt, die Belastung des Herzens. Da der periphere 
Entleerungsdruck bei unverändertem Schleusensystem eine bestimmte 
Höhe haben muß, um die notwendige Ausflußmenge zu bewegen, muß 
bei zentralwärts stark ansteigendem Druck die (diastolische) Gesamt- 
spannung des arteriellen Systems vermehrt sein, was unter Umständen 
mit arterieller Plethora verbunden sein kann. Wir haben so eine 
neue Art von arterieller Stauung vor uns. — Ebenso wie eine Ver- 
ringerung der Weitbarkeit den Abbau der Pulswelle beschleunigt und 
die pulsatorische Blutbeförderung verringert, muß ihre Vergrößerung 
die entgegengesetzte Wirkung haben. Das kann bis zu einer Überver- 
größerung des Pulsvolums führen. Wird mit dem Eindringen des Puls- 
volums aus einem Abschnitt der Arterie in den folgenden infolge be- 
sonders guter (zunehmender!) Weitbarkeit die Pulsenergie nicht erschöpft, 





vom Pulse und zur Auffassung der Hochdruckstauung. 827 


so reißt das Pulsvolum in seine Bewegung etwas von demjenigen Blut 
hinein, welches in der Arterie vorhanden war; das Pulsvolum (worunter 
die infolge der Pulswelle den Querschnitt passierende Blutmenge ver- 
standen sei!) vergrößert sich auf Kosten des vorgefundenen Bluts, die 
pulsatorische Blutbeförderung nimmt zu, die kontinuierliche ab. So 
repräsentiert das Pulsvolum durchaus keinen konstanten bzw. nur einer 
Verringerung unterworfenen Volumbetrag. Es kann sich vielmehr 
(unter konträrer Bewegung der Höhe des Mx) je nach dem Verhalten 
der Weitbarkeit lokal verringern oder auch, wie das bereits 1845 von 
H. Frey behauptet wurde, vergößern. Als ungefähren Anhaltspunkt 
könnte man das Prinzip aufstellen, daß bei der Fortpflanzung der Puls- 
welle im Zuleitungssystem die durch das Produkt aus Pulsvolum und 
Mitteldruck dargestellte Energiemenge (abgesehen von den unvermeid- 
lichen Reibungsverlusten) konstant bleibt. — Vorausgesetzt, daß die 
Verbesserung der Weitbarkeit nicht ein einzelnes Organversorgungsge- 
biet betrifft, (pulsatorische Erhöhung der Organ-Zirkulationsgröße), wird 
je nach dem Grade der pulsatorischen Blutbeförderung der diastolische 
. Strom in den mittleren Arterien in verschiedener Intensität vom Herzen 
weg oder dem Herzen zu laufen (negatives diastolisches Druckgefället). 

Die angeführte Erhöhung der Organzirkulation durch Verbesserung 
der Weitbarkeit im betr. Zuleitungssystem spielt im Organismus wohl 
eine große Rolle, wie die in solchen Fällen beobachteten heftigen Pul- 
sationen beweisen. Da hierbei infolge der Aufrechterhaltung des zentra- 
len diastolischen Drucks die Verringerung der diastolischen Strömung 
unerheblich bleiben muß, ist die relative Erhöhung der Organzirkulation 
bedeutender als die bei Verbesserung der Weitbarkeit des ganzen Zu- 
leitungssystems eintretende allgemeine Zirkulationserhöhung. 

Von wesentlicher Bedeutung für die Weitbarkeit der Gefäße ist die 
Beteiligung glatter Muskulatur an ihrem Aufbau. Die Weitbarkeit 
der Arterien elastischen Typs ist funktionell wenig oder nicht veränder- 
lich und — abgesehen vom Einfluß des Druckniveaus — nur dem lang- 
dauernden oder bleibenden Einfluß der Gewebsveränderungen unter- 
worfen. Wichtiger ist für unsere Betrachtungen die Weitbarkeit der 


1) Unter besonderen Umständen kann jedoch im Falle der Übervergrößerung 
des Pulsvolums statt des diastolischen Rückstroms oder neben demselben eine 
negative Welle auftreten, welche der Pulswelle unmittelbar folgt. Die Bedingungen 
hierfür finden sich anscheinend am ehesten in den mittleren Arterien verwirklicht 
und hängen wohl mit bestimmten Schwingungsverhältnissen zusammen, da die 
negative Welle stets von einer positiven gefolgt ist. Ich deute damit die Wahrschein- 
lichkeit einer lokalen Entstehung der dikrotischen Welle an, wie sie im Gegensatz 
zu einer zentralen oder peripheren von A. Weber angenommen worden ist. Für 
diese Auffassung spricht auch das Überdikrotwerden des Pulses bei Erhöhung 
der Frequenz (Sahli); denn wäre die Dikrotie an den Klappenschluß gebunden, 
so könnte sie nicht in den aufsteigenden Schenkel des Pulses rücken, 


328 M. Reh: Neues zur Lehre 


Arterien gemischten oder muskulösen Typs. Diese ist funktionell ver- 
änderlich durch den Tonus der Wandmuskulatur, d. h. aktivierbar 
(Schrumpf) und deshalb von besonderem Einfluß auf die pulsato- 
rischen Vorgänge. Die Aufschlüsse, welche wir durch die Arbeiten von 
Mac William erhalten, ergeben folgendes Bild: ‚Ein völlig erschlafftes Ge- 
fäß hat bei niedrigstem Innendruck eine große Weitbarkeit, d.h. bei einer 
ganz geringen Drucksteigerung erweitert es sich erheblich. Bald aber 
erreichen wir bei weiterer Steigerung des Anfangsdrucks eine Grenze, 
bei welcher die Weitbarkeit rasch und stark abnimmt. Bei einem stark 
tonisierten Gefäß ist das anders. Seine Weitbarkeit ist bei jedem Druck 
geringer, als die des schlaffen Gefäßes bei niederem Druck. Die Grenze, 
bei welcher die Weitbarkeit (welche oft bei mittlerem Druck ihr Opti- 
mum zeigt) klein wird, liegt jedoch bei weit höheren Druckwerten. 
Bei mittlerem Druck ist die Weitbarkeit des tonisierten Gefäßes größer 
als die des schlaffen.‘‘ Wir ziehen daraus die Folgerung, daß bei sehr nied- 
rigem diastolischen Druck, wie z. B. bei manchen Fieberzuständen, eine 
gewisse Verringerung des Gefäßtonus im Zuleitungsgebiet der pulsa- 
torischen Förderung des Blutes günstig ist, daß aber, um gute pulsa- 
torische Blutbeförderung zu ermöglichen, der Gefäßtonus um so stärker 
sein muß, je höher der diastolische Druck ist, welcher durch den Wider- 
stand der kleinsten Gefäße (des Schleusengebiets) bedingt wird. Denn 
bei hohem diastolischen Druck ist das schlaffe Gefäß bereits im Zustande 
schlechter Weitbarkeit, ehe die pulsatorische Drucksteigerung einsetzt. 
Dafür finden wir Beispiele in Versuchen von Fleisch und Schleier. Ge- 
fäßerschlaffung bedeutet daher im Zuleitungsgebiet!) durchaus nicht 
stets eine Verbesserung der Weitbarkeit, Anwendung vasokonstrik- 
torischer Mittel nicht immer eine Erhöhung der Widerstände. Bei nor- 
malem Tonus dürfte das Optimum der Weitbarkeit auch bei normalen 
Druckwerten liegen, wie das von Strasburger für die (nicht aktivierbare) 
Aorta festgestellt wurde. 

Es ist nach dem Gesagten erforderlich, den tonischen Zustand der 
kleinsten Gefäße, des Schleusensystems, welcher den Abstrom in die 
Venen regelt, zu trennen von denjenigen des Zuleitungssystems. Es ist 
bei der segmentären Versorgung der Arterien mit vasomotorischen 
Nerven (Läwen) durchaus wahrscheinlich, daß beide Systeme ebenso 
gut verschiedenen Tonus zeigen können, wie die Weite der Hautcapil- 
laren unabhängig von der des zugehörigen Schleusensystems ist (Müller 
und Veiel, Ebbecke nach Krogh), womit indes nicht behauptet werden soll, 
daß Tonusveränderungen stets zu solchen der Weite führen müssen. Für 
diese tonische Selbständigkeit des Zuleitungssystems scheinen die Be- 
obachtungen Hewletts am Nitroglycerinpuls zu sprechen. | 





!) Im Schleusensystem dürfte Erschlaffung stets Verbesserung der Weit- 
barkeit bedeuten. 


Sen nn 0 








vom Pulse und zur Auffassung der Hochdruckstauung. 829 


Wir müssen ferner, um einer Begriffsverwirrung zu entgehen, streng unter- 
scheiden zwischen dem Tonus der Arterien und ihrer Tension (Pal), d.h. der 
passiven Spannung durch den Innendruck. Wir bezeichnen deshalb mit F.». M üller 
den Zustand arterieller Drucksteigerung besser als H ypertension, nicht als Hyper- 
tonie. Es empfiehlt sich aber, diesen Ausdruck auf Zustände zu beschränken, bei 
welchen auch der Mn wesentlich gesteigert ist, und die reine Mx-Steigerung, wie 
sie bei Aorteninsuffizienz oder manchen Aortensklerosen und bei Neurosen vor- 
kommt, als Hyperpression abzugrenzen. Nur im ersteren Falle dürfen wir Wider- 
stände im Schleusengebiet als Ursache annehmen, während im zweiten Fall eher 
eine relative Erhöhung der zentralen Energie anzunehmen ist. 


Wie bereits angedeutet, hängt der Grad der pulsatorischen Blutbe- 
förderung nicht allein von den Widerständen ab, sondern auch von der 
Energie, welche das Herz dem Schlagvolum verleiht, von der Plötzlich- 
keit der Entleerung. Wird ceteris paribus der spezifische Energiegehalt 
des Pulses geringer, so muß die pulsatorische Blutbeförderung abnehmen 
und umgekehrt. Das bedarf keiner weiteren Erläuterung. 

Die hiermit entwickelte Auffassung der Blutbewegung in den Ar- 
terien gestattet uns einen Einblick in den Mechanismus mancher patho- 
logischer Erscheinungen. Für die oben erwähnte Vergrößerung des Puls- 
volums bietet die Aortensklerose ein Beispiel. Infolge der Verringerung 
der Aortenweitbarkeit erfordert die Einpressung eines ausreichenden 
Schlagvolums großen Energieaufwand. Der zur Überwindung der er- 
heblichen elastischen und trägen Gegenkräfte nötige Energieüberschuß 
wird, abgesehen von erhöhten Reibungsverlusten, in der Aorta nicht 
verbraucht, da ja die elastische Reaktion die erhaltene Energie zurück- 
gibt und die stoßende Bewegung der trägen Massen als kinetische Ener- 
gie weiterwirkt. So kommt es, daß ein meist unternormales Pulsvolum 
mit großer Volumenergie in die mittleren Arterien eintritt, deren Weit- 
barkeit nicht affiziert und speziell bei nicht erhöhtem diastolischen 
Druck eine durchaus gute ist. Da die Weiterbeförderung solchen Vo- 
lums bei guter Weitbarkeit durchaus nicht den Aufwand so bedeutender 
Energiemengen erfordert, vergrößert sich das Pulsvolum unter der Wir- 
kung des Energieüberschusses auf Kosten des in den mittleren Arterien 
vorgefundenen Blutes!). Wir erhalten so den bekannten pulsus altus 
(auf die diagnostische Bedeutung hat Münzer hingewiesen) et celer 
(Bittorf). Ferner gelangt die Pulswelle infolge des großen Energiegehalts 


1) Nichts wäre weniger angebracht, als aus dem lokal vergrößerten Puls- 
volum der Brachialis oder der Radialis auf ein vergrößertes Schlagvolum, eine 
erhöhte Zirkulationsgröße zu schließen. Ebensowenig gestattet die in solchen 
Fällen zu beobachtende Vergrößerung der Manschettenoszillationen (Schulthess) 
und des ihnen zugrunde liegenden energo- und bolometrischen Volumwerts, welche 
gleichfalls auf einer vergrößerten Differenz zwischen der Weitbarkeit der Kom- 
pressionsstrecke und der zentralen Gefäße beruht, den Schluß auf senile H yper- 
zirkulation (Sahli, Münzer). Es muß immer noch angenommen werden, daß beim 
Greise die Zirkulationsgröße ausgesprochen verringert ist (Strasburger). 


830 M. Reh: Neues zur Lehre 


bis weit in die Peripherie und es kann zum Kapillarpuls kommen. In 
der Diastole wird die verringerte Blutfüllung der mittleren Arterien 
durch Rückstrom ausgeglichen. Wir finden infolge dieses negativen 
Gefälles den diastolischen Druck in reinen Fällen erniedrigt (Mougeot), 
was für die Ausnutzung der Aortenweitbarkeit von Vorteil sein dürfte. — 
Die Aortensklerose ist auch beim Greise häufiger als sie klinisch erkannt 
wird. Die Pulsveränderung sowie die gleichzeitige Vergrößerung der 
Blutdruckamplitude, welche auch bei normalem Blutdruck auftritt, ist 
angesichts des häufigen Fehlens anderer Symptome (Romberg) von großem 
diagnostischem Wert. Die bei Bittorfs Fällen so häufige Hypertension 
(Erhöhung auch des Mn) ist, wie aus dem Vorhergehenden sich ergibt, 
nicht typisch für Aortensklerose. 

Ein sprechendes Beispiel dafür, wie sehr gerade eine Änderung der 
Transportform zugunsten der pulsatorischen Beförderung dem Kreis- 
lauf von Nutzen sein kann, ist die Aorteninsuffizienz. Betrachten wir 
diese Verhältnisse zunächst vom Standpunkte der Strömung. Es be- 
stehen hier an beiden Enden des arteriellen Röhrensystems Öffnungen; 
die Verlustöffnung am zentralen Ende, die Nutzöffnung am peripheren. 
Die Intensität des Ausflusses richtet sich beiderseits nach der Druck- 
höhe und der Weite der Öffnung. Infolge des Stromgefälles ist der Druck 
an der Verlustöffnung viel größer. Eine Erweiterung der Nutzöffnung 
verschiebt das Intensitätsverhältnis zwischen Nutzstrom und Verlust- 
strom zugunsten des ersteren. Jedoch ist solcher Erweiterung im Schleu- 
sengebiet eine enge Grenze gezogen durch die erlaubte Senkung des 
Drucks im System, da sonst statische Druckänderungen (Lagewechsel) 
zu störenden Folgen führen müßten (Gehirnanämie). — Das Gefälle 
im System wird durch diese Erweiterung wenig berührt. — Wir finden 
nun nach Hewlett bei dieser Erkrankung überaus starken Wellentrans- 
port und eine Rückströmung in der Pulspause. Das Herz entleert sich 
mit großer Plötzlichkeit und Energie. Die Vorteile dieses Verhaltens 
liegen klar zu Tage. Infolge des negativen Stromgefälles haben wir 
einen erniedrigten Druck an der Verlustöffnung, daher geringere Verluste 
zu erwarten, während infolge deserhöhten Wellentransports, dessen Größe 
das ursprüngliche Pulsvolum übertrifft, der dynamische Schwerpunkt 
weiter abwärts liegt und ein relativ höherer Druck an der Nutzöffnung 
ermöglicht wird. So kommt ein guter Nutzstrom zustande. Überdies 
wird die Welle zum Teil tief in die Capillaren hineingetragen, wodurch 
ein Teil des beförderten Blutes der Gefahr des Rückstroms entzogen 
werden dürfte. Die Aufwendung größerer Herzenergie im Sinne relativ 
rascherer Austreibung erscheint demnach als eine vorteilhafte regula- 


torische Funktion, welche vor sonst drohender weit größerer Belastung 


und fast fruchtloser Arbeit schützt. Vielleicht erklärt sich so das Irre- 
parable einer erst eingetretenen Dekompensation bei diesem Fehler. 


vom Pulse und zur Auffassung der Hochdruckstauung. 831 


Die Aorta wird durch den dargestellten Mechanismus allerdings von einer 
übernormalen Beanspruchung nicht befreit. — Die stärkere Inanspruch- 
nahme der Weitbarkeit der mittleren Gefäße durch das große Pulsvolum 
' wird kompensiert durch eine Mediahypertrophie, welche mit Tonusstei- 
gerung verbunden ist. Diese gibt sich kund in einem größeren Formwider- 
stand (de Vries Reilingh), der sich besonders an der Cruralis zeigt (Rolle- 
ston, Leschke u. a.). Tritt bei längerem Bestehen des Leidens Erschlaf- 
fung der Gefäße (Romberg), ein, so leidet die Wellenförderung, der Druck 
an der Verlustöffnung wird höher. So kann der Verluststrom auch ohne 
Zunahme des Klappendefekts wachsen. 

Zuletzt wollen wir uns mit einem Phänomen beschäftigen, welches 
bisher noch keinerlei plausible Erklärung gefunden hat. Es ist die Hoch- 
druckstauwung (Sahli). Man bezeichnet mit diesem Ausdruck mit Stau- 
ung verbundene Dekompensationen, welche mit großer Höhe des ar- 
teriellen Drucks einhergehen. Handelt es sich, wie mitunter, um eine 
Insuffizienz des Herzens ‚‚bei sinkendem, aber immer noch erheblich 
erhöhtem Druck“ (E. Frank), so liegt die Erklärung allerdings auf der 
Hand. In solchen Fällen steigt der Druck mit dem Erfolge der Behand- 
lung, z. B. durch Digitalis. In zahlreichen Fällen jedoch, auf die man wohl 
auch die Bezeichnung Hochdruckstauung mit Vorliebe beschränkt, be- 
obachtet man bei erfolgreichem Gebrauch der Digitaliskörper eine Sen- 
kung des Blutdrucks. Hier muß demnach die Insuffizienz mit Stei- 
gerung des Blutdrucks verbunden sein (decomvensatorische Blutdruck- 
steigerung). 

Dieser merkwürdige Zustand wird nicht erklärt, wenn man sagt, daß auch 
bei geringer Herzkraft hohe periphere Widerstände vorhanden sein können (Sahlı). 
Denn das Charakteristische liegt nicht in der Höhe des Drucks, sondern in seiner 
Steigerung. Sahli u.a. haben dann eine Kohlensäureüberladung des Blutes als 
Ursache der Steigerung betrachtet, wie das aus Tierversuchen als Erstickungs- 
folge bekannt ist, und von einer Durchbrechung der peripheren Widerstände 
durch die Digitalis gesprochen. Man hat aber nicht bedacht, daß zur Behebung 
dieses Zustandes primär die Zirkulationsgröße und damit zunächst der Druck 
gesteigert werden müßte. Nach Frehse kommt ferner die Kohlensäureüberladung 
als Ursache nicht in Frage. So scheint es außer Zweifel, daß eine von Drucksenkung 
begleitete Zirkulationsverbesserung nur durch eine Verringerung der Widerstände 
und nicht durch Steigerung der Herzarbeit zu erklären ist. Es müßte also eine Ge- 
fäßwirkung der Digitalis im Spiel sein (His). Nach den bisherigen Anschauungen, 
welche lediglich Veränderungen der Weite als Ursache verringerten Widerstandes 
betrachten, wäre eine durch Digitalis hervorgerufene aktive Gefäßerweiterung 
anzunehmen. Das stößt jedoch auf Schwierigkeiten. Die im Tierversuch erzielte 
Gefäßerweiterung in der Peripherie des Körpers ist in der Hauptsache eine passive, 
mit Drucksteigerung verknüpfte (Gottlieb und Magnus). Beim Menschen spricht 
alles gegen eine solche Erweiterung. Da sie das Schleusengebiet mit seiner großen 
Kapazität betrifft, müßte sie plethysmographisch nachweisbar sein. Die Unter- 
suchungen von Vagt ergaben, daß nach Strophantin das Armvolum nicht vergrößert, 
sondern unverändert, ich möchte sogar sagen, mitunter ein wenig verkleinert war. 
Bedenken wir noch, daß das Plethysmogramm infolge der Eigenart der Apparatur 


Z. f. klin. Medizin. Bd. 100. 54 


832 M. Reh: Neues zur Lehre 


raschen Volumschwankungen nur ungenügend folgt und mehr eine systolisch- 
diastolische Mittellage anzeigt, so ist bei unverändertem Volum und verstärkten Pul- 
sationen eine Verringerung desselben in der Pulspause höchst wahrscheinlich. 
Während Vagt keine einschlägigen Fälle bringt, berichtet ©. Müller, daß auch wäh- 
rend der bei H. Dr. St. bewirkten typischen Senkung des Mx und Mn das Plethysmo- 
gramm keine Volumänderung anzeigt. Auch eine Erweiterung im Splanchnikus- 
gebiet kann nicht zur Erklärung herangezogen werden. Schon der Tierversuch 
läßt sie wenig wahrscheinlich erscheinen. Beim Menschen ist nach O. Müller 
die Digitalisdrucksenkung bei der H. Dr. St. von keiner plethysmographisch fest- 
stellbaren Erweiterung dieses Gebiets begleitet. In letzter Zeit hat Ganter sich be- 
müht, Beweise für eine stets und allgemein vasodilatierende und tonusverringernde 
Wirkung therapeutischer Digitalisdosen zu bringen. Ich kann mich durch seine 
interessanten Ausführungen nicht für überzeugt erklären. Die Tatsache besserer 
Hautdurcehblutung ist dafür nicht beweisend (0. Müller und Veiel beobachteten 
Hautrötung und plethysmographische Verengerung zu gleicher Zeit an gleicher 
Stelle). Die Annahme einer Verengerung des arteriellen Gefäßsystems bei De- 
kompensation ist durchaus hypothetisch. Sie trifft zum mindesten in allen Fällen 
mit Ödemneigung — das ist bei dekompensatorischer Steigerung wohl stets der 
Fall — nicht zu; es ist im Gegenteil eine Plethora serosa (Romberg) anzunehmen, 
soweit aber Gefäßverengerung als Folge ungenügender Füllung des Arteriensystems 
eintreten sollte, wäre lediglich eine Anpassung der Lichtung anzunehmen und noch 
keine Tonuszunahme. — Es scheint deshalb wenig aussichtsvoll, die Lösung des 
Problems auf diesem Wege zu suchen. Die Pulsverlangsamung (Fraenkel) kommt 
für die Erklärung der Drucksenkung nicht in Frage, da diese auch ohne sie auftritt. 

Die Berücksichtigung der pulsatorischen Blutbeförderung gestattet 
uns, eine Erklärung zu finden nicht nur für die Hochdruckstauung im 
engeren Sinne und zugleich für die drucksenkende Wirkung der Digi- 
talisbehandlung, sondern für alle dekompensatorischen Blutdruckstei- 
serungen. Dieselbe wird ja auch bei dekompensierten Vitien oft beobach- 
tet (Lang und Manswetowa, Horner u. a.). Wenn man bedenkt, daß eine 
mit geringer Plötzlichkeit i. e. verringerter Energie erfolgende Aus- 
treibung des Schlagvolums zu einer Abschwächung der pulsatorischen 
Blutbeförderung führen muß mit all ihren Folgen, so könnte man hierin 
schon den gesuchten Mechanismus finden. Und durch die systolische 
Wirkung der Digitalis, welche bei intravenöser Darreichung besonders 
deutlich ist (#dens), wäre die Drucksenkung zu erklären. Da nämlich 
jeder einzelne kräftigere Pulsschlag bereits bessere Bedingungen für 
den folgenden schafft, würde in der Tat ohne bemerkliche vorübergehende 
Steigerung die Senkung des Drucks mit Besserung der Zirkulation ein- 
treten müssen. So könnte man sich ganz gut die quasi Durchbrechung 
des Widerstandes vorstellen. Ich sehe jedoch Veranlassung noch weiter 
zu gehen und als Hauptursache der anzunehmenden Verschlechterung 
der pulsatorischen Blutbeförderung an eine Verschlechterung der Weit- 
barkeit zu denken; — eine solche könnte auf Grund der weiter oben ge- 
brachten Überlegungen und unter Berücksichtigung des Umstandes, daß 
die dekompensatorische Steigerung besonders oft bei erhöhten Druck- 
werten auftritt, auf eine Gefäßerschlaffung im Zuleitungsgebiet zurück- 


vom Pulse und zur Auffassung der Hochdruckstauung. 833 


geführt werden, welche mit großer Wahrscheinlichkeit angenommen 
werden muß. 


Es ist sehr wahrscheinlich, daß die zuleitenden Gefäße bei Hypertension 
leichter erschlaffen, da gerade sie dauernd einem erhöhten Druck ausgesetzt sind. 
Besonders leicht wird das eintreten, wenn keine nephritischen Symptome und damit 
keine daraus entspringende 'Tonussteigerung (spastische Hypertension T'runeceks) 
vorhanden sind, also insbesondere bei benigner Nephrosklerose. Es wird anderer- 
seits auch von anderer Seite angenommen, daß bei Insuffizienz des Herzens auch der 
Tonus der Gefäße leidet (Romberg), daß bei Herzkranken auch die Gefäße weniger 
leistungsfähig sind. Die Herabsetzung der Gefäßreaktion bei Herzkranken, welche 
keine nephritischen Symptome boten (0. Müller), spricht für eine Störung der 
vasomotorischen Regulation des Tonus. Im Sinne einer Erschlaffung läßt sich 
auch meine Beobachtung verwenden, daß die pulsatorische Füllung des unter der 
Blutdruckmanschette befindlichen Gefäßabschnitts, wie sie sich energometrisch 
nachweisen läßt, im Gebiet des Sperrdrucks in einschlägigen Fällen vor dem Be- 
ginn der Medikation auffallend groß und nach eingetretener Wirkung verkleinert 
war. Diese Wirkung ist, wie an anderer Stelle ausgeführt werden soll, auf Er- 
höhung eines vorher verringerten Tonus der Arterie (unabhängig von der Weite) 
zurückzuführen, wenn keine erhebliche Viscositätserhöhung vorliegt. Es ist nur 
natürlich, daß die Plethysmographie, deren Resultate durch die große Gesamt- 
kapazität der kleinsten Arterien bestimmt werden, Veränderungen im Zuleitungs- 
gebiet nicht wiedergibt und uns deshalb nichts von der dort bestehenden Er- 
weiterung anzeigt. Endlich sei eine wichtige Beobachtung Rollestons angeführt 
(nach Aubertin und Woillez), daß die bei Aorteninsuffizienz auftretende 'Tonus- 
steigerung der Beinarterien, die sich insbesondere nach eingetretener Media- 
hypertrophie in einer relativen Steigerung des dort gemessenen Mx äußert, bei 
Dekompensation stets fehlt. 


Diese Gefäßerschlaffung im Zuleitungsgebiet bedeutet — insbesondere 
bei gleichzeitig hohem diastolischem Druck — Verringerung der Weit- 
barkeit, Abbau der pulsatorisch beförderten Blutmenge, Erhöhung der 
Druckwerte, Mehrarbeit für das ohnehin belastete Herz. Die erwünschte 
Umlagerung des arteriellen Inhalts in der Verlaufsrichtung der Arterien, 
die Verschiebung des dynamischen Schwerpunkts vom Herzen fort und 
damit seine Entlastung erfolgt nun durch jeden Vorgang, welcher die 
Weitbarkeit verbessert, indem er den Tonus wiederherstellt. Und das 
erwarte ich von der Digitalis. 


Von mancher Seite wird allerdings der Digitalis eine Gefäßwirkung ab- 
gesprochen. Dazu scheinen mir die Ergebnisse sowohl der Tierversuche als auch der 
Untersuchungen am Menschen nicht zu berechtigen. Wir finden insbesondere 
in den ersteren vieles, was für eine gefäßtonisierende Wirkung spricht. Und die 
Beobachtungen von Naegele über die Pulsform lassen unter strenger Berücksichti- 
gung der Blutdruckveränderungen die Annahme unabweisbar erscheinen, daß durch 
die Digitalis der Tonus erhöht und oft die Weitbarkeit verbessert wird. Ist das 
schon am Normalen der Fall, so müssen wir um so mehr annehmen, daß Digitalis 
wie am geschädigten Herzen so auf die Muskulatur erschlaffter Gefäße eine ent- 
sprechende Wirkung in höherem Grade ausübt. So fand Lommel nach Digitalis 
normalerweise geringe Beschleunigung, bei Behebung von Kompensationsstörungen 
jedoch deutliche Verlangsamung der Pulswelle.. Da die Pulswellengeschwindig- 
keit in der Hauptsache von der Weitbarkeit abhängt (welche sie verringert), wurde - 

D4* 


834 M. Reh: Neues zur Lehre 


offenbar die Weitbarkeit in normalen Fällen verringert, bei Dekompensation aber 
erhöht. Nimmt man für die letztere Gefäßerschlaffung an, , so läßt sich beides 
durch Tonisierung erklären. Im Sinne einer Tonussteigerung lassen sich auch die 
Erscheinungen deuten, welche die auscultatorische Methode Korotkows uns ver- 
mittelt. Die auf Gefäßerschlaffung weisende stumme Zone (Reh), welche bei 
H. Dr. St. häufig ist, schwindet nach Digatilisierung. Für eine Verbesserung der 
pulsatorischen Blutbeförderung spricht auch das bei H. Dr. St. nach Digitalis 
von ©. Müller beobachtete tiefe Ausholen des zentralen Tachogramms, ein Zeichen, 
daß der diastolische Druck nahe dem Herzen erniedrigt ist. 

Es scheint, daß auch andere gefäßtonisierende Mittel von drucksenkendem 
Erfolg bei H. Dr. St. sind, während die vasodilatierenden Mittel wie Amylnitrit 
und Nitroglycerin versagen (Geisböck). Die oft günstige Wirkung kohlensaurer 
Bäder bei Hypertensionen (Müller und Veiel, Ollino, Hediger), die uns selten in 
Behandlung kommen, ehe leichte Erscheinungen beginnender Dekompensation 
vorliegen, wird von ersteren in Analogie mit der Digitaliswirkung gebracht. Über 
die Wirkung des Adrenalins bei H. Dr. St. ist mir nichts bekannt. — Der experi- 
mentelle Nachweis, daß an Gefäßen, welche infolge von Zerstörung des Zentral- 
nervensystems vasomotorischen Einflüssen entzogen resp. durch Anwendung 
von Narkose erschlafft waren, die Vorteile rhythmischer Durchströmung unter 
der Einwirkung mancher vasotonisierender Mittel deutlicher werden, ist durch 
Schaefer erbracht worden. Seine Gruppierung dieser Substanzen (Adrenalin, 
Pituitrin, Digitalis einerseits, Strychnin, Nicotin, Bariumchlorid andererseits) 
ist allerdings abzulehnen (Schleier, Uhlenbruck). 

Während man also bisher die H. Dr. St. auf eine Tonussteigerung 
(im Schleusengebiet) zurückführte, halte ich erhöhte Widerstände in 
diesem Gebiet nur für die Ursache des Hochdrucks an sich und erkläre 
die dekompensatorische Blutdrucksteigerung, welche auch ohne Hoch- 
druck beobachtet wird, durch Erschlaffung der Arterien des Zuleitungs- 
gebiets und Verringerung der Auswurfsenergie des Herzens!), i. e. durch 
absolute und relative Erhöhung des pulsatorischen Widerstandes. Da- 
durch wird es begreiflich, daß die Wiederherstellung des Kreislaufs 
unter Drucksenkung vor sich geht, indem dieser Widerstand durch To- 
nisierung verringert wird und die Plötzlichkeit der Herzentleerung 
zunimmt. Die Frage, ob solche Erschlaffung der zuleitenden Arterien 
immer an eine Insuffizienz des Herzens gebunden ist, muß offen gelassen 
werden. Gerade die essentielle Hypertension, bei der die andere Mög- 
lichkeit in Betracht käme, führt die Kranken in der Regel erst an die. 
richtige Schmiede, wenn eine beginnende Dekompensation sich bemerk- 
bar macht. 

Hasebroek hat zur Erklärung zahlreicher Kreislaufsprobleme die 
Hypothese aktiver Mitarbeit der Arterien herangezogen, für welche 
jedoch bisher keinerlei Beweise erbracht werden konnten. Meine Aus- 
führungen zeigen die Aufgabe der Arterien in neuem Licht. Jedem Leser 





!) Es liegt im Wesen der dekompensatorischen Drucksteigerung, daß sie 
eine gewisse Leistungsfähigkeit des — wenn auch mühsamer arbeitenden — Herzens 
voraussetzt. Bei stärkerer Insuffizienz desselben muß der Blutdruck sinken 
(.Romberg). 





vom Pulse und zur Auffassung der Hochdruckstauung. 835 


der Hasebroekschen Arbeit wird es klar sein, daß hier der Weg liegt, um zum 
Verständnis mancher der von ihm aufgeworfenen Probleme zu gelangen; 
ich sage: mancher, denn in Kreislaufsfragen sind noch andere Wege zu 
bahnen. Soweit jedoch die Rolle der Arterien in Frage kommt, dürfte 
die Tatsache der pulsatorischen Blutbeförderung und ihrer Abhängigkeit 
von der arteriellen Weitbarkeit der Hypothese einer aktiven arteriellen 
Pulsarbeit den Wind aus den Segeln nehmen. 


Zusammenfassung. 

Die Blutbeförderung innerhalb des Arteriensystems erfolgt haupt- 
sächlich durch die Pulswelle. Der Widerstand für diese und damit für 
die pulsatorische Blutbeförderung ist in erster Linie durch die Weitbarkeit 
der Gefäße bedingt und nicht durch ihre Weite. Nur dadurch ist es ı1ög- 
lich, daß die pulsatorische Beförderung gegenüber derjenigen durch 
Strömung eine Energieersparnis für das Herz bedeutet. Die Weitbarkeit 
der muskelführenden Gefäße ist funktionell veränwerlich, funktionell 
veränderlich darum Größe und Ausdehnung der pulsatorischen Blut- 
beförderung. Hiernach richtet sich Intensität und Richtung der diasto- 
lischen Strömung im Zuleitungssystem, welches von dem Schleusensystem 
unterschieden wird. Das Äquivalent des Schlagvolums wird durch die 
Welle. weit in die Peripherie getragen. Hier, im Grenzgebiet beider 
Systeme liegt normaliter der dynamische Schwerpunkt für die konti- 
nuierliche Entleerung. Er rückt dem Herzen um so näher, je weniger 
intensiv die pulsatorische Blutbeförderung ist. Als Hauptursache der 
dekompensatorischen Blutdrucksteigerung (Hochdruckstauung) ist eine 
Erschlaffung der Arterien des Zuleitungssystems anzunehmen, durch 
welche die Weitbarkeit für die tatsächlichen Druckverhältnisse herab- 
gesetzt und die pulsatorische Blutbeförderung zugunsten der Strömung 
verringert wird. Die Folge ist Drucksteigerung und Mehrbelastung des 
Herzens. Mittel, welche den Tonus dieser Gefäße wiederherstellen — 
und das wird für Digitalis nachzuweisen gesucht — beseitigen die Druck- 
steigerung. Auch die systolische Wirkung ist von Bedeutung. — Ferner 
werden die Verhältnisse bei Aortensklerose und Aorteninsuffizienz in 
neuer Beleuchtung dargestellt. Die Hypothese aktiver pulsatorischer 
Mitarbeit der Arterien dürfte sich als entbehrlich erweisen. 





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milzexstirpierten Hunden nebst einigen 
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untersuchungen bei bluttransfun- 
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Über die Kombination der Polycythä- 
mia rubra mit leukämischer Myelose. 
S. 498. 

Woenckhaus, Ernst. Zur funktio- 
nellen Magendiaenostik. S. 135. 











ZEITSCHRIFT 


FÜR 


KLINISCHE MEDIZIN 


HERAUSGEGEBEN VON 


W.HIS F.KRAUS A.GOLDSCHEIDER G. KLEMPERER 


BERLIN BERLIN BERLIN BERLIN 
B.NAUNYN A.vonSTRÜMPELL A.SCHITTENHELM R.STAEHELIN 
BADEN-BADEN LEIPZIG KIEL BASEL 

C. von NOORDEN N. ORTNER 
FRANKFURT A.M. WIEN 


ww. HIgue mrev or R 


IAN er 7095 
RAIN Wi Au 
- HUNDERTSTER BAND as 
.% sur ve t ILLEN w 
SECHSTESIHERT 
MIT 18 ABBILDUNGEN IM TEXT 
(AUSGEGEBEN AM 25. OKTOBER 1924) 





| BERLIN 
VERLAG VON JULIUS SPRINGER 
1924 





II Zeitschrift für klinische Medizin. 100. Band, Heft 6. 

















Die „Zeitschrift für klinische Medizin“ 


erscheint nach Maßgabe des eingehenden Materials in zwanglosen, einzeln berechnete 
Heften, von denen sechs einen Band von etwa 50 Bogen Umfang bilden. 

Der für diese Zeitschrift berechnete Bandpreis hat seine Gültigkeit nur während 
der Dauer des Erscheinens. - \ 

An Sonderdrucken werden den Herren Mitarbeitern von jeder Arbeit im Umfange 
von nicht mehr als 24 Druckseiten bis 100 Exemplare, von größeren Arbeiten bis zu 
60 Exemplare kostenlos geliefert. Doch bittet die Verlagsbuchhandlung, nur die zur 
tatsächlichen Verwendung benötigten Exemplare zu bestellen. Über die Freiexemplar- 
zahl hinaus bestellte Exemplare werden berechnet. Die Herren Mitarbeiter werden 
jedoch in ihrem eigenen Interesse dringend gebeten, die Kosten vorher vom Verlage 
zu erfragen, um spätere unliebsame Überraschungen zu vermeiden. 


Manuskriptsendungen werden erbeten an 


Herrn Geheimrat Professor Dr. W. His, 
Berlin NW 6, I. Medizinische Klinik der Charite, Schumannstr. 20/21. 


Im Interesse der unbedingt gebotenen Sparsamkeit wollen die Herren Verfasser 
auf knappste Fassung ihrer Arbeiten und Beschränkung des Abbildungsmaterials auf 
das unbedingt erforderliche Maß bedacht sein. 


'Verlagsbuchhandlung Julius Springer. 














100. Band. Inhaltsverzeichnis. 6. Heft. 
Seite 

Umber, F., und Max Rosenberg. Zur Diagnose und Prognose der Glycosuria 
INNOCEBE N. RE ee Te 655 
Heubner, Wolfgang. Bemerkung zur Eisentherapie 2. 675 


Kauffmann, Friedrich. Klinisch-experimentelle Untersuchungen zum Krankheits- 
bilde der arteriellen Hypertension. III. Teil. Über das Herzklopfen bei Kranken 
mit arterieller Hypertension. (Mit 2 Textabbildungsen) . .. 2.2 22.2..67 
Kauffmann, Friedrich. Klinisch-experimentelle Untersuchungen zum Krankheits- 
bilde der arteriellen Hypertension. IV. Teil. Über die inverse Blutdruck- 
wirkung der Wärme. (Ein Beitrag zur Pathogenese arterieller Hypertension) 702 
Händel, Marcel. Über den Grundumsatz bei Hypertönien 4.208 Se TZD 
Bernhardt, Hermann. Zur Frage des Mineralstoffwechsels bei der Acidose, zu- 
gleich ein Beitrag zur Therapie rachitischer Knochenverkrümmungen. (Mit 
5:Textäabbildungen) 22.23 22.25 IR HER TE EDER NE NEN 
Schilling, Viktor, Jossmann, Karl Hoffmann Rubitschung und van der Spek. 
Biologisch-klinische Blutstudien über allgemeine Infektionsfragen an der Impf- 
malaria der Paralytiker, besonders über ihre unspezifische Wirksamkeit. (Mit 


11. Textabbilduingen a sa 9, So ENTE N A ERNER 
Levi, Ernst. Uber die Ursache der Lebereirrhose bei Polycythämie. Leber- 
schädigung durch Phenylhydrazintherapie, .... ...... 00 0.0 m IT 
Joseph, Fritz. Erfahrungen mit dem Hämogramm nach Schilling. 2: Tees . 185 
Weicksel. Über Stoffwechsel- und Harnsäureuntersuchungen bei bluttransfundierten 
Perniziögen in. ms 2 ee ER EV 
Wichels, Paul, und 'Alfred Behrens. Ein Beitrag zur röntgenologischen Dar- 
stellung der Harnwege mit Kontrastmitteln . . . .. en Re Ne 
Reh, Max. Neues zur Lehre vom Pulse und zur Auffassung der Hochdruckstauung 821 
Autorenverzeichn ia, sea ee Re 837 











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VERLAG VON JULIUS-SPRINGERINBERLINW 9 
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Zeitschrift für klinische Medizin. 100. Band, Heft 6. 





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Anatomie des Pankreas. Von O. Groß. — Physiologie des Pankreas. Von 
O. Groß. —- Innere Sekretion der Bauchspeicheldrüse. Von O. Groß. — Funk= 
tionsprüfungen bei Erkrankungen der Bauchspeicheldrüse. Von O. Groß. — 
Die Röntgendiagnostik der Pankreaserkrankungen. Von 0. Groß. — Funk- 
tionelle Störungen der Pankreassekretion. Von O.Groß. — Anomalien der 
Bauchspeicheldrüse. Von ©. Groß. — Akute Pankreasnekrose. Von N. Guleke. — 
Akute und subakute eitrige Pankreatitis; Pankreasabscess. Von N. Guleke. — 
Chronische Pankreasentzündung und Pankreasnekrose. Von O. Groß. — Die 
chirurgische Behandlung der chronischen Pankreatitis. Von N. Guleke. — 
Konkremente im Pankreas. Von O. Groß. — Die Behandlung der Pankreas» 
steine. Von N. Guleke. — Die Tuberkulose der Bauchspeicheldrüse. Von 


O Groß. — Die Syphilis der Bauchspeicheldrüse. Von O. Groß. — Bronze . 


Diabetes (Hämochromatose des Pankreas). Von O. Groß. — Cystenbildungen 
der Bauchspeicheldrüse. Von O.Groß. — Die operative Behandlung der Pan 
kreascysten. Von N. Guleke. — Das primäre Pankreascarcinom. Von 
O.Groß.— Das Sarkom des Pankreas. Von O0. Groß. — Gutartige Geschwülste 
des Pankreas. Von O. Groß. — Die Behandlung der Pankreasgeschwülste. Von 
N. Guleke. — Die Verletzungen des Pankreas. Von N. Guleke. 


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Die Erkrankungen der Milz. von Privatdozent Dr. med. Hans 
Hirschfeld, Berlin. Mit 16 zum größten Teil farbigen Textabbildungen. 


Die hepato-lienalen Erkrankungen. (Pathologie der Wechsel- 
beziehungen zwischen Milz, Leber und Knochenmark.) Von Professor Dr. Hans 
Eppinger, Wien. Mit einem Beitrag: Die Operationen an der Milz bei den 


hepato-lienalen Erkrankungen. Von Professor Dr. Egon Ranzi, Wiıen.. 


Mit 90 zum größten Teil farbigen Textabbildungen. (699 Seiten.) (Enzyklopädie 
der klinischen Medizin. Spezieller Teil.) 1920. 23.50 Goldmark / 5.60 Dollar 


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Die Erkrankungen der Leber und der Gallenwege 





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Kontrolle des Arztes. 


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Klinikpackung mit 270 Tabletten a 0,25. 


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Druck der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig 











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