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^ZEITSCHRIFT
FÜR
ORTHOPÄDISCHE CHIRURGIE
EINSCHLIESSLICH DER
HEILGYMNASTIK UND MASSAGE,
UNTER MITWIRKUNG VON
Dr. KRUKENBERG io Elberfeld, Prof. Dr. LORENZ in Wien, Privatdoz.
Dr. W. SCHULTHESS in Zürich, Prof. Dr. VULPIUS in Heidelberg, Prof.
Dr. L. HEUSNER in Barmen. Prof. Dr. JOACHIMSTHAL in Berlin, Prof.
Dr. F. LANGE in München, Dr. A. SCHANZ in Dresden, Dr. DREHMANN
in Breslau, Privatdozent Dr. HANS SPITZY in Graz
HERAUSGEGEBEN VON
D R - ALBERT HOFFA,
GEH. MEDIZINALRAT, a. 0 PROFESSOR AN DER UNIVERSITÄT BERLIN.
XV. BAND.
MIT 202 IN DEN TEXT GEDRÜCKTEN ABBILDUNGEN.
STUTTGART.
VERLAG VON FERDINAND ENKE.
1900.
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Druck der Union Deutsche Verlagsgesellschaft in Stuttgart.
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Inhalt.
Seite
I. (Aus der kgl. chirurgisch-orthopädischen Universitätspoliklinik in Ber¬
lin.) [Direktor: Geheimer Medizinalrat Prof. Dr. A. Hoffa.] Ueber
den angeborenen Hochstand des Schulterblattes. Von Denis
G. Zesas in Lausanne. Mit 3 in den Text gedruckten Abbildungen 1
II. (Aus der chirurgisch-orthopädischen Klinik des Geh. Medizinalrats
Prof. Dr. Hoffa.) Angeborene Thoraxdefekte. Von Dr. Adolf
Silberstein, Assistent der Klinik. Mit 3 in den Text gedruckten
Abbildungen.24
III. Zum angeborenen Hallux valgus. Von Denis G. Zesas in Lausanne.
Mit 7 in den Text gedruckten Abbildungen.36
IV. Ueber Spontanamputationen. Von Dr. Oskar v. Ilovorka, Chef¬
arzt für Orthopädie am Wiener Zander-Institut. Mit 7 in den Text
gedruckten Abbildungen.40
V. (Aus der chirurgisch-orthopädischen Klinik des Geh. Medizinalrats
Prof. Dr. Hoffa-Berlin.) Hüftgelenkserkrankungen in Schwanger¬
schaft und Wochenbett. Von Dr. Adolf Silberstein, Assistent
der Klinik.60
VI. Das Genu valgum. Von Prof. Dr. Cesare Ghillini, Oberarzt
der chirurgischen Abteilung am Hospital dell’ Addolorata in Bo¬
logna. Mit 10 in den Text gedruckten Abbildungen.77
VII. Zur plastischen Achillotomie nach Bayer. Ein einfaches Tenotoin.
Von Dr. C. Hübscher, Dozent an der Universität Basel. Mit
2 in den Text gedruckten Abbildungen.86
VIII. Eine kombinierte Methode der photographischen Skoliosenmessung.
Von Dr. Eugen Kopits, ordinierender Arzt für orthopädische
Chirurgie im Stefanie-Kinderspital zu Budapest. Mit 6 in den Text
gedruckten Abbildungen.89
IX. (Aus dem orthopäd. Institut von Dr. Ernst Mayer in Köln a. Rh.)
Schiebeapparate zu orthopädischen Zwecken. (Fortsetzung meiner
Mitteilung: »Ein neuer Apparat zum Strecken der Beine und
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IV
Inhalt.
Seite
Spreizen der Füße“ in der Zeitschrift für orthopäd. Chirurgie
XIV. Band.) Von Dr. med. Ernst Mayer. Mit 7 in den Text
gedruckten Abbildungen.100
X. (Aus dem mediko-mechanischen Zanderinstitut Köln.) Einiges zur
Bruchbandfrage. Von Dr. Gustav Thomas, Spezialarzt für
mechanische Chirurgie in Köln. Mit 2 in den Text gedruckten
Abbildungen.104
XI. Noch einmal die „Kellgreensche Behandlungsmethode“. Von Patrik
Haglund .112
XII. Ueber Stellungs* und Haltungsanomalien rhachitischer Kinder. Von
Dr. med. Brandenberg, Winterthur.114
XIII. Ueber die Kombination der angeborenen Hüftgelenksverrenkung mit
anderen angeborenen Deformitäten. Von Dr. Gustav Albert
Wo 1 lenberg. I. Assistent der Hoffaschen Klinik. Mit 2 Ab¬
bildungen .118
Referate.151
XIV. (Aus der Königl. Universitäts-Poliklinik für orthopädische Chi¬
rurgie in Berlin.) Die infantile cerebrale Hemiplegie. Von
Dr. James Fränkel, Assistenzart.207
XV. (Aus der Professor Dr. V ul p iusschen orthopädisch-chirurgischen
Klinik zu Heidelberg.) Die amniogene Entstehung des angebo¬
renen Klumpfußes. Von Assistenzarzt Dr. Ewald. Mit 3 in den
Text gedruckten Abbildungen.27G
XVI. Zur Kasuistik der angeborenen Coxa vara. Von Dr. Francke,
Chirurg in Altenburg (S.-A.). Mit 3 in den Text gedruckten
Abbildungen.288
XVII. Ein Fall von Scoliosis traumatica und Diabetes nach Blitzschlag
und Trauma. Von Privatdozent Dr. V. Chlumsky in Krakau 294
XVIII. Ein neues Nabelbruchband für Kinder Von Privatdozent Dr.
V. Chlumsky in Krakau. Mit 1 in den Text gedruckten Ab¬
bildung .299
XIX. (Aus der chirurgisch-orthopädischen Privatklinik des Sanitätsrat
Dr. K ö h 1 er-Zwickau i. S.) Ueber einen Fall veralteter Subluxa¬
tion des Os naviculare am Fuß. Von Dr. med. Karl Gaugele,
leitendem Arzt der Klinik. Mit 3 in den Text gedruckten Ab¬
bildungen .302
XX. Meine bei der angeborenen Luxation des Hüftgelenks gemachten
Erfahrungen. Von Dr. Blencke, Spezialarzt für orthopädische
Chirurgie in Magdeburg. Mit 15 in den Text gedruckten Ab¬
bildungen .310
XXI. Ueber die Tuberkulose des Uiosakralgelenkes. (Die tuberkulöse
Sakrocoxalgie.) Von Denis G. Zesas in Lausanne. Mit 2 in
den Text gedruckten Abbildungen.330
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Inhalt V
Seite
XXII. (Aus dem Pathologischen Institut in Berlin.) Ueber kongenitale
Skoliose. Von Dr. A. Perrone aus Neapel. Mit 9 in den Text
gedruckten Abbildungen.353
XXIII. Ein neues Stützkorsett zur Maskierung der Deformität bei Skolio-
tikern mit großem Rippenbuckel. Von Dr. Eugen Kopits,
ordinierender Arzt für orthopädische Chirurgie im Stefanie-
Kinderspital zu Budapest. Mit 6 in den Text gedruckten Ab¬
bildungen .390
XXIV. (Aus der chirurgisch orthopädischen Klinik des Herrn Geheimrats
Prof. Dr. A. Hoffa in Berlin.) Zur mechanischen Behandlung
der Hüftgelenkskontrakturen. Von Dr. Simon Silberstein,
Assistent der H offaschen Klinik. Mit 5 in den Text gedruckten
Abbildungen.402
XXV. Zur Messung mittels Photographie. Von W. F. J. Milatz, Arzt
in Rotterdam. Mit 5 in den Text gedruckten Abbildungen . . 417
XXVI. (Aus Prof. Dr. Vulpius’ orthopädisch-chirurgischer Klinik in
Heidelberg.) Ueber kongenitale Osteodysplasie der Schlüsselbeine,
der Schädeldeckknochen und des Gebisses. („Angeborener Schlüssel¬
beindefekt.*) Ein kasuistischer Beitrag. Von Dr. Max M. Klar,
bisherigem I. Assistenzarzt, Arzt für orthopädische Chirurgie in
München. Mit 9 in den Text gedruckten Abbildungen und einem
Nachtrag aus dem Ambulatorium für orthopädische Chirurgie des
k. k. Regierungsrats Prof. Dr. Lorenz in Wien.424
XXVII. Zur Nachbehandlung der tuberkulösen Coxitis. Von A. Schanz
in Dresden.468
XXVIII. Technische Kleinigkeiten. Von A. Schanz in Dresden. Mit 4 in
den Text gedruckten Abbildungen.476
XXIX. Keimfehler oder abnorme Druckwirkung? (Zugleich Erwiderung
auf Wollenbergs Abhandlung: „Ueber die Kombination der
angeborenen Hüftgelenksverrenkung mit anderen angeborenen De¬
formitäten*.) Von Dr. Paul Ewald, Assistenzarzt derVulpius-
schen Klinik.482
XXX. Keimfehler oder abnorme Druckwirkung? Bemerkung zu Ewalds
gleichnamigem Aufsatz. Von Dr. Gustav Albert Wollen¬
berg, Assistent der Hoffaschen Klinik.494
XXXI. Die Coxa vara unter Zugrundelegung des Materials aus der Privat¬
klinik des Herrn Geheimrat Hoffa und der kgl. Universitäts¬
poliklinik für orthopädische Chirurgie zu Berlin. Von Dr. Carl
Helbing, I. Assistenten der kgl. Universitätspoliklinik für ortho¬
pädische Chirurgie zu Berlin. Mit 81 in den Text gedruckten
Abbildungen.502
XXXIT. Ueber Hüftgelenksverrenkungen nach Coxitis im Säuglingsalter.
Von Dr. Fritz Wette-Berlin. Assistent der Hoffaschen Klinik.
Mit 3 in den Text gedruckten Abbildungen.632
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VI
Inhalt.
Seite
XXXIII. (Aus der chirurgisch-orthopädischen Abteilung der Universitäts-
Kinderklinik Graz.) Aus den Grenzgebieten der Chirurgie und
Neurologie. Von Dr. Hans Spitzy, Oberarzt der Abteilung. Mit
4 in den Text gedruckten Abbildungen.641
Referate.655
Autorenverzeichnis.697
Sachregister.699
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I.
(Aus der kgl. chirurgisch-orthopädischen Universitätsklinik in Berlin.)
[Direktor: Geheimer Medizinalrat Prof. Dr. A. Hoffa.]
Ueber den angeborenen Hochstand des Schulterblattes.
Von
Denis G. Zesas in Lausanne.
Mit 3 in den Text gedruckten Abbildungen.
Der zuerst von Eulenburg im Jahre 1868 im Archiv für
klinische Chirurgie beschriebene angeborene Hochstand des Schulter¬
blattes, über welchen auch nachträgliche interessante Beiträge von
Willet und Walsham, Burney und Sands vorliegen, fand erst
die gebührende Beachtung, seitdem Sprengel im Jahre 1891 vier
einschlägige Fälle veröffentlichte und dabei den Versuch machte, diese
Deformität ätiologisch zu erklären. Seither hat sich die Kasuistik
des angeborenen Schulterblatthochstandes wesentlich vermehrt, ohne
jedoch der Pathogenese dieses eigenartigen Zustandes zu einer be¬
friedigenden Lösung zu verhelfen, was wohl seinen Hauptgrund darin
haben dürfte, daß hier ätiologische Vorgänge in Betracht kommen,
die in das intrauterine Leben zurückgreifen und einer eingehenderen
Forschung besondere Schwierigkeiten entgegenstellen. Auch der Um¬
stand, daß als angeborener Schulterblatthochstand verschiedene
pathologische Prozesse gedeutet wurden, die der ursprünglichen
Sprengel sehen Deformität nicht entsprachen, mag die Lösung der
Frage nach der Pathogenese dieser Mißbildung nicht unwesentlich
erschwert und verwickelt haben.
Angeregt durch einen Fall von angeborenem Hochstand der
Scapula, den wir während unseres Aufenthaltes an der Hof faschen
Klinik zu Gesichte bekamen, unterzogen wir uns der Durchsicht der
einschlägigen zerstreuten Literatur und gestatten uns hier, jene
derselben entnommenen Momente zur Sprache zu bringen, die uns
bezüglich der Genese dieser Deformität etwelche Aufklärung zu
geben berufen zu sein scheinen.
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XV. Bd. 1
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2
Denis G. Zesas.
Die Heredität, welche bekanntlich bei der Pathogenese der
angeborenen Mißbildungen eine nicht unwichtige Rolle behauptet, ist
als ursächliches Moment bei der Aetiologie des Schulterblatthoch¬
standes noch nicht bewiesen worden. Die meisten Krankengeschichten
ermangeln bezüglicher Angaben; nur in einzelnen Beobachtungen
wird hervorgehoben, daß betreffend Heredität nichts zu eruieren war.
Der interessanteste Fall in dieser Hinsicht ist wohl jener Sicks, in
welchem bemerkt wird, daß eine Schwester des Vaters der 4jährigen
Patientin hohe Schulter in ganz ähnlicher Weise aufwies, wie die
Kranke, und daß mehrere Glieder der Familie des Gatten mit der
gleichen Mißbildung behaftet waren. Aus den vorliegenden kargen
Angaben ist es jedoch kaum möglich, die Rolle der Heredität bei der
Aetiologie des Schulterblatthochstandes zu bestimmen, sehr annehmbar
scheint es aber, daß der hereditären Belastung, der ja bei der Patho¬
genese der Mißbildungen im allgemeinen ein wesentlicher Einfluß
zufällt, auch bei dem angeborenen Schulterblatthochstand eine ur¬
sächliche Bedeutung nicht abgesprochen werden darf. Unfälle
während der Schwangerschaft scheinen für das Zustande¬
kommen der Deformität nicht von Belang zu sein, nur in einer Be¬
obachtung Kirmissons erfahren wir, daß die Mutter im 4. Schwanger¬
schaftsmonat einen Fall erlitt und in jener Lamms wird bemerkt,
daß die Schwangere zur Verrichtung andauernder strenger Arbeit
genötigt war. Auch der Beobachtung Janons entnehmen wir, daß
die Mutter der Patientin im 6. Schwangerschaftsmonat einen Fall
vom Zweirad erlitt. Doch alle diese Zufälle scheinen sicher mit der
Entstehung der Mißbildung nicht im Zusammenhang zu stehen.
Interessanter sind die Angaben über die Einzelheiten des Geburts¬
aktes selbst. So wird in dem Hoffa- Boltenschen Falle berichtet,
daß bei der sonst normalen Entbindung die geringe „Frucht-
wassermenge“ der Hebamme auffiel. Nach der Geburt lag der
linke Arm dicht am Rücken an, als ob er dort festgebunden wäre.
Auch Sprengel mißt der geringen Fruchtwassermenge ätio¬
logisch große Bedeutung bei, welcher Anschauung sich auch Peter¬
mann anschließt. Im Gegensatz hierzu wird im Falle Mohrs bemerkt,
daß die Fruchtwassermenge reichlich vorhanden, die Geburt aber
eine schwere gewesen. Auch in dem zweiten Sickschen Falle werden
ähnliche Angaben gemacht; das Fruchtwasser — heißt es — bestand
in beträchtlicher Menge, das Kind aber mußte wegen Wehenschwäche
mit der Zange geboren werden.
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Ueber den angeborenen Hochstand des Schulterblattes.
3
Bezüglich der Lage des Kindes sind die Angaben lückenhaft;
meist handelte es sich jedoch um Kopflagen; Steißlagen sind nur
in den Beobachtungen von Mohr, Beely und Tridon verzeichnet.
Sichere ätiologische Momente für die Genese unserer Deformität
lassen sich somit weder während der Schwangerschaft noch
bei der Entbindung feststellen, so daß wir zur Aufklärung der
Pathogenese nach anderweitigen ursächlichen Gründen fahnden müssen
und dies führt uns zur Besprechung der obwaltenden Theorien über
die Genese des angeborenen Schulterblatthochstandes.
Sprengel, der die erste pathogenetische Theorie aufstellte,
nimmt an, daß der Arm des Fötus durch irgend welche Momente
gedreht und derart auf den Rücken gelagert wird, daß die Rückseite
des Vorderarmes dem Rücken, die Rückseite der Hand dem Darm¬
beinkamm der entgegengesetzten Seite auf liegt. Verharrt nun¬
mehr bei geringerer Fruchtwassermenge der Arm durch
den Druck der Uteruswandungen in dieser Stellung, so
soll infolge der Verkürzung des seinen Ursprungsstellen dauernd
genäherten Musculus cucullaris eine Verschiebung der Scapula
nach oben bewirkt werden. Bei den Versuchen, die Sprengel
au größeren und kleineren Kindern anstellte, indem er die ange¬
nommene Lagerung des Armes künstlich nachahmte, konnte er vor¬
übergehend ein dem angeborenen Hochstand der Scapula ähnliches
Bild erzeugen.
Kölliker, welcher seine erste Beobachtung bald nach der
Publikation der Sprengelschen Arbeit bekannt machte, brachte
zunächst die in seinem Falle angenommene „Exostosenbildung
am oberen Schulterblattrand“ in ursächlichen Zusammenhang
mit der Entstehung des Schulterblatthochstandes; später trat er
jedoch von seiner Annahme zurück, nachdem die vermeintliche
Exostose sich als der umgebogene Schulterblattwinkel
erwies (Hoffa) und schloß sich bezüglich der Pathogenesefrage der
Sprengelschen Theorie an.
Gestützt auf eine Erfahrung bei einer 14jährigen Tochter,
deren intelligente Mutter eine verkehrte Haltung des Armes nach der
Geburt aufs bestimmteste in Abrede stellte, neigt sich Schlange
zur Annahme, daß wenigstens in einem Teil der Fälle der Schulter¬
blatthochstand auf amniotische Verwachsungen zu beziehen
wäre, welche eine Verkürzung des Musculus trapezius und dadurch
ein sekundäres Höhertreten des Schulterblattes bewirke.
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4
Denis G. Zesas.
Schlange stellt die Affektion in Paralelle zu dem durch amniotische
Verwachsungen des Kopfnickers herbeigeführten Caput obstipum con-
genitum. Bei Verkürzung des Sternocleido soll der bewegliche Kopf
dem Zuge des am unbeweglichen Sternum inserierenden Muskels
folgen, bei Verkürzung des Trapezius werde beim Bestreben nach
gerader Kopfhaltung, die bewegliche Scapula nach oben gezogen.
Interessant in dieser Hinsicht ist der Fall Lamms, bei welchem
eine Kombination von angeborenem Hochstand des linken Schulter¬
blattes mit rechtsseitigem muskulären Schief hals zur Beobachtung kam.
Kausch hat in jüngster Zeit versucht, den Defekt des
unteren Bündels des Trapezius in ursächlichen Zusammenhang
mit dem Schulterblatthochstand zu bringen, da er in seinen Fällen
keine stichhaltigen Gründe fand, „diesen Defekt als eine sekundäre
Erscheinung aufzufassen oder ihn als zufälligen Nebenbefund zu be¬
trachten“. In zweien der Kau sch sehen Beobachtungen bestand der
Defekt ein-, in zwei anderen beidseitig, und zwar in dem einen Falle
fehlten nur die unteren Teile, in dem anderen mangelte auf einer
Seite der Muskel gänzlich, während auf der anderen nur ein schmales
Bündel erhalten war, welches an der Grenze von mittlerer und
unterer Partie lag. „Bei dem 5maligen Zusammentreffen von kon¬
genitalem Schulterblatthochstand mit Trapeziusdefekt wirft sich nun
ohne weiteres die Frage auf, — sagt Kausch — ob ein Zusammen¬
hang und welcher zwischen diesen beiden Befunden besteht, oder
ob das Zusammentreffen ein rein zufälliges ist? Bei ersterer Annahme
sind wiederum verschiedene Möglichkeiten vorhanden: Beide Er¬
scheinungen können Folge derselben Ursache sein, oder die eine ist
die Folge der anderen, wobei jede von beiden das Primäre sein
kann. Daß das Zusammentreffen beider Erscheinungen ein zufälliges
ist, scheint mir in Anbetracht der Häufigkeit nicht wahrscheinlich:
in allen Fällen von angeborenem Hochstand der Scapula, welche ich
bisher zu Gesicht bekam, konnte ich den Cucullarisdefekt konstatieren,
womit natürlich keineswegs gesagt sein soll, daß dies immer so sein
müßte. Und dann sind die Beziehungen des Musculus cucullaris zur
Stellung des Schulterblattes doch zu enge, um nicht einen Zusammen¬
hang beider a priori wahrscheinlich zu machen. Ich möchte daher
auf die Annahme des zufälligen Zusammentreffens nur dann zurück¬
kommen, wenn die anderen Erklärungsversuche versagen sollten.
Gegenüber der Annahme, daß beide Erscheinungen Folge derselben
Ursache wären, möchte ich mich ebenso verhalten. Die Annahme,
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Ueber den angeborenen Hochstand des Schulterblattes.
daß der Muskeldefekt die Folge des Schulterhochstandes sei, ist von
der Hand zu weisen. Es können wohl infolge des andauernden
Hochstandes der Schulterblätter und des dadurch bedingten vermin¬
derten Gebrauches, die das Schulterblatt nach anderer Richtung als
nach aufwärts, zumal die es nach abwärts ziehenden Muskeln
atrophieren; niemals können sie aber, wie es hier der Fall ist,
völlig schwinden. Wir kommen S 9 schließlich zur letzten Erklärung,
daß der Schulterhochstand durch den Muskeldefekt bedingt ist. Ist
diese Annahme richtig, so muß die pathologische Stellung der Scapula
durch den Muskeldefekt, den Ausfall an Muskelfunktion, zu er¬
klären sein.*
Diese Kauschsche Auffassung läßt sich im ganzen genommen
nicht von der Hand weisen, da unstreitig der Musculus cucullaris
auf die Lagebeziehungen des Schulterblattes zum Rumpf einen wesent¬
lichen Einfluß ausübt. Beim Fehlen der untersten Bündel des Mus¬
culus cucullaris wird der Antagonist, der Musculus levator scapulae
ein Herabtreten des Schulterblattes verhindern können. Die Literatur
weist eine kleine Anzahl von Fällen auf — es sind deren ca. 10 —
bei welchen nebst dem Schulterblatthochstande Defekte im Gebiete
des Musculus cucullaris beobachtet wurden, ob aber diesen Muskel¬
defekten bei der Aetiologie des Schulterblatthochstandes im allge¬
meinen, jene überwiegend wichtige Rolle obliegt, die man ihnen
zuschreibt, bleibt vorläufig dahingestellt, da es klinisch, selbst mit den
elektrischen Untersuchungsmethoden nicht immer leicht fällt, partielle
Defekte dieses Muskels festzustellen. Auch darf nicht übersehen
werden, daß in einzelnen Fällen der untere Rand des Trapezius auf
der kranken Seite deutlicher wahrnehmbar gewesen, als auf der
gesunden (Fall Bolten u. a.), so daß in diesen Beobachtungen
an ein Fehlen des Muskels kaum gedacht werden darf. Auch ander¬
weitige Muskeldefekte und Muskelveränderungen sind mit dem an¬
geborenen Hochstand des Schulterblattes in Beziehung gebracht
worden, so von Schlesinger ein Defekt des Musculus pectoralis,
von Kays er ein solcher des Sternocleidomastoideus und vonLameris
eine primäre Erkrankung des Musculus rhomboides. Man hat sich
vielfach bemüht, festzustellen, ob der beobachtete Muskelmangel auf
einen Krankheitsprozeß, welcher den Schwund der Muskulatur zur
Folge hat, zurückzuführen wäre, oder ob es sich vielmehr um an¬
geborenes völliges Fehlen der Muskeln, also um eine Mißbildung,
handle. Eine Entscheidung hierin ist nicht erzielt worden, obwohl
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6
Denis G. Zesas.
eine solche Feststellung sich für die Pathogenese der Deformität von
keinem geringen Wert erwiesen hätte. Erb, der in einem Falle von
doppelseitigem Cucullarisdefekt einige exzidierte Muskelstückchen
mikroskopisch untersuchte, konnte eine Anzahl von Veränderungen
konstatieren, welche denen der bei der Dystrophia musc. progr. beob¬
achteten entsprachen. Nichtsdestoweniger ließ er nach eingehender
Würdigung des histologischen Befundes es unentschieden, ob in
seinem Falle tatsächlich ein kongenitaler Defekt Vorgelegen. Damsch
hingegen gelangte bei der Untersuchung eines Falles von angeborenem
einseitigem Defekt des Musculus pectoralis und eines Teiles des gleich¬
seitigen Musculus cucullaris zu dem bestimmten Ergebnis, daß die histo¬
logischen Bilder den typischen Veränderungen der Dystrophia musc.
progr. vollauf entsprachen. Er konstatierte: Vermehrung des Binde¬
gewebes, teilweise Hypertrophie der Muskelfasern, atrophische Fasern
ohne Querstreifen, zum Teil mit deutlicher Längsstreifung, Vakuolen
und Vermehrung der Zahl der Muskelkerne. Dementgegen stehen
uns Fälle zur Verfügung, bei welchen solche Veränderungen gänzlich
fehlten. So fand Schlesinger bei seinem Fall von Defekt des Mus¬
culus pectoralis bei eingehender histologischer Untersuchung und
vergleichender Durchmusterung einer größeren Zahl von Kontroll-
präparaten durchaus normale Verhältnisse. Weder Größenunterschiede
der Muskelfasern, noch Kernvermehrung, noch Zunahme des inter¬
stitiellen Gewebes waren zu konstatieren. Angeborene Muskeldefekte
bieten an sich selbst keine große Seltenheit, so daß auch die hier
in Frage stehenden Muskeldefekte in ungezwungener Weise als an¬
geboren aufgefaßt und den anderen gleichzeitig mit dem angeborenen
Hochstand der Scapula zur Beobachtung gelangten Mißbildungen
gleichgestellt werden dürften. Wenn mitunter histologische Muskel¬
veränderungen bei solchen Fällen beobachtet werden, so vermögen
dieselben kaum die oben erwähnte Annahme zu entkräften, da man
ja, wie Kaiser richtig bemerkt, bei kongenitalen Muskelstörungen
normale mikroskopische Bilder nicht erwarten darf.
Meyer hat anläßlich einer Diskussion über die Genese des
Schulterblatthochstandes in der ärztlichen Gesellschaft zu Kopen¬
hagen die Vermutung ausgesprochen, daß bei der Aetiologie dieser
Deformität auch die Möglichkeit einer Epiphysenlösung am
obersten Ende des Oberarms während der Entbindung in
Frage kommen dürfte. Dächte man sich diese Verletzung in abnormer
Weise geheilt, indem die Epiphyse sich außen und hinten um ihre
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Ueber den angeborenen Hochstand des Schulterblattes.
7
Achse gedreht hätte, so könnte man schon annehmen, daß die Rota¬
tion nach außen aufgehoben wäre, da die Mm. infraspinatus und
teres minor sich an die Epiphyse ansetzen, während die Funktion
der Einwärtsrotatoren (Mm. teres minor und subscapularis, die an
der Diaphyse sich inserieren) nicht beeinflußt wäre. Fügt man hierzu
die Möglichkeit einer gleichzeitigen Nervenläsion, die später resti¬
tuiert würde, so wäre es nach Meyer nicht unmöglich, daß dadurch
ein dem angeborenen Schulterblatthochstande analoges Krankheitsbild
entstünde. Doch gegen eine solche Auffassung sprechen die Röntgen¬
bilder und das Verhältnis des Gelenkes selbst, welches passive Rota¬
tionsbewegungen in normaler Ausdehnung gestattet.
Mit einer abgelaufenen intrauterinen Poliomye¬
litis anterior acuta oder einer eventuellen Cerebralaffektion
suchte Bloch die Mißbildung in Zusammenhang zu bringen; doch
auch für eine solche Auffassung fehlen genügend klinische Anhalts¬
punkte.
Kirmisson verlegte die Ursache der Deformität in eine
Mißbildung des Schulterblattes selbst und stützte sich
hierbei auf das anatomische Präparat eines kurz nach der Geburt
verstorbenen Kindes, welches gleichzeitig mit einer Hüftgelenks¬
luxation und multiplen Skelettdeformitäten ein ganz eigenartiges
Verhalten des Schulterblattes zeigte. Am Schulterblatte war nämlich
eine leichte Entwicklungshemmung, die sich nicht bloß auf die
Gelenkgegend, sondern auch auf verschiedene Teile des Knochens
erstreckte, zu konstatieren. Die Fossa infraspinata war völlig ver¬
schwunden und diese Verbildung am rechten Schulterblatt ausge¬
sprochener als am linken. Das ganze Schulterblatt schien sich
anstatt in der Längsrichtung hauptsächlich in transversalem Sinne
entwickelt zu haben; das Schulterblatt war hierbei in allen Durch¬
messern atrophisch. Auch die Schulterblätter des Patienten Milos
waren wesentlich breiter und kürzer als im normalen Zustande und
eine ähnliche Form zeigte das Schulterblatt des Falles K reck es.
Diese spezielle Form des Schulterblattes ist jedoch pathogenetisch
von großer Bedeutung, da sie uns den Knochen in einer fötalen
Entwicklungsperiode vorführt und somit den Schulterblatthochstand
mit Entwicklungshemmungen in Zusammenhang bringt. Die beträcht¬
liche Höhe dieses Knochens wird beim Menschen erst im Laufe der
Entwicklung gewonnen, die Basis soll bei Neugeborenen und Em¬
bryonen viel schmäler sein als bei Erwachsenen. Nach Kays er
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Denis G. Zesas.
zeigen auch niedere Stämme (Neger) ein relativ niedrigeres und
breiteres Schulterblatt als höhere Menschenrassen.
Diese embryonale Gestaltung des Schulterblattes sollte zu einer
weiteren, vielleicht zu der richtigen pathogenetischen Auffassung des
angeborenen Schulterblatthochstandes führen. Aus der vergleichenden
Anatomie wissen wir, daß die Lage Verhältnisse der Glieder zum
Rumpf der Wirbeltiere allmählich erworbene und nicht ur¬
sprünglich angelegte sind. Bei den niederen Wirbeltieren stehen
die Vordergliedmaßen in naher räumlicher Beziehung zu den dem Kopfe
gehörigen Kiemenbogen; bei den Knochenfischen sind sie mit dem
Kopfe in Verbindung. Gegenbauer nimmt an, daß das Skelett
der Vordergliedmaßen ursprünglich dem Kiemenapparat angehörige
Stützgebilde, das heißt Kiemenbogen waren, welche allmählich ihren
Zusammenhang mit dem Kiemenapparat aufgaben und, indem sie
sich differenzierten, eine selbständige Entwicklungsrichtung ein¬
schlugen. Dieser Annahme entsprechend müssen wir — betont richtig
Kayser — die Anlage des Schulterblattes beim Fötus in der Nähe
der ursprünglichen Kiemenbogen suchen. Von hier schreitet das
Schulterblatt mit fortschreitender Entwicklung des Fötus
allmählich nach unten. Chievitz beschreibt die Lage des fötalen
Schulterblattes folgendermaßen: The most striking points in connection
with the schouldergirdle are the hight position of the bones and the
attitude assumed by the scapula, the body of which lies much more
nearly in a sagittal plane than is the case in adults, owing to the
shape of the upper part of the thorax. The resemblance between
the human foetus and quadripeds in thes peculiarity in the position
of the scapula lias been already pointed out by several authors.
The scapula lies upon the postero-lateral aspect of the thorax over
the prominence corresponding to the position of the lung: it is
inclined to the sagital plane at an angle of about 22 0 in the hori¬
zontal section, and its upper part inclines sliglitey towards the
median plane. It is rotated so that the glenoid fossa is directed
markedly upwards and the inferior angle is carried forward. The
triangulär surface at the inner end of the spine lies close beside
the transverse process of the Ist. dorsal vertebra and the inferior
angle reaches the lower border of the 5 st. rib at a point about
15 mm external to the angle of the rib. The coracoid and glenoid
fossa are placed abowe the level of the Ist. rib and the outer ex-
tremity of the clavicle is directed markedly upwards. In conformity
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Ueber den angeborenen Hochstand des Schulterblattes.
9
with this position of tlie bones the passage from the neck to the
axilla is situated high up and the nerves of the brachial plexus
instead of taking a descending course, pass outwards into the limb
in an almost horizontal direction. The position of the scapula just
describet, whilst it differs from that mat with in adults, in whom
the bone extends from the 2st. to the 7st. rib, in one that is con-
stantly observed in Younger foetuses (for instence in the one measu-
ring 13 mm figured by His). In fact the upper limb is, in its
origin a cervical appendage and retains a position trou-
ghout foetal life indicative of that origin, and it is not until
the beginning of extra uterine life that mechanical influences come
into play and induce permanent modifications of the foetal condition. “ —
Nach einer mündlichen Mitteilung, Chievitz an Rager, soll die
ursprüngliche hohe Anlage der Schulter das ganze Fötalleben hin¬
durch bestehen; ein Descensus scapulae erfolgt nur während des
Geburtsaktes. Auch Hutchinson hat anläßlich der Besprechung
eines Falles von angeborenem Schulterblatthochstande hervorgehoben,
daß die Scapula aus verschiedenen Gründen in ihrer ursprünglichen
hohen Stellung verharren kann, und ausdrücklich auf die Bedeutung
der normalen Fötalstellung der Schulter aufmerksam gemacht, um
den angeborenen Hochstand dieses Knochens zu erklären.
Tridon hat die Lage der Schulterblätter an einigen ausge¬
stoßenen Föten kontrolliert und obwohl bei diesen die gleichen Situs-
verhältnisse nicht obwalten wie bei den sich in der Gebärmutter
noch befindlichen Früchten, so kam er doch zu Resultaten, die mit
denen von Chievitz übereinstimmen und zu der Schlußfolgerung,
daß „comme il £tait ä prövoir, Tomoplate se trouve d’autant plus
elevee que Ton a affaire ä un sujet plus jeune“. Gehen wir von
diesen anatomischen Tatsachen aus, so erscheint es uns am natür¬
lichsten, das eigentliche Wesen des angeborenen Schulterblatthoch¬
standes darin zu suchen, daß durch irgend einen Grund die
Scapula in der Nähe der Stelle, in welcher sie ursprüng¬
lich angelegt war, stehen geblieben ist. Die Deformität
bestünde somit nicht in einer angeborenen Verschiebung des Schulter¬
blattes nach oben, sondern in einem fehlerhaften Descensus sca¬
pulae. Diese die Pathogenese des Schulterblatthochstandes in eine
besondere Beleuchtung stellende Theorie soll nach Rager von Slo-
niann stammen; wir finden sie aber auch in der Arbeit Kaysers
vertreten.
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10
Denis G. Zesas.
Nach dieser Auffassung, welche der hier in Rede stehenden
Deformität eine ungezwungene Aufklärung verschafft, soll der an¬
geborene Schulterblatthochstand wie jede andere kongenitale Mi߬
bildung auf einer Entwicklungshemmung beruhen, deren
spezielle Ursachen wiederum teils in innerhalb der Frucht ge¬
legenen Einflüssen, teils in äußeren Gründen zu suchen sind. Ihrem
Wesen nach sind uns erstere noch völlig unbekannt. Die Heredität,
welcher bei der Aetiologie der Mißbildungen im allgemeinen eine
wesentliche Rolle zugedacht wird, ist bei dem Schulterblatthochstand
noch nicht bewiesen; vielleicht werden nachträgliche Erfahrungen
uns besser darüber orientieren. Nichtsdestoweniger scheint es uns,
daß wir in den so oft neben dem angeborenen Hochstand der Scapula
beobachteten anderweitigen Mißbildungen einen unumstößlichen Be¬
weisgrund besitzen, daß auch dieser Deformität kein anderer patho¬
genetischer Grund als jener der Entwicklungshemmungen zugeschrieben
werden darf. Die Kasuistik weist eine Anzahl von Fällen auf, bei
denen gleichzeitig mit dem Schulterblatthochstand verschiedene Mi߬
bildungen zur Beobachtung gelangten. So finden wir unter diesen:
Totaler Radiusdefekt und Schädelmißbildung (Bolten), Defekt des
Ober- und Vorderarmes (Joachimsthal), angeborener Schiefhals
(Lamm und Beely), aufgetriebener Schädel, schlitzförmige Lid¬
spalten (Schlesinger), angeborene Enge des Afters (Pankow),
Asymmetrie der Gesichtshälften (Honseil), Spaltung im Bereiche
der Hals- und Brustwirbelsäule (Sick), ausgedehnte trophische
Störungen am Skelett und an den Muskeln (Holz), mehrfache Muskel¬
defekte (Kausch, Kay ser u. a.), Wanderniere (Hödlmoser), Atro¬
phie der einen Unterextremität (Sainton), Rippendefekte (Willett
und Walsham), Ectopia analis (Kirmisson). Interessant sind die
Fälle Gourdons, bei welchen das ganze Skelett, besonders aber
Schultergegend, Scapula und Oberarm in der Entwicklung zurück¬
geblieben waren.
Dem nebst diesen Deformitäten bestehenden angeborenen
Schulterblatthochstande kann keine spezielle pathogenetische Deutung
gegeben werden, da derselbe jedenfalls nur ein Kettenglied der ver¬
schiedenen Entwicklungshemmungen darstellt und zweifelsohne den
gleichen Ursprung hat. Eine mangelhafte Anlage des Schulter¬
gürtels darf ohne weiteres als der namhafteste pathogenetische
Grund des angeborenen Schulterblatthochstandes angenommen werden
und hierher sind die wiederholt konstatierten Formveränderungen des
Digitized by
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Ueber den angeborenen Hochstand des Schulterblattes.
11
Schulterblattes zu zählen. Ob nebst diesen Entwicklungsstörungen
in der Anlage des Schultergürtels noch äußere mechanische Mo¬
mente für die Deformität verantwortlich gemacht werden müssen,
die den normalen Schulterblattdescensus verhindern, ist möglich,
aber noch nicht einwandfrei erwiesen. Eine pathologische Stel¬
lung des Armes, bedingt durch Fruchtwassermangel und Druck der
Gebärmutterwandungen, könnte in der Tat das Schulterblatt in
seinem Tiefertreten auf halten, obwohl es schwer faßlich, wie ein
so beweglicher Körperteil wie der Arm anhaltend fixiert bleiben
kann. Nicht unwahrscheinlich wäre es auch, daß die Retentio sca-
pulae die Richtung des Proc. glenoidalis ändert und somit, wie
Sick bemerkt, die pathologische Armstellung sekundär zu stände
kommt. Doch selbst zur Aufklärung der wichtigsten mechanischen
Ursachen sehen wir uns genötigt, wiederum Entwicklungshemmungen
zu Hilfe zu nehmen. Hierher gehören in erster Linie die mehrfach
beobachteten Muskeldefekte, die zweifelsohne mit dem Nichttiefer¬
treten des Schulterblattes in innigem Zusammenhang stehen. Auch
die öfters beschriebenen Knochenspangen, die Rippen- und Scapula¬
exostosen, die für den fehlenden Descensus scapulae verantwort¬
lich gemacht werden, sind auf Entwicklungshemmungen, wahr¬
scheinlich auf versprengte Knochenanlagen, zurückzuführen. Solche
Knochenspangen und Exostosen werden von Willett und Walsham,
Kirmisson, Hutchinson, Goldthwait und Painter u. a. be¬
schrieben. ln den Fällen von Willett und Walsham handelt es
sich um eine 32jährige Frau und um ein 8jähriges Mädchen. In
der ersteren Beobachtung wurde eine Knochenspange, welche die
Scapula mit den zwei letzten Cervikalwirbeln verband, in der zweiten
eine Knochenmasse, welche zwischen Schulterblatt und Wirbelsäule
saß, konstatiert. Nebenstehend geben wir drei diesbezügliche Ab¬
bildungen der ersten Beobachtung, die wir der Tridonsehen Arbeit
entnehmen, wieder.
Goldthwait und Painter sind einer ähnlichen Knochenspange
begegnet, welche mit der Wirbelsäule und der Scapula artikulierte,
auch Kirmisson erwähnt das Vorhandensein eines solchen Zwischen¬
knochens und bemerkt: Aujourdhui il est bien prouvö et par la
radiographie et par Tanatomie pathologique faite sur le vivant au
cours des operations que nous venons de rapporter, que, parmi les
cas de surelevation congönitale de l’omoplate, il en est un certain
nombre qui s’expliquent par la presence de pieces osseuses surnume-
Digitized by
Google
12
Denis G. Zesas.
raires reliant cet os ä la colonne vertebrale, et mettant obstacle ä
son abaissement.
Hutchinson zeigte der Pathological society in London ein
Präparat von einem Kinde stammend vor, wo die linke Schulter
hoch im Nacken unter dem Hinterkopf festgestanden hatte. Das
Präparat demonstrierte, daß die Laminae von Vert. cervicalis
3 und 4 einander nicht in der Mitte begegneten und daß sie an der
linken Seite zusammenge¬
schmolzen waren. Auch fand
man eine abnorme Verbin¬
dung zwischen den gespalte¬
nen Wirbeln und der oberen
medialen Ecke des Schulter¬
blattes, so daß das Schulter¬
blatt bei diesem Vorsprung,
der ossös in nächster Nähe
der Wirbelsäule und karti-
laginös bei dem Schulterblatt
gewesen, an der Wirbelsäule
aufgehängt war. Während
Hutchinson es für unwahr¬
scheinlich erklärt, daß der
oben beschriebene, teilweise
knöcherne Vorsprung eine ab¬
norme Entwicklung eines
supraskapulären Elementes
sein möchte — This disposition disproved the possible view that the
osseous process was an abnormal developpement of a suprascapular
element — gehtBowlby weiter, indem er annimmt, daß diese Exostose
oder Ecchondrose mit einer ausgedehnteren Mißbildung der Wirbelsäule
zusammenhängt, „as part of a deeper failure in the developpement of the
spine,“ was ja auch sehr glaublich erscheint. Alle beide aber sind
der Ansicht, daß diese abnorme Verbindung zwischen dem Schulter¬
blatt und der Wirbelsäule die Ursache abgibt, daß das Schulterblatt
in seiner ursprünglichen hohen Stellung verblieben ist. The high
Position of the scapula corresponded with the normal primitive
condition of the human subject.
Zwei weitere ähnliche Fälle teilt Rag er mit. Bei einem 8jäh-
rigen Knaben mit linksseitigem Schulterblatthochstand fand sich
Fig. l.
Hintere Ansicht.
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Ueber den angeborenen Hochstand des Schulterblattes.
13
zwischen dem Schulterblatt und der Wirbelsäule eine scharf be¬
grenzte schmale Knochenspange, welche vom oberen Teil des medianen
Fig. 2.
Vordere Ansicht.
Schulterblattrandes bis zur Gegend des Proc. spinosus und Vert.
prom. ging und dort mit der Wirbelsäule in loser Verbindung
stand. Bei einem zweiten 6jährigen Knaben mit linksseitigem Schulter¬
blatthochstand bestand eine ähnliche, 3 cm
breite, 2 cm hohe Knochenleiste, welche
sich vom medialen Rand des Schulter¬
blattes bis nahe an den Proc. spinosus
des ersten Dorsalwirbels, mit diesem in
lockerer Verbindung stehend, erstreckte.
Eine weitere pathologische Erscheinung,
die nebst dem angeborenen Schulterblatt¬
hochstande beobachtet wurde und die
gleichfalls überzeugend auf Entwicklungs¬
störungen hindeutet, ist die Rhachischisis
der Halswirbelsäule. In einem von Sick beobachteten Falle, wo
die Halswirbelsäule lordotisch ausgebogen war, waren die Proc.
spinosi der Halswirbel nicht abzutasten. Man fühlte nur undeut¬
liche Prominenzen rechts und links von der Mittellinie; in dieser
selbst kam der Finger in eine schmale für die Kleinfingerkuppe
Fig. 3.
Obere Ansicht.
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14
Denis G. Zesas.
nicht passierbare Rinne, welche sich bis etwa zum zweiten Brust¬
wirbel verfolgen ließ. Die Röntgenaufnahme zeigte entsprechend
dieser Rinne eine eigentümliche, unregelmäßige, zickzackförmige
Unterbrechung der Knochenschatten, vom zweiten Brustwirbel be¬
ginnend , bis sie sich in dem tiefen Kopfschatten verlor. Sie
bestätigte die Vermutung, daß es sich nur um eine Spaltbildung
im Bereiche der Lordose handelte. In tieferen Abschnitten der
Wirbelsäule erwiesen sich die Spangen ungespalten. Die oberen
Scapularänder sah man beiderseits die Thoraxkuppel überragen. Die
Proc. coracoidei waren groß und tief dunkel. In einem zweiten, eben¬
falls von Sick mitgeteilten Falle zeigte das Röntgenbild eine am
vierten Brustwirbel endigende unregelmäßige Aufhellung der Hals¬
wirbelschatten,- die wieder als Hemmungsbildung der Wirbelsäule zu
deuten ist. Eigenartig war noch die starke Knickung und Abwärts¬
neigung der oberen Rippen, ihre Schmalheit oder Kantenstellung,
wahrscheinlich hing diese Erscheinung auch mit der Wirbelmi߬
bildung zusammen. Von der Höhe des zweiten Lendenwirbels bis
zum Sacrum fand sich reichlicher Haarwuchs von feinen blonden bis
20 cm langen Haaren. Weiter beschreibt Rager in seinem 3. Falle,
wo sich zwischen medialem Schulterblattrand und Wirbelsäule eine
knöcherne Spange vorfand, einen auf dem Röntgenbild sichtbaren
mangelhaften Verschluß der hinteren Wirbelbogen der beiden untersten
Hals- und obersten Brustwirbel mit einer Verschiebung der linken
Hälfte nach oben.
All die erwähnten Beweisgründe sprechen mit Bestimmtheit
zu Gunsten der Annahme, daß dem angeborenen Schulterblatthoch¬
stand Entwicklungshemmungen in der Anlage des Schul¬
tergürtels zu Grunde liegen und daß die damit einhergehenden
Form Veränderungen der Scapula oder die Weiterentwicklung ver¬
sprengter Knochenanlagen den normalen Descensus scapulae verhindern
können. Weiterhin ist nicht zu übersehen, daß ein gänzlicher oder
partieller kongenitaler Mangel der am Schulterblatt sich inserierenden
Muskulatur oder eine im Fötalleben sich einstellende Atrophie derselben
nicht ohne Einfluß auf die Lagerung des Schulterblattes bleiben kann
und besonders wichtig erscheinen in dieser Hinsicht die Mm. pectoralis
minor und trapezius. Doch auch das Fehlen dieser Muskeln ist auf
eine Entwicklungshemmung zurückzuführen, so daß im Ganzen ge¬
nommen der angeborene Schulterblatthochstand als eine Entwick¬
lungshemmung xat’ sio'/’^v angesehen werden muß. Auch die
Digitized by CjOOQle
Ueber den angeborenen Hochstand des Schulterblattes.
15
Tatsache, daß der angeborene Hochstand so häufig ohne anderweitige
Mißbildungen auftritt, spricht nicht gegen diese Annahme, da ja ver¬
einzelte Bildungsanomalien bei sonst wohlgebauten Individuen nicht
selten sind. Freilich wird es nicht immer leicht fallen, faßbare ätio¬
logische Momente für den fehlenden Descensus scapulae nachzuweisen,
da trotz radiographischer Untersuchungen abgesprengte Knochen¬
stückchen sowie Form Veränderungen der Scapula zuweilen unbemerkt
bleiben, gleich wie unsere klinischen Untersuchungsmethoden den
Mangel einzelner Muskeln oder Muskelteile nicht immer festzustellen
vermögen.
Der angeborene Schulterblatthoch stand ist, soweit unsere Nach¬
forschungen reichen, bis anhier lOOmal beobachtet worden. Wir lassen
in tabellarischer Form die diesbezüglichen Beobachtungen folgen *):
i.
2 ;
6
Autor
Alter
Ge- ‘
schlecht
Affizierte
Seite
Bemerkungen
^ '
des Patienten '
i
Eulenburg
10 Monate
w.
rechts
Retraktion des Muse, leva-
2
Derselbe
5 V 2 Jahre
m.
rechts
tor anguli scap. und des
3
Derselbe
9 Jahre
w.
links
oberen Teiles des Muse,
cucullaris.
4
Willet und
W alsharn
?
9
9
—
5
Dieselben
8 Jahre
m.
?
Ein Zwischenknochen
fixierte das Schulterblatt
an der Wirbelsäule.
6 1
Mac Burney
23 Jahre
w.
rechts
—
7
Sands
2 Jahre
m.
9
Es wurden in diesem Falle
verschiedene Tenotomien
und eine partielle Resek¬
tion des Schulterblattes
8
vorgenommen.
Sprengel
1 Jahr
9
links
Sprengel nimmt die be¬
9
Derselbe
4 Jahre
9
links
reits besprochene ver¬
10
Derselbe
6 Jahre
?
links
kehrte Stellung des Armes
11
Derselbe
7 V« Jahre
? j
links
bei geringer Fruchtwas-
serraenge als ätiologi¬
sches Moment an.
12
Schlange
14 Jahre
w.
rechts
Verkürzung des Mu9C. cu-
13
j Derselbe
30 Jahre
in.
i rechts
cullarisenlsprechend dem
Hochstande des Schulter¬
blattes.
*) In dieser Statistik sind nur Fälle von zweifellos angeborenem Hoch¬
stand de3 Schulterblattes aufgenommen, Beobachtungen, deren kongenitaler
Ursprung unsicher, oder solche, die der Spren ge Ischen Deformität nicht ent¬
sprechen, 6ind umgangen.
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Google
16
Denis 6. Zesas.
Ä
©
J
Autor
Alter
des Pa
Ge¬
schlecht
tienten
Affizierte
Seite
Bemerkungen
14
Permann
?
?
links
15
Derselbe
?
?
links
—
16
Bolten
3 V* Jahre
m.
links
Bei der Operation erwies
sich, daß der obere Schul¬
terblattrand, der fast die.
Clavicula erreichte, die
angenommene Exostose
vorgetäuscht hatte.
17
Tillmanns
8 Jahre
w.
rechts
Verkürzung d. M.trapezius.
18
Beely
l 1 /* Jahre
m.
links
—
19
Derselbe
4 Jahre
m.
rechts
—
20
Derselbe
3 Monate
w.
rechts
—
21
König
7 Jahre
w.
9
—
22
Wiesinger
2 Jahre
in.
rechts
Wenig Fruchtwasser.
23
Krecke
15 Jahre
w.
links
—
24
Kölliker
10 Jahre
m.
rechts
—
25
Wolffheim
16 Jahre
w.
rechts
—
26
Kirmisson
117* Jahre
w.
rechts
' —
27
Derselbe
4 Jahre
w.
rechts
—
28
Pischinger
10 Jahre
m.
links
Cucullaris spannt sich stark
29
Derselbe
3 Jahre
w.
links
an. ValgU88tellung beider
Füße.
30
Kölliker
10 Jahre
m.
links
—
31
Derselbe
?
?
9
—
32
Pitsch
37* Jahre
m.
links
Exostosenartig vorspringen¬
der Fortsatz des Schul¬
terblattes.
33
Milo
?
m.
beider¬
seits
—
34
Sainton
9 Jahre
m.
rechts
—
35
Monnier
4 Jahre
m.
links
—
36
Jouon
?
m.
links
—
37
Tilan us
10 Jahre
m.
links
In einem operativ behan¬
38
Derselbe
1 Jahr
m.
links
delten Falle wurde eine
39
Derselbe
9
9
links
subskapuläre Exostose
40
Derselbe
8 Jahre
m.
links
!
konstatiert; in zwei wei¬
teren Fällen glaubt Ti¬
lan u s ebenfalls eine
Exostose annehmen zu
dürfen.
41
Freiberg
4 1 1 2 Jahre
w.
links
—
42
Nove Josse*
rand
9 Jahre
w.
rechts
—
43
Gourdon
10 Jahre
m.
rechts
—
44
Derselbe
11 Jahre
m.
rechts
—
45
Derselbe
17 Jahre
m.
rechts
—
46
Derselbe
1 Jahr
m.
rechts
—
47
Virden
10 Jahre
1 W. 1
links
—
48
W achter
29 Jahre
1 ra.
links
—
49
Derselbe
24 Jahre
m.
rechts
—
50
Sainton
12 Jahre
| m.
links
—
Digitized by v^.oo5Le
.füe.
Ueber den angeborenen Hockstand de8 Schulterblattes.
17
i
51
52
53
•54
55
56 j
57
•58 1
59
60
61
62 !
63 |
64
65
66
67
68
69
70
71
72
J
Autor |
Alter
Ge¬
schlecht
Affizierte
Seite
Bemerkungen
des Patienten
Sainton
28 Jahre
w.
rechts
Joachimsthal
10 Jahre
m.
rechts
—
Sick
4 Jahre
w.
beider-
Rhachischisis.
seits
Derselbe
9 Jahre
w.
rechts
—
Kausch
12 Jahre
w.
beider-
Bei Palpation der Muskeln
Derselbe
seits
ergab sich, daß links der
M. trapezius völlig fehlte.
8 Jahre
w.
beider-
Palpation, mechanische u.
seits
faradisehe Erregbarkeit
erwies, daß vom Cucul-
laris nur die obersten
Partien normal ent¬
wickelt waren.
Derselbe
3 Jahre
m.
links
Völliges Fehlen der Rhom-
boides und des unteren
Teiles des Cucullaris.
Derselbe
28 Jahre
m.
links
Die palpatorische Unter-
l
suchung des M. cucullaris
ergab, daß derselbe rechts
vollkommen normal war,
links fehlte die untere
Partie völlig.
Derselbe
7 Jahre
?
links
: Hier fehlte für die Palpa-
Honseil
• tion wie für den faradi-
schen Strom der unterste
Teil des linken Trapezius.
41 Jahre
m.
beider¬
—
seits
Göppert
?
! 9
beider¬
—
i
seits
Pankow
6 Jahre
m.
beider¬
—
seits
Wittfeld
9 Jahre
w.
beider¬
—
seits
Müller
3 1 /2 Jahre
w.
beider¬
—
seits
Mohr
22 Jahre
w.
beider¬
—
Hirsch
seits
1 Jahr
w.
beider¬
_
Weiß und
8 Monate
seits
IC Jahre
m.
rechts
—
Froelich
Bulow-
Hansen
4 Jahre
m.
rechts
—
Maaß
?
9
rechts
—
Derselbe
?
?
rechts
_
Derselbe
?
?
rechts
_
Broca
?
I w.
rechts
—
. 1 I 1
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XV. Bd.
2
Digitized by v^.oo5Le
18
Denis 6. Zesas.
Ä
c>
Autor
Alter
Ge¬
schlecht
Affizierte
Seite
Bemerkungen
2
des Patienten
73
Cantru
9
! m.
links
Multiple anderweitige Miß-
i
bildungen. Angeborene
Luxation beider Radius-
I
1
köpfchen. Kongenitale
Luxation d. linken Hüfte.
Klumpfüße.
74
Wilson und
■ Torrange
7 Jahre
w.
links
—
75
I Dieselben
17 Jahre
w.
links
Da9 Röntgenbild zeigte eine
1
1
abnorme Knochenverbin¬
dung zwischen Hals¬
wirbelsäule und Schulter¬
blatt.
76
Watermann
9
m.
links
Abnorme Knochenverbin-
!
düng zwischen Hals¬
wirbelsäule und Schulter-
blatt.
77
Rüssel -Hibbs
25 Jahre
m.
9
Abnorme Knochenverbin-
i
düng zwischen Hals¬
wirbelsäule und Schulter-
i
blatt.
78
Lamm
5*/-« Jahre
w.
links
Kombination mit musku-
1
| lärem Schief hals.
79
i Kayser
19 Jahre
m.
links
j Schultermuskeldefekte. Bei
i
1
' der elektrischen Prüfung
ließen sich auf der linken
1
Seite die dem M. sterno-
| cleidomastoideus angehö-
rigen Muskelfasern nicht
erkennen. Linker Tra-
| pezius trat bei indirekter
1 Reizung weniger hervor
als der rechte.
80
Lam eria
6 Jahre
w.
rechts
Lameris nimmt eine pri¬
märe Erkrankung des
M. rhomboides als ätio¬
'
logisches Moment an.
81
Höd lmoser
12 Jahre
m.
links
—
82
Mercie r
3 Jahre
m.
links
—
83
Schlesinger
22 Jahre
m.
links
Defekt des M. pectoralis.
84
Fort
11 Jahre
m.
links
—
85
R a g e r
8 Jahre
w.
rechts
—
86
Wilson und
7 Jahre
w.
rechts
—
Rugli
87
Dieselben
16 Jahre
w.
links
—
88
Rager
8 Jahre
EU.
links
—
89
Derselbe
5 Jahre
m.
links
Siehe Text.
90
Ho ffa
3 V* Jahre
m.
links
91
Goldthwaint
und Painter
11 Jahre 1
1
m.
rechts
92
Dieselben 1
i
12 Jahre
m.
links
—
Digitized by v^.oo5Le
Ueber den angeborenen Hochstand des Schulterblattes.
19
* 1
Autor
i
j Alter
Ge¬
schlecht
Affizierte 1
Seite
Bemerkungen
tZ
des Patienten
93 |
Tridon
12 Jahre
1
m.
links
_
94 :
Dersel be
28 Jahre
w.
rechts
—
95 !
Derselbe
26 Monate!
w.
links
—
96 1
Piscninger
16 Jahre
w.
rechts
j —
97
Kirmisson
6 Monate
m.
links
98
Derselbe
23 Monate
m.
links
—
99 ’
Hutchinson
9 |
m.
links
—
1
jun.
j
Als der hundertste Fall sei hier kurz zusammengefaßt jener wieder¬
gegeben, den wir an der Hoffaschen Klinik zu Gesichte bekamen
und der leider, da die Adresse des betreffenden Patienten unrichtig
vermerkt worden, behufs nachträglicher eingehender Untersuchung
nicht mehr auffindig gemacht werden konnte:
Der 5jährige R. D., von gesunden Eltern stammend, wurde in
Kopflage und ohne Kunsthilfe geboren. Er hat noch zwei Geschwister,
die gesund sind und keine Abnormitäten aufweisen. Hereditäre Mi߬
bildungsanlage wird des bestimmtesten in Abrede gestellt. Ueber
Fruchtwasserverhältnisse kann keine Auskunft erlangt werden. Schon
im Laufe der ersten Lebensmonate bemerkte die Mutter beim Baden
des kleinen Patienten, daß dessen rechtes Schulterblatt höher stand,
und daß er den rechten Arm nicht so frei bewegte wie den linken,
was sie als „ Schwäche“ deutete und dafür keinen ärztlichen Rat
einholte. Auch zur Konsultation in der Universitätspoliklinik für
orthopädische Chirurgie stellte sie sich nicht des Armzustandes ihres
Kindes, sondern seiner Beine wegen, die seit einem Jahre krummer
zu werden begannen und seither sich bedeutend verschlimmert hatten,
ein. Bei der Untersuchung sah das Kind gesund aus. Die Extremi¬
täten etwas zart, die beiden Tibiae O-förmig gekrümmt, auch die
Oberschenkelknochen leicht gebogen. Am Thorax rhachitische Merk¬
male, Muskulatur mäßig entwickelt, Fettpolster gering. Beide Arme
hängen parallel am Thorax herunter, der rechte Arm ist jedoch leicht
nach außen rotiert. Von hinten gesehen, fällt sofort die Abnormität
der rechten Scapula auf. Das rechte Schulterblatt steht ca. um 5 cm
höher als das linke und scheint bei der Palpation, die bei den dünnen
Weichteilen gut möglich ist, breiter und niedriger zu sein als das
Digitized by
Google
20
Denis G. Zesas.
linke. Die Palpation der Scapularänder läßt keine wesentliche Ab¬
weichung von der Norm erkennen, auch die Muskulatur bietet, soweit
es die Untersuchung gestattet, keine Abnormitäten. Neben dem
Schulterblatthochstand ist eine linkskonvexe Skoliose der oberen Brust¬
wirbelsäule auffällig. Die Bewegungsfähigkeit des linken Schulter¬
gürtels ist normal, die des rechten nur mäßig behindert. Das Hoch¬
ziehen der Schultern geschieht fast gleichmäßig, nur ist ein Erheben
des Armes der kranken Seite in der Frontal- wie in der Sagittal-
ebene über 110° weder aktiv noch passiv möglich. Bei dem Versuch,
den Arm passiv noch mehr zu heben, spannt sich die Muskulatur
sehr stark an. Die Bewegungen im Schultergelenk sind frei.
Soweit die Krankengeschichte dieses Falles, welcher leider zur
radiographischen, sowie elektrischen Untersuchung der einzelnen Muskeln
nicht mehr auffindig gemacht werden konnte; insofern aber Interesse
bietet, als nach Angabe der Mutter das Kind sehr spät gehen gelernt
hat, und die krummen Beinchen sich frühzeitig bemerkbar machten,
schon als dasselbe zu stehen begann. Ob in diesem Falle die Rha-
chitis in ätiologischer Beziehung mit dem Schulterblatthochstande
steht, und ob es sich hier um jene seltene, vielumstrittene Form der
fötalen Rhachitis handelt, welche gewisse Formveränderungen der
Scapula erzeugte, die den normalen Descensus verhinderten, ist schwer
zu entscheiden. Jedenfalls aber gehört diese Beobachtung nicht zu
dem erworbenen Schulterblatthochstand, über den K öl liker und
Groß berichtet haben. Der Hochstand der Scapula wurde von der
Mutter schon im Laufe der ersten Lebensmonate bemerkt,
anderweitige nahmhafte rhachitische Symptome haben sich erst nach¬
träglich eingestellt. Wenn ein Zusammenhang des Schulterblatt¬
hochstandes und der Rhachitis bestünde, so könnte nur jene seltene
Form der fötalen Rhachitis in Frage kommen.
Ueberblicken wir nur die weiter oben angeführte Kasuistik,
so ergibt sich, daß der angeborene Hochstand des Schulterblattes
48mal bei Männern und 34mal bei Frauen zur Beobachtung gelangte.
Bei den übrigen Fällen ist das Geschlecht nicht genauer angegeben,
indem häufig die Bezeichnung „Kind“ gebraucht wird. In 47 Fällen
war die linke und in 3(5 Fällen die rechte Seite betroffen. In
11 Beobachtungen begegnen wir der Affektion doppelseitig. Die
Mißbildung scheint also die linke Körperseite zu bevorzugen. Das
Alter der Patienten schwankt zwischen 3 Monaten und 41 Jahren
und zwar entfallen:
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Ueber den angeborenen Hochstand des Schulterblattes.
21
auf das 1.—10. Lebensjahr 56 Fälle
, , 10—20. , 18 jy
„ „ 20.-30. , 10 ,
, • 30.-40. , — ,
, , 40.-50. „ 1 .
Das Maß der Verschiebung schwankt bei Kindern zwischen 2 und
6 cm, bei Erwachsenen zwischen 3 und 12 und hält sich im Durch¬
schnitt bei letzteren auf 6,5 cm. Diese Zahlen würden für eine
Steigerung des Grades der Deformität mit den Jahren sprechen, was
prognostisch zu berücksichtigen wäre, leider belehrt uns die vor¬
handene Kasuistik nicht, wie sich mit den veränderten Größenver-
hältnissen die funktionellen Störungen verhalten haben. Nur in
1 Falle Kirmissons ist bei wiederholter Beobachtung ein Sta¬
tionärbleiben des ganzen Symptomenkomplexes konstatiert worden.
Die beobachteten Funktionsstörungen sind im allgemeinen unbe¬
deutender Natur, die hochgradigsten derartigen Symptome bestehen
in der Unmöglichkeit, den Arm über die Horizontale zu heben oder
denselben horizontal seitwärts zu bewegen. Auch die Supination
des Armes wird bisweilen beeinträchtigt gefunden. Eine ziemlich
gewöhnliche Nebenerscheinung des Schulterblatthochstandes ist die
skoliotische Verkrümmung der Wirbelsäule. Sie ist vielfach be¬
sprochen und erklärt worden; interessant sind die Fälle von Schulter¬
blatthochstand, die mit angeborener Skoliose zur Beobachtung ge¬
langten (Willett und Wal sh am).
Eine Behandlung des angeborenen Schulterblatthochstandes
wird selten in Frage kommen, da dieser Mißbildung im allgemeinen
nur die Bedeutung eines Schönheitsfehlers zukommt. Die operativ
erzielten Resultate ermutigen im ganzen genommen auch zu keinem
chirurgischen Eingriff. Gymnastische Uebungen werden die Gebrauchs¬
fähigkeit des Armes auf ungefährliche und sichere Weise steigern,
nur in refraktären Fällen wird man zur Hof faschen Operation, über
deren Erfolg Pitsch eingehend berichtet, schreiten.
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22
Denis G. Zesas,
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II.
(Aus der chirurgisch-orthopädischen Klinik des Geh. Medizinalrats
Prof. Dr. Hoffa.)
Angeborene Thoraxdefekte.
Von
Dr. Adolf Silberstein,
Assistent der Klinik.
Mit 3 in den Text gedruckten Abbildungen.
Angeborene Mißbildungen des Thorax sind nicht allzu häufig.
Die Literatur ist dementsprechend recht spärlich. Zwei Thorax¬
deformitäten, die interessante Einzelheiten aufweisen, gelangten kurz
hintereinander nach dem Gesetz von der Duplizität der Fälle in der
Klinik meines hochverehrten Chefs des Herrn Geheimrats Professor
Dr. Hoffa zur Beobachtung.
Wir unterscheiden kongenitale Mißbildungen des Brustbeins,
der Brustmuskeln und der Kippen. Für unsere Betrachtungen
scheiden die Sternaldefekte aus. Brustmuskeldefekte und Rippen¬
defekte kommen getrennt und vereint vor. Das Fehlen des M. pecto-
ralis major, minor und des M. serratus anticus major ohne weitere
Anomalien ist mehrfach beschrieben worden (Cru veil hier, Nuhn,
Gruber, Hirtel, Ziemssen, Eulenburg, Berger, Epstein u. a.
mehr). Defekte der Brustmuskulatur und der Rippen vereint finden
sich in der Literatur zum ersten Male in einem Bericht Frorieps
in den „Neuen Notizen aus dem Gebiete der Natur- und Heilkunde“
vom Jahre 1839.
Froriep, in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts Pro¬
sektor an der Charite, Virchows Lehrer und Vorgänger, beschreibt
den Sektionsbefund einer 30jährigen Frau, die einer Peritonitis nach
der Entbindung erlag. Ihm fiel der Mangel der rechten Brustdrüse
auf, die genauere Untersuchung ergab dann den Befund, den er wie
folgt beschreibt:
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Angeborene Thoraxdefekte.
25
„Die dritte und vierte Rippe endigt gerade vor dem vorderen
Rande des Schulterblattes, so daß die vordere Brustfläche von da bis
zum Brustbein zwischen der zweiten und fünften Rippe nur durch
eine feste sehnige Haut geschlossen wird. Die zweite und fünfte
Rippe ist normal gebildet, doch steht die zweite höher und die fünfte
tiefer als die der linken Seite. Die Rippenknorpel der dritten und
vierten Rippe der rechten Seite scheinen nicht ganz zu fehlen, denn
es setzen sich in der Höhe der dritten und vierten Rippe knorplige
Massen an den rechten Brustbeinrand, welcher zwar mit dem Rippen¬
knorpel der fünften und sechsten Rippe zu einer Knorpelplatte ver¬
einigt ist, doch aber auf der Oberfläche einige gebogene Furchen
zeigt, so daß es nicht schwer wird, drei nebeneinander liegende
Knorpelstreifen zu der fünften Rippe hin zu verfolgen.“
Außerdem fehlte vom Pectoralis major die Sternalportion, der
Pectoralis minor, ferner die beiden Zacken des Serratus anticus, die
von der dritten und vierten Rippe entspringen, auch fehlten dem
Rippendefekt entsprechend die Interkostalmuskeln.
Nach ihm hat Frickhöffer in Virchows Archiv im Jahre
1856 einen ähnlichen Fall veröffentlicht. Es handelt sich um einen
Rippendefekt bei einem 14jährigen Knaben mit ausgeprägter links¬
konvexer Lumbodorsalskoliose. Nur die erste linke Rippe steht mit
dem Brustbein in Verbindung, die übrigen Rippen enden 3 resp.
1 1 s Zoll weit entfernt vom Brustbein. Die gesamte linksseitige
Brustmuskulatur fehlt, so daß die Brustorgane „nur von der Haut
überdeckt sind“. Er knüpft an den Befund lediglich Betrachtungen
über die Herzbewegungen und schließt mit rührender Selbstbeschei¬
dung, die wir heutzutage in medizinischen Publikationen vergebens
suchen würden: „Dies sind übersichtlich die Beobachtungen, die mir
ein so seltener Fall von Mißbildung lieferte. Ich übergebe sie der
Oeffentlichkeit mit der Ueberzeugung, daß ein umsichtigerer und
geübterer Beobachter ihre Zahl und ihren Wert um vieles hätte er¬
höben können.“
Eine weitere Beobachtung verdanken wir Volkmann, der bei
einer 30jährigen Frau einen angeborenen Mangel des M. pectoralis
major und einen Defekt der dritten und vierten Rippe an der Knorpel¬
knochengrenze sah. Die entsprechenden M. intercostales waren merk¬
würdigerweise vorhanden.
Ferner eine Beobachtung von Schlözer: ein 5jähriges Mädchen
mit Defekt der vierten Rippe.
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26
Adolf Silberstein.
Der Fall, den Ritter beschreibt, verdient besonderes Interesse.
Es handelt sich um einen Thoraxdefekt bei einem 10 Tage alten
Neugeborenen, bei dem sich eine Monodaktylie der linken oberen
Extremität findet. Der ganze linke Arm läuft in einen Einzelfinger
aus. Was die Thoraxdeformität betrifft, so fehlen die Knorpel der
vierten, fünften und sechsten Rippe. Dadurch entsteht eine Lücke
in der linken vorderen Thoraxwand, die sich bei der Inspiration ver¬
tieft, bei der Exspiration abflacht und die Bewegungen des Herzens,
das unmittelbar unter der Hautdecke liegt, deutlich erkennen läßt.
Ritter macht darauf aufmerksam, daß die linke obere Extremität
zur Zeit der ersten Beobachtung 10 Tage nach der Geburt genau in
die Lücke hineinpaßte, während später die Lücke für die wachsende
Extremität zu klein wurde. Den klinischen Befund konnte Ep-
pinger 4 Monate später durch die Sektion erhärten.
Seitz hat dann im Jahre 1884 eine genaue Beobachtung eines
einschlägigen Falles mitgeteilt.
Es handelt sich um einen 28jährigen Bauernknecht mit an¬
geborenem Defekt von Knochen- und Muskelpartien der linken
Thoraxhälfte. Es besteht eine linkskonvexe Skoliose. Die rechte
vordere Thoraxhälfte ist normal entwickelt, die linke pfannenartig
vertieft. Es fehlt die linke Mammilla. Die erste linke Rippe ist
intakt, die zweite endet in daumenbreiter Entfernung vom Sternum
mit einer Verdickung, die dritte 6,5 cm vom Sternum entfernt in der
Parasternallinie, die vierte und fünfte Rippe endet 4 cm vom Sternum
entfernt. Die zweite und dritte sowie die vierte und fünfte Rippe
sind an ihren dem Sternum zugewandten Enden verschmolzen. Vom
M. pectoralis major sinistr. besteht nur die Portio clavicularis. Der
Pectoralis minor, die M. intercostales sinistr. fehlen. Der Latissi-
mus und Serratus anticus major ist schwach entwickelt. Der Spitzen¬
stoß fehlt an normaler Stelle und findet sich dagegen unter dem
Proc. xiphoid. Das Herz liegt unter dem Sternum (Medianlage).
Es besteht eine linksseitige Lungenhernie; sonst normaler Befund.
In der Reihe der Beobachter folgt Häckel mit einer Arbeit
aus der Jenaer chirurgischen Klinik (1888).
Es handelt sich um ein 14jähriges Mädchen mit folgendem
Befund. Die linke Schulter steht höher als die rechte. Die linke
vordere Brustgegend ist erheblich abgeflacht im Vergleich zur nor¬
malen Wölbung der rechten Seite. Es fehlt der Pectoralis major sinistr.,
Pector. minor und Serratus anticus major völlig, der Deltoideus da-
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Angeborene Thoraxdefekte.
27
gegen ist sehr stark entwickelt. Geringe linkskonvexe Dorsalskoliose.
Die dritte und vierte linke Rippe liegt tiefer im Niveau als die
übrigen, sie erreichen nicht das Sternum, sondern enden „dicht nach
außen von der Mammillarlinie in Gestalt einer federnden Platte“.
Lungenhernie. Linke Brustwarze steht höher und ist verkümmert.
Mamma gering entwickelt, sonst normaler Befund.
Rieder hat dann im Jahre 1894 3 Fälle von angeborenem
Knochen- und Muskeldefekt am Thorax beschrieben. In dem Falle I
fehlt die Portio clavicularis des linken Pectoralis major zum Teil,
die Portio sterno-costal. gänzlich. Nicht vorhanden ist ferner der
linke Pectoralis minor. Es fehlt das knorplige Ansatzstück der
dritten Rippe. Interkostalmuskeldefekt. Infolge dessen kam es
zur Ausbildung einer linksseitigen Lungenhernie. Die linke Brust¬
warze ist verkümmert, das Herz befindet sich in Medianlage. Im
übrigen ergibt der Befund keine Abweichung von der Norm. In
dem Falle II fehlt gleichfalls die Portio clavicularis des M. pec¬
toralis major zum Teil, die sternokostale Portion, sowie der Pec¬
toralis minor vollständig. Auch der Serratus anticus major ist
nicht vorhanden. Es besteht eine typische Trichterbrust, die vierte
Rippe ist defekt. Sie endet mit einem scharfen Vorsprung in der
vorderen Axillarlinie. Die fünfte Rippe ist gleichfalls unvollkommen,
sie findet ihren Abschluß in der Parasternallinie in Form eines
scharfkantigen Vorsprungs. Auch hier ist es zur Bildung einer
Lungenhernie im Bereich der entsprechend fehlenden Interkostal¬
muskeln gekommen. Die linke Brustdrüse ist in der Entwicklung
zurückgeblieben. Das Herz befindet sich in Medianlage. Keine
weitere Mißbildung. In dem Falle III fehlt ein Teil der sterno-
kostalen Portion des rechten Pectoralis major, sowie der rechte Ser¬
ratus anticus major. Die vierte rechte Rippe ist teilweise defekt,
sie ist unterhalb der Mammilla in ihrem Verlauf unterbrochen und
läßt sich dann in Form einer Knochenspange bis zur Axillarlinie
verfolgen.
An die Beschreibung dieser Fälle reiht sich im Jahre 1890
Freunds interessante Mitteilung eines Falles von Aplasie dreier
Rippen bei einem 8 Wochen alten Kinde (Breslauer Universitäts¬
kinderklinik). Es fehlten die vierte, fünfte, sechste rechte Rippe
vollständig. Dem Defekt entsprechend bestand eine tiefe Rinne vom
Brustbein bis zur Wirbelsäule, die sich bei den In- und Exspirations¬
bewegungen des Thorax einbuchtete bezw. abflachte. Aehnliche
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28
Adolf Silberstein.
äußerst seltene Fälle haben nach Freund nur noch Thomson und
Lallemand beschrieben.
Wenn ich diesen Berichten die Krankengeschichten eigener
Beobachtungen aus der Klinik des Herrn Geheimrats Prof. Dr. Hoffa
hinzufügen darf, so handelt es sich im Falle I um einen 9jährigen
Schüler, Hermann E., bei dem unmittelbar nach der Geburt die zu
beschreibende Mißbildung bemerkt wurde. Mißbildungen sollen weder
in der Familie des Vaters noch in der der Mutter, soweit bekannt,
vorgekoramen sein. H. wurde im Alter von 3 Wochen wegen einer
angeborenen Syndaktylie sämtlicher Finger der linken Hand operiert.
Da jedoch die Verwachsungen nicht beseitigt waren, wurde derselbe
Eingriff nach einem Jahre wiederholt, wiederum ohne Erfolg. Ein
gleich unbrauchbares Resultat erzielte die ira sechsten Lebensjahre
vorgenommene Operation, er wird daher in die Klinik aufge¬
nommen.
Status: Kräftig gebauter Knabe von gesunder Gesichtsfarbe,
Muskulatur und Fettpolster gut entwickelt, insbesondere ergibt die
Untersuchung das Vorhandensein sämtlicher äußerer Brustmuskeln
(Pectoralis major, minor, Serratus anticus major). Keine Oedeme, keine
Exantheme, keine Drüsenschwellungen. Lungenschall überall laut und
voll. Atmungsgeräusche normal. Herzgrenzen: obere Grenze: oberer
Rand des rechten vierten Rippenknorpels. Aeußere Grenze: einen
Querfinger breit innerhalb der rechten Mammillarlinie. Innere
Grenze: linker Sternalrand. Spitzenstoß: in der Gegend des Pro¬
cessus xiphoid. Töne rein.
Bau des Thorax: linke vordere Brusthälfte muldenförmig ein¬
gezogen, die Vertiefung beginnt in Höhe der zweiten linken Rippe,
sie hat etwa die Größe eines Handtellers. Die linke Brustwarze fehlt,
an ihrer Stelle findet sich ein stecknadelkopfgroßer Fleck, der leicht
pigmentiert ist. Bei den Atembewegungen bleibt die linke Brust¬
hälfte hinter der rechten in mäßigem Grade zurück, sie buchtet sich
ein bei der Inspiration und wölbt sich hervor bei der Exspiration.
Die Palpation ergibt das Fehlen der vorderen Bögen der dritten und
vierten Rippe.
Die linke Hand ist in der Entwicklung zurückgeblieben, sie ist
nur halb so groß wie die rechte. Der Daumen zeigt normale Bildung
und normale Funktion. Mittel- und Endphalange des Zeigefingers
sind in Beugestellung und ulnarer Deviation verwachsen. Die gleichen
Veränderungen weist der Mittelfinger auf, und zwar in stärkerem
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Angeborene Thoraxdefekte.
29
Grade; beim vierten Finger ist die Abweichung eine radiale, die Haut
ist narbig verändert, ebensolche Erscheinungen zeigt der kleine
Finger.
Das Röntgenbild des Thorax läßt erkennen: Dextrokardie, Fehlen
der vorderen Bögen der dritten und vierten linken Rippe, die hinteren
Rippenbögen enden in der vorderen Axillarlinie (Fig. 1).
Fig. 1.
Das Röntgenbild der linken Hand zeigt knöcherne Ankylose
zwischen den Mittel- und Endphalangen. Die Endphalangen zeigen
den narbigen Fingerstümpfen entsprechende Verbiegungen und Ver¬
krümmungen (Fig. 2).
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30
Adolf Silberstein.
Fig. 2.
Im Falle II handelt es sich um ein 5 Monate altes Mädchen,
Ursula 0.
Anamnese: Das Kind stammt angeblich aus gesunder Familie,
insbesondere soll nach den Angaben der Mutter eine Mißbildung in
der Familie bisher nicht vorgekommen sein. Es ist das zweite Kind,
es soll nach normaler Schwangerschaft ohne Kunsthilfe in zweiter
Schädellüge zur Welt, gekommen sein. Aerztlicherseits wurde un¬
mittelbar nach der Geburt die zu beschreibende Mißbildung fest¬
gestellt. Status praesens: Schwächliches Kind mit äußerst gering
entwickelter Muskulatur und schlecht entwickeltem Fettpolster. Blasse
Farbe der Haut, keine Oedeme, keine Drüsenschwellungen. Länge
53cm, Kopfumfang 39 cm, Gewicht 3840 g. Es besteht links¬
seitiges Caput obstipum, der linke Sternocleidomastoideus ist ver¬
kürzt und als harter Strang deutlich zu fühlen. Hochstand der
rechten Schulter. Während die rechte vordere Brustwand normale
Wölbung zeigt, findet sich an der Stelle der linken vorderen Brust¬
wand eine muldenförmige Rinne, deren Hauptrichtung von der Achsel¬
höhle zum Processus ensiformis verläuft. In diese Vertiefung kann
man die Knöchel von vier Fingern legen. Während die rechte Brust¬
warze normal entwickelt ist, ist an Stelle der linken ein schwach
pigmentierter Fleck; eine linksseitige Brustdrüse ist nicht vorhanden.
Die Vertiefung flacht sich bei der Exspiration ab und wird durch
die Inspiration verstärkt. Die Palpation ergibt folgenden Befund:
während die Clavicula, die Rippen der rechten Seite und das Sternum
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Angeborene Thoraxdefekte.
31
normal entwickelt sind, enden die vorhandenen linken Rippen in ver¬
schiedener Entfernung vom Brustbein. Es bilden die knopfartig
endenden Rippen einen in der Axillarlinie nach aufwärts reichenden
Kamm, der in einem nach außen konvexen horizontalen Bogen einen
Querfinger breit unter der Achselhöhle nach hinten sich erstreckt
und Aehnlickkeit hat mit einem Hessingschen Hüftbügel. Sechs
solcher knopfartig hervorragenden Enden sind abzutasten. Sie
sind untereinander verbunden, während eine Rippe ihrem Ursprung
der neunten rechten Rippe entsprechend frei nach vorn endet. Den
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32
Adolf Silberstein.
hinteren Rippen der linken Seite fehlt die konvexe Biegung. Es
kommt dadurch eine Abflachung zu stände, in die man die Knöchel
einer Hand hineinlegen kann. Brustmuskulatur normal entwickelt.
Es fehlen naturgemäß im Bereiche der linken vorderen Brustwand
die Interkostalmuskeln. Es besteht eine rechtskonvexe kongenitale
Lumbodorsalskoliose. Der Lungenschall ist überall gleich laut und
voll, das Atmungsgeräusch vesikulär. Herzgrenzen: obere Grenze:
am unteren Rande der vierten rechten Rippe. Innere Grenze: rechter
Sternalrand. Aeußere Grenze: vom vierten Rippenknorpel abwärts.
Spitzenstoß in der Gegend des Processus xiphoideus. Linker Daumen
ist nur mit einem dünnen Hautstiel am Metakarpus befestigt. Uebriger
Befund normal.
Das Röntgenogramm ergibt den der palpatorischen Feststel¬
lung entsprechenden Befund.
Abweichend von den bisher beschriebenen Fällen ist in beiden
Beobachtungen die Lage des Herzens: das Herz befindet sich in der
rechten Brusthälfte. Die Brustmuskulatur ist in beiden Fällen bis
auf die Interkostalmuskeln im Feblbereicli der Rippen intakt. Wäh¬
rend der Rippendefekt des 11jährigen Knaben dem Befund der
übrigen Fälle entspricht, ist die Defektbildung des 5 Monate alten
Mädchens durchaus verschieden von den bisherigen Beobachtungen:
es fehlen die sämtlichen Rippenknorpel der linken Seite, es sind
überhaupt im ganzen nur sieben rudimentäre Rippen vorhanden, und
diesen sieben fehlen die vorderen Bögen, während die vorhandenen
hinteren Bögen statt der normalen dorsokonvexen Krümmung ventro-
konvex gekrümmt sind.
Zum Verständnis dieser Defektbildungen ist es erforderlich,
einen Blick auf die normale Entwicklung der Rippen und des Brust¬
beins zu werfen. Im zweiten Fötalmonat beginnt die Entwicklung
der Rippen, indem die zwischen den Muskelsegmenten gelegenen
Zwischenmuskelbänder streifenweise verknorpeln. So entstehen zu¬
nächst kleine Spangen, die sich ventralwärts weiter entwickeln.
Während nun anfangs diese Spangen von allen Wirbelkörpern aus¬
gehen (mit Ausnahme der Sakral wirbelkörper ), kommen beim Menschen
lediglich diejenigen Rippenanlagen zur vollen Entwicklung, die von
den Brustwirbeln ihren Ausgang nehmen. (Bei Fischen, Reptilien,
zum Teil auch bei Amphibien entwickeln sich die Rippenanlagen
sämtlicher Wirbelkörper.) Die übrigen Rippenspangen bleiben rudi¬
mentär bezw. erfahren eine entsprechende Umwandlung. Die Brust-
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Angeborene Thoraxdefekte.
33
rippen dagegen vereinigen sich ventralwärts zur Bildung des Brust¬
beins. Es besteht also die Tendenz der Rückbildung bezw. der Ver¬
kümmerung ursprünglicher Rippenanlagen überhaupt, soweit sie nicht
dem Bereich der Brustwirbel angehören. Aber auch hier besteht eine
ungleiche Entwicklungstendenz, insofern sich nur die ersten fünf
Rippen vollkommen ventral vereinigen, während die übrigen Rippen
eine nach abwärts allmählich geringere Entwicklung zeigen, die in den
Costae fluctuantes das Mindestmaß der Ausbildung erkennen lassen.
Bleibt dieser Zusammenschluß der fünf ersten ventralen Rippenenden
aus, so kommt es zur Bildung der Fissura stemi congenita, oder
aber es resultieren kleinere oder größere Lücken im Sternum.
Bei der Regelmäßigkeit, mit der sich die Symptome der be¬
schriebenen Mißbildung in allen beobachteten Fällen wiederholen,
liegt es nahe, an eine einheitliche Ursache zu denken, und zwar
könnte man nach Analogie der Brustbeinfissuren annehmen, daß es
sich in allen Fällen lediglich um Hemmungsbildungen des Keimes
handle. Es ließe sich dafür anführen, daß wir in mehreren Be¬
obachtungen die Enden der Rippen zu Knorpelplatten verschmolzen
finden. Wenn nun aber gelegentlich ovale Lücken im Brustbein be¬
obachtet werden, so liegt der Gedanke nahe, daß gewissermaßen als
nächst höherer Grad der Defektbildung die Verbindung zweier Lücken
fehle, und so fände dann die Bildung der Knorpelplatte ihre natür¬
liche Erklärung. Das entspricht der Auffassung H äckels, der ferner als
wiederkehrendes Symptom auf die Defektbildung zwischen zweiter und
fünfter Rippe hinweist, d. h. der Rippen, die die Bildung des Brust¬
beins besorgen. Das mag für eine Reihe von Fällen zutreffen, für
alle Beobachtungen sicherlich nicht. Ich glaube mit Froriep und
Seitz für meine Fälle eine andere Erklärungsweise annehmen zu
müssen, und zwar Entwicklungshemmung durch andauernd abnormen
Druck. Seitz nimmt an, daß der Arm der betreffenden Seite über
die Brust gelagert durch einen Tumor beispielsweise an die Brust
gedrückt, die normale Entwicklung der betroffenen Thoraxwand ver¬
hindern könne, bezw. daß eine Geschwulst in der Gebärmutter direkt
den Druck auf die defekte Brustwand ausübt, eine Auffassung, die
bereits Froriep vertrat. Ich glaube, daß die Annahme eines Uterus¬
tumors nicht unbedingt erforderlich sei, Mangel des Fruchtwassers
genügt zur Erklärung. Der Fötus, dessen Arm zwischen Brustwand
und Uteruswand bei mangelndem Fruchtwasser fest eingekeilt liegt,
zeigt die Entwicklungshemmung in den beiden gedrückten Körper-
Zeitschrift f&r orthopädische Chirurgie. XV. Bd. 3
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84
Adolf Silberstein.
regionen, der Brustwand und der betreffenden Extremität. Die Mi߬
bildung der entsprechenden Extremität kann kein Zufall sein, wie
der Ritt er sehe Fall einleuchtend beweist, um nur einen Fall be¬
sonders hervorzuheben. Es muß natürlich nicht in jedem Fall zur
Mißbildung der Extremität kommen, wie ja auch nicht jede Ex¬
tremitätenmißbildung mit einem Thoraxdefekt vergesellschaftet ist,
wiewohl für eine Reihe von Extremitätenverbildungen die »Druck¬
theorie“ (Einklemmung zwischen Rumpf und Uterus wand) ätiologisch
in Frage kommen dürfte. Genau so, wie wir annehmen, daß der
Druck der Uterus wand bei mangelhaftem Fruchtwasser zur Klump¬
fußbildung, zur Bildung des Caput obstipum führt, genau so dürfen
wir für eine Reihe von Fällen, und dazu gehören auch die unsrigen,
den Druck der Uteruswand, der bei geringem Fruchtwasser eine
Einkeilung der betreffenden oberen Extremität zuließ, für die Ent¬
stehung genannter Mißbildung verantwortlich machen.
Nun finden wir noch weitere Mißbildungen in dem Falle II:
die angeborene Skoliose, den angeborenen Schiefhals. Angeborene
Skoliosen sind nach Hoffa äußerst seltene Deformitäten und sind,
soweit sie nicht auf eine anormale Ausbildung, Vermehrung, Mangel
oder Verschmelzung einzelner Wirbel zurückzuführen sind, als intra¬
uterine Belastungsdeformitäten aufzufassen. In gleicher Weise hat
denn auch hier der Mangel an Fruchtwasser die Entstehung des
Caput obstipum verschuldet.
Hoffa weist in seinem Lehrbuche darauf hin, daß gerade die
Häufung von Deformitäten bei ein und demselben Fötus auf die
Raumbeengung, die der Mangel an Fruchtwasser hervorrief, zurück¬
zuführen sei.
Ich glaube die Frage nach der Aetiologie der angeborenen
Thoraxdefekte dahin beantworten zu müssen: Kongenitale Thorax¬
defekte müssen in einer Reihe von Fällen als Hemmungsbildungen
des Keimes aufgefaßt werden im Sinne Häckels. In anderen Fällen
aber handelt es sich um intrauterine Entwicklungsstörungen rein
mechanischer Art. Als hauptsächlichster Faktor kommt die Raum¬
beengung des Uterus infolge Mangels an Fruchtwasser in Betracht.
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Angeborene Thoraxdefekte.
35
Literatur.
1. Froriep, Beobachtung eines Falles von Mangel der Brustdrüse. Neue
Notizen aus dem Gebiete der Natur- und Heilkunde 1839, Bd. 9.
2. Frickhoeffer, Beschreibung einer Deformität des Thorax mit Defekt der
Rippen. Virchows Arch. 1856.
3. Volkmann, Zur Theorie der interkostalen Muskeln. Zeitschr. f. Anat. u.
Entwicklungsgeschichte 1877.
4. Schloezer, Die angeborene Mißbildung des gesamten weiblichen Skelett¬
systems. Inaug.-Diss. Erlangen 1842.
5. Ritter, Angeborene Lücke des Brustkorbs. Oesterr. Jahrb. f. Pädiatrik
1876.
6. Seitz, Eine seltene Mißbildung des Thorax. Virchows Arch. 1884.
7. Haeckel, Ein Fall von ausgedehntem angeborenem Defekt am Thorax.
Virchows Arch. 1888.
8. Rieder, Drei Fälle von angeborenem Knochen- und Muskeldefekt am
Thorax. Annalen der städt. allgem. Krankenhäuser zu München 1894.
9. Freund, Ein Fall von Aplasie dreier Rippen. Jahrb. f. Kinderheilk. 1899,
Bd. 49.
10. Thomson, Teratologia. Januar 1895.
11. Lällemand, Eph£m. med. de Montpellier 1826.
12. Hoffa, Lehrbuch d. orthop. Chir. 1905, 5. Aufl.
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III.
Zum angeborenen Hallnx valgus.
Von
Denis G. Zesas in Lausanne.
Mit 7 in den Text gedruckten Abbildungen.
Anknüpfend an einen aus der Vulpiusschen Klinik in dieser
Zeitschrift soeben publizierten Fall von angeborenem Hallux valgus
bemerkt Klar 1 ), daß es ihm nicht ermöglicht gewesen, Angaben
„über das familiäre Vorkommen bezw. die Vererbung des Hallux
valgus oder über eine angeborene oder vererbte Anlage zu der De¬
formität“ auffindig zu machen. Am Schlüsse der beachtenswerten
Mitteilung ist hinzugefügt, „daß es unentschieden bleibe, ob es sich
um eine fehlerhafte Keimanlage handle, oder ob intrauteriner
Druck für die Entstehung des Hallux valgus cong. verantwortlich
gemacht werden müsse“.
Wir gestatten uns, an dieser Stelle auf eine interessante dies¬
bezügliche Beobachtung Mauclaires, die bereits im Jahre 1896 2 )
erschienen ist und zweifellos beweist, daß das Zustandekommen des
angeborenen Hallux valgus mitunter auf eine fehlerhafte Keimanlage
zurückgeführt werden kann, aufmerksam zu machen.
Fraglicher Fall, dessen Wiedergabe Mauclaire uns gütigst
gestattete, betrifft einen älteren Mann, über welchen schon 1861
Morel-Lavallöe 3 ) in der Sociätä de Chirurgie berichtete, und von
welchem er sagte „si ce n'est pas un cas unique, c’est au moins
un cas assez rare et assez curieux pour möriter votre attention“.
Mauclaire hatte nachträglich Gelegenheit, den anatomischen Befund
an der Leiche festzustellen, und wir geben hier in Fig. 1, 2, 3 und 4
die äußere Konformation und das Skelett der linken und der
rechten Hand.
Zeitschr. f. orth. Chir. Bd. 14 Heft 2.
s ) La Presse medicale 1896, Nr. 35, und Bull, de la Soc. d’Anthropologie
de Paris 1894.
3 ) Bulletins de la Societe de Chirurgie 1861, S. 409.
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Zum angeborenen Hallux valgus.
37
Fig. 5 veranschaulicht das Skelett des rechten Fußes und
Fig. 6 und 7 den linken Fuß und dessen knöcherne Bestandteile.
„Les mains — sagt Morel-Lavall^e — ne sont repr&sentöes
chacune que par deux doigts, qui simulent parfaitement les pinces
d'une äcrevisse; la division comprend tout le mStacarpe jusqu’au
carpe exclusivement. Le pied droit est fendu jusqu'aux os du tarse,
de fa^on ä reprösenter aussi une pince d'dcrevisse. Le pied gauche
possfcde le premier, le 3e, le 4e et le 5e orteil. Le premier
orteil est luxö en dedans pour combler l'espace, qu’occu-
perait un deuxifeme orteil. Lorsqu'on le redresse, il
dlpasse de beaucoup la longeur du troisifeme orteil.
Qooique le pied gauche ait une conformation moins anormale que
le pied droit, il Supporte moins facilement la position hanch^e et
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38
Denis G. Zesas.
Fig. 5.
Rechter Fuß.
Fig. 6.
Fig. 7.
Linker Fuß.
la marche, ce qui tient probablement ä deux causes: la luxation du
premier orteil, qui a produit un oignon ä l’extremite interne, et
l’inägalitd de base de sustentation, la base du pied droit etant tres
etendue parceque sa pince peut s’öcarter de 4 centimötres.*
Die Ursache der Deformität in diesem Falle springt in die
Augen und macht jede weitere Erklärung überflüssig, nichtdesto-
weniger geben wir den anatomischen Befund dieses uns hier speziell
interessierenden Körperteiles mit den Worten Mauclaires wieder:
„Le deuxiöme mötatarsien offre une configuration spöciale. II se
bifurque ä sa partie anterieure aprös un court trajet. Des deux
branches de bifurcation, Tinterne plus longue se porte en dedans et
en avant et s'articule avec la partie externe de Fextrömitö anterieure
du premier mätatarsien; 1’externe plus petite se porte en dehors et
en avant, se termine par une extrömite arrondie et s’articule avec
la partie laterale interne de Texträmitö anterieure du troisiöme
mötatarsien en arriere de la töte mötatarsienne, tandis que du cötö
opposö, cette articulation osseuse fait au niveau de la töte articulaire
ellemöme. La premiöre phalange du gros orteil s’articule par une
facette interne avec Textrömitö anterieure du premier mötatarsien,
par une facette externe avec la brauche interne de bifurcation du
deuxiöme, disons d’ailleurs que Textrömitö anterieure du premier
mötatarsien est döjetöe en dedans. Sur le cöte interne de l'extrömite
antärieure du troisiöme mötatarsien existe une petite apophyse
osseuse, qui s’articule avec cette extrömite et qui se termine par
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Zum angeborenen Hallux valgus.
39
une pointe saillante en avant et en baut. Quant aux phalanges, le
gros orteil en possöde deux, les trois derniers orteils en possedent
chacun trois.*
Irgend eine hereditäre Belastung in diesem Falle ist nicht er¬
wiesen, nur weiß man mit Bestimmtheit, daß die Hallux valgus-
Stellung eine angeborene gewesen. Ob neben einer fehlerhaften
Keimanlage noch intrauterine Druckverhältnisse zur Entstehung des
Hallux valgus congenitalis beitragen, ist möglich; weitere Fälle
werden uns darüber Auskunft verschaffen. Das Vorkommen des
angeborenen Hallux valgus soll ja gar nicht selten sein. Mau-
claire widmet dieser Deformität in der Chirurgie clinique et operatoire
?on Le Den tu und D eibet 1 ) einen kleinen Abschnitt und Kir-
misson bemerkt in dem Traitö de Chirurgie von Duplay und
Reclus 2 ) bei der Aetiologie des Hallux valgus: „qu’il est assez
frequent de trouver l’höröditö dans les antöcedents.*
J ) Bd. 10 S. 1308. a ) Bd. 8 S. 825.
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IV.
Ueber Spontanampntationen 1 ).
Von
Dr. Oskar v. Hoyorka,
Chefarzt für Orthopädie am Wiener Zander-Institut.
Mit 7 in den Text gedruckten Abbildungen.
Die spontane Gliedablösung, als angeborene Defektbildung, ist
durchaus nicht so selten, als man früher annahm. Wenn Rouget
im Jahre 1889 bereits 30 Fälle aufzählen konnte, so würde es heute
bei genauerem Eingehen in das Wesen der Sache wohl kaum jemandem
einfallen, sich der Mühe des Zusammensuchens aller bisherigen
Fälle zu unterziehen. Der Enddefekt, von dem ich nun sprechen will,
ist auch in den meisten Fällen so konstant und eindeutig, der eine
Fall gleicht dem anderen fast so wie das eine Ei dem anderen, daß
es vollkommen genügt, die einzelnen Gruppen herauszugreifen; diese
müssen dann allerdings genau umgrenzt werden.
In unserem Falle handelt es sich um eine fötale Spontan¬
amputation des linken Vorderarmes bei einem 4jährigen Knaben
eines Gewerbetreibenden in Wien (Fig. 1). Seine noch heute leben¬
den gesunden Eltern wissen nichts von einem ähnlichen Falle in ihren
beiden Familien.
Die Mutter (Fig. 1) ist eine gesunde, kräftige Frau, die außer¬
dem einen um etwa 1 Jahr jüngeren Knaben sowie ein Mädchen
geboren hat, welches letztere jedoch noch als Säugling an Gehirnent¬
zündung starb. Die Schwangerschaft mit dem mißbildeten Knaben
verlief vollkommen normal; als Kuriosum sei nur erwähnt, daß sich
die Mutter etwa im 3 . Monat an einem 12jährigen Mädchen, von
welchem sie einmal mit einem amputierten Unterarm angebettelt
wurde, „versehen“ haben will. Bei der ganz normal abgelaufenen
l ) Vortrag, gehalten am 2G. September 1905 an der 77. Versammlung
deutscher Naturforscher und Aerzte in Meran.
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Ueber Spontanamputationen.
41
Intrauterine Gliedablösung.
Sieht man näher zu, so findet
inan, daß diese Schwäche auch die
Schulter betrifft, welche im Vergleiche
zur rechten weniger gut gewölbt,
kleiner und der Medianlinie näherge¬
rückt erscheint. Dessenungeachtet ist
die Beweglichkeit des Schultergelenkes
nach allen Richtungen hin vollkom¬
men frei und intakt. Während nun der rechte Unterarm ganz nor¬
male Formen aufweist, erheben wir links folgenden Befund (Fig. 2).
Statt des Unterarmes sehen wir einen Stumpf, der mit einem
Amputationsstumpf eine große Aehnlichkeit. hat. Er erscheint an
seinem distalen Ende etwas verdickt, halbkugelig abgerundet; die
Haut darüber ist gleichmäßig gespannt und verschiebbar. Während
die Länge des rechten Unterarmes 13 cm beträgt, mißt der Stumpf
7 cm. Der epikondyläre Durchmesser beträgt rechts 9, links 8,5 cm,
der Umfang des Ellbogens rechts 17, links 15 cm. An der Ampu¬
tationsfläche des Stumpfes sieht man zwei der Anordnung der beiden
Entbindung fanden sich bei Austritt der Nachgeburt keine abge¬
trennten Gliedmaßen.
Der Knabe war bisher niemals krank und kann physisch als
vollkommen gesund, psychisch als völlig normal entwickelt bezeichnet
werden. Das Herz, Lunge, Leber,
Magen, Nieren, Nervensystem zeigen
keine pathologischen Erscheinungen.
Wir gehen somit gleich zur Beschrei¬
bung der verstümmelten Extremität
über.
Der linke Oberarm ist im Ver¬
gleiche zum rechten schwächer ent¬
wickelt als der rechte. Sein Umfang
beträgt:
rechts links
im oberen Drittel . 18 cm 15,5 cm
in der Mitte . . 17 „ 15 „
im unteren Drittel 16 * 14,5 „
die Länge des Ober¬
arms .... 14,5 „ 13,5
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42
Oskar v. Hovorka.
Vorderarmknochen entsprechende Hautgrübchen (Fig. 2), welche sich
nicht nur durch Hin- und Herschieben der äußeren Hautdecke, son¬
dern auch durch indirekte Muskelkontraktionen seitens der Knochen
vertiefen und abflachen lassen. Beide Grübchen sind durch eine
Reihe von konzentrisch verlaufenden Falten
der äußeren Haut markiert. In gleich großer
Entfernung, wie jene zwischen den beiden
Hautgrübchen ist, sehen wir ein etwa
erbsengroßes, 11 mm breites, 5 mm hohes,
sehr bewegliches Hautwärzchen (Fig. 3), an
welchem vier Einkerbungen mit fünf Toch¬
terwärzchen zu finden sind. Ihre Richtung
verläuft nicht axial, also etwa wie eine
Hand, sondern vielmehr seitwärts gegen
innen, ulnarwärts und gegen das Ellbogen¬
gelenk geneigt. Von den fünf Tochter¬
wärzchen ist das zweite und dritte das
größte; bei einem vorsichtigen Darübergleiten mit der Fingerbeere
fühlt man eine Rauhigkeit; eine ähnliche Rauhigkeit fühlt man
in geringem Maße auch am ersten Tochterwärzchen, welches je¬
doch im übrigen sehr schwach entwickelt ist. Bei der mikro¬
skopischen Untersuchung entpuppt sich diese Rauhigkeit als Nagel-
Fig. 3.
Amputationsstumpf mit Handrudiment (Haut zurückgezogen).
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Ueber Spontanamputationen.
43
Substanz. Das erste Tochterwärzchen steht in derselben Reihe
wie alle übrigen; von einer Oppositionsstellung ist nichts zu beob¬
achten, ebenso wenig fühlt man bei der Palpation der gesamten
Hautwarze irgend eine harte, knochenähnliche Verdickung.
Bei der Palpation des Unterarmstumpfes ergibt sich, daß schon
die Epikondylen des Humerus weniger scharf hervortreten als rechts;
doch glaubt man das Olekranon deutlich zu fühlen und es scheint
sich dasselbe auch ganz normalerweise in die Fossa supratrochlearis
einzuhaken; das proximale Ende des Radius ist in der Nähe des
Gelenkes palpapel, obwohl man den Eindruck hat, daß beide
Knochen etwas weniger gut ausgebildet sind im Vergleiche zur
rechten Seite. Es fällt bei der Palpation auch sofort auf, daß sie
sich distalwärts verjüngen; nahe an seinem Ende fühlt man beim
Radius eine leichte Verdickung. Der Radius ist auch, um einige Milli¬
meter länger als die Ulna.
Die Beweglichkeit im Ellbogengelenk ist durchaus nicht ge¬
hemmt. Sowohl die Beugung und Streckung, als auch die Einwärts-
und Auswärtsrollung sind leicht ausführbar. Durch kombinierten
Haut- und Muskelzug vermag das Kind nicht nur die Hautgrübchen
einzuziehen und zu vertiefen, sondern selbst das Hautwärzchen zu
bewegen. Es führt mit dem verstümmelten Arm auch kombinierte
Bewegungen aus und es bereitet ihm durchaus keine Schwierigkeit,
z. B. Ball und Reifen zu spielen, komplizierte Spielsachen zu hand¬
haben, Stühle zu schieben u. s. w. Die Sensibilität ist vollkommen
intakt.
Betrachten wir das Radiogramm des Vorderarmes (Fig. 4), so
finden wir sowohl die Knochen als auch die Konturen der Musku¬
latur und des Unterhautzellgewebes samt der Haut genau differenziert.
Der Humerus läuft distalwärts in eine kolbenförmige Anschwellung
aus, an der man den äußeren und inneren Kondyl, die Fossa supra¬
trochlearis ziemlich gut erkennen kann. Weniger deutlich aus¬
geprägt sind die Konturen der Trochlea und der Eminentia capitata.
Ihre distale Begrenzungslinie verläuft nicht wellenförmig wie bei
einem normalen Humerus, sondern im halbrunden Bogen. Statt der
Vorderarmknochen findet man zwei Knochenrudimente, von denen
das größere sofort als die Ulna, das kleinere unstreitig als Radius
anzusprechen ist.
Am proximalen Ende der Ulna sieht man einen halbkreisförmig
ausgeschnittenen Teil, in welchem wir sofort die Cavitas sigmoidea
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44
Oskar v. Hovorka.
erkennen. Ueber der Cavitas vermissen wir jedoch das hakenförmig
sie überragende Ende des Olekranon, obwohl ein demselben ent¬
sprechender Knochenwulst ziemlich breit nach außen hervorragt. Es
hat den Anschein, als ob das im Bau begriffene Olekranon plötzlich
in seiner Entwicklung innegehalten hätte. Dafür ist der Proc.
coronoideus ziemlich gut ausgeprägt, obgleich auch er nicht vollends
zur Entwicklung gelangt ist. Unterhalb jener Stelle, an welcher wir
sonst gewöhnt sind die Tuberositas ulnae zu suchen, verjüngt sich
Fig. 4.
nun plötzlich der Schaft des Knochens, um in einen stumpfspitzigen,
leicht aufgebogenen Konus zu endigen. Seine Spitze ist gegen eine
an den äußeren Begrenzungskonturen leicht sichtbare Einsenkung des
Gliedstumpfes gerichtet, jenes Hautgrübchen, welches wir bereits bei
der äußeren Untersuchung gefunden haben.
Das dem Radius entsprechende Rudiment zeigt an seinem
proximalen Ende eine dem Capitulum radii entsprechende knollige An¬
schwellung, welche jedoch nicht in allem den Konturen eines normalen
Radiusköpfchens gleicht: hinter dem angedeuteten Radiushalse stoßen
wir an eine Knochenerhabenheit, in welcher wir das Tuberculum
radii zu suchen haben. Weiter distalwärts verjüngt sich unser Radius¬
rudiment nicht wie jenes der Ulna, sondern wir finden hier vielmehr
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Ueber Spontanamputationen,
45
eine leistenförmige Verbreiterung desselben gegen das Spatium in-
terosseum, was ja auch den anatomischen Verhältnissen bei einem
normalen Vorderarmknochen entsprechen würde. Erst weiter distal-
wärts wird der Knochen wieder schmäler und dünner, bis er schlie߬
lich in einer kugeligen Vortreibung auf fast die gleiche Weise, wie
beim Stumpfe der Ulna, doch etwas weiter nach vorn endigt.
Gerade so wie dort findet man auch hier in der verlängerten Richtung
seiner distalen Spitze eine etwas seichtere Vertiefung der Haut. Bis
zur Mitte der beiden Knochenrudimente sieht man deutlich die Mus¬
kelkonturen; erst weiter nach außen und distalwärts verschmelzen
sie mit jenen des Unterhautzellgewebes und der Haut. Zwischen
den Ober- und Vorderarmknochen besteht ein relativ großer Zwi¬
schenraum.
Im vorliegenden Falle handelt es sich zweifelsohne um eine
spontane Gliedablösung, von welcher wir zwei große Gruppen
unterscheiden müssen: die intra- und die extrauterine, oder ange¬
borene und erworbene.
Die erworbene spontane Gliedablösung kann durch eine Reihe
der verschiedensten Prozesse erfolgen; so z. B. auf traumatischem
Wege durch andauernden Druck eines eng abschnürenden Ringes
oder Bandes; auf dem Wege von akuten oder chronischen Ent¬
zündungen, wie Panaritium, Lues, Tuberkulose etc., ferner wird sie
bewirkt durch gangränöse Prozesse, wie beispielsweise die Spontan¬
gangrän, Altersgangrän und die Raynaud sehe Krankheit. Unter
letzterer versteht man bekanntlich einen ischämischen Brand infolge
vasomotorischer Störungen oder pathologischer Vorgänge im zentralen
Nervensystem. Hierher haben wir zu zählen ferner die Gliedablösung
infolge von Lepra mutilans, Sklerodaktylie, sowie die sogenannte
epitheliale Daktylolyse, wie sie Menzel und Wiedemann beschrie¬
ben haben. Die interessanteste Form der erworbenen spontanen
Gliedablösung bietet der Ainhum der Neger in Afrika (Guimaraes,
Da Silva Lima, Pinöau, Wucherer u. a.), indem er wieder¬
holt mit der angeborenen spontanen Gliedablösung in Beziehung
gebracht und mit ihr sogar identifiziert wurde (Proust, Legroux).
Dieser großen Gruppe der extrauterinen spontanen Gliedab¬
lösung steht die Gruppe der fötalen Amputation oder intrauterinen
Gliedablösung gegenüber.
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46
Oskar v. Hovorka.
Die erstere Bezeichnung ist jedoch sowohl mit Bezug auf ihren
Gesamtbegriff als auch in ihrer Form unrichtig. Zum Begriffe der
Amputation gehört doch zweifelsohne die Absetzung eines ganzen
Gliedes vom Rumpfe in toto, oder aber eines distalen Teiles desselben
in toto. Dabei wollen wir noch nicht einmal die Zeit in Betracht
ziehen, welche wir im chirurgischen Sinne hierzu benötigen. Aber
ebenso klar als selbstverständlich ist es, daß bei einer jeden Ampu¬
tation ein Stumpf und ein abgesetztes Glied oder Gliedteil resultiert.
Dieser wichtige Umstand ist bisher nicht von allen Autoren
gebührend gewürdigt worden. Bei einem jeden Falle der fötalen
Spontanamputation müßten wir demnach bei der Geburt a priori
neben der Frucht das abgesetzte Glied finden. Viele Autoren lassen
jedoch diese Tatsache vollends unberücksichtigt, teils weil sie dies
übersahen, teils aus dem Grunde, weil es sich um erwachsene Per¬
sonen oder größere Kinder handelte, bei welchen der Befund über¬
haupt nicht mehr zu erheben war.
So berichtet z. B. Mäder über einen lebenden Knaben, dessen
amputierter Oberarm neben der Nachgeburt geboren wurde. Chaussier
fand einmal die Reste eines abgetrennten gangränösen Armes an der
fötalen Fläche der Placenta haftend. Nur solche und ähnliche Fälle,
welche wir als wohlverbürgte Beispiele anführen, dürfen wir als
eine wahre fötale Amputation bezeichnen. Neben diesen Fällen gibt
es jedoch solche — und diese sind in der überwiegenden Mehrzahl —,
bei denen trotz der sorgsamsten Untersuchung und genauesten Er¬
hebung nicht eine Spur von abgesetzten Gliedern gefunden worden
ist. Auch in unserem Falle ist mit der Nachgeburt kein abgesetzter
Gliedteil abgegangen. Sehen wir uns jedoch unseren Fall näher an,
so müssen wir zu der Ueberzeugung gelangen, daß dies überhaupt
auch gar nicht unbedingt nötig, ja nicht einmal möglich ist. Es
kann nämlich nicht dem geringsten Zweifel unterliegen, daß wir in
jenem vielgegliederten Hautwärzchen unweit der Knochengrübchen
am distalen Ende des Unterarmstumpfes Rudimente einer Hand zu
erblicken haben. Dafür spricht unzweideutig die Gliederung in eine
große Mutterwarze, welche der Hohlhand, beziehungsweise dem Hand¬
rücken entspricht, ferner die zweifellose Gliederung in fünf Tochter¬
warzen, an deren Spitzen sogar Nagelsubstanz nachzuweisen ist. In
den meisten Fällen findet sich zumeist eine leicht bewegliche und
verschiebbare, knochenfreie, mit der Haut des Stumpfes breit zu¬
sammenhängende Warze, welcher ähnlich, wie in unserem Falle,
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Ueber Spontanamputationen.
47
drei bis fünf Tochterwarzen aufsitzen; sehr häufig findet man zwei
derselben minder gut entwickelt. Es ist unbegreiflich, warum
Hecker, in dessen Falle am oberen, inneren Stumpfende in einer
muldenförmigen Tasche drei hahnenkammähnliche, papilläre Wuche¬
rungen bestanden, ausdrücklich betont, daß die letzteren keine Aehn-
lichkeit mit Fingern hatten.
Wir haben schon vorher hervorgehoben, daß die Form des
demonstrierten Vorderarmes den Eindruck macht, wie wenn derselbe
während seiner Entwicklung plötzlich innegehalten hätte. Bis zu
einer gewissen Marke ist er fast ganz normal entwickelt, dann ver¬
jüngen sich seine Teile und an seinem distalen Ende sieht man nur
Elemente einer frühembryonalen Epoche.
Fragen wir uns nun nach der Ursache dieser eigenartigen Er¬
scheinung. Es ist bekannt, daß die fötale Amputation zumeist den
sogenannten amniotischen Fäden zugeschrieben wird, mit welchen
sich zuerst Simonart 1876 beschäftigt hat. Sie führen auch des¬
halb den Namen Simonartsche Fäden. Ueberdies hat man hierfür
auch die Nabelschnur beschuldigt, obwohl dies andere Autoren in
Abrede stellen (Mäder). Hie und da wird die fötale Amputation
auf die gegenseitige Druckwirkung der sich im Uterus überkreuzen¬
den Arme und Beine bei zu spärlichem Fruchtwasser zurückgeführt
(Englisch). Auf eine Kompression der Art. radialis durch die
über die Brust gekreuzten und im Ellbogengelenk gebeugten Arme
der Frucht weist Birnbach er hin. Wieder andere (Proust und
Legroux) halten die fötale Amputation als mit Ainhum analog,
jener vorher erwähnten, der afrikanischen Rasse eigentümlichen,
spontan und aus unbekannten Gründen auftretenden Krankheit
Ainhum, welche in einer langsam fortschreitenden allmählichen Ab¬
schnürung von Gliedmaßen besteht. Das sogenannte „Versehen* der
Mutter brauchen wir als ernstlichen Grund wohl kaum anzuführen.
Denn bei der Tatsache, daß der Stoffwechsel zwischen Mutter und
Kind so gut wie ausschließlich nur den Austausch von Gas und
Flüssigkeit betrifft, ist es fast immer ein leichtes, nachzuweisen, daß
die Zeitangabe solcher und ähnlicher geheimnisvoller ätiologischer
Momente fast niemals mit dem Höhestande der embryonalen Ent¬
wicklung übereinstimmt. Noch mystischer klingt der Erklärungs¬
versuch Andrys, welcher annahm, daß die Samenfäden bei dem
Gedränge in die Eizelle sich beschädigen. In den Arbeiten von
Haller, Vrolik, Bischoff bricht sich die Anschauung Bahn, daß
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48
Oskar v. Hovorka.
die fötale Amputation als eine Bildungshemmung aufzufassen sei,
welche entweder aus uns noch unaufgeklärten Ursachen oder aber
durch Einflüsse der Blut- oder Nervenbahn erfolgt. Auf eine Gangrän,
bedingt durch eine intrauterine Fraktur führten sie zurück: Billard,
Chaussier, Desormaux, Grätzer.
Es ist nicht leicht, in diesem Gewirr der verschiedensten
Meinungen sich sofort zurechtzufinden. Da das ätiologische Moment
der amniotischen Fäden, Falten und Stränge seit den Arbeiten von
Simonart, Montgomery, Credö, Geoffroy, St. Hilaire am
meisten zitiert wird, so müssen wir uns vorerst die Frage nach der
Genesis derselben vorlegen.
Das Amnion haben wir uns als eine weiche Membran vorzu¬
stellen, welche den Fötus allenthalben umfaßt und durch die Amnion¬
flüssigkeit in einer fortwährenden Spannung erhalten wird. Diese
Spannung erzeugt einen Druck, dessen Intensität experimentell bereits
auch gemessen wurde; er beträgt nach Schatz, unabhängig von
den zeitweiligen Zusammenziehungen der Gebärmutter, etwa 5 mm
Quecksilber. Kommt es nun aus irgend einem Grunde, auf den wir
vorläufig nicht eingehen wollen, zu einer Abnahme des Druckes oder
Verminderung der Spannung, so muß sich das Amnion — ähnlich
wie ein schlaff herabhängendes Segel an den Mast bei Windstille —
an die einzelnen, am meisten vorragenden Körperteile der Frucht
anlegen. Dadurch kommt es nach und nach zur Verklebung des
Amnions mit der äußeren Haut der Frucht, sowie zur Faltenbildung
des Amnions. Verläuft die Anheftungsstelle nicht linienförmig,
sondern ragt sie mehr hügelartig vor, so verlaufen die Falten strahlen¬
förmig und vertiefen sich unter einer fortwährenden Zunahme ihrer
Spannkraft und abschnürenden Wirkung in gleichem Maße, als das
Wachstum der Frucht fortschreitet. Die hierdurch bloßgelegten Frucht¬
teile erfahren jedoch zugleich eine bedeutende Zunahme des intra¬
uterinen Druckes, welcher eben 5 mm Quecksilber beträgt und für
die Weiterentwicklung derselben durchaus nicht gleichgültig bleiben
kann. Die notwendige Folge davon muß eine Hypoplasie der be¬
troffenen Fruchtteile sein.
Wie wir später sehen werden, sind zur Abschnürung in der
Regel bestimmte Teile und Regionen der Extremitäten prädestiniert.
Es ist nun klar, daß gerade jene Teile der Frucht von der Falten¬
bildung und Umschnürung betroffen werden, welche am meisten
kantig und hügelig hervorragen. Wir brauchen uns hierbei nur die
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Ueber Spontanamputationen. 49
Lage und Stellung des Fötus im Uterus in dem betreffenden Monate
zu vergegenwärtigen.
Versuchen wir es nun, den Zeitpunkt zu bestimmen, welchem
diese Faltenbildung entspricht, so müssen wir uns vorerst vor
Augen halten, daß die Extremitäten der Seitenfalte des Embryonal¬
körpers entstammen, welche als Wolffsehe Leiste bezeichnet wird,
und welche von den Kiemenbögen zum Steißende ventral von der
Urwirbelleiste verläuft. Gegen Ende der dritten Woche wächst an
ihrem vorderen und hinteren Ende stets, einer Reihe von bestimmten
Urwirbeln entsprechend, je ein langgezogener Wulst, aus welchem
sich später die Extremitäten entwickeln. His findet am Ende der
fünften Woche alle Abschnitte deutlich voneinander gegliedert. Im
Laufe der achten Woche differenzieren sich alle Teile der unteren
und oberen Extremität deutlich voneinander ab. Es streckt sich
vorerst der Vorderarm, sonach der Oberarm, noch später bilden sich
die Konturen der Schulter heraus, wodurch der Oberarm in sein
richtiges Längenverhältnis einrückt. Ueberdies findet jedoch während
dieser Umformungen noch eine Torsion im entgegengesetzten Sinne
statt, so zwar, daß sich der radiale bezw. tibiale Rand der Extremi¬
täten zu drehen beginnt. Auf diese Weise gelangt die radio-tibiale
Seite nach auswärts, die Streckseite kaudalwärts.
Bei der Durchsicht der sehr reichen Kasuistik fällt es uns
sofort auf, daß die fötale Amputation an gewissen Stellen der Ex¬
tremitäten immer wieder auftritt, während sie andere konsequent
meidet. Wir gelangen auf diese Weise zur Aufstellung von mehreren
feststehenden Gruppen, deren Anzahl kaum mehr eine Vermehrung
erfahren dürfte; die Zahl analoger Fälle innerhalb einer Gruppe ist
hingegen im steten Wachsen begriffen.
Wir wollen vorerst bemerken, daß die intrauterine Gliedablösung
zumeist allein, ohne jede andere Anomalie, vorkommt. Jene Fälle,
wo sie mit anderen angeborenen Anomalien auftritt, wollen wir gar
nicht in Betracht ziehen.
In die erste Gruppe gehören nun Fälle, in welchen ein Ober¬
schenkel oder ein Oberarm amputiert ist. Diese Fälle sind im Ver¬
hältnis zu den übrigen sehr selten. Die Extremität erscheint in der
Regel hoch oben abgesetzt, so daß man den Eindruck einer statt¬
gefundenen Enukleation erhält. Braun beobachtete ein neugeborenes
Mädchen ohne linken Oberarm, sowie einen Knaben, dessen linke
untere Extremität wie im Hüftgelenk enukleiert aussah. Bei der
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XV. Bd. 4
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50
Oskar v. Hovorka.
Geburt fanden sich keine abgesetzten Gliedteile vor. Ry di gier
beschrieb einen Knaben, dessen alle vier Extremitäten mangelhaft
entwickelt sind; beide Vorderarme fehlen. Die linke untere Ex¬
tremität erscheint im Oberschenkel amputiert, rechts besteht nur ein
kurzer Stumpf. Trotzdem bewegt sich der Kranke schnell am Boden
fort, er hält ein Glas und vermag sogar mit einem Messer zu
schneiden. Einen ähnlichen Fall beschrieben auch Blumenthal und
Hirsch. Fälle, wie diese, sind wohl kaum geeignet, die Entstehungs¬
theorie der fötalen Amputation durch gegenseitigen Druck der
Extremitäten zu stützen.
In die zweite Gruppe gehören die Amputationen des Unter¬
armes und des Unterschenkels. Alle Fälle sehen sich meistens
ungemein gleich. Beim Unterarm sitzt die Amputationsstelle in der
Regel proximalwärts im ersten oberen Drittel; stets finden sich die
bekannten zwei Knochengrübchen, welche der distalen Spitze des
Radius und Ulna entsprechen; daneben sieht man in der Form eines
mehr oder minder gegliederten, charakteristischen Wärzchens ein
Handrudiment. Einmal ist der Radius länger wie in umserem Falle,
das andere Mal die Ulna (Härdtl). Im Falle Cohen bei einem
19jährigen Mädchen fehlte der Radius gänzlich; allerdings steht diese
Beobachtung aus dem Jahre 1894, also aus der Vor-Röntgenzeit,
ziemlich vereinzelt da. Aus der ziemlich lückenhaften Beschreibung
dieses Falles geht auch nicht mit Sicherheit hervor, ob es sich um
eine reine intrauterine Gliedablösung oder aber um eine Kombination
derselben mit einem kongenitalen Radiusdefekt handelt, von dem
von Schmid und Kümmel bereits 67 Fälle beobachtet wurden.
Auch Hebra schildert einen wohlgebauten Landmann, welcher
rechterseits nur das Olekranon als einzigen Bestandteil des Vorder¬
armes besaß, dem fünf Fingerfragmente aufsaßen. Doch bilden diese
und ähnliche Fälle nur eine Ausnahme von der Regel. Unser Fall
gehört zu den typischsten und häufigsten. Er ist kaum zu unter¬
scheiden von den Fällen, wie sie z. B. Tournier, Härdtl, Greuser,
Hecker, Schräder, Wilms u. a. beschrieben haben. Am Unter¬
schenkel ist es im Gegensätze zum Unterarm das untere Drittel, an
welchem die fötale Amputation vorzukommen pflegt. Doch ist die¬
selbe bei weitem nicht so häufig wie jene am Unterarm. Lanne-
longue beschreibt ein viermonatliches Kind, welches eine Schnür-
furche am Unterschenkel nebst Schnürfurchen und Amputationen an
den Fingern und Zehen aufwies. Sehr instruktiv für die Entstehungs-
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lieber Spontanamputationen.
51
weise der fötalen Amputation ist auch der Fall Wiedemanns
(Fig. 5), welcher bei einem 1jährigen Kinde nebst mehreren Ab-
Fig. 5.
c) Rechte Hand. d) Linke Hand.
Angeborene Schniirfurchen (Fall Wiedemann), ljähriges Kind.
schniirungen an den Fingern und Zehen eine tiefe Schnürfurche,
also eine nicht ganz vollendete Amputation, am unteren Drittel der
beiden Unterschenkel vorfand.
In die dritte Gruppe gehören endlich jene fötalen Amputationen,
welche sich an den Fingern und Zehen abspielen. Eine Amputation
an der Vola manus oder im Handgelenk ist bis jetzt meines Wissens
nicht beobachtet worden, doch beschreibt Braun 2 Fälle, und zwar
den eines neugeborenen Mädchens, bei welchem der Fuß wie nach
einer Chopartschen Enukleation aussah; bei einem neugeborenen
Knaben hingegen wieder wie nach Lisfranc. Angeborene Schnür-
furchen und Amputationen der Finger und Zehen sind hingegen
häufig und oft beschrieben worden (Simonart, Menzel, Fürst,
Olshausen, Küstner, Wiedemann, Gruber u. a.). Aus der
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52
Oskar v. Hovorka.
langen Reihe von Beobachtungen wollen wir nur die Beobachtung
von Marchand (Fig. 6) herausgreifen, weil sie ähnlich wie der Fall
Wiedemann einen Einblick in die Entstehungsweise der fötalen
Amputation gestattet. Wir brauchen nur die Fig. 6, 5 und 1 neben¬
einander zu stellen, um die ein¬
zelnen Entwicklungsgrade der fö¬
talen Amputation zu beurteilen.
Es ist klar, daß das Amnion,
bezw. das in Fäden ausgezogene
Amnion, in der vorher beschrie¬
benen Weise bei bestimmten Druck¬
verhältnissen in der Gebärmutter¬
höhle eine zumeist zirkuläre Um¬
schnürung der Extremitäten er¬
zeugt. Diese Umschnürung, welche
zwar ganz langsam und allmählich,
doch umso energischer, wie ein
chirurgischer Ekraseur wirkt, je
länger sie andauert, scheint zumeist
auf der Höhe des zweiten Monates
stattzufinden; zu diesem Schlüsse
gelangen wir, wenn wir bei der Durchsicht der bisherigen Literatur
die einzelnen gebliebenen Rudimente betrachten. Fötale Amputationen
aus späteren Lebensperioden stammen zweifelsohne nicht von den
amniotischen Fäden, sondern von der Nabelschnur. Dieses Faktum
wurde zwar eine Zeitlang angezweifelt (Küstner, Mäder u. a.),
doch ist an dessen Richtigkeit heute nicht mehr zu zweifeln (Beaty,
Marchand). Allerdings sind solche Amputationen weit seltener,
besonders an lebenden Früchten. Warum treffen wir nun einmal
Früchte mit, das andere Mal ohne Rudiment an der amputierten
Extremität? Während an den Oberarmen und Oberschenkeln zumeist
Amputationen ohne Rudiment Vorkommen, sind sie am Unterarm
mit Rudiment die Regel, dagegen an den Händen und Füßen kommen
sie meistenteils in Form von unvollständigen Abschnürungen vor.
Dieses Faktum ist gewiß damit zu erklären, daß die amnio¬
tischen Fäden dort, wo sie an ihrer Anheftungsstelle durch die
Bewegungen der Frucht am wenigsten gehindert werden, z. B. am
Oberarm, am besten haften, mithin zu kompletten Amputationen
führen, welche den Eindruck von Enukleationen machen; hingegen
Fig. 6.
SpontaneGliedablösung (Fall Marchand),
1—smouatlicher Fötus.
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Ueber Spontanamputationen.
53
dort, wo die beweglichsten Teile, z. B. Finger und Zehen, sind, zu¬
meist unvollständige Abschnürungen zu stände kommen.
Was speziell unseren Fall am Unterarm betrifft, ist es klar,
daß von einer wahren Amputation nicht die Rede sein kann. In
solchen Fällen gibt es ja nichts, was amputiert worden wäre. Es
ist der Unterarm da, wir sehen die Hand — wenn auch nur rudi¬
mentär. Doch amputiert wurde nichts. Ebensowenig konnte bei
der Geburt der abgesetzte Teil der Extremität vorgefunden werden.
Solche »Amputationen“ können wir demnach nur als falsche oder
als intrauterine Gliedablösung bezeichnen.
Der Unterschied, auf den wir schon vorher aufmerksam machten:
Vorfindung oder Nichtvorfindung des abgesetzten Gliedes oder Glied¬
teiles bei der Geburt, wird in der Regel auch bei der Gestaltung
des Stumpfes seinen Ausdruck finden. Im ersten Falle sehen wir
eine glatte Amputationsfläche, im zweiten ein Rudiment. Daher
unterscheidet Kümmel zwei Gruppen von Enddefekten; solche mit
und solche ohne rudimentären Teil des peripheren Abschnittes. Es ist
auch unnötig anzunehmen, wie es Marchand will, daß von'den abge¬
trennten Teilen meist aus dem Grunde nichts mehr bei der Geburt
vorhanden ist, da dieselben, wenn die Abschnürung sehr früh erfolgte,
vollständig mazeriert werden und spurlos verchwinden. Wo nichts
abgetrennt wurde, konnte auch nichts amputiert werden. Es handelt
sich dann um keine wahre Amputation, sondern um eine Hypoplasie
bezw. Aplasie. Der abschnürende Amnionstrang hat z. B. in unserem
Falle den Unterarm der Frucht in einer bestimmten Entwicklungs¬
woche derselben die Abschnürung nicht vollkommen bewerkstelligt,
sondern ließ für das weitere Wachstum eine kleine Lücke frei, durch
welche sich die Extremität, wenn auch ganz mangelhaft, so doch
wenigstens teilweise weiterentwickeln konnte.
Wie wir gesehen haben, waren wir im stände, unseren Fall
nicht auf die Basis einer Bildungsanomalie, also nicht mit einem
Defekte der Anlage, sondern vielmehr aus rein mechanischen Ur¬
sachen infolge eines gut lokalisierten Vorganges als eine einfache
Wachstumshemmung zu erklären. Aus diesem Grunde haben wir
auch unseren Fall als eine sekundäre Mißbildung aufzufassen. Für
die Zerreißlichkeit des Amnions haben wir ein Nachgeben des inneren
Druckes angenommen; Simonart und Simpson machten dafür
Entzündungsvorgänge im Amnion verantwortlich. Menzel ging von
einer anderen Anschauung aus. Er suchte nämlich den Nachweis
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54
Oskar v. Hovorka.
zu erbringen, daß der mikroskopische Befund bei der fötalen Ampu¬
tation analog sei mit jenem bei Ainhum. Die Ablösung erfolge
durch eine epitheliale Einsenkung, daher der Name epitheliale
Daktylolyse. Ihm haben sich Beauregard und Wiedemann an¬
geschlossen, welch letzterer besonders seinen Fall als ein Bindeglied
zwischen den bisher bekannten und Ainhum hält. Er betraf eine
69 Jahre alte an Psoriasis leidende Frau, bei welcher vor 14 Jahren
an den Zehen und Fingern allmählich unter großen Schmerzen und
zwar ohne jedes Zeichen einer Entzündung oder Narbenbildung
zirkuläre Abschnürungen auftraten. Mag dieser Fall eine noch so
große Aehnlichkeit mit Ainhum aufweisen, so ist es nicht schwer
zu erkennen, daß er, mit seinem eigenen Falle bei dem Kinde
Fig. 5 verglichen, mit der fötalen Amputation nichts zu tun hat.
Hier sehen wir einen allmählich verlaufenden Abschnürungsring,
dessen Entstehungsursache uns noch dunkel ist, dort eine scharf
markierte, direkt in die Tiefe der Fleischteile gehende Schnürfurche,
welche uns keinen Zweifel darüber läßt, wie sie entstanden ist. Bei der
letzteren ist nicht nur die Art, sondern auch die Genesis derselben
eine grundverschiedene, was bereits aus der einfachen Vergleichung
mit dem Falle Marchand (Fig. 6) erhellt. Wenn wir auch nur über
spärliche mikroskopische Untersuchungen bisher verfügen, wie die
amniotischen Verwachsungen beschaffen sind, so ist uns bekannt
(T esdorpf), daß sie aus vielfach verfilzten Bindegewebsbündeln, mit¬
unter auch aus elastischen Fasern bestehen, zwischen welchen oft
unvollständige Reste einer Zellschicht liegen. Doch fehlen Gefäße,
welche für die entzündlichen Bindegewebsadhäsionen so charak¬
teristisch sind.
Bei den spärlichen Sektionsbefunden, über die wir bei der
fötalen Spontanamputation verfügen, finden wir nichts besonders
Bemerkenswertes. Die Untersuchung des Stumpfes ergibt wohl kaum
etwas wesentlicheres, als das, was wir bereits bei der Palpation und
bei der äußeren, sowie radiologischen Untersuchung finden können.
T r o i s i e r hat bei einer angeborenen Spontanamputation
Atrophie der Vorder- und Hinterhörner im Rückenmark nachge¬
wiesen und Edinger fand bei einer angeborenen Vorderarmampu¬
tation Atrophie der Nerven wurzeln und der Rückenmarksubstanz,
sowie Atrophie des Vorderhornes nebst Zurückbleiben der motorischen
Rindenzone des Gehirns im Wachstum. Wenn nun auch Davidov
diese Atrophie der Rindensubstanz als primär auffaßt, so kann uns
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Ueber Spontanamputationen.
55
diese Tatsache gar nicht überraschen, da wir ja auch bei chirurgisch
Amputierten eine Atrophie der Rückenmarksubstanz der betreffenden
Bahnen vorfinden.
Aus dem bisher Gesagten ist wohl deutlich zu entnehmen, daß
es sieb in ähnlichen Fällen um keine eigentliche Amelie, Phokomelie,
Mikromelie etc. handeln kann, sondern stets nur eine sekundäre
Mißbildung infolge einer rein mechanischen Wachstumsstörung
vorliegt. Wir halten selbst die Bezeichnung Perobrachius bei un¬
serem Falle, wie dies z. B. Schräder in einem ähnlichen tut, für
nicht gut angebracht. Der beste Beweis dafür ist stets der radio¬
logische Befund.
Es erübrigt uns nur noch die Frage der Systematik der spon¬
tanen Gliedablösung zu berühren, welche besonders Kor mann und
Schräder angeregt haben. So unterscheidet Kor mann zwischen
Bildungshemmungen und Spontanamputationen, und zwar:
I. Bildungshemmungen:
1. primäre (aus noch völlig dunklen Gründen),
2. sekundäre,
a) als Folge unvollständiger Spontanamputation durch
Umschlingung,
b) als Folge narbiger Schrumpfung des Hautsackes
(Virchow),
c) als Folge von Kompression durch amniotische Falten.
II. Spontanamputationen:
1. durch Kompression,
a) durch Umschlingung der Nabelschnur (selten),
b) durch amniotische Bänder und Fäden, die entweder
durch Entzündung, plastische Verklebung oder durch
Behinderung der Entwicklung des Amnions, durch
Rupturen des letzteren oder durch Ablösung der
amniotischen Bekleidung des Nabelstranges entstan¬
den sind,
2. durch intrauterine Frakturen (selten),
3. durch narbige Schrumpfung infolge von Hautentzündungen.
In einer ähnlichen Weise bewerkstelligt Schräder seine
systematische Aufstellung, nur läßt er neben der Bildungs- noch die
Entwicklungshemmung gelten, und zwar:
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Oskar v. Hovorka.
I. Entwicklungs- oder Bildungshemmung:
1 . durch amniotische Adhäsionen oder Nabelschnur,
a) vermittels zirkulären Druckes und sekundärer Hypo¬
plasie der peripher gelegenen Teile,
b) vermittels peripheren Druckes, entgegengesetzt der
Wachstumsrichtung,
a) reine Hypoplasie,
ß) Spaltbildung,
7 ) Abknickung im Gelenk oder in der Kontinuität
der Längsachse,
2 . durch primäre Obliteration der Blutbahnen,
3. durch primäre Anomalien oder Degenerationsprozesse
im Zentralnervensystem.
H. Wahre Spontanamputation:
1. durch abschnürende Amnionstränge oder Nabelschnur,
2 . durch Gangrän der gipfelnden Teile,
a) nach Trauma (intrauterine Fraktur),
b) nach Thrombose.
Sowohl Kor mann als Schräder machen einen Unterschied
zwischen Wachstumshemmung und Bildungshemmung. Während
Schräder bei der ersteren nur primär einwirkende Ursachen an¬
nimmt, stellt Kormann auch den Einfluß sekundärer Faktoren auf.
In der zweiten Abteilung spielt das Trauma die Hauptrolle, nur
läßt Kormann die Schrumpfung, Schräder die Gangrän raitsprechen.
Wir sind der Ansicht, daß damit der Kernpunkt der fötalen Spontan¬
amputation nicht getroffen wurde. Weder bei der Kormannschen
noch bei der Sehr ad ersehen Einteilung findet man den eigentlichen
Unterschied zwischen der wahren und falschen Spontanamputation
prägnant ausgedrückt. Und dennoch liegt die Sache ziemlich einfach.
Die intrauterine Gliedablösung haben wir uns als eine mangel¬
hafte Ausbildung von Extremitäten oder Extremitätsteilen vorzu¬
stellen, welche entweder endogen (Bildungshemmung) oder exogen
(Wachstumsstörung) vor sich gehen kann. Die endogene ist sehr
selten und ihre Ursachen sind uns bis heute noch nicht ganz klar.
Bei Fällen, wie bei dem unserigen, kommt sie auch kaum in Betracht.
Die exogene intrauterine Gliedablösung entsteht hingegen durch
pathologische Prozesse der Frucht und der Fruchthäute oder durch
Trauma (Kompression, Fraktur, Thrombose etc.). Nur jene intra¬
uterine Gliedablösung, welche dadurch entsteht, daß Amnionteile oder
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Ueber Spontanamputationen.
57
die Nabelschnur eine Extremität oder Teile derselben zirkulär um¬
schnüren und so den peripheren Abschnitt derselben absetzen, daß
er frei in der Amnionflüssigkeit herumschwimmt, sind wir berechtigt
als fötale Spontanamputation zu bezeichnen. Intrauterine Glied¬
ablösungen, bei welchen wir Rudimente von peripher gelegenen
Extremitätabschnitten vorfinden, sind nicht als eine Spontanamputation,
sondern vielmehr als eine aus zwar gleichen mechanischen, doch
unvollkommen wirkenden Ursachen entstandene Wachstumsstörung
aufzufassen, bei welcher es nicht zu einer totalen, sondern nur zu
einer partiellen Absetzung mit nachfolgender Hypoplasie der distal
gelegenen Teile gekommen ist. In diesem Sinne fassen wir auch
unseren Fall nicht als eine wahre fötale Spontanamputation auf.
Dem bisher Gesagten habe ich nur wenig hinzuzufügen. Ob¬
wohl Kinder mit ähnlichen angeborenen Defekten erfahrungsgemäß
trotz ihrer Verstümmelung eine oft staunenerregende Geschicklichkeit
erlangen, hat man es wiederholt, und zwar mit Erfolg, versucht,
ihnen den Mangel der Extremität durch sinnreich konstruierte Pro¬
thesen zu ersetzen. Seltener sah man sich bisher zu chirurgisch¬
orthopädischen Eingriffen veranlaßt (Fürst).
Fig. 7.
In unserem Falle verfertigten wir dem Knaben einen künst¬
lichen Arm, welcher zuin größten Teile einen zweigeteilten Schienen¬
hülsenapparat mit einer künstlichen Hand darstellt. An der radialen
und ulnaren Seite laufen zwei Stahlschienen, welche in der Höhe
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Oskar v. Hovorka.
des Ellbogengelenkes mittels Scharnieren verbunden und in das
Walkleder eingearbeitet sind. Der Oberarm teil ist nach vorn mit
Schnüren versehen und reicht fast bis zur Schulter; der Unterarmteil
ist nach dem Gipsabguß des Stumpfes gewalkt und mit weichem
Rehleder innen ausgekleidet. Die künstliche Hand bewegt sich
mittels eines Kugelgelenkes im Sinne der Volar- und Dorsalflexion,
ebenso die vier Finger, während der Daumen durch eine starke
Feder in leichter Oppositionsstellung gegen den Zeigefinger fest¬
gehalten wird.
Es ist klar, daß besonders bei kleineren Kindern die Prothese
entsprechend ihrem Wachstum oft erneuert werden muß; doch ver¬
richten dieselben vorzugsweise, wenn sie einigermaßen lebhaft sind,
ihr Tagewerk erfahrungsgemäß stets lieber ohne Prothese als mit
Prothese.
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V.
(Aus der chirurgisch-orthopädischen Klinik des Geh. Medizinalrats
Prof. Dr. Hoffa-Berlin.)
Hüftgelenkserkrankungen in Schwangerschaft nnd
Wochenbett.
Von
Dr. Adolf Silberstein,
Assistent der Klinik.
Paci hat im Jahre 1891 in einer ausführlichen Monographie,
betitelt „Sulla coxite puerperale e suoi esiti“, auf die puerperale
Form der Hüftgelenkserkrankungen hingewiesen, die er durchaus als
selbständige, wohlcharakterisierte Erkrankung bezeichnet. In letzter
Zeit hatten wir mehrfach Gelegenheit, Erkrankungen des Hüftgelenks
zu beobachten, die wir zunächst als sogenannte puerperale Coxitiden
aufzufassen geneigt waren. Die genauere Beobachtung hat uns je¬
doch bald gelehrt, jene Fälle nicht der puerperalen Coxitis Pacis
zuzurechnen. Die Betrachtung aller Gelenkerkrankungen, die in
Schwangerschaft und Wochenbett auftreten, hat uns vielmehr davon
überzeugt, daß es eine Coxitis puerperalis im Sinne Pacis nicht
gibt, d. h. bei sorgsamer Betrachtung jedes einzelnen Falles wird
es stets gelingen, ihn in der einen oder der anderen Gruppe der be¬
kannten Formen der Coxitiden unterzubringen. Paci hat im ganzen
5 Fälle eigener Beobachtung veröffentlicht. Zum näheren Verständnis
führe ich im Auszuge die Charakteristika der einzelnen Fälle hier
kurz an.
Erster Fall.
Anamnese: Hereditäre Verhältnisse ohne Belang. Zwei Aborte,
ein Partus, bei dem die Perforation wegen Hydrocephalus erforder¬
lich war. Die Entbindung hat vor 9 Jahren stattgefunden. Am
neunten Tage des Wochenbetts traten blitzartige heftige Schmerzen
auf, die vom linken Hüftgelenk bis zum linken äußeren Knöchel
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Hüftgelenkserkrankungen in Schwangerschaft und Wochenbett. 61
ausstrahlten. Es bestand eine beträchtliche Schwellung des Ober¬
schenkels, keine Rötung. Am folgenden Tage sollen dann die gleichen
Erscheinungen rechts aufgetreten sein. Die Schmerzen zwangen zur
völligen Bettruhe 4 Monate hindurch. Das alles beruht auf Angaben
der Patientin, da ärztliche Hilfe während der ganzen Zeit nicht in
Anspruch genommen war. Im Jahre 1884 erneute Schwangerschaft,
nunmehr ärztliche Untersuchung, und zwar im sechsten Schwanger¬
schaftsmonat. Nunmehr ergibt sich folgender Befund: Beide Hüft¬
gelenke sind vollkommen ankylosiert, die Vorwärtsbewegung ist un¬
beholfen, der Rumpf muß nach vorn gebeugt werden, wenn Patientin
einen Schritt tut, sie schiebt sich gewissermaßen in den Hüften vor.
Die Geburt ist normal, desgleichen zwei spätere Geburten.
Zweiter Fall.
Während der Schwangerschaft Schmerzen in der rechten Hüfte,
die in den rechten Oberschenkel ausstrahlen und als ischiadische
gedeutet werden. Massagebehandlung. Normale Geburt, angeblich
kein Fieber im Wochenbett. Am fünften Tage des Wochenbetts
Zunahme der rechtseitigen Schmerzen, gleichzeitig treten im linken
Hüftgelenk heftige Schmerzen auf. Ruhige Bettlage „mit vollständig
gestreckten Beinen“ wegen der anhaltenden intensiven Schmerzen
bei geringster Bewegung. Haut der Oberschenkel geschwollen,
glänzend weiß. Allmählich entwickelt sich in beiden Hüftgelenken
eine „fibröse Pseudoankylose“, die durch forcierte Bewegungen in
der Narkose, später mit aktiven und passiven Bewegungen zum
Schwinden gebracht wird. Nachuntersuchung ergibt: Flexion des
linken Beines im Hüftgelenk auf einen Winkel von 160° beschränkt,
rechts 165 °. Abduktion so weit möglich, daß sich die Kniee 32 cm
entfernen können.
Dritter Fall.
Es handelt sich um eine doppelseitige puerperale Coxitis,
winklige knöcherne Ankylose der rechten Hüfte, pathologische
linksseitige Luxation. Die Heilung wird herbeigeführt durch sub-
trochantere Osteotomie rechterseits und Resektion des Schenkelkopfs
linkerseits.
Anamnese: 26jährige Witwe. In der Familie Disposition zur
Tuberkulose. Am vierten Wochenbettstage der dritten Entbindung
beginnt eine puerperale Infektion. Im linken Hüftgelenk treten
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62
Adolf Silberstein.
äußerst heftige Schmerzen auf, die die Patientin zwingen, auch nach
Ablauf des Fiebers 2 Monate hindurch im Bett auf der rechten Seite
zu liegen. Aerztliche Hilfe wird nicht in Anspruch genommen.
Etwa l 1 /* Jahre nach der Entbindung sucht sie das Spital Pacis
auf, der folgenden Befund erhebt:
Status praesens: Normales Knochengerüst, Muskulatur und
Fettpolster wenig entwickelt. Bleiche Hautfarbe, Hals und Thorax
lang und schmal. Auskultation und Perkussion ergibt nichts Be¬
sonderes. Links: Leistenbeuge verstrichen, linkes Bein in maximaler
Adduktion, es scheint verkürzt, starke Innenrotation, die sich leicht
vermehren läßt. Hochstand des Trochanter major über der Roser-
N^latonschen Linie 5 cm. Linke Glutealfalte steht höher als rechte.
Patientin kann nicht auf dem linken Beine stehen. Rechts geringe
Flexion, keine einzige Exkursion möglich: vollständige knöcherne
Ankylose. Paci faßt seine Anschauungen dahin zusammen, daß sich
im Anschluß an eine schwere puerperale Infektion eine doppelseitige
Arthrosynovitis gebildet hat, die ohne ärztliche Behandlung allmäh¬
lich zurückging und den soeben beschriebenen Zustand hinterließ.
Die fehlerhafte, lang andauernde Haltung, die Lage auf der rechten
Seite in einem unbequemen Bett erkläre die Fixation in pathologi¬
scher Stellung mit konsekutiver Ankylose, während wir die Luxation
links durch „den Mechanismus der sogenannten Distensionsluxationen*
uns zu stände gekommen denken können.
Behandlung der Luxation durch Extension und Kontraextension
blieb erfolglos, ebenso Versuche der Reposition durch Flexion, Ab¬
duktion, Außenrotation und Extension erfolglos wegen der Retrak¬
tion der Adduktoren. Aus diesem Grunde kam Paci zur Diagnose
der „Distensionsluxation“ durch Druck des Schenkelkopfes auf die
Kapsel und nicht infolge einer einfachen Coxitis entstanden. Re¬
sektion des Schenkelkopfes links und subtrochantere Osteotomie
rechts wird ausgeführt.
Vierter Fall.
Anamnese: Hereditäre Verhältnisse ohne Belang. Zwei nor¬
male Geburten sind voraufgegangen. Am dritten Tage des letzten
Wochenbettes heftige Leibschmerzen, hohe Temperatur: puerperale
Infektion. Am fünften Tage heftige Schmerzen in der linken Hüfte,
Schwellung und weißliche Färbung der Haut des Oberschenkels.
Ruhige Bettlage in gestreckter Stellung macht allein die Schmerzen
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Hüftgelenkserkrankungen in Schwangerschaft und Wochenbett. 63
erträglich. Die Erscheinungen des Puerperalfiebers gehen vorüber,
allmählich lassen auch die Schmerzen in der linken Hüfte nach.
Verschlimmerung nach den ersten Gehversuchen. Nach 3 Monaten
erste ärztliche Untersuchung: Schwellung, Schmerzen im linken Hüft¬
gelenk. Stoß gegen die linke Ferse wird im Hüftgelenk schmerz¬
haft empfunden, linkes Bein in Streckstellung, jedoch keine voll¬
kommene Fixation. Geringe passive Bewegungen möglich. Residuen
der Parametritis, die sich im Anschluß an die puerperale Infektion
entwickelt hatten, rufen abendliche Temperatursteigerungen, 38—38,3°
hervor.
Therapie: Wasserglas verband, später forcierte Bewegungen in
Narkose, Massage, aktive und passive Bewegungen mit gutem funk¬
tionellen Resultat, wie die Nachuntersuchung nach 6 Jahren ergibt.
Fünfter Fall.
Anamnese: Hereditäre Verhältnisse ohne Belang. Zwei nor¬
male Geburten. Am fünften Tage des dritten Wochenbetts Puer¬
peralfieber: Schüttelfrost, Temperatur 41°. Schmerzen im linken
Hüftgelenk, sowie im ganzen linken Bein. Schwellung und wei߬
glänzende Färbung der Haut. Intrauterine Ausspülungen, Chinin.
Rückgang der Temperatur nach 5 Tagen, Steigerung der Schmerzen
im linken Hüftgelenk bedingt völlige Ruhehaltung: die Kranke liegt
auf dem Rücken, beide Beine vollkommen gestreckt und einander
dergestalt genähert, daß „das linke Bein die größtmöglichste Stütze
am rechten hätte“. Miktion und Defäkation erschwert, selbst der
Druck der Bettdecke ruft heftige unerträgliche Schmerzen hervor.
Zeitweise Muskelzuckungen. Nach Anlegung eines fixierenden Ver¬
bandes schwinden die Schmerzen. Nach 25 Tagen Abnahme des
Verbandes, nach l 1 /* Monaten erste Gehversuche, völlige Restitutio
ad integrum.
Wenn wir das allen FäUen Gemeinsame, gleichsam für die
Coxitis puerperalis Pacis Pathognomonische zusammenfassen, so er¬
gibt sich folgendes Krankheitsbild:
Im Anschluß an eine puerperale Infektion, aber auch ohne daß
eine solche nachweisbar voraufgeht, erfolgt am vierten, fünften Tage
des Wochenbetts akut beginnend eine Erkrankung des Hüftgelenks.
Auffallend ist das an sich so seltene doppelseitige Auftreten in
3 Fällen unter fünf Beobachtungen (nach Paci fand RidIon über-
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Adolf Silberstein.
haupt nur 14, Kirmisson nur eine einzige doppelseitige Coxitis).
Der Schmerz tritt von vornherein sehr heftig auf. Die geringste
Bewegung, ja der Druck der Bettdecke wird als äußerst schmerzhaft
geschildert. Er strahlt in das Bein der befallenen Seite aus, nimmt
zeitweilig den Charakter schwerer Ischias an. In allen Fällen findet
sich eine eigentümliche Schwellung der Haut des Oberschenkels, die
als weißglänzend geschildert wird, eine Schwellung, die Paci, wie
er mehrfach hervorhebt, an die der Phlegmasia alba dolens erinnert.
Schwellung und Schmerz treten gleichzeitig in Hüfte und Ober¬
schenkel auf. Die Intensität des Schmerzes zwingt die Patienten,
von vornherein eine absolut ruhige Dauerlage einzuhalten, und zwar
ist es die Streckstellung, die die Patienten Pacis insgesamt bis zum
Auf hören des Entzündungsprozesses einnahmen, worauf in einigen
Fällen knöcherne Ankylosen, in anderen mehr oder minder feste
fibröse Verwachsungen ein traten. Konstant erhält sich die voll¬
kommene Streckstellung, wiewohl Monate hindurch keine Fixation in
festen Verbänden vorgenommen wurde. Es kommt nirgends zur
Eiterung im erkrankten Hüftgelenk. Die Dauer der Erkrankung
erstreckt sich auf 2—4 Monate.
Es handelt sich also nach Paci um ein völlig begrenztes Krank¬
heitsbild, eine Form der Hüftgelenkserkrankung, die im Wesen und
charakteristischen Verlauf übereinstimmend lediglich als eine puer¬
perale zu bezeichnen ist, um eine Krankheit sui generis.
Betrachten wir zunächst allgemein die Gelenkerkrankungen, die
gelegentlich während der Schwangerschaft und während des Wochen¬
betts auftreten. Logischerweise ist in einer Reihe von Fällen von
vornherein ein innerer Zusammenhang der Gelenkaffektion einerseits
und der Schwangerschaft bezw. des Wochenbetts anderseits auszu¬
schließen: so selbstverständlich es erscheint, verdient es hervor¬
gehoben zu werden, daß eine Schwangere, bezw. eine Wöchnerin,
wie jede andere, eine Gelenkerkrankung acquirieren kann, und daß
eine an einer Gelenkerkrankung leidende Person eine Schwangerschaft
bezw. ein Wochenbett durchmachen kann. Beide Zustände, der
krankhafte und der physiologische, können jedoch in Wechselbezie¬
hungen treten, der eine den anderen beeinflussen. Die Franzosen
haben bereits vor drei Jahrzehnten auf den schweren Verlauf hinge-
gewiesen, den allgemein Gelenkerkrankungen während der Schwanger¬
schaft nehmen (Tison, Georgi ad es, Her vieux, Alexandre u. a. m.).
Die lange Dauer der Erkrankung, das oft ausschließliche Befallen-
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Hüftgelenkserkrankungen in Schwangerschaft und Wochenbett. 65
sein eines Gelenkes bezw. einer Gelenkgruppe, der Ausgang in
Ankylosenbildung waren übereinstimmend und treffend beobachtet.
Nach dieser Richtung hat v. Noorden sodann im Jahre 1892
seine Aufmerksamkeit auf den Verlauf des akuten Gelenkrheumatis¬
mus in Schwangerschaft und Wochenbett gelenkt.
Seine Beobachtungen beziehen sich naturgemäß lediglich auf
solche Gelenkentzündungen, die keineswegs in septicopyämischen
Prozessen ihre Aetiologie finden. Vielmehr handelt es sich aus¬
schließlich um echte rheumatische Polyarthritiden, die während der
Schwangerschaft begannen und das Wochenbett weit überdauerten.
Akuter Gelenkrheumatismus trat stets unter Formen auf, die von
Anbeginn auf eine schwere Erkrankung schließen ließen. Abweichend
von dem gewöhnlichen Verlauf der rheumatischen Gelenkentzündungen,
die sprungweise ein Gelenk nach dem anderen heimsuchen, war in
den beobachteten Fällen stets ein Gelenk oder eine Gelenkgruppe
mit besonderer Heftigkeit und Hartnäckigkeit befallen, die allen
antirheumatischen Mitteln trotzte und Monate hindurch die geringste
Bewegung der Gelenke verhinderte, so daß es in fast allen Fällen
schließlich zur Ankylosenbildung kam, ein Krankheitsbild, das dem
der gonorrhoischen Arthritis recht ähnlich sah. v. Noorden schreibt:
»Wenn man in Erwägung zieht, daß in dem Zeitraum von 3 Jahren
im ganzen 11 Schwangere mit akutem Gelenkrheumatismus zur Be¬
obachtung gelangten und bei 9 derselben der Gelenkrheumatismus
einen ungewöhnlich lenteszierenden, die Gravidität weit überdauern¬
den Verlauf nahm, in einzelnen Gelenken hartnäckig sich festsetzte
und schließlich zu Ankylose derselben Anlaß gab, so kann man das
Urteil kaum ablehnen, daß Gravidität und Puerperium der Poly¬
arthritis einen besonderen Stempel aufprägen und ihre Abheilung
erschweren.“ Wenn v. Noorden dann darauf hinweist, daß diese
11 Fälle Schwangerer sich auf 101 Fälle von Polyarthritis rheuma-
tica verteilen, die während des Zeitraumes von 1889 —1892 auf der
Frauenstation der II. med. Klinik der Charite zur Beobachtung ge¬
langten, und daß von den Erkrankungen der nichtschwangeren
90 Patientinnen 83 einen glatten Verlauf zeigten, von denen der
11 Schwangeren dagegen nur 2, so ergibt sich daraus die Bedeutung
der Polyarthritis rheumatica für Schwangerschaft und Wochenbett.
Eine eigene Beobachtung lasse ich folgen.
Die 28jährige Frau A. K. erkrankt plötzlich mit Schüttelfrost,
Erbrechen, Kopfschmerzen, Temperatur 40,8 °. Anamnestisch ist fest-
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XV. Bd. 5
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66
Adolf Silberstein.
zustellen, daß die Patientin, die zwei normale Entbindungen vor
3 und 5 Jahren durchgemacht hat, die letzten Menses vor etwa
3 Monaten gehabt hat, daß in letzter Zeit außer häufigem Erbrechen,
wiederholten Halsschmerzen, Mattigkeitsgefühl, Schmerzen in beiden
Sprunggelenken, im rechten Kniegelenk und im rechten Hüftgelenk
aufgetreten seien, die sie vorübergehend zur Bettruhe zwangen. Der
behandelnde Arzt stellte einen beginnenden Abort fest. In An¬
betracht der drohenden Erscheinungen nahm er sofort die Aus¬
räumung vor. An die Ausräumung wurde unmittelbar eine intrauterine
Spülung angeschlossen. Trotzdem sank die Temperatur nur um
wenige Zehntel Grade. Abendtemperatur 40,1, Schüttelfröste traten
jedoch nicht mehr auf. Am 2. Tage stellten sich lebhafte Schmerzen
und Schwellung im linken Handgelenk ein, die gleichen Erschei¬
nungen traten im Laufe des folgenden Tages im linken Kniegelenk,
im rechten Hand- und Schultergelenk auf. Am 4. Tage wird über
besondere Schmerzhaftigkeit im linken Hüftgelenk geklagt, hier
steigern sich auch die Schmerzen in der Folge, während Schmerz
und Schwellung in den übrigen Gelenken allmählich zurückgehen.
Der Schmerz im linken Hüftgelenk wird als unerträglich geschildert,
jede, auch die geringste Bewegung steigert ihn beträchtlich. Die
Fieberkurve gibt keinen Aufschluß über den Verlauf des fieberhaften
Abortes, da tägliche reichliche Gaben von Salipyrin abwechselnd mit
Aspirin die Temperatur beeinflussen. Am 9. Tage kehrt die Tempe¬
ratur zur Norm zurück. Gelegentlich treten geringe abendliche
Temperatursteigerungen, etwa 38—38,2° auf. Obwohl sich das All¬
gemeinbefinden — Herz und Lungen sind unbeeinflußt — sichtlich
bessert, ändert sich die Schmerzhaftigkeit im linken Hüftgelenk
nicht; Schwellung und Rötung ist nicht nachweisbar, Fluktuation
nirgends vorhanden. Allmählich lassen die Schmerzen im linken Hüft¬
gelenk nach. 3 Wochen nach dem Auftreten der Erkrankung wird eine
energische Bekämpfung der beginnenden Kontraktur eingeleitet, nach
4wöchentlicher täglicher Massage, aktiven und passiven Bewegungen
wird die Funktionsfähigkeit des Hüftgelenkes völlig wieder hergestellt.
Zweifellos bestand bereits beim Beginn des Abortes, dessen
Aetiologie mit Sicherheit nicht zu eruieren ist, eine Polyarthritis
rheumatica, die durch den Eintritt des Abortes in ungünstigem Sinne
beeinflußt wurde. Ich bin nicht geneigt, trotz des Schüttelfrostes,
der hohen Anfangstemperatur an septicopyämische Prozesse zu
glauben, das sprungweise Befallensein zahlreicher Gelenke, das Aus-
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Hüftgelenkserkrankungen in Schwangerschaft und Wochenbett. 67
bleiben der gefürchteten Abszedierungen, der durch Salizylpräparate
sichtlich beeinflußte Krankheitsverlauf beim Fehlen septischer All¬
gemeinsymptome, wie Ikterus, Albuminurie, peritonitischer bezw. peri-
und parametritischer Erscheinungen spricht wohl mehr für das
zufällige Zusammentreffen von Abort und Polyarthritis rheumatica,
als für einen kausalen Zusammenhang beider Erkrankungen. Die
stürmischen Erscheinungen der Polyarthritis sind jedoch wesentlich
durch die genitalen Vorgänge beeinflußt.
Als Pseudorheumatismus puerperalis bezeichnen Charpentier,
Besnier, Lorain u. a. eine besondere Form puerperaler Gelenk¬
erkrankungen, die zwar im klinischen Verhalten völlig mit den
gonorrhoischen Arthritiden übereinstimmen, jedoch in ätiologischer
Beziehung von jenen durchaus zu trennen seien. Demgegenüber weist
Begouin auf die Häufigkeit gonorrhoischer Gelenkerkrankungen in
Schwangerschaft und Wochenbett hin: Pseudorheumatismus puer¬
peralis und Arthritis gonorrhoica sind weder klinisch noch bakterio¬
logisch von einander zu trennen. Auf 500—600 Wöchnerinnen kommt
nach Begouin 1 Fall von gonorrhoischer Arthritis. Der Nachweis
der gonorrhoischen Natur der Erkrankung wird durch den Gonokokken¬
befund in den entzündeten Gelenken sowie im Urogenitalapparat
erbracht. In jedem Schwangerschaftsmonat können gonorrhoische
Arthritiden auftreten. Starke Leukorrhoe begleitet stets die gonor¬
rhoische Arthritis im Wochenbett. In der Regel werden mehrere
Gelenke zugleich befallen. Während jedoch die entzündlichen Er¬
scheinungen (Schwellung und Schmerzen) bereits nach wenigen
Tagen im Rückgang begriffen sind, setzen sie sich hartnäckig in
einem Gelenk fest. Zuweilen ist auch von vornherein nur ein Gelenk
befallen, in dem dann der Krankheitsprozeß allen therapeutischen
Maßnahmen trotzt. In den 49 Fällen, die Begouin beobachtete,
war die Entzündung 2mal im Hüftgelenk lokalisiert, am häufigsten
(18mal) im Handgelenk. In differentialdiagnostischer Beziehung
kann die Aehnlichkeit mit der tuberkulösen Form der Arthritis
gelegentlich Schwierigkeiten bereiten.
Wie allen Formen gonorrhoischer Gelenkerkrankungen, so ist
auch der puerperalen gonorrhoischen Arthritis eine ungünstige Pro¬
gnose eigen, soweit sie die Herstellung der Gelenkfunktion betrifft.
Begouin hat 12mal Ankylosen beobachtet, Bahr in einem Falle
Vereiterung, in dem er im Gelenkexsudat bakteriologisch nur Gono¬
kokken nachweisen konnte.
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Adolf Silberstein.
Des weiteren haben wir eine Form der Hüftgelenkserkrankungen
zu betrachten, die zwar mit der Gravidität wie mit dem Puerperium
ätiologisch nichts zu tun hat, die jedoch durch Schwangerschaft und
Wochenbett nicht unerheblich beeinflußt werden kann, die tuber¬
kulöse Form puerperaler Coxitis. Die physiologischen Vorgänge der
Schwangerschaft, die beträchtlichen Umwälzungen, die im kleinen
Becken vor sich gehen, der Geburtsakt, sie können wie ein Trauma
wirken, alte, längst erloschene tuberkulöse Coxitisherde aufs neue
aufflackern lassen, wie auch latente Entzündungsvorgänge mani¬
festieren. Charakteristisch hierfür erscheint mir der folgende Fall,
den ich in der Klinik meines hochverehrten Chefs, des Herrn Geb.
Rats Prof. Dr. Hoffa, zu beobachten Gelegenheit hatte.
M. P., 26 Jahre alt, Kaufmannsgattin. Anamnestisch ist zu
erheben: Vater an „Brustfellentzündung“ gestorben. Mutter lebt,
ist gesund. Eine Schwester ist angeblich lungenleidend. Patientin
will nie ernstlich krank gewesen sein. Beginn der Menses mit
15 Jahren. Menses ohne besondere Beschwerden, regelmäßig von
2—3tägiger Dauer. Patientin ist seit 1 Jahre verheiratet. Abort 0,
Partus 1. Im 6. Schwangerschaftsmonat, Mitte April 1904, erkrankte
Patientin mit heftigen Schmerzen in der rechten Seite, denen sich
bald Schmerzen im linken Handgelenk und in der linken Hüfte zu¬
gesellten. Das linke Handgelenk soll geschwollen gewesen sein. Die
Beschwerden im linken Handgelenk schwanden nach wenigen Tagen,
während die Schmerzen im linken Hüftgelenk sich vermehrten und
trotz energischer interner Behandlung (Salizyl, Aspirin) und äußerer
Jodapplikation nicht wichen, so daß Patientin bis zu der am 9. Juni
1904 erfolgten Entbindung fortgesetzt das Bett hüten mußte. Die
Entbindung ging glatt von statten, ohne Kunsthilfe. Das Kind starb
jedoch nach 3 Stunden. Das Wochenbett verlief anfangs normal.
14 Tage nach der Entbindung soll eine Nierenbeckenentzündung
aufgetreten sein, die nach einigen Wochen unter ärztlicher Behandlung
verschwand. Während des Gesamtverlaufes der Hüfterkrankung, die
das Wochenbett weit überdauert, hat die Patientin die gebeugte
Stellung des linken Oberschenkels zum Becken innegehalten. Am
5. Tage nach der Entbindung wurde ein Gipsverband angelegt, der
Becken und linkes Bein in möglichster Streckstellung fixierte. Danach
ließen die Schmerzen nach. Der Gipsverband wurde nach 4 Wochen
entfernt, Patientin ist dann mit Massage und Elektrizität behandelt
worden; es war ihr danach möglich, in einem Gehapparat, später
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Hüftgelenkserkrankungen in Schwangerschaft und Wochenbett. 69
an zwei Stöcken sich fortzubewegen. Die Schmerzen in der Hüfte
sind, wenn auch in geringerem Grade, geblieben, Bewegungsbeschrän¬
kungen in der Hüfte sind noch vorhanden.
Stat. praes.: Mäßig gut genährte Patientin, von blasser Gesichts¬
farbe. Gering entwickelt ist Muskulatur und Fettpolster. Exantheme
und Drüsenschwellungen sind nicht nachweisbar, Herzgrenzen regel¬
recht, Töne rein, Puls regelmäßig. Lungenbefund ohne Besonder¬
heiten. Linke Hüftgegend äußerst schmerzempfindlich, es besteht eine
mäßige Kontraktur, der linke Oberschenkel ist leicht flektiert und
adduziert, in der Narkose läßt sich freie Beweglichkeit im linken
Hüftgelenk feststellen.
4. Januar 1905: Therapie: Extensionsverband mit Kontra¬
extension.
Am 12. Januar: Massage, Gymnastik, Extensionsverband wird
nicht vertragen.
15. Februar: Gipsverband nach Korrektur der Stellung in
Narkose.
16. März: Erneuerung des Gipsverbandes. Es besteht noch
geringe Adduktions-Flexionskontraktur, nur geringe Schmerzhaftigkeit.
Es handelt sich in diesem Falle um eine Patientin, die seitens
der Familie tuberkulös belastet erscheint. Sie weist phthisischen Habitus
auf. Nachweisbare Veränderungen in den Lungen sind jedoch zur
Zeit nicht vorhanden. Im letzten Drittel der Schwangerschaft beginnt
in anscheinend akuter Form eine Gelenkaffektion, die zunächst den
Eindruck der Polyarthritis rheumatica erweckt, die sich dann aber
im linken Hüftgelenk dauernd lokalisiert. Antirheuroatische Therapie
bleibt erfolglos. Das ist nicht der gewöhnliche Beginn tuberkulöser
Coxitis, dennoch handelt es sich um eine solche. König sagt in
der neuesten Auflage seines Lehrbuches von der tuberkulösen
Coxitis: „In einer Reihe von Fällen muß man die Krankheit als
primär ansehen, während sie in anderen als tuberkulöse Metastase
aufzufassen ist. Ich habe eine Anzahl solcher beobachtet mit multipler
Gelenkaffektion, mehrere Male so akut auftretend, daß man im Beginn
an einen akuten Gelenkrheumatismus dachte.“
In den bisherigen Betrachtungen war der Zusammenhang der
Hüftgelenkserkrankungen mit den Vorgängen in Schwangerschaft
und Wochenbett teils ein accidenteller, rein zufälliger, teils ein in¬
direkter, wie bei der gonorrhoischen Arthritis. In direktem ätio¬
logischen Zusammenhang mit dem Puerperium steht die metastatische
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Adolf Silberetein.
Hüftgelenksentzündung bei der puerperalen Pyämie. Kommt es bei
einer septischen Allgemeininfektion zu einer Lokalisation in einem
oder in mehreren Gelenken, beispielsweise in einem Hüftgelenk, so
können sämtliche Formen von der leicht serösen bis zur schwer
eitrigen Form in die Erscheinung treten. Die eitrige Entzündung
jedoch ist der häufigste Ausdruck puerperaler metastatischer Gelenk¬
entzündung, die meist in der zweiten Woche des Puerperiums beginnt.
Wir sehen von den leichteren Formen des Puerperalfiebers ab, für
unsere Betrachtung kommen nur die Fälle in Betracht, in denen die
Mikroben den Schutzwall, der an der Eintrittspforte der Infektion
von den umgebenden Zellen gebildet wird, durchbrochen haben.
Die Erkrankung breitet sich auf der Innenwand des Geburtstraktus
aus, erzeugt Colpitis, Endometritis, geht schließlich auf das Para-
und Perimetrium über und verbreitet sich im Peritoneum. Nach dem
Verbreitungswege des puerperalen Giftes treffen wir die Einteilung
bekanntlich in Septikämie (lymphatische Form) und Pyämie (phlebo-
thrombotische Form). Charakteristisch nun für die pyämische Form
sind die eitrigen Gelenkentzündungen, die sie so häufig begleiten.
Auf hämatogenem Wege also kommt es zu einer Bakteriennieder¬
lassung in den Gelenken. Das sind die Fälle, die gebieterisch die
schleunige Inzision und Drainage verlangen, eventuell auch die Re¬
sektion erforderlich machen.
Ein hierher gehöriger Fall gelangte in der Klinik zur Beobachtung.
Ich lasse die Krankengeschichte so, wie sie mir vorliegt, folgen:
Frau P. D., 33 Jahre alt. Patientin erkrankte im Anschluß an
eine puerperale Sepsis vor 4 Jahren an einer äußerst schmerzhaften Ent¬
zündung im rechten Hüftgelenk, welche in ihrem Verlauf das ganze
rechte Bein in Mitleidenschaft zog. Zahlreiche kleine Abszesse, die
an dem stark geschwollenen Bein bis zur Mitte des Unterschenkels
auftraten, mußten eröffnet werden. Die Temperaturen waren lange
Zeit sehr hoch, das Allgemeinbefinden ein sehr schlechtes. Als End¬
resultat dieser Hüftgelenksentzündung besteht folgender Befund:
Das rechte Bein steht im Hüftgelenk in leichter Flexions- und
ziemlich hochgradiger Adduktionsstellung fixiert, das rechte Knie¬
gelenk in leichter Beugestellung nur in sehr geringem Umfang
beweglich. Das rechte Fußgelenk in geringer Plantarflexion in seiner
Beweglichkeit beschränkt. Der Gang der Patientin ist unbeholfen,
sie kann sich nur mit Hilfe eines Stockes hinkend fortbewegen, sie
ermüdet rasch.
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Hüftgelenkserkrankungen in Schwangerschaft und Wochenbett. 71
5. Januar 1905: Resectio capitis femoris dextri. Gipsverband
in Abduktion und Extension des rechten Beines. Die Wunde wird
bis auf einen kleinen Spalt für den Tampon vernäht. Wundverlauf
reaktionslos. Nach wenigen Tagen Beginn einer eitrigen Bronchitis,
die gut überstanden wird.
15. Februar: Erste Gehversuche im Gipsverband.
23. Februar: Abnahme des Gipsverbandes, Patientin geht mit
Hilfe eines Stockes, der Gang ist bedeutend leichter im Vergleich
zu dem Gange vor der Operation. Aktive und passive Bewegungen
im Hüftgelenk werden gut ausgeführt. Tägliche Massage, gym¬
nastische Uebungen.
10. März: Entlassung.
Die Coxitis puerperalis, die im Anschluß an septicopyämische
Prozesse auf metastatischem Wege entstanden ist, hat so wenig für
eine Hüftgelenkserkrankung im Puerperium Spezifisches, wie eine
Arthritis purulenta im Schultergelenk oder in irgeud einem anderen
Gelenk bei septischer Allgemeininfektion! Man kann nicht einmal
sagen, daß das Hüftgelenk relativ häufig bei puerperaler Infektion
befallen sei.
Und nun zurück zu den Fällen Pacis.
Es bestehen durchaus wesentliche Uebereinstimmungen des
Pacisehen Krankheitsbildes mit dem der gonorrhoischen Coxitis,
wie bereits Hoffa und König hervorgehoben haben. Ich möchte
geradezu für einige Fälle Pacis annehmen, daß es sich um die
phlegmonöse Form der gonorrhoischen Gelenkentzündung gehandelt
habe. In anderen Fällen scheint es sich um eine Mischinfektion von
Streptokokken und Gonokokken gehandelt zu haben. Damit stimmt
überein der akute Beginn, die exorbitante Empfindlichkeit, die bei
der gonorrhoischen Form besonders in die Erscheinung tritt (der
Druck der Bettdecke wird kaum vertragen, selbst völlige Ruhelage
mindert den Schmerz nur wenig), die Schwellung der umgebenden
Weichteile der Haut, der rasche Abfall der Temperatur, die Störung
der Funktion, die sich in kurzer Frist entwickelt, insofern binde-*
gewebige bezw. knöcherne Verwachsungen der Gelenkenden resul¬
tieren, ohne daß eine nachweisbare Eiterung im Gelenk vorausgeht,
dazu die Krankheitsdauer, die sich über Monate erstreckt.
Der Symptomenkomplex der puerperalen Coxitis wird von
Paci vor allem scharf abgegrenzt gegenüber den Befunden der
häufigsten Form der Hüftgelenkserkrankungen: der tuberkulösen
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Adolf Silberstein.
Coxitis. Das Fehlen der sogenannten pathologischen Stellung, der
üblichen Flexionsstellung des Oberschenkels zum Becken, der Ab¬
duktion, die dann allmählich in Adduktion übergeht, ist nach Paci
geradezu charakteristisch für die puerperale Form der Coxitis. Ob¬
wohl keine rationelle Behandlung von vornherein durchgeführt wurde,
die Patienten vielmehr vom Beginne der Krankheit an monatelang
zum größten Teil sich selbst überlassen blieben, fand sich die Fixa¬
tion in gestreckter Stellung, die sich „bis zum Auf hören des Ent¬
zündungsvorganges“ erhielt, worauf bei einigen Patienten knöcherne
Ankylose eintrat, bei anderen Gelenksteifigkeit infolge fibröser Pseudo¬
ankylose. Darauf ist zu erwidern: wenn unter den fünf Beobachtungen
Pacis kein Fall tuberkulöser puerperaler Coxitis wäre, so spräche
das nicht gegen das Vorkommen tuberkulöser puerperaler Coxitis
überhaupt. Ferner aber wissen wir, daß die sogenannte pathologische
Stellung kein unbedingtes Postulat tuberkulöser Coxitiden ist. Ist
der Patient beim Beginne der tuberkulösen Hüftgelenkserkrankung
umhergegangen, so resultiert eine andere „pathologische Stellung“
als bei ruhiger Bettlage, die von vornherein innegehalten wird.
Gerade dann findet sich bekanntlich der Oberschenkel der erkrankten
Seite adduziert und nach Innen rotiert, und zwar von Anbeginn an.
In dem Falle III, dessen Anamnese durchaus Verdacht auf Tuber¬
kulose auf kommen läßt, findet sich denn auch die Angabe: „Linkes
Bein ad maximum adduziert, verkürzt, sehr stark nach innen rotiert,
so daß die Außenfläche fast zur Vorderfläche geworden ist.“ Gerade
dieser Befund läßt sich mit der sogenannten pathologischen Stellung
bei tuberkulöser Coxitis von vornherein bettlägriger Patienten wohl
vereinbaren.
Wir gelangen demnach zu dem eingangs bereits besprochenen
Resultat: Es gibt keine Coxitis puerperalis im Sinne Pacis. Die
Hüftgelenkserkrankungen in Schwangerschaft und Wochenbett können
die verschiedensten ätiologischen Grundlagen haben, die eine ent¬
sprechend verschiedene Prognose besitzen und therapeutisch durch¬
aus gesonderte Maßnahmen erfordern.
Was die Diagnose der einzelnen Formen anbetrifft, so kann
der akute Gelenkrheumatismus mit vorwiegender Beteiligung der
Hüfte gelegentlich von einer abgeschwächten pyämischen Strepto-
kokkencoxitis schwer zu unterscheiden sein. Der hoch fieberhafte
Verlauf des Wochenbettes im Einklang mit den bekannten Sym¬
ptomen schwerer puerperaler Allgemeininfektion: wiederholte Schüttel-
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Hüftgelenkserkrankungen in Schwangerschaft und Wochenbett. 73
froste, Ikterus, Albuminurie, peritonitische Reizerscheinungen u. s. w.,
wird kaum einen Zweifel in Bezug auf die Streptokokkennatur der
Coxitis aufkommen lassen. Andernfalls mag der Streptokokkenbefund
im Blut den Schlußstein der Diagnose bilden. Abszeßbildung mit
den bekannten Erscheinungen der Schwellung, Rötung, Fluktuation
verrät gleichfalls unschwer die Natur septicopyärai scher Coxitis. Für
die gonorrhoische Form spricht der akute, überaus schmerzhafte
Beginn, meist bereits in der Schwangerschaft, die lebhafte Neigung
zur Kontrakturbildung. Der Nachweis der Gonokokken in der er¬
krankten Hüfte sowie im Urogenitalapparat sichert die Diagnose.
Der Beginn- der tuberkulöseu Form puerperaler Coxitis ist weniger
stürmisch, sie tritt gleichfalls häufig schon während der Schwanger¬
schaft ein. Tuberkulöser Habitus, Anamnese, tuberkulöse Erkrankung
anderer Organe erwecken von vornherein den Verdacht tuberkulöser
Coxitis, der durch den späteren Verlauf (Fistelbildung, eventuell
langdauernde Eiterung) bestätigt wird.
Was die Prognose anbelangt, so haben wir bereits gesehen,
daß in allen Fällen puerperaler Coxitis der Ausgang in Ankylosen¬
bildung zu fürchten ist. Selbst der akute Gelenkrheumatismus zeigt
in Schwangerschaft und Wochenbett, wie erwähnt, die Neigung mit
Aukylosierung der am schwersten betroffenen Gelenke auszuheilen.
Bei der puerperalen Coxitis nach einer Streptokokkenallgemeininfektion
wird die Prognose selbstverständlich von dem gesamten Krankheits¬
bild abhängen. Sie ist hiernach in jedem Falle ernst. Wird der
Organismus mit der allgemeinen Sepsis fertig, so kann die Coxitis
dennoch durch langandauernde profuse Eiterungen den letalen Aus¬
gang herbeiführen. In günstigen Fällen jedoch kann auch die Coxitis
zur Ausheilung kommen, relativ häufig mit bindegewebiger bezw.
knöcherner Ankylosierung. Die tuberkulöse Form puerperaler Coxitis
teilt die zweifelhafte Prognose aller tuberkulösen Gelenkerkrankungen,
die im Laufe der Jahre mit Kontrakturen, Ankylosen zur Ausheilung
gelangen können, nachdem mehr oder minder schwere Zerstörungen
des Gelenkes eingetreten sind, die aber gelegentlich auch durch lang¬
wierige Eiterungen zur Amyloidbildung in den Körperorganen führen
und so den tödlichen Ausgang bewirken. Die Prognose der gonor¬
rhoischen Form puerperaler Coxitis ist, was die Funktion anbelangt,
als ungünstig zu bezeichnen, wie dies ja allgemein bei gonorrhoischen
Arthritiden der Fall ist, besonders wenn sie in ärztliche Behandlung
kommen, nachdem bereits Kontrakturen und Ankylosen vorhanden
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Adolf Silberstein.
sind. Auch für die puerperale gonorrhoische Coxitis gilt der Ausspruch
Königs: „Der Mensch ist und bleibt durch die Gonorrhoe ein
Hüftgelenksin valide. * Daß auch sie gelegentlich, besonders bei
Mischinfektionen, einen letalen Verlauf nehmen können, lehrt die
Beobachtung.
Was nun die Therapie der Schwangerschafts- und Wochenbetts¬
arthritiden anbelangt, so ist hier streng ätiologisch zu verfahren.
Im allgemeinen werden wir in der Behandlung von der üblichen
Therapie nicht wesentlich abweichen. Es fragt sich nur, ob wir be¬
rechtigt und verpflichtet sind, in den Fällen, in denen sich die
Zeichen der Erkrankung bereits in den Schwangerschaftsmonaten
zeigen, einen künstlichen Abort bezw. eine künstliche Frühgeburt
einzuleiten, in der Voraussetzung, damit einen günstigen Verlauf der
Hüftgelenkserkrankung herbeizuführen. Darüber wurde vor allem in
der französischen Literatur viel hin und her gestritten. Mercier
hat darüber geschrieben: „Apres la delivrance tout change. La douleur
spontanöe disparait comme par enchantement, la tumöfaction diminue
progressivem ent et les mouvements reparaissent peu a peu. Deux
ou trois semaines ont suffi souvent ä Fartieulation malade depuis
des mois pour reprendre ses fonctions. En un mot, Tarthrite guörit
presque toujours d'elle-meme, sous la seule influence de la parturition.*
Auch Gaulard, Lorain, Tracon und Buö raten zur Ein¬
leitung eines Abortes bezw. einer künstlichen Frühgeburt. Demgegen¬
über hat Bdgouin neuerlich festgestellt, daß die bisherigen Ergeb¬
nisse bezüglich der künstlichen Unterbrechung der Schwangerschaft
durchaus nicht befriedigen. Lorain hat in einem Fall die Ankylose
nicht verhindern können, das Kind starb 3 Tage nach der künst¬
lichen Entbindung. Und ebensowenig ermutigend sind die Erfolge,
die Gaulard veröffentlichte. Tuberkulösen Coxitiden gegenüber
werden wir die Indikation nicht eng begrenzen. In gleicher Weise
wie die beginnende Lungentuberkulose gibt die beginnende tuber¬
kulöse Coxitis uns meines Erachtens nach das Recht, die Schwanger¬
schaft zu unterbrechen.
Soweit es sich um die Erscheinungen des akuten Gelenk¬
rheumatismus handelt, wird man im allgemeinen mit den gebräuchlichen
Salizylpräparaten auskommen. Trotz lebhafter Schmerzen wird man
vorsichtig mit Massage, passiven Bewegungen beginnen, sobald es
der Zustand irgendwie erlaubt. Vorbeugung Kontrakturen und Anky¬
losenbildung gegenüber ist dringend geboten, wenn wir an die wenig
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Hüftgelenkserkrankungen in Schwangerschaft und Wochenbett. 75
befriedigenden Resultate in den Fällen, die v. Noorden veröffent¬
lichte, denken. Auch hydrotherapeutische Maßnahmen sind hier am
Platze. Die gonorrhoische Form puerperaler Coxitis erfordert schon
wegen der äußerst intensiven Schmerzen die völlige Ruhestellung
durch Gewichtsextension, die zugleich etwa beginnenden Kontrak¬
turen entgegenwirkt, oder aber, wenn dieselbe nicht vertragen wird,
durch einen Gipsverband. In frischen Fällen bei nachweisbarem
Exsudat empfiehlt sich die Punktion, an die vielfach die Ausspülung
mit schwachen antiseptischen Lösungen angeschlossen wird. Besteht
ein eitriges Exsudat, so ist natürlich die Eröffnung des Gelenkes
durchaus indiziert. Eine lokale antigonorrhoische Behandlung ein¬
zuleiten, wird in allen Fällen ratsam sein. Rechtzeitig ist mit aktiven
und passiven Bewegungen zu beginnen, denen Massage und Elek¬
trizität anzuschließen sind. Beginnende Ankylosenbildung, soweit sie
sich nicht von vornherein vermeiden ließ, ist nach allgemeinen Regeln
energisch zu bekämpfen. Die puerperale tuberkulöse Coxitis erfordert
gleichfalls Ruhigstellung, die wir auch hier durch Gewichtsextension
bezw. einen gut angelegten Gipsverband erreichen, der in der Folge
durch einen gut gearbeiteten Hessingschen Schienenhülsenapparat
mit festem Beckengürtel ersetzt werden kann. Haben sich Abszesse
in der Umgebung des Hüftgelenks entwickelt, so werden wir von
der üblichen Behandlungsweise (Injektion von Jodoformglyzerin) nicht
abweichen. Daß in einer geringen Anzahl von Fällen Fieberungen,
lebensgefährliche Eiterungen die Resektion indizieren, braucht an
dieser Stelle nicht des näheren erörtert zu werden. Häufiger gibt
naturgemäß die rein eitrige pyämische puerperale Coxitis Anlaß zur
Resektion, falls die Inzision an sich nicht genügt. Daß auch nach
Jahren die Resektion erforderlich werden kann, lehrt die Beobachtung
des Falles Seite 70.
Literatur.
v. Noorden, Ueber den Verlauf des akuten Gelenkrheumatismus in Schwanger¬
schaft und Wochenbett. Chariteannalen 1890, S. 185.
Bar, Rhumatisme blennorrhagique et puerperalite. Rev. obstet, internation.
Dez. 1895.
Kelly, Acute articular rheumatism completing the puerperal state. New York
Med. Journ. 1888, 23.
Begouin, P., Du pseudorhumatisme puerperal, son identite avec le rhumatisme
blennorrhagique. Ann. de gyn. et de l’obst. Paris 1849, Tom. I p. 139.
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76
Adolf Silberstein. Hüftgelenkserkrankungen etc.
Lefour et Fieux, Arthrite blennorrhagique et puerp£ralite. Gaz. hebdom. des
Sciences med. de Bordeaux 1895*
Alexandre, Contribution ä l’etude du rhumatisme pendant la grossesse. These
de Paris 1883/84.
Smith, Puerperal rheumatism. Tr. Wash. obst. and gyn. soc. Tom. III p. 33.
Mercier, Etüde sur Tarthrite survenue pendant le cours de la grossesse. These
de Paris Nr. 61.
Fournier, G., Du rhumatisme articulaire pendant la grossesse. These de Paris
1884/85.
Lop, P. A., Des arthrites au cours de la puerperalite. Gaz. des Höpitaux de
Paris, Tom. LXXVI p. 977.
Loubet, J., Des arthrites sacro-iliaques dans la puerperalite. Thöse de Mont¬
pellier 1902.
Tison, Du rhumatisme pendant la grossesse. These de Paris 1876.
Lorain, Gazette des höpitaux 1875, Nr. 89.
Tracon et Bu4, De Taccouchement preraature dans les arthrites de grossesse.
Arch. de tocol. et de gyn. 1892, Vol. XIX Nr. 1.
Riviere, Rhumatisme articulaire aigu generalise röveille par le traumatisme
de l’accouchement. Arch. clin. de Bordeaux 1892, p. 46.
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VI.
Das Genu valgum.
Von
Prof. Dr. Cesare Ghillini,
Oberarzt der chirurgischen Abteilung am Hospital dell’ Addolorata
in Bologna.
Mit 10 in den Text gedruckten Abbildungen.
In seiner wertvollen Arbeit über die Kniegelenksdeformitäten
des Genu valgum sagt Albert:
„So einfach das Thema erscheint, so schwierig wird es, wenn
man die Betrachtung um einiges vertieft. Ich bringe daher im Ab¬
schnitte nur: ,Vorbemerkungen zu einer künftigen Theorie des Genu
valgum 4 . Es müssen noch Vorarbeiten vorausgehen, bevor man
eine Theorie des Genu valgum wird entwerfen können. Ich führe
es auch des näheren aus, in welcher Richtung diese Vorarbeiten zu
unternehmen sein werden, und hebe schon hier, im Vorworte, hervor,
daß ein näherer wissenschaftlicher Kontakt zwischen der Chirurgie
insbesondere der orthopädischen Chirurgie — und einzelner poly¬
technischen Doktrinen, wie Baumechanik und Maschinenlehre, schon
heute zum Bedürfnis wird. Ja auch andere Kapitel der Chirurgie
fühlen schon das Bedürfnis nach einer ständigen und in theoretischen
wie in praktischen Dingen organisierten Berührung mit der Technik.
Anderseits müssen noch durch bessere Ausnützung des klinischen
und anatomischen Materiales die Voraussetzungen geschaffen werden,
damit auf dem Gebiete der Theorie der Deformitäten eine gemein¬
same Arbeit der Techniker und Chirurgen erfolgreich werde.“
Ich war der erste, der auf experimentellem Wege, bei Kaninchen,
ein Genu valgum erzielte, und in einer Konferenz auf dem Ersten
Kongreß der Deutschen Orthopädischen Gesellschaft sprach sich Maaß
folgendermaßen darüber aus:
„Versuche, auf experimentellem Wege Deformitäten zu erzeugen,
sind nicht gerade neu; ich erwähne in dieser Hinsicht besonders die
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78
Cesare Ghillini.
Experimente von Ghillini, auf die ich kurz eingehen möchte, weil
sie gewissermaßen das Gegenstück zu meinen eigenen Experimenten
darstellen. Ghillini gelang es, ausgiebige Skelettdeformitäten zu
erzeugen, indem er das Periost oder die Wachstumsknorpel junger
Tiere lädierte, und hierdurch entweder eine örtliche Hemmung, oder
Steigerung des Knochenwachstums bewirkte; beispielsweise erzeugte
er künstliches Genu valgum durch Läsion der lateralen Hälfte des
proximalen Wachstumsknorpels der Tibia resp. des distalen Femur¬
knorpels, während entsprechende Läsion ihrer medialen Abschnitte
Genu varum ergab. Hier handelt es sich also um organische Wachs¬
tumsstörungen; die Valgus- resp. Varusstellung ist bewirkt durch
verminderte Knochenproduktion seitens des Wachstumsknorpels auf
der verletzten Seite und dem daraus resultierenden ungleichen
Längenwachstum des betreffenden Diaphysenendes, wie wir das ja
in ganz ähnlicher Weise auch am menschlichen Skelett nach früh¬
zeitigen Verletzungen resp. Erkrankungen der Diaphysenenden beob¬
achteten.
In wesentlich anderer Richtung als die Versuche Ghillinis be¬
wegen sich meine eigenen Experimente, insofern diese darauf zielen,
unter möglichster Schonung der Knochenmatrix durch äußere, rein
mechanische Einflüsse das Knochenwachstum störend zu beeinflussen
und experimentelle Deformitäten unter analogen Bedingungen zu er¬
zeugen, als sie für die Entstehung all derjenigen Skelettdeformitäten
in Frage kommen, die wir am gesunden menschlichen Skelett unter
dem Einfluß abnormer Druck- und Zugspannungen beobachten, in¬
sonderheit also der ,Belastungsdeformitäten 4 , deren Pathogenese trotz
der ausgezeichneten Arbeiten J. Wolffs u. a. über die Innen¬
architektur deformer Skeletteile doch noch keineswegs völlig geklärt
erscheint.“
Maaß gipste ein Knie in Valgumstellung ein und erhielt in
der Tat ein Genu valgum. Ich entnehme aus seiner Arbeit die
drei Figuren der Tibia (Fig. 1, 2, 3), und wenn man die beiden
letzten (Fig. 2, 3) genau beobachtet, so sieht man in beiden die
Gelenksoberfläche gegen den Condylus lateral geneigt, also eine Tibia
valga. Maaß sagt weiter: „Ich möchte hier nur kurz auf den grund¬
legenden Unterschied der organischen und mechanischen Störungen
des Knochenwachstums hinweisen, wie er sich gerade aus der Gegen¬
überstellung der Ghillinisehen und auch meiner Versuche ergibt
(vgl. Fig. 1, 2 und 3). Bei jenen (Fig. 3) handelt es sich um Hemmung
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Das Genu valgum.
79
Figuren von Maaß.
E= Epiphyse, ahcd stellt das proximale Diaphysenende der Tibia beim Beginn des
Versuchs dar. aba^b^ — das wahrend der Versuchsdauer stattfindende appositionelle
Längenwachstum der Diaphyse.
Fig l zeigt das Längenwachstum unter physiologischen Bedingungen, Fig. 2 hei einseitig
gesteigertem Druck il*feil D), Fig. 3 hei einseitiger Lüsion des Waehstumknorpels (Gliil-
1 inischer Versuch). Das physiologische Längenwachstum ist in Fig. 2 und 3 durch die
punktierten Linien gekennzeichnet.
der Knochenproduktion infolge Läsion der Knochenmatrix, bei
diesen beiden ist der örtlich gesteigerte Druck nur Hemmung der
räumlichen Ausdehnung des wachsenden Knochens in der
Druckrichtung, die Knochenproduktion selbst dagegen
nimmt ihren ungestörten Fortgang, und deshalb kommt es
zu dem für die mechanischen Wachstumsstörungen charakteristischen
kompensatorischen Wachstum in der druckfreien Rich¬
tung. Der wachsende Knochen verhält sich also — um es leicht
faßlich auszudrücken —mechanischen Wachstums widerständen gegen¬
über nicht anders als ein Strom, der nach Verlegung seines natür¬
lichen Flußbettes zwar nicht auf hört zu fließen, aber in neue Ab¬
flußbahnen in der Richtung der geringsten Widerstände gedrängt
wird. Im besonderen stelle ich die funktionelle Pathogenese der
Belastungsdeformitäten in Abrede und bekenne mich im wesentlichen
ganz und voll zu der alten mechanischen Hüter-Volkmann sehen
Drucktheorie.“
Maaß erzielt durch Druck eine Höhenabnahme der Gelenks¬
oberfläche und damit eine Neigung des Knies zum Valgismus, welch
letzteren ich durch Verletzung der Epiphysenknorpel erzielte. Somit
haben wir nun eine Höhendifferenz der Condylen, d. h. eine Ver¬
änderung, welche sogar die älteren Autoren — aufmerksame Beob¬
achter — bestätigt hatten. Nach Maaß hat der Druck auf den
Condylus die räumliche Ausdehnung gehemmt, während bei meinen
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80
Cesare Ghillini.
Experimenten auf der verletzten Seite eine verminderte Knochen¬
produktion wahrzunehmen war, welche zu demselben Resultate führte,
d. h. zu einer Ungleichheit der Gelenksoberflächen des Knies. Aus
dieser Höhendifferenz der Condylen entsteht die Verschiebung des
Unterschenkels nach außen, so daß das Individuum gezwungen ist.
seinen Fuß nach auswärts zu stellen, und dadurch entsteht eine
Veränderung der statischen Verhältnisse, durch welche sich die Druck-
und Zugsspannungen hauptsächlich in den Diaphysen des Femurs
und der Tibia fühlbar machen, um Krümmungen hervorzurufen,
welche kompensatorische Formen oder Anpassungen an die neuen
Verhältnisse bilden. Demnach sind die Deformitäten, welche sich
in den Diaphysen bilden, die Folgen der Deformitäten der Gelenks¬
oberflächen, welche ihrerseits die Folge der Läsion der Epiphysen¬
knorpeln sind, die sich gerade am ersten verändern.
Die Theorie der funktionellen Anpassung ist richtig, allein
nicht so, wie Wolff sie erklärt. Wolff sagt: „Somit bedeutet
auch das Genu valgum wieder nichts anderes als die funktionelle
Anpassung der Knochen und Weichgebilde der Extremität an die
häufig und andauernd wiederholte Auswärtsstellung des Unter¬
schenkels.“
Nach Wolff würde man zuerst die Verschiebung des Unter¬
schenkels nach außen und nachher das Genu valgum haben; allein
man begreift nicht, weshalb ein Individuum den Unterschenkel nach
außen stellen sollte, wenn das Knie noch normal ist; und eben des¬
halb glaube ich hingegen, daß die Verschiebung des Unterschenkels
nach außen die funktionelle Anpassung des Unterschenkels an die
veränderten Verhältnisse der Gelenksoberflächen des Knies ist. So
erklärt man auch die Theorie von Mikulicz, welcher annimmt, daß
das Genu valgum durch einen Schiefstand der Diaphyse auf die
Epiphyse hervorgerufen ist; Schiefstand, welcher nach meiner An¬
sicht die Folge der Veränderungen des Epiphysenknorpels ist, welche
zuerst die Schrägstellung der Gelenksoberfläche erzeugt hat und in¬
folge nach den statischen Gesetzen die Krümmung der Diaphyse
gegen die Epiphyse. Es ist jedoch von verschiedenen Autoren
nachgewiesen, daß es nicht richtig ist, daß bei einem Genu valgum
die Gelenksoberfläche des Knies mit der Epiphysenlinie parallel
bleibe, wie Mikulicz behauptete, sondern daß dieselbe einen Wiukel
bilde, und deshalb darf man den Kniebasiswinkel dem Epiphysen¬
linienwinkel nicht gleichsetzen.
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Das Genu valgum.
81
Die Drucktheorie von Volkmann-Hueter nahm an, daß ver¬
mehrter Druck auf die Oberfläche des Knochens eine Entwicklungs¬
hemmung, Entlastung hingegen eine Zunahme der Knochenbildung
hervorrufe, während Wolff das Gegenteil fand. Durch meine Ver¬
suche zeigte ich, daß beide Ansichten richtig sind, da vermehrter
Druck auf die Gelenksoberfläche eine Entwicklungshemmung hervor¬
rief, dadurch, daß die Wirkung des Druckes sich mehr an dem
Epiphysenknorpel bemerkbar machte, welcher infolgedessen weniger
Knochen entwickelte, während die Entlastung größere Knochen¬
produktion hervorrief. Auf die Diaphysen der Knochen hingegen
bewirkten die Druck- und Zugspannungen eine Zunahme der
Knochensubstanz durch vermehrte Arbeit des Periostes. In der Tat,
als ich die Deformität der Diaphysen des Femurs und der Tibia
eines Tieres, bei welchem ich ein künstliches Genu valgum hervor¬
gerufen hatte, beobachtete, bemerkte ich, daß die Corticalissubstanz
in der Hälfte der Diaphyse zugenommen hatte und an der Mitte der
gebogenen Tibia waren die Kanten, welche gewöhnlich scharf sind,
abgerundet. In den Diaphysen hatten demnach die Druck- und
Zugsspannungen die Knochensubstanz vermehrt, während man in den
Epiphysen den gegenteiligen Effekt hatte. Da der Druck auf die
Epiphyse andere Wirkungen als auf die Diaphyse hervorgerufen
hatte, sah Wolff sich veranlaßt zu sagen:
„Ghillini hat zu dem zwiefachen Modus des Entstehens der
Deformitäten noch eine neue Art hinzu ersonnen. Vermehrter Druck
soll nach Ghillini an den Epiphysen Schwund oder geringere Ent¬
wicklung der Knochen, an der Diaphyse hingegen Wachstum zur
Folge haben. Es folgen also nach diesem Autor die Diaphysen dem
Transformationsgesetz, die Epiphysen hingegen der Drucktheorie.“
Ich erwiderte Wolff hierauf, daß es unrecht sei, mir diese
Auslegung zuzuschreiben, allein daß Druck, welcher an allen Punkten
auf gleiche Weise wirkt, einen verschiedenen Einfluß hatte, je nach¬
dem er seine Wirkung auf die Epiphysen oder die Diaphysen aus¬
übte. Aus diesem Grunde fand ich die Bemerkungen Volkmann-
Hueter betreffs der Gelenksenden richtig, und die Bemerkungen von
Wolff betreffs der Diaphysen der Knochen.
Wieder Anatom Meyer, Culmann, dem Gründer der graphischen
Statik das Problem des menschlichen Skelettbaues in seinem normalen
Zustande vorlegte, so wollte ich das Problem des Baues der Defor-
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XV. Bd. 6
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82
Cesare Ghillini.
mitäten, welche ich auf künstlichem Wege erzielt hatte, dem Prof.
Canevazzi unterbreiten.
Auch Wolff wollte die Deformitäten in mechanischer Hinsicht
studieren und fand dadurch die Theorie des Krans, welchen er mit
dem Femur verglich. Doch diese Theorie schien nicht richtig und
viele griffen dieselbe an. Albert sagt: „Die Bemerkungen von
Bähr, Korteweg, Kölliker und Ghillini lassen wohl den Ein¬
druck, daß die Krantheorie nicht mehr haltbar sei, allein dabei wird
man Wolffs Verdienste nie vergessen. Der Anatom und der
Chirurg wird an den Mechaniker herantreten und diesem das Problem
vorlegen, oder besser gesagt, zurechtlegen müssen, und so tat es auch
Ghillini in Bologna, der sich an Canevazzi, Professor am dor¬
tigen Polytechnikum, wendete.“
Canevazzi fand in der Tat, nachdem er die Deformitäten,
welche ich auf experimentellem Wege erzielte, geprüft hatte, daß
dieselben vollständig den Gesetzen der Statik entsprechen und
Albert selbst sagt an einer anderen Stelle: „Berücksichtigt man
die an einem hochgradigen Genu valgum vorhandene S-förmige
Gestalt der Tibia, wie es aus unserer Fig. 7 (Fig. 4) zu sehen ist,
so hat man die Empfindung, daß Ghillinis Ausführungen mit
unserem Objekt in nahe Berührungen gelangen.“
Fig. 4.
Fig. 5.
Experimentelles Genu valgum
von Ghillini.
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Das Genu yalgum.
83
Die von Albert genannte Figur stellt in der Tat die S-förmige
Gestalt einer Tibia eines Individuums dar, eine Deformität ähnlich
derjenigen, welche ich auf experimentellem Wege (Fig. 5) durch
Reizung der Epiphysenknorpel des lateralen Condylus der Tibia
erhielt.
„Nach der Theorie des Gleichgewichtes der elastischen Körper
mußte die Längsachse die Form einer Sinusoide annehmen (Fig. 5
und Fig. 10), und man kann nicht umhin, die sinusoidale Form der
Tibia des von mir auf experimentellem Wege erhaltenen Genu valgum
wahrzunehmen. “
Fig. 6.
Fig. 7.
T
Fig. 8.
Fig. 9.
Fig. 10.
Schematische Darstellung der Entwicklung des Genu valgum.
F = Femur. T= Tibia. Ä' R = Seitenbänder,
rifr 6: Das Femur und die Tibia in einem gesunden Individuum. Fig. 7: Tibia mit ein¬
stiger Verletzung des oberen Epiphysenknorpels (äußere Seite). Normales Femur. Fig. 8:
'aleusstellung der Tibia nach der Verletzung des oberen Epiphysenknorpels (äußere Seite),
ng. t: (ienu valgum (wie Fig. 8). Die punktierte Linie bezeichnet die Kurve, welche die
Tibia annimmt. Fig. io: Form der Sinusoide der Tibia nach der Theorie des Gleichgewiches
der elastischen Körper.
Das Genu valgum ist demnach eine Deformität, welche durch
Höhendifferenz der Condylen der Tibia oder des Femurs hervor¬
gerufen ist, und diese Differenz ist die Folge der verschiedenartig
bildenden Tätigkeit der Epiphysenknorpel (der obere der Tibia und
der untere des Femurs) an ihren verschiedenen Stellen; eine bildende
Tätigkeit, welche durch verschiedene Anregungen erzeugt wird.
Der Ausgangspunkt des Genu valgum ist demnach die Epi¬
physenknorpel.
Der Deformität der Gelenkoberflächen des Knies folgen die
Deformitäten der Diaphyse des Femurs und der Tibia, weil die
Diaphysen, welche nach auswärts gestellt wurden, ihre statischen
Bedingungen verändert haben, und infolgedessen entstehen Kriim-
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84
Cesare Ghillini.
mungen, welche eine funktionelle Anpassung an die veränderten
Verhältnisse der Epiphyse darstellen.
Die funktionelle oder kompensatorische Anpassung des Genu
valgum findet daher in den Diaphysen der Tibia und des Femurs
statt, welche sich je nach den vorgekommenen Veränderungen des
Kniegelenkes deformieren. Dieses angenommen ist es leicht, sich
die spontane Heilung dieser Deformität und ihre Korrektion mittels
Anlegung von orthopädischen Apparaten und durch Etappen das
Redressement nach Wolff zu erklären.
Die spontane Heilung dieser Deformitäten erklärt sich nach
meiner Ansicht dadurch, daß die Kranken, um besser gehen zu
können, es versuchen, den Fuß gegen die Medianlinie des Körpers
zu bringen, damit der Schwerpunkt durch den Fuß geht, und wir
wissen, wie diese Kranken, welche mit doppelseitiger Deformität von
einer gewissen Bedeutung behaftet sind, um besser gehen zu können,
ein Knie über das andere schieben. Dieses Verschieben des Fußes
nach innen versucht das Knie in Varusstellung zu bringen, dadurch
wird die laterale Hälfte des Gelenkes, d. h. die Gelenksoberflächen
der Condylen entfernt, während die medialen mehr dem Drucke aus¬
gesetzt werden. Nach meinen eigenen Arbeiten und auch nach denen
von Maaß hemmt der Druck auf die Epiphysen die räumliche Aus¬
dehnung der wachsenden Knochen, während Entlastung vermehrtes
Wachstum der Knochen erzeugt; dadurch entsteht nun die Ver¬
änderung des Knochen Wachstums, indem es die Produktion auf der
lateralen Seite vermehrt und auf der medialen Seite vermindert und
so die Verschwindung des Schiefstandes der Gelenksoberflächen, und
den Ausgleich der Höhendifferenz herbeiführt. Den veränderten oder
gebesserten Verhältnissen der Gelenksoberflächen folgen die Ver¬
änderungen in den statischen Verhältnissen des Beines (Druck- und
Zugspannungen), welche die Diaphysenverkrümmungen, die durch
die Deformität erzeugt waren, verbessern.
Aus den gleichen Ursachen lassen sich auch die Heilungen
durch orthopädische Streckapparate und durch Etappenredressement
von Wolff erklären, wie ich schon oben bemerkte, auch die durch
das Redressement force von Delore, da die Radiographien, welche
nach letzterer Operation aufgenommen wurden, nicht klar genug
beweisen, wie sonst auf andere Weise die Korrektion des Genu valgum
hätte stattfinden können.
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Das Genu valgum.
85
Literatur.
Albert, E., Die seitlichen Kniegelenksverkrümmungen und die kompensatori¬
schen Fußformen. Wien 1899, Hof* und Universitätsbuchhandlung.
Ghillini, C., Experimentelle Untersuchungen über die mechanische Reizung
des Epiphysenknorpels. Arch. f. klin. Chir. 1893, Bd. 40 Heft 4.
Derselbe, Experimentelle Knochendeformitäten. Arch. f. klin. Chir. Bd. 52
Heft 4.
Derselbe, Die Pathogenese der Knochendeformitäten. Arch. f. klin. Chir.
1899, Bd. 58 Heft 2.
Ghillini und Canevazzi, Betrachtungen über die statischen Verhältnisse
des menschlichen Skeletts. Wiener klin. Wochenschr. 1901, Nr. 23.
Dieselben, Ueber die statischen Verhältnisse des Femurs. Arch. f. klin. Chir.
1902, Bd. 65 Heft 4.
Hueter, Anatomische Studien an den Extremitätengelenken Neugeborener und
Erwachsener. Virchows Arch. Bd. 25 S. 572.
Maaß, Ueber experimentelle Deformitäten. Zeitschr. f. orth. Chir. 1903, Bd. 11
Heft 1.
v. Volk mann, R., Chirurgische Erfahrungen über Knochen Verbiegungen und
Knochenwachstum. Virchows Arch. 1862, Bd. 24.
Derselbe, Krankheiten der Bewegungsorgane. Pitha-Billroths Chir. II 1865,
1872.
Wolff, J., Das Gesetz der Transformation der Knochen. Berlin 1892, Verlag
von A. Hirschwald.
Derselbe, Die Lehre von der funktionellen Pathogenese der Deformitäten.
Arch. f. klin. Chir. Bd. 53 Heft 4.
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VII.
Zur plastischen Achillotomie nach Bayer.
Ein einfaches Tenotom.
Von
Dr. C. Hübscher,
Dozent an der Universität Basel.
Mit 2 in clen Text gedruckten Abbildungen.
In den letzten Tagen kamen 2 Fälle von Littlescber Krank¬
heit in meine Behandlung, bei welchen früher von berufenen Chirurgen
die offene plastische Verlängerung der Achillessehnen vorgenommen
worden war.
Im ersten Fall, einen 10jährigen Italiener betreffend, finden sich
über den Achillessehnen ausgedehnte keloidartige Narben, welche
durch den Druck des Schuhrandes leicht wundgerieben werden.
Der zweite Fall betrifft ein 9jähriges Mädchen, das auf der
Innenseite beider Sehnen 12 cm lange, gut sichtbare Narben davon¬
getragen hat. Dabei ist die Verlängerung der Sehne ungenügend
und die Spitzfüße sind nicht vollständig korrigiert.
Diese Duplizität der Fälle veranlaßt mich, mit aller Wärme
für die Bayer sehe subkutane Verlängerung der Achillessehne ein¬
zutreten, welche in meiner Praxis die einfache subkutane Tenotomie
vollständig verdrängt hat.
Die kleine Operation besteht bekanntlich in dem subkutanen
seitlichen Einkerben der Sehne von zwei Stichöffnungen aus bis zur
Mitte, ohne daß die Endpunkte der entgegengesetzten Halbschnitte
durch eine Längswunde getrennt werden. Die Längstreunung erfolgt
stumpf unter leichter Dorsalflexion des Fußes und zwar so glatt,
als ob sie mit dem besten Messer erfolgt wäre.
Hiervon konnte ich mich dieser Tage bei der Operation eines paralyti¬
schen Klumpfußes überzeugen; nachdem ich bei dem 19jährigen Mann die
Achillessehne plastisch verlängert hatte, legte ich nach Vollendung der Ver¬
pflanzungen an den Extensoren zum Schluß die Achillessehne weiter oben bloß.
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Zur plastischen Achillotomie nach Bayer.
87
um einen Lappen zur Implantation in die Peronealsehnen abzutrennen. Im
unteren Teil lag der zentrale Stumpf der Sehne mit der vollständig sauberen
Längstrennung.
Fig. 1.
Die Vorzüge der Bay ersehen Operation sind außer der genauen
Dosierbarkeit, Bildung eines gleichmäßigen Kallus, Vermeiden von
Ueberkorrektion, überaus rasche Heilung und Unsicht¬
barkeit der Narben. Ich sehe nicht ein, warum man die
offene Methode der subkutanen vorziehen soll, nachdem
Bayer selbst die erstere, ebenfalls von ihm angegebene,
verlassen hat.
Ich habe seit der Mitteilung von Bayer im Jahre
1901 l ) 81 mal die Achillessehne plastisch subkutan ver¬
längert; nur in 2 Fällen versagte die Methode, die Längs¬
trennung erfolgt nicht, wenn schon früher eine quere
Tenotomie ausgeführt war 2 ). Der Narbenkallus ist eben
kein parallel gefasertes Gewebe.
Zur Ausführung verwende ich ein Tenotom, das
ich seit 10 Jahren in Gebrauch habe. Das Instrument
(vgl. Fig. 1) trägt am einen Ende eine kleine Lanze zum
Einstich in die Haut, am anderen ein kleines, gedecktes
Tenotom.
Der Patient ist in Bauchlage; die linke Hand des
Operateurs liegt so auf der Ferse und dem hinteren Teil
der Planta, daß Daumen und Zeigfinger zur Fixierung
der Sehne frei bleiben. Die Stichöffnung wird genau
mitten auf der Sehne angelegt. Nach Umwenden des
Instruments wird das Tenotom flach eingeführt und
unter Verschieben der Hautöffnung am Rand der Sehne
senkrecht unter Drehen auf die Schneide eingestellt.
Enter kleinen sägenden Bewegungen erfolgt dann in
sagittaler Richtung die Halbierung der Sehne, wie dies
Bayer schon angegeben hat (Fig. 2). Von einer zweiten
Stichöffnung aus — der Abstand derselben von der ersten
entspricht der gewünschten Verlängerung — wird die andere Hälfte
der Sehne durchtrennt. Sobald man sich beim zweiten Schnitt der
*) Bayer, Eine Vereinfachung der plastischen Achillotomie. Zentralbl.
Chii. 1901, Nr. 2.
2 ) Tr oller, Beiträge zur Chirurgie der Sehne. Diss. Basel 1904, S. 52.
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88
G. Hübscher. Zur plastischen Achillotomie nach Bayer.
Mitte nähert, so fühlt die auf der Planta lastende linke Hand das
Nachgeben der Längsfasern.
Bei einiger Uebung ist die Dauer der plastischen subkutanen
Tenotomie nicht größer als die der klassischen queren Durchtrennung;
Fig. 2.
durch die Benützung meines Tenotoms*) wird jeder Zeitverlust ver¬
mieden, da ein Wechsel der Instrumente oder der Assistenten¬
hände wegfällt. Nebenverletzungen von Gefäßen oder der Haut
kommen nicht vor.
l ) Das Instrument ist erhältlich bei Knöbel, Fabrikant chirurgischer
Instrumente, Basel.
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VIII.
Eine kombinierte Methode der photographischen
Skoliosenmessung.
Von
Dr. Engen Kopits,
Ordinierender Arzt für orthopädische Chirurgie im Stefanie-Kinderspital
zu Budapest.
Mit 6 in den Text gedruckten Abbildungen.
Bei der Behandlung der Skoliose ist eine zeitweilige Unter¬
suchung der Patienten und auch die Festhaltung der gewonnenen
Dntersuchungsresultate unstreitig notwendig. Es ist eine Haupt¬
bedingung, bevor man einen an Wirbelsäuleverkrümmung leidenden
Kranken in Behandlung nimmt, dessen derzeitigen Zustand auf irgend¬
welche Weise zu fixieren und zwar derart, daß man die Gestalt des¬
jenigen je besser und genauer “zurtickgibt. Durch Vernachlässigung
dieser Regel ist es unmöglich, zu kontrollieren, ob sich die Defor¬
mität mindert oder vergrößert, ob die in Angriff genommenen Heil¬
verfahren richtig sind und auch geeignet, eine Besserung hervor¬
zurufen oder ob trotz ihrer Anwendung der Zustand des Patienten
sich allmählich verschlechtert.
Die Festhaltung des Bildes^ der ersten Untersuchung in unserer
Erinnerung ist schon daher unverläßlich, da wir Skoliotiker gleich¬
zeitig in größerer Zahl behandeln, anderseits die Veränderungen im
Zustande sich nur allmählich entwickeln und meistens erst nach
Monaten auffälliger werden, und da wir die in Behandlung stehenden
Kranken täglich beobachten, ist das Auffrischen des vor Monaten
gewonnenen Bildes in unserer Erinnerung noch beträchtlich erschwert.
Die wörtliche Beschreibung der gewonnenen Untersuchungsresultate,
mögen sie noch so genau sein, kann sich nur in allgemeinen Grenzen
bewegen. Die Beschreibung des Zustandes kann nur die Richtung
der Verkrümmung, die Veränderungen in der Lage der Schulter¬
blätter und des Beckens, die Bezeichnung der Umrisse des Körpers
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90
Eugen Kopits.
geben, doch nie den Grad der Veränderungen und auch nicht das
Verhältnis der einzelnen Körperteile zueinander. Daher ist es not¬
wendig, das erste Bild der Untersuchung derart festzuhalten, daß
es die Gestalt der Krankheit warheitsgetreu zurückgebe und geeignet
sei, durch spätere Vergleichungen den Grad der Besserung, deren
raschere oder langsamere Fortschritte aufzuweisen, woraus es mög¬
lich ist, auf die Prognose der Krankheit wichtige Folgerungen
zu machen.
Die Meßvorrichtungen und Methoden sind sehr zahlreich, doch
keine allgemein verbreitet und beinahe jede nur durch den Erfinder
gebraucht. Den größten Anhang doch erwarb sich in früheren Zeiten
Zander, dessen Apparat aber neuerdings durch den Schulthefi¬
schen erheblich verdrängt wurde. Nachteil der Mehrzahl der Me߬
apparate ist die Unverläßlichkeit der meisten bezüglich ihrer Genauig¬
keit, ihre Kostspieligkeit, das große Raumbedürfnis, und doch in
größter Zahl zur Messung anderer Deformitäten unbrauchbar.
Daher stellte ich mir die Aufgabe, eine Methode zu finden,
welche den folgenden Anforderungen entsprechen soll:
1. Das gewonnene Bild gebe vollständig plastisch die
Gestalt des skoliotischen Rumpfes zurück, wie ich sie vor
mir sehe oder vor vielen Jahren sah. Das Bild gebe wo¬
möglich Aufschluß über sämtliche Symptome der Skoliose.
2. Es gebe mir eine geeignete Skizze zur Messung
und Vergleichung der frontalen Projektion des Rumpfes.
3. War es mein Bestreben, dieses Ziel durch ein¬
fache, leicht zugängliche und nicht nur einem Zwecke
dienende Mittel zu erreichen.
Die Anforderungen des ersten Punktes fand ich in der von
Lorenz schon früher empfohlenen stereoskopischen Photographie am
vollkommensten vereinigt. Die Photographie, die derzeit in der
Medizin ein unentbehrliches Hilfsmittel ist, spiegelt am getreuesten
die Gestalt des Kranken zurück. Ein großer Nachteil der nicht
stereoskopischen Photographie ist, daß sie die Bilder der plastischen
Objekte auf eine Fläche reduziert, während das stereskopische Bild,
in das Stereoskop gebracht, den Kranken sozusagen vor unsere
Augen zaubert (Fig. 1) ! ). Er steht so vor uns, als würden wir ihn
in Wirklichkeit sehen, wir haben nicht nur Umrisse, sondern ein
‘) Die originelle Größe der Bilder ist 8,5 : 17 cm.
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Eine kombinierte Methode der photographischen Skoliosenmessung. 91
plastisches Objekt. Wir sehen den Rumpf des Patienten auf die
eine oder andere Seite hängen, wir bekommen ein Bild von den
beiderseitigen Taillendreiecken, wie der Patient den Kopf hält und
gut bemerkbar ist auch die Rotation des Kopfes. Wir bekommen
genauen Aufschluß über die Details des Rumpfes, wir sehen die
antero-posterioren Verkrümmungen der Wirbelsäule, die Lage der
Schulterblätter und abgesehen, daß wir den Hochstand des einen
oder anderen Schulterblattes bestimmen können, sehen wir auch den
Fig. 1.
Abstand und die durch den Rippenbuckel erzeugte Niveaudifferenz
des Schulterblattes. Das Stereoskop spiegelt die aus der Rotation
der Wirbelsäule entstandenen Veränderungen vorzüglich zurück, der
Rippenbuckel ist ebenso ausgeprägt wie die Verflachung der ent¬
gegengesetzten Seite. Um die Größe des Rippenbuckels noch auf-
tälliger zu machen, können wir die Aufnahme in vorgebeugter Stellung
(Fig. 2) des Patienten vornehmen, ebenso wie bei der Untersuchung
der Kranken üblich ist. Schließlich können wir die wahrnehmbaren
Lageveränderungen am Becken wie auch den allgemeinen Ernäh¬
rungszustand des Kranken sehen.
Mit einem Worte, wir bekommen bei der Betrachtung
des stereoskopischen Bildes den nämlichen Eindruck,
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92
Eugen Kopits.
den die Inspektion des Kranken bietet, und nachdem
sämtliche Symptome der Skoliose durch Inspektion fest-
stellbar sind, ist das durch die stereoskopische Photo¬
graphie gewonnene Bild leicht erklärlich vollkommen
entsprechend.
Gegenüber den Meßmethoden mittels Apparaten äußert sich
der Vorteil der Photographie darin, daß, während wir mit jenen
bloß ein und dieselbe Lage des Kranken im stände sind zu reprodu-
Fi*. 2.
zieren, wir den Kranken in jeder beliebigen Stellung photographieren
können. Wie oben erwähnt, photographiere ich die Kranken in
vorgebeugter Stellung, wobei sich der Rippenbuckel gut hervorwölbt,
ebenso verfertige ich auch Aufnahmen von den suspendierten Kranken
mit gestreckter Wirbelsäule (Fig. 3 ), wobei ich von der Dehnbarkeit
oder Steifheit des Rückgrates ein dauerndes Bild bekomme, was bei
der Beurteilung der Prognose sehr wertvoll ist. Interessiert mich
die antero - posteriore Krümmung der Wirbelsäule des Kranken,
verfertige ich auch eine besondere Aufnahme in Profilstellung des
Kranken. Die einzelnen Symptome kann ich noch mehr zur Geltung
bringen, wenn ich, um die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, auf
dem Körper mit Dermograph Bezeichnungen mache. So bezeichne
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Eine kombinierte Methode der photographischen Skoliosenmessung. 93
ich mit Punkten die Stelle der Dornfortsätze, wie auch die sicht¬
baren und fühlbaren Konturen der Schulterblätter und Darmbein-
kämme (Fig. 2 u. 3). Um die Abweichung der Wirbelsäule von der
Vertikalen noch auffälliger zu machen, befestige ich um den Hals
des Kranken eine mit Senkblei versehene Schnur derart, daß dieselbe
von der Vertebra prominens bis zur Rima ani frei herabhänge. Ist keine
Seitenverschiebung vorhanden, läuft die Schnur in den Einschnitt
hinein, hängt aber der Rumpf nach der Seite, so verläuft die Schnur
Fig. 3.
neben dem Einschnitte, und zwar näher oder entfernter davon, je nach
der Größe der seitlichen Verschiebung. Selbstverständlich darf das
verwendete Gewicht durch seine Schwere die Haltung des Kranken
nicht beeinflussen. Aus der Abweichung der über den Dornfortsätzen
punktierten Linie von dem vertikalen Verlauf der Schnur ist der
Typus der Wirbelsäulenverkrümmung sicher stellbar. Die Richtungs¬
linie vermag auch deutlich die Größe der sagittalen Verkrümmung
darzustellen. Selbstverständlich entspricht die mit dem Gewichte ver¬
sehene Schnur nicht der Mittellinie des ganzen Körpers, denn diese
könnten wir nur durch eine von der Rima ani aufsteigende Vertikale
darstellen.
Damit das Bild der Wirklichkeit treu entspreche, ist
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94
Eugen Kopits.
der Apparat derart einzustellen, daß die Ebene der licht¬
empfindlichen Platte vollständig mit der frontalen Ebene
des Körpers parallel verläuft.
Bei der Aufnahme benütze ich keinerlei Stütz- oder Fixierungs¬
apparat, um die habituelle Haltung des Körpers nicht im mindesten
zu beeinflussen; das ist übrigens gar nicht notwendig, da eine Auf¬
nahme je nach der Stärke der Belichtung einen Moment oder 5 bis
10 Sekunden benötigt. Der Vorteil der stereoskopischen Photographie
über die einfache ist auch noch der, daß sie unbedingt treu ist.
Diesbezüglich ist das stereoskopische Bild unerbittlich, es duldet
keinerlei Retusche, die kleinste Korrigierung auf der positiven oder
negativen Platte wird sofort unverkennbar bemerklich. Auch durch
die Beleuchtung täuscht die stereoskopische Photographie nicht in
dem Maße wie die einfache, da im Stereoskop die Haltung des
Kranken sofort ins Auge fällt und die Plastizität des Bildes klärt
sogleich den Irrtum auf, welchen ohne Stereoskop die aus der ein¬
seitigen Beleuchtung hervorgehende Beschattung hervorrufen könnte.
Die stereoskopische Photographie ist geeignet, bei nach längerer
Zeit vorgenommener Untersuchung zwischen Kranken und dem
früheren Bilde Vergleichungen aufzustellen. Handelt es sich nicht
um die genaue Messung der Krümmung, so ist keine neue
Aufnahme nötig. Die Frage, ob auf dem Bilde die eventuelle
Veränderung zu bestimmen, beurteilbar ist, muß ich bejahen. Vermag
ich von zwei nebeneinander gestellten skoliotischen Kranken zu
sagen, daß die Krümmung der Wirbelsäule des einen größer ist als
die des anderen, oder daß der Rippenbuckel nicht so groß ist wie
der andere, so vermag ich auch zu bestimmen, ob und inwiefern
sich die Deformität geändert hat, wenn ich, in das Stereoskop sehend,
den Kranken mit dem früheren Bilde vergleiche, welches ihn mir
gleich einer Statue vorzaubert.
Im Sinne des zweiten Punktes meiner Aufgabe war ich bestrebt,
nebst dem stereoskopischen Bilde auch noch eine Skizze von der
frontalen Projektion des Rumpfes zu gewinnen. Je schematischer ein
Bild ist, nämlich wenn es bloß die wesentlichen Punkte enthält, ohne
sich auf Nebensachen zu erstrecken, welche die Aufmerksamkeit des
Beobachters ablenken könnten, desto auffälliger ist der Unterschied
zwischen den zwei zur Vergleichung bestimmten Bildern. Solche
zur Vergleichung geeignete frontale Projektionsskizze erhalten wir
mit Hilfe von Projektionsapparaten, welche auf optischem oder rnecha-
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Eine kombinierte Methode der photographischen Skoliosenmessung. 95
nischein Wege die Luftfigur des ganzen Rumpfes unmittelbar selbst
vom Körper des Kranken reproduzieren. Diese Skizze vermag ich
viel vollkommener mit Hilfe meiner Aufnahme zu verfertigen. Vor
Anwendung der oben erwähnten Meßapparate müssen der Verlauf
der Wirbelsäule, die Konturen der Schulterblätter und der Darm¬
beine mit dem Dermograph auf der Haut markiert werden und der
so bezeichnete Rumpf wird mit Hilfe der Instrumente aufgenommen.
Mit Hilfe der Apparate wird eigentlich das reproduziert,
was man auf den Rumpf zeichnete und schließlich die un¬
bestimmten Konturen des Rumpfes. Viel vollkommener
erhalte ich dieselbe Skizze, wenn ich die wesentlichen
Umrisse mit dem Dermograph auf den Rumpf zeichne, das
Ganze binnen einer Sekunde mit Hilfe der Photographie
fixiere und die Reproduktion von dem gewonnenen Bilde
verfertige. Ich sehe den Vorteil dieses Verfahrens darin, daß in
der Beziehung der einzelnen Linien kein Irrtum entstehen kann;
den Umriß des Rumpfes erhalte ich viel treuer und der Wirklichkeit
entsprechender, da ich es mit einer Linie zu tun habe, während in
der Natur die Grenzen des Rumpfes wie der sichtbare Umriß eines
jeden Körpers von verschiedenen Punkten betrachtet sich verschiedener¬
maßen äußern. Die gewonnenen Luftfiguren enthalten die vollstän¬
digen Umrisse des Halses, des Kopfes, sowie der frei herabhängenden
Arme, woraus ich bezüglich der Lage des ganzen Rumpfes sehr
wichtige Anhaltspunkte gewinne.
Die Luftfigur zeichne ich in dreifacher Größe der
Photographie mit Hilfe eines pünktlichen Pantographen.
Durch die einfache Kopierung der Umrisse der photographischen
Aufnahme wäre eine Luftfigur leicht zu erhalten, doch halte ich
die Vergrößerung für wichtig, da erstens auf einem größeren Bilde
die Unterschiede viel auffälliger sind und infolgedessen die Skizze
zur Messung geeigneter ist; zweitens würde man von Photographien
verschiedener Größe verschieden große Luftfiguren erhalten, welche bei
der Vergleichung zu Täuschungen Veranlassung geben könnten. Zur
Erreichung von gleich großen Luftfiguren verfertige ich schon die
Aufnahme auf die Weise, daß ich auf der Photographie Figuren
von vollständig gleicher Größe erhalte. Das könnte ich natürlich
mit dem Augenmaße nicht entscheiden, darum mußte ich solchen
Punkten nachforschen, deren Entfernung voneinander eine konstante
bleibt, ob nun der Kranke steht oder suspendiert ist. Zwei solche
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9(J Eugen Kopits.
sehr geeignete Punkte fand ich in den hinteren oberen Darmbein -
stacheln, welche in Form kleiner, grübchenartiger Einziehungen
immer gut erkennbar sind. Diese werden ebenfalls mit Dermograph
bezeichnet. Bei der Aufnahme stelle ich nun den Kranken auf der
Mattscheibe der Camera in solcher Größe ein, daß die Entfernung
der hinteren oberen Darm¬
beinstacheln von einander
1 cm betrage. Das ist mit
Hilfe eines Zirkels, dessen
Schenkel in der Entfernung
von 1 cm fixiert sind, leicht
ausführbar. So kann ich mit
meinem Verfahren erreichen,
daß ich immer gleich große
Bilder erhalte, deren jedes
bis zur dreifachen Größe ver¬
größert wird. So erhalte ich
von den verschiedenzeitigen
Aufnahmen genau gleich große
und zu einer direkten Ver¬
gleichung geeignete Luft¬
figuren. Die Fig. 4 zeigt die
zur Hälfte verkleinerte Skizze
des stehenden Kranken, die
Fig. 5 diejenige des suspen-
sierten Kranken zur Demon¬
stration dessen, in welchem
Maße sich in letzterer Lage
die Wirbelsäule gerade streckt.
Um die erhaltene Skizze direkt
zur Messung benützen zu können, zeichne ich die Figur auf von den
Ingenieuren benütztes in Quadratmillimeter eingeteiltes Papier. Zeichne
ich das Bild derart, daß die Schnur des Senkbleies auf eine gerade
Linie fällt, so vermag ich die Größe der Deviation der Wirbelsäule
auf deren beliebigen Punkten unmittelbar vom Bilde abzulesen.
Dadurch ist die Bestimmung der Abweichungen sämtlicher wesent¬
licher Punkte des Rumpfes in Zahlen auszudrücken leicht möglich.
Selbstverständlich beziehen sich die auf diese Weise gewonnenen
Werte bloß auf das Bild und nicht auf den Rumpf des Kranken
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Eine kombinierte Methode der photographischen Skoliosenmessung. 97
und können bloß wiederholt mit dem im Falle einer Veränderung
verfertigten neuen Luftfigur von derselben Größe zum Vergleiche
verwendet werden. Nachdem ich die eine Hälfte des stereoskopi¬
schen Doppelbildes zur Reproduktion benütze, halte ich es für not¬
wendig, immer dieselbe Hälfte,
also immer das rechte oder
das linke Bild zu benützen,
da zwischen den zwei Bildern
schon ein geringer Unter¬
schied mit freiem Auge be¬
merkbar ist, durch die Natur
des stereoskopischen Bildes
bedingt.
Um auch eine genaue
Skizze von dem Umriß des
deformierten Thorax bezw.
des Rippenbuckels zu erhal-
teu, verfertige ich einen ge¬
nauen Abdruck mit Bleidraht
über dem höchsten Punkte
des Rippenbuckels. Dieses
sehr alte Verfahren gibt
ebenso verläßliche Umri߬
zeichnungen, als ob wir die¬
selben mit einem Zeichen¬
apparate angefertigt hätten.
Den Abdruck verfertige ich
in zwei Teilen, genau vom
Dornfortsatz des Wirbels bis
zur bezeichneten Mittellinie
der vorderen Thoraxfläche, darauf achtend, daß der Draht genau in
der Querebene verlaufe. Der Bleidraht darf nicht zu dünn sein, da er
beim Abnehmen vom Körper zusammenfällt. Ich benütze zu diesem
Zwecke das bei Einrichtung der elektrischen Beleuchtung gebräuch¬
liche dünne Bleikabel, welches dick genug ist und dessen Stärke
die zwei in demselben verlaufenden Kupferdrähte ein wenig erhöht,
sich aber plastisch genug an den Körper anschmiegt. Den Draht
vom Körper entfernt, lege man ihn auf das Zeichenpapier und ver¬
fertige die Skizze auf die Weise, daß ich den Bleistift am Rande
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XV. Bd. 7
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98
Eugen Kopits.
des Reifens führe. Die Zusammenpassung der Endpunkte der Krüm¬
mungslinien geben die ganze Kontur des Rumpfes. Die auf diese
Weise gewonnene Skizze lege ich mittels des Pantographen zur
Hälfte verkleinert der Krankengeschichte bei (Fig. 6). Von welcher
Fig. 6.
Höhe des Rumpfes der Umriß stammt, zeigt die Zahl des Wirbels,
in dessen Höhe die Messung genommen wurde. Je nach Bedarf ver¬
mag ich natürlich von dem deformierten Brustkörbe eine ganze Serie
solcher Aufnahmen zu verfertigen.
Bei der Zusammenstellung dieser Methoden schwebte es mir
immer vor Augen, mit Hilfe einfacher Instrumente möglichst genaue
Reproduktionen von dem deformierten Rumpf und dessen Details zu
erlangen. Ich glaube auch dieses Ziel erreicht zu haben, da meine
Methode, welche ich in meiner Anstalt schon seit 2 Jahren zur
Kontrolle der Behandlung bei Skoliotikern benütze, sich praktisch
vollständig bewährte. Zur Ausführung dieser Meßmethode benötigt
man sozusagen keiner neuen Einrichtung. Der photographische Appa¬
rat, besonders der stereoskopische Apparat ist unentbehrlich in jeder
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Eine kombinierte Methode der photographischen Skoliosenmessung. 99
orthopädischen Heilanstalt auch zur Festhaltung anderer Deformitäten,
und ein guter Pantograph ist billig zu erlangen.
Ich glaube, daß bezüglich der Pünktlichkeit gegen diese Me߬
methode kein Einwand erhoben werden kann, da wir bereits in jeder
Phase derselben mit erprobten Mitteln der Optik und Mechanik
arbeiten. Die Ausführung des Verfahrens ist auch genügend kurz
und brauchen wir hauptsächlich den Kranken nicht lange damit zu
belästigen. Der übrige Teil des Verfahrens ist bei entsprechender
Einübung ebenfalls schnell ausführbar und mechanisch genug, um
ihn einem Laien überlassen zu können. Ich kann aus all diesen
Gründen diese Meßmethode wegen ihrer Einfachheit, Billigkeit,
Schnelligkeit und besonders wegen ihrer Pünktlichkeit all denen
empfehlen, die sich mit der Behandlung von Skoliotikern befassen.
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IX.
(Aus dem orthopäd. Institut von Dr. Ernst Mayer in Köln a. Rh.)
Schiebeapparate zu orthopädischen Zwecken.
(Fortsetzung meiner Mitteilung: „Ein neuer Apparat zum Strecken der
Beine und Spreizen der Füße“ in der Zeitschrift für orthopäd. Chirurgie
XIV. Band.)
Von
Dr. med. Ernst Mayer.
Mit 7 in den Text gedruckten Abbildungen.
Das Prinzip, Schlitten, welche sich auf Führungsleisten leicht
auf- und abschieben lassen, zu orthopädischen Zwecken zu benützen,
kann für Uebungsapparate fast sämtlicher Gelenke praktische An¬
wendung finden. Die leichte Beweglichkeit, welche die Schlitten¬
blöcke auf Schienen erzielen, wirkt dabei ähnlich wie der Pendel
bei den Pendelapparaten. Krukenberg sagt über diese Wirkung:
„Hier werden die Bewegungen durch die Muskeln des erkrankten
Gelenkes selbst eingeleitet, aber die dem Pendelapparate durch den
Patienten mitgeteilte Bewegung erhält sich durch die Trägheit des
Pendels, und wenn der Patient immer wieder dem Apparate kleine
Bewegungsimpulse mitteilt, so addieren sich diese zueinander und
vermehren die Exkursion der Bewegungen immer mehr und mehr.
So ist es möglich, daß Patienten, welche nur sehr geringe aktive
Bewegungen auszuüben im stände sind, bei welchen der ganze mecha¬
nische Effekt der Bewegung nur in einem leichten Zucken des er¬
krankten Gliedes besteht, doch in dem Pendelapparte ausgiebige
Schwingungen machen können.“
Die Beweglichkeit des Schlittens kann durch Gewichte, welche
auf Rollen laufen, vergrößert und es wird dadurch eine mehr adres¬
sierende Wirkung hervorgerufen, oder sie kann im Sinne eines Wider¬
standsapparates vermindert werden (Fig. 15). Ich verdanke diese
letztere Einrichtung einer Anregung von Schultheß - Zürich ge-
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Schiebeapparate zu orthopädischen Zwecken.
101
legentlich meiner Demonstration auf dem IV. Kongreß für ortho¬
pädische Chirurgie.
Bei meiner ersten Mitteilung Über die Schlittenapparate fehlte
noch ein Block zur Hervorbringung von Supination und Pronation,
sowie zur Korrektion von Spitz- und Hakenfußstellungen. Fig. 16
zeigt einen Block zur Korrektion des Haken- und Spitzfußes, je
nachdem das Blatt b in den Löchern des Eisens d in einem stumpfen
Fig. 16. Fig. 17.
(Fig. 18) oder in einem spitzen (Fig. 19) Winkel zu seiner Unter¬
lage a gestellt wird. Zur Korrektion des Hakenfußes steht beispiels¬
weise b stumpfwinklig zu a (Fig. 18) und die Kniestellung des Pa¬
tienten ist im Anfang eine gebeugte; es wird dann dadurch, daß der Block
fortgestoßen wird, eine Streckung des Knies und eine energische
Plantarflexion des Fußes hervorgerufen. Bei Redressionsübungen gegen
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102
Emst Mayer.
Spitzfußstellung ist die Anfangsstellung gerade umgekehrt: das
Brett b steht spitzwinklig zu a (Fig. 19) und die Kniee sind zuerst
gestreckt, um zu der Uebung gebeugt zu werden.
Derselbe Block kann, wenn Brett b in rechtwinkliger Stellung zu a
steht, zu Redressionsübungen von Htiftkontrakturen benützt werden.
Fig. 18.
Fig. 19.
Beide Füße werden an das Brett b angeschnallt. Beim Strecken der
Kniee muß naturgemäß die längere Extremität auf die verkürzte
kontrakturierte einen energischen Zug ausüben; dieser Zug kann
verstärkt werden dadurch, daß man der normalen Extremität durch
Unterlegen von Klötzchen (Fig. 20) noch mehr Redressionskraft
verleiht. Auch gegen Flexionskontrakturen des Knies kann dieser
Block angewendet werden.
Zur Nachbehandlung von eingerenkten kongenitalen Hüftgelenks¬
verrenkungen nach der Verbandabnahme möchte ich den Apparat
nicht mehr missen. Außerdem kann er zur Nachbehandlung von
Frakturen, besonders auch als Widerstandsapparat verwendet werden.
Eine Pro- und Supination des Fußgelenkes bezweckt ein Block (Fig. 17),
bei welchem auf der Unterlage a zwei winklig gegeneinander beweg-
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Schiebeapparate zu orthopädischen Zwecken.
103
liehe Bretter angebracht sind. In Fig. 21 sind die Füße zur Ver¬
anschaulichung in Supinationsstellung eingeschnallt, während eine
Pronationsstellung sich leicht aus dieser Figur ableiten läßt. Die
Kniee werden dabei immer abwechselnd gebeugt und gestreckt,
während die Füße festgeschnallt sind.
Mit diesen Schlittenblöcken haben wir in dem einen kleinen
Apparat für fast sämtliche Gelenke der unteren Extremität Redres-
sions- und Uebungsapparate vereint. Dieser Umstand dürfte speziell
für Krankenanstalten mit wenig Platz und geringen Betriebsmitteln
von Wert sein.
Der ganze Apparat ist von Franz Langel, Köln a. Rh.,
Crefelderst. 22, zu beziehen.
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X.
(Aus dem mediko-mechanischen Zanderinstitut Köln.)
Einiges zur Bruchbandfrage.
Von
Dr. Gustav Thomas,
Spezialarzt für mechanische Chirurgie in Köln.
Mit 2 in den Text gedruckten Abbildungen.
Seitdem der geniale Laie Hessing in Göggingen die ganze
Welt mit seinen sinnreich konstruierten Apparaten beglückt, und
seitdem Hoffa in seinem Lehrbuch der orthopädischen Chirurgie
die Lehre vom Ersatz verlorengegangener Gliedmaßen einschließlich
der Anfertigung aller Apparate und Bandagen für die mechanische
Chirurgie in Anspruch genommen hat, hat sich manche Anstalt zu
diesem Zwecke unter sachverständiger ärztlicher Leitung aufgetan
und ist literarisch mit bemerkenswerten Leistungen hervorgetreten.
Fast jeder der Konstrukteure hat seine Eigenheiten, durch die
er sich von den übrigen Kollegen wesentlich zu unterscheiden glaubt,
ob es nun künstliche Glieder, Korsette oder irgendwelche Hülsen¬
schienenapparate anbetrifft. Man könnte daraus schließen, daß es
sich mit dem Wert aller dieser Bandagen und ihrer verschiedenen
Konstruktionsmethoden gerade so verhält wie mit den vielen Mitteln
gegen eine einzelne Krankheit. Je mehr man Mittel gegen eine
einzelne Krankheit hat, bezw. Anwendungsformen desselben besitzt,
mit umso größerem Recht kann man sagen, daß keines dieser Mittel
der Krankheit ordentlich zu Leibe geht. Denn wenn wir ein Spezi¬
fikum gegen eine Krankheit haben, wie z. B. Quecksilber gegen
Lues etc., so brauchen wir ja kein anderes Mittel.
Ich neige aber zu der Ansicht, daß man in unseren Fällen
betreffs der Orthopädie auch mit Recht behaupten kann, alle diese
verschiedenen Konstruktionen haben ihre Vorteile für den speziellen
Fall, sie haben nicht die Nachteile der Schablone. Es führen alle
Wege nach Rom, für jeden Pilger paßt aber nicht jeder Weg und
für jedes in das Gebiet der Orthopädie fallende Krankheitsbild paßt
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Einiges zur Bruchbandfrage.
105
nicht jede Konstruktion. Auch hier handelt es sich wieder um das
Individualisieren!
Längere Zeit war über die Bruchbandkonstruktionen von seiten
der mechanischen Chirurgen nichts in der Literatur mitgeteilt worden,
bis Schanz in seinem unten erwähnten Artikel eine gute Methode
angab, wie man große Leisten- oder Schenkelpfortenbrüche, bei
denen man auf eine völlige Reposition Verzicht leisten muß, be¬
handeln kann. Er befestigte seine elastische Beutelpelotte an einem
stählernen Ring, welche die Austrittsstelle des Bruches umgreift und
arbeitete die Pelotte selber nach dem Gipsmodell des Bruches, welchen
er zuvor so weit als möglich zurückgebracht hatte. Der Beutel selber
war von Gummitrikot und wirkte automatisch dem Größerwerden
des Bruches entgegen. (Siehe auch Münchener medizinische Wochen¬
schrift Nr. 17, 1905, eine Bandage für große Bauchbrüche von dem¬
selben Autor.) Zum Zurückbringen von Brüchen, welche der Repo¬
sition größeren Widerstand leisten, hat sodann Hoffa (s. Literatur)
1896 ein Bruchband angegeben, welches ingeniös erdacht, aber nicht
einfach anzufertigen ist und dessen allgemeiner Verbreitung auch
der Preis im Wege stehen dürfte.
Die Beschreibung dieses Bandes findet man in dem ersten Teil
des oben genannten Aufsatzes. Von anderen Seiten bezogen sich die
Abänderungen auf die Pelotten, auf die man das Hauptgewicht legen
zu müssen glaubte, und hier kam man auf die seltsamsten Er¬
findungen in Bezug auf Form und Füllung. Ich sehe aber davon
ab und wende mich zu einer Konstruktion, welche zum ersten Male
eine vollkommene Abweichung von den Camp ersehen Grundsätzen
darstellt.
Seitdem Camper zuerst elastisch federnde Bruchbänder zum
Zurückhalten von Brüchen im Jahre 1779 gebrauchte und ihre Grund¬
bedingungen festgelegt hatte, sind auf dieser Basis unendlich viele
Modifikationen angegeben worden, und erst in neuester Zeit wurde
es darüber wieder still.
Die hier in Betracht kommende grundlegende Abänderung ist von
einem Bandagisten angegeben und von Dr. Woerner (s. Literatur)
empfohlen. Der Erfinder will nicht die Pelotte, sondern die Feder
des Bruchbandes abändern und besorgt das so gründlich, daß dieses
Bruchband als „Bruchband ohne Feder“ in gewissem Sinne bezeichnet
werden darf. Auf seine genaue Beschreibung muß ich hier verzichten
und will nur erwähnen, daß ich es wohl für möglich halte, daß
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106
Gustav Thomas.
Arbeiter dieses Bruchband tragen, aber für Gesellscbaftskleidung
bezw. für die weibliche Bevölkerung dürfte es sich wohl auch nicht
eignen, weil die Enden des Bügels nicht am Körper anliegen, sondern
von demselben absteheu. Es müßten also bei eng anliegenden
Kleidungsstücken die Bügelenden hervortreten.
Bei mehrmaligem bloßen Studium des Artikels bin ich ziemlich
skeptisch geblieben aus dem Grunde, weil die Bruchbandpelotte nur
eine schmale Befestigung hat und weil im Gegensatz dazu doch die
Last, nämlich der Bruch, an einem langen Hebelarm von der Länge
der Pelotte zu wirken vermag. Da aber der Herr Kollege Woerner
Fi g. 1.
von guten Resultaten mit diesem Bande spricht, so mag es immer¬
hin sein, daß der von ihm bezw. dem Erfinder betretene Weg nach
Rom führt.
Was aber die Form der Pelotte und ihren Querschnitt anbetriffb,
so unterschreibe ich voll und ganz das, was der Kollege Wagner
in seinem unten zitierten Artikel des näheren ausfübrt.
Beide Autoren haben von ihren Aufsätzen gegenseitig keine
Kenntnis gehabt, welche beide zu gleicher Zeit ungefähr geschrieben
sein müssen. Hätte Herr Kollege Woerner den Wagner sehen
Artikel gekannt, so würde er dafür gesorgt haben, daß die darin als
richtig anzuerkennenden Grundsätze bezüglich der Pelotten auch bei
seinem Bruchbande Anwendung gefunden hätten. Denn ich glaube,
daß die Konstruktion seines Bandes das zuläßt.
Wagner bricht — und wie ich glaube mit Recht und Erfolg —
eine Lanze für die flache Pelotte, weil sie die Bruchpforte und den
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Einiges zur Bruchbandfrage.
107
Bruchkanal besser schließt und nicht die Bruchpforte, wie das die
Eigenschaft der gewölbten Pelotte ist, vergrößert. Ich bin nun bei
der Konstruktion meines Bruchbandes noch einen anderen Weg ge¬
gangen als andere Autoren vor mir und habe mich da von dem
zweiten Teil des oben genannten Hof faschen Artikels anregen lassen.
Ausgehend von der Erfahrungstatsache, daß man nur selten ein wirk¬
lich gut sitzendes Bruchband findet, weil, wie Wagner ganz richtig
sagt, die Herstellung der Bänder nicht in den Händen der Banda¬
gisten, sondern fast vollständig in denen der Fabrikanten liegt, ich
sage, ausgehend von dieser Tatsache, finden wir als Grund dafür
die falsch konstruierte Pelotte, bezw. sitzt der Fehler schon am
Pelottenhals.
Besonders war es ein Fall, der zwei Leistenbrüche, einen Schenkel¬
pfortenbruch und einen Bauchbruch gleichzeitig aufwies, der mir zu
denken gab bei der Lösung der Aufgabe, dem Leidenden eine einiger¬
maßen genügende Erwerbsfähigkeit zu verschaffen.
Ich sehe davon ab, wie ich hier gleich bemerken will, mein
Bruchband zum allgemeinen Gebrauch zu empfehlen, dazu wird gerade,
wie bei Hoffas Bandage, wohl der Preis zu hoch sein, aber dieses
Bruchband wird sich empfehlen, sobald es sich um das Zurückhalten
von mehreren und von solchen Brüchen handelt, die anderen Bruch¬
bändern nicht gehorchen, außerdem hat es den Vorteil, daß es
von dem mechanischen Chirurgen ohne Schwierigkeit angefertigt
werden kann.
Aenderte der Erfinder des Woernersehen Bruchbandes die Idee
in der Weise ab, daß er die Pelotte nicht mehr an die Feder ansetzt,
wiewohl es in gewissem Sinne immer noch eine Feder ist, die die
Pelotte trägt, so behielt ich bei meinem Bruchbande zwar den federn¬
den Charakter der Pelotte bei, änderte aber von Grund aus die
Richtung der Feder.
Während nämlich die Federn der bisherigen Bruchbänder eine
wagrechte Richtung haben und zwischen Rollhügel und vorderer
oberer Hüftspitze verlaufen, um dann im Halse sich die Pelotte an¬
setzen zu lassen, so verläuft meine Bruchbandfeder direkt vertikal,
also in einem ungefähr rechten Winkel zu dem bisherigen Verlauf,
und das bekommt sie fertig dadurch, daß sie sich an den Hüftbügel
der Hof faschen Leibbinde, die ihrerseits wieder aus dem H essin g-
schen Korsettbügel hervorgegangen ist, anschließt. Diese Binde wende
ich übrigens mit großem Vorteil oft an und kann sie bestens emp-
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108
Gustav Tbomas.
fehlen. Ich habe 1897, also bald nachdem ich angefangen hatte,
mich mit Anfertigung von Bruchbändern zu befassen, eine Reihe
von 10—12 Fällen, meist Unfallverletzte, mit diesem Bruchband
behandelt und die Leute waren sehr zufrieden, weil das Band un¬
möglich sich verschieben konnte und sie ein sicheres Gefühl durch
dasselbe hatten, der Bruch konnte eben nicht heraus.
Unter diesen Leuten war auch der oben erwähnte Mann mit
vier Brüchen, dem ich seine Erwerbsfähigkeit in beschränktem Grade
erhalten habe, während er vorher gänzlich erwerbsunfähig war.
Ich kann mir theoretisch denken, daß ein menschlicher Körper
alle möglichen Brüche aufweisen kann, auch die selten vorkommenden
Formen, wie die Hernia obturatoria etc., und alle diese Brüche kann
ein einziges Bruchband zurückhalten. Für jede Hernie brauche ich
nur eine Pelotte.
Die Beschreibung meines Bruchbandes lasse ich hier folgen.
Der aus Korsettdrell hergestellte Teil des Bruchbandes bildet
die untere Hälfte eines Hessingschen Korsetts von der Taille ab¬
wärts. Der obere Rand wird gebildet durch eine Gummieinlage,
um ein gleichmäßiges Anschließen an den Körper zu erreichen.
Die Seitenschnürungen sind genau so eingerichtet wie bei den
Hessingschen Korsetts. Die Bandage wird vorn geschlossen mittels
Schnürungen oder auch durch eine Anzahl Riemen mit Schnallen.
Das Bruchband beginnt hinten unten, wie der Hessingsche Bügel
immer beginnt, steigt dann zum Kreuzbein-Darmbeingelenk, geht
über den Beckenrand herüber nach der Seite zu und ist von der
Stelle ab, wo es aus der aufsteigenden Richtung mehr in die wag¬
rechte Richtung übergeht, als Feder gehärtet bis an sein vorderes
Ende. Genau wie bei der Hoffaschen Leibbinde endigt nun dieser
vordere Bügel nicht nach einwärts und unten von der vorderen
oberen Hüftspitze, sondern verläuft an der Innenseite derselben direkt
auf die Bruchpforte zu und endigt an ihrem unteren Ende.
Der untere Rand ist alsdann mit einer flachen Pelotte ver¬
sehen, welche ich in der ersten Zeit genau so geformt habe in Wachs,
wie Wagner es mit der seinigen in Paraffin gemacht hat. Ich weiß
nicht, wem die Priorität betreffend der Erfindung der flachen Pelotte
zukommt, lege aber auch nicht das geringste Gewicht darauf.
Tatsache ist, daß ich ein einziges Mal eine konvexe Pelotte an¬
gefertigt habe und dann nicht wieder, weil ihre Unzweckmäßigkeit
in die Augen sprang. Jedenfalls hat Wagner das Verdienst, auf
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Einiges zur Bruehbandfrage.
109
die Zweckmäßigkeit der flachen Pelotte in seinem oben zitierten
Aufsatz aufmerksam gemacht zu haben.
Während ich bei der Demontierung der gewöhnlichen Bruch¬
bänder meist gefunden habe, daß die Bruchbandfeder am oberen
Ende oder in der Mitte der Pelottenlänge endigt, lasse ich meine
Bruchbandfeder über die ganze Länge der Pelotte verlaufen, bezw.
setze ich meine Pelotte so auf die Feder auf, daß die unteren Ränder
beider in gleicher Höhe endigen. Auf diese Weise erreiche ich ein
gleichmäßiges Anliegen der Pelotte. Selbstverständlich müssen alle
Löcher, die in dem Bruchband angebracht werden müssen, vor der
Härtung der Feder bereits gebohrt sein. Je nach dem Falle lasse
ich es bei diesem einen Bügel bewenden oder füge, wenn kein
zweiter Bruch auf der anderen Seite vorhanden ist oder der einzelne
Bruch schwer zurückzuhalten geht, dann noch einen gewöhnlichen
Hessing sehen Bügel hinzu, welcher vorn nach innen und unten von
der vorderen oberen Hüftspitze endigt und natürlich nicht federhart
gemacht wird.
Die Verbindung beider Bügel kann dann hinten durch eine
stählerne Sperre, welche statt der Löcher kleine Schlitze trägt, und
vorn durch eingeknöpfte Riemen bewerkstelligt werden.
Handelt es sich um einen Fall von einem Leistenbruch auf jeder
Seite, so werden beide Federn in gleicher Weise gearbeitet, und die
Pelotte wiederum bei aufrechtstehender Körperhaltung angepaßt.
Ist gleichzeitig ein Bruch in der Linea alba vorhanden, so er¬
hält jeder Bügel ein Knöpfchen oberhalb der vorderen oberen Hüft¬
spitze und der Stoff nach außen von der Schnürung jederseits einen
Schlitz, durch welchen ich einen Riemen mit Gummi hindurchführe,
welcher wiederum eine entsprechend große Pelotte trägt. Diese
Pelotte sitzt dann natürlich direkt auf der Bruchpforte.
Habe ich es nunmehr mit zwei oder mehreren Brüchen auf
einer Seite zu tun, so spalte ich beim Schmieden des Hessingschen
Bügels sein vorderes Ende in zwei oder mehrere Teile und biege sie
in der Richtung auf den Bruch zu, welchen sie zu bedecken be¬
stimmt sind.
Bei mageren Personen genügt im allgemeinen beim Vorhanden¬
sein eines einzelnen Bruches ein Bügel, dagegen werden wir bei fetten
Personen oder bei Brüchen, welche sich schwer zurückhalten lassen,
besser tun, auf der anderen Seite einen Hessingschen Bügel hinzu¬
zufügen. Während mir früher die Anpassung Hessingscher Bügel
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110
Gustav Thomas.
in der Weise, wie Hoffa es empfiehlt, viel Zeit raubte, macht mir
jetzt dieselbe keinerlei Umstände mehr; ich brauche nicht mehr die
langwierige Anprobe, bis ein solcher Bügel vorschriftsmäßig sitzt,
sondern es bedarf jetzt nunmehr nur noch einer kleinen Biegung an
einzelnen Körperstellen, um eine derartige Bügelsitzung zu Ende zu
bringen. Gewöhnlich bin ich in einer Viertelstunde mit dem An¬
probieren, ob der Bügel richtig sitzt, fertig und erlebe niemals mehr
die Notwendigkeit, umschmieden zu müssen.
Zu diesem Vorteil bin ich gekommen, indem ich mir die Bügel
erst aus einer flachen Stange von Hart- und Weichblei genau nach
den Körperformen anpasse und die dann so fertig geformten auf
einem Gipsblock abdrücke. Ich habe alsdann das Negativ des zu-
Fig. 2.
künftigen Bügels und schmiede alsdann Zentimeter für Zentimeter
den ganzen Bügel nach dem Modell; man spart stundenlange Arbeit
und hat keine Anprobe mehr dadurch.
Notwendig ist es bei dieser Bandage, daß sie direkt auf der
Haut getragen wird, deswegen überziehe ich sie an der inneren Seite
entweder mit Sämischleder oder, was etwas billiger ist, mit Trikot
und lasse sie unter dem Hemd tragen. Auf diese Weise ist sie auch
beim Wechseln der Kleidung in keiner Weise hinderlich. Der Stoff
nach unten zu reicht nur so weit, daß er die Pelotten nicht mehr
bedeckt.
Diese endigen vielmehr frei und liegen der Bruchpforte und
dem ganzen Bruchkanal vollständig an. Die Federn selber sind wie
die Hessingschen Bügel immer in ihrer ganzen Länge auf dem
Stoff aufgenäht und besonders noch einmal an ihrer Innenfläche mit
Sämischleder unterfüttert. Von einem Verschieben dieser Bruch¬
bandage kann natürlich keine Rede sein, auch kann sie keinen Druck
erzeugen, weil der Knochen mit keiner Stelle der Bügel in Be¬
rührung kommt.
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Einiges zur Bruchbandfrage.
111
Die beigefügte Abbildung erläutert einigermaßen deutlich das
hier beschriebene Band, da aber das Bruchband für sich gezeichnet
werden mußte, so sind durch den Federdruck die Pelotten zu nahe
aneinander gekommen und liegen teilweise übereinander, am Körper
nehmen sie indessen ganz von selber ihre richtige Lage ein.
Literatur.
1. Zentralbl. f. Chirurgie 1896, Nr. 20. Zur Bruchbandfrage von Alb. Hoffa
in Würzburg. II. Bandagen für Bauchbrüche, Nabelhernien, Hängebäuche
und Wandernieren.
2. Münchener med. Wochenschr. 1891, Nr. 9. A. Schanz, Bruchband und
elastische Beutelpelotte.
3. Medizinisches Korrespondenzbl. des Württemberger ärztlichen Landesvereins
vom 18. Juni 1904, Nr. 25. Aus dem städtischen Hospital zu Gmünd.
Ein neues Bruchband ohne Feder von Dr. Wörner, dirig. Arzt.
4. Derselbe, Deutsche med. Wochenschr. vom 25. August 1904, Nr. 35. Das¬
selbe Thema.
5. Arch. f. orth. Mechanotherapie und Unfallchirurgie 1904, Nr. 17. Ueber das
Bruchband von Dr. Wagner, Spezialarzt für Orthopädie, Bad Kreuznach.
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XI.
Noch einmal die „Kellgrensche Behandlungsmethode“.
Von
Patrik Haglund.
Obwohl ich es für völlig nutzlos halten muß, den sehr in
Anspruch genommenen Raum einer berühmten medizinischen Zeit¬
schrift noch einmal mit Betrachtungen über die Arbeit des Herrn
Dr. med. Cyriax oder über die sogenannte Kellgrensche Behand¬
lungsmethode zu belästigen, will ich doch — anläßlich der Erwide¬
rungen Cyriaxs — noch einige Worte in dieser Frage hier sagen.
Ich kann dabei mich nicht mit allen »Erwiderungen* beschäf¬
tigen, da eine nur einigermaßen vollständige Beleuchtung einer
solchen kritiklosen medizinischen Darstellung wie der des Herrn
Dr. Cyriax ein ganzes Buch — wenigstens so dick wie die be¬
sprochene Arbeit — werden müßte; es ist auch gar nicht nötig, da
der geehrte Verfasser eben in seinen »Erwiderungen“ mit vollkom¬
menster Deutlichkeit selbst zeigt, wie richtig meine Auffassung
seines pretentiösen Werkes ist. Jeder Arzt — und ich richte mich
diesmal nur an die Kollegen — sieht selbt beim Durchlesen der
Erwiderungen, wie korrekt ich den Kurpfuscherstandpunkt des
Dr. Cyriax beurteilt habe. Es wäre nutzlos, darüber mehr zu
sprechen. Der mehr Interessierte kann in der Cyriaxschen Arbeit
selbst die in Frage kommenden Auseinandersetzungen lesen, und er
wird gleich finden, daß ich mich keiner Uebertreibung schuldig
gemacht habe.
Anläßlich einer Bemerkung Cvriaxs, daß ich eine falsche
Angabe gegeben hätte, will ich nur betonen, daß der „Erste Pro¬
vinzialarzt“ in Jönköping — an welchen jede Meldung epidemischer
Krankheitsfälle ergehen sollte — amtlich mir gemeldet hat, daß er
nichts von jener Scarlatinaepidemie gehört habe. Das ganze Buch
Cyriaxs zeigt ohne weiteres, daß er eine ärztliche Praxis und nicht
nur gymnastische Tätigkeit in Schweden getrieben hat. Es spielt
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Noch einmal die „Kellgrensche Behandlungsmethode*.
113
doch gar keine Rolle; es leben in Schweden leider so viele Kur¬
pfuscher, daß es auf einen mehr oder weniger auch nicht ankommt.
Ich muß also die Erwiderungen des Herrn Dr. Cyriax ihrem
Wert — oder besser ihrer jedem Mediziner deutlichen Haltlosigkeit —
überliefern. Ich will hier nur noch hinzufügen, daß ich von Kollegen
in Schweden und auswärts eine ziemlich scharfe Kritik meiner Kritik
der Cyriaxschen Arbeit habe hören müssen. Man hat gesagt, daß
ein Arzt eine solche Arbeit überhaupt nicht rezensieren sollte.
Es ist, sagt man, derselben eine zu große Bedeutung beigemessen
worden. Ich glaube aber, daß dieser Standpunkt jetzt ein wenig
veraltet ist. Diese medizinische Gymnastikfrage ist doch eine bedeu¬
tungsvolle Frage, und ich halte es für überaus wichtig, daß die
Aerzte sich für alles, was die Behandlung kranker Menschen berührt,
interessieren. Und im hier vorliegenden Falle ist es außerdem kein
Kurpfuscher — im gewöhnlichen Sinne — sondern ein approbierter
Arzt, der mit großer Prätention den reinen Unsinn predigt. Man
muß doch deutlich darlegen, daß man solches von Kollegen nicht
geduldig ertragen kann. Anderseits kann ein Gymnastikenthusiast
gewiß wertvolle Beobachtungen machen, zumal unsere therapeutischen
Maßnahmen doch nicht zum wenigsten von Laien stammen. Und ich
habe wirklich in meiner Kritik der Cyriaxschen Arbeit alles Gute,
was ich nur habe finden können, scharf hervorgehoben. Daß
Dr. Cyriax diese meine Aussprüche als einen sehr wertvollen Preis
seines Werkes auffaßt, erstaunt ein wenig — siehe meine Kritik!
Hat aber meine Kritik nur dazu beigetragen, die Aufmerksamkeit
der Kollegen auf diese wichtigen Fragen zu lenken, hat sie ihren
Zweck erfüllt.
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XV. Bd.
8
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XII.
Ueber Stellungs- und Haltungsanomalien
rhachitischer Kinder.
Von
Dr. raed. Brandenberg, Winterthur.
Eine Arbeit meines früheren hochverehrten Chefs, Professor
E. Hagenbach-Burckhardt am Kinderspital in Basel über
„Klinische Beobachtungen über die Muskulatur der Rhachitischen“
(Jahrbuch f. Kinderheilkunde N. F., LX., Heft 3) verdient wohl, in
einer Fachschrift für Orthopädie besprochen zu werden. Ich tue das
umso lieber, als mich gleiche Ideen schon lange beschäftigen und
ich einzelne Krankheitsbilder der orthopädischen Praxis seit mehreren
Jahren unter gleichem Gesichtspunkt betrachtete.
Daß dem Fachorthopäden hauptsächlich das fait accompli der
Rhachitis vorgestellt wird, liegt in der Natur der Sache. Der Kinder¬
arzt, der viel früher Gelegenheit hat, die gleichen Fälle zu unter¬
suchen, wird in Bezug auf die Aetiologie der rhachitischen Defor¬
mitäten kaum mit Unrecht häufig anderer Ansicht sein. Es werden
eben Ursache und Wirkung, wenn man die Rhachitis einzig und
allein als Knochenerkrankung auffaßt, miteinander verwechselt. Um
ein Beispiel vorweg zu nehmen, wird es den Orthopäden nicht ver¬
wundern, daß bei einem rhachitischen Plattfuß der Muse, tibial.
postic. verlängert ist und durch eine Verkürzung des Muskels Heilung
eintritt (cf. Hoffa, Zur Behandlg. des Pes valgus, Münch, med.
Wochenschr. 1900, Nr. 15). Die Verlängerung des Muskels könnte
nun einerseits als Folge der Plattfußstellung, wohl richtiger aber
als Ursache der Veränderung aufgefaßt werden. Hagenbach weist
in seiner Arbeit nach, daß die Ursache des Pes valgus rhachit. vor
allem in der rhachitischen Kindern eigenen Schlaffheit der Muskeln
zu suchen ist und daß die Belastung als wirkendes Moment anzu¬
nehmen erst viel später Berechtigung findet. Selbstredend handelt
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Ueber Stellungs- und Haltungsanomalien rhachitischer Kinder. H5
es sich in dieser Besprechung in erster Linie um rhachitische Defor¬
mitäten oder besser gesagt Stellungs- und Haltungsanomalien, da
ich den Begriff Deformität nur für jene Fälle aufgespart wissen
möchte, wo sekundär nachweisbare Veränderungen an den Skelett¬
teilen eingetreten sind.
Nach Hagenbach beschäftigen sich von früheren Forschern
nur Rehn, Baginsky, Trousseau, Combes, Fischl und Heubner
eingehender mit der Muskulatur Rhachitischer. Am deutlichsten
spricht sich über diese Frage Vierordt (Nothnagel, spez. Pat.
und Ther.) aus: „Uns scheint die Muskelschlaffheit ein wesentlicher
Bestandteil der Rhachitis zu sein.*
Die genauen Beobachtungen im Spital haben Hagenbach dazu
geführt, die Unbeweglichkeit rhachitischer Kinder nicht als durch
Schmerz verursacht, wie dies Kassowitz meint, aufzufassen, son¬
dern als abnormale Muskelfunktion und zwar der Gesamtmuskulatur.
Das ermöglicht die geradezu paradoxen Stellungen solcher Kinder
und diese Stellungen können stundenlang ohne jede Schmerzäußerung
innegehalten werden. Ich selbst erinnere mich eines Kindes, das
beim Schlafen die Fußsohlen auf den Schultern hatte, die Beinchen
dem Thorax eng angeschmiegt und die Aermchen den unteren Ex¬
tremitäten entlang legte. Eine ähnliche abnorme Beweglichkeit findet
sich nach Hagenbach noch an den unteren Extremitäten von
Kindern, die nach Poliomyelitis ausgedehnte Paralysen aufweisen.
In der Tat können wir beim paralytischen Platt- oder Klumpfuß
ohne jedes Rodressement (wenn die Fälle nicht veraltet sind und
aus der pathologischen „Stellung“ durch Knochenveränderung eine
richtige „Deformität“ entstanden ist) durch Muskelkürzungen und
Muskelplastik eine normale Stellung des Fußes erzielen. Gerade
dieses Analogon spricht für Hagenbachs Ansicht über den rhachi-
tischen Plattfuß.
Während bei den sogenannten Schlangenmenschen nach Vir chow
eine durch Uebung erreichte Ausschaltung der Antagonisten die
bizarren Stellungen ermöglicht, ist es beim rhaclritischen Kinde Aus¬
schluß der Antagonisten infolge von „Schlaffheit, Schwäche und
Insuffizienz der Muskeln“.
Uebergehend auf die einzelnen Formen der orthopädisch wich¬
tigeren rhachitischen Veränderungen behandelt Hagenbach zuerst
den rhachitischen Plattfuß.
Von Orthopäden treten speziell Hoffa, Schultheß und
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116
Brandenberg.
Lüning für die Belastungstheorie des rhachitischen Plattfußes ein,
die rhachitische Kyphose soll ihre Ursache hauptsächlich im Liegen
auf nachgiebigen Kissen und frühem Aufsitzen haben.
Daß der rhachitische Plattfuß nicht das Resultat von Belastung
allein sein könne, geht daraus hervor, daß er bei Kindern beobachtet
wurde, die noch gar keine Gehversuche gemacht hatten, es handelt
sich in diesen Fällen auch nicht um besondere Schlaffheit der
Gelenke, sondern „die scheinbare Schlaffheit im Fußgelenk muß auf
•die Muskulatur mit vermindertem Tonus zurückgeführt werden“. Des
öfteren erzielte ich bei Platt- und Klumpfußstellung rhachitischer
Kinder, die allerdings das Gehen schon erlernt hatten, einzig mit
Massage und Elektrizität günstige Resultate, indem beim Plattfuß
der Tibial. post., bei Klumpfuß Muse, peron. long. et brevis der Be¬
handlung unterzogen wurden. Der oft überraschend schnelle Erfolg,
zumal bei Kombination der Massage und aktiver Bewegung mit
Elektrizität, haben mich dazu geführt, für diese Fälle nur eine
Schwäche der betreffenden Muskeln anzunehmen, ich registrierte
diese Fälle unter: myasthenischer Platt- resp. Klumpfuß. Die gleiche
Muskelschwäche darf wohl auch für viele Totalskoliosen des schul¬
pflichtigen Alters angenommen werden, auch da scheint mir die
Annahme einer Myasthenie ungezwungener als die einer bis jetzt
noch nie nachgewiesenen „Spätrhachitis“.
Die weiteren Beobachtungen Hagenbachs, daß mit dem
Kräftigerwerden der Muskulatur beim rhachitischen und nichtrhachi-
tischen Kinde der Plattfuß ausheile, sobald er nicht sekundäre Ver¬
änderungen an Knochen und Bändern erlitten hat, unterstützen seine
Hypothese wesentlich.
Für die rhachitische Kyphose scheint mir erst recht die An¬
nahme der Muskelschwäche gerechtfertigt, weil die meisten dieser
Fälle mit dem Kräftiger werden der Kinder ausheilen, ebenso ist
häufig die Kyphose der Schuljahre (wenn nicht als familiäres Uebel
aufgetreten) durch Stärkung der Muskulatur besserungsfähig, gar
viele dieser Patienten erfreuen sich später einer tadellosen Haltung,
was nicht der Fall wäre, wenn durch die angenommene Weichheit
der Knochen Veränderungen am Skelett der Wirbelsäule eingetreten
wären, bei den hochgradigen Fällen und da, wo trotz Behandlung
eine Besserung nicht eingetreten ist, muß allerdings angenommen
werden, daß sekundär Form Veränderungen der Wirbelsäule einge¬
treten sind.
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Ueber Stellungs- und Haltungsanomalien rhachitischer Kinder. 117
Daß eine ausgedehnte Beweglichkeit in den Gelenken nicht von
einer Gelenkschlaffheit herrührt, wie dies Eassowitz annimmt,
will Hagenbach dadurch beweisen, daß an der Leiche nach Durch-
trennung z. B. sämtlicher Muskeln am Fußgelenk die hochgradigste
Beweglichkeit des Fußes möglich ist.
Allerdings wird in neuester Zeit auch von Orthopäden der
Muskulatur beim Plattfuß die nötige Aufmerksamkeit geschenkt. Ich
verweise auf die ausgezeichnete Arbeit von Prof. Antonelli, Pavia
(Zeitschr. f. orthop. Chirurgie XIII., 3. H.): „Ich schließe mich jenen
Autoren an, die der Muskeltätigkeit die allermeiste Beteiligung an
der Erhaltung des Plantargewölbes zuerkennen, dafür aber auch in
dessen Schwächung die allererste Ursache der Bildung des statischen
Plattfußes erblicken.“
Wenn auch für den Orthopäden durch diese mehr theoretischen
Erörterungen keine bahnbrechenden Ideen in Bezug auf die Behand¬
lung der besprochenen Haltungs- und Stellungsanomalien gezeitigt
werden, so dienen sie vielleicht doch dazu, vor zu großer Operations¬
lust oder zu schnell bereitem Anlegen korrigierender Verbände bei
rhachitischer Platt- und Klumpfußstellung zu warnen, heilen doch
viele dieser Fälle bei richtiger, exspektativer Behandlung auch aus.
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XIII.
Ueber die Kombination der angeborenen
Httftgelenksverrenknng mit anderen angeborenen
Deformitäten.
Von
Dr. Gustav Albert Wollenberg,
I. Assistent der Hoffaschen Klinik.
Mit 2 in den Text gedruckten Abbildungen.
Schon seit langer Zeit sind Fälle von Komplikationen der an¬
geborenen Hüftverrenkung mit anderen angeborenen Deformitäten
bekannt; dieselben werden in den ausführlicheren Werken kurz ge¬
streift, im übrigen finden sie sich hie und da in der kasuistischen
Literatur verstreut. Es ist nun zwar ein gewiß berechtigtes Prinzip,
für eine Duplizität oder Multiplizität verschiedener Krankheitsbilder
bei einem und demselben Individuum nach einer gemeinsamen Ur¬
sache zu suchen, aber man muß doch stets daran denken, daß das
Spiel des Zufalls in der Pathologie eine nicht geringere Rolle spielt,
als in anderen Dingen, daß also sehr wohl bei demselben Indivi¬
duum verschiedene angeborene Deformitäten verschiedenen Ursachen
ihre Existenz verdanken können.
Es ist klar, daß, je mehr Deformitäten sich bei einem Indivi¬
duum komplizieren, desto schwieriger die Beurteilung derselben sein
wird. So wird denn auch eine Reihe der Fälle, die ich aus unserem
Materiale und aus der Literatur zusammenstellen werde, ein vor¬
wiegend teratologisches Interesse darbieten, ohne daß man weit¬
gehende Schlüsse aus denselben ziehen könnte.
Es hat sich, wie Dollinger ausführt, wohl ein jeder Autor,
der sich mit der kongenitalen Hüftluxation beschäftigt hat, seine
eigene Theorie der Aetiologie dieses Leidens gebildet; mit den zahl¬
losen Theorien will ich mich hier durchaus nicht beschäftigen, da
sie von den verschiedensten Autoren bereits kritisch gesichtet
worden sind.
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lieber die Kombination der angeborenen Hüftgelenksverrenkung etc. 119
Was meine persönliche Meinung über die Aetiologie der an¬
geborenen Hüftverrenkung betrifft, so bin ich der Ansicht, daß es
sich in der erdrückenden Mehrzahl der Fälle um einen primären Keim¬
fehler handelt.
Ich will hier noch einmal ganz kurz die Hauptmomente an¬
führen, welche die Anhänger der Keimfehlertheorie als Stützen ihrer
Ansicht betrachten.
1. Die von Hoffa zuerst erkannte, von Bade beschriebene
Veränderung am oberen Pfannendache der klinisch ge¬
sunden Seite, welche nach letzterem Autor in ca. 25°/o der Fälle
nachweisbar ist, und welche im wesentlichen in einer Abflachung des
Daches besteht. Nun nehmen die Anhänger der Belastungstheorie
an, daß diese Erscheinung darauf zurückzuführen sei, daß dieselbe
abnorme Haltung des Fötus im Uterus auf beide Beckenseiten un¬
gefähr gleichmäßig einwirkt (Ewald). Dem gegenüber meine ich,
daß bei der intrauterinen Haltung der fötalen Oberschenkel, welche
die Belastungstheorie fordert, nämlich Flexion resp. Flexion und
Adduktion, lediglich die untere resp. hintere untere Pfannenhälfte
eine Abflachung erfahren müßte, nicht aber das obere Dach, denn
dieses wird in der Stellung ja garnicht belastet.
2. Die Erblichkeit.
Es fehlt allerdings nicht an Stimmen, welche der Vererbungs¬
fähigkeit erworbener Fehler das Wort reden, jedoch sind meiner
Ansicht nach die Anhaltspunkte für derartige Anschauungen nicht
beweiskräftig.
Schon Krönlein hat uns interessante Stammbäume von
,Luxationsfamilien“ gegeben, ferner haben Lorenz, Delanglade,
Narrath und Vogel Beweise für das erbliche Vorkommen der Af¬
fektion geliefert. Narrath beobachtete in seinem Material in 40°/o,
Vogel in 30° o Erblichkeit. Auch in unserem großen Material finden
sich sehr häufige Fälle, wo das Leiden von väterlicher oder mütter¬
licher Seite auf die Kinder vererbt wurde, oder wo mehrere Ge¬
schwister an Luxationen litten oder sonst in Seitenlinien Luxationen
vorkamen. Ewald will gerade die letzteren Fälle von der Betrach¬
tung ausgeschlossen wissen; das ist aber unzulässig, da ja auch
andere angeborene Anomalien, die wir als primäre betrachten müssen,
diesen eigenartigen Typus zeigen: sprungweises Auftreten in der
Aszendenz und in den Seitenlinien.
Wenn nun die Erblichkeit einen bestimmten Typus hätte, der-
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120
Gustav Albert Wollenberg.
art, daß die angeborene Hüftgelenksverrenkung nur durch das weib¬
liche Geschlecht vererbt würde, so könnte man allenfalls annehmen,
daß hier eben nur die Disposition des Fruchthalters oder Beckens
vererbt würde, welche zu intrauteriner Raumbeschränkung des Fötus
führt, daß also eine mechanische Ursache der Hüftgelenksluxation
vererbt würde; dem ist aber nicht so: die Luxatio coxae con¬
genita wird von dem Vater ebenso oft auf die Kinder ver¬
erbt, wie von der Mutter.
Wenn Drehmann die Heredität durch eine ererbte Haltung
des Fötus mit stark flektierten Hüftgelenken oder stärkerer Inflexion
des Oberkörpers erklären will, so kann man eine derartige Anschau¬
ung nur als eine sehr gezwungene und unwahrscheinliche bezeichnen.
3. Die Komplikation der Hüftluxation mit anderen an¬
geborenen Fehlern.
Alles dieses spricht für die Theorie des primären Keimfehlers,
ebenso der Umstand, daß die Krankheit in der überwiegenden Mehr¬
zahl der Fälle das weibliche Geschlecht betrifft, da erfahrungsmäßig
die Bildungsfehler überhaupt das weibliche Geschlecht häufiger be¬
treffen als das männliche. Die mechanische Theorie ist kaum im
stände, eine Erklärung dafür zu geben; man muß deshalb Heußner
recht geben, wenn er aus diesem Grunde, wie aus der Erblichkeit
der Hüftluxation die Insuffizienz der Belastungstheorie nachweist.
Diese wenigen Worte mögen genügen, um meinen Standpunkt
in Bezug auf die Aetiologie des Leidens zu kennzeichnen.
Ich gehe jetzt zu meinem Spezialthema über, das sich haupt¬
sächlich mit der Frage beschäftigen soll: Für welche Aetiologie der
kongenitalen Hüftluxation sprechen die Fälle von Mißbildungen resp.
Erkrankungen, welche mit derselben kombiniert Vorkommen?
Diese Fälle von kombinierten Deformitäten bilden nur eine re¬
lativ äußerst kleine Zahl im Gegensatz zu der Häufigkeit der
unkomplizierten angeborenen Hüftluxation.
Ich stelle zunächst in Gruppe I die Fälle zusammen, welche
der Art und Zahl der Mißbildungen nach das Gebiet der Teratologie
erreichen.
Gruppe I.
1. Cruveilhier: Ausgetragener Fötus mit angeborener
doppelseitiger Hüftluxation, Klumpfuß, Klumphand und
Atresie des Afters.
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Ueber die Kombination der angeborenen Hüftgelenksverrenkung etc. 121
2. Voß: Lux. femor. congen. und Inversio vesicae
ur inariae.
3. Grawitz: Männliches Kind mit Bauchspalt, Ektopie
der Leber und des Darmes, Klumpfüßen und Klumphänden,
beiderseitiger Hüftverrenkung, Lordoskoliose der Wirbel¬
säule, Subluxation der Schultergelenke.
4. Grawitz: Spina bifida, leichte Lordose der Lenden¬
wirbelsäule, Luxatio coxae congenita duplex (und Fractura
femoris intra partum acquisita).
5. Grawitz: 8monatliche Frucht mit Ektopie der Bauch¬
eingeweide, Blasenspalt, Diastase der Symphysis pubis,
Spina bifida, Luxatio coxae duplex, Pes varus duplex.
6. Grawitz: 9monatlicher weiblicher Fötus mit Bauchspalt,
Ektopie der Baucheingeweide, Blasenspalt, Diastase der
Symphysis pubis, Spina bifida, Luxatio coxae duplex.
7. Grawitz: Reifer Fötus mit Bauch-, Blasen-, Sym¬
physen- und Lendenwirbelspalt, Klumpfüßen und Luxatio
coxae duplex.
8. Grawitz: Bauch- und Blasenspalt, Diastase der
Symphyse, Vorfall der Baucheingeweide, Skoliose, Luxa¬
tio coxae dextra.
9. Grawitz: Bauch- und Blasenspalt, Vorfall der Ein¬
geweide, Kloakenbildung, Spina bifida, Skoliose, Pes va¬
rus sinister, Luxatio coxae dextra.
10. Teufel: 14jähriger Knabe mit Lux. cox. congen. dextr.
iliaca und Genu recurvat. dextr., angeborener Luxation und
Ankylose im rechten Lisfrancschen Gelenk, angeborener
Luxation im linken Talotarsalgelenke, häutiger Verwach¬
sung der 2. und 3. Zehe beiderseits, Wolfsrachen, rhachiti-
schem Schädel und Unterkiefer.
11. Bachert: ßjähriges Mädchen mit Uterus bicornis uni-
collis, kongenitaler, fistulöser Kommunikation zwischen
Vagina und Rectum, Luxatio coxae congenita duplex.
12. Kirmisson: Junger Mann mit Spina bifida lumbalis,
Luxatio coxae congenita und Pes equinovarus am selben Beine.
13. Lorenz: Luxatio coxae congenita sinister (mit
direkter Anteversion des Schenkelhalses) und Pes varus duplex,
Spina bifida, doppelseitiger Subluxation des Radiusköpfchens
nach vorne.
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Gustav Albert Wollenberg.
14. Holtzmann: Neugeborenes mit Luxatio coxae con¬
genita duplex, Spina bifida sacralis, Klumpfüße.
15. Holtzmann: Fötus mit großer Myelomeningocele sacro-
lumbalis, Luxation beider Hüftgelenke, Bauch-, Becken-
und Blasenspalte, Atresia ani, Agenesie der Genitalien,
linkseitiger Skoliolordose, starken Klumpfüßen beiderseits.
16. Holtzmann: Fötus mit Defekt der rechten Bauch¬
wand, Beckenhälfte und des rechten Beines (geschlossen durch
adhärente Placenta), Luxation des linken Hüftgelenkes, links¬
seitiger Klumpfuß (mit dem Gesäß verwachsen).
17. Holtzmann: Fötus mit rechtseitiger Skoliose, Even¬
tration, Fissura abdominis, Verwachsung der Placenta mit
den Eihäuten, linkseitiger Hüftluxation.
18. Holtzmann: Fötus mit Spaltung der Sakral wirbel¬
bogen, Luxation beider Hüften und Kniegelenke, Herm¬
aphroditismus spurius femininus externus.
19. Kirmisson: lßjähriger Mann mit Lux. coxae congen.
dextra, Spina bifida lumbalis und Pes valgus dexter.
20. Delanglade: Ttägiges männliches Kind. Schwangerschaft
und Geburt normal. Mißbildung der unteren Gesichtspartie
(Makrostomie, Atrophie des Unterkiefers, kleine gestielte Fibrochon-
drome und Fibrolipome zwischen Mund und Ohr; vor dem letzteren
im Niveau des Jochbogens eine Fistel; Mißbildung der Ohren).
Luxatio coxae congen. dextra.
21. Froning: 8— Omonatlicher weiblicher Fötus mit Lux.
cox. congen. sin. (beide Oberschenkel, besonders der linke, stark
auswärts rotiert, flektiert und abduziert). Pes equinovarus dupl.,
rechtsseitige Radiusluxation. Beiderseitige Cy s t e n n i e r en,
Einmündung beider Ureteren in die Vagina, Uterus
bicorn is.
22. Lepage et Große: Neugeborenes (Geburt ohne Besonder¬
heiten, nur scheinbar Fehlen des Fruchtwassers). Luxatio congen.
coxae dextr. mit Hypoplasie der rechten Beckenhälfte und rechts¬
seitiger Kryptorchismus, angeborene Inguinalhernie, doppelseitige
Gaumenspalte, Pes adductus.
Hierzu füge ich einen weiteren, in der Berliner Universitäts¬
poliklinik für orthopädische Chirurgie beobachteten Fall, welcher
von Helbing in der Berliner medizinischen Gesellschaft demonstriert
worden ist.
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Ueber die Kombination der angeborenen Hüftgelenksverrenkung etc. 123
23. 6 Tage altes weibliches Kind (Steißgeburt, Fruchtwasser¬
mangel). Luxatio coxae congen. duplex. Flexionskontraktur
beider Hüftgelenke, Streckkontraktur beider Kniegelenke
(dieselben sind rekurviert und in Valgusstellung; angeborene Ver¬
kürzung beider Beine. Pes varus congen. duplex; Kloaken¬
bildung (After mündet in die Vulva). Spaltbildung des Kreuz¬
beines.
24. Schließlich will ich wegen der Art des komplizierenden
Fehlers an dieser Stelle noch einen Fall anführen, der neben einer
rechtsseitigen Hüftverrenkung eine rechtseitige an¬
geborene Inguinalhernie aufwies (Kind Ch. S.).
Die meisten der hier zitierten Fälle haben wegen der Zahl und
Art der vorhandenen Mißbildungen ein hohes teratologisches Interesse;
was dagegen ihre Bedeutung bezüglich der Aetiologie der Hüftgelenks¬
luxation betrifft, so ist hier, gerade wegen der Multiplizität der
vorhandenen Mißbildungen, dringend Reserve in der Beurteilung
geboten.
Grawitz verwertet seine Fälle bekanntlich derart, daß er die
Ursache der Hüftluxation auf eine Bildungshemmung des Ypsilon¬
knorpels, in Gestalt eines Zurückbleibens in der normalen Ossi¬
fikation, zurückführt, während er die komplizierenden Bildungsfehler,
als Bauch-, Blasenspalt, Spina bifida, mit Wahrscheinlichkeit auch
die Schultergelenksluxation, Klumpfüße und Klumphände, unter die
gleiche Kategorie der Hemmungsbildungen rechnet. Holtzmann,
dessen histologische Untersuchungen denen von Grawitz diametral
entgegengesetzt sind, nimmt für seine Fälle gleichwohl eine Keim¬
störung in Anspruch, welche das zentrale Blastem der Beckenanlage
betrifft, und deren Beginn vor die 6.—7. Woche zu setzen ist.
Kirmisson dagegen ist geneigt, in seinem Falle die Anomalie
des Nervensystems (Spina bifida) für die Mißbildungen der Extremi¬
täten verantwortlich zu machen. Delanglade hält die Mißbildungen
seines Falles für primäre Entwicklungsstörungen, nicht für die Folgen
amniotischer Verwachsungen, während Lepage und Große, die sich
übrigens in ihrem Falle, unter Vernachlässigung der übrigen Mi߬
bildungen, nur auf die Erklärung der Mißbildungen des Beckens und
der unteren Extremitäten beschränken, für die Krümmung der Ober¬
schenkel und die fehlerhafte Haltung der Füße intrauterine Be¬
lastung, für die Hüftluxation und die Beckenasymmetrie eine Ent¬
wicklungshemmung verantwortlich machen.
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124 .
Gustav Albert Wollenberg.
leb möchte jedenfalls die 12 mit Spina bifida komplizierten
Fälle von der Beurteilung für die uns interessierende Frage aus¬
schließen; die übrigen Fälle jedoch kann man, wenn man noch von
Fall 16 und 17, bei denen die Eihäute offenbar eine große Rolle
spielen, absieht, zwanglos in die Gruppe der Bildungsfehler resp.
Bildungshemmungen einreihen.
Im allgemeinen läßt sich aus der Literatur entnehmen, daß die
Autoren, welche in der angeborenen Hüftgelenksluxation eine primäre
Keimstörung sehen, die oben angeführten Fälle für eine Stütze ihrer
Ansicht halten (Krönlein, Schede, J. Wolff u. a.), während die
Verfechter der mechanischen Entstehungsweise der angeborenen
Hüftluxation diesen Fällen wegen der Vielheit der Mißbildungen
keine rechte Beweiskraft zusprechen (Schanz), vielmehr diejenigen
komplizierenden Mißbildungen in den Kreis ihrer Betrachtungen
ziehen, welche sie für Folgeerscheinungen intrauteriner fehlerhafter
Haltung, resp. intrauteriner Belastung ansehen.
Ich werde später noch auf diese Fragen eingehen, nachdem
ich nun diejenigen Fälle zusammengestellt habe, welche meiner An¬
sicht nach als Komplikationen der Hüftverrenkung mit intrauterinen
Belastungsdeformitäten gedeutet werden könnten, und welche also
für die Anschauungen der zuletzt erwähnten Autoren sprechen
könnten.
Diese Fälle betreffen, teilweise multiple, Deformitäten, welche
unter sich so viel Gemeinsames haben, daß sie eine Betrachtung
von einem einheitlichen Gesichtspunkte zulassen. Ich fahre dabei in
der Numerierung fort:
Gruppe II.
25. Sandifort der Jüngere: Junge, skoliotische Person mit
Subluxatio coxae sin., Luxatio coxae dextra iliaca und Pes
varus sin. (derselbe bestand aus Tarsus, Metatarsus und 4 Zehen).
26. Cruveilhier: Totgeborenes Kind mit Luxatio coxae
congen. dupl., Klumphänden , Klumpfüßen.
27. Adams: Hüftluxation und Klumpfuß.
28. Rupprecht: Lux. cox. congen. und Klumpfuß.
29. Barth: Neugeborenes mit Lux. coxae congen. dextr.,
Genu recurvatum congenitum dextrum, Beugekontraktur
der rechten Hüfte.
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Ueber die Kombination der angeborenen Hüftgelenksverrenkung etc. 125
30. Zehnder: lOjähriges Mädchen mit Lux. cox. sin. und
Caput obstipum dextr.
31. J. Wolff: Lux. cox. congen., Klumpfuß, Flughaut¬
bildung.
32. De Forest Willard: öjähriger Knabe mit Lux. cox.
congen. dextr., beiderseitigem Defekt, resp. Hypoplasie
desFemur, Kniebontrakturen, Defekt der linken Patella
und Fibula, Krümmung der Tibia nach vorne, beiderseitigem
Zehen-, rechtseitigem Fingerdefek t.
33. Bar et Lamotte: Neugeborenes männliches Kind mit
Luxatio coxae cong. sin., Flexions- und Adduktionskon¬
traktur des linken Beines.
34. Cautru: Neugeborenes weibliches Kind mit Luxat. cox.
cong. sin., Pes equinovarus duplex.
35. J. Wolff: 9^jähriges Mädchen mit Lux. cox. congen.
dupl., angeborener Luxation des linken Kniegelenkes, will¬
kürlicher Luxation des rechten Kniegelenkes, angeborener
Luxation beider oberen Radiusgelenke.
36. Bernacchi: 15jähriger Knabe mit Lux. cox. cong. dext.,
beiderseitigem Fibuladefekt, Jinkseitigem Femurdefekt,
Pes valgus duplex, Zehendefekte.
37. Sainton: Neugeborenes mit Lux. cox. congen. sin.
(Flexions- und Adduktionsstellung des linken Hüftgelenkes), doppel¬
seitigem Klumpfuß.
38. Sainton: Fötus mit Lux. cox. cong. sin. und doppel¬
seitigem Klumpfuß.
39. Goesche: 7jähriger Knabe mit Lux. cox. congen. dupl.
und Trichterbrust.
40. Lorenz: 6jähriges Mädchen mit Lux. cox. cong. dextr.,
Pes calcaneovalgus dextr.
41. Holtzmann (Fall 1): Fötus mit Lux. cox. cong. dupl.,
Klumpfüßen, Skolio se, hämorrhagischen Infiltrationen
der Dura mater spinal, et cervical.
42. Kirmisson: lOjähriges Mädchen mit Lux. cox. congen.
dupl., ferner Ankylosierung der Finger, Unregelmäßig¬
keiten des Hand- und Fußskeletts, Torticollis.
43. Schanz: Lux. cox. congen. unilateralis, Pes varus
und Pes valgus congen.
44. Hirschberger: 22 Wochen altes männliches Kind mit
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126 Gustav Albert Wollenberg.
Lux. cox. cong. dextr. und einer doppelten kongenitalen
Skoliose.
45. J. Wolff: lOjähriges Mädchen mit Lux. cox. dextr. und
rechtseitigem Klumpfuß.
46. Drehmann: 1 jähriges Mädchen mit Lux. cox. cong.
dextra. mit Genu recurvatum congen. derselben Seite, leichte
Calcaneusstellung des Fußes.
47. Hantke: 7jähriges Mädchen mit Lux. cox. congen.
sin. und Caput obstipum sin.
48. Joachimsthal: 2 Monate altes Mädchen mit Lux. cox.
congen. dextr. und Luxation des rechten Kniegelenkes (der
Tibia nach vorne).
49. Joachimsthal: 6jähriger Knabe mit doppelseitiger
angeborener Hüftgelenksluxation und doppelseitigem
Klumpfuß.
50. Taylor: Lux. cox. congen. dupl. mit Pes varus und
Pes valgus.
51. Vogel: 1 ^jähriges Mädchen mit Lux. cox. congen. sin.,
Hypoplasie der ganzen linken Beckenhälfte und rechtskon¬
vexer kongenitaler Skoliose.
52. Bacilieri: 27jähriger Mann mit Lux. cox. cong. dupl.,
Luxation beider Radiusköpfchen nach vorne, totaler Luxation
der rechten Tibia nach vorne, doppelseitigem Klumpfuße.
53. Wehsarg: 22jähriger Mann mit Lux. cox. cong. sin.
und Subluxation des linken Kniegelenkes.
54. Riedinger: 7jähriger Knabe mit Lux. cox. cong. dextra
(supracotyloidea) und Hypoplasie der rechten Beckenhälfte
sowie Torticollis sinist.
55. Magnus: 4 3 /4 Jahre altes Mädchen mit Lux. cox. congen.
dupl. und kongenitaler Luxation beider Kniegelenke nach
vorne. Schlaffheit und abnorme Beweglichkeit der Hand-, Finger-,
und Zehengelenke.
56. Magnus: 2 *2 jähriger Knabe, Bruder der vorigen Patientin,
mit denselben Fehlern.
57. Magnus: ^jähriger Knabe, Bruder der vorigen Patienten,
mit denselben Fehlern.
58. Ewald: 5jähriges Mädchen mit Lux. cox. congen.
dupl., Torticollis dextr. mit leichtem doppelseitigem Klumpfuß.
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Ceber die Kombination der angeborenen Hüftgelenksverrenkung etc. 127
59. Ewald: 5jähriges Kind mit Lux. cox. congen. dextr.
and Torticollis dextr.
Zu diesen Fällen der Literatur füge ich meine eigenen, dem
Hoffaschen Materiale entstammenden hinzu.
60. W. K., 1 Jahr altes männliches Kind mit Lux. cox.
congen. sin., Streckkontrakturen beider Kniegelenke,
kongenitalen Plattfüßen, kongenitaler Skoliose.
Hereditäre Verhältnisse belanglos. Patient wurde rechtzeitig, an¬
geblich in Steißlage, geboren; die Geburt soll sehr schwer verlaufen
sein (Extraktion an den Füßen). Fruchtwassermenge sehr gering.
Es handelt sich um ein wohlgenährtes Kind von blasser Ge¬
sichtsfarbe. Beide Füße stehen in Valgusstellung. Die Kniee lassen
sich weder aktiv noch passiv beugen, dagegen ein wenig überstrecken.
Das linke Bein ist außenrotiert und ein wenig verkürzt, der Trochanter
major desselben steht oberhalb der Roser-Nelatonschen Linie. Der
linke Schenkelkopf ist nicht in der Pfanne, sondern hinter und ober¬
halb derselben fühlbar. Die Hüftgelenke sind bis auf eine Innen-
rotations- und Abduktionsbeschränkung des linken Beines ohne Be¬
wegungsstörungen. Auch das rechte Bein steht in Außenrotation.
Es besteht ferner eine ziemlich hochgradige Skoliose. Das Röntgen¬
bild ergibt keine Anomalien in der Zusammensetzung der einzelnen
Wirbel, sondern lediglich eine linkskonvexe Krümmung des Dorso-
lumbalteiles mit dem 10. Dorsalwirbel als Scheitelwirbel.
61. F. N., 4jähriges Mädchen mit Lux. cox. cong. sin. und Pes
varus sin. Hereditär nichts Besonderes. Die Mutter gibt an, in den
ersten Schwangerschaftsmonaten ein Trauma erlitten zu haben, in¬
dem sie eine Treppe hinabfiel. Sonst verlief die Schwangerschaft
normal. Auch der Geburtverlauf war normal, nur soll „furchtbar viel“
Fruchtwasser vorhanden gewesen sein. Das Kind wurde mit links¬
seitigem Klumpfuß geboren; die Hüftanomalie wurde erst bemerkt,
als das Kind lief. Der Klumpfuß wurde von der fünften Woche an
behandelt. Derselbe ist jetzt, bei der Vorstellung der Patientin, fast
vollkommen normal. Die Hüftverrenkung zeigt das typische Bild
der Luxatio iliaca.
62. G. S., 2 *2 jähriges Mädchen.
Kind soll eine Steißgeburt gewesen sein. Mit 11 Wochen wurde
es wegen Schief hals operiert.
Es besteht doppelseitige angeborene Hüftverrenkung
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128
Gustav Albert Wollenberg.
(Trochanter maj. rechts 2 V 2 cm, links 2 cm oberhalb der Roser-Ne-
latonschen Linie). Kopf steht oben und hinten von der Pfanne auf
dem Darmbein.
63. L. A., 2^2 jähriges Mädchen.
Kind angeblich 8 Tage zu spät in Steißlage geboren; Geburt
soll schwer gewesen sein. Fruchtwasser, angeblich in normaler
Menge, 2—3 Stunden vor der Geburt abgegangen. Ein rechts¬
seitiger Schiefhals wurde von den Eltern zirka in der vierten
Woche nach der Geburt bemerkt; eine Geschwulst soll am Halse
nicht vorhanden gewesen sein. Nachträglich fiel der Mutter ein,
daß das Kind in den ersten Tagen seines Lebens immer leise wim¬
merte, was sie auf den Schiefhals, der ihrer Meinung nach während
der Geburt entstanden sei, zurückführte. Das linke Ohr soll deut¬
lich höher gestanden haben, als das rechte.
Der Schiefhals wurde mit 3 x /4 Jahren operiert. In der Ver¬
wandtschaft des Vaters wie der Mutter sind trotz eifrigen Forschens
der Eltern angeborene Deformitäten nicht bekannt geworden.
Es besteht doppeiseitige angeborene Hüftverrenkung,
deren Reposition zu Beginn des vierten Lebensjahres vorgenommen
wurde.
64. M. A., 2 V? jähriges Mädchen.
Die Anamnese ergibt, daß die Mutter vor unserer Patientin
ein totes Kind zur Welt brachte; dasselbe soll in Steiß- oder Quer¬
lage sich befunden haben; angeblich ziemlich viel Fruchtwasser.
Unsere Patientin soll in Steißlage geboren sein; die Frucht¬
wassermenge wird als ziemlich reichlich angegeben.
Hereditär ist nichts Besonderes nachweisbar.
Sowie die Mutter aufstand, bemerkte sie an der rechten Hals¬
seite eine „eigroße“ Geschwulst.
Das Kind zeigt eine angeborene doppelseitige Hüftluxa-
tion, welche in der Poliklinik reponiert wird, fernereinen rechts¬
seitigen Schiefhals mit erheblicher Gesichtsasymmetrie; der
Sternocleidomastoideus springt als derber, sehniger Strang vor.
65. J. B., 3 1 /« Jahre altes Mädchen.
In der Verwandtschaft sind sonst keinerlei Mißbildungen vor¬
gekommen.
Kind angeblich in Steißlage zur Welt gekommen; sehr schwere
Geburt.
Es besteht linkerseits angeborene Hüftverrenkung
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Ueber die Kombination der angeborenen Hüftgelenksverrenkung etc. 129
(Trochanter major fast 3 cm oberhalb der Roser-N^latonschen Linie),
ferner rechtseitiger Schiefhals. Der M. sternocleidomastoi-
deus springt stark vor, es besteht eine erhebliche Gesichtsskoliose,
starke Abflachung der rechten Schädelseite.
Gewissermaßen als Uebergang von unserer ersten Gruppe zur
zweiten möchte ich 2 Fälle hier gesondert erwähnen; ich meine die
Fälle von Bernacchi und De Forest Willard. Beide haben
das Gemeinsame, daß sie neben der Hüftluxation mehr oder weniger
ausgedehnte Defekte aufweisen. Gerade für diese Defekte — im
ersteren Falle liegen ein linkseitiger Femurdefekt, totaler doppel¬
seitiger Fibuladefekt, Zehen- und Metatarsaldefekte, im letzteren
beiderseitiger Defekt resp. Hypoplasie des Femur, Patellar-, Fibula-,
Zehen- und Fingerdefekte vor — hat man amniotische Verwach¬
sungen verantwortlich gemacht, eine Aetiologie, die auch, wenigstens
in dem letzteren Falle, zutreffen mag (kongenitale Hautnarbe). In¬
wieweit diese amniotischen Verwachsungen nun auch für die an¬
geborene Hüftluxation in Betracht kommen, ist natürlich schwer zu
entscheiden, auch sind diese Fälle zu selten, um Schlüsse allgemeiner
Natur zuzulassen.
Betrachten wir die übrigen in unserer zweiten Gruppe chrono¬
logisch aufgeführten Fälle nun in einzelnen Gruppen:
Neben der Hüftluxation haben wir Klumpfüße in 14 Fällen
(25, 26, 27, 28, 31, 34, 37, 38, 41, 43, 45, 49, 50, 52, davon 8mal
ohne weitere Mißbildungen (25, 27, 28, 34, 37, 38, 45, 49), lmal
kombiniert mit Klumphänden (26), lmal mit Plattfuß (43), 2mal mit
Skoliose (25, 41), lmal mit Flughautbildung (31), lmal mit Radius-
und Knieluxation (52).
In dieselben Betrachtungen können wir die übrigen Anomalien
der Fußstellung einbeziehen, also die Kombination der Hüftluxation
mit Pes calcaneo-valgus (40), mit Pes valgus (60, der übrigens auch
noch Skoliose und Kniekontrakturen aufweist).
Was meinen Fall 61 betrifft, so ist hier sehr viel Fruchtwasser
vorhanden gewesen, also jedenfalls in der späteren Zeit des intra¬
uterinen Lebens kein Anhaltspunkt für Raummangel zu finden.
Was die Anschauung der einzelnen Autoren betrifft, so will
ich hier nur erwähnen, daß Sa inton in seinen Fällen als Ursache
der Hüftluxation primäre Entwicklungshemmung der Pfanne ansieht.
Auf demselben Standpunkte stehen J. Wolff, Holtzmann, wäh-
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XV. Bd. 9
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130
Gustav Albert Wollenberg.
rend Schanz, wie schon erwähnt, in seinem Falle den gleichzeitigen
Pes varus und valgus congenitus als ein Argument für seine An¬
schauung von der mechanischen Entstehung der Hüftluxation ansieht.
Interessant ist der Fall von Sandifort, weil hier meiner Mei¬
nung nach der Zehendefekt des Klumpfußes auf eine Bildungs¬
anomalie hinweist; die Skoliose berücksichtige ich hier nicht, da ich
nicht weiß, ob es sich um eine angeborene handelt.
Was die kongenitalen Skoliosen betrifft, so finden wir
dieselben 5mal, und zwar 2mal ohne weitere Deformität neben der
Hüftluxation (44 und 51).
Der bekannte Fall von Hirschberger betraf ein neugeborenes
Kind mit starker Torsion der skoliotischen Wirbelsäule, ohne Bil¬
dungsanomalie der Wirbel. Die linke Beckenschaufel war kleiner,
als die rechte; das luxierte Bein befand sich in starker Adduktions¬
kontraktur. Hirschberger faßte die gesamten Anomalien als
intrauterine Belastungsdeformitäten auf. Vogel steht für seinen
Fall auf demselben Boden; auch hier war eine gleichzeitige Hypo¬
plasie der Beckenhälfte des luxierten Schenkels vorhanden.
Was die Kombination mit Trichterbrust (Fall 39) betrifft, so
wird dieselbe von Go es che auf eine „angeborene“ Ursache zurück¬
geführt.
Viel wichtiger für die Aetiologie sind natürlich diejenigen Fälle,
wo wir Anhaltspunkte für eine Belastung des Oberschenkels
selbst haben, wo also Hüft- und Kniekontrakturen, Knie¬
gelenksluxationen etc. vorliegen.
Für gewöhnlich werden die Beugekontrakturen des Kniegelenkes
als intrauterine Belastungsdeformitäten aufgefaßt, ebenso die Streck¬
kontrakturen; allein auf der anderen Seite muß man annehmen, daß
auch eine fehlerhafte Haltung die Folge des Bestehens abnormer Ver¬
hältnisse in den Knie- und Hüftgelenken des Fötus sein kann (Hoffa).
Wehsarg (Fall 53) gibt an, daß in seinem Falle die unteren
Extremitäten, im Knie überstreckt, im Hüftgelenke stark flektiert, von
den über den Unterschenkeln gekreuzten Armen festgehalten wurden.
Bei der Entwicklung des Kindes (Zug am rechten Oberschenkel) sei
„unter vernehmbarem Krachen eine Dislokation des oberen Endes
des Oberschenkels, die ich als Luxation nach vorne ansehen mußte“,
eingetreten *).
J ) W. hält es daher für möglich, daß sein Fall ein traumatischer ist,
eine Aetiologie, der ich nimmermehr bcipflichten kann; ich halte es für
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Ueber die Kombination der angeborenen Hüftgelenksverrenkung etc. 131
Mein Fall 60, der neben der linksseitigen Hüftluxation Streck -
kontrakturen beider Kniee, beiderseitige Plattfüße und eine ange¬
borene Skoliose zeigt, spricht zwar für intrauterine Raumbeengung,
denn es wird eine ungünstige Kindeslage und Fruchtwassermangel
angegeben, allein es ist nicht recht zu verstehen, warum hier nicht
auch auf der rechten Seite eine Hüftluxation eingetreten ist, da
doch beide Beine sonst ganz gleiche Veränderungen zeigen, also
anzunehmen ist, daß der Druck auf beide untere Extremitäten in
derselben Lage gewirkt hat.
Bei der Wichtigkeit, die den abnormen Haltungen der Ex¬
tremitäten des Fötus in utero für das Zustandekommen der Hüft¬
luxation zugemessen wird, hat man natürlich bei früh beobachteten
Fällen sorgfältig auf etwaige Haltungsanomalien geachtet. Nun hat
aber Holtzmann sowohl an seinem Materiale, als auch an dem von
Grawitz, soweit sich die Haltung nach der Beschreibung rekon¬
struieren ließ, durchaus nicht die von Dupuytren oder Roser
postulierte Haltung, Flexion resp. Adduktion der Extremitäten ge¬
funden. Von entgegengesetzten Angaben betreffend die Beinhaltung
neugeborener Föten mit Hüftluxation erwähne ich noch die von
Sainton, der bei seinem einen Fall (37) Flexion und Adduktion im
Hüftgelenke fand, ferner von Cruveilhier, der an einem tot¬
geborenen Kinde mit doppelseitiger Hüftluxation mit Klumphänden
und Klumpfüßen (Fall 26) Strecksteilung der Unterschenkel zu den
Oberschenkeln fand, während die beiden Füße sich gegen den Unter¬
kiefer stemmten. Bar und Lamotte fanden bei ihrem Falle (33)
Flexions- und Adduktionskontraktur an dem von der Hüftverrenkung
betroffenen Bein. Barth (29) fand bei seinem Falle von Lux. cox.
cong. dextr. und Genu recurvat. dextr. zugleich eine Beugekon¬
trakturstellung der rechten Hüfte. Bei der Mehrzahl unserer hier
in Betracht kommenden Fälle von Genu recurvatum resp. Luxation
des Kniegelenkes können wir uns natürlich leicht rekonstruieren,
welche Lage der Fötus im Uterus eingenommen hat, und es ent¬
sprechen diese Lagen tatsächlich einer Stellung, in welcher eine
plausibler, in derartigen Fällen (cf. Narath) eine bestehende Luxation
oder Subluxation des Femurkopfes anzunehmen; ein starker Zug am Ober¬
schenkel vermag natürlich den Kopf an oder sogar eine Strecke über den
Pfannenrand zu bringen, geht der Kopf wieder in seine fehlerhafte Lage zu¬
rück, so können natürlich die akustischen Phänomene, welche wir bei unseren
Einrenkungsmanövern so oft hören, vernehmbar sein.
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132
Gustav Albert Wollenberg.
intrauterine Raumbeschränkung am ehesten eine Hiiftluxation er¬
zeugen müßte, nämlich Hyperflexion oder Hyperflexion und Adduktion
im Hüftgelenke.
Diese Argumente machen einen sehr überzeugenden Eindruck
und sind verlockend genug, da die mechanische Theorie, wenn sie
erwiesen wäre, uns von den großen Rätseln, welche die Theorie der
primären Bildungsfehler umgeben, mit einem Schlage befreien würde.
Allein es gibt zu viel Gegengründe, die mich nicht einmal an
die eben angenommene mechanische Deutung der mit scheinbar ty¬
pischen Belastungsdeformitäten komplizierten Hüftluxationen glau¬
ben lassen.
Den einen Grund hierfür hebt Schanz selbst hervor: „Diese
Fälle“ (d. h. solche von Kombination der angeborenen Hüftverren¬
kung mit anderen intrauterinen Belastungsdeformitäten) „sind jedoch
die Ausnahmen. Warum sie nicht die Regel darstellen, warum
Klumpfüße, welche die deutlichsten Zeichen der allgemeinen intra¬
uterinen Raumbeschränkung tragen, in der Regel bei ganz normalen
Hüften beobachtet werden, ist die mechanische Theorie außer stände,
zu erklären.“
Auch Lud 1 off scheint es wunderbar, „daß bei der exponierten
Stellung der Hüfte im Mutterleibe nicht mehr Hüftluxationen ent¬
stehen. Wir müssen,“ fährt er fort, „immer noch eine größere
Nachgiebigkeit des Pfannenbodens oder der Kapsel annehmen, um
das Ueberschreiten der physiologischen Breite begreifen zu können.“
Lorenz supponiert in seinem ersten Werke aus ähnlichen Er¬
wägungen eine gewisse Nachgiebigkeit, Plastizität des hinteren
Pfannenrandes neben geringer Höhe desselben, wobei er besonders an
Rhachitis denkt.
Aus ähnlichen Gründen, besonders aber, weil der angenommene
Uterusdruck nicht nur auf das distale Ende des Femur, sondern
auch auf den Trochanter major wirken, also den Kopf in die Pfanne
hineindrücken müßte, nimmt Hirsch die Wachstumsenergie des
fötalen Femur zu Hilfe, um die Entstehung der Luxation zu erklären.
Wir sehen also, daß die Verfechter der mechanischen Theorie
eine gewisse krankhafte Disposition des Hüftgelenkes zur Erklärung
heranzuziehen geneigt sind.
Bedenkt man, daß die wenigen Fälle, welche ich in dieser Ar¬
beit aus unserem Materiale veröffentliche, aus einem großen Materiale
stammen (das nahe an die Zahl 1000 reicht), bedenkt man weiter,
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Ueber die Kombination der angeborenen Hüftgelenksverrenkung etc. 133
aus welch einem Riesenmateriale der Literatur über Hüftverrenkung
entnommen, die wenigen hier beigebrachten scheinbaren Belastungs¬
dokumente stammen, so muß selbst der begeistertste Anhänger der
mechanischen Theorie schwankend werden. Wäre die angeborene
Hüftverrenkung auf mechanische Kräfte zurückzuführen, sollten sich
bei der relativen Häufigkeit des Leidens da nicht mehr Spuren der
intrauterinen Raumbeschränkung finden lassen? Nun gibt Schanz
an, daß er fast regelmäßig Drucklinien, welche die gegen den
Thorax gepreßten Arme auf letzteren zurückgelassen haben sollen,
bei Kindern mit angeborener Hüftluxation gesehen habe; dies sei
eben ein Ausdruck der allgemeinen intrauterinen Raumbeschränkung.
So viel ich auch bei unserem großen Materiale seit 1 */* Jahren ge¬
rade auf diese Drucklinie achte, so habe ich eine solche doch nicht
zu sehen bekommen. Auch mein Chef, Herr Geheimrat H o f f a, hat
nichts dergleichen gefunden. Ludloff will sie einmal beobachtet
haben, während Ewald sie ebenfalls nicht gesehen hat. Auch wäre
bei einer wirklichen Raumbeschränkung, die zur Hüftluxation führt,
wahrscheinlich mehr zu erwarten, wie der Ausdruck einer geringen
Anpressung der Arme an den Thorax.
Ich habe aber bedeutend schwerer wiegende Argumente gegen
eine mechanische Entstehung der Hüftluxation beizubringen. Ich
habe aus der Literatur und aus eigener Beobachtung Fälle anzu¬
führen, welche alle Merkmale einer starken intrauterinen
Raumbeengung aufzuweisen hatten, und zwar bei starker
Flexion resp. Adduktion der Oberschenkel, also in einer Stel¬
lung, die einer mechanischen Luxierung der Hüftgelenke denkbar
günstig war. Ich weise z. B. auf die Fälle von Genu recurvatum
congenitum hin; da die angeborene Knieluxation resp. das Genu
recurvatum congenitum bedeutend seltener ist als die angeborene
Hüftluxation, müssen die Anhänger der mechanischen Theorie an¬
nehmen, daß bei einer Lage des Fötus, wo die Hüften maximal ge¬
beugt, die Kniee gestreckt sind, viel leichter eine Hüftluxation, als
eine Knieluxation eintritt, also müßten die Fälle von Kombination
der Knieluxation mit Hüftluxation bei weitem die überwiegen, in
denen lediglich Knieluxationen vorhanden sind. Das ist aber nicht
der Fall. Vielmehr kommen unter den bisher beschriebenen 137 Fällen
von angeborener Kniegelenksluxation nur etwa 18 Fälle von kom¬
binierter Knie- und Hüftluxation vor. Weiter kommen hier die
kongenitalen Knie- und H üftkontrakturen in Betracht.
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134
Gustav Albert Wollenberg.
Einige wenige Fälle mögen folgen:
Knauer: Neugeborenes Mädchen mit doppelseitigem Plattfuß,
doppelseitiger Luxation der Tibia nach vorne und verringerter Be¬
weglichkeit in den Hüftgelenken, insofern als die vollkommene
Streckung und die Abduktion eingeschränkt ist.
Es lag hier also sicher eine Adduktion und Flexion des Hüft¬
gelenkes vor, und die intrauterine Belastung müßten die Verfechter
der mechanischen Theorie hier doch für die verschiedenen Deformi¬
täten verantwortlich machen 1 ).
Wir beobachteten hier folgende Fälle:
W. K. (Pol. Journ. Nr. 18 393), Vijähriger Knabe mit kon¬
genitalen Kniekontrakturen leichten Grades und mit rechtseitigem
Torticollis.
H. R. (PoL Journ. Nr. 12 066), 13tägiger Knabe mit an¬
geborenen Flexionskontrakturen beider Hüft-, Knie- und Fußgelenke.
Besonders der letztere Fall spricht für die Theorie des Keim¬
fehlers ; die Mutter des Patienten leidet an Luxatio coxae congenita
sinistra.
Ferner führe ich hier einen von Helbing demonstrierten Fall
unserer Poliklinik an:
Kind H. Sch., 1 ^jähriges Mädchen mit Beuge- und Adduk¬
tionskontrakturen in der Hüfte, rechtwinkliger Beugung und starker
Valgussteilung des linken Knies, Varusstellung und rechtwinkliger
Beugekontraktur des rechten Knies. Rechtseitiger Spitzfuß mit
kongenitaler Narbe, linkseitiger hochgradiger Klumpfuß. Eine Pa¬
tella ist nicht mit Sicherheit nachweisbar.
Also auch hier handelt es sich um die Wirkung intrauteriner
Raumbeschränkung, wahrscheinlich nach Fesselung der unteren Ex¬
tremitäten durch amniotische Verwachsungen (Narbe). Wie erheblich
der Druck gewesen sein muß, ergibt die Konfiguration des Kindes;
und doch blieben beide Hüftgelenke intakt.
Diese wenigen Beispiele mögen genügen, obwohl ich glaube,
daß sie sich leicht erheblich vermehren ließen.
Als Resumö dieser meiner Betrachtungen möchte ich hier noch¬
mals meiner Ueberzeugung Ausdruck geben, daß ein normales
Hüftgelenk selbst bei starker Belastung des flektierten
0 Weitere Falle von Solmsen und Magnus übergehe ich hier, da die
Geschichte und Natur derselben ohne weiteres mehr zur Annahme einer pri¬
mären Mißbildung, als einer intrauterinen Belastung zwingen.
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Ueber die Kombination der angeborenen Hüftgelenksverrenkung etc. 135
und adduzierten Oberschenkels gegen eine Luxation
bis zu hohem Grade gesichert ist; wirkt eine Kraft von
relativ früher Zeit an kontinuierlich im Sinne einer Luxierung des
Schenkelkopfes, so mag letztere ja einmal eintreten können, obwohl
ich den Fall für sehr selten halte. Ich werde noch einmal hierauf
zurückkomraen; es müssen meiner Meinung nach eben ganz be¬
sondere Verhältnisse vorliegen, um infolge mechanischer Einwir¬
kungen ein Hüftgelenk zur Luxation zu bringen; diese Verhältnisse
liegen meist im Hüftgelenke selbst, nämlich in einer primären
Keimstörung. Nur in überaus seltenen Fällen ist eine Schwäche
des ligamentösen Apparates zu beschuldigen; diese fiele aber
auch unter den Begriff des kongenitalen Bildungsfehlers. Hierher
gehören folgende Fälle:
J. Wolff: 9^jährige Patientin mit fixierter doppelseitiger
angeborener Hüftluxation und angeborener Luxation des linken Knie¬
gelenkes, willkürliche Luxation des rechten Kniegelenkes, bewegliche
angeborene Luxation der beiden oberen Radiusgelenke; außerdem ab¬
norm weiter und nachgiebiger Kapsel- und Bandapparat der meisten
Gelenke (Gruppe II, Fall 35).
Wolff führt diese Deformitäten, auch die angeborene Hüft¬
luxation — meiner Meinung nach mit Recht — auf eine angeborene
Kapselerweiterung zurück.
Weiter möchte ich hierzu einen Fall von Drehmann und die
3 interessanten, von Magnus veröffentlichten Fälle rechnen:
Drehmann: 5 ,4 Jahr alter Knabe mit Lux. cox. congen. dextr.
und abnormer Schlaffheit fast sämtlicher Gelenke.
Die Fälle von Magnus (55—57) habe ich in der 2. Gruppe
bereits zitiert; hinzufügen will ich hier noch, daß hereditäre Momente
fehlten. Eine ältere Schwester der 3 ganz dasselbe Krankheitsbild
zeigenden Geschwister war normal. Die Geburt der beiden älteren
Patienten geschah in Steißlage, die Beine nach oben geschlagen,
während die des letzten normal verlief, alles Momente, welche mehr
auf einen Keimfehler, als auf Belastungsursaclie hinweisen. Magnus
hält seine Fälle ebenfalls für „durch gemeinsame Störungen ange¬
borener Art“ entstanden, läßt daneben aber auch mechanische Mo¬
mente gelten.
Ein weiteres disponierendes Moment hat man in einer pri¬
mären krankhaften Weichheit und Nachgiebigkeit des
fötalen Knochens gesucht, worauf wir hier nicht eingehen wollen*
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136
Gustav Albert Wollenberg.
da es bekannt ist, wie weit wir noch von der Lösung der Frage
betr. die fötale Rhachitis entfernt sind.
Als letzte Fälle unserer Gruppe haben wir jetzt noch die mit
Torticollis kombinierten zu besprechen.
Es ist bekannt, daß man den angeborenen Schiefhals mit den
verschiedensten anderen Mißbildungen beobachtet hat, so mit an¬
geborenen Klumpfüßen, Radiusdefekt, Muskeldefekten, Polydaktylie,
Fingerdefekten, Strabismus congen., Hasenscharte. Man hat diese
Fälle gewöhnlich als Beweise für die Keimfehlerätiologie des
Torticollis benützt. Auch wir haben neben unseren Fällen von
Torticollis mit Hüftluxation auch einen mit Kniekontrakturen, den
ich eben erwähnte, beobachtet.
Joachimsthal gibt an, Kombinationen von Luxation mit
Torticollis 3mal beobachtet zu haben, und zwar sowohl auf derselben
als auch auf der entgegengesetzten Seite.
In dem Fall von Zehn der (30) ist eine Angabe über den
Geburtsverlauf nicht vorhanden; Verfasser hält die Affektionen für
„ kongenitale“.
Ebenso Hantke, dessen Fall (47) in Schädellage geboren
wurde; Heredität nicht vorhanden, der Torticollis wurde seit der
Geburt bemerkt.
Während Riedinger in seinem Falle (54) die Hüftluxation,
Beckenhypoplasie und den gleichseitigen Schiefhals als gleichwertig,
als Folge intrauteriner Belastung ansieht, ist Kirmisson geneigt,
in seinem Falle (42) den Torticollis als zufällig, durch ein Geburts¬
trauma entstanden, anzusehen. Bei meinen 4 Fällen sind schwere
Geburten, und zwar Steißgeburten, notiert. In einem Falle (64)
wurde bald nach der Geburt eine Geschwulst des Kopfnickers fest¬
gestellt. Die beiden Fälle von Ewald (58 und 59) waren eben¬
falls Steißgeburten; Ewald schließt aus seinen Fällen auf eine
intra partum stattgefundene Zerreißung des durch intrauterine Be¬
lastung entstandenen Schiefhalses.
Für meine Fälle möchte ich die Frage eines Zusammenhanges
zwischen der Hüftluxation und dem Torticollis offen lassen; gleich¬
wohl neige ich mich hier eher der Kirmisson sehen Auffassung
zu, wonach der Schief hals dann als von der Hüftluxation unabhängig
anzusehen wäre. Ich gebe aber zu, daß das Zusammentreffen beider
Affektionen ein auffallend häufiges ist. Ich nehme umso eher Ab¬
stand davon, hier auf diese Fragen näher einzugehen, als ich glaube,
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lieber die Kombination der angeborenen Hüftgelenksverrenkung etc. 137
daß der Schiefhals sich nicht im entferntesten so gut eignet, aus
seiner Kombination mit Hüftverrenkung auf eine Belastungsätiologie
der letzteren zu schließen, wie etwa die Knieluxationen sowie die
Knie- und Hüftkontrakturen. Nichtsdestoweniger füge ich hier noch
einen Fall bei, welcher mir für diese Frage nicht uninteressant
scheint:
Maaß: Neugeborenes, sehr kleines Mädchen; Geburt in Schädel¬
lage. Das Kind wies eine Myelocystocele und ein Caput obsti-
pum mit großer, fibröser Geschwulst des Kopfnickers auf. Die
Mutter hat eine doppelseitige Hüftluxation *).
Ich gehe nun zu einer Gruppe von Patienten über, die ich
in der Aufzählung des Gesamtmateriales nicht mit aufgeführt habe,
weil es sich bei der mit der Hüftluxation gleichzeitig vorhandenen
Krankheit nicht um eine Deformität handelt, sondern mehr um
ein zu Deformitäten führendes Leiden nervöser Natur. Ich meine
die Littlesche Krankheit.
Diese Fälle beanspruchen unser Interesse natürlich von einem
ganz anderen Standpunkt aus, als die bisher beschriebenen. Ich
führe diese Gruppe hier also nur an, einmal, um unser Material
vollständig wiederzugeben, zweitens wegen des hohen praktischen
und wissenschaftlichen Interesses, das die Frage darbietet: Kann
durch die Spasmen der Adduktoren des Oberschenkels bei der
Lifctleschen Krankheit eine Hüftluxation entstehen, und wie ist
dieselbe von der angeborenen Luxation sensu strictiori zu unter¬
scheiden ?
Ohne auf die alten antagonistischen Theorien bezüglich der
Hüftluxation einzugehen, will ich hier auf den einen Fall Ludloffs
hinweisen, der eine Kombination von Littlescher Krankheit und
*) Der Deutung, die Maaß seinem Fall gibt, kann ich mich nicht an¬
schließen ; er hält den Schiefhals für eine intrauterine BelastungsdeformiUit und
glaubt, in seinem Falle Anhaltspunkte für die Annahme mütterlicher Becken-
enge zu haben. Ich meine, hier liegt die Versuchung nahe, Bildungsstörungen
sowohl im Sternocleidomastoideus als in der Wirbelsäule anzunehmen, vielleicht
infolge einer erblichen Disposition zu Keim- oder Bildungsstörungen. Sei dem,
wie ihm wolle, die Annahme mütterlicher Beckenenge bei doppelseitiger Hüft-
kxation ist ungerechtfertigt, da Luxationsbecken meist vorzügliche Geburts¬
becken sind.
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138
Gustav Albert Wollenberg.
Hüftluxation zeigte. Aus der röntgographisch festgestellten fehlen¬
den Verdickung des Pfannenbodens im Bereiche des Pfannendaches,
aus dem Fehlen des doppelt konturierten vorderen unteren Pfannen¬
daches schließt Ludloff, daß hier die Luxation nach der Geburt
entstanden sei, da durch die stetige Adduktion und Flexion der
Kopf stetig gegen den hinteren oberen Pfannenrand gedrückt wird.
Ich kann nun über 4 Fälle von Little und angeborener
Luxation berichten, von denen ich aber leider nur zwei Röntgen¬
bilder besitze.
Hüftluxation und Littlesche Krankheit.
1. M. W., 3*2 Jahre altes Mädchen.
Kind wurde im 7. Monat als Zwillingskind geboren, wog
2*4 Pfund; es soll in Bezug auf die Haare und Nägel ganz gut
ausgebildet gewesen sein, auch ganz kräftig geschrieen haben. Es
mußte 9 Wochen in der Wärme wanne gehalten werden. Die Hal¬
tung der Arme und Beine soll in den ersten 1 */* Jahren, wo das
Kind mit Ammenmilch ernährt wurde, annähernd normal gewesen
sein; darauf sollen sich dann allmählich die Störungen in der Be¬
wegungsfähigkeit, die jetzt vorhanden sind, ausgebildet haben.
Mäßig kräftiges Kind. Strabismus. Hochgradige Sprach¬
störung. Intelligenz etwas gestört. Rechter Arm annähernd normal,
linker zeigt Beugestellung im Ellenbogengelenke, Pronationsstellung
der Hand. Bewegungen spastisch.
Knie in Beugestellung, Füße in Plattfußstellung. Adduktoren
zeigen starke Spasmen und setzen Spreizbewegungen lebhaften Wider¬
stand entgegen. Kind kann weder gehen, noch stehen, noch sitzen.
Ferner besteht eine doppelseitige Hüftverrenkung.
2. E. B., 4*2 Jahre altes Mädchen.
Siebenmonatskind, kam asphyktisch zur Welt. 2 andere Kinder,
von denen eines vor, eines nach der Patientin geboren wurde, sind
ganz gesund. Während der Schwangerschaft will die Mutter, die
sonst stets gesund war, öfters ziehende Schmerzen in den Beinen
gehabt haben. Vater vor 10 Jahren lungenleidend gewesen, sonst
angeblich stets gesund.
Die Störung in der Bewegungsfähigkeit und die Intelligenz¬
schwäche wurden von den Eltern sehr früh bemerkt. Von sonstigen
Erkrankungen hat Patientin Masern, Varicellen und einmal einen
nässenden Ausschlag auf dem Kopfe gehabt.
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Ueber die Kombination der angeborenen Hüftgelenksverrenkung etc. 139
Patientin ist ein gut genährtes Kind. Kopf auffallend groß.
Strabismus convergens leichten Grades. Gang schwerfällig, spastisch,
mit gebeugten Hüft- und Kniegelenken. Bei Rückenlage sind die
Oberschenkel stark adduziert, Spreizfähigkeit äußerst gering. Dabei
fallt die starke Spannung der Adduktoren auf, ebenso der Flexoren.
Beiderseits Hochstand der Patella. Geringer Spitzfuß. Obere Ex¬
tremitäten sind schwach, aber frei von Spasmen.
Intelligenz gering.
Außerdem besteht eine doppelseitige Hüftgelenks Verrenkung.
Fig. 1.
Der Trochanter major überragt die Roser-Nelatonsche Linie links
um 4, rechts um 5 cm.
Das Röntgenbild (Fig. 1) wird weiter unten besprochen werden.
3. A. Z., 5 Jahre alter Knabe, (cf. Gläßner, Die Littlesche
Krankheit. Ztschr. f. orth. Chir. Bd. XIII, S. 554.)
Normale Geburt im 9. Monat nach normaler Schwangerschaft.
Kind soll an epileptischen Anfällen leiden.
Intelligenz normal.
Obere Extremitäten frei, untere zeigen Spasmen, links etwas
stärker als rechts. Hochgradige ßeugekontrakturen der Kniee.
Starke Adduktorenspannung, wodurch die Beine beim Stehen ge¬
kreuzt werden. Füße in Equinusstellung. Doppelseitige Hüftver¬
renkung.
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140
Gustav Albert Wollenberg.
4. Gr. W., 3jähriges Mädchen.
Eltern angeblich gesund.
Kind rechtzeitig geboren, Geburt leicht und normal. Kindes¬
lage unbekannt. Die Fruchtwassermenge soll „ nicht allzu reichlich“
gewesen sein. Das ursprünglich kräftige Kind wurde im Alter von
3 Monaten im Kaiser Friedrich-Krankenhaus zu Berlin wegen „Aus¬
schlag“ behandelt. Als das Kind 1 Jahr alt war, merkten die
Eltern die Bewegungsstörung der Beine. Patientin ist von mäßigem
Ernährungszustand. Oberschenkel stark adduziert und etwas ein-
Fig. 2.
wärts rotiert. Abduktionsbewegungen aktiv und passiv sehr ein¬
geschränkt. Gang der Patientin spastisch. Kein Strabismus. Obere
Extremitäten normal.
Linkerseits besteht ein ganz geringer Trochanterhochstand.
Die Verschieblichkeit des Schenkelkopfes ist eine äußerst geringe.
Der letztere ist im Niveau der Pfanne fühlbar.
Das Röntgenbild (Fig. 2) zeigt eine geringe Subluxation des
linken Schenkelkopfes.
Diagnose: Littlesche Krankheit. Subluxation der linken Hüfte.
Betrachten wir nun die beiden uns hier zur Verfügung stehen¬
den Röntgenbilder, so erkennen wir sofort an den Konturpausen,
daß es sich um zwei verschiedene Typen handelt.
Fig. 1 (Fall 2) weist ein überaus hochgradiges Luxationsbecken
auf: die Pfannendächer sind absolut flach und gehen fast unmerklich
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Ueber die Kombination der angeborenen Hüftgelenksverrenkung etc. 141
in die seitliche Begrenzung der Darmbeine über; der Pfannenboden
ist verdickt. Die Schenkelköpfe stehen hoch oben auf dem Darmbein.
Fig. 2 (Fall 4) dagegen zeigt eine geringe Subluxation der
linken Hüfte, während die Pfanne nur geringe Anomalien gegenüber
einer normalen auf weist. Auch die Femurköpfe zeigen kaum Ver¬
änderungen. Der linke Oberschenkel steht in Adduktion und Innen¬
rotation.
Bei der Betrachtung dieser beiden Fälle muß man sich daran
erinnern, daß es sich um Patienten verschiedener Altersstufen handelt
(Fall 2 ist 1^2 Jahr älter als Fall 4), gleichwohl bin ich geneigt,
in Fig. 1 eine richtige kongenitale Hüftluxation zu erblicken, deren
Komplikation mit Littlescher Krankheit ich für zufällig erachte,
in Fig. 2 dagegen glaube ich eine infantile Subluxation des einen
Oberschenkels annehmen zu dürfen, wie Ludloff dies auf Grund
seines Falles getan hat. Als Ursache dieser Subluxation sehe ich
mit Ludloff die Muskelspasmen an, welche, bei paretischer Be¬
schaffenheit der Antagonisten, stets gleichmäßig in demselben Sinne
wirkend, durch Adduktion, Flexion und Innenrotation den Kopf
von der Pfanne entfernen.
Da mir für Fall 1 und 3 keine Röntgenbilder vorliegen, muß
ich mich einer Deutung der Fälle enthalten.
Fasse ich nun noch einmal zum Schlüsse meiner Abhandlung
meine Ansicht über das beigebrachte Material zusammen, so komme
ich zu folgenden Thesen:
1. Die Fälle von angeborener Hüftluxation, welche mit den in
Gruppe I aufgeführten Deformitäten kombiniert sind, lassen sich bei
Vernachlässigung der mit Spina bifida komplizierten zwar am un¬
gezwungensten mit der Annahme einer für alle die
Deformitäten gleichen dunklen Ursache, des primären
Keimfehlers erklären, absolute Beweiskraft haben sie aber wegen
der Multiplizität der Deformitäten, welche die Beurteilung erschwert,
meist nicht.
2. Die Fälle der Gruppe II scheinen teilweise für intrauterine
Belastungsmomente zu sprechen, besonders in den Fällen, bei welchen
eine intrauterine Flexion und Adduktion im Hüftgelenke wahrscheinlich
oder sicher bestanden hat, gleichwohl ist es plausibler, in der
fehlerhaften Haltung der Gliedmaßen eher einen Aus-
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Gustav Albert Wollenberg.
druck der durch gemeinsame primäre Gelenkanomalien
bedingten Funktionsstörung zu sehen; das in seiner Funk¬
tion schwer geschädigte Glied vermag sich raumbeengenden Einflüssen
nicht mehr zu entziehen; dabei lasse ich es dahingestellt sein, ob
ein Teil von Anomalien auf Konto der so entstehenden sekundären
intrauterinen Belastung zu setzen ist.
3. Es finden sich genügend Fälle, welche ihrer Konfiguration
nach denkbar günstige Verhältnisse für eine mechani¬
sche intrauterine Luxierung des Hüftgelenkes darbieten*
ohne daß es zur Luxation kommt. Dieses, sowie der Umstand,
daß bei weitem die meisten Hüftluxationen keine Spuren
intrauteriner Belastung darbieten, spricht für die Aetio-
logie des primären Keimfehlers.
4. Unsere Falle von Hüftgelenksluxation und Torticollis sprechen eher
für ein zufälliges Zusammentreffen als für eine gemeinsame Entstehungsursache.
5. Bei unseren Fällen von Hüftluxation und Littlescher Krankheit ist
in einem Falle ein zufälliges Zusammentreffen, in einem anderen die Annahme
einer sekundären Hüftgelenksluxation (also nicht einer kongenitalen sensu
strictiori) wahrscheinlich, letztere ist von ersterer deutlich durch das Röntgen¬
bild zu unterscheiden.
Kurz nachdem ich die vorliegende Arbeit in den Druck ge¬
geben hatte, kam mir die Ewaldsche Arbeit aus der Vulpiusschen
Klinik in die Hände; sie behandelt dieselben Fragen, wie meine
Arbeit, verwertet jedoch alle sich ergebenden Momente im Sinne der
Belastungstheorie. Obwohl ich ursprünglich nicht die Absicht hatte,
auf alle Argumente, die für die Theorie des primären Keimfehlers
und gegen die ßelastungstheorie sprechen, näher einzugehen, kann
ich es mir angesichts dieser Arbeit doch nicht versagen, in mög¬
lichster Kürze die Betrachtungen Ewalds einer Kritik zu unter¬
ziehen.
1. Ewald führt zu Gunsten der Belastungstheorie die Kom¬
bination der Hüftluxation mit einer zweiten Anomalie an, die »ein¬
stimmig als meist durch eine abnorme intrauterine Belastung ent¬
standen angesehen“ wird. Er nennt als solche Torticollis, Pes varus,
Genu recurvatum, Coxa vara.
Was den Torticollis betrifft, so kann von einer »Einstimmig¬
keit“ in Bezug auf die Erklärung der Aetiologie nicht die Rede
sein. Ich will hier nicht näher auf die einzelnen Theorien eingehen,
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lieber die Kombination der angeborenen Hüftgelenksverrenkung etc. 143
sondern nur hervorheben, daß die meisten Autoren an der Einheit¬
lichkeit der Aetiologie berechtigte Zweifel hegen. Die gar nicht so
selten vorkommende Vererbung macht „die gelegentliche Ent¬
stehung des Leidens auf Grund einer fehlerhaften Keimanlage
zweifellos* (Joachimsthal). Daß der Torticollis congenitus auch
als Belastungsdeformität Vorkommen kann, ist anzunehmen. Ich muß
speziell in Bezug auf die Kombination von Hilftluxation und Torti¬
collis auf den diesbezüglichen Teil meiner Arbeit verweisen.
Auch bezüglich des Pes varus gilt dasselbe; so sicher, wie
er als Belastungsdeformität Vorkommen kann, so sicher müssen wir
auch an seiner Entstehung durch fehlerhafte Keimanlage festhalten,
wenn letztere Aetiologie auch wohl die seltenere ist; anatomische
Anomalien, eigenartige erbliche Verhältnisse und die Kombination
mit anderen Deformitäten legen das nahe. Und wenn auch im
Einzelfalle, besonders bei den uns interessierenden Kombinationen,
die Entscheidung zwischen beiden Aetiologien eine schwierige, ja
oft unmögliche sein kann, so muß man doch auch daran denken,
daß bei einer durch primäre Gelenkanomalien verursachten Be¬
wegungsstörung es zu sekundären Druckerscheinungen, die wohl
auch in einem Pes varus bestehen können, kommen kann, daß wir
also dann mehrere Deformitäten von verschiedener Aetiologie vor
uns haben.
Was die Kombination der Hüftluxation mit dem Genu recur-
vatum betrifft, so habe ich dieselbe in Bezug auf das gegenseitige
Verhältnis in dieser Arbeit genügend berücksichtigt.
Wenn schließlich Ewald behauptet, daß Hoffa seine Fälle
von einseitiger Coxa vara congenita mit Hüftluxation der anderen
Seite auf intrauterinen Raummangel zurückführt, so weiß ich nicht,
woraus dieser Schluß gezogen wird; Hoffa sprach in seinem dies¬
bezüglichen Vortrag nur von kongenitalem Ursprung der Anomalien
und steht für diese Form der angeborenen Coxa vara durchaus auf
dem Standpunkte der Keimfehlertheorie. Gerade die in einem Falle
nachgewiesene anatomische Anomalie des Schenkelkopfes und -halses
ist hierfür als Beweis anzusehen.
Diese Fälle von Kombination der Coxa vara congen. mit
Luxatio coxae congen. habe ich aus äußeren Gründen in meiner
Arbeit nicht angeführt; ich weise hier auf ein sehr schönes, diese
Anomalien zeigendes Röntgenbild hin, welches in dem Atlas von
Hoffa und Rauenbusch veröffentlicht wird.
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Gustav Albert Wollenberg.
Wir müssen hier also zunächst feststellen, daß die Ein¬
stimmigkeit, mit der die oben erwähnten Deformitäten als Be¬
lastungsdeformitäten angesehen werden, doch wohl nicht ganz
einwandsfrei ist.
2. Wenn nun Ewald sagt, daß es „durch pathologisch-ana¬
tomische Untersuchungen, durch Tierversuche und durch klinische
Beobachtung* wahrscheinlich gemacht werde, daß es sich bei der
angeborenen Hüftverrenkung um eine Belastungsdeformität handle,
so muß ich hierauf erwidern, daß die gewählten Vergleiche mit dem
durch intrauterinen Druck entstandenen Pes varus congenitus, mit
dem durch einseitigen Zug bedingten Pes varus paralyticus, mit der
habituellen Skoliose und anderen Belastungsdeformitäten, ferner mit
dem artefiziell erzeugten Chinesinnenfuß, welche beweisen, daß durch
abnorme Belastung abnormes Knochenwachstum bedingt wird, kaum
geeignet sind, in der Theorie der angeborenen Hüftverrenkungen
herangezogen zu werden, denn es handelt sich hier ja nicht um die
absolut unanfechtbare Tatsache, daß durch abnorme Belastung ab¬
normes Knochenwachstum hervorgerufen wird, sondern um die Frage,
ob die angeborene Hüftverrenkung abnormer Belastung ihre
Entstehung verdankt, oder ob der letzteren rein sekundäre Bedeutung
zukommt, wie die Anhänger der Theorie des Keimfehlers annehmen.
Was ferner die Tierversuche betrifft, welche Ewald erwähnt, so
spielt er hier offenbar auf die Deutschländerschen Experimente
an, welche uns ja aber nur beweisen, daß der normale Organismus
tote Hohlräume, die nicht der Funktion dienen, im allgemeinen nicht
duldet, sondern daß derselbe bestrebt ist, diese Hohlräume mit den
ihm zu Gebote stehenden Kräften zu beseitigen. So interessant die
Versuche Deutsch Binders sind, kann ich ihnen doch irgend eine
beweisende Kraft für die Aetiologie der angeborenen Hüftverrenkungen
nicht beimessen.
Der bei dieser Gelegenheit zitierte Fall von Lorenz, bei dem
infolge spondylitischer spastischer Paraplegie schließlich eine Luxa¬
tion der Schenkelköpfe verursacht wurde, kann meines Erachtens
die Entstehung der angeborenen Hüftluxation auch nicht erklären,
er beweist nur die Möglichkeit der Entstehung einer Hüftluxation
bei hochgradigen pathologischen Zuständen der Hüftmuskulatur,
welche ja bekannt ist, und für die ich sogar aus meiner Ka¬
suistik einen Fall vorbringe, bei welchem ich mir die Entstehung
der Hüftluxation ähnlich erkläre (cf. Hüftluxation und Littlesche
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Ueber die Kombination der angeborenen Hüftgelenksverrenkung etc. 145
Krankheit). Bei den spastischen Kontrakturen liegen doch die Ver¬
hältnisse gewöhnlich so, daß hestimmte Muskelgruppen ihre Anta¬
gonisten an Kraft überwiegen, so daß schließlich, ähnlich wie bei
gewissen Formen der paralytischen Luxationen, Verrenkungen ent¬
stehen können. Die Seltenheit dieser Affektionen illustriert übrigens,
wie stark das Hüftgelenk gegen Verrenkungen gesichert ist. Davon
abgesehen ist es aber doch unmöglich, die in den Extremitäten des
Fötus liegenden Kräfte mit den außer ihm, in dem Druck des
Uterus etc., gelegenen zu identifizieren!
Auf Punkt 3 der Ewald sehen Zusammenfassung brauche ich
hier nicht näher einzugehen; er behandelt die mechanischen Kräfte,
welche seiner Meinung nach für das Zustandekommen der ange¬
borenen Hüftverrenkung in Betracht kommen. Ich sehe diese Kräfte
mitHoffa, Vogel u. a. auch für die Manifestation der angeborenen
Hüftverrenkung als sehr wichtige, aber als rein sekundäre an. Ihr
Fehlen oder Vorhandensein ist dafür ausschlaggebend, ob die Hüft¬
gelenksverrenkung schon gleich bei der Geburt, oder erst später,
bei eintretender Belastung, durch den Gehakt etc., manifest wird.
Was die entwicklungsgeschichtlichen Erwägungen
betrifft, welche Ewald gegen die Theorie eines Bildungsfehlers ins
Feld führt, so richten sich dieselben vor allem gegen die v. Ammon-
sehe Auffassung (Hemmungsbildung). Letzterer Autor meint, daß
in manchen Fällen von angeborener Hüftgelenksverrenkung der Kopf
überhaupt nie in der Pfanne gewesen sei; man könnte dann natür¬
lich von einer Luxation sensu strictiori überhaupt nicht sprechen.
Diese Anschauung ist nach den Petersenschen Untersuchungen
über die Entwicklung des Beckens und der unteren Extremität
nicht mehr zu halten, damit ist aber doch nicht die ganze Keim¬
fehlertheorie über Bord zu werfen; wir lassen eben die alte
v. Ammonsche Theorie in modifizierter Form gelten. Ich pflichte
Wolffu. a. durchaus bei, wenn sie die Hüftluxation nicht als eine
Hemmungsbildung, sondern als einen originären Keimfehler be¬
trachtet wissen wollen. Wie und auf welcher Basis derselbe entsteht,
ist zwar für uns zunächst vollkommen dunkel; der Versuch Vogels,
denselben durch ein „zu viel“, welches die Hüftpfanne, durch ein
,zu wenig“, welches den Schenkelkopf bei der Differenzierung des
Hutterblastems erhält, erklären zu wollen, scheint mir geistvoll, aber
überflüssig; denn es baut sich sofort wieder eine hohe Wand vor
unseren Augen auf: welcher Ursache verdankt diese ungleiche Ver-
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XV. Bd. IQ
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146
Gustav Albert Wollenberg.
teilung des Blastems ihre Entstehung? Und wir müssen bescheiden
wieder unsere Unwissenheit bekennen. Und da die Vogel sehe
Theorie bisher jeder Stütze durch anatomische Untersuchungen ent¬
behrt, wird sie wohl einstweilen keine allgemeine Verbreitung finden.
Jedenfalls aber dürfen wir bis auf weiteres den Begriff des
originären Bildungsfehlers nicht fallen lassen; es gibt nun einmal
angeborene Fehler, für welche jede andere Annahme gekünstelt er¬
scheint. Und die Schwierigkeit, welche der Begriff „Vitium
primae formationis“ in sich birgt, darf uns nicht verhindern, ihm
eine Stellung in der Aetiologie der angeborenen Hüftverrenkung
anzuweisen.
Wenn Ewald sagt: „Für uns kommt hier nur die Frage in
Betracht, wie man sich die große Masse der kongenitalen Luxationen
des Hüftgelenkes erklären kann, und das geht nicht durch Anfüh¬
rung und Verallgemeinerung besonderer Fälle, in denen alle mög¬
lichen Verbildungen und Defekte vereinigt sind, und die Luxation
gleichsam nur einen Nebenbefund darstellt,“ so lasse ich diese An¬
schauung durchaus gelten; meine kurzen Ausführungen über die mit
derartigen Mißbildungen kombinierten Luxationsfälle geben meine
Ansicht über diesen Punkt wieder; ich meine aber auf der anderen
Seite, daß die im Verhältnis zur Häufigkeit der unkomplizierten
Fälle von angeborener Hüftverrenkung nicht sehr zahlreichen Fälle
von Komplikation mit „Belastungsdeformitäten* dann auch nicht zu
sehr für die mechanische Theorie der Entstehung der „großen Masse
der kongenitalen Luxationen des Hüftgelenkes“ verallgemeinert wer¬
den dürfen.
Ich gehe jetzt auf den 5. Punkt der Ewald sehen Zusammen¬
fassung über: „Es ist die Tatsache beachtenswert, wie auf Röntgen¬
bildern nachgewiesen ist, daß 1 x /a—3 Jahre nach erfolgter Reposition
die Pfanne und der Kopf völlig normal geworden sind, was nie der
Fall sein würde, wenn es sich um ein Vitium primae formationis
handelte.“ Dieser, schon von Deutschländer u. a. ausgesprochenen
Ansicht möchte ich entgegenhalten, daß das sachkundige Auge doch
wohl stets an gewissen Abweichungen von der Norm am Röntgen¬
bilde noch erkennen wird, ob eine angeborene Luxation Vorgelegen
hat; wenigstens konnten wir dies auch an vor langer Zeit anatomisch
reponierten Gelenken sehen. Nun ist ja bekannt, daß das angeboren
luxierte Gelenk gewisse sekundäre Veränderungen noch nach der
Geburt erleiden kann; diese Veränderungen sind auf die abnorme
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Ueber die Kombination der angeborenen Hüftgelenks Verrenkung etc. 147
Funktion zurückzuf&hren. Daß diese sekundären Veränderungen bei
hergestellter normaler Funktion bis zu einem gewissen Grade sich
zurückzubilden vermögen, dafür liegen in der Transformationskraft
ausreichende Möglichkeiten. Aber auch ohne daß wir uns hier auf
theoretische Betrachtungen einzulassen brauchen, finden wir in der
täglichen chirurgischen Erfahrung genügende Beweise für die mäch¬
tigen Umgestaltungen, welche zwei miteinander in Kontakt gebrachte
Knochen erfahren können; ich meine die Nearthrosenbildung.
Daß dieselbe bei dem auf dem Darmbein stehenden Kopfe des kon¬
genital verrenkten Hüftgelenkes eine geringere Rolle spielt, als wir
es sonst bei anderen Luxationen zu sehen bekommen, liegt daran,
daß hier der Oberschenkel nicht senkrecht auf dem Darmbeine steht,
und ferner daran, daß die dicke Kapsel einen innigen Kontakt nicht
zuläßt. Gleichwohl sehen wir auch bei der unbehandelten angeborenen
Hüftluxation eine mehr oder weniger ausgedehnte Ausbildung einer
neuen Pfanne. Anders dagegen, wenn wir den Oberschenkel¬
kopf in die Pfanne stellen; findet derselbe Halt an dem oberen
Dache der letzteren, so sind alle Bedingungen für die Bildung einer
.Nearthrose“ (und zwar an dem ursprünglich angelegten normalen
Pfannenort) gegeben. Ich glaube, das erklärt in ungezwungener
Weise die Tatsache der Umgestaltung des Hüftgelenkes nach der
Reposition der Verrenkung und tangiert die Theorie des primären
Keimfehlers in keiner Weise.
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Bd. 9, S. 416.
43. Hagnus, Ein Fall von multiplen kongenitalen Kontrakturen mit Muskel¬
defekten. Zeitschr. f. orthop. Chir., Bd. 10, H. 2.
44. — Ueber totale kongenitale Luxation der Kniegelenke bei drei Geschwistern.
Deutsche Zeitschr. f. Chir. 1905.
45. Narath, Beiträge zur Therapie der Luxatio coxae congen. Wien und
Leipzig 1903. Braumüller,
46. Riedinger, Luxatio supracotyloidea und Hypoplasie des Beckens als
intrauterine Belastungsdeformität (zugleich Torticollis). Archiv f. Ortho¬
pädie etc. 1905, S. 146.
47. Rupprecht (zit nach Bessel-Hagen).
48. Sainton, Etüde sur l’anatomie de la hanche chez l’enfant et sur la patho-
genie de la luxation congenitale du femur. Revue d’orthopedie 1893, S.425.
49. Sandifort, Animadversiones de vitiis oongenitis et de fracturis arti-
culationis coxae. Diss. Leyden 1837. (Zit. nach v. Ammon.)
50. Schanz, Aetiologie der angeborenen Hüftverrenkung. Zeitschr. f. orthop.
Chir., Bd. 9, S. 359.
51. Schede, Die angeborene Luxation des Hüftgelenkes. Ergänzungsheft 3
der Fortschritte auf dem Gebiete der Röntgenstrahlen. Hamburg 1900.
Lukas Gräfe und Sillem.
52. Taylor, 18. Kongreß der Amer. Orthop. Association. Zit. nach Spitzy,
Zeitschr. f. orthop. Chir., Bd. 14, S. 151.
53. Teufel, Ueber einen Fall von multiplen Mißbildungen und die operative
Behandlung der kongenitalen Hüftluxation. Deutsche Zeitschr. f. Chir.
1889, Bd. 29, S. 340.
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150 Gk A. Wollenberg. Ueb. d. Kombination d. angeb. Hüftgelenksverrenkung etc.
54. Vogel, Angeborene Skoliose und Luxatio coxae congen. Zeitschr. f. orthop.
Chir., Bd. 12, S. 421.
55. — Zur Aetiologie und pathologischen Anatomie der Luxatio coxae congen.
Zeitschr. f. orthop. Chir., Bd. 14, H. 1, S. 132.
56. Voß, Invereio vesicae urin. og lux. femoris congen. Christiania 1857. (War
mir unzugänglich!)
57. Weh8arg, Ueber die kongenitale Subluxation des Kniegelenkes. Archiv
f. Orthopädie etc., Bd. 3, H. 3.
58. Wolff, Ueber einen Fall von angeborener Flughautbildung. Archiv f.
klin. Chir. 1889, Bd. 38, S. 66.
59. — Ueber einen Fall von „willkürlicher“ angeborener präfemoraler Knie-
gelenksluxation nebst anderweitiger angeborener Anomalien fast sämt¬
licher Gelenke des Körpers. Zeitschr. f. orthop. Chir., Bd. 2, S. 23.
60. — Die Bedeutung des Röntgenbildes für die Lehre von der angeborenen
Hüftverrenkung. Fortschritte auf dem Gebiete der Röntgenstrahlen.
1897/98. Bd. 1. .
61. — Ueber die Ursachen, das Wesen und die Behandlung des Klumpfußes.
Herausgegeben von Joachimsthal. Berlin 1903. Hirschwald.
62. Zehn der, Ueber den muskulären Schiefhals. Diss. Berlin 1886.
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Referate
Hoffa und Rauenbusch, Atlas der orthopädischen Chirurgie in Röntgen¬
bildern. Enke. Stuttgart 1905. Lief. 1 und 2.
Für kein Spezialgebiet der Medizin hat die große Entdeckung Röntgens
eine größere Fülle von Gaben gebracht, wie für die Orthopädie; für keinen
Arzt ißt es wichtiger, daß er versteht, die Vorteile, welche ihm die neue Unter¬
suchungsmethode gewährt, voll auszunützen, als für den Orthopäden. Nur wer
ein Röntgenbild mit Sicherheit anzusprechen versteht, nur wer da weiß, welche
Abweichungen von der Norm sich röntgographisch darstellen lassen, nur wer
auf einer Röntgenplatte zu finden versteht, was pathologisch und was nicht
pathologisch ist, nur der kann auf unserem Gebiet diagnostisch und thera¬
peutisch das leisten, was heute überhaupt leistbar ist.
Daß es mit den Hilfsmitteln, sich diese Fähigkeiten zu erwerben, bis
heute noch ziemlich schlecht bestellt war, ist bei der doch immer noch be¬
trächtlichen Jugend der Röntgenschen Entdeckung kein Wunder. Erst seit
kurzem haben wir brauchbare Atlanten, welche darstellen, was man vom nor¬
malen Menschen auf die Röntgenplatte bringen kann. In den neueren Werken
aus der orthopädischen Chirurgie sind Röntgenaufnahmen zwar in reichlichem
Maße wiedergegeben, aber in verschwindend geringem Maße technisch so voll¬
kommen, daß der Betrachter wirklich etwas aus ihnen ersehen kann. Vor allem
aber ist eine systematische Darstellung des ganzen Gebietes noch nicht
einmal versucht worden.
Hier ist eine Lücke in unserer Literatur.
Mit Freude müssen wir es begrüßen, wenn jetzt ein Werk erscheint,
welches diese Lücke ausfüllen will. Mit besonderer Freude werden wir dies
Werk begrüßen, wenn es von Hoffa kommt. Wir können erwarten, daß der,
welcher unser Spezialgebiet bisher am besten im Lehrbuch dargestellt hat, in
diesem Atlas eine entsprechende Leistung bringen wird.
Das Programm, welches sich die beiden Autoren gestellt haben, ist
folgendes: es sollen die praktisch wichtigeren Kapitel der orthopädischen Chi¬
rurgie dargestellt werden; mit besonderer Rücksicht sollen die tuberkulösen
Erkrankungen der Gelenke und Knochen, die Rachitis, die angeborene Hüft¬
verrenkung und die Coza vara bedacht werden. Es sollen aber auch sonstige
für unsere Praxis wichtige Gelenk- und Knochenerkrankungen, z. B. chronische
Arthritis, Knochenatrophie, Lues u. dergl., Aufnahme finden. Die Bilder sollen
in denkbar bester Reproduktion gebracht werden, zu jedem eine kurze, das
Wesentliche heraushebende Erklärung.
An diesem Programm ist wohl kaum etwas zu mäkeln. In den erschie¬
nen Heften erscheint dasselbe fehlerlos durchgeführt. Auf Einzelheiten ein-
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152
Referate.
zugehen, erscheint mir noch nicht am Platz; dazu muß der Referent erst das
ganze Werk übersehen können. A. S c h a n z - Dresden.
J. D. Ghiulamila (de Bucarest), Technique, valeur, indications des appa-
reils portatifs en celluloid dans la Chirurgie orthopedique. Revue d’ortho-
pedie 1905, Nr. 2.
Verfasser empfiehlt die Celluloidapparate als Ersatz der Hessingseben
Apparate, die ja nur von sehr geschickten Mechanikern angefertigt werden
können und ausschließlich zahlungsfähigen Patienten zu gute kommen. In
einer eingehenden, durch Abbildungen erläuterten Beschreibung der Technik
hebt Ghiulamila den Wert des Gipsmodelles hervor, das exakt die Körper¬
formen wiedergeben muß und von dessen Güte die Brauchbarkeit des danach
angefertigten Apparates abhängt. An der ursprünglichen Modellform ist nach¬
träglich so wenig wie möglich zu ändern. Der Wert der Celluloidapparate
liegt in der Einfachheit ihrer Herstellung, ihrer Billigkeit und langen Haltbar¬
keit. Weitere Vorzüge sind, daß sie leicht, elastisch und elegant sind und
sich gut säubern lassen. Ein anfangs lästiger Acetongeruch verschwindet, so¬
bald der Apparat trocken ist, ebenso fällt dann auch die Gefahr der Brenn¬
barkeit fort. Die Transpiration der Haut wird durch Bohrlöcher ermöglicht,
welche die Festigkeit des Apparates nicht beeinträchtigen. Die Apparate haben
ihre bestimmten Indikationen. Sie eignen sich besonders für Kinder. Unüber¬
troffen sind die Sohleneinlagen aus Celluloid. Fränkel-Berlin.
Friedrich Dessauer und B. Wiesner, Kompendium der Röntgenographie.
Leipzig 1905. Otto Nemnich.
Die beiden Verfasser, die sich durch ihren früher erschienenen Leitfaden
und die bekannten Aschaffenburger Kurse um die Popularisierung des Röntgen¬
verfahrens bereits große Verdienste erworben haben, geben hier eine erschöp¬
fende Darstellung der Röntgenographie.
Der erste Teil behandelt nach einem Rückblick auf die Geschichte der
Technik die physikalischen Grundlagen und das elektrotechnische Rüstzeug.
Die Röntgenstation wird genau beschrieben, wobei die Anlagen der bekannte¬
sten Systeme als Beispiele angeführt werden.
Eine äußerst sorgfältige Bearbeitung hat im zweiten Teile die photo¬
graphische Methode gefunden. Belehrend ist namentlich eine hierzu gehörige
Fehlertafel.
Der dritte Teil bringt die eigentliche Aufnahmemethodik. Durch zahl¬
reiche Abbildungen wird die Lagerung und Fixierung des Objekts dargestellt.
Gerade hiervon hängt ja in erster Linie neben der richtigen Beurteilung der
Röntgenröhre das Resultat ab. Ferner sind anatomische Skizzen zur Orientie¬
rung vielfach eingefügt, und eine Reihe von normalen und pathologischen
Röntgenogrammen findet sich im Anhang zusammengestellt.
Auf technische Streitfragen, wie auf diejenige des kleinen und großen
Induktors, einzugehen, die vom Standpunkt der Aschaffenburger Richtung er¬
örtert wird, erübrigt sich hier.
Im ganzen ist das vorliegende Buch, das sich auf einer jahrelangen,
reichen Erfahrung der Verfasser auf baut, wegen seiner vielfachen praktischen
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Referate.
153
Winke äußerst wertvoll und ergänzt gerade nach dieser Richtung die vorhan¬
denen, zum Teil vorzüglichen Lehrbücher der jetzt so wichtigen Disziplin in
dankenswerter Weise. Frankel-Berlin.
Deycke Pascha, Knochen Veränderungen bei Lepra nervorum im Röntgen¬
bilde. Fortschritte auf dem Gebiete der Röntgenstrahlen, 1905, Bd. 9, Heft 1,
Durch eine Serie von vorzüglichen Röntgenogrammen werden die bei der
mutilierenden Lepra nervorum vorkommenden Knochenveränderungen an Händen
und Füßen von ihren ersten Anfängen bis zu den hochgradigsten Verunstal¬
tungen veranschaulicht. Die Schlüsse, die Deycke Pascha aus dieser Zu¬
sammenstellung zieht, die in ihrer Art wohl einzig dasteht, sind folgende:
Den selteneren, bei der tuberösen Form der Lepra vorkommenden spe¬
zifisch leprösen Periostitiden steht die große Zahl der Knochen Veränderungen
bei nervöser Lepra gegenüber, die nach des Verfassers Ansicht nicht durch
aktive Tätigkeit der spezifischen Keime zu stände kommen und deswegen von
ihm als passive bezeichnet werden. Nur diese Formen werden hier abgehandelt.
Bei ihnen fehlt jede produktive Bildung. Die Vorgänge sind rein de¬
struktiver Natur. Die nicht seltenen totalen Einschmelzungen ganzer Knochen
verlaufen, solange sie unkompliziert sind, stets ohne periostitische oder andere
entzündliche Prozesse.
Die lepröse Gelenkkontraktur macht keine knöchernen Ankylosen.
Die lepröse Spontanfraktur zeitigt niemals die geringste Callusbildung.
Die Ursache der schweren Zerstörungen können nach des Verfassers An¬
sicht nicht allein mechanische oder statische Momente sein, sondern er schul¬
digt eine Verminderung des Kalkgehaltes der Knochen an. Deycke Pascha
meint, daß bei den leprösen Knochenzerstörungen der Mechanismus der ner¬
vösen Einwirkung auf die Kalkresorption der Knochen gestört ist, wobei er
sich die Entkalkung durch eine Säure oder saure Salze entstanden denkt.
F r ä n k e 1 - Berlin.
Ernst Moser, Behandlung von Gicht und Rheumatismus mit Röntgenstrahlen.
Fortschritte auf dem Gebiete der Röntgenstrahlen, 1905, Bd. 9, Heft 1.
Moser hat bei gichtischen und rheumatischen Erkrankungen in den
Röntgenbestrahlungen ein sehr wirksames Heilmittel gefunden, das nicht nur
schmerzstillende Eigenschaften hat, sondern auch das Grundleiden bei beiden
Krankheiten beeinflussen soll. Frankel- Berlin.
Gustav Thomas, Operative und mechanische Chirurgie. Monatsschrift für
Unfallheilkunde und Invalidenwesen, 1905, 12. Jahrgang, Nr. 10.
Thomas betont den Wert der mechanischen Chirurgie, der sich der viel¬
beschäftigte Operateur nicht widmen kann und deren Pflege spezialistisch aus¬
gebildeten Aerzten, „den mechanischen Orthopäden“, zu übertragen sei.
Frankel- Berlin.
Hans Curschmann, Ueber regressive Knochenveränderungen bei Akro¬
megalie. Fortschritte auf dem Gebiete der Röntgenstrahlen, 1905, Bd. 9,
Heft 2.
Während bei der Akromegalie am knöchernen Skelett bisher nur hyper¬
trophische Zustände beobachtet worden sind, macht Curschmann auf Rück-
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154
Referate.
bildungsvorgänge aufmerksam, die sich bei radiologischer Untersuchung als
hochgradige Rarefikationen der Knochensubstanz namentlich an dem Gelenk¬
ende der Ulna sowie am Fußskelette geltend machten. In drei der beschrie¬
benen Fälle, die regressive Knochenveränderungen an ganz bestimmten Teilen
des Skelettes aufwiesen, war die lange Dauer der Krankheit, ein Stillstand des
hypertrophischen Prozesses und eine mehr oder weniger hochgradige Kachexie
auffällig. In einem vierten Falle dagegen, wo noch keine Kachexie vorhanden
war, fehlte auch die Atrophie der Knochen ganz. Hierin sieht Verfasser mit
Recht eine Stütze der Lehre, nach welcher zwei klinisch und anatomisch zu
trennende Stadien der Akromegalie, ein hyperplastisches und ein kachektisches,
anzunehmen sind. Fr änkel - Berlin.
Stieda, Ueber umschriebene Knochenverdichtungen im Bereich der Substantia
spongiosa im Röntgenbilde. Beiträge zur klinischen Chirurgie, 1905, Bd. 45.
In den kurzen Knochen und Epiphysen von Röhrenknochen treten manch¬
mal auf dem Röntgenbild umschriebene, rundliche oder ovale Schatten auf, die
im Bereich der Substantia spongiosa liegen. Bezüglich des Auftretens und der
Lage derselben scheint keine Gesetzmäßigkeit zu walten. Auf Sägeschnitten
des mazerierten Knochens erweisen sie sich als scharf abgegrenzte Knochen¬
kerne von großer Dichtigkeit. Mikroskopisch zeigen sie das Bild des kom¬
pakten Knochengewebes. Praktisch wichtig sind diese Schatten insofern, als
sie unter Umständen einen pathologischen Befund Vortäuschen können.
W ette-Berlin.
Grün er t, Ueber pathologische Frakturen. Deutsche Zeitschr. f. Chirurgie.
Grunert spricht in seiner umfassenden Abhandlung über die Frakturen
der Röhrenknochen, die auf pathologischer Grundlage beruhen, und teilt die¬
selben folgendermaßen ein.
I. Knochenbrüchigkeit infolge lokaler Veränderungen des Knochen¬
systems
1. durch Geschwülste
a) Sarkom und Karzinom,
b) Schilddrüsentumoren,
c) Enchondrome und Cysten,
d) Echinococcuscysten.
2. Durch entzündliche Prozesse
a) infektiöse Osteomyelitis,
b) Tuberkulose der Knochen
(Anhang Aneurysma).
3. Syphilis.
II. Knochenbrüchigkeit infolge einer allgemeinen Erkrankung
1. Nervenkrankheiten
a) Tabes dorsalis,
b) Syringomyelie,
c) Geisteskrankheiten.
2. Alter.
3. Erschöpfende chronische Krankheiten.
4. Inaktivitätsatrophie.
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Referate.
155
5. Skorbut.
6. Rachitis und Osteomalacie.
III. Idiopathische Knochenbrüchigkeit. VüIlers-Berlin.
Hakenbruch, Zur Behandlung der spinalen Kinderlähmung durch Nerven-
pfropfung. Deutsche med. Wochenschr. 1905, Nr. 25.
Hakenbruch hat bei drei Kindern mit Peroneuslähmung nach
spinaler Kinderlähmung den Nervus tibialis partiell auf den Nervus peroneus
gepflanzt. Hautschnitt oberhalb der queren Kniekehlenfalte. Vom Nervus
tibialis wird an der dem Nervus peroneus zugewandten Seite ein ca. 3—4 cm langes
Stück in der Längsrichtung abgespalten, so daß dasselbe zentral in ungestörter
organischer Verbindung bleibt. Dieser Strang von etwa Vs Dicke des Nervus
tibialis wird in eine entsprechend hohe Schlitzspalte des Nervus peroneus ein¬
gepfropft und durch einige Nähte fixiert.
In 2 Fällen Mißerfolg, die Hakenbruch auf eine starke Keloidbil¬
dung in der Hautnarbe zurückführt, die auf das Pfropfgebiet sich erstreckt und
das Einwachsen der Tibialisfasern verhindert hat. Im 3. Fall fast ideales
Resultat. Patient mit paralytischem Spitzfuß, Peroneuslähmung. Operation in
der geschilderten Weise. Nach 4 Monaten die ersten Abduktionsbewegungen.
Jetzt nach 1 */* Jahren ist der Fuß gut gebrauchsfähig, Kind steht ohne Appa¬
rat auf dem kranken Fuß. Direkte faradische Erregbarkeit der Peroneus-
muskulatur.
Hakenbruch empfiehlt, die Naht der Haut und Faszie mit der Pfropf¬
stelle nicht in eine Ebene zu legen wegen der Gefahr der Keloidbildung.
Ferner soll der implantierte Nervenlappen ohne Spannung in der Schlitzwunde
liegen. Die Fixationsnähte sollen nur das Perineurium fassen. Die Pfropfung
soll so vor sich gehen, daß der zentrale gesunde Faserlappen in eine Schlitz¬
wunde des gelähmten Nerven zu liegen kommt, damit die durchschnittenen,
gesunden Nervenfasern ihre Bahn vorgezeichnet haben. W e 11 e - Berlin.
Mosetig-Moorhof, Therapie der Gelenktuberkulose. Wiener klin. Wochen¬
schrift 1904, Nr. 49.
Nach Besprechung der verschiedenen konservativen Methoden in der Re¬
sektion bei der tuberkulösen Gelenkerkrankung gibt Mosetig eine Zu¬
sammenstellung der Endresultate der operativ abstinenten Therapie, die er in
vier Gruppen bringt, a) Ausheilung ohne Rücklaß besonderer Deformierung
und Funktionsstörung, meist in Fällen von reinem Kapselfungus, die unter recht
günstige hygienische Verhältnisse gestellt wurden, b) Ausheilungen von Fungus
articuli-oeseus, stets mit entsprechender Deformität und Funktionsstöruug; be¬
sonders günstigen Ausgang Ankylosenbildung, c) Fälle von Gelenktuberkulose
mit rascher Progression und Destruktion, mit oder ohne Eiterung; diese fallen
der mutilierenden Therapie zu. d) Die letal ausgehenden Fälle infolge von
Verallgemeinerung der Tuberkulose oder Amyloidose.
Die Ausheilung der Lokaltuberkulose erfolgt durch Vernarbung, bei
ossären Herden durch Bildung einer durch Aufnahme von Kalksalzen osteoid
werdenden Knochennarbe. Daneben gibt es nicht allzu selten eine scheinbare
Heilung durch Abkapselung der fungösen Knochenherde durch Sklerosierung
der Wandungen.
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156
Referate.
Die wahre Heilung der Knochentuberkulose besteht einzig und allein nur
in der Substitution des Herdes durch osteoide Substanz und wird herbei¬
geführt, wenn man den oder die Tuberkelherde einzeln im Gesunden aus¬
schneidet und den entstandenen Defekt durch eine provisorische Plombe her¬
metisch ausfüllt. Daß die so verwendete Jodoformplombe wirklich von der
Granulation nach und nach beseitigt wird und endlich ganz schwindet, sobald
der Ersatz vollendet ist, weist Mosetig durch Kontrolle mittels Radiographie
und durch ein zufällig gewonnenes Präparat einer 4 Wochen alten Tibiaplombe
und aus den Resultaten des Tierexperimentes nach.
Die rationelle, konservierende Therapie der Gelenktuberkulose soll daher
nach Mosetig eine operativ aktive sein, wenigstens in allen Fällen von Fungus
osseus, da sie sehr gute Resultate hat. Die Kranken erholen sich sehr rasch
und das Krankenlager ist ein bedeutend abgekürztes.
Die operativeBehandlung hat zu bestehen: 1. In einer sorgfältigen
Exstirpation des gesamten lokaltuberkulösen Gewebes, sowohl in den Weich¬
teilen als in den Knochen. Die Gelenkkapsel soll möglichst in toto aus¬
geschält werden, die Auskratzung der Oberfläche ist ungenügend. Ebenso muß
der perikapsuläre Fungus entfernt werden, die Tuberkelherde im Knochen
müssen nach Entfernung des Gelenkknorpels einzeln im Gesunden mit Meißel
und Hammer ausgestemmt werden. Der Epiphysenknorpel ist jedoch bei Indi¬
viduen, deren Skelettwachstum noch nicht vollendet ist, zu erhalten.
2. In der sorgfältigen Ausschaltung aller durch den operativen Akt ge¬
setzten Gewebsdefekte, besonders der durch das Ausstemmen geschaffenen
Knochenhöhlen durch Ausfüllung mit Jodoformplombe. Dadurch wird eine
Ausheilung per primam ermöglicht und werden alle durch eine langdauernde
Eiterung verursachten Uebelstände vermieden.
Die operativen Eingriffe müssen unter aseptischen Kautelen stattfinden;
als Fixationsverband verwendet Mosetig einen Stärkebindenverband mir
Tapetenholzspänen.
In der Zeit vom 1. November 1897 bis 1. November 1904 gelangten an
der Abteilung von Mosetig im Wiener allgemeinen Krankenhause 537 Fälle
von Gelenktuberkulose zur Aufnahme. In 27 Fällen konnte überhaupt kein
operativer Eingriff vorgenommen werden; in 187 Fällen mußten mutilierende
Operationen (Amputationen) ausgeführt werden. Durch Resektion mit nach¬
folgender Jodoformplombe wurden 371 behandelt, darunter 67 Kranke unter
10 Jahren. Alle sind geheilt und wurden in relativ kurzer Zeit mit vollends
vernarbten Wunden und gebrauchsfähigen Extremitäten entlassen.
Haudek-Wien.
Hau de k (Wien), Der Einfluß des Seeklimas auf die Ausheilung tuberkulöser
Gelenk- und Knochenaffektionen im Kindesalter. Wiener med. Presse 1904,
Nr. 46.
Haudek vertritt mit Recht die Ansicht, daß ein kurzer Aufenthalt in
einem Seehospiz für Patienten, die an Knochen- und Gelenktuberkulose leiden,
meist nutzlos ist. Die Zahl der Heilungen ist nämlich eine bedeutend größere
in denjenigen Heilstätten, die ihren Patienten einen unbeschränkten Aufenthalt
gewähren, d. h. bis zur definitiven Ausheilung des Knochenprozesses und das
ganze Jahr hindurch. Auch eine andere Forderung Haudeks, die nach ortho-
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Referate.
157
pädisch- sachgemäß er Leitung solcher Hospize wird jeder gern unterschreiben,
der es erleben mußte, daß gut entlastende und fixierende Gipsverbände in den
Heilstätten entfernt wurden, teils um durch „originelle“ ersetzt zu werden,
teils um den Einfluß des Seeklimas an sich zu studieren.
Pfeiffer- Frankfurt a. M.
Bauer, Kasuistischer Beitrag zur Lehre von der spinalen progressiven Muskel¬
atrophie. Diss. Mönchen 1905.
Verfasser bespricht den pathologischen Befund eines Falles, der klinisch
sowohl wie anatomisch das typische Bild der progressiven spinalen Muskel¬
atrophie darbot und der insofern von Interesse sein dürfte, als der Patient
Georg Meltor, der ein Wanderleben als Artist führte, bei mehreren Kliniken
und Aerzten sich vorstellte und deshalb weiteren Kreisen bekannt sein dürfte.
Im Anschluß an diese Besprechung bringt dann Verfasser noch eine tabellarische
Zusammenstellung aller der seit dem Jahre 1895 beschriebenen Fälle von pro¬
gressiver Muskelatrophie, welche zur Autopsie kamen. B1 e n c k e - Magdeburg.
Salvendi, Ueber Littlesche Krankheit. Aerztl. Bezirksverein zu Erlangen,
27. Mai 1905. Münchener med. Wochenschr. 1905, Nr. 27.
Salvendi demonstriert einen typischen Fall und berichtet im Anschluß
hieran über den jetzigen Stand dieser Erkrankung. Nach seiner Ansicht ist
vom Standpunkt des Praktikers die Hoffasche Einteilung in drei Gruppen sehr
richtig, da sie eine bequeme Handhabe für Prognosestellung und therapeutische
Indikation bietet, dagegen kann er den auch aus der Hotfaschen Klinik von
Glaeßner gemachten Vorschlag, eine gemeinsame unbekannte Noxe anzunehmen,
die allen anderen den Boden vorbereitet, mit Rücksicht auf die ganz ver¬
schiedenen pathologisch-anatomischen Befunde und sichergestellte ätiologische
Momente nicht anerkennen. Die orthopädisch-chirurgische Behandlung wird
kurz gestreift. B1 e n c k e - Magdeburg.
Brodnitz, Die Diagnose der Blutergelenkerkrankung. Aerztl. Verein in Frank¬
furt a. M. 2. Oktober 1905. Münchener med. Wochenschr. 1905, Nr. 48.
Brodnitz stellt ein 12jähriges Mädchen vor, das an dieser Erkrankung
leidet. Verschiedene Gelenke wurden ohne äußere Ursachen befallen. Die
völlige Schmerzlosigkeit, die Verschlechterung des Zustandes durch die Massage,
die auffallende Blässe des Kindes ließen an ein Blutergelenk denken, an eine
Diagnose, die auch durch die vorgenommene Punktion bestätigt wurde. An der
Hand dieses Falles bespricht zunächst Brodnitz die Diagnose, die doch von
allergrößter Bedeutung für die Therapie ist, und dann auch die Therapie.
Verf. gab in diesem Falle täglich 20—30 g Gelatine. Bl encke-Magdeburg.
Spieler, Ueber eine eigenartige Osteopathie im Kindesalter. Zeitschr. f. Heil¬
kunde XXVI. Jahrg. 1905, Heft 6.
In dem vorliegenden Falle handelt es sich um einen weder hereditär noch
familiär nachweislich belasteten 3jährigen Knaben, bei dem sich seit seinem
15. Lebensmonate allmählich zunehmende, schmerzhafte Verdickungen und eigen¬
tümliche Verkrümmungen der langen Röhrenknochen, bedeutende Auftreibungen
der Knie- und Sprunggelenke sowie typische Trommelschlegelfinger und -zehen
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158
Referate.
entwickelt haben. Die Knochenverdickungen sind, wie das Röntgenbild zeigt,
durch schalenartig die Extremitätenknochen umschließende Auflagerungen neu¬
gebildeten Knochengewebes bedingt und betreffen fast ausschließlich die Dia-
physen, während die Gelenksauftreibungen auf Weichteil Verdickungen zurück¬
geführt werden müssen. Die Knochen des Stammes sowie das Gesichtsskelett
zeigen keinerlei Veränderungen, dagegen besteht eine hochgradige Wachstums¬
hemmung der Schädelknochen. Verfasser kam auf Grund des Ergebnisses seiner
differentialdiagnostischen Erwägungen zu der Ansicht, daß sich der Fall mit
Sicherheit kaum in die gegenwärtig geltende Einteilung der Osteopathien ein-
ordnen läßt. Mit Rücksicht auf die Kombination von Hyperostosen der Extreroi-
tätenknochen mit ganz charakteristischen Weichteilverdickungen, Auftreibungen
der Gelenkgegenden und Trommelschlegelfinger und -zehen will er ihn am
ehesten der großen Gruppe der „toxigenen Osteoperiostitis ossificans“ zugewählt
wissen, umsomehr, als auch der Befund einer Wachstumshemmung der Schädel¬
knochen sich mit der Diagnose vereinbaren läßt. Man kann daran denken, daß
auch bei diesem Knaben eine hereditäre Lues dem ganzen Krankheitsbilde zu
Grunde liegt. Blencke- Magdeburg.
Henderson, Die Gelenkaffektionen bei Tabes dorsalis. Journal of Pathology,
April 1905.
Henderson hat die diesbezügliche Literatur eingehend studiert und
kommt auf Grund dieses Studiums und seiner zahlreichen eigenen Untersuchungen
zu dem Ergebnis, daß die wichtigsten pathologischen Veränderungen in den
sensiblen Nerven zu suchen sind. Die Gelenkveränderungen will er durch Ver¬
letzungen oder lediglich durch Ueberanstrengungen hervorgerufen wissen, die
namentlich durch die bestehende Analgesie zu stände kommen. Daß dabei auch
noch vasomotorischen und reflektorisch-trophischen Störungen eine gewisse
Rolle zuzuschreiben ist, glaubt Henderson annehmen zu müssen.
B1 e n c k e - Magdeburg.
Braatz, Zur Frage der Entstehung der Gelenkkörper. Altonaer ärztlicher
Verein. Sitzung vom 5. April 1905, Münchener med. Wochenschr. 1905,
Nr. 32.
Braatz berichtet über einen im Altonaer Krankenhaus beobachteten,
noch nicht frei gewordenen Gelenkkörper im rechten Ellenbogen gelenk eines
17jährigen Bäckerlehrlings, bei dem sich anamnestisch kein Trauma nachweisen
ließ. Der Fall dürfte wohl der erste sein, bei dem vor der Operation die Dia¬
gnose eines noch nicht völlig von seiner Stelle gelösten Gelenkkörpers durch die
Röntgenphotographie gestellt wurde. B1 e n c k e - Magdeburg.
van Laak, Die Verbreitung der Osteomalacie in der Umgebung der Universität
Gießen. Diss. Gießen 1905.
Zur Klarlegung der Verbreitung der Osteomalacie in der Umgebung der
Universität Gießen veröffentlicht Verfasser die in den letzten 15 Jahren in der
dortigen Frauenklinik beobachteten Fälle von Osteomalacie. Wenn es auch
29 an der Zahl sind, so sind es jedoch bei weitem noch nicht alle in der Um¬
gebung von Gießen beobachteten Fälle. B1 e n c k e - Magdeburg.
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Referate.
159
Kersten, Ein Beitrag zur Lehre von der „Syringomyelie nach Trauma“. Dies.
Kiel 1905.
Verfasser teilt einen Fall von Syringomyelie mit, der angeblich durch
ein peripheres Trauma hervorgerufen sein soll und der insofern für den Ortho¬
päden Interesse hat. als sich bei ihm trophische Störungen in dem einen Ell¬
bogen- und Schultergelenk zeigten, erhebliche Gelenkveränderungen, wie wir sie
auch bei der Tabes so oft beobachten können. Nach des Verfassers Ansicht
besteht kein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem im Jahre 1895 erlittenen
Unfall und der erst seit 1900 bei dem Patienten bestehenden Syringomyelie*
B1 en ck e - Magdeburg.
Laqueur, Zur physikalischen Behandlung der gonorrhoischen Gelenkerkran¬
kungen. Berliner klin. Wochenschr. 1905, Nr. 23.
Verfasser schildert die in der hydrotherapeutischen Anstalt der Univer¬
sität Berlin geübte Behandlungsmethode: Bei den leichten Fällen von mon¬
artikulärem Hydrops Bettruhe mit Prießnitzumschlägen. Bei schwereren Fällen
im akuten Stadium Diebische heiße Watteverbände (Watte unter Guttapercha),
die je 8—12 Stunden liegen bleiben. Ferner ausgedehnte Anwendung von Bier¬
seber Stauung, sukzessive 3—10 Stunden täglich mit sehr gutem Erfolge. Schlie߬
lich lokale Heißluftbäder. Sehr wichtig sind frühzeitige aktive und passive
Bewegungen.
Bei den chronischen Formen ist frühzeitige Massage und medikomecha-
nische Behandlung angezeigt. Außerdem Anwendung von heißen Wattever¬
bänden, lokalen Heißluftbädern, Bierscher Stauung, warmen Vollbädern und
beißen Dampfstrahlen, gefolgt von kalter Strahldusche; besonders wirksam bei
chronischen Fällen sei die kombinierte Behandlung mit Bierscher Stauung und
heißen Dampfstrahlen und Massage. Bei alten Versteifungen sind Bewegungen
der Gelenke im warmen Vollbad bis 40°, sowie baineotherapeutische Behandlung
wirksam. Wette- Berlin.
Hirsch, Ueber die Behandlung der Arthritis gonorrhoica mit Bierscher Stauung.
Berliner klin. Wochenschr. 1905, Nr. 39.
Hirsch berichtet über 25 Fälle von Arthritis bezw. Polyarthritis gonor¬
rhoica, die mit Bierscher Stauung behandelt wurden. Die Technik weicht von der
Bierschen Vorschrift insofern ab, daß die Binde 2mal täglich, zuerst nur wenige
Minuten, in den nächsten Tagen bis zu einer Stunde, selten länger angelegt
wurde. Hirsch hebt das auffällige Verschwinden der Schmerzhaftigkeit her¬
vor. Bezüglich der Dauer der Behandlung und des funktionellen Resultates
kommt er zu dem Schluß, daß erstere vor Einführung der Bierschen Stauung
eher kürzer gewesen sei. Das funktionelle Resultat sei früher gleich gut gewesen.
Wette- Berlin.
Gereon, Eine Vereinfachung des abnehmbaren elastischen Gipskorsetts. Deutsche
med. Wochenschr. 1905, Nr. 45.
Gerson hat sein Gipskorsett dahin modifiziert, daß dasselbe jetzt nur
mehr vorne aufgeschnitten und mit elastischer Schnürung versehen wird, während
hinten in der Mitte ein breiter Streifen Leinen oder Nesseltuch miteingegipst
wird. Nach Fertigstellung des Korsetts wird hinten ein Keil aus dem Gips bis
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Referate.
auf den erwähnten Streifen herausgeschnitten, worauf sich das Korsett leicht
auseinanderklappen läßt. Wette- Berlin.
H o f fa, Die orthopädische Behandlung der Lähmungen. Deutsche med. Wochen-
sehr. 1905, Nr. 30.
Hoffa schildert den Anteil, den die Orthopädie bei der Behandlung von
Lähmungen der Extremitäten hat. Bei der Behandlung von frischen Fällen
gelten zwei Prinzipien. 1. Die Lähmung möglichst einzuschränken eventuell zu
beheben, 2. Verhütung von paralytischen Kontrakturen. Erreicht wird dies durch
Elektrisieren, Massage, gymnastische Uebungen und redressierende Manipula¬
tionen, warme Bäder, sowie Schienenhülsenapparate zu dem Zwecke, die Patienten
zum Gebrauch der Extremitäten zu bringen.
Bei alten Fällen mit vorhandenen Kontrakturen besteht die Behandlung
in Redression mit nachfolgendem Gipsverband bezw. entsprechendem Apparat
zur Fixation des erreichten Resultates sowie in der Verordnung geeigneter
Stützapparate. Von Operationen kommen vorwiegend in Frage die Arthrodese
und die Sehnentransplantationen eventuell kombiniert mit zweckmäßigenApparaten.
Wette- Berlin.
Lorenz, (Wien). Indikationen zu Sehnentransplantation. 77. Versammlung
deutscher Naturforscher und Aerzte, 24.—30. September 1905.
Lorenz ist der Ansicht, daß man jetzt allzusehr der Sehnen transplan-
tation huldige, und daß man diese Operation auch in Fällen zur Anwendung
bringe, in denen sie lieber unterbliebe. Nach seiner Meinung ist jede Sehnen¬
transplantation rationell, wenn sie eine vorhandene Störung im Gleichgewicht
des Muskelantagonismus beseitigt oder vermindert, irrationell dagegen, wenn sie
die Störung des Gleichgewichts nur in entgegengesetzte Richtung verlegt. Er
führt dann eine Reihe von Beispielen an, bei denen diese Operation nicht an¬
gebracht ist, und nennt es geradezu einen Mißbrauch, wenn man z. B. bei
entzündlichen Kontrakturen die Muskeln verlagert, schon im Gedanken daran,
sie nach Beseitigung der Deformität wieder zurückzuverlagern. Wenn auch
Lorenz in mancher Hinsicht ein wenig zu weit geht, so müssen wir ihm doch
in vielerlei Dingen recht geben, denn es werden in der Tat in manchen Fällen
derartige Operationen ausgeführt, wo sie keinerlei Erfolg bringen können.
B1 e n c k e - Magdeburg.
Assinger, Ein neuer Apparat zur Vibrationsmassage. 77. Vers, deutscher
Naturforscher und Aerzte zu Meran, 24.—30. September 1905.
Der Apparat kann in seinerWirkung gut reguliert werden; er wird mit
der einen Hand festgehalten und aufgesetzt, mit der anderen mittels Drehkurbel
in Tätigkeit gesetzt. Die Vibration wird durch eine exzentrische, rotierende
Scheibe hervorgerufen, die verstellbar ist. Blencke-Magdeburg.
Ranzi, Zur Frage der Tragfähigkeit der Bunge sehen Amputationsstümpfe.
77. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte zu Meran, 24. bis
30. September 1905.
In der Eiselsbergschen Klinik wurde das Bungesche Verfahren der
Auslöffelung des Knochenmarks bei 12 Fällen mit sehr gutem Erfolg angewendet,
selbst bei solchen Stümpfen, die nicht primär heilten. Aus letzterem Grunde
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Referate.
161
willRanzi auch dieses Verfahren bei solchen Fällen, bei denen man von vorn¬
herein auf eine primäre Heilung verzichten muß, dem Bi ersehen vorgezogen
wissen. Die Patienten müßten möglichst früh mit einer provisorischen Gips¬
stelze aufstehen. Bl encke-Magdeburg.
Finck, Eine neue Beckenstütze. Zentralblatt für Chirurgie 1905, Nr. 39.
Verfasser erörtert zunächst die Nachteile der bisher konstruierten Becken¬
stützen und beschreibt dann eine von ihm angegebene, die alle diese Nachteile
vermeidet. Dieselbe besteht aus einem Dreifuß mit zwei senkrechten und
parallelen Hohl Zylindern, in denen die Stiele der beiden Stützplatten laufen.
Letztere sind leicht ausgehöhlt, zum Kopfende des Kranken hin leicht ab¬
schüssig und von außen nach innen schräg gestellt. Auf diesen ruht das Becken
wie in einer Mulde, das empfindliche Kreuzbein bleibt frei. Die Platten können
nach Fertigstellung des Verbandes leicht und glatt unter demselben hervor¬
geholt werden. Bl encke-Magdeburg.
Gebele. Ueber Frakturenbehandlung. Münchener med. Wochenechr. 1905, Nr. 39.
Verfasser beschreibt den von der Münchener chirurgischen Klinik bei der
Frakturbehandlung eingeschlagenen Weg, bei dem mobilisierende Behandlung
und auf der anderen Seite auch Fixation auf ihre Rechnung kommen, einen
Mittelweg, der nach des Verfassers Erfahrungen am ehesten das richtige treffen
und für den Praktiker der gangbarste in der Frage der Frakturbehandlung sein
dürfte. Die Gelenkversteifungen, die Muskelatrophie, die Stauungsödeme lassen
sich am besten vermeiden durch möglichste Abkürzung der Fixationszeit der
Fragmente. Das Röntgenbild kann für die Beurteilung einer Frakturheilung
nur mitbestimmend, nie ausschlaggebend sein. Er rät deshalb, die Zeit der
Fixation immer mehr abzukürzen und die funktionelle Behandlung immer mehr
in den Vordergrund zu stellen, warnt aber bei der Frakturbehandlung eu
schabionisieren, da doch zwischen Fraktur und Fraktur ein großer Unterschied
besteht. Die näheren Einzelheiten müssen schon im Original nachgelesen werden,
dessen Studium namentlich für den Praktiker von großem Wert sein dürfte.
B1 e n c k e - Magdeburg.
zur Verth, Ein Fall von progressiver spinaler Muskelatrophie. Med. Gesell¬
schaft in Kiel, 4. Februar 1905. — Münchener med. Wochenschr. 1905, Nr. 25.
Nach einer Quetschung des rechten Daumens entwickelte sich eine stetig
zunehmende Schwäche der rechten Hand, die schließlich das vollendete Bild
einer progressiven spinalen Muskelatrophie darbot. Ergriffen waren der rechte
Arm. desgleichen auch die Muskulatur des rechten Beckengürtels. Die schnelle
Entwicklung findet nach Verfassers Ansicht ihre Erklärung durch das jugend¬
liche Alter, in dem die seltene Krankheit besonders selten ist. Erbliche Be¬
lastung liegt nicht vor. Bl encke-Magdeburg.
zur Verth, Ein Fall von spastischer Halbseitenlähmung mit Gefühlsherab-
setzung derselben Seite. Med. Gesellschaft zu Kiel, 4. Februar 1905. —
Münchener med. Wochenschr. 1905, Nr. 25.
Bei einem 22jährigen Matrosen, der in seiner Jugend viel an Kopf-
ichmerzen zu leiden hatte, stellte sich eine Lähmung des linken Beines ein,
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XV. Bd. 11
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Referate.
die sich am anderen Tage auf die ganze linke Körperseite ansdehnte. An der
gelähmten linken Hand» die in leichter Kontrakturstellung stand» hin und wieder
Athetosebewegungen. Es handelt sich nach der Ansicht des Verfassers um eine
Lues hereditaria, die sich im hinteren Knie der inneren Kapsel etabliert bat
Jodkali brachte zunächst keine Besserung. Blencke- Magdeburg.
Unverricht, Zwei Fälle von Syringomyelie. Med. Gesellschaft zu Magdeburg,
9. März 1905. — Münchener med. Wochenschr. 1905, Nr. 25.
Beiden ist gemeinsam die charakteristische Störung der Schmerz- und
Temperaturempfindung. In dem einen Falle griff die Störung der Empfindung
nach oben zu über auf das Gebiet des Trigeminus; von Muskelschwund fanden
sich geringe Zeichen an der kranken Hand und etwas deutlichere am linken
Beine. Die Kniereflexe waren beiderseits gesteigert.
Der zweite Kranke zeigte mit 13 Jahren eine immer mehr zunehmende
Verkrümmung der Wirbelsäule. Später traten entzündliche Prozesse an der
linken Hand ein, welche zur Abstoßung von Knochen führten. In der letzten
Zeit hat sich ganz ohne äußere Ursache eine Arthropathie des linken Schulter¬
gelenkes eingestellt. An den unteren Gliedmaßen fanden sich gesteigerte Re¬
flexe. Bl encke-Magdeburg.
Bum, Ueber Muskelatrophie nach Gelenkverletzungen und -erkrankungen. Natur¬
forscher- und Aerzteversammlung in Meran, 24.—30. September 1905.
Die Tierversuche, die Bum anstellte, sprechen für eine Inaktivitätsatrophie
und gegen die Auffassung einer reflektorischen Muskelatrophie. Auf Grund
seiner Versuche glaubt er den Satz aussprechen zu dürfen, daß unabhängig von
der gesetzten Gelenkerkrankung Wucherungen der Muskelfasern, nicht selten
Verschmälerungen der Fasern der immobilisierten Muskeln erfolgen, welchen
die physiologische Bewegung des Gelenkes obliegt. Bl encke-Magdeburg.
Reiß, Ein Fall von primärem Wirbelsarkom bei einem l^jährigen Mädchen.
Diss. München 1905.
Verfasser gibt die Krankengeschichte eines 12jährigen Mädchens mit
primärem Wirbelsarkom wieder, bei dem alle Symptome auf die naheliegende
Diagnose: Spondylitis dorsalis hindeuteten. Erst der Autopsie blieb es Vorbe¬
halten, ein primäres Sarkom der Wirbelsäule zu entdecken, eine immerhin
seltene Erkrankung. Der makroskopische und mikroskopische Sektionsbefund
sind eingehend beschrieben, und im Anschluß hieran führt Verfasser die bisher
in der Literatur veröffentlichten Fälle auf, die doch keineswegs zu den alltäg¬
lichen zu rechnen sind. Mit dem direkten Lokalbefund die Diagnose zu stellen,
wird immer großen Schwierigkeiten begegnen; man wird immer auch an eine
Caries denken müssen. Für die Diagnose „Tumor“ dürften nach Reiß’ Ansicht
von Belang sein: 1. Schmerzen im Rücken, ausstrahlend vor allem in die unteren
Extremitäten, 2. Symptome vom Knochen selbst, 3. Symptome vom Rückenmark,
4. trophoneurotische Störungen und 5. Versagen jeglicher Therapie, vor allen
Dingen keine Besserung durch Veränderung der Lage. Trotzdem wird es sich
schwerlich vermeiden lassen, jeden Irrtum bei der Stellung der Diagnose zu
beseitigeu, da hier wie dort alle Symptome einer typischen Spondylitis vor¬
handen sein können. Biencke-Magdeburg.
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Referate.
163
Fürst, Ueber Kompressionsmyelitis, ausgehend von einer Karzinommetastase
der Dura mater spinalis. Dies. München 1905.
Verfasser gibt die Krankengeschichte eines Falles von Kompressions¬
myelitis, ausgehend von einer Karzinommetastase der Dura mater spinalis wieder.
An der Hand dieses Falles und an der Hand des Sektionsbefundes, der auch
genau in der Arbeit wiedergegeben ist, bespricht Verfasser die Kompressions¬
myelitis und zieht namentlich in differentialdiagnostischer Beziehung die Caries
der Wirbelsäule heran. Eine Reihe von Abbildungen sind der Arbeit beigegeben.
B1 e n c k e - Magdeburg.
Reimers und Boye, Ein Beitrag zur Lehre von der Rhachitis. Zentral bl.
für innere Medizin XXVI, Nr. 39.
Verfasser nehmen die bereits von anderer Seite gemachten Versuche
wieder auf, indem sie Hunde mit kalkarmer Nahrung fütterten und nun Unter¬
suchungen anstellten über die eintretenden Veränderungen. Die mikroskopische
Untersuchung ergab eine allgemeine Osteoporose, bei der die für die Rhachitis
charakteristische, reichliche Neubildung des osteoiden Gewebes fehlte. Dem¬
gegenüber stellten sie nun die Untersuchungen eines wirklich rhachitischen Hundes.
Die durch die Knochenenden dieses Hundes geführten Längsschnitte zeigten
makroskopisch wie mikroskopisch ein anderes Aussehen, wie aus den beigefügten
Abbildungen ersichtlich ist. Bei der Rhachitis handelt es sich nach der Ansicht
der Verfasser wahrscheinlich um eine in der Wachstumsperiode auftretende
Stoffwechsel- oder Konstitutionskrankheit, die sich vornehmlich in einer mangel-
oder fehlerhaften Verarbeitung des Phosphors oder phospborsauren Kalkes äußert.
Wie andere Konstitutionskrankheiten, so scheint auch die Rhachitis eine starke
Neigung zu besitzen, sich auf die Nachkommenschaft in Gestalt einer Disposition
zu vererben. Die Frage, wann und auf welche Weise beim Menschen die
Rhachitis ursprünglich entstanden sei, glauben Verfasser folgendermaßen beant¬
worten zu müssen: Bei einem bis dahin in der Aszendenz rhachitisfreien, im
Wachstum begriffenen Individuum entsteht durch eine qualitativ ungeeignete
Nahrung eine Rhachitis geringsten Grades, die zunächst klinisch und anatomisch
ein ähnliches Bild darbieten könnte wie der kalkarm gefütterte Hund. Wenn
nun durch weitere unzweckmäßige Ernährung die Störung noch verstärkt wird,
so könnte nach Paarung derartig veränderter Individuen bei ihren Nachkommen
schon eine Art rhachitischer Disposition auftreten. Wenn alsdann auch diese
Nachkommen wieder unzweckmäßig ernährt werden, so könnte nach abermaliger
Paarung etc. schließlich eine wirkliche Rhachitis entstehen.
B1 e n c k e-Magdeburg.
Laub, Ein Beitrag zur Frage des akuten tuberkulösen Rheumatismus. Zeitschr.
für Tuberkulose und Heilstättenwesen VII. Bd., Heft 5, 1905.
Verfasser hatte Gelegenheit, bei einem seiner Patienten eine Gelenk¬
erkrankung zu beobachten, deren eigentümlicher Verlauf ihn auf den Gedanken
brachte, daß es sich um einen Rheumatismus tuberculosus handeln könnte,
eine Krankheitsform, die nach des Verfassers Ansicht anscheinend nicht genügend
gewürdigt wird, die sich aber von der klassischen Gelenktuberkulose scharf
unterscheidet. Sie bildet in den Gelenken keine spezifischen Produkte, Fungo-
«täten, Granulationen, Abszesse und käsige Infiltrationen, sondern es handelt
öch ausschließlich um rein entzündliche Veränderungen. Auch in dem vor-
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Referate.
liegenden Falle waren die Entzündungserscheinungen sehr gering, die Schmerzen
nicht sehr heftig, Salyzil zeigte keinerlei günstige Wirkung. Verlauf und
Symptome entsprachen den von Poncet als charakteristische Symptome an¬
gegebenen. Für akuten tuberkulösen Rheumatismus sprach ferner auch noch
der Umstand, daß die Gelenkschwellungen nach Ausbruch einer Pleuritis auf¬
traten, deren tuberkulöse Natur nicht zu bezweifeln war und zwar auf derselben
Seite in einem der zunächstliegenden Gelenke. Nach Ablauf der akuten Reiz-
■erscheinungen wurden vorsichtige Massagen vorgenommen und eine Badekur
in-Wiesbaden empfohlen und damit ein fraglos günstiger Erfolg erzielt. Natür¬
lich darf bei Anwendung solcher Mittel der allgemeine Zustand nicht außer
acht gelassen werden, und alles, was auf das Grundleiden ungünstig einwirken
kann, soll man möglichst meiden. Bei primärem tuberkulösem Rheumatismus
ist es angezeigt, dieselbe Kur wie bei Lungentuberkulose einzuleiten, also eine
physikalisch-diätetische, um die Widerstandsfähigkeit des Organismus gegen die
Infektion zu stärken. Blencke-Magdeburg.
.Teissier und Verhoogen, Die klinischen Formen des chronischen Gelenk¬
rheumatismus. VIII. franz. Kongreß für innere Medizin. Lüttich, 25.—27.
September 1905. Münchener med. Wochenschr. 1905, 44.
Jede Form von chronischem Rheumatismus hat nach Teissiers Ansicht
als Ausgangspunkt eine Infektion, obwohl deren Art in vielen Fällen noch nicht
bekannt ist. Diese Infektion kann erstens auf indirekte Weise, als Tropho-
neurose wirken, indem primär das Gift oder die Toxine auf das Zentralnerven¬
system und die Wurzeln im Rückenmark wirken, und zweitens direkt durch
Wirkung der Bakteriengifte auf die Synovialis etc. Teissier unterscheidet zwei
große Hauptgruppen, den chronischen deformierenden Rheumatismus mit seinen
Varietäten, den progressiven polyarticulären und den partiellen Rheumatismus,
und den chronischen infektiösen oder Pseudorheumatismus mit verschiedenartigen
Infektionsursachen und Verlaufstypen.
Auch Verhoogen ist der Ansicht, daß der chronische Rheumatismus
eine Infektionskrankheit bildet, wofür verschiedenartige und je nach den Fällen
wechselnde Ursachen vorhanden sind. Er unterscheidet vier verschiedene Haupt¬
typen: 1. den osteoartikulären Typus, 2. den serösen Typus, 3. den fibrösen
Typus und 4. den Muskeltypus. Den tuberkulösen Rheumatismus erklärt Ver¬
hoogen für eine rein hypothetische Annahme. Blencke-Magdeburg.
Eichmann, Über transitorische postepileptische Lähmungen. Diss. Leip¬
zig 1905.
Verfasser hatte Gelegenheit, sowohl in seiner Privatpraxi9 wie auch in
der Charite mehrere Fälle von bei idiopathischer Epilepsie auftretenden Läh¬
mungserscheinungen zu beobachten und zu studieren. Im Anschluß an diese
Fälle hat Verfasser versucht, die einschlägige Literatur zusammenzustellen und
eine Erklärung dieser postepileptischen Zustände zu versuchen. Nach seiner
Ansicht wird durch irgend einen Reizungsvorgang im Gehirn zunächst eine
tonische Kontraktur der gesamten Körperniuskulatur ausgelöst. Die Respiration
steht infolge der Teilnahme der Atmungsmuskulatur an der tonischen Kontraktur
still. Die unmittelbare Folge ist eine hochgradige cyanotische Verfärbung des
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165
ganzen Kopfes, die eine Folgeerscheinung der Kohlensäureüberladung und prallen
Füllung der Venen ist, da der Rückfluß des venösen Blutes erheblich behindert
ist Durch die plötzliche venöse Stauung werden sich Ödeme und eventuell
auch kapilläre Hämorrhagien in mehr oder weniger hohem Grade im Bereich
der motorischen Zentren bilden können, die in Verbindung mit der serösen
Durchtränkung schädigend auf die Nervenelemente einwirken. Je nach dem
Sitze dieser Veränderungen werden daher auch verschiedene, teils motorische,
teils sensible Lähmungszustände bewirkt werden können. Freilich aber bedarf
es der Annahme einer besonderen individuellen Anlage, um das immerhin seltene
Hervortreten dieser Erscheinungen zu erklären. Blencke-Magdeburg.
Grabmeister, Ein Fall von Osteomalacie. Diss. München 1905.
Verfasser schickt eine kurze Darstellung der Anschauungen von dem
Wesen der Osteomalacie, der pathologisch-anatomischen Verhältnisse und der
Krankheitserscheinungen dieses Leidens im allgemeinen voraus, gibt einen ge¬
drängten üeberblick über die Geschichte dieser eigenartigen Erkrankung und
führt vor allem die Fälle an, die in der älteren Literatur verzeichnet 9ind.
Im Anschluß an diese gibt er sodann die Krankengeschichte und den Sektions¬
befund eines Falles wieder, der seiner Arbeit zu Grunde gelegt ist und der,
wie Verfasser sagt, gleichsam einen Schulfall bildet. Die Sektion ergab hoch¬
gradige Halisterese und das für die Osteomalacie charakteristische Becken
mit herzförmigem Beckeneingang, die überaus stark verkrümmte Wirbelsäule,
den eingezogenen Brustkorb und alle anderen bekannten Folgezustände dieser
Krankheit. Bl encke-Magdeburg.
L o o s e r, Zur Kenntnis der Osteogenesis imperfecta congenita und tarda (sogen,
idiopathische Osteopsathyrosis). Mitteilungen a. d. Grenzgebieten der Medizin
und Chirurgie XV. Bd., Heft 1 und 2, 1905.
Verfasser bringt die Ergebnisse der an den wegen hochgradiger Ver¬
krümmungen amputierten Unterschenkeln eines typischen Falles von Osteopsa¬
thyrosis vorgenommenen anatomischen Untersuchung, der bereits an anderer
Stelle klinisch beschrieben wurde. Auf nähere Einzelheiten der in der aus¬
führlichsten Weise wiedergegebenen Untersuchungen kann ich natürlich hier
nicht näher eingehen; ich will nur kurz einige von Loos er aufgestellte Sätze
anführen. Das Wesen der Erkrankung besteht in einer mangelhaften Funktion
der endostalen und periostalen Osteoblasten bei normaler Bildung derselben,
die die mangelhafte Knochenapposition begleitende Resorption geschieht in
normaler Weise und ist nicht gesteigert. Die Folgen der mangelhaften Knochen¬
apposition sind eine hochgradige Atrophie der Knochen und ein mangelhaftes
Dickenwachstum derselben. Am feineren Bau der Knochensubstanz zeigt sich
die mangelhafte Apposition am großen Zellreichtum der Bälkchen und an der
körnig-krümeligen Verkalkung der Knochengrundsubstanz. Die Epiphysenknorpel
sind zunächst normal, später treten regressive Veränderungen auf. Die an die
Epiphysenknorpel sich anschließende Knochenbildung geschieht in normaler
AV eise, ist aber in ihrer Intensität stark herabgesetzt. Das Knochenmark zeigt
normales Verhalten und nur an Stellen mechanischer Reizung fibröse Umwand¬
lung. Die mikroskopischen Befunde rechtfertigen nach Looser die Auffassung.
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166
Referate.
daß die Osteopsathyrosis eine selbständige Krankheit ist. Für ihn kann es
nach seinen Untersuchungen keinem Zweifel mehr unterliegen, daß die Osteo¬
genesis imperfecta und die Osteopsathyrosis ein und dieselbe Krankheit sind
und sich nur durch den Zeitpunkt ihres Auftretens voneinander unterscheiden.
Es wäre deshalb im Interesse der Einfachheit wünschenswert, die beiden mit
einem gemeinsamen Namen zu belegen, und zwar wäre am besten nur zwischen
einer Osteogenesis imperfecta congenita und tarda zu unterscheiden. Verfasser
hält es für wahrscheinlich, daß die Osteogenesis imperfecta im weiteren Sinne
eine angeborene Affektion ist, die in leichteren Fällen zu gewissen Lebensperioden
unerkannt bleiben kann. Ueber die Ursachen der Erkrankung ist nichts Sicheres
bekannt.
Ein Literaturverzeichnis und eine Reihe sehr instruktiver Abbildungen
sind der sehr interessanten Arbeit beigegeben, deren Studium wir nur aufs
angelegentlichste empfehlen können. Bien cke* Magdeburg.
v. Hovorka, Ueber Spontanamputationen. 77. Versammlung deutscher Natur¬
forscher und Aerzte zu Meran, 24.—30. September 1905.
Erscheint in diesem Hefte der Zeitschrift.
Bleibtreu, Ein Fall von Akromegalie (Zerstörung der Hypophysis durch
Blutung). Münchener med. Wochenschr. 1905, Nr. 43.
Verfasser gibt die Krankengeschichte eines Falles wieder, bei dem er im
Anfang schwankte, ob es sich um einen reinen Riesenwuchs, eine sogenannte
Gigantosomie handelte, oder um sehr geringe akromegalische Veränderungen.
Er entschied sich für die Akromegalie, die auch durch die später vorgenommene
Sektion bestätigt wurde, bei der die Hypophysis einen sehr interessanten Be¬
fund darbot. Auch in dem vorliegenden Falle wurde ein Trauma beschuldigt.
Ein sicherer Beweis zwischen diesem und der Erkrankung kann vom Verfasser
nicht erbracht werden. Blencke-Magdeburg.
Zesas, Ueber luetische Arthropathien. Fortschritte der Medizin 1905, Nr. 26.
Verfasser bespricht einen Fall von luetischer Arthropathie. Es handelte
sich um einen 26jährigen Studenten mit Anschwellung des linken Kniegelenks,
die jeglicher antirheuraatischen Therapie trotzte. Es wurde täglich eine
1 jstündige Massage mit 4 g Ung. ein. vorgenommen. Nach den ersten zehn
Sitzungen gingen Schwellung und Rötung zurück; nach der dreißigsten Ein¬
reibung waren keinerlei krankhafte Veränderungen mehr nachweisbar.
Gerade das Resultat einer antisyphilitischen Behandlung soll nach des Ver¬
fassers Meinung für diese Gelenkleiden ausschlaggebend sein, die entweder unter
dem Bilde einer einfachen Arthralgie oder einer akuten Synovitis Vorkommen
und sich mitunter auch chronisch entwickeln können, die Erscheinungen einer
Osteoarthropathie darbietend. Die am meisten betroffenen Gelenke sind Schulter,
Ellenbogen, Hand und Knie. Prognostisch sind die syphilitischen Gelenkleiden
günstig, wenn sie frühzeitig richtig aufgefaßt und spezifisch behandelt werden.
Bei der akuten Form glaubt Zesas eine Schwellung der Synovialis mit serösem
bezw. blutig-serösem Erguß annehmen zu müssen, bei der chronischen dazu
noch tiefgehende Zerstörungen im Knorpel, die mit den bei der Arthritis defor-
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Referate. 167
mans vorhandenen Knorpelveränderungen nicht zu verwechseln sind, da Knorpel-
auffaserungen und Knorpel Wucherungen gänzlich fehlen, und da sie außerdem
ihren Sitz nicht am Rande, sondern in der Mitte der Gelenkfläche haben.
B1 e n c k e - Magdeburg.
Schoenborn, Ueber Akromegalie. Beiträge zur pathologischen Anatomie
und zur allgemeinen Pathologie. 7. Supplement. Festschrift für Professor
Julius Arnold.
Verfasser berichtet über einen Fall von Akromegalie mit Sektionsbefund,
der einige vom typischen Befunde abweichende Besonderheiten aufweist. Die
Sektion ergab einen Hypophysistumor. Verfasser ist der Meinung, daß auch
angesichts der immerhin recht verschiedenartigen Befunde bei Akromegalie,
zumal der pathologisch-anatomischen, eine möglichst vorsichtige Fassung aller
theoretischen Schlußfolgerungen noch immer am Platze ist.
B1 e n c k e - Magdeburg.
Krüger, Ueber Osteoarthropathie hypertrophiante pneumique. Naturwissen¬
schaftliche med. Gesellschaft zu Jena, 8. Juni 1905. Münchener med.
Wochenschr. 1905, Nr. 35.
Es bandelte sich um eine 52jährige Frau mit symmetrischer Vergrößerung
der Hände und Füße mit gleichzeitiger Deformierung. Ferner war hochgradige
Trommelschlegelform der Endglieder vorhanden, enorme Verbreiterung der
Hand- und Fußgelenkgegenden, deutlicher Erguß in den Knie- und Ellbogen¬
gelenken, ohne Beschränkung der Beweglichkeit, deutliche Krepitation in Hand-
und Fingergelenken und Kyphose der Brustwirbelsäule. Diese Veränderungen
hatten sich im Laufe von 2 Jahren entwickelt, ohne je Beschwerden verursacht
zu haben. Außer den periostalen Auflagerungen war auf den Röntgenbildern
die Aenderung der inneren Knochenstruktur bemerkenswert. Die Frage der
Aetiologie dieser Erkrankung läßt Krüger offen, jedoch ist er geneigt, in
Uebereinstimmung mit anderen Autoren eine chronische Toxinwirkung anzu¬
nehmen, die in diesem Falle ausging von einer malignen Neubildung selbst,
oder von der durch dieselbe geschädigten Lunge. Blencke-Magdeburg.
Daser, Ueber einen Fall von Osteitis deformans (Paget). Münchener med.
Wochenschr. 1905, Nr. 34.
Im Anschluß an einige allgemeine Auseinandersetzungen über diese eigen¬
tümliche Erkrankungsform bringt Daser die Krankengeschichte einer 50jährigen
Frau, bei der das Leiden 16 Jahre vorher mit Schmerzen im Rücken, Kreuz
und linken Oberschenkel begann, der sich langsam krümmte. Als später auch
das rechte Bein erkrankte, wurde ihr das Gehen unmöglich. Die Wirbelsäule,
deren Dornfortsätze äußerst druckempfindlich waren, zeigte im Hals- und Brust¬
abschnitt eine bogenförmige Kyphose, im Lendenabschnitt eine leichte Lordose.
An den Knochen der oberen Extremitäten fanden sich keine auffallenden Ver¬
änderungen. Nur der rechte Humerus war verdickt und druckempfindlich, die
Exkursionsfähigkeit der rechten Schulter bedeutend eingeschränkt. Die beiden
Oberschenkel waren beträchtlich verdickt und bildeten einen nach außen kon¬
vexen Bogen, wodurch eine üeberkreuzung beider Beine unterhalb der Knie¬
gelenke zu stände kam. Die Hüften stehen in geringer Flexion und haben,
ebenso wie die Kniegelenke, den größten Teil ihrer freien Beweglichkeit ein-
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168
Referate.
gebüßt. Patientin kann nur sehr schlecht stehen, gehen überhaupt nicht. Die
Röntgenbilder der Oberschenkelknochen lassen die Umwälzungen, welche durch
den steten Ab- und Anbau in der Knochenarchitektur hervorgerufen werden,
deutlich erkennen. Die Therapie steht auch nach des Verfassers Ansicht diesem
schweren Leiden völlig machtlos gegenüber. Verfasser warnt dringend vor der
Osteotomie, wenn es sich um so hochgradige Veränderungen handelt, wie sie
diese Kranke zeigte. Blencke-Magdeburg.
Löbus, Ueber Hemiplegie intra partum. Diss. Leipzig 1905.
Löbus vermehrt die immerhin noch sehr geringe Kasuistik der Schwanger¬
schaftshemiplegie um eine neue Beobachtung. Es handelte sich um ein junges
Mädchen, bei dem am Tage vor ihrer ersten Entbindung ganz plötzlich eine
rechtsseitige Hemiplegie mit Aphasie eintrat und zwar nach den vorhandenen
Symptomen zu schließen infolge von Embolie der vorderen Aeste der linken
Arteria fossae Sylvii. Der mitgeteilte Fall stellt nach des Verfassers Ansicht
eine weitere Illustration zu dem in den mannigfachsten Erscheinungen zum
Ausdruck kommenden Satze dar, daß die von der Schwangerschaft abhängigen
Aenderungen der Zirkulationen im stände sind, im Verein mit bereits bestehen¬
den, aber bis dahin latent gebliebenen anderen Störungen schwere Gehirn¬
affektionen zur Entstehung zu bringen. Blencke-Magdeburg.
Veit, Besteht ein Zusammenhang zwischen Polydaktylie und Gehirnmißbil¬
dungen? Diss. Göttingen 1905.
Verfasser sucht in der Arbeit über die Frage, ob nicht ein innerer
Kausalnexus zwischen Polydaktylie und Gehirnmißbildungen bestehen könnte,
in dem Sinne, daß letztere als das primäre und die Polydaktylie als das sekun¬
däre von jener abhängige Moment anzusehen wäre, auf Grund des Materials
der Göttinger pathologisch-anatomischen Sammlung ein Urteil zu gewinnen.
Er beschreibt vier Präparate, die die Kombination der Zyklopie mit Polydak¬
tylie aufwiesen. Verfasser kommt auf Grund seiner Studien und Untersuchungen
zu der Ansicht, daß keine Möglichkeit vorliegt, irgendwelche innere Beziehung
zwischen Zyklopie und gleichzeitig vorkommender Polydaktylie anzunehmen,
wenigstens insofern nicht, als die primäre Ursache für letztere in der Mißbil¬
dung des Zentralnervensystems zu suchen wäre, sondern daß vielmehr im Gegen¬
teil zahlreiche gewichtige Gründe vorliegen, die direkt gegen die Annahme
eines solchen Zusammenhangs sprechen. Für die sporadisch auftretenden Fälle
von Polydaktylie will Verfasser in der Hauptsache mechanische Momente in
Betracht gezogen wissen, eine Annahme, die insbesondere noch durch andere
gleichzeitig am Körper auftretende Mißbildungen bestärkt wird, für die here¬
ditär und symmetrisch auftretenden Fälle aber haben wir nach des Verfassers
Ansicht die letzte Ursache in der Keimeszelle selbst zu suchen, wobei wir offen
zugestehen müssen, daß wir über deren Natur noch völlig im Dunkeln sind.
Blencke - Magdeburg.
Gundermann, Ueber das Verhalten der Reflexe bei Querschnittsläsionen des
Rückenmarks an der Hand zweier Fälle von Fraktur der Halswirbelsäule.
Diss. Leipzig 1905.
Im Anschluß an 2 Fälle von Querschnittsläsion des Rückenmarks unter¬
zieht Verfasser die pathologischen Reflexerscheinungen, die bei Querläsionen
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Referate.
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des Rückenmarks sich häufig finden, einer Erörterung und Erklärung und be¬
spricht ihre diagnostische Bedeutung. In den Mittelpunkt der Abhandlung
stellt er dabei die Jendrassi ksche Reflextheorie, deren Richtigkeit seiner Meinung
nach durch einige Publikationen aus den letzten Jahren außer Zweifel gestellt
ist. Gundermann kommt zu folgendem Ergebnis: Bei unkomplizierter hoher,
traumatischer Querschnittsläsion sind die Patellarreflexe in ungefähr normaler
Stärke erhalten. Die normalen Hautreflexe sind erloschen. Es treten die von
Jendrassik als pathologische spinale Reflexe bezeichneten Bewegungen auf. Die
willkürliche Entleerung von Blase und Mastdarra ist aufgehoben, doch kann
sich bei beiden eine automatische Selbstregulierung herstellen, da ja ihr Re¬
flexzentrum nicht gestört ist. Bei komplizierter Querschnittsläsion kommt es
zum Ausfall der Reflexe. Betreffs Entleerung von Blase und Mastdarm,
sowie betreffs der pathologischen spinalen Reflexe gilt dasselbe wie bei un¬
komplizierter Querschnittsläsion. Der in den Krankengeschichten niedergelegte
Befund befindet sich in sämtlichen Punkten in Uebereinstimmung damit und
bildet eine weitere Stütze der jetzt geltenden Theorie von den normalen Re¬
flexen und ihren Störungen nach Läsionen des Rückenmarks.
B1 e n c k e - Magdeburg.
Determann, „Intermittierendes Hinken“ eines Arms, der Zunge und der
Beine. Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilkunde XXIX.
Verfasser gibt die Krankengeschichte eines Falles vom sogenannten inter¬
mittierenden Hinken wieder, der sowohl wegen der offenbaren Seltenheit, seiner
Vielseitigkeit, als auch wegen des Vorkommens des Sitzes an anderen Teilen des
Körpers großes Interesse bieten dürfte. Außer dem intermittierenden Hinken
der Beine besteht noch ein solches „Hinken“ des rechten Arms und der Zunge,
die alle drei in ihrem Auftreten ganz gleichen Charakter zeigen. Da man doch
nicht von intermittierendem Hinken des Armes und der Zunge sprechen kann,
schlägt Determann vor, einen anderen Ausdruck zu wählen: intermittierende
Muskelschwäche, intermittierendes Muskelversagen oder noch besser Dyskinesia
oder Akinesia intermittens angiosklerotica. Determann glaubt, daß bei er¬
höhter Aufmerksamkeit sich gelegentlich auch an anderen Körperteilen als an den
Beinen dieser Symptomenkomplex finden läßt; er konnte im ganzen 5 Beob¬
achtungen über intermittierende Armlähmung ausfindig machen. In dem vor¬
liegenden Falle handelte es sich um eine ausgesprochene familiäre Anlage zur
Angiosklerose. B1 e n c k e - Magdeburg.
Gottschalk, Beitrag zur Kenntnis der Knochen- und Knorpelgeschwülste.
Diss. Leipzig 1905.
An der Hand eines Falles von einem kolossalen Enchondrom des Femur
bespricht Verfasser die Knochen- und Knorpelgeschwülste, von denen den Ortho¬
päden wohl in erster Linie die Exostosen interessieren dürften.
B l e n c k e - Magdeburg.
Seeligmüller, Zur Pathogenese der Halsmuskelkrämpfe. Verein der Aerzte
in Halle a. S. Sitzung vom 25. Januar 1905. — Münchener med. Wochen¬
schrift 1905, 25.
Es handelte sich um einen 27jährigen Eisenbahnpraktikanten, der seit
5 Monaten an einem sehr heftigen klonischen Krampf des rechten Sternocleido-
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170
Referate.
mastoideu8 und des linken Splenius litt. Es wurde eine streng lokalisierte
Faradisation der atrophischen und paretischen Antagonisten, später eine ebenso
lokalisierte Massage derselben vorgenommen; daneben wurde Hyoscin. hydrobrom,
in Lösung zu V 2 —1—2 g in 24 Stunden refracta dosi innerlich gegeben, die
Halswirbelsäule mit 12—13 Pfund je 3 Stunden lang 2mal täglich gestreckt
und eine allgemeine Körper- und Herzmassage ausgeübt. Schon nach 2 Tagen
trat ein auffälliger Erfolg ein. Nach etwa 70tägiger Behandlung verhielt sich
der Kopf meist ruhig und das Kinn wurde nur noch zeitweise nach links ge¬
zogen. Es bestand außerdem noch eine hochgradige Atrophie des Spatium
interosseum primum an der linken Hand und eine weniger ausgesprochene
Atrophie und Parese in den rechtsseitigen Schultermuskeln. Diesen auffälligen
Symptomenkomplex vermag Vortragender nicht anders zu erklären, als durch die
Annahme von herdförmigen Läsionen in den Nervenkernen der paretischen
Muskeln im Halsmark, also eine Poliomyelitis adultorum subacuta, die sich auf
das Halsmark vom Akcessoriuskern abwärts beschränkt.
B1 e n c k e - Magdeburg.
Hoffa, Die orthopädische Behandlung der Lähmungen. Vorträge über
praktische Therapie, Heft 6.
Die orthopädische Behandlung der Lähmungen soll, neben der Anwen¬
dung innerer Mittel, möglichst früh beginnen,^und zwei Indikationen genügen,
1. die Lähmung möglichst einzuschränken, eventuell vollkommen zu beheben,
2. das Entstehen von paralytischen Kontrakturen zu verhüten. In frischen Fällen,
speziell der spinalen Kinderlähmung, die ja am häufigsten die Ursache zu
orthopädischen Maßnahmen abgibt, beginnt man mit elektrischer Behandlung,
die man eventuell durch die Tenotomie der kontrakturierten Muskeln unter¬
stützt. Dazu gesellen sich Massage, gymnastische Uebungen, warme Bäder,
spirituöse Abreibungen. Zur Verhütung paralytischer Kontrakturen legt man
Schienenhülsenapparate nach Hessing an. — Bei veralteten Fällen kommen
ebenfalls Schienenhülsenapparate zur Anwendung und außerdem operative Ma߬
nahmen, vor allem Arthrodesenoperationen und Sehnentransplantationen, mit
denen man bei geeigneter Auswahl der Fälle vorzügliche Resultate erzielt. —
Auch bei der cerebralen Kinderlähmung ist durch Sehnenverlagerung eine fast
vollkommen normale Funktion von Hand und Vorderarm zu erreichen, und
selbst bei spastischen Lähmungen, insbesondere der Littleschen Krankheit, ver¬
dankt man der Kombination von operativen Eingriffen und orthopädischen Ma߬
nahmen noch gute Erfolge. Nast-Kolb-Berlin.
Flat au, Ueber einen neuen Gymnastikapparat und seine Verwendbarkeit bei
Behandlung von Nervenleiden. Medizin. Klinik 1905, 27.
Nach Vorauschickung einiger kurzer allgemeiner Bemerkungen über den
Nutzen gymnastischer Uebungen im allgemeinen und bei einigen Nerven¬
erkrankungen beschreibt Fla tau einen von G. Müller angegebenen Apparat
namens „Autogymnast“, der allen Wünschen gerecht werden soll. Er kann
an jedem Orte, im Zimmer, im Freien etc. gebraucht werden, weil er nicht am
Fußboden angeschraubt oder am Türpfosten befestigt wird. Man kann ihn über¬
all mit sich führen und sobald es Zeit und Gelegenheit gestattet, sich seiner
bedienen. Die Uebungen können in einfachster Weise ausgeführt, dosiert und
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Referate.
171
schließlich in einer Weise modifiziert werden, daß sie jedem Gelenk, jeder
Muskelgruppe eine Betätigung gestatten. B1 e n c k e - Magdeburg.
Immelmann, Fortschritte in der orthopädischen Behandlung. Zeitschr. f.
diätetische und physikalische Therapie 1905/1906. Band IX.
Die Arbeit soll dem praktischen Arzte zeigen, welchen Aufschwung die
orthopädische Behandlung in den letzten Jahren genommen hat, und will vor
allen Dingen des großen Einflusses gedenken, welchen die Entdeckung der Röntgen¬
strahlen für die Orthopädie gezeitigt hat. Die angeborene Hüftluxation, die
Coxa vara, die Coxiti9 und die Spondylitis tuberculosa, die Gelenkkontrakturen
und die Skoliose werden der Reihe nach in den einzelnen Abschnitten kurz und
präzis besprochen. B1 e n c k e - Magdeburg.
J. Lamberger, Ueber lokale Heißluftbehandlung. Wiener med. Presse 1905,
Nr. 1 und 2.
Verfasser bespricht ausführlich die Konstruktionsprinzipien der bei der
Heißluftbehandlung in Verwendung stehenden Apparate und führt einen Teil
der unangenehmen Nebenwirkungen derselben auf den Einfluß der sich ent¬
wickelnden Verbrennungsprodukte zurück. Durch die von ihm eingeführte
elektrische Heizung sollen sich diese Nachteile vermeiden lassen. Im zweiten
Teile des Aufsatzes befaßt sich Lamberger mit der Technik der lokalen
Heißluftbehandlung. Von großer Bedeutung für die Wirksamkeit derselben
hält er die Lagerung der erkrankten Teile, resp. der Patienten und verlangt
die pathologische Lagerung, d. i. die Lagerung in den Zwangsstellungen,
welche eine Extremität reflektorisch einnimmt, um das Mindestmaß von Schmerz¬
haftigkeit zu erleiden. Lamberger verwendet daher vorzugsweise Sturz¬
apparate, da diese nach der Lagerung der Kranken gerichtet werden können.
Hau d ek - Wien.
Anton Bum, Die Behandlung von Gelenkerkrankungen mittels Stauung. Wiener
med. Presse 1905, Nr. 3 u. 4.
In dem Vortrage bespricht Bum vorerst die physiologischen Wirkungen
der passiven Hyperämie. Im allgemeinen schließt er sich den auch von anderen
Autoren geäußerten Ansichten an. Nur bezüglich der schmerzstillenden Wirkung
der Stauung steht Bum auf Grund seiner Tierexperimente auf dem Standpunkte,
daß die Stauung Vermehrnng des Gelenkinhaltes verursacht, wie dies auch
Blecher annimmt, die eine Steigerung des intraartikulären Druckes zur un¬
mittelbaren Folge hat, wodurch eine Distraktion der Gelenkenden und damit
eine Verminderung ihrer Berührungsflächen erfolgt, welche die Gelenke für
passive Bewegungen toleranter macht.
Für eine schmerzstillende Wirkung durch Verminderung der Flächen¬
berührung pathologisch veränderter Gelenkenden spricht auch der prompte
Effekt der Extension entzündeter Gelenke. Bum ist der Ansicht, daß für die
Richtigkeit seiner Hypothese auch der Umstand spricht, daß die Methode bei
der Arthritis deformans unwirksam ist, die durch Hyperplasien der Synovialis,
der Knorpel und Knochen, also durch pathologische Vermehrung der Berührungs¬
flächen charakterisiert ist.
Die Stauung soll bei erkrankten Gelenken frühzeitig zur Anwendung
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172
Referate.
kommen, da die schmerzstillende Wirkung derselben für die Mobilisierung der
Gelenke und damit für die spätere Gelenkfunktion wichtige Dienste leistet. Be¬
sonders wertvoll ist die Stauung bei der Behandlung der Arthritis gonorrhoica,
besonders auch bei den schweren und schwersten Formen, da es Bum durch
diese Behandlung vielfach gelingt, die Versteifungen der Gelenke zu vermeiden.
In günstigem Sinne werden durch die Stauung auch Gelenksteifigkeiten
beeinflußt, indem nach Bums Erfahrungen unter dem Einflüsse der Stauung
die sonst so gefürchteten passiven Bewegungen ertragen werden.
Die Anzeigen für Anwendung der Stauung resümiert Bum dahin, daß
die Arthritis gonorrhoica, der akute Gichtanfall und der akute und subakute
Gelenkrheumatismus, vor allem wegen der schmerzstillenden Wirkung der
Stauung, eine solche in erster Linie indizieren. Eine unterstützende Wirkung
kommt der Methode bei jenen Formen der Gelenkerkrankungen zu, die mit
größeren Transsudaten und Exsudaten einhergehen, also bei der serösen Synovitis,
dem Hydrops der Gelenke, bei dem sogenannten chronischen Gelenkrheumatismus,
mit Ausnahme der Arthritis deformans, und bei den Gelenkverletzungen.
Die Stauung ist gegebenen Falles auch mit anderen physikalischen Heil¬
methoden, Massage, aktiver Hyperämie in Form von Bewegungen, Alkohol*
Umschlägen, Heißluftbehandlung, Dampfduschen etc. zu kombinieren. Für die
Stauung eignen sich besonders die distalen Gelenke. Zum Schlüsse erörtert Bum
noch die Technik der einfachen Stauung mittels elastischer Binde, der er den
Vorzug vor der jüngst von Bier empfohlenen Stauung durch Anlegung luft¬
verdünnender Apparate gibt. Haudek-Wien.
Han8 Spitzy, Zur allgemeinen Technik der Nervenplastik. Wiener klin.
Wochenschr. 1905, Nr. 3.
Von dem Gedanken ausgehend, daß ein Wiederaufleben der Muskel¬
substanz und die Wiederaufnahme ihrer Arbeitsleistung durch Herstellung der
unterbrochenen nervösen Verbindung möglich ist, sind Versuche über Nerven¬
plastik angestellt worden. Die Muskeln des Lähmungsbezirkes werden wieder
belebt, indem man sie an das Leitungssystem eines benachbarten intakten
Nerven anschließt.
Spitzy hat nun die verschiedenen Methoden der Nervenplastik gesichtet
und Versuche angestellt, um bei den häufigsten Lähmungstypen die topo¬
graphisch günstigste Methode zu ihrer Korrektur und eine entsprechende
Technik ausfindig zu macheu.
Spitzy nahm die Versuche an Hunden vor, und zwar zuerst die Ein¬
pfropfung des Nervus peroneus in den Nervus tibialis. Nach Freilegung des
Nervus ischiadicus und des Nervus tibialis und peroneus wird der Nervus peroneus
2 cm unter seinem Ursprung durchschnitten, der zentrale Teil zurückgeschlagen
und in den Musculus biceps vernäht, der periphere Peroneussturapf durch
einen Längsschlitz im Nervus tibialis, der durch Auseinanderdrängen mit einem
spitzen Instrument angelegt wird, gezogen und mittels Längsnaht fixiert. Im
Laufe von 4 Monaten wurde die Funktion der operierten Extremität wieder
eine vollkommen normale. Durch elektrische Reizung der wieder bloßgelegten
Nerven konnte der Nachweis erbracht werden, daß sich eine Leitung vom Tibialis
ins Peroneusgebiet hergestellt hatte.
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Referate.
173
In einem Falle wurde bei einem Hunde erst 3 Monate nach erfolgter
Resektion eines Stückes aus dem Peroneus und nachdem sich schon ein großer
Dekubitus ausgebildet hatte, die Implantation de9 peripheren Peroneusstumpfes
in den Nervus tibialis vorgenommen; nach 3 Monaten war die Funktion bereits
bedeutend gebessert.
Aus den Tierexperimenten Spitzys und den Operationsmethoden anderer
Autoren ergeben sich folgende Sätze bezüglich des Prinzips der Nervenplastik:
Den Innervationsbezirk eines gelähmten Nerven kann man auf zwei Wegen
an den Verlauf eines intakten Nerven anschließen,
a) indem man vom intakten Nerven einen Lappen mit zentraler Basis
abspaltet und diesen in einen Längsschlitz des gelähmten Nerven implantiert
— Fixierung durch Längsschnitt, zentrale Implantation —, oder
b) es wird vom gelähmten Nerven ein möglichst großer Lappen mit
peripherer Basis abgespalten und in einen Längsschnitt des intakten Nerven
implantiert. Wenn der gelähmte Nerv keine wichtigen sensiblen Bahnen ent¬
hält, so kann der ganze bahnsuchende Nerv verwendet und eventuell seitlich
an den bahngebenden Nervenstamm angelagert werden — periphere Implantation.
Die zentrale Implantation ist zu empfehlen, wenn in der Nähe des
wichtigen gelähmten ein minderwertiger intakter, vorwiegend motorischer Nerv
liegt, durch dessen Funktionsausfall man beim Mißlingen des Versuches keinen
zu großen Schaden verursacht. Z. B. Neurotisation des Nervus facialis durch
den Nervus accessorius, des Nervus cruralis durch den Nervus obturatorius.
Die periphere Implantation wird an gewendet, wenn nur gleich wichtige,
größere Nerven in der Nähe liegen und zur Bahnung herangezogen werden
können, so z. B. bei Plastiken im Gebiete der Armnerven.
Bis jetzt ergibt die Nervenplastik etwa 50°/° Heilungen resp. Besserungen,
man darf daher vom intakten Nervenmaterial absolut nichts aufs Spiel setzen,
besonders bei wichtigen Nerven.
Spitzy empfiehlt die Einpflanzung des zu implantierenden Nerventeiles
in einen Längsschlitz des bahngebenden Nerven und Fixierung durch Längsnaht,
da durch Quernaht leicht Druck und Degeneration des Nerven erzeugt wird.
Zur Vornahme der Operation empfiehlt Spitzy eine Reihe von In¬
strumenten, die sich ihm sehr bewährt haben. Zum Anfassen der Nerven ver¬
wendet er Ohrpinzetten, deren aneinandergepreßte Branchen am Ende eine kurze
Röhre bilden; die Lichtung muß der Dicke des Nerven entsprechen. Zur An¬
legung des Längsschlitzes verwendet er ein kleines Neurotom mit kurzer
schneidender Spitze; zum Anfassen der Nervenenden resp. des Perineuriums
Hackenpinzetten mit feinsten Zähnchen. Zur Untersuchung der Funktion der
einzelnen Nervenzweige dient eine feine sterilisierbare Nadelelektrode. Um für
einen Nerven einen neuen Weg im übrigen Gewebe zu bahnen, verwendet
Spitzy den Tunelleur, eine Metallröhre mit abnehmbarer stumpfer Kuppe.
Die Indikationen zur Nervenplastik sind gegeben, wenn bei eingetretenen
Lähmungen die Periode der Spontanregeneration vorüber ist, wenn die übrigen
therapeutischen Maßnahmen versagt haben, wenn man der Leitungsunterbrechung
nicht durch andere operative Eingriffe (Narbenexzision, primäre, sekundäre Naht,
Neurolysis) beheben kann, besonders vor Vornahme einer eingreifenden Sehnen¬
plastik.
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Referate.
Ob die zentrale oder periphere Implantationsmethode zu wählen ist,
hängt von der Topographie der Lähmung ab.
Bei Lähmung der Armnerven kann man wegen der Wichtigkeit aller
Nervenstämme und, da sie ausschließlich gemischte Nerven sind, nur eine
periphere, partielle Neurotisation vornehmen. Die technische Durchführung ist
nicht schwierig und am Oberarm in der Gefäßnervenleitfurche vorzunehmen;
am Ellbogen und Vorderarm sind die Nerven gleichfalls leicht zugänglich.
Für den Nervus facialis wird der Nervus accessorius vor oder nach seinem
Durchtritt durch den Kopfnicker bezeichnet.
Bei Peroneuslähmung wird die periphere totale oder partielle Implantation
desselben in den Nervus tibialis ausgeführt, die umgekehrte Operation bei
Lähmung des Nervus tibialis.
Bei der Quadricepslähmung wird der oberflächliche Ast des Nervus
obturatorius zur Neurotisation des Nervus cruralis verwendet und mittels des
Tunelleurs zu demselben geleitet. Für die Funktion der Adduktoren genügt
der den Adductor magnus versorgende tiefe Ast des Obturatorius.
Wenn auch ein sicheres Urteil über die Erfolge dieser Operation am
Menschen derzeit noch nicht möglich ist, so geben die Tierversuche und ander¬
weitige Nervenplastiken die Berechtigung zu ausgedehnteren Versuchen mit
der Operation am Menschen; bei richtiger Technik wird die Operation gar
nicht oder nur wenig schaden, kann aber viel nützen. Haudek-Wien.
Dr. Hugo Nettei, Ueber eine Modifikation bei der Herstellung der Gips¬
hanfschiene. Wiener klin. Wochenschr. 1904, Nr. 48.
Der zur Verwendung kommende Hanf wird mittels eines rechenartigen
Kammes von etwaigen Verunreinigungen befreit, hierauf werden die Hanf¬
strähne mit einem Trikotschlauch überzogen, der vorher über das Handgelenk
gestülpt wurde. Das eine Ende des Schlauches wird dann zugebunden und der
vorgerichtete Gipsbrei mittels eines breiigen Trichters in den Schlauch gegossen.
Dann wird auch das andere Ende des Schlauches zugehalten und die Schiene
auf einem Tisch oder einer anderen festen Unterlage durchgeknetet, wodurch
das Hanfbündel allenthalben durchtränkt wird. Dann wird die Schiene mit
der Ulnarseite der Hand einige Male ausgestrichen und so der überschüssige
Gips durch die Maschen des Trikots herausgepreßt; hierauf wird die Schiene
geglättet und entsprechend breitgedrückt.
Die Schiene wird nun auf die gut eingefettete und in die zu fixierende
Stellung gebrachte Extremität gelegt, gut adaptiert und fest gewickelt. Nach
1—2 Minuten, wenn die Schiene heiß wird, ist sie schon hart genug und kann
abgenommen werden. Sie wird dann noch einige Zeit getrocknet, gepolstert
und dauernd fixiert.
Für feine Gipshanfschienen, die beim Erwachsenen von der Schulter bis
zu den Fingerspitzen reichen soll, nimmt man einen Trikotschlauch von 6—8 cm
Breite, etwas über 1 1 feinsten Gips und 1 1 heißes Wasser, dem man etwa
eine Kinderhand voll Kochsalz zusetzt. Für die untere Extremität sind alle
Maße um die Hälfte größer zu nehmen.
Die Schienen sind entsprechend der Länge der Hanfsträhne höchstens
1 m lang. Benötigt man längere Schienen, so wird ein Trikotschlauch von
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Referate.
175
etwas mehr als der gewünschten Länge auf das Handgelenk gestülpt und über
das mit der Hand fixierte Hanfbündel herabgestreift. Der leere Teil des
Strumpfes wird nun aufgerollt, bis das innere Ende des Hanfbündels frei wird.
In dieses wird das eine Ende eines zweiten Hanfbündels derart hineingelegt,
daß zwischen beiden, ein gleichmäßiger Uebergang besteht. Während die etwas
übereinandergreifenden Enden derselben von außen mit den Fingern oder einer
großen Klemme festgehalten werden, wird der Rest des Strumpfes Über den
zweiten Hanfsträhn gezogen. Hierauf wird der. Gips von beiden Seiten ein¬
gegossen und nun erst die Hand oder Klemme von der Mitte der Schiene ent¬
fernt und letztere als einfache Gipshanfschiene weiter behandelt. Auf diese
Art kann man Schienen von der Länge bis zu 2 m verfertigen.
Haudek-Wien.
Haudek (Wien), Zur Technik des Gipsbettes. Zentralbl. f. Chirurgie 1905, Nr. 7.
Haudek erreicht durch eine kleine, von ihm erfundene Modifikation
eine raschere Anfertigung der Reklinationsgipsbetten. Diese Modifikation be¬
steht darin, daß er schon vor der Lagerung des Patienten auf dem Rahmen
9—12 Longuetten aus Stärkegaze zurechtschneidet, welche die Länge und Breite
des gewünschten Gipsbettes um 8—10 cm überragen. Diese Longuetten werden dann
mit Gips imprägniert, in Lagen von je drei geordnet und aufgerollt. Erst wenn
der Patient auf dem Rahmen liegt, werden sie in heißes Wasser getaucht und
rasch hintereinander vom Kopf nach den Füßen hin aufgerollt. Auf diese
Weise soll die Anlegung des Gipsbettes in 3—4 Minuten möglich sein. —
Längere Zeit erfordert die in der Hof faschen Klinik übliche Technik auch
nicht Sie beruht darauf, daß gleichfalls vorher zurechtgeschnittene breite
Lagen von Stärkegaze in Gipsbrei getaucht und rasch dem Körper aufgelegt
und anmodelliert werden. Pfeiffer-Frankfurt a. M.
Haudek (Wien), Die orthopädische Behandlung von Erkrankungen des Nerven¬
systems. Wiener klinische Rundschau 1905, Nr. 24—25.
Haudek schildert in Kürze die jetzt übliche orthopädische Behandlung
aller hierfür in Betracht kommenden Erkrankungen des Nervensystems und
weist nach, daß sich durch geschickte Kombination therapeutischer Maßregeln
gute Erfolge erreichen lassen. Dem Fachorthopäden bringt sein Vortrag nichts
Neues. Pfeiffer-Frankfurt a. M.
Taendler (Berlin), Ein neues Daumenpendel, Medizinische Klinik, 1905, Nr. 30.
Der von Taendler angegebene Apparat zur Mobilisierung versteifter
Dauraengelenke besteht aus einem auf einem Stativ angebrachten langen Pendel,
an dessen oberem Ende sich in einer Gabel zwei Hülsen für den rechten resp.
linken Daumen befinden. Die übrigen Finger ruhen während der Uebung in
einem schlittenförmigen Halter. Die Daumenhülsen, die je nach Bedarf enger
und weiter gestellt werden können, sind an einem graduierten Exzenter be¬
festigt, der je nach seiner Einstellung Flexion oder Extension bewirkt. Die
nötige Fixierung des Handgelenks besorgt ein verstellbarer Bügel, der durch
Druck von oben ein Ausweichen des Armes verhindert.
Pfeiffer-Frankfurt a. M.
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176
Referate.
Fl ata u (Berlin), Ein neuer Gymnastikapparat. Medizinische Klinik 1905, Nr.27.
Fla tau gibt eine Beschreibung der Konstruktion, Wirkungsweise und
Anwendungsart des von G. Müller angegebenen „Autogymnasten*. Dieser
Apparat besteht aus einem breiten festen Ledergürtel, der so um den Leib ge¬
schnallt wird, daß er die freie Atmung nicht behindert. Durch Metallringe
an seinen beiden Seiten laufen starke Gummischnüre, die am oberen Ende einen
Handgriff, am unteren einen aus kräftigem Bande verfertigten Steigbügel tragen,
in den der Fuß gesteckt wird. Durch Schnallvorrichtungen läßt sich die Länge
der Gummischnur dem jeweiligen Bedürfnis anpassen. Die Hauptvorzüge dieser
Vorrichtung sind, daß der Apparat überall mitgeführt werden kann, sofort ge¬
brauchsfähig ist und keiner Befestigung am Fußboden oder den Türpfosten be¬
darf. Verschiedene Uebungen, die der Apparat auszuführen gestattet, sind mit
Hilfe von Illustrationen erläutert. Pfeiffer-Frankfurt a. M.
Micke, Ueber Sehnenplastik. Diss. Gießen 1905.
An der Hand von vier Fällen bespricht Verfasser in der Arbeit in Kürze
die verschiedenen Methoden der Sehnenplastik, die wir heutzutage kennen. Die
Resultate, welche bei diesen Fällen erzielt worden sind, müssen bei dreien als
recht befriedigende bezeichnet werden. Auch in dem vierten Falle hat die
Operation eine Besserung der Lähmung herbeigeführt, trotzdem hier die Ver¬
hältnisse für eine Sehnenüberpflanzung nicht sehr günstig lagen. In den be¬
treffenden Fällen handelt es sich um eine Verletzung des M. flexor poll. long.
und des M. flexor poll. brevis, um einen Spitzfuß nach Pol. anterior, um einen
Plattfuß nach einer fieberhaften Erkrankung und um eine Lähmung beider
Beine (spinale Kinderlähmung). Blencke-Magdeburg.
Hahn, Der Extensionskopfträger. Eine neue Kopfstütze zur Behandlung der
Skoliose und spondylitischen Kyphose. Münchener med. Wochenschrift,
1905, 30.
Die von Hahn angegebene Kopfstütze besteht aus dem Kopfteil, einem
dem Kopf nach Gipsmodell genau angepaßten, gut gepolsterten Halsring, aus
der Rückenstange und aus dem sogenannten Extensionsteil. Dieser besteht in
der Hauptsache aus einer Spiralfeder, die sich in einer Hülse in der Regel am
Lendenteil des Korsetts befindet. Auf sie stützt sich von oben her die Rücken¬
stange derart auf, daß sie die Feder zusammenzudrücken sucht. Die Kraft der
Feder ist derart bemessen, daß das Auflegen eines Gewichtes von 3 Kilo sie
zu komprimieren beginnt. Da die Feder eine umso größere Hebekraft be¬
kommt, je mehr sie zusammengedrückt wird, so hat man es durch Verlänge¬
rung der Rückenstange in der Hand, eine beliebige Hebekraft anzuwenden, zu¬
mal man die Stücke der Feder von vornherein beliebig wählen kann. Verfasser
bespricht dann noch kurz, wann der Extensionskopfträger bei der Behandlung
der Skoliose und Spondylitis in seiner Klinik Verwendung findet. Er ist An¬
hänger der Korsettbehandlung und hält den Standpunkt aller derer, die eine
erhebliche Skoliose, sei es auch eine habituelle, ohne richtig stützende, fixie¬
rende und extendierende Apparate behandeln zu können vorgeben, für einen
falschen. Bei Spondylitis streckt Hahn bei schon vorhandener Gibbusbildung
den Patienten in Narkose auf einen extra für diesen Zweck eingerichteten
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Referate.
177
Strecktisch mit mäßiger Kraft, legt dann einen die Hüften, den Rumpf und
Hals umfassenden Gipsverband an, der später, wenn die Wirbelsäule fest genug
geworden ist, durch sein Extensionskorsett ersetzt wird.
B1 e n c k e - Magdeburg.
Weber, Ein Fall von einseitiger Halsrippe, die zu einer unteren Plexusläh¬
mung geführt hatte. Rheinisch-westfälische Gesellschaft für innere Medizin
und Nervenheilkunde. 21. Mai 1905 zu Düsseldorf. Münchener med. Wochen¬
schrift 1905, 83.
Das sechzehnjährige Mädchen trat wegen zunehmender Schwäche der linken
Hand in Behandlung. Es bestanden Schmerzen, Parästhesien, Lähmungserschei¬
nungen und sichtliche Abmagerung der linken Hand. Starke Atrophie der
Interossei und des Daumen- wie auch des Kleinfingerballens, deutliche Ein¬
senkung im Bereiche der Flexoren am Vorderarme. Partielle Entartungsreaktion.
Die Ursache für alle diese Erscheinungen war eine etwa 2 cm lange Halsrippe
links. Auf der rechten Seite war am Querfortsatz des siebten Halswirbels nur
ein ganz minimaler, etwa 3 mm langer, ovaler Fortsatz, eine ganz rudimentäre
Rippenanlage sichtbar. Die operative Entfernung der linken Halsrippe brachte
die erwünschte Besserung. B1 e n c k e - Magdeburg.
Hü bene r, Ueber doppelseitige Halsrippen. Gesellschaft für Natur- und Heil¬
kunde zu Dresden. Sitzung vom 21. Januar 1905. Münchener med. Wochen¬
schrift 1905, 33.
Der Befund wurde zufällig erhoben, da Störungen von seiten der Gefäße
oder des Plexus nicht vorhanden waren. Der Fall ist derselbe, der von Rosen¬
haupt im Archiv für Kinderheilkunde XLI, 3/4 veröffentlicht ist.
B1 e n c k e - Magdeburg.
Rosenhaupt, Zur Klinik der Halsrippe. Archiv f. Kinderheilkunde XLI, 3/4.
Verfasser liefert einen weiteren kasuistischen Beitrag zum Kapitel der
Halarippen. Es handelt sich um ein neunjähriges Mädchen, bei dem als zu¬
fälliger Befund eine doppelseitige Halsrippe festgestellt wurde. Es besteht bei
dem im ganzen zarten und schwächlichen Mädchen außer einer geringgradigen
rechtskonvexen Brustskoliose keine nachweisbare pathologische Veränderung.
B1 e n c k e - Magdeburg.
Tan der Brugh, Torticollis ocularis. Nederl. Tijdschr. v. Geneeskunde I, Nr. 6.
Es handelt sich um ein fünfeinhalbjähriges Mädchen, bei dem bereits der
bestehenden Deformität wegen die Tenotomie des Musculus sternocleidomastoi-
deus gemacht war. Die sich daran anschließenden Gipsverbände wurden längere
Zeit fortgesetzt, aber ohne jeden Erfolg. Erst die Schieioperation, die Tenotomie
des linken Rectus inf., beseitigte das Leiden sofort.
Im Anschluß an diesen Fall kommt dann Verfasser noch eingehender auf
die Diagnose, Differentialdiagnose und Therapie, zu sprechen.
B1 e n c k e - Magdeburg.
Weidenhaupt, Luxatio atlanto-occipitalis. Diss. Bonn 1905.
Ein kürzlich vom Verfasser beobachteter Fall von Luxatio atlanto-occi-
pitalis, der umsomehr Interesse verdient, als er, abgesehen von der Bewegungs¬
beschränkung des Kopfes, ohne sonstige Schäden verlief, war die Veranlassung,
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XV. Bd. 12
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178
Referate.
die wenigen in der Literatur beschriebenen Fälle zu sammeln und näher zu
beleuchten und im Anschluß hieran die betreffende Krankengeschichte wieder¬
zugeben. Die Röntgenaufnahme bestätigte die Diagnose und ließ erkennen,
daß außerdem auch noch Abrißfrakturen an den Kondylen des Occiput Vorlagen.
Der Mechanismus muß so erklärt werden, daß bei stark rückwärts flektiertem
Kopf derselbe mit dem Kinn aufschlug. Hierdurch war der Kopf fixiert, wäh¬
rend der Körper mit der Wirbelsäule weiter nach abwärts und vorne strebte.
Die Gewalt muß keine übermäßige gewesen sein, da sie schon durch die Luxa¬
tion oder Fraktur erschöpft wurde, ohne daß das Mark durchgequetscht wurde.
Auffallend ist es dennoch, daß dasselbe nicht einmal komprimiert wurde. Eine
Behandlung wurde seitens der Eltern abgelehnt. Erkundigungen haben ergeben,
daß der Patient eine geringe Besserung in der Bewegung des Kopfes aufzu¬
weisen hat. B1 e n c k e • Magdeburg.
Meyerowitz, Ueber Skoliose der Halsrippen. Beitrag zur klinischen Chi¬
rurgie 1905, Bd. 46.
Verfasser spricht über den Zusammenhang zwischen Halsrippen und Sko¬
liose der oberen Brustwirbelsäule und vergleicht kritisch die zur Erklärung des¬
selben aufgestellten Theorien, die Garresche, nach der die Skoliose durch die
Halsrippen rein mechanisch bedingt ist, und die Helbingsche, nach der die
Skoliose als eine reflektorische anzusehen ist. Die ausführliche Erörterung dar¬
über eignet sich nicht zu kurzem Referat. Verfasser gelangt zu dem Schluß,
daß die Ansicht Garres die für die meisten Fälle zutreffende sei.
Wette- Berlin.
Klapp, Die Mobilisierung der skoliotischen Wirbelsäule mit einer aktiven
Methode. Münchener med. Wochenschr. 1905, Nr. 48.
Dem Verfasser scheint manches gegen die heutzutage ausgeübte Mobili¬
sierungsart der skoliotischen Wirbelsäule einzuwenden zu sein. Die bisher mit
derselben erreichten Resultate sprechen nach seiner Ansicht nicht für die Rich¬
tigkeit dieser passiven Methoden. Wir können von Schlangenmenschen lernen,
die lediglich durch aktive Mobilisierung ihre Wirbelsäule so beweglich machen.
Klapp will die heutigen «Rückenschwächlinge* mit einer höchst energischen
wirkungsvollen Uebung der Muskulatur durch Jahre hindurch zu «Rückenspezia¬
listen* oder «Rückenathleten* erzogen wissen. Seiner Ansicht nach ist es leicht
möglich, die Mobilisation der skoliotischen Wirbelsäule durch reine aktive
Maßnahmen zu erreichen; er hat von einer solchen in kurzer Zeit weit bessere
Erfolge gesehen, als von einer lange durchgeführten passiven Mobilisierung.
Ausgehend von dem Gang der Vierfüßler, die selbst bei ruhigem Gehen ihrer
Wirbelsäule mehr oder weniger starke seitliche Bewegungen geben, macht er
den Vorschlag, die Patienten im Zimmer umherkriechen zu lassen und zwar
nicht in sogenanntem Paßschritt, sondern im gewöhnlichen Vierfüßlerschritt,
so daß auf der einen Seite Hand und Knie weit zurückgesetzt sind, während
auf der anderen die Hand beim Knie steht. Durch Bewegungen des Kopfes,
durch seitliches Herübersetzen der Extremitäten u. dergl. mehr kann man nun
auch noch den Bogen der Wirbelsäule immer mehr und mehr krümmen. Das
Kriechen auf allen Vieren wirkt stärker umkrümmend als das seitliche Biegen
des Rumpfes im Stehen, weil man es dabei mit keinem feststehenden Becken
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Referate.
179
zu tun hat. Gerade durch die Mitbewegung des Beckens kann die Wirbelsäule
noch viel mehr gekrümmt werden. Auch die Entfaltung des Thorax ist ein
weiterer Gewinn des Kriechens, welches nicht gering veranschlagt werden darf.
Die Patienten kriechen zunächst *1* Stunde täglich, bringen es aber allmählich
bis zu einer Stunde Vor- und Nachmittags. Zu Beginn jeder Kriechstunde
erhalten sie — wie es ja wohl auch in der Bierschen Klinik nicht anders zu
erwarten ist — als Einleitung zur Mobilisierung eine Heißluftapplikation von
20 Minuten Dauer am ganzen Rücken an Stelle der Massage. Der betr. Hei߬
luftkasten kann für fünf Kinder eingerichtet werden. Mehrere Abbildungen
sind der Arbeit, die viel des Interessanten bietet, beigegeben. — Also fort mit
allen den schönen und teueren Redressionsapparaten! Die orthopädischen
Turnsäle werden hinfort ein ganz anderes Bild bieten, sie werden nicht mehr
als moderne Folterkammern erscheinen, sondern man wird in ihnen in Zukunft
nur noch die Skoliosenkinder lustig sich tummelnd auf allen Vieren herura-
kriechen sehen. Blencke-Magdeburg.
Lorenz, lieber ischiadische Skoliose in Theorie und Praxis. Deutsche med.
Wochenschr. 1905, Nr. 39.
Lorenz gibt eine kritische Würdigung der zahlreichen über ischiadische
Skoliose aufgestellten Theorien. Er faßt dieselben in zwei große Gruppen zu¬
sammen, die Gruppe der Lähmungstheorien und der mechanischen Theorien.
An der Hand eines Schemas erörtert er die klinischen Symptome der ischiadi-
jchen Skoliose. Das Primäre sei eine fast stets nach der kranken Seite konvexe
Lumbalskoliose. Die bisher übliche Nomenklatur, welche die in Wirklichkeit
kompensatorische Dorsalskoliose als das Primäre ansehe und in diesem Sinne
von heterologer bezw. homologer Skoliose spreche, sei falsch und müsse um¬
gekehrt lauten. Eine primäre, nach der gesunden Seite konvexe Lumbalskoliose
sei sehr selten und werde nur temporär eingehalten. Die Lähmungstheorien
seien durch die Untersuchungen Erbens als abgetan anzusehen, da niemals
eine Muskellähmung auf der kranken oder gesunden Seite nachgewiesen sei.
Das Prinzip der mechanischen Theorien, daß die Skoliose als eine instinktive
spastische Zwangshaltung anzusehen sei, sei richtig. Die Erklärung dafür, wie
diese Haltung zu stände kommt und warum die Lendenskoliose fast stets konvex
nach der kranken Seite ist, findet Lorenz in der mechanischen Entspannung
der Lumbosakralnerven, die durch die Skoliose in dem erwähnten Sinne mit
gleichzeitiger sekundärer Beckensenkung sowie Flexion in Knie und Hüfte am
besten gewährleistet werde. Demzufolge müsse die Therapie im akuten Stadium
darauf gerichtet sein, diese Haltung möglichst zu fixieren. Erst nach voll¬
ständigem Ablauf des akuten Stadiums dürfe die übliche mechanische Behand¬
lung mit Massage, Streckgymnastik etc. beginnen. Wette-Berlin.
Hermes, Ueber einen Fall von Osteom der Wirbelsäule mit Kompression des
Rückenmarks. Diss. Gießen 1905.
Es handelte sich um einen 21jährigen jungen Mann, bei dem im Bereiche
der unteren Lendenwirbelsäule eine fast spitzwinklige Lordose festgestellt wurde.
Die unteren Extremitäten waren völlig gelähmt; die Sensibilität in ihnen war
erloschen, hinten bis zum vierten Lendenwirbel. In beiden Beinen bestehen
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180
Referate.
Kontrakturen. Die Patellarreflexe sind kaum auslösbar. Es findet sich ferner
Incontinentia alvi, Retentio urinae und ein großer Dekubitus am Kreuzbein.
Die klinische Diagnose wurde auf tuberkulöse Wirbelkaries, Myelitis transversa.
Decubitus und Cystitis gestellt. Patient starb. Das Ergebnis der Obduktion
und der mikroskopischen Untersuchung wird vom Verfasser aufs eingehendste
besprochen. E 9 handelte sich nicht um eine tuberkulöse Wirbelkaries, sondern
um eine Geschwulst, die vom Dornfortsatz des zehnten Brustwirbels ausging
und durch die der Wirbelkanal von hinten her verengt und da9 Rückenmark
komprimiert wurde. Die mikroskopische Untersuchung ergab, daß es sich um
ein Osteom handelte. Die merkwürdige, hochgradige, hauptsächlich lordotische
Verkrümmung der Wirbelsäule kann nach des Verfassers Ansicht wohl kaum
auf mechanischem Wege entstanden sein; er glaubt, daß dieselbe neuropathischer
Natur sei. Blencke-Magdeburg.
Tubby, Ueber Osteomyelitis der Wirbelsäule. 73. Versammlung der Brit.
Med. Association in Leicester, Juli 1905.
Tubby unterscheidet eine leichte und schwere Form. Bei jener handelt
es sich nur um eine Entzündung und Verdickung des Periostes, bei dieser sind
auch die oberflächlichen Knochenschichten beteiligt und es kommt auch Öfters
zur Eiterung. Die ganz schweren Formen sind stets mit Meningitis und Myelitis
kompliziert. Von 41 Fällen waren nur sechs traumatischen Ursprungs. Die
Lumbalwirbel werden am häufigsten befallen, an zweiter Stelle stehen die
Halswirbel und zwar erkranken öfters die Bögen als die Körper. 24 Fälle
vereiterten von 62. Bei den leichten Fällen genügt Ruhe, später ein Stütz¬
apparat, bei den schwereren, die zur Eiterung kommen, muß operativ ein¬
gegriffen werden. B len cke-Magdeburg.
Ehrhardt, Ueber chronische ankylosierende Wirbelsäulenentzündung. Mit¬
teilungen a. d. Grenzgebieten der Medizin und Chirurgie XIV, 5.
Nach des Verfassers Ansicht gibt es außer der Spondylitis deformans
noch einen zweiten, meist viel hochgradigeren Ankylosierungsprozeß an der
Wirbelsäule, der ebenfalls mit ausgedehnter Knochenneubildung einhergeht,
bei dem aber diese Knochenneubildung nicht den Stempel der Exostose, sondern
der Synostose trägt und dies ist die chronisch ankylosierende Wirbelsäulen¬
versteifung. An der Hand eine9 Skeletts, das den Typus der Strümpei Ischen
Form und gleichzeitig vielleicht auch den höchsten denkbaren Grad des Krank¬
heitsprozesses zeigte, stellt dann Ehrhardt die Unterschiede zwischen einer
solchen reinen Wirbelsäulenankylose und der Spondylitis deformans fest. — Der
Prozeß stellte sich in diesem Falle als eine syndesmogene Synostose sämtlicher
Wirbelgelenke mit Verknöcherung der Längsbänder, der Lig. flava und partieller
Verknöcherung der Zwischenwirbelscheiben dar. Begleitet war er von knöcherner
Ankylose der Wirbelrippengelenke und der Hüftgelenke. An allen genannten
Knochen war die Ankylose durch reine Synostose, ohne Exostosenbildung erfolgt,
die Knochenform w r ar überall aufs treueste bewahrt. Bl encke-Magdeburg.
N. Lagiewski, Ueber die chronische ankylosierende Entzündung der Wirbel¬
säule. (Spondylosis rhizomelica). Diss. Leipzig 1905.
Nachdem Verfasser im ersten Teil seiner Arbeit die wichtigsten über
diese Erkrankung erschienenen Arbeiten kurz skizziert hat, gibt er die Kranken-
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Referate
181
geschicbte eines Falles aus dem Park*Sanatorium zu Pankow wieder, der dem
Sfcrümpell-Marieschen Typus entspricht, anderseits aber auch dem Bechterew¬
schen gleicht. Nach des Verfassers Ansicht unterscheiden sich diese Fälle nur
graduell voneinander und stellen nur vermutlich Varianten einer und derselben
Krankheit dar, die im Anschluß an die verschiedensten Erkrankungen entstehen
können. Am Schlüsse der Arbeit geht dann Verfasser noch des näheren auf
die pathologische Anatomie ein, wobei er nur die Ansichten der verschiedenen
Autoren wiedergibt, ohne etwas Neues zu bringen. Blencke-Magdeburg.
Facompre, Beiträge zur Behandlung der tuberkulösen Wirbelsäulenerkrankung
mit Benutzung der in der Zeit vom 1. Dezember 1895 bis zum 1. Dezem¬
ber 1902 in der chirurgischen Universitätsklinik in Göttingen behandelten
116 Kranken. Diss. Göttingen 1905.
Die vorliegende Arbeit gehört der Serie von Dissertationen an, die aus
der Göttinger Klinik über die chirurgische Tuberkulose der einzelnen Körper¬
teile bereits erschienen sind, bezw. noch erscheinen. In ihrem ersten Teil sind
rein statistische Daten über 116 Fälle von Spondylitis tuberculosa enthalten,
auf die hier natürlich nicht näher eingegangen werden kann. Im zweiten Teil
gibt dann Facompre die betreffenden Krankengeschichten wieder.
Blencke-Magdeburg.
Schilling, Schwere spondylitische Paraplegie, spontan geheilt unter Anwen¬
dung der Rauchfuß sehen Schwebe, die auch zur Prophylaxe des Dekubitus
bei spondylitischen Lähmungen dient. Deutsches Archiv f. klin. Medizin.
Bd. LXXXIV, XV.
Verfasser berichtet über einen Fall von schwerer spondylitischer Para¬
plegie, die unter der Anwendung der Rauchfußschen Schwebe vollkommen
beseitigt wurde, so daß Patient nach 27 *jähriger Krankheit wieder auf die Beine
kam. Schilling macht auf die Schwierigkeiten der Diagnose bei beginnender
Spondylitis aufmerksam und beschäftigt sich dann eingehend mit der Therapie
dieses Leidens. Bei Lähmungen will er die Operation nur für die Fälle reserviert
wissen, bei denen alles andere vergeblich versucht wurde. Auch das Calot sehe
Redressement verwirft er. Er hofft, daß dieses „brüske, unheilstiftende Ver¬
fahren* bald der Geschichte angehört. Wegen der Einfachheit des Verfahrens
zieht er den Rauchfußschen Apparat den übrigen, gleichem Zweck dienenden
Apparaten vor, zumal er die Lordosierung der Wirbelsäule und so die Ent¬
lastung der auf einandergepreßten Wirbelkörper bestens besorgt und zugleich
zur Hintanhaltung des Dekubitus eine Moderierung und Dosierung des Druckes
des Kreuzes gegen die Unterlage, je nachdem man die Schwebe mehr oder
weniger hochzieht, ermöglicht. Bei starkem Gibbus empfiehlt Schilling so¬
wohl zur Verhütung des Druckbrandes als auch zur perigibbären Reduktion
behufs Verstärkung der Wirkung der Schwebe das bekannte graue, lufthaltige
Pessarium. Bl encke-Magdeburg.
Philippgon, Ueber einen Fall von Spina bifida occulta. Biologische Abt.
des ärztl. Vereins Hamburg. 11. April 1905. Münchener med. Wochen¬
schrift 1905, Nr. 29.
Bei einem 28jährigen Mädchen fand sich eine auf der hinteren Lenden¬
gegend durch eine Brustdrüse verdeckte Spina bifida sacrolumbalis. In der
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182
Referate.
ganzen Ausdehnung der unteren Extremitäten bestand eine partielle Empfindungs¬
lähmung für Schmerz und Temperatureindrücke. Die Sensibilität war nur
normal an den äußeren Fußrändern und an der Außenseite der Hüften, wodurch
die Grenzen des Rückenmarkabschnittes angedeutet wurden, innerhalb welcher
ein Defekt der grauen Substanz bestand: die obere Grenze fällt zwischen das
2. und 3. Lumbalsegment und die untere zwischen das 2. und 3. Sakral¬
segment. Bien cke- Magdeburg.
Walterhöfer, Zur Kenntnis der Spina bifida im Anschluß an einen Fall von
Myelomeningocele lumbosacralis. Diss. München 1905.
Verfasser bespricht zunächst die Morphologie, Aetiologie, Symptomato¬
logie und den Verlauf dieses Leidens unter Berücksichtigung der einschlägigen
Literatur und beschreibt dann im Anschluß an diese Schilderungen der klini¬
schen Erscheinungen einen Fall von Myelomeningocele lumbosacralis, der in
der Münchener Universitäts-Kinderklinik zur Beobachtung kam. Das kleine
Mädchen starb 13 Tage nach der Operation, obwohl die Wunde trotz erschwerter
Nachbehandlung gut heilte, infolge von Inanition. Es kam zur Autopsie. Der
Sektionsbefund ist der Arbeit beigegeben. Am Schluß derselben kommt dann
Walterhöfer noch auf die Therapie zu sprechen und gibt die aus der neueren
Literatur veröffentlichten Resultate von operierten Spina bifida-Fällen wieder
in Form einer Tabelle, zu der er jedoch nur diejenigen Fälle verwendet hat,
bei denen angegeben war, zu welcher Art der betreffende Fall gehörte. Von
98 Fällen wurden 72 geheilt und 26 sind gestorben, ein Resultat, das nach des
Verfassers Ansicht entschieden zur Operation auffordert. Die ausgiebige In¬
zision mit nachfolgender Exzision des Sackes soll heutzutage für den anti¬
septisch gebildeten Chirurgen den einzig richtigen Weg zur Behandlung der
Spina bifida bilden. Blencke-Magdeburg.
Bardescu, Die chirurgische Behandlung der rezidivierenden skapulohumeralen
Luxationen. Revista de Chirurgie 1905, Heft 2.
In den meisten Fällen von habituellen Schulterluxationen handelt es sich
um eine übermäßige Dehnung der Kapsel, um eine teilweise Ablösung derselben
oder um eine Ruptur. Deshalb muß auch eine Operation die Kapsel direkt
angreifen. Die heute wohl am meisten ausgeübte Methode ist die Kapsel¬
faltung, mit der auch Bardescu in 2 Fällen sehr gute funktionelle Resultate
erzielte. Bardescu empfiehlt zur Verstärkung der Kapsel noch einen benach¬
barten Muskel, am besten den Coracobrachialis heranzuziehen.
B1 e n ck e- Magdeburg.
Wilms, Arthrodese des linken Schultergelenkes bei rezidivierender Luxation.
Medizin. Gesellschaft zu Leipzig, 27. Juni 1905. Münchener med. Wochen¬
schrift 1905, Nr. 33.
Der Patient leidet an Epilepsie und hatte sich seit dem Jahre 1887 die
Schulter 54mal luxiert. Die Reposition war meistens nur in Narkose möglich.
Bei der Operation zum Zweck der Arthrodese zeigte sich die vordere Hälfte
der Cavitas glenoidalis völlig zerstört. Es wurde eine totale Ankylose erzielt
Das Resultat war sehr zufriedenstellend. Die linke Hand wurde völlig ge¬
brauchsfähig. B1 e n ck e - Magdeburg.
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Referate.
183
Piper, Fractura humeri mit Verletzung des Nervus radialis. Diss. Kiel 1905.
Nach einigen allgemeinen Erörterungen über die bei Humerusfrakturen
vorkommenden Störungen des Nervus radialis veröffentlicht Piper vier der¬
artige Fälle aus der Kieler chirurgischen Klinik, von denen drei operiert wurden.
Verfasser rät in jedem Falle zur Verhütung von Rezidiven für eine gehörige
Isolierung und Freilegung des Nerven Sorge zu tragen. Vorzüglich hat sich
immer die Einbettung des Nerven in eine Muskelfurche des Triceps bezw. des
Brachialis internus bewährt. Prognostisch sind die operativ behandelten Fälle
von Radialislähmungen nach Oberarmfraktur im allgemeinen recht günstig. Je
kürzere Zeit nach dem Auftreten der Lähmungserscheinungen derartige Fälle
zur Operation kommen, um so leichter und rascher erfolgt natürlich auch die
Heilung. Aber auch länger bestehende Erkrankungen lassen von der Operation
noch das Beste erhoffen. Blencke-Magdeburg.
Weber, Ein Fall von habitueller Luxation der Schulter. Diss. Leip¬
zig 1905.
Es handelte sich um einen Fall von habitueller Luxation der Schulter,
die nicht weniger als 54mal ausgekugelt gewesen und wieder eingerenkt worden
war. Gelenkkopf und Acetabulum waren hochgradig verändert. Die vordere
Hälfte der Pfanne fehlte fast ganz und der Rest war bedeutend abgeflacht.
Die Gelenkenden wurden angefrischt und mit Silberdraht vernäht. Wie die
Nachuntersuchung ergab, wurde durch die Operation ein sehr zufriedenstellen¬
des funktionelles Resultat erzielt und die Heilung der habituellen Luxation
somit erreicht. Im Anschluß an diesen Fall bespricht Weber die habituelle
Schulterluxation, ihr Vorkommen, die Ansichten über die pathologischen Ver¬
änderungen, die ihre Wiederholung begünstigen und die von den verschiedenen
Autoren gemachten therapeutischen Vorschläge. Blencke-Magdeburg.
Schwellenbach, Typischer Zerrungsschmerz in der Gegend des Epicondylus
extemus humeri. Diss. Bonn 1905.
Verfasser bringt eine ganze Reihe von Krankengeschichten über eine Er¬
krankung der Ellbogengegend, deren praktisches Merkmal in einem heftig auf¬
tretenden Zerrungsschmerz in der Gegend des Epicondylus externus humeri
bestand. Das Leiden ist in dem aponeurotischen Teil der Vorderarmfaszie,
unterhalb des Epicondylus externus humeri lokalisiert und äußert sich in einer
Schmerzhaftigkeit der diese Faszie mit sensiblen Fasern versorgenden Nerven.
Es wird hervorgerufen in den meisten Fällen durch wiederholtes Zerren der
Faszie. Bei einer einmaligen Ursache, einer heftigen indirekten Zerrung oder
direkter Quetschung des Epicondylus soll es sich um eine leichte Läsion der
fasziösen Ansätze handeln, die nun auf die fortwährenden kleinen Zerrungen
beim Weitergebrauch der Hand eine chronische Reizung zu stunde bringt. Bei
den durch die Art der Tätigkeit als Gewerbeerkrankung auftretenden Formen
ist nach des Verfassers Ansicht eine Summierung kleiner Zerrungen, die doch
einmal einen kleinen Fehlgriff, ein ungeschicktes Zufassen u. dergl. mehr in sich
schließen, die Veranlassung. Im allgemeinen ist der Verlauf recht langwierig;
die Hauptbedingung bei der Therapie ist absolute Ruhe des erkrankten Armes
und weitgehendste Schonung. Blencke-Magdeburg.
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184
Referate.
Hack, Blutige Reposition veralteter und verwachsener Ellbogengelenk¬
luxationen. Dies. Freiburg 1905.
An der Hand von 50 aus der Literatur zusammengestellten Fällen von
veralteten traumatischen Ellbogengelenkluxationen, die mit Arthrotomie be
handelt wurden und denen er noch die Krankengeschichten von zwei weiteren
Fällen beifügt, die in der Freiburger chirurgischen Klinik in gleicher Weife
operiert wurden, gibt Verfasser einen kurzen Ueberblick über die Geschichte
der Behandlung dieser Luxationen, über die Repositionshindernisse und über
den augenblicklichen Stand der Therapie, wobei er namentlich die Ansichten
der einzelnen Gegner und Verfechter der Arthrotomie bezw. der Resektion
aufzählt, ohne etwas wesentlich Neues zu bringen. B1 e n c k e - Magdeburg.
Schuster, Ueber Ursache und Behandlung veralteter, irreponibler Ellbogen*
luxationen. Diss. Leipzig 1905.
An der Hand der Literatur und eines von Trendelenburg operierten
Falles liefert Verfasser einen Beitrag über veraltete Luxationen im Ellbogen¬
gelenk. Er schickt einige allgemeine Bemerkungen über derartige Luxationen
voraus, um sich dann eingehend mit den Repositionshindernissen zu befassen,
und mit den von den einzelnen Autoren gemachten Erfahrungen und erzielten
Resultaten in der Behandlung, aus denen er die Schlußfolgerung zieht, daß
wir in jedem Falle versuchen müssen, die Luxation auf unblutigem Wege zu
reponieren. Erst wenn der Repositionsversuch mißlungen ist, dürfen wir an
eine Eröffnung des Gelenkes denken. Bei Kindern sollte jede Resektion unter¬
lassen werden; bei Erwachsenen wird eine Arthrotomie, auch wenn sie nicht
zum Ziele führt, nicht schaden, es ist immer noch Zeit, zu resezieren. In dem
vorliegenden Fall wurde die blutige Reposition mit temporärer Resektion des
Olecranon gemacht. Die Nachuntersuchung ergab: unvollständige Ankylose mit
Bewegungsfreiheit im Winkel von 20°. Sonst gute Funktion der Muskulatur.
Bei der Beurteilung des in Bezug auf die Funktion immerhin nicht ganz voll¬
kommenen Resultates ist das hohe Alter des Patienten in Betracht zu ziehen.
B1 e n c k e - Magdeburg.
Lübbers, Beiträge zur Behandlung der tuberkulösen Ellbogengelenkentzündung.
Diss. Göttingen 1905.
An der Hand von 78 Krankengeschichten von Ellbogengelenktuberkulose,
die auch in der Arbeit wiedergegeben sind, berichtet Lübbers über die Be¬
handlungsmethoden, die an der Göttinger Klinik jetzt geübt werden. Braun
steht weder auf dem Standpunkt der ausschließlich konservativen Therapie,
noch auch huldigt er der streng radikal-operativen Methode. Er entscheidet
von Fall zu Fall, welche Therapie am Platze ist. In allen leichteren Fällen
und zwar vorzugsweise bei jugendlichen Individuen etwa bis zu 12 Jahren, in
Fällen, wo noch kein Knochenherd durch Röntgenaufnahme nachzuweisen ist,
zieht er die konservative Therapie vor; sieht er jedoch, daß er damit nicht
auskommt, schreitet er zur Operation. Verfasser konnte über 19 konservativ
und 30 operativ behandelte Patienten folgende Endresultate konstatieren. Von
den 19 konservativ behandelten Patienten wurden 16 dauernd geheilt, 1 ge¬
bessert und 2 nicht geheilt. Was die Beweglichkeit anlangt, so wurde bei
6 Patienten ein sehr gutes, bei 7 ein mäßiges, bei 6 ein schlechtes Resultat
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Referate.
185
erzielt. 7 Patienten konnten alle Arbeiten, 10 leichtere Arbeiten, 2 konnten
keine Arbeiten verrichten. Von den 80 operativ behandelten Patienten wurden
19 dauernd geheilt, 5 gebessert und 6 nicht geheilt. Die Beweglichkeit war
in 5 Fällen eine gute, in 11 eine mäßige, in 11 eine schlechte. Alle Arbeiten
konnten 7 Patienten verrichten, leichte 17, keine 3 Patienten.
Von 64 Patienten konnte Lübbers Nachricht erhalten. 16 waren ge¬
storben. Von den übrigen wurde eine Dauerheilung bei 39, eine Besserung
bei 6, keine Heilung bei 5 konstatiert. Für die Feststellung der Beweglichkeit
kamen 47 Resultate in Betracht. Eine gute Beweglichkeit war bei 13 Patienten
vorhanden, eine beschrankte bei 15, eine fast aufgehobene bezw. Ankylose
bei 19. Die Funktionsfähigkeit war bei 13 Patienten eine gute, bei 27 eine
beschränkte und bei 7 eine aufgehobene. B1 e n c k e - Magdeburg.
Mainzer, Ein Fall von Dupuytrenscher Fingerkontraktur mit spinal-trau¬
matischer Aetiologie. Aerztl. Ver. in Nürnberg, 6. Juli 1905. Münchener
med. Wochenschr. 1905, Nr. 44.
Es handelte sich um einen 52jährigen Mann, der ein schweres Trauma
des Schädels und der Wirbelsäule erlitten hatte, das einen psychischen
Schwächezustand hinterlassen hatte. Etwa ein Vierteljahr nach dem Unfall
bildete sich eine allmählich fortschreitende Dupuytrensche Fingerkontraktur der
rechten Hand aus. Der Befund ist wahrscheinlich als Myelodelese aufzufassen.
Verfasser faßt, da das Trauma den siebten und achten Halswirbel betraf, also
die den Rückenmarksegmenten der Handinnervation entsprechenden Teile, die
Fingerkontraktur als eine vom spinalen Trauma herrührende auf, zumal da die
Empfindungsstörung auf spinale Veränderungen hinwies.
B1 e n c k e - Magdeburg.
Bäärnhielm, Hygiea (schwedisch). 1905, Nr. 7. Zur operativen Behandlung
der Dupuytrenschen Fingerkontraktur.
Verfasser tritt für eine möglichst radikale Operation ein. Alles Narben¬
gewebe von der Aponeurose sowohl wie von ihren Ausläufern soll entfernt
werden mit möglichster Schonung des normalen Binde- und Fettgewebes und
vor allen Dingen der Sehnenscheiden. Von Ligaturen will Verfasser nichts
wissen. Thierschsche Transplantation und Anlegen eines sterilen Verbandes,
nachdem vorher jede Spannung des Hautlappens beseitigt ist durch senkrechte
Inzisionen gegen die Hautecke. B1 e n c k e - Magdeburg.
Poulsen, Ueber die Madelungsche Deformität der Hand. Langenbecks
Archiv, Bd. 75, 2. Heft, S. 506.
Poulsen hat zwei Fälle dieser Deformität selbst beobachtet und operiert.
Er kommt auf Grund genauer, mit Hilfe von Röntgenbildern vorgenommener
Untersuchungen zu dem Schluß, daß die Deformität der Hand im wesentlichen
auf einer nach vorn konkaven Krümmung des Radius beruht. Die Deformität
läßt sich nur durch eine Osteotomia radii ausrichten, wie er sie in zwei Fällen
mit sehr gutem Erfolge ausgeführt hat. Nast-Kolb-Berlin.
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186
Referate.
zur Verth, Drucklähmung sämtlicher Muskeln des rechten Unterarms und
der Hand. Med. Gesellschaft zu Kiel, 4. Februar 1905. Münchener med.
Wochenschrift 1905, Nr. 25.
Verletzung der Art. ulnaris an der rechten Handwurzel. Stillung der
Blutung durch eine Gummibinde, die l 1 /* Stunden liegen blieb. Infolgedessen
L&hmung. Die Beweglichkeit stellte sich zuerst in dem vom Medianus inner-
vierten Gebiet wieder her, dann folgten Ulnaris und Radialis.
B1 e n c k e - Magdeburg.
Schulze, Ein Fall von spontaner Subluxation der Hand nach unten (Du¬
puytren-Madelung scher Subluxation). Münchener med. Wochenschrift,
1905, Nr. 30.
Verfasser berichtet über einen Fall dieser immerhin seltenen Erkran¬
kung, der eine 16 Jahre alte Patientin betraf und noch einige Eigentümlich¬
keiten darbot insofern, daß eine auffallende Verlängerung der Ulna bestand,
die nach des Verfassers Ansicht so zu erklären ist, daß nach vollständiger Los¬
lösung des distalen Ulnaendes aus seinen Gelenkverbindungen der durch die
Handwurzelknochen geleistete physiologische Widerstand in Wegfall kam und
das Längenwachstum sich ungehindert entfalten konnte. Außerdem bestand
noch eine starke Cubitus valgus-Stellung des Armes, die durch die infolge der
Verkrümmung entstandene Verkürzung des Radius hervorgerufen wurde.
B1 e n c k e - Magdeburg.
Joachimsthal, Dauerresultate nach der unblutigen Einrenkung angeborener
Hüftverrenkungen. Demonstration in der Berliner medizinischen Gesellschaft.
Berliner klinische Wochenschrift 1905, Nr. 9.
Demonstration von Patienten (Kindern), die wegen angeborener einseitiger
oder doppelseitiger Hüftluxation vor mehreren Jahren mit der unblutigen Re¬
positionsmethode nach Lorenz behandelt worden sind. Fixation im Gipsverband
nicht über drei Momate. Das funktionelle Resultat ist ein glänzendes, indem
abgesehen von geringen Belästigungen keine Beschwerden mehr vorhanden
sind. Maßstab für die Beurteilung der Heilung ist das Verschwinden des Tren-
delenburgschen Phänomens. Solche vollkommene Heilungen erzielt Joachims¬
thal bei zirka 60°/®. An der Hand von Röntgenogrammen, die mehrere Jahre
nach der Reposition angefertigt wurden, demonstriert Joachimsthal, daß
bei Kindern auch gewisse Heilung im anatomischen Sinne zu stände komme,
wenn auch noch jahrelang nachher eine Verzögerung der Ossifikation, Wuche¬
rungen, Osteophytbildungen im Grunde und am Rande der Pfanne nachzu¬
weisen seien. Wette- Berlin.
Klapp, Die Ermöglichung einer genauen Kontrolle reponierter, kongenitaler
Hüftgelenkluxationen. (Aus der kgl. chirurgischen Klinik zu Bonn: Pro¬
fessor Bier.) Zentralbl. f. Chirurgie 1905, Nr. 37.
Klapp empfiehlt, ein rundes Holzbrett in denVerband mit einzugipsen,
das genau vor das Hüftgelenk zu liegen kommt. Am nächsten Tage kann das
Brett ausgeschnitten und durch die Lücke die kontrollierende Röntgenaufnahme
gemacht werden. Nach der Aufnahme wird das Brettchen wieder eingesetzt
und mit Stärkebinden zugewickelt. Vier schöne Röntgenaufnahmen illustrieren
die Zweckmäßigkeit des Verfahrens. Nast-Kolb-Berlin.
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Referate.
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Budzynski, Ueber die unblutige Behandlung der kongenitalen Hüftgelenk-
luxation. Diss. Leipzig 1905.
An der Hand eines Falles, den N. Lesser nach der Lorenzsehen Me¬
thode mit gutem Erfolge behandelt hatte und auf Grund eingehender Studien
der diesbezüglichen Literatur gibt Verfasser einen Ueberblick über den augen¬
blicklichen Stand der Frage der angeborenen Hüftluxation. Wenn die Arbeit auch
für den Orthopäden nichts Neues bietet, so kann sie doch jedem praktischen
Arzt zum Studium empfohlen werden, da 6ie in gedrängter Kürze alles das
wiedergibt, was derselbe heutzutage über dieses Leiden wissen muß.
B1 e n c k e - Magdeburg.
Adolf Lorenz und Max Reiner, Hüftgelenkresektion mit totaler Kapsel¬
exstirpation, nebst Bemerkungen über die Totalexstirpation des tuberkulösen
Hüftgelenkes. Vorläufige Mitteilung. Wiener klinische Wochenschrift,
1905, Nr. 15.
Da in den meisten Fällen einigermaßen vorgeschrittener Coxitis fast regel¬
mäßig die Kapsel und die knöchernen Gelenkteile erkrankt sind, und da es
bei der Beschaffenheit der Kapsel des Hüftgelenkes mit Hilfe der allgemein üb¬
lichen Resektionsmethoden fast unmöglich ist, wirklich alle erkrankten Teile
der Synovialis zu entfernen, so führen Lorenz und Reiner die totale Kapsel¬
exstirpation aus.
Lorenz und Reiner legen, um sich eine gute Zugänglichkeit sowohl
zur vorderen als zur hinteren Wand der Kapsel zu verschaffen, einen vorderen
und hinteren Schnitt an. Der vordere Schnitt dringt zwischen dem Muse. tens.
fase, und dem Muse, sartorius in die Tiefe bis auf das Gelenk, ohne Muskeln
oder Gefäße zu verletzen. Es wird dann unter leichter Beugung und Adduktion
des Hüftgelenkes die hintere Wand des Muse, ileo psoas freigelegt und man
dringt zwischen diesem Muskel und der Kapsel bis über den vorderen resp.
unteren Pfannenrand, ebenso lateralwärts zwischen Muse, rectus cruris und
Kapsel bis an den Hals vor, wobei auch die Basis des Trochanter minor frei¬
gelegt werden muß. Dann wird der vordere obere Quadrant der Kapsel von
den Fasern des Glutaeus minimus isoliert, so daß die beiden vorderen Quadranten
der Kapsel von einer Insertion zur anderen freigelegt sind. Eventuelle Durch¬
brüche oder sonstige Weichteilherde werden entweder sofort entfernt oder im
Zusammenhang mit der Kapsel im Gesunden exzidiert.
Hierauf macht man sich durch den Langenbeckschen Schnitt den hin¬
teren Teil der Kapsel zugänglich; der Muse. glut. magn. wird durchtrennt, der
Muse. glut. med. abgehoben^ Bei der Präparation der Kapsel werden die beiden
Muse, gemelli und der Muse. obt. int. durchtrennt, der Muse pyriformis kann ab¬
gehoben und geschont werden, der Muse, quadrat. fern, wird eingekerbt. Sind
die beiden hinteren Quadranten freigemacht, so läßt sich der ganze, aber noch
von der Kapsel eingeschlossene Schenkelhals frei umgreifen.
Es wird nun die Gelenkhöhle durch Abtragung der Kapselinsertion am
Pfannenrand, wobei jedoch der Limbus cartilagineus am Kapselschlauch ver¬
bleibt, eröffnet; hierauf die Kapselinsertion an der Wurzel des Halses abge¬
trennt. Die Kapsel bildet dann eine den Hals lose umhüllende Manschette,
die, eventuell nach seitlicher Inzision der Kapsel und nach Luxation des Kopfes
nach hinten (durch Innenrotation), über den Kopf abgestreift werden kann. Es
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Referate.
wird hierauf der Kopf sorgfältig vom Knorpelüberzug und eventuellen Herden
gesäubert und der Pfannengrund mit einem scharfen Löffel (Acetabulotom), be¬
sonders der Ansatzstelle des Lig. teres entsprechend ausgehoben, worauf der
Stumpf des Kopfes resp. Halses reponiert wird.
Bei weiter vorgeschrittenen Fällen, in denen bereits ein Teil des Halles
verloren gegangen ist, kann von einer Reposition keine Rede sein, und wird
dann das ganze Gelenk exstirpiert. Zum Zwecke besserer Zugänglichkeit
des Gelenkes werden die beiden Schnitte zu einem Lappenschnitt vereinigt ;
der hierdurch gebildete Lappen wird samt den vom unversehrt bleibenden
Trochanter major abgelösten Sehneninsertionen nach oben geschlagen. Hierauf
wird in der gleichen Weise wie oben beschrieben die äußere Fläche des Kapsel¬
schlauches ringsum freigelegt. Mit breitem Meißel wird dann das Femur durch
eine von der Spitze des großen zu jener des kleinen Trochanters reichende
Osteotomia obliqua von dem Hüftgelenk abgetrennt und zur Seite geschoben,
so daß im Zentrum der Wunde der Kapselsack mit dem aus seiner Mitte heraus¬
ragenden proximalen Femurstumpf von allen Seiten frei zugänglich ist. Hierauf
wird mit breitem Hohlmeißel das Gelenk vom Pfannenboden abgetrennt und so
das uneröffnete Gelenk samt dem intakten Kapselsack in den ein¬
geschlossenen Gelenkkörpern in toto exstirpiert. Durch Aneinander¬
lagerung der Meißelflächen am Femur und Pfannenboden wird die Bildung
einer knöchernen Ankylose angestrebt; die Verkürzung des Beines ist hierbei
eine geringe, da die Femurlänge von der Spitze des Trochanter major ab er¬
halten bleibt.
Die Indikation zur Vornahme der Operation gibt das Auftreten unstill¬
barer, besonders nächtlicher Schmerzen, die das Vorhandensein eines
intraartikulären Abszesses anzeigen. Haudek-Wien.
Max Reiner, Das Prinzip der Individualisierung in der Behandlung der an¬
geborenen Hüftverrenkung. Wiener med. Wochenschrift 1904, Nr. 52.
Die von Lorenz geübte unblutige Behandlung der angeborenen Hüft-
luxation ergibt jetzt in einer immer steigenden Zahl von Fällen gute ana¬
tomische Resultate. Es ist dies die Folge einer streng individualisierenden Be¬
handlung, die sowohl bezüglich der Wahl der Stellung im ersten Verbände,
als noch mehr nach der Abnahme desselben Platz zu greifen hat, da von der
Art de9 weiteren Verfahrens die Stabilisierung der Reposition abhängig ist.
Für die Stellung, die dem Bein im ersten Verbände zu geben ist, sind
die anatomischen Verhältnisse maßgebend: die Form des Kopfes, die Gestalt
der Pfannenränder, die Ausfüllung der Pfanne mit hypertrophischem Inhalte,
der Grad der Anteversion des Schenkelhalses, der Grad des Neigungswinkels,
Länge des Halses etc.; von Bedeutung ist auch die Form der Luxation und das
Alter der Patienten.
Wird der erste Verband in überstreckter Stellung angelegt, so wird
derselbe von Lorenz schon nach vier Wochen in die indifferente Streckstel¬
lung übergeführt, da durch die zu lange innegehaltene Hyperextension die Ent¬
stehung einer Subluxation begünstigt wird.
Nach Abnahme des ersten Verbandes, die nach 3—4 Monaten erfolgt,
gibt die Beschaffenheit des Gelenkes die Indikation für die weitere Behandlung.
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Referate.
189
Ist das Gelenk rigid, so kann der Abduktionsgrad vermindert werden, zeigt
sich jedoch das Gelenk locker, so daß man den Kopf noch leicht verschieben
oder die Stellung des Beines leicht ändern kann, so muß hier der frühere Ab¬
duktionsgrad beibehalten, eventuell sogar vermehrt werden.
Nach den exzentrischen Einstellungen im ersten Verband sind Abwei¬
chungen von der normalen Stellung ziemlich häufig. So erfordert die nicht
seltene Prominenz des Kopfes in der Leistenbeuge nach vorne, entsprechend der
Anlehnung des Kopfes an die vordere Kapsel wand, eine Einstellung in mehr oder
weniger prononzierter Beugung, während die komplette Transposition nach vorne
die Depressionierung des Kopfes nötig macht. Die Einstellungen des Kopfes
am oberen Pfannenrand erfordern eine stark negative, eventuell eine axillare
Abduktion durch 5—8 Wochen.
Bei hochgradiger pathologischer Anteversion des Kopfes, bei welcher sich
der Kopf oft oberhalb des oberen Pfannenrandes einstellt, ist im zweiten Ver¬
bände eine starke Einwärtsrotation bei auf 60° verminderter Abduktion oder
die axillare Abduktion bei unbeeinflußter Rollstellung notwendig.
Eventuell sind auch noch in einem dritten oder vierten Verbände gleiche
Maßnahmen nötig. Anderseits kann man manchmal schon nach dem ersten
Verband die gymnastische Nachbehandlung beginnen.
Unter Berücksichtigung der individuellen Verhältnisse in der Retentions¬
periode und womöglich unter steter radiographischer Kontrolle läßt sich ein
hoher Prozentsatz anatomischer Dauerheilungen erzielen. Reiner veranschlagt
dieselben auf etwa 75 °/o, wobei nur eine konzentrische Einstellung des Kopfes
in der reaktivierten Pfanne als solche anzusehen ist.
Durch die Anwendung der subtrochanteren Osteotomie von Schede,
die in 5—8% sicher indiziert ist, wird sich nach Reiners Ansicht noch eine
Besserung der Resultate erzielen lassen.
Für die doppelseitigen Luxationen liegen die Verhältnisse etwas un¬
günstiger; meist kommt es auf der einen Seite zu anatomischer Heilung, auf
der anderen zu Transposition. Diese geringeren Erfolge führt Reiner darauf
zurück, daß bei doppelseitiger Luxation nicht die nötige Individualisierung mög¬
lich ist, weil die Einstellung des einen Gelenkes in eine bestimmte Stellung in
der Regel nicht unbeeinflußt vom anderen durchgeführt werden resp. im Ver¬
bände erhalten werden kann. Des ferneren ist es oft die Folge einer Asymmetrie,
in der Entwicklung der Deformität den beiden Gelenken verschiedene Stel¬
lungen zu geben. H a u d e k - Wien.
Harting, Zwei Fälle von kongenitaler Hüftgelenkluxation. Medizinische Ge¬
sellschaft zu Leipzig, 6. Juni 1905. Münchener med. Wochenschr. 1905,
Nr. 32.
Verfasser demonstriert zwei Kinder mit kongenitaler Hüftluxation in ihrem
Gipsverband — eine einseitige und eine doppelseitige — und bespricht im An¬
schluß hieran die Therapie, Prognose und die HeilungsVorgänge dieses Leidens.
Für einseitige Luxationen zieht er die Altersgrenze bis zu 6 bezw. 8 Jahren, für
doppelseitige bis zu 5. Das frühest günstige Alter ist seiner Meinung nach
etwa 2 Jahre. Im übrigen nimmt er denselben Standpunkt wie die meisten
Orthopäden ein. Blencke-Magdeburg.
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190
Referate.
v. Brunn, Coxa vara im Gefolge von Ostitis fibrosa. Beitr. z. klin. Chirurgie
1905, Bd. 45.
Verfasser schildert ausführlich einen Fall von Ostitis fibrosa bei einem
10jährigen Mädchen, der klinisch das Bild einer exzessiven doppelseitigen Coxa
vara bot. Das Röntgenbild zeigte, daß die Verbiegung des Schenkels weniger
im Schenkelhals als vielmehr im subtrochanteren Teil des Femur liegt; die
Femurknochen zeigten beiderseits starke Veränderungen, Auftreibungen und
Verdichtungen. Mikroskopisch zeigte sich, daß das aus einer rechtsseitig aus¬
geführten Keilosteotomie stammende Material zumeist aus Bindegewebe bestand,
in das Knochenbälkchen eingelagert waren. Verfasser wirft anknüpfend an
einen ähnlichen Fall von Küster die Frage auf, ob nicht die Coxa vara in
manchen Fällen auf eine bestehende Ostitis fibrosa zurückzuführen sei.
Wette-Berlin.
Hoffa, Die angeborene Coxa vara. Deutsche med. Wochenschr. 1905, Nr. 32.
An der Hand von mehreren einschlägigen Fällen und unter Demonstration
von röntgenographischen und mikroskopischen Bildern erörtert Verfasser die
Aetiologie und pathologische Anatomie der kongenitalen Coxa vara, die er als
eine typische Deformität sui generis, beruhend auf einer Störung in der nor¬
malen Entwicklung der Epiphysenlinie, auffaßt im Gegensatz zu anderen
Autoren, die eine Rhachitis oder traumatische Epiphysenlösung als ursächliches
Moment beschuldigen. Verfasser beschreibt eingehend die anatomischen Ver¬
änderungen eines durch doppelseitige Resektion der oberen Femurenden ge¬
wonnenen Präparates von einem 4jährigen Knaben. Das Röntgenbild eines
Furnierschnittes ergibt, daß der Schenkelkopf bis auf einen kleinen Knochen-
kem knorpelig ist. Ebenso ist der Schenkelhals und der Trochanter vollkommen
knorpeliger Natur. Bei mikroskopischer Betrachtung zeigen die knorpeligen
Teile das Bild des ruhenden Knorpels, die Zeichen des Wachstums fehlen voll¬
kommen. Dadurch unterscheide sich die fragliche Deformität schroff von einer
rhachiti8cben Erkrankung. Ebenso läßt sich die kongenitale Coxa vara röntgeno¬
graphisch von der rhachitischen scharf unterscheiden. Bei ersterer zeigt das
Röntgenbild, daß die Epiphysenlinie vertikal verläuft, daß der Schenkelhals
fehlt oder recht- oder gar spitzwinklig am Femuransatz abgeknickt ist und
ferner, daß am unteren Rande des Schenkelhalses keilförmige Knochenstückchen
eingeschaltet sind. Bei der rhachitischen Coxa vara dagegen ist der Schenkel¬
halswinkel ein-, meist aber doppelseitig verkleinert; der Schenkelhals ist stets
erhalten, die meist verbreiterte Epiphysenlinie verläuft schief von oben und
außen nach unten und innen. Gegen eine traumatische Entstehung spricht der
häufige Mangel eines solchen in der Anamnese und ferner der Umstand, daß
die Deformität nicht selten doppelseitig und zwar ganz gleichmäßig ent¬
wickelt ist. We tte-Berlin.
Schlesinger, Zur Aetiologie und pathologischen Anatomie der Coxa vara.
Langenbecks Archiv Bd. 75, 3. Heft, S. 629.
Bei einem Fall von Coxa vara adolescentium, in welchem die Resektion
des oberen Femurendes vorgenommen wurde, hat Schlesinger eine genaue
mikroskopische Untersuchung machen können. Aus dieser schließt er, daß es
sich um eine rein traumatische Epiphysenlösung handelte. Im Anschluß daran
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Referate.
191
hat er die veröffentlichten und anatomisch verwertbaren Resektionsfalle zu-
sammengestellt und sucht an ihrer Hand die zwei Fragen zu beantworten:
1. Sitz der Verbiegung bei der Coxa vara; 2. ist die Ursache der Coxa vara
adolescentium eine Knochenkrankheit (Rhachitis, Osteomalacie) und welche Be-
Ziehungen bestehen zur traumatischen Epiphysenlösung? Er kommt zu dem
Schluß, daß bis jetzt in keinem Falle von Coxa vara adolescentium ein anderer
Sitz der Verbiegung als die Epiphysenlinie nachgewiesen ist. Rhachitis oder
Osteomalacie ist noch in keinem Falle bewiesen oder wahrscheinlich gemacht.
Als Ursache nimmt Schlesinger ein einmaliges oder eine Reihe fortlaufender
Traumen an, die eine Lockerung der Epiphysenlinie und dadurch ein Abrutschen
des Kopfes herbeiführen. — Bei der Coxa vara rhachitica liegen der Locus
minoris resistentiae und die Veränderungen im Schenkelhälse, bei gesunden
Individuen dagegen in der Epiphysenlinie. Nast- Kolb -Berlin.
Kölliker, Ueber Coxa valga. Münchener med. Wochenschr. 1905, Nr. 86.
Verfasser vermehrt die wenigen Beobachtungen über Coxa valga um
2 Fälle. Beim ersten betrug der Neigungswinkel 156°, der Richtungswinkel
68 °, beim zweiten 156° bezw. 68°. Der zweite zeigte eine durch den großen
Trochanter sich erstreckende Fraktur und K öl liker ist der Ansicht, daß sich
der 76jährige Patient infolge seiner Coxa valga eine Schenkelhalsfraktur erspart
und an ihrer Stelle nur einen Trochanterbruch sich zugezogen hatte.
B1 e n c k e * Magdeburg.
Harting, Zwei Fälle von Coxa vara. Medizinische Gesellschaft zu Leipzig,
6. Juni 1905. Münchener med. Wochenschr. 1905, Nr. 32.
In dem 1. Falle handelte es sich um eine Coxa vara traumatica. Patient
wurde 8 Jahre vorher überfahren. Starke Außenrotation beider Beine behinderte
Exkursionsfähigkeit in beiden Hüftgelenken, hochgradige Lendenlordose, stark
watschelnder Gang. Das Röntgenbild zeigt beiderseits fast rechtwinkligen
Schenkelhals und starke Deformation desselben. Eine Osteotomia subtrochan-
terica obliqua beiderseits liefert ein sehr gutes Heilungsresultat.
Der 2. Fall betrifft einen Soldaten, der zum Militär ausgehoben, seines
Leidens wegen aber wieder entlassen werden mußte. Beiderseits rechtwinkliger
Schenkelhals. Der Trochanter steht 5 bezw. 6 cm über der Roser-Nälatonschen
Linie. B1 e n c k e - Magdeburg.
Hesse, Ueber Schenkelhalsbrüche im jugendlichen Alter. Beiträge zur patho¬
logischen Anatomie und zur allgemeinen Pathologie. 7. Supplement. Fest¬
schrift für Prof. Julius Arnold.
Hesse führt aus dem Würzburger Juliusspital fünf Krankengeschichten
▼on Schenkelhalsbrüchen im jugendlichen Alter an, deren Diagnose durch
Röntgenaufnahmen, die der Arbeit beigegeben sind, bestätigt wurde. An der
Hand dieser Fälle geht Verfasser dann unter Berücksichtigung der einschlägigen
Literatur auf diese Verletzung des näheren ein und fügt der Arbeit eine um¬
fangreiche Tabelle bei, auf der er aus der Literatur, soweit ihm diese ohne
größere Schwierigkeit zugänglich war, 46 Fälle zusammengestellt hat von
diagnostisch durch Röntgenphotographie oder operativen Eingriff gesicherten
Schenkelbaisbrüchen jugendlicher Individuen im Alter von 1—18 Jahren. Von
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192
Referate.
diesen 46 wurde der genaue Sitz in eindeutiger Weise nicht festgestellt in
4 Fällen, er befand sich im eigentlichen Schenkelhälse lOmal; alle übrigen
32 Fälle wurden als reine oder vorwiegende traumatische Epiphysenlösungen
aufgefaßt. Blencke - Magdeburg.
Robert Pollatschek, Ein Fall von subkutaner Zerreißung des Musculus
adductor longus. Wiener med. Wochenschr. 1905, Nr. 7.
Die Verletzung wurde bei einem 53jährigen Manne konstatiert, der
dieselbe erlitten hatte, als er einen elektrischen Straßenbahnwagen besteigen
wollte; er stand noch mit dem rechten Bein auf dem Boden, der linke Fuß
bereits auf dem Trittbrett, als sich der Wagen plötzlich in Bewegung setzte.
Patient drohte umzustürzen, konnte sich jedoch noch aufrecht erhalten und
den Wagen besteigen; hierbei hatte er einen stechenden Schmerz in der rechten
Leiste verspürt. Seither, 3 Tage nach dem Unfälle, Schmerzen beim Gehen
und bei allen Bewegungen im rechten Hüftgelenk.
Bei der Untersuchung des Patienten ist freie Beweglichkeit im Hüft¬
gelenk nach allen Richtungen, etwas schmerzhaft; an der Medialseitc des Ober¬
schenkels, ca. 4 cm unterhalb der Leistenbeuge, ist ein etwa bohnengroßer
harter Knoten mit unebener Oberfläche, der in geringem Umfange beweglich
erscheint und auf Druck empfindlich ist, zu fühlen. Auf Druck ist der Knoten
weder zu verkleinern noch zum Verschwinden zu bringen. Am nächsten Tage
war die Umgebung des Knotens bläulich suffundiert, so daß die Diagnose
auf Knochenabriß am Becken mit größter Wahrscheinlichkeit angenommen
werden konnte.
Bei der Operation ergibt sich, daß von der Symphyse ein etwa bohnen¬
großes Knochenstück losgesprengt ist, das sich etwa 4 cm unter der Abrißstelle an
einer retrahierten Sehne haftend befindet; es zeigt sich, daß der medialste An¬
teil der Sehne des Musculus adductor longus, der von dem Hauptstamme des
Muskels getrennt und als dünne, runde Sehne isoliert verlief, vom Becken ab¬
gerissen war und sich mit dem an ihm haftenden Knocheninsertionsstück retra-
hiert hatte. Durch Beugung und Adduktion des Oberschenkels wurden die
Bruchstücke einander genähert, das abgerissene Knochenstück mittels Alu¬
miniumbronzedraht an die Abrißstelle angenäht und in gebeugter und addu-
zierter Stellung ein Organtinbindenverband angelegt. Nach 4 Wochen Heilung.
Bezüglich des Entstehungsmechanisraus der Ruptur kann es sich entweder
um eine forcierte Muskelkontraktion oder um eine Ueberdehnung des Muskels
durch forcierte Abduktion gehandelt haben. Pollatschek nimmt in dem
beschriebenen Falle die zweite Art des Mechanismus für die Entstehung in
Anspruch. Durch eine äußere Kraft wurden die beiden Beine voneinander
entfernt, also eine Abduktion erzeugt; derselben arbeitete der Patient durch
eine reflektorische Adduktion entgegen, wodurch die Muskeln verkürzt und ge¬
spannt wurden; da der Wagen aber weiterfuhr, so wirkte die abduzierende
äußere Kraft weiter und so wurde schließlich der Adductor longus zerrissen.
Auch der Umstand, daß nur das bei der Abduktion am meisten gedehnte
mediale Sehnenbündel abgerissen war, spricht für den angenommenen Ent¬
stehungsmechanismus, da bei Knochenabreißung durch reine Muskelkontraktur
der ganze Insertionsbereich des Muskels abgerissen wird.
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Referate.
193
Der publizierte Fall ist der einzige operierte Fall von Zerreißung des
Adductor longus. H a u d e k - Wien.
Reiche, Ueber abnorme paralytische Kontrakturen an der unteren Extremität
nach spinaler Kinderlähmung. Diss. Freiburg 1905.
Verfasser gibt die Krankengeschichten von 2 Fällen von seltenen Kon¬
trakturen nach spinaler Kinderlähmung wieder, die ihn zu dieser Arbeit ver¬
anlaßt haben. In dem einen Falle handelte es sich um eine Flexionskontraktur
im Kniegelenk. Daneben bestand Plattfuß, der nach Art eines Spitzfußes schlaff
herunterhing. In dem anderen Falle waren beide Füße in stark ausgeprägter
Equinusstellung fixiert; beim Stehen, wobei Patientin gehalten werden muß,
werden beide Kniegelenke stark nach hinten durchgedrückt, wie beim Genu
recurvatum. Diese beiden Fälle, bei denen nach spinaler Kinderlähmung Kon¬
trakturen an den unteren Extremitäten entstanden, die ganz verschieden von¬
einander sind und besonders durch ihre merkwürdige Kombination auffallen,
könnten nach des Verfassers Ansicht vielleicht zuerst den Anschein erwecken,
Beweisstücke für die antagonistische Theorie zu sein, sind es aber in der Tat
nicht, sondern sind vielmehr neue Beweisstücke für die mechanische, für die
Volkinannsche Theorie, was nun Reiche in der Arbeit zu beweisen sucht,
auf deren Einzelheiten ich mich natürlich nicht näher einlassen kann. Ver¬
fasser kommt dann noch auf einige Fälle zu sprechen, welche eine gewisse
Aehnlichkeit mit den seinigen haben, und die von den Anhängern der ant¬
agonistischmechanischen Theorie angeführt sind, um ihre Ansichten zu be¬
weisen, und sucht deren Ansicht zu widerlegen. Seine beiden Fälle haben ihn
zu der Ueberzeugung gebracht, daß das wichtigste Moment für die Entstehung
paralytischer Kontrakturen und Deformitäten ist: 1. die eigene Schwere des
gelähmten Gliedes und 2. die abnorme Belastung bei seiner Benutzung. Ver¬
fasser gibt zu, daß es einige Fälle gibt, bei denen der Muskelzug der Ant¬
agonisten wohl doch eine wichtigere Rolle spielt, namentlich dann, wenn Eigen¬
schwere oder abnorme Belastung einmal den Anstoß gegeben haben. Die
mechanischen Momente spielen aber in allen Fällen die Hauptrolle und sind
das Primäre. Am Schluß dieser lesenswerten und interessanten Arbeit geht
dann Reiche noch mit kurzen Worten auf die Behandlung derartiger Kon¬
trakturen ein; er hält die Prophylaxe für die wirksamste Therapie bei para¬
lytischen Deformitäten. B1 e n c k e - Magdeburg.
Helferich, Elephantiasis des linken Beines. Med. Gesellsch. in Kiel, 4. März
1905. Münchener med. Wochenschr. 1905, Nr. 29.
Demonstration von 2 Fällen von Elephantiasis der unteren Extremitäten,
bei denen nach vorhergegangener Massagekur lange und breite Hautfascien-
atreifen am Fußrücken, Unterschenkel und am Oberschenkel exstirpiert wurden.
Das Resultat war in beiden Fällen befriedigend. Helferich hat dieses Ver¬
fahren schon im Jahre 1888 empfohlen. B 1 e n c k e - Magdeburg.
Otto, Ueber eine komplette Spontanluxation des Kniegelenks nach hinten. Diss.
Leipzig 1905.
Es handelte sich um eine 63jährige Frau, bei der das linke Bein gegen
das rechte um reichlich 5 cm verkürzt war. Der linke Unterschenkel war
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XV. Bd. 13
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Referate.
stark nach hinten luxiert. Die Patella lag der Gelenkfläche des Femur fest auf,
die Gelenkflächen der Kondylen ließen sich vollkommen abtasten. Hinten be¬
fand sich eine Vorwölbung, bewirkt durch die oberen Enden der Unterschenkel¬
knochen. Die Gelenkfläche der Tibia ist deutlich abzutasten. Aktive Be¬
wegungen im Kniegelenk sind absolut unmöglich, passive äußerst schmerzhaft.
Das Bein wurde amputiert. Patientin starb. Die Sektion ergab, daß es sich
um eine typische Tuberkulose der Gelenkkapsel handelte ohne tuberkulöse
Knochenherde und daß die bestehende Luxation durch drei Faktoren bedingt war:
durch die erhebliche Ausdehnung der erkrankten Gelenkkapsel mit Erschlaffung
der Ligamenta lateralia, durch die Zerstörung der Ligamenta cruciata und durch
das Fehlen der Menisken, die unzweifelhaft durch den tuberkulösen Prozeß zer¬
stört waren. Der Vorgang der Luxation wird nach Ottos Ansicht ein ganz
anderer gewesen sein, als er von Sonnenburg und König als Norm hingestellt
wird. Die Patientin hat auf dem Röcken im Bett gelegen. Durch die große
Ausdehnung der Kapsel und die Erschlaffung der Seitenbänder, ferner durch
den aufgehobenen Kontakt der Gelenkenden durch das Fehlen der Menisken
fiel der Tibiakopf vermöge seiner Schwere nach hinten; durch die Flexoren
wurde er dann noch ein Stück auf der Rückseite des Femur in die Höhe gezogen.
Verfasser rechnet den Fall unter die Distensionsluxationen, die ohne wesentliche
Veränderungen der Knochenformen entstehen. Die anderen Erscheinungen, die
bei derartigen Luxationen zur Beobachtung kommen, die Rotation der Tibia
nach außen, der nach außen offene Winkel zwischen Tibia und Femur und die
Knickung der Tibia in der Epiphysenlinie fehlen vollkommen. Der Grund für
diese so atypische Luxation — Verfasser konnte keinen derartigen Fall in der
Literatur finden — kann nur darin gesucht werden, daß der ganze Prozeß
verhältnismäßig sehr schnell vor sich gegangen ist, vor allen Dingen, daß die
große Ausdehnung der Kapsel sehr bald zu stände gekommen ist.
B1 e n c k e - Magdeburg.
Mouchet, Genu recurvatum congenital. Archives de Mädicine des Enfants
1905, Nr. 7.
Bei dem Fall, den Mouchet seiner Arbeit zu Grunde gelegt hat, be¬
stand neben dem angeborenen Genu recurvatum auch noch eine angeborene
Hüftluxation und ein angeborener Pes valgus. Er beschäftigt sich aber nur
mit der ersten Deformität und gibt eine ausführliche Beschreibung des Falles.
Die Kniescheibe hatte jeglichen Kontakt mit der Trochlea des Oberschenkels
verloren und an ihre Stelle war die Gelenkfläche der Tibia getreten; es han¬
delte sich also um eine Luxation der Tibia auf das Femur. Angeborenes Genu
recurvatum und Subluxation der Tibia nach vom auf den Oberschenkel sind
nach des Verfassers Ansicht identisch, jenes bezeichnet mit die falsche Stellung
und diese das anatomische Substrat. An der Hand des Falles geht dann Ver¬
fasser noch des näheren auf die Einzelheiten dieser Deformität ein unter Be¬
rücksichtigung der diesbezüglichen Literatur. Biencke-Magdeburg.
Blencke, Spitzwinklige Kniegelenkskontraktur nach Tuberkulose. Med. Ge¬
sellschaft zu Magdeburg 6. April 1905. Münch, med. Wochenschr. 1905, Nr. 35.
Der Fall ist ein neuer Beweis dafür, daß man ja recht vorsichtig bei
der Streckung derartiger Kontrakturen sein soll. Es bestand neben der spitz-
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Referate.
195
winkligen Flexionskontraktur eine starke Subluxationsstellung der Tibia nach
hinten und als nun von anderer Seite das Redressement vorgenommen werden
sollte, brach der Oberschenkel. Die Streckung der Kontraktur gelang später
leicht innerhalb 10 Tagen mit Hilfe des bekannten Schienenhülsenapparates,
der gerade bei derartigen Fällen geradezu Vortreffliches leistet.
B1 e n c k e - Magdeburg.
Katzenstein, Ueber den Fascienapparat an der Vorderseite des Kniege¬
lenkes und seine praktische Bedeutung. Diss. Göttingen 1905.
Im ersten Teil seiner Arbeit, dem anatomischen Teil, beschäftigt sich
Verfasser eingehend mit den anatomischen Verhältnissen de9 Kniegelenks und
in der Hauptsache mit dem Fascienapparat an der Vorderseite desselben.
Näher auf die Einzelheiten einzugehen, würde mich zu weit führen, sie müssen
schon im Original nachgelesen werden. Im zweiten Teil, dem praktischen Teil
der Arbeit, bespricht Katzenstein zunächst einige Einzelheiten über die
physiologische Wertigkeit des beschriebenen Fascienapparates und erörtert im
Anschluß hieran kurz seine Bedeutung für gewisse pathologische Zustände, so
z. B. für die sogen, habituelle Luxation der Patella, für die Patellafraktur, für
das Genu recurvatum, für den Mangel der Kniescheibe u. a. m.
B1 en ck e-Magdeburg.
Turner, Zur Technik der Kniegelenkarthrodesen. (Aus der orthopädischen
Klinik der kaiserlichen militärmediz. Akademie zu St. Petersburg.) Zen-
tralbl. f. Chirurgie 1905, Nr. 24.
Turner macht den bogenförmigen Schnitt der Weichteile nach Textor
unter möglichster Schonung der Seitenbänder. Zur Entfernung des Knorpel¬
überzuges verwendet er ein Instrument, das einem „automatischen Rasiermesser“
ähnlich ist (Abbildung im Text), eines mit einem nach außen, das andere mit
einem nach innen konvexen Messer. Die Patella wird vom Knorpel befreit,
der angefrischten Oberfläche von Femur und Tibia angepaßt und hier mit Naht
befestigt. Fixation im Gipsverband, in dem nach 3 Wochen die Konsolidation
ausgesprochen ist. Dann Beginn der Gehversuche. Turner hat das Ver¬
fahren an 15 Fällen mit gutem Erfolge erprobt. N as t-K o lb - Berlin.
Deutschländer, Zur operativen Behandlung des Genu recurvatum. Zentralbl.
f. Chirurgie 1905, Nr. 36.
Veranlaßt durch die wenig befriedigenden Erfolge orthopädischer Ma߬
nahmen bei Genu recurvatum, hat Deutschländer ein einfaches Operations-
Verfahren angewandt, das im wesentlichen in einer superkondylären, schräg
von vorn oben nach hinten unten gerichteten Osteotomie besteht und ihm in
einem Falle ein sehr gutes Resultat gegeben hat. Die Krankengeschichte mit
den Einzelheiten der Operation sowie die ausführliche anatomisch-mechanische
Begründung des Verfahrens müssen im Original nachgelesen werden.
Nast-Kolb - Berlin.
Oehlecker, Resultate blutiger und unblutiger Behandlung von Patellafrakturen.
Archiv f. klin. Chirurgie Bd. 77, Heft 3.
Verfasser hat die von Körte im Verlauf der letzten 15 Jahre behandelten
Falle von Patellafrakturen zusammengestellt und nachuntersucht. Es handelte
sich um 46 direkte Frakturen und um 24 indirekte. 24 wurden unblutig be-
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Referate.
handelt, 11 mit subkutaner Naht und 35 mit offener. Die im Anhang kurz
wiedergegebenen Krankengeschichten bringen nur die zur Beurteilung wichtig¬
sten Momente. Für die vergleichende Beurteilung der erzielten Funktion wurde
das Treppensteigen gewählt. Als gute Resultate wurden diejenigen be¬
zeichnet, die die Treppe sicher ab- und aufwärts gehen konnten, ohne sich an¬
zufassen und ohne einen Fuß nachzuschleppen. Die unblutige Behandlung nahm
im Durchschnitt 48 Tage in Anspruch. Bei 22 Nachuntersuchungen war das
Resultat 13mal gut; 9 erlernten freies Treppensteigen nicht wieder; bei 5 trat
eine Refraktur ein, bei 2 zogen sich die Bruchstücke mit der Zeit immer weiter
auseinander. Bei der subkutanen Naht dauerte die Behandlung durchschnittlich
58 Tage. Die Erfolge waren durchweg mäßig, abgesehen von 2 Fällen, bei
denen die perkutane Naht nach Heusner mit sehr gutem Erfolge ausgeführt
wurde. Von den 25 mit offener Naht behandelten Patienten wurden 23 nach¬
untersucht. Die Behandlung dauerte durchschnittlich 46 Tage. Alle lernten
freies, sicheres Treppensteigen. Die offene Naht lieferte ein doppelt so gutes
Resultat als die Behandlung mit Massage etc. Verfasser rät deshalb, das un¬
blutige Verfahren nur bei den Fällen anzuwenden, bei denen nur eine geringe
Diastase vorhanden ist und bei denen der Reservestreckapparat, die seitliche
Fascie nicht mitzerrissen ist. Ble n cke-Magdeburg.
Wittek, Zur operativen Therapie der seitlichen Kniegelenkverkrümmungen.
Beitr. z. klin. Chirurgie 1905, Bd. 46.
Verfasser erörtert die Vor- und Nachteile der unblutigen Operations¬
methoden, speziell der Epiphyseolyse bei seitlichen Kniegelenkverkrümmungen
und kommt zu dem Schluß, daß dieselbe zu verwerfen sei wegen der Gefahr
der eventuell auftretenden Wachstumsstörungen. Wittek beschreibt dann das
Operationsverfahren, das an der Grazer chirurgischen Klinik geübt wird: Schiefe,
lineare, suprakondyläre Osteotomie des Femur mit nachfolgendem Extensions¬
verband nach Bardenheuer mit Zug in der Längsrichtung und Seitenzug. Der
Extensionsverband liegt 3—4 Wochen, dann bekommen die Patienten einen
Gipsgehverband mit Scharnieren am Knie. Die Heilung ist meist in der 8. bis
10. Woche vollendet. Das Resultat soll in jeder Beziehung tadellos sein. Sitzt
die Hauptkrümmung im Unterschenkel, so kann man in analoger Weise an der
Tibia operieren, wobei die Fibula meist intakt bleiben kann. Wette - Berlin.
Mosetig-Moorhof, Ueber Radikaloperationen bei tuberkulöser Coxitis. Wiener
klin. Wochenschr. 1905, Nr. 20.
Mosetig will durch die Art der Schnittführung auch am Hüftgelenke
möglichste Zugänglichkeit schaffen. Es wird zu diesem Zwecke bei Seitenlage¬
rung des Patienten ohne Rücksichtnahme auf etwaige Fistelöffnungen in der
Haut ein breiter zungenförmiger Lappen Umschnitten mit oberer Basis, dessen
untere schmälere Rundung etwa zollbreit unterhalb der Spitze des großen
Rollhügels zieht, während die etwas divergierenden Schenkel parallel mit der
Faserung des großen Gesäßmuskels verlaufen, so daß bei der Vertiefung des
Schnittes die Muskelfasern tunlichst geschont bleiben. Der große Rollhügel
wird hierauf schräg nach oben innen abgesägt und samt der Insertion der
Gesäßmuskeln nach aufwärts umgeklappt, wodurch das Hüftgelenk in bequemster
Weise zugänglich gemacht wird.
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Referate.
197
Kommt man nun auf kalte Abszesse, so wird deren Inhalt durch Abspülen
mit l°;oiger Formalinlösung entfernt, die Abszeßwandungen durch Abwischen
mit trockenen sterilen Tupfern gereinigt, sodann die Kapsel der Quere nach
gespalten und der Kopf taxiert. Ist der Kopf mit dem Becken verwachsen,
so wird er am Hals vom Femur abgetrennt. Nach Entfernung des Knorpel¬
überzuges des luxierten Kopfes wird die Ausräumung etwaiger Herde mit nach¬
folgender Plombierung mit Jodoform, bei ausgedehnterer Zerstörung der Hals
in toto abgetragen. Sind Hals und Kopf schon konsumiert, so wird der Hals¬
stumpf von etwaigen Herden gereinigt und plombiert. Hierauf folgt die sorg¬
fältige Ausschneidung der Gesamtkapsel samt dem Limbus cartilagineus
mittels Hakenpinzette und scharfer Schere; die queren Beckenmuskeln sollen
nicht durchschnitten werden. Ist die Kapselexstirpation beendigt, so wird
jetzt der etwa zurückgelassene pseudoankylotisch verwachsene Kopf entfernt
und das Acetabulum sorgfältig ausgeräumt.
Nach Ausspülung des ganzen Operationsgebietes mit Formalinlösung und
sorgfältiger Trocknung wird das Cavum des Acetabulums mit Jodoformplomben
ausgegossen und in die langsam erstarrende Masse das Femurende eingepflanzt.
Fehlen Kopf und Hals, so wird die präparierte Pfanne mit Jodoforraplombe
vollgegossen und nach Zurückklappen des muskulokutanen Lappens und Wieder-
annähen der resezierten Trochanterspitze der Verband in Parallelstellung der
Beine angelegt. Es erfolgt Bildung einer strammen Pseudarthrose bei geringer
Verkürzung; es bleibt eine proximale Verschiebung aus, da die erhaltene quere
Beckenmuskulatur die Rolle von Fixatoren übernimmt.
Durch die Pseudarthrose wird das Gehen und Stehen nicht beeinträchtigt
und auch das Sitzen wesentlich erleichtert, indem die Patienten hiezu das
ganze Gesäß verwenden können. Moseti g empfiehlt dieses Verfahren besonders
für die Fälle, bei denen die totale Entfernung des Kopfes notwendig war. An
vier Patienten zeigt er die Resultate seiner Operationsmethode. H a u d e k-Wien.
Dr. Anton R. v. Rüdiger Rydygier, Beitrag zur operativen Behandlung
der habituellen Luxation der Kniescheibe nach Ali Krogius. Wiener klin.
Wochenschr. 1905, Nr. 24.
Rydygier berichtet über einen nach dieser Methode operierten Fall.
Es handelte sich um eine habituelle Luxation infolge einer zwei Jahre vorher
erlittenen Kontusion des Knies, bei welcher eine Verrenkung der Patella erfolgt
sein soll. Bei Beugung des Knies rutscht die Patella nach außen, hierbei er¬
scheint der Condylus internus stärker entwickelt, wodurch eine auch bei gestrecktem
Knie bestehende leichte Verschiebung der Patella nach außen erklärt erscheint.
Die Operation wird nach der Vorschrift von Ali Krogius ausgeführt;
das Bein konnte im Laufe der Nachbehandlung immer besser benützt werden.
Nur beim starken Beugen des Kniegelenkes zeigte sich eine Andeutung des
früheren Leidens, ohne daß es zu einer Wiederholung der Luxation kam. Den
Grund hiefür sieht Rydygier in dem zu schmalen Zuschneiden des inneren
brückenförmigen Lappens, der dann in den äußeren Schnitt hineintransplantiert
wird und die Verschiebung der Kniescheibe nach innen besorgen soll. Rydygier
gibt daher den Rat, den inneren Lappen lieber reichlich breit zuzuschneiden.
Haudek-Wien.
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198
Referate.
J. Fels, Ein Fall von Gonitis luetica. Wiener med. Presse 1904, Nr. 49.
Verfasser bespricht an der Hand eines einschlägigen Falles die ver¬
schiedenen Arten der luetischen Gelenkentzündung. Neben den Formen infolge
erworbener Syphilis sind die Entzündungen bei hereditärer Lues von besonderem
Interesse und auch weniger bekannt. Dieselben betreffen am häufigsten Kinder
zwischen dem 6.—10. Lebensjahre, wo keine manifesten Zeichen von Lues mehr
bestehen, können aber auch noch später zur Beobachtung kommen.
In dem Falle von Fels handelte es sich um einen 29jährigen Mann,
der angeblich immer gesund gewesen war, und seit dem 20. Lebensjahre die
Entstehung einer sich immer weiter ausdehnenden Schwellung des Knies be¬
merkte, die erst schmerzlos war und nach 4 Jahren sich auch auf die Wade
ausdehnte. Die fluktuierenden Geschwülste wurden als tuberkulöse Abszesse
angesehen, Punktion des Kniegelenkes, sowie jede Behandlung war erfolglos
gewesen. Seit einem Jahre an der Wade eine Fistel, aus der sich eine eitrige,
grüngelbliche Flecken enthaltende Flüssigkeit entleert. Die Fistelöffnung besitzt
violette, unterminierte, ausgefranste Ränder. Bei der Untersuchung machte der
Prozeß den Eindruck eines tuberkulösen Prozesses mit Senkungsabszeß der
Wade und tuberkulöser Fistel. Der Patient sollte sich schon einer Operation
unterziehen, als Prof. Ziembicki mit Rücksicht auf die geringen Verdickungen
der Tibia den Verdacht aussprach, es könne sich um vereiterte Gummen handeln.
Eine eingeleitete Schmierkur führte zu vollkommener Heilung.
Auf eingehendes Befragen des Vaters konnte erhoben werden, daß die
Mutter des Patienten vor vielen Jahren an einem schweren Knochenleiden ge¬
litten habe, das auf Einreibung mit einer Salbe, die Schwellung im Munde und
Speichelfluß verursacht hatte, geheilt sei. Wahrscheinlich handelte es sich hier
um eine Gonitis im Gefolge von Lues hereditaria tarda oder eine spätere
Infektion des Kindes durch die Eltern.
In Fällen von chronischer Entzündung der Gelenke, besonders des
Kniegelenks, soll man ätiologisch immer an Lues hereditaria denken, die nicht
nur bei Kindern, sondern auch noch bei jugendlichen Erwachsenen bis zum
30. Jahre Vorkommen kann. In zweifelhaften Fällen und wo die gewöhnliche
Behandlung ohne Erfolg bleibt, soll eine Quecksilberkur versucht werden.
Haud ek-Wien.
R. Stegmann, Zur operativen Behandlung des fungösen Kniegelenks. Wiener
med. Wochenschr. 1905, Nr. 15.
Verfasser berichtet über ein von Gersuny (Rudolfinerhaus in Wien) seit
längeren Jahren geübtes Operationsverfahren. Volkmannscher Querschnitt
durch die Patella, deren Spongiosa in jedem, auch nicht suspekten Falle ex*
cochleiert wird. Von den Enden des Querschnitts werden nach oben zwei Längs¬
schnitte hinzugefügt, so daß ein U-förmiger Schnitt entsteht. Obere Hälfte
der Patella, Quadrizepssehne und Haut werden nach oben präpariert, der obere
Recessus in toto ausgeschält. Durchtrennung der Seitenbänder, Lig. cruciata,
Entfernung der hinteren Kapselwand. Hierauf wird am Femur in der Inser*
tionsstelle der Lig. cruciata eingegangen und eventuell noch nach seitlicher
Anbohrung die erkrankte Spongiosa der Kondylen mittels scharfen Löffels bis
hoch in die Markhöhle des Femur excochleiert, so daß im unteren Drittel des
Oberschenkels die ganze Spongiosa entfernt ist und nur die Corticalis und die
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Referate.
199
Kontaktflächen der Kondylen Zurückbleiben und die Form und Länge des
Femur wahren.
In gleicher Weise wird die Tibia, eventuell auch die Fibula nach Ent¬
fernung des Enorpelüberzuges von oben her in ausgedehnter Weise excochleiert;
die Kondylenreste des Oberschenkels werden in diese Höhle eingesetzt. Durch
eine unterhalb der Tuberositastibiae angebohrte Oeffnungwird die Höhle drainiert.
Die Wundflächen werden mit indifferenten Lösungen abgespült und mit Jodo¬
formglyzerin übergossen. Naht der Patella mittels Nähten, die durch Sehnen¬
überzug und Periost der Patella gelegt werden; Hautnaht. Auf eine Jodoform¬
plombierung wird verzichtet. Vor der Operation Anfertigung von Radiogrammen,
die die Struktur deutlich erkennen lassen müssen.
Die Operation gewährt eine Reihe von Vorteilen. Sie ermöglicht noch
die Umgehung der Amputation in schweren Fällen, vermeidet durch Erhaltung
der Corticalis und der Gelenkflächen des Femur, sowie durch teilweise Schonung
der Epiphysenlinien die Entstehung einer größeren Verkürzung.
Auch die Nachbehandlung und Verbandanlegung weicht von der sonst
üblichen ab. Die Kondylen des Femur werden in die Höhle der Tibia eingesetzt
und in dieser Stellung nach Umwicklung mit Zellstoffwatte und Binde ein
Holzspanstärkebindenverband über die ganze Extremität und den unteren Teil
des Rumpfes angelegt, der durch eine Holzschiene an der Außenseite ge¬
stützt wird.
Der Verband, der sehr leicht ist und einen leichten Wechsel gestattet,
soll das Gelenk nicht völlig entlasten. Die leichten Erschütterungen beim Ge¬
brauche des Beines — die Patienten sollen sehr bald auf die Beine gebracht
werden —, die durch den Verband und durch das als Stütze dienende Geh¬
bänkchen gemildert werden, bieten einen wertvollen Reiz für die Knochen¬
neubildung und raschere Entstehung der Ankylose.
Der erste Verband bleibt möglichst lange liegen. Der Verbandwechsel
erfolgt durch Fenster im Verband. Nach 4—6 Tagen sollen die Patienten auf¬
stehen, nach 4—6 Wochen kann der Verband durch einen Gehapparat ersetzt
werden. Erwachsene müssen den Stützapparat 1 Jahr, jüngere Individuen bis
zum 21. Lebensjahr tragen; dadurch wird eine Verkürzung des Beines sicher
vermieden.
Die Gersunysche Behandlungsweise hat also den Vorteil, daß trotz
weitestgehender Entfernung des Erkrankten die Operation doch konservativ
ist, insofern sie die Kondylen und Epiphysen möglichst schont, dadurch die
Verkürzung, die während der Operation eintritt, wesentlich vermindert und eine
Wacbstum8störung der Extremität in jugendlichem Alter verhindert. Auch die
Nachbehandlung gestaltet sich für die Patienten angenehmer.
Zum Schlüsse folgen vier Krankengeschichten mit dem Befund der zur
Kontrolle angefertigten Röntgenbilder. H a u d e k - Wien.
v. Les8er, Ueber eine seltene Erkrankung am Knie. Med. Gesellschaft zu
Leipzig, 24. Oktober 1905. Münch, med. Wochenschr. 1905, Nr. 48.
An der Hand eines Falles bespricht v. Lesser den typischen Symptomen-
komplex der Einreißung bezw. Abknickung des von der genualen Tibiaepiphyse
nacli abwärts herabsteigenden schnabelförmigen Fortsatzes, aus dem die Tube-
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200
Referate.
rositas tibiae entsteht. Die Affektion war doppelseitig, v. Lese er rät, in den
leichteren Fällen sich abwartend zu verhalten, da nach vollendeter Ossifikation
die Beschwerden etc. von selbst schwinden, in schwereren Fällen empfiehlt sich
eventuell zur Beschleunigung der Ossifikation an der Tuberositas tibiae das Ein-
treiben eines Nagels oder Elfenbeinstiftes. Die in Frage kommende Affektion
ist bisher nur bei Knaben von etwa 14 Jahren beobachtet worden. Nach
v. Lessers Ansicht scheinen angeerbte und angestammte Eigentümlichkeiten
sich hierbei geltend zu machen, wie dieselben beim Plattfuß und für die Varicen-
bildung nachgewiesen sind, und wie dieselben auch für die Verbreitung der
Rhachitis in auffälliger Weise in Frage kommen. B1 e n c k e - Magdeburg.
Fr. Roskoschny, Ein Fall von angeborener, vererbter Verbildung beider
Knie- und Ellbogengelenke. Deutsche Zeitschr. f. Chirurgie, März 1905.
Roskoschny beschreibt einen Fall von angeborenem Genu valgum bei
Vater und Sohn, hervorgerufen durch Keilwirkung eines vollkommen isolierten,
mit Femur und Tibia breit artikulierenden Condylus internus von mächtiger
Größe. Gleichzeitig besaßen Vater und Sohn an beiden Ellbogengelenken an¬
geborene Luxationen des Radiusköpfchens. Roskoschny nimmt an, daß dieser
im Knie liegende isolierte Condylus medialis ätiologisch in seiner Anlage dem
Condylu9 medialis femoris entspräche und zwar führt er ihn auf als eine
Spaltung von embryonaler Anlage. Die Luxation des Knochens erklärt Ros¬
koschny mit einer Wachstumsstörung, Verkürzung resp. Verlängerung von
Radius und Ulna. Vüllers-Berlin.
Gaugele, Ueber entzündliche Fettgeschwülste am Knie- und Fußgelenke.
Münch, med. Wochenschr. 1905, Nr. 30.
Mit Bezugnahme auf die Hoffaschen und Bechersehen Arbeiten über
entzündliche Fettgewebsbildungen im Kniegelenk berichtet Verfasser kurz über
vier derartige Fälle, die sich an leichte Traumen angeschlossen hatten und in der
Köhlerschen Chirurg.-orth. Privatklinik operiert wurden. Bei dreien war das
Resultat ein sehr gutes, bei dem vierten mußte infolge auftretender schwerer
Psychose die Behandlung unterbrochen werden, so daß leider eine teilweise Ver¬
steifung des Kniegelenkes zu stände kam. Der Verlauf dieser Fälle zeigte eine
völlige Uebereinstimmung mit den Hof faschen Angaben. Des weiteren be¬
richtet Verfasser über zwei operierte Fälle von entzündlicher Wucherung des
Fettgewebes am Fußgelenk bei Patienten mit Plattfußbeschwerden. Es zeigte
sich bei denselben eine Anschwellung unter dem äußeren Knöchel, die nach des
Verfassers noch an mehreren Fällen gemachten Erfahrungen bald diffus, bald
umschrieben sein kann. Gaugele ist der Ansicht, daß es sich bei den Patienten
mit Plattfußbeschwerden, deren Schmerzen selbst durch eine gute Plattfu߬
einlage nicht völlig behoben werden konnten, um derartige Erkrankungen
handeln dürfe, und daß man deshalb auch diesen Patienten durch eine Opera¬
tion vollständige Heilung verschaffen könnte. B1 e n c k e - Magdeburg.
Wittek, Erklärungsversuch der Entstehung der supramalleolären Längsfraktur
der Fibula. Beiträge zur klin. Chirurgie Bd. XLVI, Heft 2.
Wittek konnte feststellen, daß die Fibula an ihrer Hinterseite durch
ihren Bau tatsächlich viel schwächer ist als an ihrer vorderen, und daß dies
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Referate.
201
Ungleicheein an einer Stelle am stärksten ist, die ungefähr 4—5 Querfinger
über der Spitze des Malleolus externus liegt. Diese Verhältnisse hält er für
die Ursache, daß Gewalteinwirkungen, die die Fibula in ihrem unteren Teile
treffen, die bekannte typische längsverlaufende Fraktur oder Fissur erzeugen.
Vielleicht kommt auch nach des Verfassers Ansicht noch das Freisein von
Muskelansätzen im unteren äußeren und hinteren Teile der Fibula dem Zu¬
standekommen der Fraktur an dieser Stelle ebenfalls zu gute; sie hat gegen
Gewalteinwirkungen von außen keinen Gegenhalt durch kontraktile Substanz,
sondern nur jenen, der sie mit Bandmassen an der Tibia hält.
B1 e n c k e - Magdeburg.
Sonntag, Unterschenkelbrüche mit Bezug auf das Unfallversicherungsgesetz.
Dissertation. Bonn 1905.
Die über 100 Seiten starke Dissertation bringt des Interessanten genug.
Es ist aber nicht möglich, auf alle Einzelheiten näher einzugehen, sie müssen
schon im Original, dessen Studium wir nur empfehlen können, eingesehen
werden. Erwähnen möchte ich nur den besonders für den Orthopäden wichtigen
Abschnitt VIII, in dem die deforme Heilung, besonders die traumatische. Platt¬
fußbildung, die Gelenkaffektionen, einige üble Zufälle der Frakturen und der
Zustand des gebrochenen Gliedes eingehend besprochen werden.
B1 e n c k e - Magdeburg.
Wiesinger, Kongenitaler Defekt der Fibula. Aerztl. Verein in Hamburg.
Sitzung vom 27. Juni 1905. Münch, med. Wochenschr. 1905, Nr. 27.
Es handelte sich um einen 12jährigen Knaben mit ausgedehntem kon¬
genitalen Defekt der Fibula, der den Unterschenkel gebrochen hatte. Nach
1 Jahr war trotz stetiger Schienenbehandlung noch keine Konsolidation ein¬
getreten. Wiesinger überpflanzte einen gestielten Periostknochenlappen
von der Tibia der anderen Seite auf die gebrochene Tibia und erzielte dadurch
ein ausgezeichnetes Resultat. Auf den Röntgenbildem zeigte es sich deutlich,
daß Callu8bildung allein von dem transplantierten Knochen der gesunden Seite
ausging. B1 e n c k e - Magdeburg.
Hof mann, Die Stellung des Fußes bei fungöser Erkrankung des unteren
Sprunggelenkes. 77. Vers, deutscher Naturforscher und Aerzte zu Meran.
24.—30. September 1905.
Hofmann fand bei Pronations- und Abduktionsstellungen des Fußes
vorwiegend das Talonavikulargelenk erkrankt, bei Supinations- und Adduktions¬
stellungen dagegen das Gelenk zwischen Talus und Calcaneus. H o f m a n n
injizierte erstarrende Massen in die betreffenden Gelenke und konnte sich so
überzeugen, daß die erwähnten Stellungen den die Kapsel am meisten ent¬
spannenden Mittelstellungen dieser Gelenke entsprechen. Weitere Schlüsse über
den Sitz der Erkrankung läßt dann auch noch die Form der Schwellung zu,
auf die Hof mann des näheren eingeht. Bl encke- Magdeburg.
Backe, Ein Beitrag zur konservativen Behandlung ausgedehnter Fußwurzel-
karies. Dissertation. Leipzig 1905.
Wenn Verfasser in der Ueberschrift der Arbeit von konservativer Be¬
handlung spricht, so will er darunter eine möglichste Schonung des gesunden
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202
Referate.
Knochens bei der Operation verstanden wissen. Er gibt, nach eingehender Be¬
schreibung aller typischen Operationen, die wegen Karies an den Unterschenkel-
bezw. Fußwurzelknochen ausgeführt werden, zwei Krankengeschichten von
Patienten wieder, bei denen im Evangelischen Diakonissen-Krankenhaus zu
Elbing der Talus ganz und der Calcaneus in sehr ausgedehntem Maße entfernt
wurden. In beiden Fällen wurde ein so gutes Resultat erzielt, daß sie nach
des Verfassers Ansicht geeignet erscheinen, zu äußerst konservativem Verfahren
bei Knochenkaries zu ermuntern. B lencke-Magdeburg-.
Brüning, Die Resultate von Fußresektionen. Verein Freiburger Aerzte. Sitzung
vom 22. Februar 1905. Münch, med. Wochenschr. 1905, Nr. 29.
Jn der weitaus größten Mehrzahl der Fälle wurde wegen Tuberkulose
reseziert. Bei Erkrankung im hinteren Abschnitt wurde nach Kocher operiert,
bei Erkrankung der vorderen Mittelfüßknochen wurde die quere Fußresektion
ausgeführt. An der Hand einer Reihe von projizierten Röntgenaufnahmen, die
zum Teil 3—4 Jahre nach der Operation angefertigt wurden, zeigt Brüning
die Ausführung der ausgedehnten Resektionen und die mit diesen erzielten
guten Resultate. Ein Fall, in dem Talus und Calcaneus exstirpiert und nur
eine dünne Schale von der Unterfläche des Calcaneus stehen gelassen wurde,
dürfte besonders interessant sein, da sich im Laufe von 3 Jahren ein schöner
knöcherner Fersenhöcker neu gebildet hatte. Blencke-Magdeburg.
Hübener, Tuberkulose des Calcaneus und Talus. Gesellsch. f. Natur- u. Heil¬
kunde zu Dresden. 21. Januar 1905. Münch, med. Wochenschr. 1905,
Nr. 33.
Bei der 49jährigen Patientin wurde nach 2jähriger Dauer der ausge¬
dehnten Erkrankung die osteoplastische Fußgelenksresektion nach Wladimirow
und Mikulicz mit ausgezeichnetem funktionellem Erfolg vorgenommen. Ohne
Apparat kann sie stundenlange Spaziergänge machen.
B1 e n c k e - Magdeburg.
Stich, Zur Anatomie und Klinik der Fußgelenkstuberkulose. Beitr. z. klin.
Chirurgie Bd. XLV, Heft 3.
Der sehr fleißigen Arbeit, deren Studium wir nur aufs angelegentlichste
empfehlen können, liegen alle die Fälle von Fußgelenkstuberkulose zu Grunde,
welche während der Jahre 1896—1903 in den Kliniken zu Rostock und Königsberg
von Gar re klinisch beobachtet bezw. behandelt wurden. Auf die Einzelheiten
der Arbeit näher einzugehen, würde den Rahmen eines kurzen Referates weit
überschreiten. Kurz bezüglich der Therapie möchte ich erwähnen, daß Stich
die Jodoformglyzerinbehandlung nur dann für geeignet hält, wenn man in der
Lage ist, die Patienten häufiger zu kontrollieren, was wohl am exaktesten durch
Anfertigung vergleichender Radiogramme geschieht, deren Wichtigkeit und
Unentbehrlichkeit er für etwaige Eingriffe nicht genug hervorheben kann. Die
Frage, wann Fußgelenkstuberkulosen eigentlich operiert werden sollen, beant¬
wortet er folgendermaßen:
1. Wenn man einen nachgewiesenen Knochenherd entfernen kann, bevor
er das Gelenk infiziert hat.
2. Wenn bereits eine Gelenkerkrankung vorhanden ist, so kann man in
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Referate.
203
frischen Fällen ohne Fisteln bei gutem Allgemeinbefinden und jugendlichem
Alter des Patienten dann einen Versuch mit konservativen Methoden machen,
wenn das Röntgenbild keine ausgedehnteren Knochenzerstörungen aufweist und
nur ein Gelenk erkrankt ist.
3. In allen anderen Fällen soll sofort operiert werden, sofern nicht Kontra¬
indikationen vorliegen.
4. Macht das Leiden trotz konservativer Behandlung, die dauernd durch
Röntgenbilder zu kontrollieren ist, in kurzer Zeit wesentliche Fortschritte, oder
tritt nach längerer Zeit keine merkliche Besserung ein, so soll gleichfalls operiert
werden. Blencke - Magdeburg.
Helbing, Ueber den Metatarsus varus. Deutsche med. Wochenschr. 1905,
Nr. 33.
Verfasser beschreibt das klinische Bild und die Genese des Metatarsus
varus. Derselbe kann angeboren oder erworben sein. Die letztere Form ist
weit häufiger und entsteht 1. kompensatorisch bei Genu valgum und rhacbiti-
schen Deformitäten mit nach außen offenem Knickungswinkel; er verschwindet
hier meist nach Beseitigung der ursprünglichen Deformität; 2. traumatisch nach
Frakturen des Metatarsus; 3. arthrogen nach entzündlichen oder chronischen
Gelenkprozessen im I. Tarsometatarsalgelenk. Häufig tritt dabei eine Flexion
und Varusstellung der großen Zehe ein.
Die angeborene Form ist sehr selten. Verfasser hat 4 Fälle beobachtet.
Die Therapie besteht in der Redression eventuell mit Tenotomie.
W ette- Berlin.
Joachimsthal und Cassierer, Ueber amniotische Furchen und Klumpfuß
nebst Bemerkungen über Schädigungen peripherer Nerven durch intrauterin
entstandene Schnürfurchen. Deutsche med. Wochenschr. 1905, Nr. 31.
Demonstration (in der Freien Vereinigung der Chirurgen Berlins) von
2 Fällen von Klumpfuß mit amniotischen Schnürfurchen am Unterschenkel.
Der Klumpfuß ist mit großer Wahrscheinlichkeit auf amniotische Stränge zurück-
zuf (ihren.
Bei dem einen Patienten bestanden außerdem noch Schnürfurchen am
rechten Zeigefinger und eine besonders tiefe am Oberarm. Durch letztere,
wahrscheinlich durch Kompression, da sie gerade an der Umschlagstelle des
N. radialis am Oberarm liegt, ist eine totale Radialislähmung erzeugt, die nur
den Triceps freiläßt. Außerdem war an demselben Arm noch eine Lähmung
im Handast des N. ulnaris vorhanden. Wette-Berlin.
Hirsch, Kasuistischer Beitrag zur Aetiologie der angeborenen Fußverkrüm¬
mungen, speziell des Klumpfußes. Diss. München 1905.
Verfasser gibt zunächst einen kurzen Ueberblick über die Statistik, Ana¬
tomie und Aetiologie der Fußverkrümmungen, speziell des Klumpfußes, und
bespricht dann einen Fall, den er zu beobachten Gelegenheit hatte und der
nach mancher Richtung hin sehr interessante Verhältnisse darbot. Einerseits
ist er einer der wenigen Fälle von angeborenem Klumpfuß, die mit Spina bifida
kombiniert sind, anderseits zeigt er das seltene Bild, daß die Beine des Kindes
nicht im Kniegelenk gebeugt, sondern sogar zu beiderseitigem Genu recurvatum
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204
Referate.
überstreckt, im Hüftgelenk gebeugt und in dieser Stellung fixiert sind. Um
dieses Bild zu erzeugen, gehört nach Hirschs Ansicht eine äußere Ursache,
und als solche muß eine Raumbeengung im Uterus infolge mangelnden Frucht¬
wassers angesehen werden. Der innen liegende Fuß war in toto verkleinert:
er war eben druckatrophisch. Vielleicht hat auch in diesem Falle das starke
Schnüren mitgewirkt, den ohnehin schon großen Binnendruck im Uterus zu
verstärken. In Bezug auf den Zusammenhang der Spina bifida mit dem Klump¬
fuß schließt sich Verfasser der Ansicht Volkmanns an.
B1 e n c k e - Magdeburg.
Richter, Ein Beitrag zur Kenntnis der traumatischen Luxation des Fußes im
Talokruralgelenk. Deutsche Zeitschr. für Chirurgie. April 1905.
Richter stellt in seiner Arbeit 7 aus der Literatur gesammelte Fälle
von Luxation des Fußes nach hinten mit einem von ihm selbst beobachteten
Fall zusammen und spricht hauptsächlich über deren Entstehungsweise. Zum
Zustandekommen einer derartigen Verrenkung ist entweder ein Sturz hintenüber
mit Feststellung des Fußes oder ein ebensolcher Sturz mit untergeschlagenem
Bein erforderlich. Eine zweite Möglichkeit dieser Verletzung ist bei einem
Sturz nach vorn bei Hängenbleiben der Fußspitze, wobei der Fuß in starker
Plantarflexion aufschlägt. Fraktur der Fibula besteht in der Mehrzahl der
Fälle. Die Prognose ist im allgemeinen günstig bei rechtzeitig erfolgter Re¬
position. Vüllers-Berlin.
Nobe, Zur Korrektur des kongenitalen Klumpfußes. (Aus der chirurgischen
Abteilung des Herzog!. Krankenhauses zu Braunschweig.) Zentralbl. für
Chirurgie 1905, Nr. 12.
Um nach erfolgtem Redressement das Erreichte im Verband zu fixieren,
empfiehlt Nobe den Sprengelsehen Handgriff, der darin besteht, daß man
den modellierten Klumpfuß breit mit der Sohle auf den Tisch aufsetzt und
den mobilen Unterschenkel gegen den fixierten Fuß als Hebel benützt. — Die
von Sprengel angegebene Blechsohle hatte bisher den Nachteil, daß bei der
Anlegung des Verbandes der Fuß selbstverständlich von der Tischplatte abge¬
hoben werden mußte. Dies sucht Nobe zu vermeiden dadurch, daß er die
Blechplatte auf ein Stativ stellt, auf dem sie nur ganz lose und leicht abheb¬
bar ruht. Der Verband wird nun angelegt, indem der Fuß in die auf dem
Stativ ruhende Blechsohle fest aufgesetzt wird. Nach Trockenwerden des Gipses
läßt sich der Fußteil des Bänkchens leicht abheben, während die Blechsohle
im Gipsverband bleibt. Einige instruktive Abbildungen erläutern die Einzel¬
heiten des Verfahrens. Nast-Kolb - Berlin.
Muskat, Heftpflasterverbände zur Behandlung des statischen Plattfußes.
Deutsche med. Wochenschr. 1905, Nr. 29.
Muskat hat in unzählig vielen Fällen von Plattfuß recht gute Erfolge
von Heftpflasterverbänden gesehen, die gerade für den Praktiker von großem
Vorteil sind, da die Technik der Verbände eine überaus einfache ist. Von der
Innenseite des Fußes, vom Dorsum anfangend, geht der erste Streifen über den
Fußrücken um den Außenrand über die Fußsohle und am Innenrande des Fußes
zur Innenseite des Unterschenkels bis hoch über die Wade hinauf. Der zweite
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Referate.
205
Streifen wird neben dem ersten und diesen nur wenig deckend angelegt. Eine
fast zirkuläre Tour wird nun zur Befestigung am Ende des Streifens um den
Unterschenkel gelegt, eine zweite um die Mitte des Unterschenkels, eine dritte
um die Gegend der Knöchel. Ueber den Verband wird eine Mullbinde ge¬
wickelt. Bl encke-Magdeburg.
Klengel, Ein Beitrag zur Lehre vom normalen und pathologischen Fußsohlen¬
reflex. Diss. Leipzig 1901.
In dem ersten Teil der Arbeit bringt Verfasser einiges über Hautreflexe
im allgemeinen, bespricht dann im zweiten Teil den normalen Plantarreflex
und kommt zum Schluß auf das Babinskische Phänomen zu sprechen. Er
hat die hauptsächlichsten Untersuchungen über die Fußsohlenreflexe zusammen¬
gestellt, eigene hinzugefügt und ist auf Grund dieser zu folgenden Schlußsätzen
gelangt: 1. Das Vorkommen des Babinskisehen Phänomens bei nervengesunden
Individuen ist nicht sicher erwiesen. 2. Das Phänomen wurde nur beobachtet,
wenn eine Affektion der Pyramidenbahnen vorlag. 3. Bei den sogenannten
nicht organischen Nervenerkrankungen ist es nur unter Umständen beobachtet
worden, wenn diese einer schweren organischen Ausschaltung der cerebralen
Funktionen, also auch der der Pyramidenbahnen gleichkommen. 4) Die strikte
Erklärung, warum das Phänomen gerade bei Affektionen der Pyramidenbahnen
50 häufig auftritt und 'unter welchen Verhältnissen es dabei fehlt, ist noch
keinem Autor gelungen. Blencke-Magdeburg.
v. Lesser, Ueber das Schuhwerk. Medizinische Gesellschaft zu Leipzig, 24. Ok¬
tober 1905. Münchener med. Wochenschr. 1905, Nr. 48.
v. Lesser sieht den Grund dafür, daß die Behandlung des Plattfußes
seit den durch v. Meyer, Hueter, Volkmann u. a. eingeführten Grundsätzen
nur unwesentliche Fortschritte gemacht hat, in dem Umstande, daß man für
die sogenannte Abwicklung des Fußes sich mit den Anschauungen der älteren
Physiologen begnügt hat, ohne den Tatsachen von der Torsion und der De-
torsion des schreitenden Fußes Rechnung zu tragen. Lesser geht des näheren
darauf ein, hebt sodann die Schädlichkeiten von seiten unzweckmäßigen Schuh¬
werks hervor und verlangt, die Anfertigung eines zweckmäßigen, gut passenden
Stiefels nicht, wie solches auch jetzt meistens noch geschieht, dem Schuhmacher
m überlassen. Durch rationelle, ärztlich überwachte Anfertigung des Schuh¬
werks wird sicherlich die Zahl und die Schwere der Plattfußbeschwerden und
der Plattfußbildungen abnehmen. Die Hauptaufgabe des Schuhwerks ist und
wird auch immer bleiben ein elastischer, schmerzloser und schöner Gang und
nicht ein sogenannter eleganter, schön sitzender Stiefel. Lesser macht dann
noch nähere Angaben, wie ein zweckmäßiger Schuh beschaffen sein muß.
B1 e n c k e -Magdeburg.
Richard Wolff, Ueber die Komminutivfrakturen der Handwurzel durch in¬
direkte Gewalt. Monatsschr. f. Unfallheilkunde und Invalidenwesen 1905,
XII. Jahrg. Nr. 2.
Durch indirekte Gewalt (Fall auf die dorsalflektierte Hand) entstehen
Komminutivfrakturen, welche im wesentlichen die proximale Reihe der Hand¬
wurzelknochen betreffen, die Wolff durch den Namen des knöchernen Meniscus
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206
Referate.
des Handgelenks zusammenfaßt. Während am häufigsten das Naviculare ge¬
brochen war, in den schwereren Fällen auch das Triquetrum, wurden von Ver¬
letzungen der distalen Knochenreihe der Handwurzel nur Abbrüche am Kopf des
Capitatum beobachtet. Die Knochenverletzung ist von teilweise sehr ausgedehnten
Band Zerreißungen begleitet . Als Behandlung empfiehlt W o 1 f f bei offenen Frak¬
turen die primäre Handgelenksresektion, bei subkutanen Frakturen ist eine feste
Verheilung der losen Stücke zu erstreben und frühzeitig mit der Mobilisierung
der Finger zu beginnen. Bei andauernden Schmerzen kommt die operative
Entfernung der losen Stücke in Frage. Fränkel-Berlin.
Liniger, Ein interessanter Fall von hysterischer Kontraktur des rechten Beines
nach Unfall mit Heilung durch Autosuggestion. Monatsschr. f. Unfallheil¬
kunde und Invalidenwesen 1905, XII. Jahrg., Nr. 2.
Bei einem 16jährigen, nervenschwachen Arbeiter war nach einem Unfall,
der nur unbedeutende Quetschungen verursacht hatte, eine starke Klumpfu߬
stellung des rechten Fußes entstanden, die auf eine durch den Unfall bedingte
Hysterie zurückgeführt werden mußte. Durch einen autosuggestiven Vorgang
verschwand das Leiden vollkommen. Frankel-Berlin.
Lissauer, Sekundäre Verbiegung des Unterschenkels nach Fraktur. Monats¬
schrift f. Unfallheilkunde und Invaliden wesen 1905, XII. Jahrg., Nr. 3.
2’i* Jahre nach einem Unterschenkelbruch, der fest verheilt war, trat
unter Schmerzhaftigkeit und zeitweiliger Verdickung an der Bruchstelle eine
Ausbiegung des Unterschenkels nach hinten auf. Lissauer führt den Prozeß
auf eine rarefizierende Ostitis (Kümmellsche Krankheit) zurück.
Fränkel-Berlin.
Bettmann, Ueber eine Absplitterung aus der Corticalis des rechten Fersen¬
beins. Monatsschr. f. Unfallheilkunde und Invalidenwesen 1905, XII. Jahrg.,
Nr. 3.
Erst nach wiederholten Röntgenaufnahmen konnten bei einem Unfallver¬
letzten, der mit dem rechten Fuß nach außen umgeknickt war, die Schmerzen
erklärt werden. Es handelte sich hier um eine Absprengung eines länglichen
Knochensplitters aus der Kontinuität der Unterfläche des Fersenbeins direkt
vor dem Tuber calcis, also nicht um die von Ehret beschriebene Absprengung
des Tuber selbst. Diese Bruchform stellt einen reinen Kompressionsbruch dar.
Durch operative Entfernung des Splitters wurde der Verletzte von seinen
Beschwerden sofort befreit. Fränkel-Berlin.
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XIV.
'Aus der Königl. Universitäts-Poliklinik für orthopädische Chirurgie
in Berlin.)
Die infantile cerebrale Hemiplegie.
Von
Dr. James Fränkel, Assistenzarzt.
Das meist „cerebrale Kinderlähmung“, richtiger „cerebrale
Hemiplegie* oder nach Benedict und Marie „infantile spastische
Hemiplegie* genannte Krankheitsbild hat von jeher Neurologen und
Kinderärzte in hohem Maße interessiert. So eigenartig und scharf
charakterisiert der Symptomenkomplex dieser Affektion erscheint, so
mannigfaltig sind doch ihre Beziehungen zu anderen wichtigen Kapiteln
der Neuropathologie, die, wie die cerebralen Diplegien, die spinale
Kinderlähmung, die Apoplexie der Erwachsenen, den Vergleich nahe¬
legen. Unsere Kenntnisse über diese Krankheit sind noch in mancher
Hinsicht recht lückenhaft, namentlich bezüglich der Aetiologie,
und deshalb steht hier noch ein fruchtbares Feld der wissenschaft¬
lichen Forschung offen.
Heute interessiert die cerebrale Hemiplegie den Orthopäden
nicht minder als den Neurologen, insofern sie ihm Gelegenheit ge¬
geben hat, die operative Tätigkeit auch auf die spastischen Läh¬
mungen auszudehnen und speziell auf die hier so häufig befallene
obere Extremität. Jedoch noch größer als das theoretische Interesse
ist der praktische Erfolg. Wenn auch die Schwierigkeiten nicht ver¬
kannt werden dürfen und vor der Ueberschätzung unserer Mittel
warnen, so haben uns doch die Erfahrungen der letzten Jahre entschieden
weiter gebracht. Die schweren Verunstaltungen der Hand im Gefolge der
cerebralen Hemiplegie, für die es früher eine wirksame Behandlung
Oberhaupt nicht gab, sind jetzt einer zielbewußten operativen Therapie
zugänglich, und es läßt sich soviel gewiß sagen, daß Besserungen
in kosmetischer wie in funktioneller Hinsicht stets, oft
aber geradezu ideale Resultate erzielt werden können. Auf den Wunsch
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XV. Bd. 14
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208
James Frankel.
meines verehrten Chefs, Herrn Geheimrat Hoffa, dem ich für diese
Anregung äußerst dankbar bin, habe ich das Material der Universitäts¬
poliklinik und der Klinik, das sich auf 60 Beobachtungen erstreckt,
bearbeitet.
Wenn auch den Orthopäden vorzugsweise ein therapeutisches
Interesse leitet, so verpflichtet ihn doch die Beobachtung einer so
großen Zahl von Fällen, dem gesamten Krankheitsbilde Aufmerksam¬
keit zuzuwenden und an der Lösung der noch strittigen Fragen
nach Möglichkeit mitzuarbeiten.
Auf Grund einer hauptsächlich ätiologisch-klinischen
Betrachtungsweise, die meines Erachtens am besten zum Ver¬
ständnis der Krankheit führt, bin ich nun zu dem Schlüsse gelangt,
daß die infantile cerebrale Hemiplegie einen Symptomen-
komplex darstellt, dem eine vaskuläre Entstehung zu
Grunde liegt. Soll man die Krankheit klassifizieren, so ist sie
nach dem heutigen Stande unseres Wissens zweckmäßig der Little-
schen Krankheit (den cerebralen Diplegien) an die Seite zu stellen,
weswegen auch beide Affektionen meist als infantile Cerebralläh¬
mungen zusammengefaßt werden.
Ich lasse zunächst die Krankengeschichten folgen, von denen
ich insgesamt 53 zusammengestellt habe.
1. Emilie W., jetzt 11 Jahre alt. Vom Vater wird Lues zu¬
gegeben. Die Geburt hat lange gedauert, doch wurde keine ärztliche
Hilfe geleistet. Die ersten Zeichen der Erkrankung wurden bald nach
der Geburt bemerkt, dadurch daß das Kind immer mit dem Körper
nach der rechten Seite überfiel. Zu sprechen begann sie erst mit
3—4 Jahren. Die ersten Gehversuche fallen auch in diese Zeit.
Die Intelligenz entwickelte sich sehr langsam. Das Kind ist das
fünfte. Von sechs Geschwistern leiden zwei an Hühnerbrust. Während
die Lähmung schon bestand, hat das Kind zweimal Keuchhusten
und einmal Masern durchgemacht. Vor unserer Behandlung mit
Massage, Gymnastik, Bädern behandelt, aber ohne Erfolg.
Mai 1900. Aussehen und Ernährungszustand gut. Intelligenz
geschwächt. Leichte Sprachstörung, Körper beim Gehen etwas nach
vorn geneigt. Rechter Fuß in Equino-varusstellung. Aktiv kann
die fehlerhafte Stellung nicht ausgeglichen werden. Bei passiver
Redression spannt sich der Tibialis posticus an. Adduktoren rechts
spastisch kontrakturiert. Rechter Arm im Ellenbogen gebeugt ge-
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Die infantile cerebrale Hemiplegie.
209
halten, kann volarflektiert und proniert werden. Supination nur bei
gebeugtem Ellenbogen ausführbar (Wirkung des Biceps brachii).
Therapie. Spaltung der Achillessehne. Vernähung des äußeren
Zipfels mit der Sehne des Musculus peroneus longus. Reaktionslose
Heilung. Massage, Gymnastik, Gehübungen. Nach 2 Monaten
vollkommene Funktionsfahigkeit des Fußes. Auch die Haltung der
rechten Hand hat sich durch orthopädische Behandlung gebessert.
Ende 1904 teilt uns der Vater mit, daß die Gebrauchsfähig-
keit des rechten Armes und der Hand fast normal sei. Der Gang
sei kaum von einem normalen zu unterscheiden, Patientin trägt
Schuh mit Einlage, kann 1 Stunde ohne Ermüdung laufen.
2. Bernhard St., 2 Jahre alt. Mutter und Vater syphili¬
tisch. Ein Siebenmonatskind vorher tot geboren. Patient hatte
Pemphigus syphiliticus, Speichelfluß, wurde mit grauer
Salbe behandelt. Mit 1 */ 4 Jahren trat die halbseitige Lähmung
über Nacht auf. Die Sprache war verschwunden, die ganze linke
Seite gelähmt, inklusive Gesicht. Keine Krämpfe.
Mai 1905. Leichte Parese der linken Extremitäten. Linker
Arm im Ellenbogen gebeugt. Finger der Hand zur Faust geballt.
Im Schlaf sollen die Finger sich schön strecken. Linkes Bein
schleift bei Gehversuchen nach, ganze linke Gesichtshälfte schwächer
entwickelt. Patellarreflexe leicht auszulösen.
Wird mit Massage und Bädern behandelt. Bereits guter Erfolg.
3. Paul B., 9 Jahre alt. Beide Eltern syphilitisch. Mutter
hat zweimal abortiert. Es war der erste Partus. Frühgeburt.
Gleich nach der Geburt Augenentzündung, 4 Wochen später Aus¬
schlag. Im dritten Jahre plötzlich ohne Vorboten und ohne Fieber
Schlaganfall; Lähmung der ganzen rechten Seite, auch der Sprache.
Keine Krämpfe. Die Lähmung der Hand und der Gang besserten
sich nach Behandlung mit Einreibungen und Bädern.
1901. Gang leicht hinkend, rechter Fuß in leichter Spitzfu߬
stellung, Muskulatur am ganzen rechten Bein schwächer als links.
Rechter Arm und rechte Hand sehr ungeschickt. Kein Ausfall einer
Einzelbewegung. Rechtes Facialisgebiet geschwächt. Intelligenz
herabgesetzt. Kind lernt schwer in der Schule. Sprache schwer¬
fällig. Rechter Patellarreflex stärker.
Therapie. Fortgesetzte, sorgfältige Behandlung mit Bädern,
Massage und gymnastischen Uebungen.
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James Fränkel.
1905. Der Zustand ist wesentlich gebessert. Die Unterschiede
beider Körperhälften fast verschwunden. Der Gang ist gleichmäßiger
geworden, der rechte Arm hat sich gekräftigt.
4. Lieschen M., 9 Jahre alt. Frühgeburt (4 Wochen zu früh).
Auch eine l 1 /« Jahre alte Schwester 4 Wochen zu früh geboren.
Mit 1 ii Jahr Ausschlag am ganzen Körper. Lues von den
Eltern zugegeben. Patientin wurde lange mit Sublimatbädern und
Jodkali innerlich behandelt, wonach die Erscheinungen zurück¬
gegangen sind. Im Alter von 10 Monaten wurde plötzlich auf¬
fallende Müdigkeit und Apathie an dem Kinde bemerkt, dann
stellten sich unaufhörliches Brechen und linksseitige Gehirnkrämpfe
ein, die 8 Tage dauerten. Eine anfänglich über die ganze linke
Seite ausgebreitete Lähmung ging bis auf die jetzt bestehen¬
den Residuen zurück. Bisherige Behandlung bestand in Heilgym¬
nastik, Bädern in Staßfurter Salz und Massage. Das Kind hat keine
akute Infektionskrankheit durchgemacht.
Sommer 1904. Als typische Zeichen für hereditäre Lues
finden sich an den Mundwinkeln radiär gestellte Narben. Körperlich
gut entwickeltes Kind. An dem linken unteren Augenlid bemerkt
man zeitweise Zuckungen. Sehfähigkeit am besten bei schräger,
nach links gewandter Kopfhaltung. Linksseitige Facialisparese,
nicht sehr auffällig. Das Spitzen des Mundes ist unmöglich. Links¬
seitige Rumpfmuskulatur paretisch. Wirbelsäule im Brustteil
nach links, im Lumbalteil nach rechts gekrümmt. Linker Arm
5 cm kürzer als der rechte. Supination der Hand unvollständig.
Daumen eingeschlagen. Spreitzen der Finger erschwert. Der Arm
hängt meist im Ellenbogen leicht gebeugt herab. Ueberall jetzt
Charakter der schlaffen Parese. Trophische Störungen in dem pa-
retischen Gebiet. Intelligenz geschwächt. Sprache anstoßend.
Therapie. Mehrmonatliche, 2mal tägliche Rückenmassage,
Gymnastik und orthopädischer Turnunterricht. Massage und Be¬
wegungsübungen des linken Armes und der Hand. Guter Erfolg.
Auch die Skoliose ist jetzt fast verschwunden.
5. Hedwig P., 8*2 Jahre alt. Zweite Geburt. Vorher
zwei Fehlgeburten. Bis zum fünften Jahr ist das Kind gesund
gewesen. Im fünften Jahr Masern, 4 Monate später fiel auf, daß
Patientin das rechte Bein nachschleifte und etwas später, daß sie
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Die infantile cerebrale Hemiplegie.
211
den rechten Arm hängen ließ und mit der rechten Hand nicht essen
wollte. Lähmung der rechten Gesichtshälfte. Das Kind klagte
öfter über Kopfschmerzen. Früher bestanden Schluckstörungen,
die jetzt verschwunden sind. Keine Krämpfe.
Oktober 1904. Rechtes Facialisgebiet paretisch. Kon¬
jugierte Blicklähmung nach links. Rechtsseitiger Lagoph-
thalmus. Nystagmus horizontalis in Endstellung. Zunge und
Gaumensegel normal. Rechter Arm in typischer Haltung. Kein
Ausfall einer Einzelbewegung. Gang spastisch. Leichter Spitzfuß
rechts. Starker Fußclonus. Erhöhte Reflexe. — Nach orthopädi¬
scher Behandlung guter Erfolg.
6. Charlotte P., 5 Jahre alt. Siebenmonatskind. Kopf¬
geburt, sehr schwer, angeblich weil Preßwehen ausblieben. Zuerst
zwei Fehlgeburten. Ein älterer Bruder war Achtmonatskind
(Sturzgeburt). Die Mutter behauptet, schwache Mutterbänder zu
haben und muß immer eine Leibbinde tragen, ist sehr bleichsüchtig
gewesen. Lues wird in Abrede gestellt. In den ersten zwei Jahren
war das Kind geistig zurück, später entwickelte sich die Intelligenz
normal. Die Bewegungsstörungen wurden bemerkt, als das Kind
zu laufen anfing, mit 2 1 /« Jahren. Im Mai dieses Jahres Diph-
theritis. Danach hat sich die Lähmung der linken Seite
sehr verschlimmert.
Dezember 1905. Körperlich gut entwickeltes Kind, geistig
rege. Sprache gut. Keine Schluckstörungen. Schädel abnorm groß.
Strabismus convergens des linken Auges. Im Gesicht leichte
Differenz zu Ungunsten der linken Seite. Wenn Patientin
die Zunge zeigt, steht die rechte Nasolabialfalte tiefer. Die Zunge
weicht ein wenig nach links ab. Zähne defekt, Zeichen von Rhachitis.
Ein Schneidezahn verdächtig auf Hutchinson. Leichter Spasmus
der linken Rückenmuskulatur. Geringe Lordose und linkskonvexe
statische Skoliose der Lendenwirbelsäule. Linker Arm im ganzen
schwächer. Tricepssehnenreflex kaum different, Radiusperiost¬
reflex links entschieden stärker als rechts. Neigung zu Mit¬
bewegungen der linken Hand. Bauchdeckenreflex beiderseits
gleich. Im linken Knie leichte Spasmen bei brüsken Bewegungen.
Patellarreflex links eher stärker als rechts. Gang spastisch. Linker
Fuß in Equinusstellung, schleift beim Gehen auf dem Boden. Ba-
binski positiv, Oppenheim positiv.
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James Fränkel.
Therapie. Tenotomie der linken Achillessehne nach der Bayer¬
sehen subkutanen Methode. Patientin ist noch in Behandlung.
7. Erna S., 9 Jahre alt. Erstes Kind. Kurz vor der Ge¬
burt dieses Kindes erinnert sich die Mutter ein schweres
Bündel Holz getragen zu haben. Darauf führt sie die Krank¬
heit zurück. Geburt 4 Wochen zu früh und sehr schnell.
Das Wasser war früh abgegangen. Das Kind kam cvanotisch
zur Welt. Die Schwäche im rechten Arm und Fuß wurde sofort
bemerkt, als das Kind Bewegungen machen sollte. Krämpfe sind
nicht aufgetreten. Mehrere Jahre fortgesetztes Elektrisieren ohne
sichtbaren Erfolg. Drei Geschwister gesund.
März 1903. Rechte Kieferwinkelgegend hypertrophisch (Pseudo¬
hypertrophie). Rechter Mundwinkel eine Spur tiefer als
links. Rechte Schulter etwas geneigt. Rechter Arm bleibt beim
Heben zurück. Rechts starke Rigidität der Ellenbogenmuskeln.
Starker Pronationsspasmus. Supination ganz ausgeschlossen. Hand
zur Faust geballt, kann nicht geöffnet werden. Die im Handgelenk
plantargebeugte Hand kann nicht aktiv dorsalflektiert werden. Rechter
Arm livide verfärbt, fühlt sich kalt an und ist um 3 cm kürzer
als der linke. Muskulatur entsprechend schwächer. Beim Faust¬
schluß der linken Hand ist eine Mitbewegung an der rechten
vorhanden. Radiusperiostreflex rechts entschieden gesteigert,
Patellarreflexe beiderseits erhöht, rechts mehr als 1 inks.
Rechts Spitzfußstellung. Gang schleifend. Große Zehe in B a b i n s k i-
stellung. Links dagegen normaler Fußsohlenreflex. Strümpellsches
Tibialisphänomen rechts positiv. Intelligenz rege. Keine Sprach¬
störung.
März 1903. Tenotomie der rechten Achillessehne, Gipsverband,
später Schienenhülsenapparat.
April 1903. Operation an der Hand. Hof fasche Pronator¬
plastik. Verkürzung der Fingerextensoren. Uebliche Nachbe¬
handlung.
Ende 1905. Die operierte Hand steht in normaler Stellung,
kann aktiv dorsalflektiert werden. Die Supination ist jetzt
in geradezu vollkommener Weise ausführbar. Der Spas¬
mus der Ellenbogenmuskeln hat sich gelegt. Auch die Kälte
des paretischen Armes ist geringer geworden. Muskulatur wesent¬
lich gekräftigt. Die vor der Operation unbrauchbare Hand
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Die infantile cerebrale Hemiplegie.
213
wird zum Greifen und Spielen benutzt. Die Eltern sind über
das schöne Resultat sehr glücklich.
8. Paul J., jetzt 16 Jahre alt. Erstes Kind. Drei jüngere Ge¬
schwister gesund. Einige Tage vor der Geburt ist die
Mutter beim Einsteigen in einen Wagen gestürzt. Früh¬
geburt (Ende des 8. Monats). Es mußte ca. 1 Stunde künstliche
Atmung gemacht werden. Im 7. Monat wurde eine starke Behin¬
derung des rechten Armes und eine Schwäche des rechten Beines
bemerkt. Eine fieberhafte Erkrankung ist nach Angabe des Vaters
sicher nicht vorangegangen. Die Bewegungen des rechten Armes
und des rechten Beines waren stets von Zuckungen begleitet.
Der Mund war nach links verzogen, Bücken und Aufrichten
fast unmöglich. Das Kind hat sich fortwährend verschluckt.
Keine Taubheit. Sprechen lernte es erst im fünften Lebensjahr.
Von Anfang an war die Sprache sehr undeutlich. Im siebenten Lebens¬
jahr lernte es unter großen Schwierigkeiten laufen. Seit dem ersten
Jahr mit Massage, Elektrizität, Sonnenbädern, Salzbädern, Moor¬
bädern behandelt. Ohne wesentlichen Erfolg.
1902. Guter Ernährungszustand. Intelligenz zurückgeblieben.
Geringe Sprachstörung. Rechtsseitige Facialisparese. Rechte Hand
in typischer Haltung, kann nicht aktiv dorsalflektiert und nur bis zur
Hälfte supiniert werden. Rechtsseitiger Spitzfuß. Therapie. 1902.
Subkutane Tenotomie der Achillessehne (nach Bayer). 1903. Ope¬
ration an der Hand. Pronatorplastik. Verkürzung des Extensor
digitor. commun. Sorgfältige Nachbehandlung.
Ende 1905. Der rechte Arm wird zwar noch meist gebeugt
gehalten, die Hand aber hat sich soweit gebessert, daß sie zum
Schreiben benutzt werden kann. Hin und wieder leichte
Krämpfe in dem Arm, aber geringer wie früher. Der Spitzfuß ist
ganz beseitigt.
9. Susanne R., jetzt 10 Jahre alt. Frühgeburt (3 Wochen
vor der normalen Zeit). Geburt sehr schwer. Das Wasser ging
48 Stunden vorher fort. Das Kind war cyanotisch. Zweite Geburt.
Zuerst eine Fehlgeburt im fünften Monat. Zwei Knaben erfreuen sich
guter Gesundheit. Vor 3 Jahren (also 7 Jahre nach der Geburt des
Kindes) ist die Mutter an einem 10 Pfund wiegenden Eier¬
stockkystom operiert worden. Bei dem scheinbaren Beginn
der Krankheit war das Kind 6 Monate alt. Ohne daß eine fieber-
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James Frankel.
hafte Erkrankung vorangegangen war, wurde es plötzlich bleich, bekam
Zuckungen und verdrehte die Augen. Dabei fiel der Kopf häufig auf
die rechte Schulter, und die rechte Körperhälfte war unvollkommen
gelähmt. Die Mutter erinnert sich, daß bei dem Kinde auch das
Gehör rechts weniger gut war und daß das rechte Auge
ein wenig schielte. Die Sprache war undeutlich. Das
Kind war immer müde und schlief viel. Im Laufe der Zeit
ist eine Besserung eingetreten, namentlich wurde das Hinken des
rechten Beines durch mehrmaligen Aufenthalt in Bex-sur-mer und
durch alljährlichen, dreimonatlichen Gebirgsaufenthalt gebessert.
Daneben Jod innerlich, ferner Elektrizität und Massage. Die Krämpfe
haben sich nicht wiederholt. Die ersten Zähne bekam Patientin mit
10 Monaten, zu sprechen begann sie mit 20 Monaten, mit l 1 /* Jahren
lernte sie laufen, fiel dabei aber immer auf die rechte Seite. Vor
dem siebenten Monat entwickelte sich die Intelligenz gut. Das
Gesicht soll nicht ungleich gewesen sein. Vater gesund.
Oktober 1904. Patientin geistig weniger regsam, körperlich
gut entwickelt. Sie zieht den rechten Fuß nach. Rechter Fuß in
leichter Spitzfußstellung. Rechtes Bein etwas kürzer und schwächer.
Arm und Hand rechts im Wachstum zurückgeblieben, Muskulatur
ebenfalls geschwächt. Typische Haltung des Armes. Pronations- und
Flexionskontraktur der Hand. Die Benutzung der Hand und des
rechten Armes ist wegen der schlechten Stellung vollkommen
ausgeschlossen. Sprache etwas undeutlich. Keine Krämpfe.
Therapie. Tenotomie der Achillessehne. An der Hand: Pronator
teres auf den Condylus externus verpflanzt. Verkürzung des Extensor
digitorum communis. Verlängerung der Sehne des Extensor carpi
ulnaris. Verpflanzung des Extensor carpi radialis auf die verkürzten
Extensoren. Gipsverband in mäßiger Beugestellung des Vorder¬
armes, bei Supination und Dorsalflexion im Handgelenk. Heilung
per primain. Massage und Gymnastik. Zur Nachbehandlung ein
Hessingapparat mit Handgelenkbügel und künstlichem Streckmuskel
für die Hand.
Schon nach einein halben Jahr deutlich sichtbarer
Erfolg. Patientin kann die Hand benutzen, kann schon ganz schön
greifen und Gegenstände festhalten. Massage und Gymnastik wer¬
den fleißig fortgesetzt, wobei Patientin zusehends Fortschritte macht.
Jetzt, 1 Jahr nach der Operation schreibt die Mutter: Der
Gang ist sehr gut, die Funktion des Beines ausgezeichnet. lieber
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Die infantile cerebrale Hemiplegie.
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die Hand ist sie sehr befriedigt. Bewegungen, die vor der Opera¬
tion unmöglich waren, werden ohne Schwierigkeiten ausgeführt.
Die Kraft des Armes hat wesentlich zugenommen.
10. Bertha W., 4 Jahre alt. Siebenmonatskind, Mutter
leidet an engem Becken. Dritte Geburt. Zwei Kinder sind vor¬
her bei der Geburt gestorben (einmal Zangengeburt, das andere Mal
Wendung bei Fußlage). Unmittelbar nach der Geburt war das Kind
sehr cyano tisch und die Atmung schwach. Mit 7 Monaten starker
Darmkatarrh mit Fieber, gleich danach Masern. Mit einem
Jahre wurde bemerkt, daß der rechte Arm kraftlos war und als
das Kind laufen lernte, daß der rechte Fuß nachgezogen wurde.
April 1904. Schwächliches Kind, zu Erkältungen geneigt. Stra¬
bismus des rechten Auges nach einwärts. Rechter Arm l 1 /* cm
kürzer als der linke. Alle Bewegungen sind ausführbar, aber weniger
ausgiebig und unbeholfen. Tricepsreflex erhöht. Rechtes Bein 2 cm
kürzer als das linke. Fuß in Equinovarusstellung, Gang unsicher und
hinkend. Die Fußspitze schleift auf dem Boden. Behandelt mit
Massage, Gymnastik, Salzbädern. Danach wesentliche Besserung.
11. Richard B., 6 Jahre alt. Drei ältere Geschwister ge¬
sund, ein jüngerer Bruder leidet an englischer Krankheit. Vor dieser
Geburt ein Abort. 0—8 Wochen vor der Geburt fiel die Mutter
von einer Treppe herunter. Die Geburt hat lange gedauert.
Die Nabelschnur war um den Hals geschlungen. Das Kind
kam asphyktisch zur Welt. Keine Infektionskrankheiten. Es wurde
frühzeitig bemerkt, daß der Junge nicht gerade sitzen konnte, beim
Aufstützen konnte er sich nicht des linken Armes bedienen. Erst mit
5 Jahren lernte er mit großer Mühe stehen, laufen konnte er vor
unserer Behandlung überhaupt nicht. Als er 1 a Jahr alt war, sollen
Krämpfe aufgetreten sein. Bisher in der Charite und in der Neu-
mannschen Poliklinik mit Elektrizität und heißen Wasserbädern be¬
handelt, ohne wesentlichen Erfolg.
Mai 1905. Linker Arm im Ellenbogen gebeugt, Hand volar¬
flektiert und proniert. Starker Pronationsspasmus. Die Hand
ist zum Greifen ganz untauglich, weil die zur Faust geballten Finger
nicht gestreckt werden können, und weil die Supination unmöglich ist.
Muskulatur des linken Armes bedeutend schwächer als rechts. Triceps¬
reflex und Radiusperiostreflex links wesentlich gesteigert. Im Gesicht
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James Fränkel.
jetzt keine Differenz zu bemerken. Beim Versuch zu gehen links
starke Spasmen. Das linke Bein ist auswärts rotiert. Im Knie
leichte Beugekontraktur. Linker Fuß in Spitzfußstellung. Musku¬
latur atrophisch. Patellarreflex links gesteigert. Babinski und
Oppenheim links positiv. Schluck- und Sprachstörungen fehlen.
Intelligenz normal.
Therapie. Durchschneidung des Pronator teres. Verkürzung
des Extensor digitor. communis. Verpflanzung des Flexor carpi radialis
auf die Extensoren. Tenotomie der linken Achillessehne. Sorgfältige
Nachbehandlung. Tapotement der Muskeln in der Kniekehle.
Ende 1905. Der überpflanzte Flexor carpi radialis hat in sehr
deutlich sichtbarer Weise die Funktion der Fingerstrecker über¬
nommen. Die Finger können jetzt aktiv gestreckt wer¬
den. Die Hand kann alles fassen und festhalten. Auch
der Pronationsspasmus hat sich gelegt, nur aktive Supination
ist nicht ausführbar. Die Kraft des Armes hat zugenommen. Am
Fuße ist die Spitzfußstellung beseitigt, die Kniespasmen sind fast
verschwunden. Das Gehen ist jetzt ermöglicht. Das Bein befindet
sich noch in leichter Außenrotation, was durch das Tragen eines jetzt
verordneten Apparates noch beseitigt werden soll.
12. Walter St., 15 Jahre alt. Vater stets gesund, starb
durch einen Unfall. Mutter soll an Krämpfen gelitten haben, hatte
eine Fehlgeburt, starb 1899 an Lungenentzündung. Vier Geschwister
ebenfalls tot. Fünfte Geburt, sehr schwer, ebenso wie die
anderen Geburten. Einige Stunden nach der Geburt ist die
Lähmung der rechten Seite bemerkt worden. Von vorn¬
herein sind Krämpfe schwerster Natur aufgetreten. Im
fünften Lebensjahr Diphtheritis.
14. Oktober 1904. Rechte untere Extremität etwas schwächer.
Ungleichheit des Gesichtes zu Ungunsten der rechten Ge¬
sichtshälfte. Rechte Hand in typischer Haltung. Halbseitige
choreatische Zuckungen rechts. Intelligenz leicht gehemmt.
Sprache stotternd.
Therapie. Myotomie des M. pronator teres. Verkürzung des
Extensor digitorum communis und des Extensor carpi radialis longus.
Nach der Operation gute Stellung.
Nach kürzlich eingegangener Mitteilung befindet sich Patient
in der Epileptikeranstalt Wuhlgarten.
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Die infantile cerebrale Hemiplegie.
217
13. Ilse E., 5 Jahre alt. Großmutter mütterlicherseits litt an
Epilepsie. In die Schwangerschaft fielen schreckliche Erlebnisse.
Die Mutter hatte daher viel Aufregung und litt unter seelischer
Depression. Das Kind wurde als zweites geboren, ein älteres und
ein jüngeres normal. Vor dieser Geburt ein Abort, der auf einen
unmittelbar vorangegangenen Schreck zurückgeführt wurde. Stei߬
geburt. Infolge von Nabelschnurumschlingung kam das
Kind asphyktisch zur Welt und atmete erst nach Inständigem
Schwingen. Als das Kind ein halbes Jahr alt war, bemerkte
die Amrae, daß es mit dem rechten Arm nicht gut
greifen konnte. Mit l 1 /* Jahren starke Influenza. Danach
auffallender Unterschied im Laufen und im Gebrauch des
rechten Armes, so daß es den Anschein hatte, als ob die
Infektionskrankheit die Ursache der Lähmung wäre.
An die Beobachtung der Amme erinnert sich die Mutter recht
deutlich, aber erst nachdem ich eine darauf gerichtete Frage ge¬
stellt hatte. Die Intelligenz entwickelte sich langsam. Patient lernte
im 3. Lebensjahr sprechen und erst im 4. Jahre laufen.
1903. Sprache schwerfällig, Gang spastisch und hinkend. Das
rechte Bein wird nachgeschleppt und ist schwächer als das linke.
Rechter Fuß in Spitzfußstellung. Große Zehe nach oben gerichtet.
Rechter Arm im Ellenbogen gebeugt. Die Bewegungen der Hand
sind ungeschickt. Der Daumen kann nur wenig gespreizt werden.
Supination bis zur Hälfte möglich. Dorsalflexion der Hand lang¬
sam ausführbar. Leichte Parese der rechten Gesichtshälfte. Chorea-
tische Bewegungen mit dem Kopfe. Patellarreflex
erhöht.
Therapie. Subcutane Tenotomie der rechten Achillessehne nach
Bayer. Massage und Elektrisierung des rechten Armes, bis jetzt
ununterbrochen fortgesetzt.
Ende 1905 Ernährungszustand gut. Die Sprache hat sich ge¬
bessert. Scharfe Intelligenz. Rechter Fuß steht rechtwinklig. Aktive
Dorsal- und Plantarflexion möglich. Gang besser als früher. Patient
läuft mit Vorliebe schnell durch das Zimmer, ohne wie früher zu
fallen. Auch der Arm hat sich gekräftigt. Die Bewegungen sind
freier geworden.
14. Berthold F., 6 Jahre alt. Das Jüngste unter sieben Kindern.
Ein Abort 10 Jahre vor der Geburt. Geburt, nach normaler Sch wanger-
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James Frankel.
schaft, schwer, schwerer als die vorangegangenen. Mit 11 Monaten,
als der Junge anfing zu laufen, fiel der Mutter auf, daß er mit dem
linken Fuß lahmte. Sonst war der Junge sehr kräftig und gut
entwickelt. Die Mutter gibt ferner an, daß er schon damals
alles rechts gefaßt habe und den linken Arm in
auffallender Weise schonte. Im Alter von 14 Monaten
Scharlach und Diphtheritis mit Nierenentzündung. Danach
konnte er die linke Hand überhaupt nicht mehr gebrau¬
chen, und wenn er hinfiel, fiel er immer auf die linke Seite des
Gesichts. Das Laufen verlernte er ganz wieder, und später lief er
auf der linken großen Zehe. Bisher war die Lähmung immer
auf die Nierenentzündung zurückgeführt worden.
März 1903. Kräftiger Junge, Intelligenz gut entwickelt. Keine
Sprachstörungen. Gang hinkend. Schleift das linke Bein nach.
Linker Fuß in Spitzfußstellung. L. Quadriceps und Wadenmusku¬
latur geschwächt, linker Arm in typischer Haltung. Daumen ein¬
geschlagen. Dorsalflexion und radiale Abduktion im Handgelenk
beschränkt. Supination allein bis zur Hälfte möglich. Ganze
linke Gesichts- und Schädelhälfte kleiner. Mitbewegungen
an der linken Hand bei Bewegungen des linken Fußes und umgekehrt.
Patellarreflex links gesteigert.
Therapie. Bayer sehe subcutane Tenotomie der linken Achilles¬
sehne. Massage und Elektrizität. An der Hand will die Mutter nicht
operieren lassen.
Dezember 1904. Ganz plötzlich treten Gehirnkrämpfe auf,
nur linksseitig, von 9 Stunden Dauer.
Ende 1905. Der Gang hat sich wesentlich gebessert, die Be¬
wegungen der Hand sind durch fortgesetzte orthopädische Behand¬
lung freier geworden.
15. Max F., jetzt 16 Jahre alt. Erster Partus. Später eine
Frühgeburt. Zwei Geschwister sind gesund. Die Geburt war
schwer und dauerte abnorm lange. Das Kind kam asphyk-
tisch zur Welt, bekam gleich nach einigen Stunden Gehirn-
krämpfe und halbseitige Lähmung. Von Anfang an ent¬
wickelte sich die Intelligenz sehr langsam. Die ersten verständ¬
lichen Worte wurden erst nach 3 1 !» Jahren gesprochen. Ob eine
interkurrente Masernerkrankung den Zustand verschlimmert hat, ist
nicht sicher.
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Die infantile cerebrale Hemiplegie.
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1901. Gesundes, frisches Aussehen, geistige Fähigkeiten ver¬
ringert. Schluckstörung. Sprache undeutlich. Reste einer
rechtsseitigen Facialislähmung. Rechter Arm schwächer als
der linke; die linke Hand wird auch zum Schreiben benutzt.
Rechtes Bein kürzer, Beugemuskeln in der Kniekehle stark kontrak-
turiert. Rechter Fuß in Equinusstellung. Halbseitige Krämpfe
in der ganzen rechten Körperhälfte. Bisher Behandlung mit
Elektrizität, Bädern, Massage, ohne wesentlichen Erfolg.
Therapie. Offene Durchschneidung der Beugesehnen in der
Kniekehle. Tenotomie der Achillessehne subcutan nach Bayer.
Herbst 1904. Die Krämpfe bestehen noch fort und treten etwa
alle 8 Wochen auf. Der Gang hat sich gebessert.
16. Elisabeth Sch., 4 Jahre alt. Sechstes Kind. Sehr
schwere Geburt. Die Nabelschnur war dreimal um den
Hals geschlungen. Lange anhaltende Asphyxie. Mit 2 Jahren
begann Patientin zu kränkeln, angeblich nachdem sie ein paar Stern¬
chen verschluckt hatte. Das Leiden wurde erst als Lungenkatarrh
gedeutet, später wurde Nierenentzündung und Kopfwassersucht
festgestellt. Anfangs August trat plötzlich halbseitige Läh¬
mung auf. Von 16 anderen Kindern, von denen 8 gestorben
sind, aber keines ein ähnliches Leiden hatte, soll bei den meisten
Nabelschnurumschlingung bestanden haben.
Mai 1905. Rechter Arm im Ellenbogen gebeugt. Hand in
typischer Stellung. Rechtes Facialisgebie t geschwächt.
Linkskonvexe Dorsalskoliose. Rechtes Bein schwächer,
wird ein wenig nachgeschleppt. Rechter Patellarreflex erhöht.
Noch nicht behandelt.
17. Curt J., 5 Jahre alt. Erstgeborenes Kind. Schwanger¬
schaft normal. Zangengeburt. «Der Arzt half von 3—5 Uhr
mit der Zange.“ Gleich nach der Geburt wurde die nach innen
gedrehte Haltung der linken Hand bemerkt. Die Zange hatte auf
der Stirn nahe der linken Schläfe eine blutige Druckstelle verur¬
sacht, die erst nach einigen Tagen heilte. Eine fieberhafte Krank¬
heit hat nie bestanden. Sprache und Intelligenz entwickelten sich
normal. Die Lähmung blieb unverändert. Keine Krämpfe. Ein
jüngeres Kind normal. Eltern gesund. Die bisherige Behandlung
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James Fränkel.
bestand in Bewegungsmassage und elektrischer Massage. Als Patient
1 Jahr alt war, lag er 14 Tage in Gips, doch ohne Erfolg.
Mai 1905. Linker Arm stärker befallen als das linke Bein.
Beide sowohl im Wachstum als in der Stärke etwas zurückgeblieben.
Pronationsspasraus. Parese der Fingerextensoren. Die Hand kann
weder zufassen noch Gegenstände, die man ihr gibt, festlialten.
Mit dem linken Fuß tritt der Knabe nur auf der Spitze auf. Gang
hinkend. Aussehen und Ernährungszustand gut. Intelligenz rege.
Therapie. An der Hand Verkürzung des Extensor digitor.
communis. Durchschneidung des Pronator teres. Tenotomie der
Achillessehne. Sechswöchentliche Nachbehandlung mit Massage und
Uebungen (namentlich Greifübungen der Hand).
Ende 1905 schreibt uns der Vater, daß die Haltung der Hand
normal ist und die Funktion sich wesentlich gebessert hat. Das Hinken
ist kaum merklich.
18. Hans M., jetzt 7 1 /* Jahre alt. Erstes Kind. Eine jüngere
Schwester gesund, Schwangerschaft ganz normal. Zangengeburt
und kurzdauernde Asphyxie. Nach vier Monaten wurden die
ersten Zeichen der Krankheit in Form von Schwäche des rechten
Armes und Beines bemerkt. Eine fieberhafte Erkrankung ist nicht
vorangegangen. Am 2. Tage nach der Geburt sind Krämpfe auf¬
getreten, 6—8mal innerhalb 24 Stunden, später aber nicht mehr.
Die Lähmung hat sich in der Folgezeit spontan etwas gebessert.
Ostern 1903. Der 0 Jahre alte Knabe ist von blühendem
Aussehen, mittlerer Größe und großem Fettreichtum. Sprache
etwas verlangsamt, Artikulation aber gut. Leichter Strabis¬
mus convergens des rechten Auges. Geringe Differenz zu Un¬
gunsten der rechten Gesichtsseite, namentlich beim Oeffnen
des Mundes. Keine Schluckstörungen. Schwäche des rechten Armes,
typische Haltung. Beschränkt sind hauptsächlich Supination und
Extension. Gang rechts schleppend. Leichte Spitzfußstellung.
Therapie. Ostern 1903. Tenotomie der rechten Achillessehne.
Oktober 1903. Hoffasche Pronatorplastik. Verkürzung des Extensor
digitorum communis. Verpflanzung des Extensor carpi radialis auf
die verkürzten Extensoren. Gips verband in mäßiger Strecksteilung
des Vorderarms bei Supination und Dorsalflexion im Handgelenk.
Heilung per primam. Nachbehandlung mit Massage und Gymnastik
durch den Vater, der selbst Arzt ist.
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Die infantile cerebrale Hemiplegie.
221
Ende 1904. Der Spitzfuß ist verschwunden, Supination und
Extension der Hand wesentlich gebessert. Der Vater ist mit dem
Resultat sehr zufrieden.
19. Wilhelm M., jetzt 11 Jahre alt. Erstgeborenes Kind.
Eine jüngere Schwester gesund. Hereditär nihil. Die Schwanger¬
schaft verlief normal. Die Geburt war schwer und hat lange
gedauert. Es mußte die Zange gebraucht werden und es soll
dabei ungeschickt verfahren worden sein. Die ersten Zeichen
der Krankheit wurden bald nach der Geburt bemerkt. Beim
Baden sah man, daß das Kind den rechten Arm und das rechte
Bein weniger bewegte als die linken Gliedmaßen. Die Lähmung
hat sich langsam etwas gebessert, besonders am Fuß; der Arm blieb
immer schwerer befallen. Es bestanden früher Schluck- und Sprach¬
störungen. Im ersten Jahr war das Kind monatelang magenkrank,
es konnte keine Milch vertragen. Von Infektionskrankheiten später
Variola. Die Intelligenz entwickelte sich langsam. Vom 1. Jahr
an wurde Patient täglich gründlich massiert und elektrisiert und
bekam Solbäder, mit der Hand wurden Uebungen gemacht. Danach
entschiedene Fortschritte. Eine Tenotoraie hatte wenig Erfolg.
Ostern 1904. Körperlich gut entwickeltes Kind von frischer
Gesichtsfarbe, geistig für sein Alter zurückgeblieben, kam aus Ge¬
sundheitsrücksichten erst spät in die Schule und war durch die Be¬
handlung sehr in Anspruch genommen. Gedächtnis recht gut. Ge-
sichtsasvrametrie. Arm und Hand in typischer Haltung, im Längen¬
wachstum um einige Zentimeter zurückgeblieben. Ueblicher Bewegungs¬
ausfall. Sehr starke Spasmen. Gang schleppend. Starker Spitzfuß.
Therapie. Hoffasche Pronatorplastik. Verkürzung des Ex¬
tensor digitorum communis. Verpflanzung des Extensor carpi radialis
longus auf die verkürzten Extensoren. Verlängerung des Extensor carpi
ulnaris. Gipsverband in mäßiger Streckstellung des Vorderarmes bei
Supination und Dorsalflexion im Handgelenk. Tenotomie der Achilles¬
sehne. Entsprechende Nachbehandlung.
Ende 1905. Das Resultat ist an der Hand wegen der starken
Spasmen und wegen der geringen Energie des Patienten kein so gutes.
Die Hand hängt noch nach der ulnaren Seite über und ist ziemlich
kraftlos. Die Armmuskulatur hat sich sehr gekräftigt. Der Gang
ist nur noch wenig hinkend.
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222
James Frankel.
20. Max S., jetzt 4 3 /4 Jahre alt. Erstgeborenes Kind.
Hereditär nichts von Belang. Geburt nach normaler Schwangerschaft.
Da die Wehen keinen Erfolg hatten, mußte die Zange angelegt
werden. Zangenextraktion äußerst schwierig, angeblich
wurde mit großer Gewalt gezogen. Leichte Asphyxie. Dem
Vater ist bereits in den ersten Wochen aufgefallen, daß das Kind
vorzugsweise die linke Hand benutzte. Mit dem weiteren Wachstum,
im 2. und 3. Jahre, wurde das Zurückbleiben der rechten Hand nicht
nur in der Gebrauchsfähigkeit, sondern auch in Größe und Stärke
sehr auffällig. Die Schwäche des Fußes zeigte sich, als das Kind
laufen lernte, mit dem Beginn des 2. Jahres.
Die Intelligenz hat sich normal entwickelt. Der Aussprache
fehlte die nötige Schärfe. Gegen Ende des zweiten Jahres erkrankte
das Kind an roter Ruhr mit Krämpfen, Erbrechen und hohem Fieber.
Die Krämpfe haben sich seitdem in Zwischenräumen von etwa Halb¬
jahresfrist bis zum Juli 1903 wiederholt. Seitdem sind sie ver¬
schwunden. Keine Schluckstörungen. Zahnentwicklung normal. Bis¬
herige Behandlung mit Elektrizität erfolglos.
Befund Mai 1905. Ernährungszustand gut. Gesichtsfarbe etwas
bleich. Rechte Extremitäten schwächer. Patient tritt rechts nur mit
der Fußspitze auf. Der rechte Fuß steht fixiert in Spitzfußstellung
und leichter Varusstellung. Rechter Arm und Hand unbeholfen,
üblicher Funktionsausfall.
Therapie. Myotomie des Pronator teres und Tenotomie des
Biceps brachii in der Armbeuge. Verlängerung der Achillessehne.
Verkürzung der Extensoren des Fußes, Fascienplastik am Fußrücken
(Wollenberg). Bei der Entlassung ist aktive Supination der Hand
gut möglich, Fuß in normaler Stellung. Kontur des Fußrückens
normal. Narbencallus sehr gering.
Ende 1905. Der Vater teilt uns mit, daß das Resultat sehr
gut sei. Der Fuß ist fast normal, auch der Arm ist in der Stellung
und funktionell sehr gebessert.
21. Karl N., 5 Jahre alt. Vor dieser Geburt hat die Mutter
abortiert. Erstes und einziges Kind. Mutter litt an Fluor albus.
Vater gesund. Zangengeburt. Gleich nach der Geburt Conjunc¬
tivitis blenorrhoica. Mit 4 Monaten Masern. Danach trat eine
rechtsseitige Lähmung auf. Mit 2 Jahren wurde von Professor
Oppenheim ein Wasserkopf festgestellt.
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Die infantile cerebrale Hemiplegie.
223
1902. Rechter Vorderarm wird meist gebeugt gehalten. Ueb-
liche Handstellung und entsprechender Funktionsausfall. Der Daumen
kann schlecht abduziert werden. Das rechte Bein wird im Bogen
nach außen geschleift, rechter Fuß und rechte Hand fühlen sich kalt
an. Parese der rechten Gesichtshälfte angedeutet. Orthopädische
Behandlung. Besserung.
22. Anna B., 3 Jahre alt. Eltern gesund, Zangengeburt
(die Mutter war 31 Jahre alt). Erster und einziger Partus. Im
0. Monat Keuchhusten mit Fieber. Im 7. Monat wurde bemerkt,
daß Patientin mit der rechten Hand nicht zufassen konnte, und daß
auch das rechte Bein schwächer war. Keine Krämpfe. Elektrisieren
half wenig.
Juli 1903. Typische Haltung des rechten Armes. Supination
und Dorsalflexion ausgeschlossen. Rechts leichter Spitzklumpfuß.
Therapie. Hof fasche Pronatorplastik. Verkürzung der Extensoren.
Sorgfältige Nachbehandlung.
Ende 1905. Rechte Hand steht im Handgelenk gestreckt, ein
wenig ulnarwärts abduziert. Die Volar- und Dorsalflexion der Hand
wird angedeutet. Der Arm ist nach der Operation freier geworden,
wird nicht mehr wie vorher fest an den Rumpf gepreßt. Die Hand
wird viel besser benutzt als früher.
23. Bruno F., 4 3 /-i Jahre alt. Vater gesund. Mutter ist wäh¬
rend einer Tubarschwangerschaft gestorben. Zwei ältere Ge¬
schwister gesund. Schwangerschaft normal. Geburt wegen Wehen¬
schwäche protrahiert. Zangenanlegung. Das Leiden wird von
dem Vater auf eine Erkältung zurückgeführt, die im 7. Monat acqui-
riert wurde und Nierenentzündung mit hohem Fieber im Gefolge
hatte. Es bildeten sich dabei an mehreren Stellen des Kopfes und
auf der Brust Abszesse, die gespalten wurden. Seit dieser Zeit zog
Patient den linken Arm gekrümmt an die Brust, und das linke Knie
hielt er zur Brust hinaufgezogen. Mit 2 1 /* Jahren, als er anfing zu
laufen, bemerkte der Vater, daß Patient das linke Bein nachzog
und auf der linken Fußspitze lief. Die linke Hand wurde nicht zum
Spielen und Greifen benutzt.
1904. Gut genährter Knabe. Linksseitiger Pes equinus. Linker
Arm hängt schlaff herab, ist l l j 2 cm kürzer als der rechte. Alle
Bewegungen der Hand möglich, aber ungeschickt. Leichte chorea¬
tische Unruhe im ganzen Körper. Der Vater nennt ihn einen
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XV. Bd. 15
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James Fränkel.
„unruhigen Menschen“. Linker Facialis paretisch, Sprache gut
entwickelt. Intelligenz rege.
1905. Die Kraft des linken Armes und der Hand hat sich
nach Massage und Uebungen gebessert. Der linke Fuß, an dem
später die Achillotomie gemacht worden ist, steht in guter Stellung.
Aktive Dorsalflexion nur wenig eingeschränkt. Gang normal.
24. Gertrud K., 13 Jahre alt. Zweites Kind. Im 3. Monat
der Schwangerschaft hat sich die Mutter verbrüht und dabei sehr
erschreckt. Geburt normal. Die Erkrankung wurde gleich in
den ersten Wochen nach der Geburt bemerkt. Als Patientin anfing
zu greifen, bediente sie sich nur der linken Hand, und als sie laufen
lernte, zog sie das rechte Bein immer nach und fiel fortwährend
hin. Im 2. Jahr wurde sie bei Professor Mendel elektrisiert. In
der orthopädischen Universitätspoliklinik wurde die rechte Achilles¬
sehne 2mal tenotomiert. Krämpfe sind nie aufgetreten.
1904. Gang fast normal, rechter Unterschenkel dünner als der
linke. Rechter Fuß noch in leichter Equinovarusstellung. Geringer
Hohlfuß. Die große Zehe steht rechtwinklig nach oben. Rechter
Arm 2 j /2 cm kürzer als der linke. Die Bewegungen der Hand sind
nicht ganz frei. Das Kind ist sehr aufgeregt und empfindlich, in
der Schule sehr begabt.
25. Marie A., jetzt 13 ^ Jahre alt. Ein Jahr vor der Geburt
dieses Kindes hat die Mutter abortiert. Der Vater war damals schon
sehr leidend und ist, als das Kind iJ -4 Jahre alt war, an Tuber¬
kulose gestorben. Es war die 3. Geburt, wie die Schwangerschaft
von normalem Verlauf. Die Intelligenz entwickelte sich gut. Die
ersten Zeichen der Krankheit wurden bereits nach dem ersten
Vierteljahr bemerkt, indem das Kind sich immer auf die rechte
Seite legte, die die gelähmte war. Krämpfe sind nie wahrgenommen
worden. Eine Infektionskrankheit ist der Lähmung sicher nicht vor¬
angegangen. Später hat das Kind einmal Scharlach gehabt. Im
Laufe der Zeit hat sich die Lähmung etwas gebessert. Jahrelange
Behandlung mit Elektrizität und Solbädern.
Oktober 1903. Rechtsseitige Hemiparese. Keine Gesichts¬
asymmetrie. Geistige Fähigkeiten normal. Rechter Arm in typi¬
scher Stellung. Ueblicher Funktionsausfall. Das rechte Bein wird
etwas nachgezogen. Wanderniere.
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Die infantile cerebrale Hemiplegie.
225
Therapie. Pronatorplastik (Hoffa). Verkürzung des Extensor
digitorum communis. Nachbehandlung mit Uebungen an Apparaten
und Massage.
Ende 1904. Der Zustand hat. sich seit der Operation wesent¬
lich gebessert. Mit dem Händchen fängt Patientin schon an zu
schreiben. Der Gang ist ganz normal.
26. I. D., 8 Jahre alt. Eltern leben. Vater lungenkrank.
Keine Kinderkrankheiten. Die Lähmung trat nach Angabe der Mutter
nach 8 Monaten auf. Mit 3 Jahren fing die Patientin an zu laufen.
Der Gang war von vornherein unbeholfen. Das linke Knie konnte
nicht vollständig gestreckt werden. Die Finger der linken Hand
krümmten sich stets und waren in die Hohlhand eingeschlagen.
Patientin wurde eine lange Zeit massiert und elektrisiert, ohne den
geringsten Erfolg.
Mittelkräftiges Mädchen im mittleren Ernährungszustand. Aktive
Bewegungen sind im Handgelenk nicht möglich, ebensowenig können
die Finger aktiv bewegt werden. Dagegen können passive Be¬
wegungen nach allen Richtungen ausgeführt werden, wobei bei der
Extension des Handgelenkes sowie der Finger ein mäßiger Wider¬
stand zu überwinden ist. Im Ellbogengelenk ist aktive Beweglich¬
keit möglich und zwar Flexion fast vollkommen, Extension unvoll¬
ständig. Supination ist ganz unmöglich.
Therapie. Verlagerung der Insertionsstelle des Pronator teres
nach dem Condylus lateralis (Hoffa). Verkürzung des Extensor
carpi radialis und des Extensor digitorum communis derart, daß die
Hand in stärkster Hyperextension steht.
Bei der Entlassung steht die Hand etwas dorsal- und ulnar¬
flektiert. Die Finger können fast bis zur Faust geschlossen werden.
Nachbehandlung nicht möglich, da Patientin abreiste. Ende 1905
keine Nachricht.
27. Hans H., 5 Jahre alt. Vater gesund, Mutter leidet an
Schwindel. Eine ältere Schwester gesund, ein jüngerer Bruder hat
angeblich eine Bewegungsstörung an den Augen, nach der Beschrei¬
bung Nystagmus horizontalis. Das Leiden begann am Ende
des 1. Jahres mit Krämpfen im Kopf, die sich 2—3mal wieder¬
holten. Ungefähr gleichzeitig bemerkte die Mutter, daß der Junge mit
dem linken Arm nicht recht zufaßte, und als Patient anfing zu laufen,
fiel auf, daß er das rechte Bein nachzog. Auch Schielen wurde be-
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226
James Fränkel.
merkt. Die Intelligenz, die anfangs zurückgeblieben war, hat sich
stetig gebessert.
Mai 1905. Nystagmus horizontalis an beiden Augen,
rechts mehr. Rechte Gesichtshälfte kleiner als die linke,
rechter Schädelumfang etwas vergrößert (Hydrocephalus).
An der rechten Hand Pronationskrampf. Keine aktive Supination.
Keine aktive Streckung im Handgelenk. Finger krampfhaft gebeugt,
werden im Schlaf gerade ausgestreckt. Gang spastisch-ataktisch.
Nach orthopädischer Behandlung wesentliche Besserung.
28. Hildegard P., 4 Jahre alt. Eine ältere Schwester gesund,
bei einer jüngeren ist der Kopf ungleich gestaltet, was sich
schon etwas verwachsen haben soll. Schwangerschaft und Geburt
normal. Keine ansteckende Krankheit. Das Leiden wurde von der
Mutter bemerkt, als das Kind laufen lernte.
Oktober 1904. Gang etwas spastisch. Rechte obere und untere
Extremität im Wachstum etwas zurückgeblieben. Rechter
Facialis geschwächt. Rechter Arm in typischer Haltung. Supi¬
nation angedeutet. Finger in den Metacarpophalangeal¬
gelenken überstreckt. Reflexe gesteigert. Intelligenz und
Sprache intakt. Seit einem Jahr in der Universitätspoliklinik er¬
folgreich mit Massage und gymnastischen Uebungen behandelt.
29. Günther P., jetzt 16 Jahre alt. Mutter hat an epilep¬
tischen Anfällen gelitten. Im 7. Monat der Schwangerschaft er¬
krankten 2 früher geborene Knaben an Scharlach, woran der älteste
starb. Das griff die Mutter psychisch sehr an. Sie starb 4 1 /« Monate
nach G.’s Geburt noch an deren Folgen. Geburt an sich normal.
Im 2. Lebensjahr erkrankte Patient an Ruhr mit Gehirn Wasser¬
sucht. Nach der Genesung wurde bemerkt, daß die rechte Hand
und der rechte Fuß nicht normal gebildet waren. Bei den etwas
verspäteten Gehversuchen fiel der schlechte Gang auf und mit
6—7 Jahren zeigte sich die Unbrauchbarkeit der rechten Hand
beim Schreibunterricht. Inzwischen wurde auch Schwäche des Ge¬
hirns bemerkt. Von Zeit zu Zeit epileptische Krämpfe von
5—10 Minuten Dauer. Bisher Galvanisation und Massage, Turn¬
unterricht in einer orthopädischen Anstalt. Für den rechten Arm
und das Handgelenk wurde eine Lederhülse angefertigt. Da sich
keine Besserung zeigte, suchte Patient die Klinik auf.
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Die infantile cerebrale Hemiplegie.
227
6 . April 1902. Ziemlich kleiner, mittelmäßig genährter Knabe
von blasser Hautfarbe. Wirbelsäule im dorsalen Teil nach rechts,
im lumbalen nach links gekrümmt. Die Krümmungen lassen sich
durch Druck leicht ausgleicben. Muskulatur beider rechten Extremi¬
täten geschwächt. Haltung des rechten Armes ganz typisch. Die
rechte Hand kann Dicht benutzt werden, weil die einzelnen Finger
dem Willen des Patienten nicht gehorchen. Rechtsseitige Kniebeuge¬
kontraktur. Beugestellung des Kniegelenks nicht auszugleichen.
Rechter Fuß adduziert und supiniert. Aktive Pronation des Fußes
unmöglich. Gang stark hinkend. Intelligenz herabgesetzt. Patient
bricht viel.
Therapie. Mai 1902. Flexor carpi radialis und Flexor carpi
ulnaris werden mit dem Extensor digitorum communis vernäht, Gips¬
verband in dorsalflektierter Stellung. Die sich stark spannenden
Beugesehnen der rechten Kniekehle werden in offener Wunde durch¬
schnitten. Hautnaht. Die Peroneussehnen des rechten Fußes werden
durch Raffung verkürzt. Gipsverband bei Streckstellung des Knies
und proniertem Fuß. Nach 8 Tagen Schmerzen an der Fußwunde.
Verbandwechsel. Ein Teil der Wunde hat sich geöffnet, 2 Seiden¬
faden stoßen sich ab. Die Wunde heilt im Verlauf von 8 Tagen.
Nach 4 Wochen Abnahme der Gipsverbände. Beginn der Massage
und Gymnastik. Patient ist im stände, die Hand etwas dorsal zu
flektieren. Knie völlig gestreckt. Wird mit Apparat für den Fuß
entlassen.
Ende 1904 Ernährungszustand und Aussehen gut, der Gebrauch
der rechten Hand ist, wenn auch noch nicht ganz normal, so doch
erheblich gegen früher gebessert, der rechte Fuß trägt noch den
Apparat und wird nur noch wenig nachgezogen. Epileptische
Krämpfe unregelmäßig, zuzeiten seltener, bald wieder schnell aufein¬
anderfolgend.
30. Max H., 8 Jahre alt. Eltern angeblich gesund. Lues
negatur. Geburt und Schwangerschaft normal. Die Mutter be¬
merkte, daß der Junge von vornherein viel ruhiger war als die
1 Geschwister (3 ältere und ein jüngeres). Als er ein Jahr alt
war, bekam er Ausschlag im Gesicht mit Fieber (Scharlach?) zu¬
sammen mit den älteren Kindern, die aber leichter erkrankten. Die
Eltern sind geneigt, die Lähmung, die sich V 4 Jahr später bemerk¬
bar machte, auf diese Krankheit zurückzuführen. Zuerst zeigte
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James Fränkel.
sich, daß die linke Seite einknickte und das linke Bein nachgezogen
wurde. Keine Krämpfe.
März 1905. Gang spastisch. Linker Fuß in hochgradiger
Equinovarusstellung. Linker Oberschenkel schwächer. Linke Ge¬
sichtsmuskulatur leicht paretisch, Strabismus conver-
gens des linken Auges. Linkes Auge hy permetropisch.
Leichte linkskonvexe Dorsalskoliose. Linker Arm in spastischer
Beugekontraktur. Biceps stark gespannt. Supination der linken
Hand unvollständig. Kein Ausfall einer Einzelbewegung. Untere
Extremität stärker affiziert. Reflexe links stärker.
Therapie. Am linken Fuß offene Verlängerung der Achilles¬
sehne , Abspaltung der äußeren Hälfte. Ueberpflanzung derselben
auf den verkürzten Peroneus. Verkürzung der Mm. tibialis anticus
und Extensor digitorum communis nach Hoffa. Ueberpflanzung
des Musculus peroneus brevis auf die Extensoren.
Ende 1905. Ausgezeichnetes Resultat. Linker Fuß in leichter
Valgussteilung, rechtwinklig zum Unterschenkel. Plantarflexion und
auch Dorsalflexion aktiv möglich. Adduktion und Abduktion ange¬
deutet. Gang sehr gut.
31. Johann H., 17 Jahre alt. Patient erkrankte mit 2 Jahren
an Scharlach, im Anschluß daran linksseitige Lähmung.
Zurückgeblieben ein Klumpfuß, der das Gehen sehr erschwerte.
Beim Eintritt in die Klinik besteht am linken Arm eine leichte
Flexionskontraktur im Ellenbogengelenk, eine geringe Beugestellung
im Kniegelenk. Patient tritt mit dem äußeren Fußrand auf. Keine
Intelligenz- und Sprachstörungen.
Therapie. Redressement des Klumpfußes. Danach tritt Patient
mit der ganzen Fußsohle auf und der Gang ist wesentlich gebessert-
Auch heute noch ist das Resultat das gleiche.
32. Erwin E., 7 Jahre alt. Eltern gesund. Keine anderen
Geburten. Schwangerschaft und Geburt normal. Mit 1 l ji Jahren
Darmkatarrh mit starkem Fieber, Krämpfen und Erbrechen. Un¬
mittelbar danach wurde eine Lähmung der linken Seite bemerkt.
Das Kind litt seit der Geburt an schwachem Magen und an Husten.
März 1903. Die Lähmung ist hauptsächlich nur noch an der
linken Gesichtshälfte zu erkennen, deren Muskulatur geschwächt ist.
Rumpf und obere Extremitäten ganz verschont. Linker Fuß in Spitz-
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Die infantile cerebrale Hemiplegie.
229
fußstellung, linkes Bein 1 cm kürzer als das rechte. Sprache nicht
verändert. Geistige Fähigkeiten etwas schwach.
Therapie. Ende 1905 Tenotomie der Achillessehne. Gang
jetzt ganz normal.
33. Betty A., 16 Jahre alt. Einziges Kind. Eltern gesund.
Bis zum 4. Lebensjahr ganz gesund. Masernerkrankung, da¬
nach soll allmählich das linke Bein angefangen haben zu hinken,
und der linke Arm beugte sich im Ellenbogen; die Finger wurden
unbeweglicher, auch im Schultergelenk trat leichte Bewegungsstörung
ein. Beim Gehen bezw. bei Bewegungen des Armes hat Patientin,
namentlich bei feuchter Witterung, öfter Schmerzen in den befallenen
Gliedern. Die verschiedensten Medikamente, ferner Bäder, Elek¬
trizität und Massage sind angewandt worden. Seit einem Jahr soll
sich der Zustand verschlechtert haben.
Befund. Im Handgelenk sind aktive Bewegungen nicht mög¬
lich. Supination ist nicht ausführbar. Die in Flexion befindlichen
Finger können nicht gestreckt werden. Daumen steht adduziert. Linker
Fuß in Equinovarusstellutig. Knie leicht gebeugt. Patellarreflex er¬
höht. Fußclonus und Babinski positiv. Keine sensiblen Störungen.
Therapie. Pronatorplastik. Verkürzung des Extensor digi-
torum communis und Verkürzung des Extensor pollicis longus. Gips¬
schiene bei hyperextendierter Stellung. Tenotomie der linken Achilles¬
sehne. Uebliche Nachbehandlung. Resultat gut.
34. Johanna F., 3 *2 Jahre alt, wurde als 6. Kind geboren,
Geburt rechtzeitig nach normaler Schwangerschaft. Im 6. Monat,
bevor die Lähmung erkannt wurde, hatte das Kind starken Lungen¬
katarrh. Die Lähmung befiel die rechte Seite und machte sich
zuerst durch Eindrücken des Daumens in die Hohlhand bemerkbar.
Später Masern.
Februar 1905. Kräftiges, gut entwickeltes Kind. Sprache und
geistige Fähigkeiten normal. Der Gang etwas hinkend, mit dem
rechten Fuß auf der Spitze auftretend. Arm stärker befallen. Daumen
krampfhaft in die Hohlhand eingeschlagen.
Therapie. Verkürzung des Extensor digitorum communis und
des Extensor pollicis longus.
Jetzt können die Finger viel besser bewegt werden, die Beu¬
gung und Streckung der Hand geschieht in fast normaler Weise,
die falsche Stellung des Daumens ist beseitigt. Ein- und Auswärts-
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James Frankel.
drehung durch den Pronationsspasmus noch gestört. Jedenfalls aber
ist die Besserung eklatant, und die Eltern sind mit dem Erfolg sehr
zufrieden.
35. Paul Sch., 1V» Jahre alt. 1. Kind im 14. Jahr der Ehe.
Der Vater der Mutter ist an Delirium tremens gestorben. Vater
Rheumatiker und sehr erregbar. Während der ganzen Schwanger¬
schaft hat die Mutter andauernd an Erbrechen gelitten. Als das
Kind 3 Wochen alt war, Darmkatarrh, später Krampfe am ganzen
Körper, darauf Lungenentzündung. Nach einigen Wochen Gehirn¬
entzündung. Als Patient danach zu sich kam, konnte er die rechte
Seite nicht bewegen.
Sommer 1904. Geistig rege. Von der Lähmung ist eine
leichte rechtsseitige Facialisparese zurückgeblieben. Geringe
Spasmen im rechten Arm, der um 2 cm verkürzt ist. Etwas er¬
höhte Reflexe. Greifen der Hand erschwert. Rechter Fuß in ge¬
ringer Calcaneo-valgusstellung. Leichte Crura rhachitica. Therapie:
Bäder, Massage, Uebungen.
36. Nanny V., 5 1 /* Jahre alt. Geburt normal. Patientin er¬
krankte mit 10 Monaten an Hirnhautentzündung, im Anschluß
daran Lähmung des linken Armes. Später wurde ein Nachschleppen
des linken Beines bemerkt. Befund bei der Aufnahme in die Klinik:
Intelligenz herabgesetzt, Sprache undeutlich und erschwert. Stra¬
bismus. Der linke Arm wird im Ellenbogengelenk rechtwinklig
gebeugt gehalten und an den Rumpf angedrückt. Fingerstreckung
erschwert. Linkes Bein im Hüft- und Kniegelenk etwas gebeugt
und nach innen rotiert. Der Fuß steht in Equinovarusstellung.
Gang hinkend mit einer Kreisschwenkung im Hüftgelenk und sehr
unsicher.
Therapie. Tenotoraie der Achillessehne, Massage, Elektrizität,
Gehübungen. Patientin geht jetzt, wie uns die Mutter kürzlich be¬
richtete, wesentlich sicherer und tritt mit der ganzen Fußsohle auf.
Die Intelligenz soll sich gehoben haben. Am Arm keine Aenderung.
37. Hans K., 3 Jahre alt. Zweiter Partus. Ein älteres Kind
an Gehirnkrämpfen gestorben. In der ersten Zeit der Schwanger¬
schaft hatte die Mutter sehr starkes Erbrechen. Geburt normal.
Mit l 3 /4 Jahren lernte der Junge laufen. Mit 2 Jahren trat plötz¬
lich Erbrechen und Fieber über 39 Grad auf, das 8 Tage anhielt.
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Die infantile cerebrale Hemiplegie.
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Als Patient aufstehen wollte, konnte er das rechte Bein nicht ansetzen.
Er wird als sehr ängstlich geschildert.
1904. Leichte Equinovarusstellung rechts. Rechtsseitiges Genu
Talgum. Rechtes Bein geschwächt. Linkshänder. Patient klagt
öfters über Schmerzen im Kopf. Keine Gesichtsasymmetrie. Die
geringen Reste der Lähmung sind durch Elektrizität und Massage
Tollständig beseitigt worden.
38. M. E., 17 Jahre alt. Patientin stammt aus gesunder Familie
und soll bis zum Alter von 11 Jahren gesund gewesen sein. Das
Leiden begann mit Unwohlsein, 6 Stunden anhaltender Bewußtlosig¬
keit und Zuckungen am ganzen Körper. An den nächsten Tagen
hohes Fieber bis 40 Grad. Danach entwickelte sich ganz langsam
eine Lähmung des rechten Armes und Beines. Durch Elektrizität
einige Besserung. In den letzten 5 Jahren, wo Patientin nicht mehr
behandelt wurde, ist keine Aenderung eingetreten. Mittelkräftiges
Mädchen. Gang etwas hinkend. Das rechte Bein steht beim Gehen
in leichter Adduktionsstellung und wird im Kniegelenk stärker ge¬
beugt als links, damit der in leichter Equinovarusstellung befindliche
Fuß nicht mit der Spitze am Boden schleift. Die große Zehe steht
ira Metatarsophalangealgelenk in fast rechtwinkliger Dorsalflexion.
Der Fuß kann nicht ganz zum rechten Winkel dorsalflektiert werden.
Die Schultermuskulatur des rechten Armes ist kräftig. Das Ellenbogen¬
gelenk wird in einem Winkel von 135 Grad gebeugt gehalten. Ein
weiteres aktives Strecken gelingt nur wenig mehr, trotzdem der Tri-
ceps ebenso kräftig ist wie auf der linken Seite. Spasmen in der
Beugemuskulatur. Hand typisch gestellt. Daumen adduziert. Beim
Versuch die Hand zu strecken, erhebt sich dieselbe in Ulnarflexion
bis zum halben rechten Winkel. Passiv läßt sich die Hand dorsal
flektieren. Die Finger stellen sich dabei in starke Beugestellung.
Die Hand fühlt sich kühler an als die gesunde linke und ist bläu¬
lichrot verfärbt. Die Eltern wollen nur an der Hand operativ bessern
lassen.
Therapie. Operation: Verkürzung des Extensor carpi radialis
longus. Gipsverband in leicht dorsal- und radialflektierter Stellung
der Hand, wobei besonders Wert darauf gelegt wird, daß auch der
Daumen in möglichst abduzierter und alle Finger in gestreckter
Stellung sich befinden. Während der Nachbehandlung, die in täg¬
lich zweimaliger Massage und Elektrizität besteht, trägt Patient
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James Fränkel.
noch eine volare Gipsscbiene. Entlassungsbefund: Die Hand kann
bis zum halben Rechten gebeugt und vollkommen gerade gestreckt
werden, ebenso die Finger, die nunmehr zu allen möglichen Hantie¬
rungen gebraucht werden können. Auch der Daumen hat nach der
langen Fixation in Redression nicht mehr die frühere adduzierte Stel¬
lung. — Hier hat eine Sehnenverkürzung für das sehr zufriedenstel¬
lende Resultat genügt, indem sich die geschwächten Muskeln sehr
schnell der durch die tendinöse Fixation des Handgelenkes geschaf¬
fenen Stellung anpaßten.
39. Erika W., 15 Jahre alt. Als drittes Kind geboren. Drei
Schwestern sind körperlich und geistig gesund. Da das Kind Waise
ist und seit dem 4. Jahre von Pflegeeltern erzogen wird, ist über
Schwangerschaft und Geburt nichts Näheres zu eruieren. Angeblich
war das Kind bis zum 2. Jahr völlig gesund. Es bekam dann G e-
hirnentzündung und danach Schlaganfall, wobei die ganze linke
Seite gelähmt war. Die Intelligenz entwickelte sich sehr langsam.
Patientin lernte erst im 4. Jahre laufen und sprechen. Krämpfe
sind häufiger aufgetreten. Anamnestisch ist noch bekannt, daß der
Vater hochgradig nervös war.
Juni 1903. Aussehen und Ernährungszustand gut. Artiku¬
lation mangelhaft. Linke Gesichtshälfte paretisch. Arm- und Hand¬
stellung ganz typisch. Supination und Dorsalflexion ausgeschlossen.
Verkürzung um 3 cm. Linkes Bein etwas schwächer.
Therapie. Pronatorplastik. Verkürzung des Extensor dig.
comm. Gipsverband. Uebliche Nachbehandlung. Greifübungen.
Ende 1904 teilt uns die Pflegemutter mit: Die Hand befindet
sich in völlig normaler Stellung und ist sehr gut gebrauchsfähig.
40. Heinrich T., jetzt 20 Jahre alt. Erstes Kind. Als es
Jahr alt war, fiel ihm eine Baustange auf den Kopf,
in der zwei spitze eiserne Nägel steckten. Diese drangen durch die
Kopfdecke ein. Nach 3 Wochen konnte man deutlich sehen, daß
die linke Seite bei Bewegungen zurückblieb, hauptsächlich die Hand.
Später zeigte sich auch, daß das linke Bein gelähmt war. Keine
späteren Krankheiten. Der Arm ist längere Zeit regelmäßig elektri¬
siert worden, wurde dadurch aber nicht gebessert. Gesicht und Rumpf
waren an der Lähmung nicht beteiligt.
Ende 1903. Typische Stellung des linken Armes und der linken
Hand. Ueblicher Bewegungsausfall. Linker Arm im Wachstum er-
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Die infantile cerebrale Hemiplegie.
233
heblich zurückgeblieben. Das linke Bein wird ein wenig, namentlich
beim langsamen Gehen, nachgezogen und ist im ganzen schwächer.
Therapie. Verlagerung des Pronator teres. Verkürzung des
Extensor digitorum communis. Lange fortgesetzte sorgfältige Nach¬
behandlung. Galvanisation. Bei der Entlassung ist aktive Dorsal¬
flexion und Supination möglich.
Februar 190(3. Die operierte Hand ist aktiv volar- und dorsal¬
flektierbar, auch aktive Supination ist möglich. Die Bewegungen
sind aber dadurch behindert, daß sämtliche Sehnen sich stark retra-
hiert haben und daher sehr gespannt sind. Um diesem Uebelstand
abzuhelfen, ist jetzt eine Kontinuitätsresektion aus den beiden Vorder¬
armknochen vorgenommen worden.
41. Wilhelm E., 27 Jahre alt. Geburt normal. Vor der Er¬
krankung ganz gesund. Im Alter von 2 Jahren fiel er aus dem
zweiten Stockwerk. Danach trat sofort eine halbseitige,
linksseitige Lähmung auf. Keine Krämpfe.
Der linke Arm hat besonders gelitten. Er befindet sich in
der typischen Stellung, die Kontraktur ist äußerst stark. Supination
unmöglich. Dorsalflexion angedeutet. Gang links hinkend. Linkes
Bein kürzer und geschwächt. Linker Facialis paretisch. Sprache
stotternd. Kein Intelligenzdefekt. In seinem Beruf als Schreiber
ist Patient sehr tauglich. Zu einer Operation kann er sich nicht
entschließen.
42. Heinrich H., 43 Jahre alt. Die Mutter hat an Krämpfen
gelitten, der Vater ist gesund gewesen. Lues negatur. Bis zu seinem
5. Lebensjahr war Patient angeblich gesund. Damals ist er — wie
er sagt, vor Schreck — in den Rinnstein gefallen. Danach
traten Krämpfe auf, und die linke Seite war vollständig
gelähmt.
Kleiner, schwächlicher Mann, leidet viel an Kopfschmerzen und
ist sehr ängstlich geworden. Linker Arm und linke Hand in hoch¬
gradiger Kontrakturstellung. Typisches Bild. Linker Facialis
spastisch innerviert. Gang hinkend. Linker Fuß in leichter Spitz¬
fußstellung. Häufige epileptische Krämpfe. Bei dem letzten
Insult verletzte sich Patient in der linken Gesichtshälfte, auf die er
fiel; er wurde blutüberströmt aufgefunden.
Hier hat die Deformität, die nie behandelt worden ist, den
Höhepunkt erreicht. Es zeigt sich das ausgeprägte Bild hoch-
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234
James Fränkel.
gradigster Kontrakturen in Ellenbogen-, Hand- und Fingergelenken
mit schweren Wachstumstörungen und Atrophien, die das gelähmte
Glied zu einem unbrauchbaren Appendix gemacht haben. Patient
illustriert gleichzeitig den Ausgang der infantilen Hemiplegie
in schwere Epilepsie.
43. Käthe T., 3 3 /i Jahre alt. Erste Geburt, ganz normal.
Schwangerschaft ohne Störung. Später hat die Mutter einmal abor¬
tiert. Keine Lues. Mit 7 Monaten — vorher wurde nichts Abnormes
an dem Kinde bemerkt, — als Patientin die ersten Zähne bekam, traten
Krämpfe auf von 4 Stunden Dauer. 8 Tage nachher war die ganze
rechte Seite gelähmt. Als sie anfing zu laufen, wurde bemerkt,
daß sie immer auf der rechten Fußspitze lief, und daß sich unwill¬
kürlich der rechte Arm beim Laufen beugte, indem die Hand her¬
unterhing. Die Krämpfe haben sich nicht wiederholt.
Oktober 1905. Frisches, intelligentes Kind ohne Zeichen von
englischer Krankheit. Zähne sehr gut. Beim Lachen und Zähne¬
fletschen steht der rechte Mundwinkel eine Spur tiefer als links.
Rechter Arm im ganzen schwächer, geringer Spasmus,
leichte athetotische Bewegungen der rechten Hand. Hände¬
druck entschieden schwächer als links. Beim Versuch, die Finger der
rechten Hand aneinanderzubringen, Ueberstreckung in den Grund¬
gelenken mit Spreizung der Finger. Kein direkter Ausfall einer
Einzelbewegung. Tricepsreflex rechts stärker als links. Radiusperiost¬
reflex beiderseits schwach. Rechte Hand wird geschont. Wenn Patien¬
tin doch etwas mit ihr tut, macht sie den Mund unwillkürlich
dabei auf. Bauchreflex symmetrisch. Initiale Spasmen im rechten
Kniegelenk bei Bewegungen. Rechts Pes equinus. Babinski positiv.
Gang schleifend und nach links hinkend. November 1905. Tenotomie
der rechten Achillessehne. Noch in Behandlung.
44. Hans R., jetzt 16 Jahre alt. Dritte Geburt. Das älteste
Kind hat an Zahnkrämpfen gelitten. Geburt etwas schwer, aber
ohne Kunsthilfe. Im ersten Lebensjahr körperlich und geistig völlig
gesund. Als Patient 1 Jahr alt wurde, bekam er Zahnkrämpfe,
welche von Mittags 2 Uhr bis zum anderen Morgen um 6 Uhr an¬
hielten. Ein Arzt, der mit Chloroformnarkose die Krämpfe zu be¬
kämpfen versuchte, stellte linksseitige Lähmung fest. Bisher wurde
Patient in orthopädischen Anstalten mit Arm- und Beinschienen be¬
handelt.
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Die infantile cerebrale Hemiplegie.
235
Frühjahr 1904. Ernährungszustand gut. Sprache stotternd.
Leichter Strabismus convergens des linken Auges. Andeutung
einer linksseitigen Facialisschwäche und Hypoglossusparese.
Gang ein wenig nach links hinkend. Muskulatur schwächer. Linkes
Bein kürzer. Geringer Spitzfuß. An der linken Hand schwere Pro¬
nationskontraktur. Hand in rechtwinkliger Volarflexion gebeugt, kann
nicht dorsalflektiert werden. Juni 1904 Pronatorplastik. Verlänge¬
rung der Flexoren der Hand. Verkürzung der Extensoren.
Ende 1905. Aktive Pronation und Dorsalflexion gelingt nicht.
Die Hand hat aber eine wesentlich bessere Stellung bekommen. An¬
gesichts der Schwere des Falls ist die kleine Besserung für den Pa¬
tienten schon wertvoll. Er kann sich als Gärtner gut beschäftigen.
45. Helmuth Ö., 4 Jahre alt. Eine Schwester des Vaters
ist nervenkrank. (Nach der Beschreibung Littlesche Krankheit.)
Erstes Kind. Schwangerschaft und Geburt normal. Keine fieber¬
hafte Erkrankung. Mit 6 Monaten traten Krämpfe am ganzen
Körper auf, die ein Arzt als Zahnkrämpfe erklärte. Dann wurde
bemerkt, daß der rechte Arm nicht richtig gebraucht wurde, und
später zeigte sich ein Nachschleppen des rechten Fußes. Von An¬
fang an fiel den Eltern auf, daß die Bewegungen des Kindes un¬
geschickt waren. Im Alter von 1 Jahr Phimosenoperation.
August 1905. Rechtsseitiger Spitzfuß, rechter Arm etwas un¬
geschickt, kann aber alle Einzelbewegungen ausführen. Rechter
Patellarreflex gesteigert. Deutliche Schwäche im rechten Facialis-
gebiet. Tenotomie der Achillessehne nach Bayer.
Ende 1905 Gang bedeutend gebessert. Fuß in guter Stellung.
46. Karl H., 6 Jahre alt. Keine Geburtsanomalien. Mit l \* Jahr
bemerkte die Mutter, daß das Kind den linken Arm gar nicht be¬
wegen konnte. Und als es anfangen sollte zu gehen, schleifte es
immer das linke Bein nach. Keine Kinderkrankheit infektiöser Art.
Mit 3 Jahren Krampfanfälle, die nach der Beschreibung epi¬
leptisch waren und bis zum 5. Jahr anhielten. Befund: Intelligenz
und Sprache ungestört. Extremitäten der linken Seite etwas schwächer.
Linker Arm und Bein kürzer, linke Hand deutlich kleiner. Links¬
seitiger Spitzfuß.
Therapie: Massage, Elektrizität der oberen Extremitäten. Teno¬
tomie der Achillessehne. Gipsverband. Patient tritt jetzt mit der
ganzen Fußsohle auf.
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236
James Frankel.
47. Gertrud Pr., 8 Jahre alt. Anamnestwch ist bekannt, daß Pat.
in den ersten Lebensmonaten an Krämpfen litt, die nach dem 1. Lebens¬
jahr wieder verschwanden. Im 3. Jahr wurde die Lähmung der rechten
Seite bemerkt. Der Zustand ist seitdem unverändert geblieben.
Befund: Gang leicht hinkend, keine Atrophie der rechten Seite.
Typischer Befund am Arm.
Therapie: Verkürzung des Extensor carpi radialis longus. Die
Hand wird mittels Gipsschiene in starke Dorsalflexion gestellt. Nach
4 Wochen Abnahme des Verbandes. Resultat: Die Hand steht in
normaler Stellung, die Finger können besser gebeugt und gestreckt
werden wie vorher. Die Greifkraft der Hand hat zugenommen, so
daß Patientin jetzt einen kleineren Gegenstand festhalten kann. Auch
die Stellung des Armes ist besser geworden.
48. Fr. Kr., 3 Jahre alt. Mit 3 4 Jahren bemerkte der Vater,
daß das Kind, das vorher niemals krank gewesen ist, das rechte Bein-
chen bei den Gehversuchen nachschleppte und den Arm in rechtwink¬
liger Beugestellung ziemlich krampfhaft an die Brust anlegte und nur
mit Mühe von derselben entfernen konnte. Da von der Behandlung
mit Massage, Elektrizität und Bädern kein genügender Fortschritt
zu sehen war, wurde das Kind in die Klinik gebracht. Typischer
Befund der oberen Extremität. Hochgradiger Spitzfuß.
Therapie. Tenotomie der Achillessehne. Da nach Abnahme
des Gipsverbandes noch eine leichte Spitzfußstellung bestand, erhielt
Patient eine Beinschiene mit Gunnnizügen, mit der er dann entlassen
wurde und gut ging. Im übrigen wurde die frühere Behandlung
fortgesetzt. Nach Mitteilungen des Vaters ist der Gang viel besser
geworden. Ein Nachschleppen wird kaum mehr bemerkt.
49. Frieda P., jetzt 9 Jahre alt. Fünftes Kind. Unmittelbar
nach der Geburt wurde bemerkt, daß die linke Seite von Kopf bis
Fuß gelähmt war. Das Kind war so schwach, daß es weder die
Brust noch die Flasche ziehen konnte und durch Einflüßen der Nah¬
rung erhalten werden mußte. Schwangerschaft und Geburt sollen nor¬
mal verlaufen sein. Das Kind lernte mit 1 1 2 Jahren laufen, mit
2 l l'i Jahren sprechen.
1901. Intelligenz um wenigstens 2 Jahre zurück. Linker Arm
und linkes Bein muskelschwächer, im Wachstum zurückgeblieben.
Leichter Spitzfuß links. Linkes Facialis gebiet paretisch.
Keine Krämpfe. Orthopädische Behandlung.
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Die infantile cerebrale Hemiplegie.
237
1904. Ernährungszustand und Aussehen gut, geistige Fähig¬
keiten gering. Am linken Arm ist nur noch eine geringe Unge¬
schicklichkeit vorhanden.
50. Janchen E., 17 Jahre alt. Rechtzeitig geboren, ist bis
zum 12. Jahre gesund gewesen. Mit 12 1 /* Jahren bekam Patientin
plötzlich eine Ohnmacht, woran sich eine Bewußtlosigkeit von
6 Stunden anschloß. Eine Ursache war nicht aufzufinden. Hereditär
nicht belastet. Keine Infektionskrankheiten. Als das Kind gehen
sollte, bemerkten die Eltern, daß es auf der rechten Seite ge¬
lähmt war.
Status. Keine Intelligenzstörung. Sprache etwas erschwert.
Gang hinkend, das rechte Bein wird nachgezogen. Die rechte
Beckenhälfte wird dabei etwas gehoben, so daß das rechte Bein in
Adduktionsstellung kommt. Das rechte Bein wird beim Laufen auf¬
gestampft. Atrophie geringen Grades im rechten Unterschenkel.
Läßt man den Fuß ruhig hängen, so stellt er sich in Equinovarus-
stellung. Die große Zehe steht in leichter Dorsalflexion. Haltung
des rechten Armes ganz typisch. Streckung im Ellenbogen nur
etwa bis zu 25 °. Vorderarm steht proniert. Supination erschwert.
Bei wagerechter Haltung des Armes hängt die Hand rechtwinklig
herab, und der Daumen steht adduziert. Bei großer Kraftanstren¬
gung kann Patientin zwar die Hand einen Moment gerade strecken,
sie geht dann aber gleich wieder in die hängende Stellung zurück.
Therapie. Verkürzung des Musculus extensor carpi radialis
longus. Stellung der Hand in Dorsal- und Radialflexion im Gips¬
verband. Entsprechende Nachbehandlung. Resultat: die Hand steht
völlig gestreckt, nur noch ein wenig ulnarwärts gebeugt. Daumen
noch etwas adduziert. Die Greifbewegung und überhaupt die Ge¬
brauchsfähigkeit der Hand hat sich wesentlich gebessert.
51. T. P., 8 Jahre alt. Patientin hat ihr Leiden seit dem
8. Lebensjahr. Nähere anamnestische Angaben fehlen. Patientin
ist gut entwickelt und sieht blühend aus. Gang leicht hinkend.
Das rechte Kniegelenk wird gebeugt gehalten, der vollkommenen
Streckung leisten die Beugemuskeln in der Kniekehle Widerstand.
Die Fußrauskeln und die Muskeln der Hüfte sind etwas schwächer
als links, doch ist der Unterschied unbedeutend. Aktive Bewe¬
gungen im Schulter- und Ellenbogengelenk ungestört bis auf eine
leichte Beschränkung in der Streckung. Läßt man den rechten
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238
James Frankel.
Arm wagerecht halten, so hängt die Hand wie üblich proniert
herab, die Grundphalangen der Finger können aktiv ein klein wenig
gestreckt werden. Streckung und Adduktion des Daumens sind aus¬
führbar. Supination der Hand aufgehoben. Bei dem Versuche, die
herabhängende Hand zu strecken, wird diese nach der Ulnarseite
verzogen und etwas gedreht. Radiale Abduktion und Extension der
Hand ganz ausgeschlossen. Die Streckmuskeln sind sämtlich ge¬
schwächt. Gar nicht wirksam sind nach der elektrischen Unter¬
suchung der Extensor carpi radialis longus und die Supinatoren.
Therapie. Operation: Verkürzung des Extensor carpi radialis
longus. Volare Gipsschiene, bei dorsal- und radialflektierter Hand
angelegt. Nach entsprechender Nachbehandlung können die Finger
aktiv gut gebeugt und gestreckt werden. Die Hand befindet sich
in normaler Stellung und hat die Greiffähigkeit erlangt. — Auch
hier hat, wie in einigen früher angeführten Fällen, die Verkürzung
des Extensor carpi radialis longus genügt, um die Hand in Streck¬
steilung zu bringen. Durch die Nachbehandlung ist die noch vor¬
handene Kraft der nur geschwächten Muskeln gestärkt worden.
52. Alfred F., 5 Jahre alt. Anamnese nicht zu eruieren. Gut
entwickeltes Kind. Intelligenz mäßig. Rechte obere Extremität in
toto schwächer. Unterarm kann aktiv gebeugt und gestreckt, aber
nicht supiniert werden. Finger in Beugekontraktur, Daumen fest
in die Holilhand eingeschlagen. Rechtes Bein etwas schwächer.
Die Zehen können gut gebeugt, weniger gut gestreckt werden.
Der innere Fußrand wird nicht aktiv gehoben. Beim Gehen berührt
der innere Fußrand den Boden, der Fuß wird nachgeschleift.
Therapie. Verpflanzung des Pronator teres nach Hoffa, Ver¬
kürzung des Extensor digitorum communis. Verpflanzung des Flexor
carpi ulnaris und des Flexor carpi radialis auf die Extensoren. Re-
dressierender Gipsverband. Erfolg: Die Hand steht in Mittelstel¬
lung, kann viel besser gestreckt werden als früher und jetzt auch
supiniert werden. Am Fuße ist durch Massage und Gehübungen
erhebliche Besserung erzielt worden.
53. E. W., 13 Jahre alt. Vater starb an unbekannter Krank¬
heit. Mutter und Geschwister gesund. Von Kinderkrankheiten nichts
bekannt. Als die Patientin 1 1 2 Jahr alt war, soll sie einen Schlag¬
anfall gehabt haben. Danach war der linke Arm und Fuß gelähmt.
Laufen hat sie erst mit 6 Jahren gelernt. Kräftiges in gutem Ernäh-
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Die infantile cerebrale Hemiplegie.
239
rungszustand befindliches Mädchen. Der linke Arm hängt schlaff her¬
unter. Die linke Hand steht proniert, die Finger stehen flektiert.
Daumen in die Hohlhand eingeschlagen, Supinationsbewegungen des
linken Unterarms fast unmöglich. Dabei äußert die Patientin Schmerzen
und gibt an, daß sie im Ellenbogen einen Krampf verspüre. Die Finger
können passiv nur unter Ueberwindung eines leichten Widerstandes ge¬
streckt werden, aktiv ist es unmöglich. Der linke Daumen kann nicht
abduziert werden. In der Ellenbeuge spannt sich die Sehne des Biceps
als ein kontrahierter fester Strang an. Die Haut des linken Armes
ist bläulich verfärbt und kalt anzufühlen. Muskulatur der rechten
Extremitäten schwächer entwickelt. Linker Fuß in leichter Equino-
yarusstellung, aktive und passive Bewegungen nach allen Richtungen
möglich. Muskulatur etwas atrophisch. Verkürzung des Beines um
1 cm. Gang leicht hinkend. Linke Beckenhälfte steht tiefer. Leichte
Skoliose.
Therapie. Verpflanzung des Pronator teres. Durchschneidung
des Lacertus fibrosus und der Sehne des Biceps in der Armbeuge.
Verkürzung der Sehne des Extensor digitorum communis und des
extensor digiti quinti derart, daß die Hand und die Finger in ex¬
tremer Hyperextension stehen. Gipsverband. Heilung per primam.
Die Hand steht in starker Hyperextension, die Fingerspitzen können
dennoch gebeugt werden, 8 Tage nach der Operation wird mit
Bädern, vorsichtiger Massage, aktiven und passiven Bewegungen der
Finger begonnen. Nach einer öwöchentlichen Nachbehandlung ist
das Resultat folgendes: die Hand steht in wagerechter Stellung, die
Finger können vollkommen gestreckt werden, außer dem Daumen,
der nicht abduziert werden kann. Die Finger können zur Faust
geballt werden, dabei steht die Hand in leichter Dorsalflexion, die
Kraft ist zwar noch herabgesetzt, hat sich aber schon bedeutend ge¬
hoben. Der Arm kann im Ellenbogen vollkommen gestreckt werden.
Der Krampfzustand in der Muskulatur ist vollständig verschwunden.
Die Supination der Hand ist nahezu völlig ausführbar. Die gesamte
Muskulatur des Ober- und Unterarms ist voluminöser geworden.
Durch die Operation ist zunächst in kosmetischer Hinsicht ein
guter Erfolg erzielt worden, die Hand sieht fast wie eine normale
aus. Auch das funktionelle Resultat kann als ein sehr gutes be¬
zeichnet werden. Die Patientin kann Pronations- und auch Supina¬
tionsbewegungen ausführen. Die Krampfzustände haben vollkommen
aufgehört.
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XV. Bd. 10
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Zahl
240
James Frankel.
Tabelle I. (Betrifft
Name
Wie¬
vieltes
Kind?
Hereditär
Schwangerschaft
Emilie W.
5.
Vater gibt Syphilis zu.
—
Bernhard St.
2.
Vater und Mutter syphili¬
tisch.
—
Paul B.
1 .
Eltern syphilitisch.
-
Lieschen M.
1 .
Eltern syphilitisch.
—
Hedwig P.
2.
Verdacht auf hereditäre
Lue8 (vor dieser Geburt
2 Aborte).
—
Charlotte T.
2.
Verdacht auf hereditäre
Lues (vor dieser Geburt
2 Aborte, ein älterer
Bruder Achtmonatskind,
Hutchinson sehe Zahn-
forra [?]).
Erna S.
1 .
—
Kurz vor der Geburt des
Kindes hat die Mutter ein
Trauma erlitten.
Paul P.
1 .
—
Einige Tage vor der Geburt
des Kindes stürzte die
1 Mutter.
Susanne R.
2.
—
Die Mutter hatte ein großes
Eierstockky stom.
Bertha W.
3.
—
Die Mutter leidet an engem
Becken (2 Kinder vor¬
her bei der Geburt ge¬
storben).
Richard B.
4.
6 Wochen vor der Geburt
erlitt die Mutter ein
Trauma.
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Die infantile cerebrale Hemiplegie.
241
die Aetiologie.)
Gebart
Extrauterine
Erkrankung
Die ersten Zeichen
der Krankheit
wurden bemerkt
Aetiologie
Etwas länger als
normal.
—
Gleich nach der Ge¬
burt.
Hereditäre Lues.
—
Pemphigus syphili¬
ticus.
Mit V/a Jahren ent¬
stand die Hemiple¬
gie apoplektiform.
Hereditäre Lues.
Frühgeburt.
Syphilitisches Ex¬
anthem.
Im 3- Jahr trat die
Lähmung apoplek¬
tiform auf.
Hereditäre Lues.
Frühgeburt.
Mit 8ypbilit. Aus¬
schlag geboren.
Im 10. Monat nach
halbseitigenGehirn-
krämpfen.
Hereditäre Lues.
—
i
Im 5. Jahre M a-
s e rn.
4 Monate nach der
Masernerkrankung.
Hereditäre Lues (?)
-f- Masern.
Frühgeburt
(Siebenmonats¬
kind), sehr
schwer.
Mit 5 Jahren Diph-
theritis, danach
Verschlimmerung
der Lähmung.
Mit 2V 2 Jahren, als
sie laufen lernte.
Hereditäre Lues (?).
Frühgeburt, sehr i
schnell. As¬
phyxie.
—
Gleich nach der Ge¬
burt.
Trauma der Mutter
intra graviditatera.
Frühgeburt. As¬
phyxie.
—
Im 7. Monat.
Trauma der Mutter
intra graviditatem.
Frühgeburt, sehr
schwer. Schwere
Asphyxie.
Im 6. Monat unter
Konvulsionen.
Intraabdominelle
Raumbeengung in¬
tra graviditatem (?).
Frühgeburt
(Siebenmonats¬
kind). Asphyxie.
Mit 7 Monat, fieber¬
hafter Darmka¬
tarrh, danach M a-
sern.
Mit 1 Jahr.
Enges Becken der
Mutter (?) -f- In¬
fektionskrank¬
heit.
Schwere Ge¬
bart, Nabel¬
schnur um den
Hals geschlun¬
gen. Asphyxie.
Innerhalb des ersten
Jahres.
Trauma der Mutter
intra graviditat. (?)
-f- schwere Ge-
b u r t.
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Zahl
242
James Frankel.
Wie-
Name vieltes Hereditär
Kind?
12 Walter St. 5. Die Mutter litt an Epi¬
lepsie.
13 Else E. 2. Die Großmutter litt an Epi¬
lepsie.
14 Bertkold F. 7. —
15 Max F. 1. —
I
16 Elisabeth Sch. 6. ! —
17 Kurt J. 1 . —
18 Hans M. 1. —
19 Wilhelm M. 1. —
20 1 Max S. 1. —
21 Karl N.
1 . —
22 Anna B.
1 . —
23 Bruno F.
3. —
Schwangerschaft
Die Mutter litt während
der Schwangerschaft an
seelischer Depression.
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Die infantile cerebrale Hemiplegie.
243
Geburt
Extrauterine
Erkrankung
Die ersten Zeichen
der Krankheit
wurden bemerkt
Sehr schwere
G eburt.
—
Gleich nach der Ge¬
burt.
Steißgeburt,
Nabelschn ur-
umschlin-
g u n g. As¬
phyxie.
Mit 1V* Jahren In¬
fluenza, danach
Verschlimme¬
rung der Läh¬
mung.
Mit 1 2 Jahr bemerkt.
Schwere Ge¬
burt.
Mit 14 Mon. Schar¬
lach - Diphtberitis,
danach Ver¬
schlimmerung
der Lähmung.
Mit 11 Monaten.
Schwere Ge¬
burt Asphyxie.
8 St. nach der Geburt
Gehirnkrämpfe und
halbseitige Läh¬
mung.
Sehr schwere
Geburt.
Mit 2 7* J. Nieren¬
entzündung.
Einige Monate nach
der Nephritis plötz¬
liche Hemiplegie.
Zangengeburt
(sehr schwierig).
—
Gleich nach der Ge¬
burt.
Zangengeburt.
Asphyxie.
1
Am 2. Tage nach
d. Geburt Krämpfe,
mit 4 Monat. Hemi¬
plegie.
Zangengeb urt
(ungeschickte
Zangenanle¬
gung).
Bald nach der Ge¬
burt.
Zangengeburt
(ungeschickte
Zangenanle¬
gung).
Bereits in den ersten
Wochen.
Zangengeburt.
Mit 4 Monat. Ma¬
sern.
Nach Masern trat die
Hemiplegie auf.
Zangengeburt
(Mutter alte
Primipara).
Im 6. Monat
Keuchhusten.
Im 7. Monat.
|
Zangengeburt.
Im 7. Monat Nie¬
renentzündung.
Nach der Nephritis.
Aetiologie
Schwere Geburt
(beredit.Belastung).
Psychisches Trauma
der Mutter intra
graviditatem (?) +
schwere Geburt.
Schwere Geburt.
Schwere Geburt.
Schwere Geburt (?)
+ Nephritis.
Zangengeburt.
Zangengeburt.
Zangengeburt.
Zangengeburt.
Zangengeburt (?) -f-
Masern.
Zangengeburt (?)
Keuchhusten.
Zangengeburt (?) +
Nierenentzün¬
dung.
Digitized by v^.oo5Le
244
James Frankel.
Wie-
’cö
Name
vieltes
Kind?
24
Gertrud M.
2.
Hereditär
Sch wangersch aft
_
Im 3. Monat der Schwanger-
schaft hat sich die Mutter
verbrüht und dabei sehr
erschreckt.
25
Marie A.
3.
Vater an Tuberkulose ge¬
storben.
26
J. D.
Vater lungenkrank.
27
Hans H.
2 .
Mutter leidet an Schwindel.
Ein jüngerer Bruder hat
wie H. Nystagmus.
28
Hildegard P.
2 .
Bei einer jüngeren Schwe¬
ster ist der Schädel wie
bei H. unsymmetrisch ge¬
staltet.
29
Günther P.
3.
Mutter epileptisch.
Während der Schwanger¬
schaft starben zwei ältere
Knaben an Scharlach, was
die Mutter psychisch sehr
angriff.
30
Max H.
4.
31 Johann H. ?
32 Erwin E. 1.
33 Betty A. J 1.
34 Johanna F. 6.
35 Paul Sch. 1.
Die Mutter litt an Hyper-
emesis gravidarum.
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Die infantile cerebrale Hemiplegie.
245
Geburt
Extrauterine
Erkrankung
Die ersten Zeichen
der Krankheit
wurden bemerkt
Aetiologie
' ■ ji
—
Gleich nach der Ge¬
burt.
Psychisches Trauma
der Mutter intra
graviditatem (?).
—
—
Im erstenVierteljahr.
Hereditär-tuberku¬
löse Belastung (?).
—
—
Im 8. Monat.
Hereditär-tuberku¬
löse Belastung (?).
—
—
Im ersten Jahr, mit
Krämpfen begin¬
nend.
Familiär. Moment (?).
—
—
Als das Kind zu lau¬
fen anfing.
Familiär. Moment (?).
—
Im 2. Jahr Dys¬
enterie.
Nach der Genesung
wurde die Lähmung
bemerkt.
Hereditäre Bela¬
stung (?), psychi¬
sches Trauma der
Mutter intra gravi¬
ditatem (?) -f- Dys¬
enterie.
(Das Kind war von
Geburt an auf¬
fällig still), mit
V* Jahr Schar¬
lach.
Bald nach dem Schar¬
lach.
Pränatal. Moment (?)
+ Scharlach.
Mit 2 Jahren Schar¬
lach.
Nach dem Scharlach
trat d.Lähmung auf.
Scharlach (?).
—
Mit 1 1 /4 J. fieber¬
hafter Darm¬
katarrh.
Danach wurde die
Lähmung bemerkt.
Dysenterie.
—
Im 4. Jahre Ma¬
sern.
Nach den Masern trat
die halbseitige Läh¬
mung auf.
Masern.
Kurz vor dem Auf¬
treten der Läh¬
mung starker Lun-
genkatarrh.
Im 6. Monat.
Lungenkatarrh.
Mit 3 Wochen
Darmkatarrh, da¬
nach Lungenent¬
zündung.
Danach wurde die
Hemiplegie be¬
merkt.
Trauma des Fötus in
utero (?) + Lun¬
genentzündung.
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246
James Fränkel.
Zahl
Name
Wie¬
vieltes
Kind?
Hereditär
Schwangerschaft
86
Nanny V.
o
?
9
37
Hans K.
I
2.
—
In der ersten Zeit der
Schwangerschaft litt die
Mutter an starkem Er¬
brechen.
38
M. E.
i
?
39
Erika W.
3.
—
40
Heinrich T.
1 .
i
—
—
41
Wilhelm E.
?
—
—
42
Heinrich H.
?
?
?
43
Käthe T.
1.
—
—
44
Hans R.
3.
—
—
45
Helmuth Oe.
1 .
—
—
Aetiologie. Im allgemeinen stimmt man darin überein,
daß die Aetiologie der infantilen cerebralen Hemiplegie keine ein¬
heitliche ist, wenn auch das klinische Bild der Krankheit äußerst
scharf charakterisiert zu sein scheint. Die von verschiedenen Ge¬
sichtspunkten ausgegangenen Bestrebungen, die Einheit der halb¬
seitigen cerebralen Kinderlähmung auf ätiologischer Basis zu errichten,
sind bis jetzt ebenso ergebnislos gewesen wie Strümpells Versuch,
der Krankheit eine einheitliche anatomische Grundlage zu geben.
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Die infantile cerebrale Hemiplegie.
247
Geburt
Extrauterine
Erkrankung
Die ersten Zeichen
der Krankheit
wurden bemerkt
Aetiologie
—
Im 10. Monat Ge¬
hirnhautentzün¬
dung.
Im Anschluß daran
Lähmung des linken
Armes.
Meningitis (?).
Mit 2 Jahren plötz¬
lich Erbrechen u.
Fieber.
Danach Lähmung.
Encephalitis (?).
Im 11. Jahr Un¬
wohlsein, Bewußt¬
losigkeit, Zuckun¬
gen am ganzen
Körper und Fie¬
ber bis 40°.
, Danach rechtsseitige
Lähmung.
Encephalitis (?).
—
Im 2. Jahr Gehirn¬
entzündung.
Danach halbseitige
Lähmung.
Encephalitis.
Als Pat. V 2 Jahr
alt war, fiel ihm
eine Baustange
auf den Kopf.
3 Wochen später
halbseitige Läh-
muug.
Extrauterin.Trauma.
—
Pat. fiel im Alter
von 2 Jahren aus
dem 2. Stockwerk.
Gleich danach halb¬
seitige Lähmung.
Extrauterin.Trauma.
Im 5. Jahr fiel Pat.
vor Schreck hin.
Danach Krämpfe u.
Lähmung.
Extrauterin.Trauma.
—
Mit 7 Mon. Zahn-
krämpfe.
Danach Lähmung.
Zahnkrämpfe.
Etwas schwer.
Mit 1 Jahr Zahn¬
krämpfe.
Danach Lähmung.
Zahnkrämpfe.
—
Mit 6 Mon. Zahn¬
krämpfe.
Danach Lähmung.
Zahnkrämpfe.
Freud, dem wir eine mustergültige Darstellung der infantilen
Cerebrallähmung verdanken *), stellt den Satz auf, daß in der über¬
wiegenden Mehrheit der Fälle die Affektion extrauterin erworben wird.
In nahezu einem Drittel der acquirierten Fälle wird nach Freud
die Affektion auf eine Infektionskrankheit zurückgeführt, für die
Hälfte wird ein ätiologisches Moment überhaupt nicht gefunden
! ) Freud, Die infantile Cerebrallähmung. Wien 1897.
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248
James Frankel.
und für den Rest wird die Krankheit mit Schreck und Kopf¬
trauma in Zusammenhang gebracht. Das Verhältnis der ex¬
trauterin erworbenen zu den kongenitalen Fällen — die
letzteren erkennt Strümpell überhaupt nicht an — läßt sich nach
einer in der Freudschen Monographie enthaltenen Tabelle berechnen.
Danach betragen die kongenitalen Fälle, zu denen sowohl die während
des Intrauterinlebens wie die während des Geburtsaktes entstandenen
Fälle zu rechnen sind, 15°/o. Der Beginn der Erkrankung wird
also von den meisten Autoren in die extrauterine Periode
verlegt, und hier ist es wieder das erste Jahr, das nach einstimmigem
Urteil in der Frequenz obenan steht. Da nun das Alter bei der
Erkrankung nur als der Zeitpunkt verstanden werden kann, in dem
die Krankheit bemerkt worden ist — damit aber braucht der wirk¬
liche Beginn der Affektion noch lange nicht übereinzustimmen, —
halte ich, wie ich später noch ausführen werde, eine Einteilung in
kongenitale und extrauterine Fälle nicht für zweckmäßig.
Wenn wir den Zeitpunkt des Beginnes der in Rede stehenden
Krankheit beurteilen wollen, bleibt uns in der Regel nichts anderes
übrig, als die anamnestischen Angaben der Eltern und Angehörigen
des Kindes zu benutzen. Ein jeder weiß, wie schwierig es ist, ge¬
rade über Kinder zuverlässige Daten zu erhalten, zumal wenn here¬
ditäre Verhältnisse berührt werden müssen. Oft liegen noch dazu
Jahre, zuweilen Jahrzehnte hinter den ersten Zeichen der Affektion
zurück, und dann wird auch den Eltern vielfach die Erinnerung an die
halbvergessenen Vorkommnisse nicht leicht. Um aber ein möglichst ein¬
wandfreies Urteil über die eigentliche Aetiologie zu bekommen, darf es
uns nicht genügen, zu wissen, in welchem Alter die Krankheit be¬
merkt worden ist, sondern wir müssen weiter zurückgehen.
Sowohl alle hereditären und während des Intrauterin¬
lebens wirksamen Momente, die man als pränatale zusammen¬
faßt, wie auch die Störungen während des Geburtsaktes
selbst sind zu berücksichtigen und ebenso sorgfältig müssen alle
extrauterinen Einflüsse ins Auge gefaßt werden. Ich habe
eine alle diese Faktoren möglichst berücksichtigende Tabelle
nach unseren Krankengeschichten zusammengestellt. Die meisten'
Anamnesen habe ich durch persönliche Rücksprache oder wo das
nicht anging, durch Aussendung von Fragebogen gewonnen. Es
war mir oft nicht leicht, zu dem gewünschten Ziele zu gelangen;
einige wenige Fälle, wo ich die betreffenden Daten aus äußeren
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Die infantile cerebrale Hemiplegie.
249
Gründen nicht erhalten konnte oder diese in den älteren Kranken¬
geschichten nicht mehr vorfand, sind in der Tabelle fortgeblieben.
Aus dieser Zusammenstellung haben sich mir nun zunächst
folgende Schlüsse ergeben:
1. In der Mehrzahl der Fälle liegen mehrere ätiologische
Momente vor.
2. In der Majorität der Fälle finden sich pränatale
Momente.
3. Die ätiologische Bedeutung der Infektionskrankheiten
ist eine bedingte.
Die von mir an erster Stelle hervorgehobene Tatsache, das
häufige Zusammentreffen mehrerer ätiologischer Faktoren hat Freud,
ohne darauf näher einzugehen, treffend als Konkurrieren der ätiolo¬
gischen Momente bezeichnet. Auch W. König, einem um die Er¬
forschung der cerebralen Kinderlähmung sehr verdienten Autor, ist
dieselbe Tatsache aufgefallen. Wenn Königs Unterscheidung
zwischen eigentlich ätiologischen und prädisponierenden, bezw. eine
Prädisposition dokumentierenden Momenten, wie er selbst zugibt,
auch nicht streng durchgeführt werden kann, so muß ich ihm doch
darin beistimmen, daß die zahlreichen von ihm genannten ätiologi¬
schen Faktoren, die auch in meinen Anamnesen fast sämtlich wieder¬
kehren, eine gewisse Bedeutung haben. Ich halte es aber für
wichtiger, im einzelnen Falle den jeweiligen Wert der be¬
treffenden Momente zu prüfen und vor allem ihre gegen¬
seitigen Beziehungen, soweit es angeht, festzustellen.
Indem ich von diesem Gesichtspunkt aus die Wertigkeit der
ätiologischen Faktoren prüfe, beginne ich bei der hereditären
Lues.
Die ätiologische Bedeutung der Syphilis ist bei der
in Rede stehenden Krankheit sehr verschieden beurteilt worden. Am
weitesten gingen Fournier und Erlenmeyer, indem Fournier
die „Littlesche Aetiologie“, d. h. die Frühgeburt und die schwere
Geburt, und andrerseits Erlenmeyer die infektiöse Entstehung
der cerebralen Kinderlähmung gegenüber der Syphilis ganz in den
Hintergrund stellen. In unseren Fällen kommt die Syphilis wieder¬
holt vor. Indem ich zwischen Syphilis der Eltern und hereditärer
Syphilis wohl unterscheide, finden sich unter unseren Beobachtungen
4 sichere Fälle, denen sich 2 verdächtige anreihen lassen. Bei der
Schwierigkeit, gerade nach dieser Richtung zuverlässige Daten zu er-
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250
James Fränkel.
halten, glaube ich, daß die Lues auch in unseren Fällen wohl noch
häufiger im Spiele gewesen ist. Um nun zu entscheiden, ob sie in den
betreffenden Fällen wirklich der ausschlaggebende ätiologische
Faktor war, müssen die jeweiligen konkurrierenden Momente berück¬
sichtigt werden. Werden solche vermißt, und tritt die Lähmung entweder
gleich nach der Geburt oder bald danach apopletikform auf, so halte
ich es für statthaft, die Lues selbst als Ursache der Krankheit an¬
zuschuldigen. Solche Verhältnisse aber liegen in allen unseren
sicher erwiesenen Fällen von Lues hereditaria vor. — In
einem der beiden anderen Fälle, die ich hier nicht verwende, trat
die Lähmung nach einem Jahr im Gefolge von Masern auf.
Wenn Erlen meyer die Meinung äußert, daß das Auftreten einer
cerebralen Kinderlähmung nach einer akuten infektiösen Erkrankung
die Manifestation einer bis dahin latent gewesenen kongenitalen
Syphilis bedeutet, so halte ich es zwar für verkehrt, diesen Stand¬
punkt so zu verallgemeinern, bin aber mit Rücksicht auf noch später
mitzuteilende Beobachtungen meinerseits in der ätiologischen Be¬
wertung der die Lähmung scheinbar auslösenden Infektionskrank¬
heiten vorsichtig. Wie in anderen Gebieten der Pathologie, glaube
ich, daß gerade bei der hereditären Syphilis kongenitale
Verhältnisse ihre Wirkung erst nach der Geburt äußern
können, und daß hinzugekommene Geburtsschädlichkeiten oder
extrauterine Einflüsse häufiger, als man denkt, nur die auslösenden
Momente darstellen. — Das Wesen der luetischen Prädis¬
position ist wahrscheinlich in einer durch Gefäßerkrankung
entstandenen hämorrhagischen Diathese zu erblicken, wofür
auch Mraceks Beobachtung der Syphilis haeraorrhagica neonatorum
zu sprechen scheint.
Familiäre Momente, Alkoholismus und Phthisis in der Aszen-
denz, sowie psycho-neurotische Heredität, namentlich Epilepsie,
finden sich als konkurrierende Momente, bisweilen auch als einzige
ätiologische Faktoren in unseren Anamnesen häufiger angegeben.
Von den noch während des Fötallebens wirksamen Noxen
spielt, wie es scheint, auch das den graviden Uterus treffende
Trauma eine nicht unbedeutende Rolle. Es unterliegt wohl keinem
Zweifel, daß durch intraabdominelle Raumbeengung (Beckenenge,
großer Tumor etc.) die Entwicklung des Fötus ebenso geschädigt
werden kann, wie durch ein Trauma, das die Mutter während der
Schwangerschaft erleidet. Daß Traumen, die auf den graviden Uterus
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Die infantile cerebrale Hemiplegie.
251
wirken, sogar direkt eine Hemiplegie erzeugen können, dafür hat
Cotard Beispiele beigebracht. Gewisse Schädigungen, von denen
bei Besprechung der pathologischen Anatomie noch die Rede sein
wird, könnten mit den eben genannten Traumen in Zusammenhang
gebracht werden.
Auch dem psychischen Trauma während der Gravidität
(Schreck, Aufregung der Mutter) wird eine ätiologische Bedeutung
beigemessen.
Besondere Aufmerksamkeit verdienen die Störungen des
Geburtsaktes. Wenn auch die Littlesche Aetiologie, d. h.
die Frühgeburt und die schwere Geburt, um die es sich hier han¬
delt, bei den cerebralen Diplegien *) eine größere Rolle spielen als
bei den Hemiplegien, so verpflichtet mich doch das nicht seltene
Vorkommen von Geburtsstörungen auch bei der infantilen Hemi¬
plegie, auf dieses Thema näher einzugehen, zumal da über die
eigentliche Bedeutung der Littleschen Momente bis jetzt noch sehr
wenig Zuverlässiges bekannt ist.
Mit Recht warnt Lovett in seiner Arbeit über die cerebrale
Kinderlähmung davor, die Bedeutung der Littleschen Aetiologie für
die Entstehung der Krankheit zu überschätzen.
Wenn man in diesem Punkte zu einer möglichst klaren Auf¬
fassung gelangen will, so kann das meines Erachtens auch hier nur
dadurch geschehen, daß in jedem besonderen Falle alle konkur¬
rierenden Momente ins Auge gefaßt und ihre Wertigkeit genau
gegeneinander abgewogen werden. Auf diese Weise komme ich
nach meinen Beobachtungen bei der cerebralen Hemiplegie zu dem
Schluß, daß den verschiedenen Littleschen Momenten eine
verschiedene ätiologische Wertigkeit beizumessen ist.
Es ist ja bekannt, daß die Frühgeburt zu dem Symptomenkomplex, den
Hoffa Littlesche Krankheit im engeren Sinne nennt, besonders dispo¬
niert, während die schwere Geburt häufiger Beziehungen zur allge¬
meinen Starre hat. Dieses Verhältnis hat auch Gläßner in der Zu¬
sammenstellung aus der Hoffa sehen Klinik vorgefunden. Da diese
Beziehungen aber für die Erklärung der Krankheitserscheinungen
nicht ausreichen, blieb den Autoren nichts anderes übrig, als, unbe¬
friedigt, ihre Zuflucht zu der Annahme zu nehmen, daß tiefer ge-
*) Gläßner, Die Littlesche Krankheit. Zeitschr. f. orthopäd. Chirurgie
1904, Bd. 13.
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252
James Fränkel.
legene noch unbekannte Ursachen bei der Littleschen Krankheit
im Spiele stehen müßten. Wenn ich demgegenüber behaupte, daß
man doch in gewisser Hinsicht berechtigt ist, die ätiologische Be¬
deutung der Littleschen Symptome etwas schärfer zu beurteilen,
so veranlaßt mich hierzu ein nahezu gesetzmäßiges Verhalten,
das ich bei den cerebralen Hemiplegien beobachtet habe.
Indem ich bei der Frühgeburt beginne, stelle ich zunächst
fest, daß die Frühgeburt, die übrigens in unseren Fällen fast immer
mit Asphyxie verbunden war, niemals als einziges ätiolo¬
gisches Moment gelten konnte. Entweder war der Geburt ein
Trauma, das die Mutter erlitten hatte, unmittelbar vorangegangen,
oder es hatten abnorme intraabdominelle Raumverhältnisse bestan¬
den. In den übrigen Fällen lag gleichzeitig hereditäre Lues vor.
Wenn man nun die eben genannten konkurrierenden Momente be¬
rücksichtigt, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß
vermutlich in diesen selbst die Ursache der Frühgeburt
zu sehen ist. Ob sie auch gleichzeitig die Hemiplegie verursacht
haben, ist nicht mit Sicherheit zu sagen. Wahrscheinlich spielt die
Frühgeburt nur die Rolle eines eine bereits bestehende anderweitig
verursachte Schädigung (hämorrhagische Diathese) unterstützenden
Faktors. Es wäre interessant, wenn diese Verhältnisse auch bei
der Littleschen Krankheit, bei der die Frühgeburt als das häu¬
figste der veranlassenden Momente genannt wird (bei Gläßner in
33,8°/o), ebenso konstant vorliegen würden.
Wa9 die schweren Geburten anbetrifft, so gilt für einen
Teil derselben ebenfalls das bei den Frühgeburten Gesagte, in den
anderen Fällen darf bei dem Fehlen sonstiger konkurrierender Mo¬
mente entweder das Geburtstrauma selbst beschuldigt
werden oder es muß die zuweilen die Lähmung erst später aus¬
lösende Infektionskrankheit als ätiologischer Faktor her¬
angezogen werden.
Einen ganz eindeutigen Befund ergaben mir die Zangen¬
geburten. Ich halte es nicht für einen bloßen Zufall, daß hier
durchweg konkurrierende Momente in den Anamnesen
fehlen (siehe Tabelle I). Regelmäßig handelt es sich (mit einer
Ausnahme) um Erstgeborene. Meist erhielt ich dazu eine ganz
typische Anamnese, die besagte, daß sehr lange, zuweilen
Stunden gebraucht wurden, um das Kind zu extrahieren, und
daß dabei ungeschickt verfahren war. In der Mehzahl der
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Die infantile cerebrale Hemiplegie.
253
Fälle wurde dann die Lähmung gleich nach der Geburt von den
Eltern bemerkt.
Hier sehe ich in dem Geburtsakt selbst und zwar in der not¬
wendig gewordenen Zangenapplikation die Ursache der
Lähmung. Jede andere Erklärung scheint mir gezwungen. Auch
finde ich es durchaus plausibel, daß die von Virchow als Ursache
der Menningealhämorrhagie bei der Geburt gefundene Uebereinander-
schiebung der Scheitelbeine eine direkte Wirkung der Zangen¬
löffel ist, noch zumal wenn viel und lange gezogen worden ist.
Ich werde in meiner Ansicht dadurch unterstützt, daß bereits früher
die Druckwirkung der Zange bei der Extraktion als Ursache einer
Hemiplegie angeschuldigt worden ist (v. Monakow, v. Kahl den).
Bezüglich der Littlesehen Aetiologie resümiere ich mich
dahin: Die Littleschen Momente finden sich auch bei
der cerebralen Hemiplegie und zwar häufiger, als man
bisher glaubte. Ihre ätiologische Bedeutung ist eine ver¬
schiedene. Eine direkt ätiologische Rolle kann die Zangen¬
geburt und sonstige schwere Geburt spielen. Bei dem Rest
der schweren Geburten und bei den Frühgeburten ist den
konkurrierenden Faktoren die größere ätiologische Be¬
deutung beizumessen. —
Das klinische Bild der cerebralen Kinderlähmung wird in den
meisten Lehrbüchern derart geschildert, als handle es sich um eine
fieberhafte Infektionskrankheit. Für diese Auffassung waren ins¬
besondere die Bestrebungen maßgebend, die die gesamte Aetiologie
der cerebralen Kinderlähmung auf eine infektiöse Grundlage zurück¬
führen wollten. Die eigentliche Veranlassung hierzu gab die Strüm¬
pei Ische Lehre von der akuten Encephalitis. Heuzutage weiß man,
daß diese Encephalitis, auf die ich später noch zurückkomme, sicher
keine allgemeine Geltung hat, und daß die cerebrale Kinderlähmung
im Gefolge von fast sämtlichen uns bekannten Infektionskrankheiten
auftreten kann.
Wenn es schon von vornherein in manchen Fällen berechtigt
erscheint, das Zusammentreffen von Lähmung und Infektionskrank¬
heit nur für ein zufälliges zu halten, da der strikte Beweis eines
ursächlichen Zusammenhanges doch selten geführt werden kann, so
erscheint mir dieser Zweifel nach einer Beobachtung, die ich zu
machen Gelegenheit hatte, durchaus berechtigt. Zunächst betone
ich, daß in den meisten Fällen, wo ich zuverlässige Anamnesen er-
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254
James Fränkel.
heben konnte, neben der Infektionskrankheit konkur¬
rierende Momente Vorlagen.
Ferner veranlaßt mich folgende Erfahrung, die ätiologische
Bedeutung der Infektionskrankheiten nicht zu überschätzen: Be¬
kanntlich kommt es nicht zu selten vor, daß eine völlig ausgebildete
Lähmung nach einer beliebigen Infektionskrankheit sich wesentlich
verschlimmert. Aber auch in solchen Fällen, wo die Eltern mir
zunächst angegeben hatten, daß die Lähmung bei ihrem Kinde
unmittelbar nach einer Infektionskrankheit aufgetreten sei, berich¬
tigten sie nach einigem Besinnen ihre erste Auskunft dahin,
daß doch schon vor der Infektionskrankheit die eine
Körperhälfte merklich schwächer war als die andere, was
sich in meist besonderer Weise äußerte. Ich verweise auf die be¬
treffenden Krankengeschichten. Natürlich wird man derart detaillierte
Angaben nur von Eltern erhalten können, die ihre Kinder sorgfältig
beobachtet haben, — wenn zwar auch gerade in der Halbseitigkeit
der Affektion ein leichtes Kriterium für ihre Erkennung liegt.
Jedenfalls aber muß ich auf Grund der eben erwähnten Beobach¬
tung, die ich zu wiederholten Malen machen konnte, in der ätio¬
logischen Bewertung der Infektionskrankheiten zur Vor¬
sicht raten, umsomehr, als genau in demselben Sinne ein kürzlich
von Neurath 1 ) publizierter Sektionsbefund beurteilt werden muß,
den ich seines prinzipiellen Wertes wegen hier kurz wiedergebe:
Ein bisher ganz gesunder 2 jähriger Knabe erkrankte an
Scharlach, woran sich eine rechtsseitige Hemiplegie anschloß. Exitus.
Die Obduktion ergab zahlreiche sklerotische Herde, namentlich in
der motorischen Region der linken Hemisphäre. Aus der mikro¬
skopischen Untersuchung mußte der Schluß gezogen werden, daß
der Beginn des Prozesses in eine frühe Epoche der fötalen Ent¬
wicklung zu verlegen ist. Es handelte sich also um ein schon
lange vorher geschädigtes Gehirn, das in seinem schwächsten Teil
(linke Hemisphäre) den Scharlachtoxinen den geringsten Widerstand
bot. So erklärt auch Neurath die rechtsseitige Lähmung. Ohne
Sektion aber hätte man wohl sicher dem Scharlach die alleinige
Schuld beigemessen.
In analoger Weise ist wahrscheinlich in gewissen Fällen, wo
*) Neurath, Arbeit aus dem Institut für Anatomie und Physiologie
des Zentralnervensystems zu Wien 1899, Heft 6.
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Die infantile cerebrale Hemiplegie.
255
durch konkurrierende Momente (Zangengeburt, schwere Geburt etc.)
bereits ein Locus minoris resistentiae geschaffen war, das Toxin
der Infektionskrankheit als auslösender Faktor anzusehen,
dem ebenso auch die Verschlimmerung einer schon vorher be¬
stehenden Lähmung zugeschrieben werden muß. Von dem diphthe¬
rischen Gifte insbesondere ist ja bekannt, daß es nicht nur auf die
peripheren Nerven, sondern auf den ganzen Nervenapparat wirkt
und gewisse Gebiete toxisch schädigen kann, ohne sie strukturell
zu verändern. Natürlich ist die Wirkung der Infektionskrankheiten
nicht immer dieselbe. Im Anschluß an Scharlach auftretende Nieren¬
entzündung und Endokarditis können ebenfalls als Vermittler der
Lähmung eine Rolle spielen (Hämorrhagie, Embolie).
Ob die schon oben genannte von Strümpell beschriebene
Encephalitis acuta, auch Polioencephalitis genannt, als Ur¬
sache der cerebralen Kinderlähmung gelten kann, und in welcher
Häufigkeit das geschehen darf, darüber fehlt uns vorläufig noch
ein sicherer Anhalt. Daß der cerebralen Kinderlähmung in einer
Anzahl von Fällen ein encephalitischer Prozeß zu Grunde liegt, wird
wahrscheinlich gemacht einmal durch das Vorkommen der nicht
eitrigen akuten Encephalitis bei Erwachsenen (Wernicke, Strüm¬
pell, Leichtenstern). Vor allem aber muß die Aehnlichkeit
mit der spinalen Kinderlähmung den Gedanken nahelegen, daß es
sich auch bei der cerebralen Affektion um einen verwandten infek¬
tiösen Prozeß handeln könnte. Ja die Identität beider Krankheiten,
die sich eben dann nur als verschiedene Lokalisationen desselben
Prozesses äußern, scheint durch jene gerade in letzter Zeit häufiger
beobachteten Fälle nahegelegt zu werden, wo spinale und cerebrale
Kinderlähmung in einer Familie zu derselben Zeit aufgetreten sind
oder sogar ein Kind gleichzeitig befallen haben. Erst die Unter¬
suchungen von Goldscheider und Kadyi haben uns das richtige
Verständnis der Poliomyelitis gelehrt, insofern sie zeigten, daß es sich
hier durchaus nicht etwa um eine systematische und auf die Vorder¬
hornzellen sich beschränkende Erkrankung handelt, wie man vorher
glaubte. Sie führten vielmehr den wichtigen Nachweis, daß die Aus¬
breitung des Krankheitsherdes genau der Gefäßverzweigung im
Rückenmarke entspricht, daß ein Reizzustand der Gefäße
das Primäre und die Degeneration der Vorderhornzellen
das Sekundäre ist. Nach Goldscheiders Untersuchungen handelt
es sich also bei der Poliomyelitis anterior acuta um eine vasku-
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XV. Bd. 17
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256
James Frankel.
läre infektiöse Erkrankung, und ich glaube, daß es nicht un¬
berechtigt ist, im Sinne Maries dieselbe Anschauungsweise auch auf
die cerebrale Kinderlähmung für gewisse Fälle zu übertragen. — Der
sichere Beweis hierfür aber kann erst durch einen entsprechenden
Sektionsbefund geliefert werden.
Mit der Apoplexie der Erwachsenen kann bei dem Kinde
das Vorkommen der Hemiplegien nach Keuchhusten in Parallele
gesetzt werden. Die mechanische, auf Gefäßzerreißung basierende
Entstehung der Hemiplegie ist mit Rücksicht auf die beim Keuch¬
husten so häufig erfolgenden Blutungen ins Bindegewebe der Augen¬
lider, der Konjunktiven, aus Nase und Ohr, a priori wahrscheinlich
und wird durch Sektionsbefunde sichergestellt. Daß in vereinzelten
Fällen das Keuchhustentoxin zur Erklärung der Lähmung heran¬
gezogen werden muß, brauche ich nach meinen früheren Aus¬
führungen nicht erst zu begründen.
Was die Entstehung der hemiplegischen Lähmung infolge von
Zahnkrämpfen betrifft, so ist hier die Anamnese am wenigsten
zuverlässig, da ja bekanntlich auf dem Gebiete der Dentition der
Aberglaube eine große Rolle spielt. Häufig sind demnach die
Krämpfe beim Zahnen (Zahnfraisen) mit einer mangelhaften Beob¬
achtung in Zusammenhang zu bringen; doch glaube ich, daß auch
gelegentlich, besonders beim Durchschneiden der Eckzähne, der Blut¬
drang zum Hirn genügt, um eine Blutung zu erzeugen.
Ein im extrauterinen Leben den Schädel treffendes Trauma
kann natürlich die Hemiplegie genau so gut veranlassen wie ein
Geburtstrauma. Ich brauche darauf nicht näher einzugehen.
Wenn ich nunmehr mein Urteil über die Aetiologie der infan¬
tilen cerebralen Hemiplegie zusammenfasse, so erkenne ich zunächst
die Mannigfaltigkeit der in Betracht kommenden Faktoren
an. Ich stelle ferner fest, daß äußerst häufig Beziehungen aus
der fötalen Epoche in das extrauterine Dasein hinüber¬
reichen und halte es deswegen auch für unrichtig, die infantilen
Cerebrallähmungen in pränatale, Geburtslähmungen und akquirierte
Formen einzuteilen (Sachs u. a.). Aeußerst wichtig für die ätio¬
logische Betrachtung scheint mir, daß die Läsionen am häufig¬
sten in der motorischen Zone des Gehirns liegen, in dem
Verbreitungsgebiet der Arteria cerebri media. Hierin
kommt eben die von der Hemiplegie der Erwachsenen her be¬
kannte Tatsache wieder zum Ausdruck, daß die genannte Arterie
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Die infantile cerebrale Hemiplegie.
257
einen Locus minoris resistentiae für Zirkulationsstörungen darstellt.
Indem ich weiterhin mit Rücksicht auf die Aetiologie der cere¬
bralen Kinderlähmung auf das große, von Charcot erkannte
Gesetz hinweise, daß im Gehirn das Gefäßsystem die Sachlage be¬
herrscht und damit die Bedingungen der Erkrankung, glaube ich,
daß sämtliche von mir genannten Faktoren, so mannig¬
faltig sie auch erscheinen mögen, sich doch leicht auf ein
gemeinsames ursächliches Moment zurückführen lassen.
Mag eine luetische oder akut entzündliche Gefäßerkrankung, eine auf
verschiedene Weise entstandene hämorrhagische Diathese, Embolie,
Thrombose oder traumatische Hämorrhagie Vorgelegen haben, immer
war ein vaskuläres Moment die eigentliche Ursache und
alle sonstigen-Erscheinungen sind sekundärer Natur.
Auch die Befunde der pathologischen Anatomie lassen sich mit
dieser ätiologischen Betrachtungsweise in Einklang bringen.
Pathologische Anatomie. Die meisten Autopsien bei der
infantilen Cerebrallähmung liegen hinter dem eigentlichen Beginn
der Erkrankung eine Reihe von Jahren, ja oft Jahrzehnte zurück,
und somit können sie uns nur die Kenntnis der Endveränderungen
übermitteln. Da nun aber der gleiche anatomische Befund von den
verschiedensten Initialläsionen herrühren kann, und andererseits eine
bestimmte Initialläsion zu den verschiedensten Endveränderungen
führen kann, so ist man bei der bunten Mannigfaltigkeit der Sek¬
tionsbefunde noch immer nicht zu einer Einigung über die anatomische
Grundlage der cerebralen Hemiplegie gekommen, und daher gelang
es auch nicht, von dieser Seite her für die Krankheit eine einheit¬
liche Basis zu schaffen. Wenn ich gleichwohl die Vermutung aus¬
spreche, daß auch die Ergebnisse der pathologischen Anatomie einem
solchen Bestreben nicht hinderlich sind, so stütze ich mich hierbei,
da mir eigene pathologisch-anatomische Untersuchungen fehlen, auf
die in der Literatur vorhandenen Angaben und auf die Schlüsse,
die ich aus ätiologisch-klinischen Betrachtungen auf das Wesen des
Prozesses ganz allgemein ziehen muß.
Zu den Endveränderungen rechnet man im allgemeinen
1. Plaques jaunes,
2. Cysten und Zellinfiltration,
3. die lobäre Sklerose,
4. die Porencephalie.
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258
James Fränkel.
Unter Plaques jaunes sind Rindennarben zu verstehen. Cotard,
dem wir die ersten pathologisch-anatomischen Untersuchungen hier¬
über verdanken, sieht in diesem Befunde beim infantilen wie beim
erwachsenen Gehirn den Endausgang von Erweichungen, die auf
Obliteration von Arterien (Embolie oder Thrombose) zurück¬
zuführen sind.
Auch Cysten und Zellinfiltration, beides im Innern des Gehirns
gelegene Veränderungen, sind wie beim Erwachsenen Endzustände
von Hämorrhagien oder Erweichungen.
Die folgenden pathologischen Befunde sind besonders dem Kindes¬
alter eigentümlich. Die lobäre Sklerose, von der Cotard wohl
mit Recht die Atrophie nicht besonders trennt, besteht in Volums¬
verringerung und Konsistenzvermehrung der Gehirnsubstanz. Ihr
Wesen ist: Hyperplasie des Gliagewebes und Atrophie der Nerven-
elemente. Gerade angesichts dieses Befundes, der meist einen diffuseren
Degenerationsprozeß, sowohl neben grober lokalisierter Herdläsion
als auch bisweilen ohne jede Herderkrankung darstellt, handelt es
sich um die wichtige Entscheidung, ob ein primärer oder ein
sekundärer Prozeß vorliegt. Hier hat meiner Meinung nach
Marie die entscheidende Auskunft gegeben. Aus der Ausbreitungs¬
weise der Sklerose schloß nämlich Marie, daß es sich um einen
sekundären Degenerationsprozeß handelt, dem eine primäre
Gefäßerkrankung, also auch hier eine vaskuläre Initialläsion
vorausgegangen ist. In einem charakteristischen Falle fanden Jen-
drassik und Marie die ausgiebigsten und ersten Veränderungen bei
der lobären Sklerose in der Nähe der Gefäße, indem der Ausgangs¬
punkt genau einem arteriellen Verbreitungsbezirk ent¬
sprach (Wuillamier). Welcher Art diese initiale Gefäßläsion ist,
ob eine Embolie oder eine entzündliche Gefäßerkrankung (Marie
und Schm au ß) Vorgelegen hat, das ist natürlich später nicht mehr
sicher zu entscheiden. — Es muß betont werden, daß durch
neuere Untersuchungen (Bischoff 1 ), Charles L. Dana 2 )) die
Mariesche Lehre gestützt wird. Der Zweck dieser Arbeit verbietet
mir, näher auf diese interessanten Verhältnisse einzugehen. Ich will
nur noch erwähnen, daß in einem Falle Freuds die lobäre Sklerose
h Bischoff, Zur pathologischen Anatomie der cerebralen Kinderlähmung.
Jahrb. f. Psychiatrie u. Neurol. 1901, Bd. 20 Heft 1.
2 ) Charles L. Dana, The Journal of nervous and mental diseases.
Februar 1901. A case of cortical sclerosis, hemiplegy and epilepsy with autopsy
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Die infantile cerebrale Hemiplegie.
259
der Endausgang einer unzweifelhaften Embolie der Arteria cerebri
media war und daß sie in diesem Falle die Grenzen des Arterienbezirkes
trotz langen Bestandes nicht überschritten hatte. Wenn die Aus¬
breitung der lobären Sklerose im kindlichen Alter eine diffusere ist,
so sind nach Wernicke die Besonderheiten der infantilen Hirnsklerose
gegenüber den Endveränderungen bei Erwachsenen einfach durch die
anders gearteten Lebenseigenschaften der fötalen Gewebe zu erklären.
Die Deutung der porencephalischen Defekte — dieselben
teilt man jetzt nach ihrer Beziehung zu den Seitenventrikeln in wahre
und Pseudoporencephalien ein (Weill und Gallavardin) *), — ist
ebenfalls meist nicht leicht, weil die meisten Porencephalien aus dem
Fötalleben stammen. König glaubt diese Defekte, unter Hinweis
auf ihre regelmäßige Lokalisation im Gebiet der Arteria fossae Silvii,
durch fötalen Arterienverschluß infolge von Lues hereditaria erklären
zu können. Kund rat führt sie auf anämische Nekrosen zurück
und die diese veranlassenden Zirkulationsstörungen auf allgemeine
Ernährungsstörungen der Mutter, anormale Entwicklung der Placenta,
krampfhafte Kontraktionen des Uterus und dadurch bedingte Kreis¬
laufstörungen. So verschieden also der Vorgang im einzelnen ist,
immer handelt es sich aber doch, wie ich betone, auch hier
um ein primär vaskuläres Moment. Auch die Bevorzugung
des Gebietes der Arteria cerebri media kann zu Gunsten dieser
Auffassung verwertet werden. Handelt es sich auch bei den Er¬
klärungen Kundrats vorläufig um Hypothesen, so scheinen mir
diese doch mit Rücksicht gerade auf gewisse, früher von mir
erwähnte ätiologische Momente 2 ), die hier wieder zur Geltung
kommen, durchaus fruchtbar und einleuchtend. Nur kurz erwähnen
will ich, daß Porencephalien auch im extrauterinen Leben nach
Schädeltraumen (Hämorrhagien), entstehen können, daß andere Fälle
mit Sicherheit auf Embolie zurückgeführt worden sind (Heubner,
Kreuser), daß Strümpell die Porencephalien auch zu den Aus¬
gängen der akuten Encephalitis zählt. Wie bei der lobären Sklerose
unterscheiden sich kongenitale und erworbene Porencephalien wieder
nur dadurch, daß die gleichen Schädlichkeiten bei der einen während
*) Hemiplegie ceräbrale infantile congenitale avec pseudo-porencephalie etc.
par E. Weill et Gallavardin. Arch. de medecine des enfants 1901, IV Nr. 3.
2 ) Vgl. auch König, Ueber die bei den cerebralen Kinderlähmungen in
Betracht kommenden prädisponierenden und ätiologischen Momente. Berl. Ges.
f Psych. u. Nervenkrankh. Sitzung vom 9. Mai 1898. Neur. Zentralbl. 1898.
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260
James Frankel.
der Fötalperiode, bei der anderen nach der Geburt eingewirkt haben
(Bayer).
Ueber die Entwicklungshemmungen herrscht noch immer
der Zweifel, ob es sich hierbei um primär mangelhafte Anlagen oder
um sekundäre Veränderungen handelt. So schwer, ja unmöglich es
meistens in einer späteren Epoche ist, das Wesen der ursprünglichen
Störung zu ergründen, so kann doch im Hinblick auf die bisher
besprochenen Endveränderungen, die alle auf eine vaskuläre
Initialläsion zurückgeführt werden können, die Möglichkeit
nicht von der Hand gewiesen werden, daß es sich auch hier, viel¬
leicht konstant, um sekundäre Prozesse handelt, die mit fötalen
vaskulär entzündlichen oder jedenfalls vaskulären Vorgängen in Zu¬
sammenhang stehen. Für unsere Auffassung spricht, daß auch bei
der Mikrogyrie von Oppenheim und anderen eine Meningoence¬
phalitis oder Meningealhämorrhagie als da3 primäre Moment ange¬
sehen wird. —
Was die Hirnatrophie betrifft, die meist die ganze Großhirn¬
hemisphäre befällt, so kann sich diese auf die entgegengesetzte Klein¬
hirnhemisphäre erstrecken (Turner) 1 ), ja wie Marinesco jüngst
gezeigt hat, dehnt sich die Hemiatrophie auch auf die Basalganglien,
die Pedunculi, die Brücke, das verlängerte Mark, das Rückenmark, ja
sogar auf die Spinalganglien aus. Besonders wichtig ist die sekundäre
Degeneration der Pyramidenbahnen. Auch da wo eine ausgesprochene
Herderkrankung fehlt, hat Marinesco 2 ) jetzt gewisse Veränderungen
der Nervenzellen vorgefunden, die dort am stärksten sind, wo auch
die Atrophie am stärksten ist, und zwar gilt das sowohl für das
Großhirn wie für das Kleinhirn. Von anderen gelegentlichen patho¬
logischen Befunden bei der infantilen cerebralen Hemiplegie sind der
chronische Hydrocephalus, die chronische Meningitis und Meningo¬
encephalitis hier zu nennen.
Nach der vorangegangenen Schilderung der pathologisch-ana¬
tomischen Endveränderungen kann ich mich über die Initial¬
läsionen kurz fassen, zumal da unsere Kenntnisse über diese noch
recht unvollkommen sind, und ich auch bereits auf sie Bezug ge¬
nommen habe. Zusammenfassend bemerke ich, daß alle Arten von
vaskulären Läsionen, wie Hämorrhagie, Embolie (Ab ercrombie),
*) Turner, These de Paris 1856.
2 ) Marinesco, Deutsche med. Wochenschr. 1902, Nr. 16.
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Die infantile cerebrale Hemiplegie.
261
Thrombose (Gowers), seien sie im Fötalleben oder im Kindesalter
entstanden, das Substrat einer spastischen Hemiplegie bilden können.
Dasselbe gilt von der luetischen Gefäßerkrankung und von der
Meningoencephalitis und Encephalitis. Die hämatogene Ence¬
phalitis kann im Verlaufe anderer Infektionskrankheiten auftreten,
sie kann aber vielleicht auch durch dieselbe Schädlichkeit verursacht
werden, welche die akute spinale Myelitis, die spinale Kinder¬
lähmung, hervorruft. Es handelt sich dann aber nicht um eine Ence¬
phalitis in dem ursprünglichen Sinne der Polioencephalitis Strümpells,
sondern um eine der Poliomyelitis anterior acuta analoge
Form, so wie diese durch die Forschungen von Pierre
Marie, Goldscheider und Marinesco charakterisiert ist, indem
nämlich die Beteiligung der Gefäße als das Hauptmoment
des Krankheitsprozesses verstanden werden muß.
Symptome und klinischer Verlauf. Die ersten Symptome,
die nach meinen früheren Ausführungen mit dem Anfang des Krank¬
heitsprozesses nicht verwechselt werden dürfen, fallen in der über¬
wiegenden Anzahl unserer Fälle in das erste Lebensjahr. Haben
nicht schon gleich nach der Geburt auffällige Zeichen die Aufmerk¬
samkeit der Eltern erregt, so wird meist in den ersten Monaten zu¬
nächst die Schwäche des einen Armes bemerkt, und da häufiger der
rechte als der linke Arm der gelähmte ist (bei unseren Fällen 31mal
rechts, 22mal links), so ist sehr oft die Linkshändigkeit das
erste von den Eltern beobachtete Krankheitszeichen. Die
Schwäche des gleichnamigen Beines macht sich meistens erst später
bemerkbar, wenn das Kind zu laufen anfängt. In anderen Fällen
gehen stürmische Initialerscheinungen, wie Krämpfe, Bewußtlosigkeit,
Erbrechen der Lähmung unmittelbar voran, oder diese entwickelt
sich nach einer der bekannten Infektionskrankheiten, entweder akut
oder in schleichender Form. Ein nicht seltenes Vorkommnis ist
es auch, daß sich nach einer solchen Infektionskrankheit eine
leichte Lähmung, die vorher schon bestanden hatte, wesentlich ver¬
schlimmert. Ist ein schweres Trauma die unmittelbare Veranlassung,
so setzt meistens sofort danach die komplette Lähmung ein. Wenn
demnach entsprechend der verschiedenartigen Aetiologie der Krank¬
heit auch die ersten Erscheinungen verschiedene sind, so scheint
jedoch die Art des klinischen Verlaufes und die Schwere der Er¬
krankung hierdurch nicht wesentlich beeinflußt zu werden, ja der
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262
Jam es Fränkel.
ausgebildete Symptomenkomplex ist sogar ein ganz einheitlicher und
äußerst typischer.
In der Regel ist die obere Extremität stärker befallen als die
untere. Seltener besteht das umgekehrte Verhältnis.
Die Haltung der oberen Extremität ist ganz charakteristisch.
Sie entspricht ungefähr dem Bilde einer partiellen Radialislähmung,
das durch die Spasmen vervollständigt wird. Der Arm ist krampf¬
haft an den Rumpf gepreßt, der Vorderarm steht in halber oder
völliger Pronation und ist rechtwinklig gegen den Oberarm ge¬
beugt. Man fühlt in der Ellenbeuge oft den spastischen Widerstand
der Beugemuskeln. Die Hand hängt volarflektiert und ulnarwärts
leicht abduziert herab. Der Daumen liegt der Hohlhandfläche an
und wird von den meist flektiert gehaltenen übrigen Fingern über¬
deckt. Die funktionellen Störungen sind dann in einem ausgebildeten
Falle sehr erhebliche und bestehen hauptsächlich in der Unfähigkeit,
die Grundphalanx der Finger aktiv zu strecken, den Daumen zu
abduzieren, die Hand zu supinieren und zu dorsalflektieren. Unter
diesen Umständen ist die Hand, zumal da ein starker Spasmus sie
in der falschen Stellung festhält, meist zur völligen Gebraucbsunfähig-
keit verurteilt. Bei intendierten Bewegungen pflegt sich der Spas¬
mus noch zu steigern.
Das Bein ist meist im Kniegelenk leicht gebeugt und der
Fuß befindet sich in Spitzfuß- oder Spitzklumpfußstellung. Häufig
ist die große Zehe rechtwinklig gegen den Metatarsus erhoben.
Die Gangart muß spastisch-ataktisch genannt werden.
Der Steigerung des Muskeltonus entspricht auch eine Erhöhung
der Sehnenphänomene. Fast regelmäßig sind die Sehnenreflexe ge¬
steigert. Fußklonus und Babinskisches Phänomen sind häufig, aber
nicht immer vorhanden. Die Kontrakturen, die aus der anfangs
schlaffen Lähmung hervorgehen, können nach Intensität und Aus¬
breitungsform sehr verschieden sein; eben das charakterisiert die
Kontraktur der infantilen Hemiplegie. So sind bisweilen, während
sonst noch im Arm stärkere Spasmen bestehen, die einzelnen Finger
in abnormen Grenzen frei beweglich, derart, daß sie in den Grund-
und Fingergelenken weit überstreckt werden können.
Wenn auch die geschilderten Symptome die auffälligsten sind,
so bleibt doch die Ausbreitung der Lähmung keineswegs auf Arm
und Bein beschränkt. In mehr als der Hälfte der Fälle fand ich
den gleichseitigen Facialis mitbeteiligt. Die Erkennung der Fa-
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Die infantile cerebrale Hemiplegie.
263
cialisparese stößt hier oft auf Schwierigkeiten, weil die Gesichts¬
muskulatur der gelähmten Seite zuweilen spastisch innerviert ist.
Sehr häufig ist die Differenz der Gesichtshälften nur an einem ge¬
ringen Tieferstehen des einen Mundwinkels, namentlich beim Lachen
und Weinen, zu erkennen. In vereinzelten Fällen tritt allerdings die
Facialislähmung mehr in den Vordergrund, bisweilen sogar so weit,
daß von der Hemiplegie überhaupt nur die Facialisparese übrig ge¬
blieben ist (Freud-Itie).
Wenn es sich auch meist um den unteren Facialis handelt, so
wird doch neuerdings darauf aufmerksam gemacht, daß auch der
Augenast des Facialis in vielen Fällen beteiligt ist.
Komplikationen von seiten des Auges können in Augenmuskel¬
lähmungen bestehen, die zuweilen einen Schluß auf den Sitz des
Krankheitsprozesses gestatten; ferner sind homonyme laterale Hemi¬
anopsie, konzentrische Gesichtsfeldeinschränkung, Pupillenstarre, Ny¬
stagmus und auch Sehnervenatrophie in vereinzelten Fällen beobachtet
worden.
Während Schluckstörungen seltener vorkamen, begegneten
wir Störungen der Sprache häufiger. Diese können einmal in
einer verzögerten Sprachentwicklung bestehen, die der mangelhaften
Gehirnentwicklung überhaupt entspricht, oder es handelt sich um
eine motorische Aphasie, entstanden durch Lähmung des Brocaschen
Zentrums. Das auch von uns beobachtete Vorkommen der Aphasie
bei linksseitiger Lähmung ist wahrscheinlich so zu erklären, daß hier
das Sprachzentrum in die rechte Hemisphäre verlegt werden muß
(Senator) 1 ). Darin darf wohl ebenso wie in der wohlbekannten Tat¬
sache, daß die Aphasie bei der infantilen Hemiplegie selten ein
bleibendes Symptom ist, ein Beweis dafür erblickt werden, daß im
frühen Kindesalter die Funktion der einen Hemisphäre von der an¬
deren zuweilen übernommen wird.
Erstreckt sich die Hemiplegie auch auf die Rumpfmuskulatur,
so entsteht eine Skoliose von dem üblichen Charakter der häufiger
nach spinaler Lähmung auftretenden paralytischen Skoliose. Die
Konvexität der Krümmung ist meist nach der gesunden Seite ge¬
richtet, doch erkennt auch Lovett 2 ) an, daß Lähmungen an der
’) Senator, Aphasie mit linkseitiger Hemiplegie bei Rechtshändigkeit.
Charite-Annalen Bd. 28.
2 ) Lovett, Die Mechanik der normalen Wirbelsäule und ihr Verhältnis
zur Skoliose. 4. Kongreß der Deutschen Gesellschaft f. orth. Chir. 1905.
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264
James Frankel.
rechten ßückenseite bald eine nach links, bald nach rechts gekrümmte
Kurve verursachen können.
Die Störungen der Sensibilität beanspruchen bei der infan¬
tilen Hemiplegie keine große Bedeutung. Sie kommen als Hemi-
anästhesie vor und können sich ferner in Schmerzempfindungen
äußern, die wahrscheinlich als sensible Reizsymptome aufzufassen
sind. Nach neuen Untersuchungen von Gordon ist die Sensibilität
bei den meisten Fällen in allen Qualitäten gestört, und zwar ent¬
spricht der Grad der Sensibilitätsstörung der Intensität der motorischen
Ausfallserscheinung. Je länger indes die motorische Lähmung be¬
steht, desto geringer und undeutlicher werden die sensiblen Stö¬
rungen a ). Interessant ist, besonders für Chirurgen, eine Erschei¬
nung, die Liepmann 2 ) kürzlich als Dissoziation der oberflächlichen
und tieferen Schmerzempfindungen bei cerebraler Hemiplegie kennen
gelernt und beschrieben hat. Von Claparbde sind Störungen des
stereognostischen Sinnes beobachtet worden.
Da die cerebrale Kinderlähmung einen im Wachstum befind¬
lichen Organismus befallt, ist es verständlich, daß in den meisten
Fällen trophische Störungen nicht ausbleiben. Es kommt
sogar vor, daß die Hyperplasie nicht nur in den Vordergrund
tritt, sondern selbst das einzige Herdsymptom bildet (W. König).
Die Wachstumshemmung kann eine allgemeine halbseitige sein, sie
kann aber auch einzelne Glieder besonders und auch diese wieder
in ungleichmäßiger Weise befallen. So fand F 4 r ö 3 ), daß meist der
Oberarm stärker im Wachstum gehemmt ist als der Vorderarm und
an diesem wieder am meisten die Ulna und die ulnarwärts gelegenen
Finger. Mittels des Röntgen Verfahrens wurde an den Knochen Ver¬
schmälerung der Corticalis und Aufhellung der Spongiosa, also eine
trophoneuro tische Knochenatrophie nach dem Bilde der Sudeck sehen
Knochenatrophie gefunden (Kellner, von Rutkowski). Wohl
durchgehends ist an den gelähmten Gliedern eine Atrophie der
Muskeln vorhanden. Das Wesen dieser cerebralen Muskel¬
atrophie ist erst in jüngster Zeit besser erkannt worden. Die
*) A study o i sensations in motor paralysis of cerebral origin based upon
thirty-five cases by A. Gordon. Journ. of Nerv, and Ment. Disease, März 1903.
2 ) Liepmann, Neurologisches Zentralbl. 1904, Nr. 16.
3 ) Fere, Les proportions relatives des os du bras chez les hemiplegiques
infantiles et les degeneres. Comptes rendues des seances de la Societe de Bio¬
logie. Seance du 9. Janvier 1897.
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Die infantile cerebrale Hemiplegie.
265
allgemein verbreitete Anschauung, daß es sich um eine Inaktivitäts¬
atrophie handelt, trifft hier ebensowenig zu wie bei den arthrogenen
Atrophien. Die beste Erklärung gibt noch die Vorstellungsweise,
die von Marin es co und Goldscheider begründet worden ist,
und der sich jetzt Steinert 1 ) angeschlossen hat. Danach wird das
Uebergreifen der absteigenden Degeneration von dem zentralen auf
das periphere Neuron als ein neurophysiologischer Vorgang aufgefaßt.
Es übt also das psychomotorische Neuron auf das periphere einen
trophischen Einfluß aus, so daß die cerebrale Muskelatrophie durch
die Läsion des ersten Neurons bedingt wird. Die cerebrale Muskel¬
atrophie kann sehr früh erscheinen, sie kann hohe Grade erreichen,
kann auch stationär werden, ja sogar völlig zurückgehen.
Ausgesprochene Entartungsreaktion ist nicht vorhanden, doch
wird Herabsetzung der elektrischen Erregbarkeit und auch leichte
qualitative Veränderung beobachtet.
Kälte der gelähmten Extremitäten und blaurote Verfärbung
kommt auch bei der cerebralen Hemiplegie vor, aber nicht in dem
Grade und in der Häufigkeit wie bei der spinalen Kinderlähmung.
Zu den charakteristischen Symptomen der infantilen Hemiplegie
gehören weiterhin die motorischen Reizerscheinungen. Als
solche sind zunächst die Mitbewegungen zu nennen, die in den
verschiedensten Formen beobachtet werden. Es handelt sich bei ihnen
um eine mangelhafte Wirkung der Hemmungsmechanismen, die nach
der von Johannes Müller begründeten und von Westphal aus¬
gebauten Lehre, welche Lewandowsky kürzlich modifiziert 2 ) hat,
einem Stillstand in der Entwicklung zugeschrieben wird.
Eine größere Bedeutung haben die Spontanbewegungen,
die als athetotisch-choreatische Bewegungen die gelähmten
Glieder befallen können. Damit gehen wir zur Betrachtung des
späteren Verlaufes der Krankheit über, in dem die Spätchorea und
weiterhin die Epilepsie eine wichtige Rolle spielen. Durch diese
beiden Krankheitserscheinungen wird der Symptomenkomplex der
infantilen cerebralen Hemiplegie in ganz charakteristischer Weise
vervollständigt..
Man hat drei Stadien der Krankheit unterschieden, das der
spastischen Lähmung, das der Chorea und das der Epilepsie. Der
*) Steinert, Cerebrale Muskelatrophie. Deutsche Zeitschr. f. Nerven-
beilk. 1903, Nr. 24.
2 ) Lewandowsky, Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilkde. Bd. 29 H. 3, 4, 5.
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266
James Fränkel.
Ausgang der hemiplegischen Lähmung kann ein sehr verschiedener
sein. Die Lähmung kann spontan, ganz oder fast völlig verschwinden,
so daß bisweilen nach Jahren nur eine gewisse Ungeschicklichkeit der
einen Hand zurückgeblieben ist. Hervorzuheben ist, daß fast durchweg
das affizierte Bein eine schnellere und ausgiebigere Besserung zeigt
als der Arm. Es kann aber auch die sich entwickelnde Kontraktur
eine sehr schwere Form annehmen und in dieser stationär bleiben.
Häufig treten nun neben der spastischen Lähmung oder nach dem Ver¬
schwinden derselben in den befallenen Gliedern athetotisch-choreatische
Bewegungen auf. Von Freud und Rie wird sogar als choreatische
Parese eine besonders charakterisierte Form der infantilen Hemiplegie
beschrieben, wo von vornherein anstatt der halbseitigen Lähmung
eine halbseitige Chorea besteht. Was das Intervall zwischen der
Lähmung und dem choreatischen Stadium betrifft, so ist dies ebenso
variabel wie der Grad der Ausbildung der Chorea. In schweren
Fällen beherrscht diese natürlich ganz das Krankheitsbild. Gewiß
kommen dem Orthopäden nur jene Formen zu Gesicht, in denen die
spastische Lähmung prävaliert. Und dennoch muß es befremden,
daß wir bei Nachuntersuchungen, die oft lange nach der ersten Be¬
obachtung und einer damals ausgeführten Sehnenoperation zurück¬
lagen, fast niemals in dem betreffenden Gliede eine post-
hemiplegische choreatische Bewegungsstörung vorgefunden
haben. Mit Rücksicht auf gewisse Beobachtungen von Codivilla
und Wittek, auf die ich später noch zurückkomme, scheint die
Möglichkeit zu bestehen, daß das Auftreten der Chorea in dem
einer Sehnenoperation unterworfenen Gliede durch die in
der Peripherie geschaffene Veränderung direkt ge¬
hemmt wird.
Was von der Chorea gesagt wurde, gilt auch für die Epi¬
lepsie: auch hier ist der Zeitpunkt des Auftretens ein sehr wechsel¬
voller. Doch gilt als Tatsache, daß die Epilepsie noch in jedem Alter
befürchtet werden muß. Ein sicheres Urteil über die Häufigkeit der
Epilepsie wird dadurch erschwert, daß es unmöglich ist, die Krank¬
heitsfälle durch lange Zeiträume hin zu beobachten. Da aber die
Epilepsie sicher in einem großen Prozentsatz der Fälle auftritt, so
gewinnt hierdurch die cerebrale Hemiplegie ein besonderes Interesse.
Der Charakter der Epilepsie entspricht zwar nicht ganz dem der
genuinen, da die Krämpfe häufig halbseitig auftreten und dann ganz
dem Bilde der Jacksonsclien Rindenepilepsie gleichen. Aber die
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Die infantile cerebrale Hemiplegie.
267
Unterschiede gegen die genuine Epilepsie scheinen sich doch später
zu verwischen, und in Anbetracht dieser Verhältnisse muß der Ver¬
such (Marie), die genuine Epilepsie durch die symptomatische Epi¬
lepsie bei der cerebralen Kinderlähmung zu erklären, durchaus
beachtenswert erscheinen.
Ebenso interessante Beziehungen zur halbseitigen Kinderlähmung
weist die Idiotie auf. Den unermüdlichen Forschungen Königs 1 )
verdanken wir nach dieser Richtung wertvolle Aufschlüsse. Die psychi¬
sche Schädigung bei der cerebralen Hemiplegie ist ihrem Grade nach
sehr verschieden. Es kommen alle Uebergänge von geringer geistiger
Hemmung bis zum völligen Schwachsinn als begleitendes Symptom
vor. Wie König feststellte, ergeben bemerkenswerterweise die Fälle
von Idiotie ohne Lähmungserscheinungen genau dieselben ätio¬
logischen und prädisponierenden Momente, die für die cerebrale Hemi-
plegie gelten. Häufig finden sich bei Idioten Spasmen und Andeu¬
tungen von Paresen, die die enge Zusammengehörigkeit der cerebralen
Kinderlähmung mit der Idiotie unabweisbar erscheinen lassen. —
Nach der bisherigen Schilderung steht die cerebrale Hemiplegie
wohl den cerebralen Diplegien am nächsten, die Hoffa Littlesche
Krankheit im weiteren Sinne nennt. Eine als bilaterale Hemiplegie
beschriebene Form der allgemeinen Starre entspricht sogar direkt einer
Verdoppelung der hemiplegischen Cerebrallähmung. Zu dieser führen
alle Uebergänge von leichter Steigerung der Patellarreflexe auf der
nicht gelähmten Seite, die wir öfters vorgefunden haben, bis zur ausge¬
bildeten Form hinüber. Bekanntlich ist für die Littlesche Krankheit
das Ueberwiegen der Starre über die Lähmung und die stärkere
Beteiligung der Beine charakteristisch, Unterschiede, die vielleicht
nur auf eine andere Lokalisation des Krankheitsprozesses
zurückzuführen sind. Einen unter diesem Gesichtspunkt beachtens¬
werten Befund hat F. Schultze erhoben, indem er bei Neugeborenen,
die während des Geburtsaktes oder gleich darauf gestorben sind, die
Blutungen nicht in der Hirnsubstanz, sondern häufiger im Rücken¬
mark und in der Medulla oblongata lokalisiert fand.
Im Hinblick auf die Frequenz der hemiplegischen Formen
und ihr Verhältnis zu den Diplegien lassen sich schwer genaue An¬
gaben machen. Unser Material, in dem die Hemiplegien etwas
! ) König, Ueber cerebral bedingte Komplikationen, welche der cerebralen
Kinderlähmung wie der einfachen Idiotie gemeinsam sind etc. Deutsche Zeitschr.
f. Nervenheilkunde 1897, Bd. 11.
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268
James Fränkel.
seltener vertreten sind als die Littlesche Krankheit, kann hierfür
nicht maßgebend sein. Denn bei der Hemiplegie treten Kompli¬
kationen wie Chorea, Epilepsie und Idiotie viel häufiger als bei den
Diplegien nicht nur überhaupt auf, sondern auch in den Vorder¬
grund der Erscheinungen, und dann müssen diese Fälle in Nerven-
bezw. Kinderkliniken oder Irrenhäusern gesucht werden.
Diagnose. In differential-diagnostischer Hinsicht bietet die
Halbseitigkeit der Affektion ein wichtiges Kriterium. Gegenüber der
spinalen Kinderlähmung *), an die häufig die Aehnlichkeit und die
Art des Auftretens denken läßt, sichern der spastische, nicht degene-
rative Charakter der Lähmung, die Steigerung der Reflexe und die
geschilderten Komplikationen die Diagnose. Schwierig kann bisweilen
die Beurteilung der seltenen Fälle von kombinierter spinaler und
cerebraler Kinderlähmung sein.
Der Entbindungslähmung, die als Monoplegie am Arme
bisweilen ein ähnliches Bild hervorrufen kann, ist ebenfalls die schlaffe
Degeneration der Paralyse eigentümlich.
Von der Hemiplegie der Erwachsenen trennen die halb¬
seitige Kinderlähmung gewisse Merkmale, die aber im wesentlichen
damit Zusammenhängen, daß die Lähmung bei dieser ein unfertiges
Gehirn betroffen hat. Die geringere Beständigkeit der Kontraktur,
die Mitbewegungen, die Häufigkeit des choreatischen Stadiums und
der anderen Komplikationen bei der infantilen Hemiplegie wären hier
zu nennen. Die ataktische Art der Bewegungsstörungen steht der
mehr paretischen Form bei der Hemiplegie der Erwachsenen gegen¬
über. Weitere Merkmale der infantilen Hemiplegie sind die Ver¬
gänglichkeit der Sprachstörung und ihre relative Unabhängigkeit von
der Linksseitigkeit der Hirnläsion, ferner die Atrophien und die
Wachstumshemmungen.
Trotz dieser Unterschiede ist uns doch aber die Analogie mit der
Apoplexie der Erwachsenen sehr wertvoll; denn sie vermittelt
ohne weiteres das Verständnis des pathologisch-physio¬
logischen Vorgangs.
Prognose. Im einzelnen Falle ist die Prognose von den be¬
gleitenden Komplikationen (Aphasie, Hemianopsie, Idiotie u. s. w.)
abhängig. Auch kann bei anfangs regressivem Verlauf durch das
') Vgl. Hoffa, Spinale und cerebrale Kinderlähmung. Deutsche Klinik
30. Lieferung.
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Die infantile cerebrale Hemiplegie.
269
Hinzutreten von Athetose und Epilepsie wieder eine unmittelbare
Verschlechterung eintreten.
Das markanteste Symptom aber, die schweren Bewegungs¬
störungen der Hand und der Finger, welche früher die armen Pa¬
tienten zur lebenslänglichen Untätigkeit und Unselbständigkeit verur¬
teilten, sind heutzutage einer erfolgreichen Behandlung zugänglich.
Therapie. Von vereinzelten Versuchen, das Leiden zentral
anzugreifen, sehe ich hier ab, weil diese noch nicht beweiskräftig sind.
Die Behandlung der cerebralen Hemiplegie ist vorzugsweise darauf
gerichtet, die spastische Lähmung an den Extremitäten zu bekämpfen.
Handelt es sich um leichtere Fälle, bei denen nur eine unbe¬
deutende Schwächung der einen Körperhälfte als Residuum einer
anfangs völligen Lähmung zurückgeblieben ist, so können wir mit
relativ einfachen orthopädischen Maßnahmen zum Ziel gelangen. Es
genügt dann meist eine mehr wöchentliche sachgemäße Massage-,
Gymnastik- und medikomechanische Behandlung neben leichter Gal¬
vanisation. Eine im Gefolge der cerebralen Kinderlähmung auftretende
Skoliose hat der üblichen Skoliosentherapie zu unterliegen, deren Grund¬
sätzen — Mobilisierung der Wirbelsäule, Kräftigung der geschwächten
Rückenmuskulatur und Verhütung einer stärkeren Ausbildung der
Skoliose — dem besonderen Falle entsprechend Genüge geleistet wird.
Die schwereren Bewegungsstörungen bei spastischen
Lähmungen sind erst viel später als die schlaffen Lähmungen und
nur mit Zögern in den Bereich der operativen Therapie einbezogen
worden. Hier galt es viel größere Schwierigkeiten zu überwinden,
die vor allem in der eigenartigen Kombination von Lähmung
und Spasmus begründet sind. Dazu kommt, daß der subtilere
Bau und der feinere Bewegungsmechanismus an der Hand
die Schwierigkeit noch erhöht.
Der in Betracht kommende Spasmus ist ein unberechenbarer
Faktor, dessen Beurteilung noch dazu wegen seines Verschwindens
in der Narkose doppelt erschwert wird, und auch der Grad der wirk¬
lichen Lähmung ist oft nicht gleich richtig abzuschätzen. Und doch
ist es gerade sehr wichtig, über das Verhältnis von Spasmus und
Lähmung zueinander, das ein sehr wechselndes sein kann, sich vorher
genau zu orientieren, wenn anders der Zweck erreicht werden soll,
der überhaupt mit einer Sehnenoperation erstrebt wird, nämlich die
Gleichgewichtsstörung im Spiele des Muskelantagonismus zu be¬
seitigen (Lorenz).
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270
James Frankel.
Ist die Lähmung bei der spastischen Hemiplegie nur eine ge¬
ringe, dann besteht unsere Aufgabe darin, den Spasmus desjenigen
Muskels, der den größten Widerstand leistet, durch die Tenotomie
aufzuheben. Spielt daneben die Lähmung eine Rolle, so gilt es, nicht
nur den spastisch affizierten Muskel zu schwächen, sondern gleich¬
zeitig „den Ueberschuß an Energie durch Ueberpflanzung dem Anta¬
gonisten zuzuführen“ (Hoffa). Eine wichtige Errungenschaft be¬
deutet es, daß man versucht hat, durch Aenderung der Insertionsstelle
bestimmter Muskeln die Kontraktur zu verringern, und gleichzeitig
die Kraft des tonisch gespannten Muskels in eine günstigere Richtung
zu verlegen. In dieser Absicht hat Hoffa den spastisch affizierten
Musculus pronator teres, der in der Regel ein großes Hindernis
darstellt, von dem Condylus internus abgetrennt und an dem Con-
dylus externus festgenäht, so daß also aus dem Pronator nunmehr
ein Supinator wurde. Hand in Hand mit der Sehnenverpflanzung geht
die Sehnenverkürzung. Durch Kochs Untersuchungen wissen
wir, daß der fettige Zerfall der Muskelsubstanz kein durchgehender
ist. Neben der Degeneration findet reichliche Regeneration von
neuen Fasern statt. Geben wir daher dem Muskel durch Verkürzung
seine elastische Spannung wieder, so kann er vermöge der ihm inne¬
wohnenden Regenerationskraft bald wieder seine frühere Funktion
aufnehmen. So ist es auch zu erklären, daß Hoffa verschiedene
Male durch eine einfache Operation wie die Verkürzung des Extensor
carpi radialis longus nicht nur eine gute Stellung, sondern auch eine
sehr gute Funktion erreicht hatte.
An der unteren Extremität beschränkten sich unsere Maßnahmen
bei der cerebralen Hemiplegie meist auf die Tenotomie der Achilles¬
sehne, die meist nach der B ay ersehen subkutanen Methode geübt wurde.
Wenn es nötig ist, werden die Extensoren des Fußes verkürzt (nach
Hoffa) und die Funktion der Wadenmuskulatur wird eventuell für
die Tätigkeit der Peroneen, des Tibialis anticus, des Tibialis posticus
oder der Extensoren in Anspruch genommen. Ist die Spitzfußstellung
sehr hartnäckig, wird man nach der Verbandabnahme noch einen
Schienenhülsenapparat tragen lassen, der mit Vorfußzügeln versehen
ist. Sind gleichzeitig fehlerhafte Rotationsstellungen des Beines aus¬
zugleichen, so umfaßt der Apparat auch Oberschenkel und Becken.
Der Spasmus der Beugemuskeln in der Kniekehle wird durch
offene Durchschneidung der Muskeln beseitigt. Genügt das nicht,
so kann man die Beugemuskeln auf die Streckseite überpflanzen.
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Die infantile cerebrale Hemiplegie.
271
An der Hand wurden die verschiedensten Eingriffe in der
Hoffaschen Klinik ausgeführt. Dieselben finden sich in einer TabeUe
zusammengestellt und gelangten entweder einzeln oder je nach dem be¬
sonderen Falle in beUebiger Kombination zur Ausführung (Tabelle H).
Tabelle II« (Operationen an der oberen Extremität.)
Zweck der Operation
Operationsmethode
Beseitigung des Prona¬
tionsspasmus.
Ablösung des M. pronator teres vom Condylus int.
humeri.
Aktive Supination.
H o f f a sehe Pronatorplastik.
Periostale Verpflanzung der Sehne des Flexor carpi
ulnaris über das Dorsum des Vorderarms auf die
Facies volaris radii (Frankel).
Tendinöse Fixation des
Handgelenks in Mit¬
telstellung.
Verkürzung des M. extensor carpi radialis longus.
» v d * * ulnaris.
, „ , „ digitorum communis.
Aktive Dorsalflexion der
Hand und aktive
Streckung der Grund¬
glieder der Finger.
Verpflanzung des M. flexor carpi ulnaris auf den Ex¬
tensor digitor. communis.
Verpflanzung des M. flexor carpi radialis auf den Ex¬
tensor digitor. communis.
Verpflanzung des M. extensor carpi radialis long. auf
den Extensor digitor. communis.
Beseitigung der ulnaren
Abduktion.
Verlängerung des M. extensor carpi ulnaris.
Beseitigung der Adduk¬
tionsstellung des Dau¬
mens.
Verkürzung des M. extensor pollicis longus.
Aktive Abduktion des
Daumens.
Verpflanzung des M. flexor carpi radialis auf den Ex¬
tensor pollicis longus.
Verpflanzung des M. flexor carpi radialis auf den Ab¬
ductor pollicis longus.
Verpflanzung des halben M. extensor carpi radialis
brevis auf den Extensor pollicis longus.
Beseitigung der Beuge¬
kontraktur im Ellen¬
bogengelenk.
Durchschneidung des Lacertus fibrosus.
„ , M. biceps brachii in der Arm¬
beuge.
Aktive Streckung des
Ellenbogengelenks
(Ersatz des Triceps
brachii).
Passive Verpflanzung des M. triceps auf den Deltoides
(Hoffa).
Aktive Elevation des
Oberarms (Ersatz des
Deltoides).
Verpflanzung des M. cucullaris auf den Deltoides
(Hoffa).
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XV. Bd. lg
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272
James Frankel.
Ich habe vor kurzem, um die Supination herzustellen,
den MuöcuIus flexor carpi ulnaris verwendet. Die Operation
ist folgende: Längsschnitt auf der Ulna vom Processus styloid. ulnae
aufwärts. Loslösung des Flexor carpi ulnaris vom Os pisiforrae,
dessen Sehne gut mobilisiert über das Dorsum des Vorderarms ver¬
pflanzt und an der Facies volaris radii bei supiniertem Vorderarm
in möglichst breiter Ausdehnung periostal vernäht wird (mit oder
ohne seidene Sehne). Der Muskel umgreift also von außen den
Knochen und wirkt bei seiner Kontraktion supinatorisch. Diese
Ueberpflanzung erscheint mir deswegen geeignet, weil der M. flexor
carpi ulnaris ein an und für sich supinatorisch wirkender Muskel
ist, weil er bei diesen Zuständen meist sehr gut funktioniert. Hoffa
verwendet ihn deswegen gern zur Stärkung der Fingerextensoren,
weil er mit einer langen, kräftigen Sehne ausgestattet ist und weil
nach seiner Abtrennung vom Os pisiforme gleichzeitig die ulnare
Abduktion der Hand verschwindet. Verbindet man mit der Ver¬
pflanzung des Flexor carpi ulnaris die Verkürzung des M. extensor
pollicis longus, was ich bisher 2mal ausführte, so ist hierfür kein
besonderer Hautschnitt erforderlich. —
Die größte Beachtung ist der Nachbehandlung zu schenken,
die gerade hier von der Energie des Patienten sehr wesentlich unter¬
stützt wird. Bezüglich der Massage ist zu erwähnen, daß diese
teils krampfstillend wirkt, teils die durch die Operation wieder wach¬
gerufene Regenerationskraft der Muskeln begünstigt.
Was nun unsere* Resultate bei der cerebralen Hemiplegie be¬
trifft, so erwähne ich zunächst, daß die an der unteren Extremität
entstandenen Deformitäten in der Regel ohne erhebliche Schwierig¬
keit beseitigt wurden. Die Spitzfußstellung wurde meist ganz be¬
hoben, und das Schwinden der Kniespasmen ermöglichte wieder eine
freie Beweglichkeit. Nach einiger Zeit war das Hinken und die
Kreisschwenkung im Hüftgelenk überhaupt nicht mehr auffällig und
der Gang nahezu einwandfrei.
Von größerem Interesse sind die Erfolge an der oberen Ex¬
tremität. Hier gelang es zunächst in der Regel, durch die Operation
die Stellung der Hand derart zu verbessern, daß dieselbe
nachher von einer normalen oft nicht mehr zu unterscheiden
war. Durch die tendinöse Fixation war das Handgelenk in Mittel¬
stellung gebracht, die Finger blieben in den Grundgelenken ge¬
streckt, die fehlerhafte Stellung des Daumens war beseitigt. Ein
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Die infantile cerebrale Hemiplegie.
273
solches kosmetisches Resultat ist gewiß schon hoch zu veran¬
schlagen.
Darüber hinaus aber wurde in den meisten Fällen auch eine
Verbesserung der Funktion erreicht. Ja sogar Bewegungen,
die vor der Operation überhaupt unmöglich waren, konnten nach¬
her mühelos, bisweilen in geradezu idealer Weise ausgeführt wer¬
den. Es gilt dies namentlich von der aktiven Dorsalflexion
der Hand und der Fingergrundglieder und ebenso von der
Supinationsbewegung. Auch ist zu berücksichtigen, daß durch
den Fortfall des Krampfes, besonders des Pronationsspasmus und
des Krampfes der Fingerbeuger, die freie Aktion dieser Muskeln
erst wieder richtig zur Geltung gelangte. So konnte oft die vor der
Operation gänzlich unbrauchbare Hand zum Greifen und Festhalten,
zum Schreiben, ja zu jeglichen Hantierungen benutzt werden.
Daß meist auch die Bewegungen des ganzen Armes freier
wurden, hängt einfach mit dem Verschwinden des Spasmus in der
Ellenbeuge zusammen.
Es muß besonders hervorgehoben werden, daß die Krampf¬
zustände in dem operierten Gliede nach der Operation in der
Regel ganz verschwanden. Die krampflösende Wirkung
der Sehnenplastik, die, wie ich erwähnt habe, auch schon aus
früheren Beobachtungen bekannt ist, haben wir oftmals in ganz
eklatanter Weise verfolgen können. Wenn auch eine sichere Er¬
klärung für diese Erscheinung noch nicht existiert, so muß doch
wohl eine zentripetale Reizwirkung als Ursache angesehen werden.
Ebenso bemerkenswert erscheint es mir, daß fast niemals an
den operierten Händen Zeichen von Chorea, die als posthemiplegische
Bewegungsstörung bei der cerebralen Hemiplegie häufig aufzutreten
pflegen, bei Nachuntersuchungen von uns gesehen worden sind.
Diese Beobachtung kann mit den Erfahrungen Witteks 1 ) in Ein¬
klang gebracht werden, wonach die Sehnenverpflanzung, und zwar
diese in höherem Grade als die Tenotomie, ein deutliches Schwinden
der choreatischen Unruhe zur Folge hatte. Wenn aber die Sehnen¬
überpflanzung krampfstillend wirkt, choreatische Unruhe
aufhebt, und das Auftreten der posthemiplegischen Chorea
hemmt, so eröffnet sich damit die Aussicht, dem Indika-
*) Wittek, Die Bedeutung der Sehnentransplantation für die Behand¬
lung choreatischer Formen der infantilen Cerebrallähmung. Zentralblatt für
Chirurgie 1903.
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274
James Frankel,
tionsgebiet der Sehnenverpflanzungen weitere Grenzen zu
ziehen.
Da bei der cerebralen Hemiplegie der Lähmungstypus an der
oberen Extremität einer Radialislähmung entspricht, ist der Gedanke
naheliegend, auch von der neuerdings in Aufnahme gelangenden
Nervenplastik bei diesen Zuständen Gebrauch zu machen. Spitzy
hat, wie er mir jüngst mitteilte, diesbezügliche Versuche in die
Wege geleitet, die Erfolg zu versprechen scheinen.
Zum Schlüsse fasse ich die Ergebnisse meiner Arbeit in
folgende Thesen zusammen:
1. Für die Aetiologie der cerebralen Hemiplegie haben alle
vaskulären Schädigungen Bedeutung, die während der Fötal¬
periode, während des Geburtsaktes und während des Extrauterinlebens
zur Geltung kommen. Als solche sind zu nennen:
a) Hereditäre Lues (hämorrhagische Diathese).
b) Zirkulationsstörungen im Fötus (aufhereditäre, mütter¬
liche und insbesondere intraabdominelle Einflüsse zurückzuführen).
c) Akut-entzünd liehe Gefäßerkrankung (Encephalitis,
Meningitis).
d) Hämorrhagie.
e) Embolie.
f) Thrombose.
2. Pränatale Schädigungen äußern ihre Wirkung oft erst nach
der Geburt, bezw. nach dem Hinzutreten von Geburtsstörungen oder
extrauterinen Schädlichkeiten.
3. Die Littleschen Momente sind für die cerebrale Hemi¬
plegie von größerer Bedeutung als man bisher glaubte, und zwar
sehe ich die schwere Geburt, insbesondere die Zangengeburt
(ungeschickte Zangenanlegung) als direkte Ursache der Hemiplegie
an, während die Frühgeburt und ein Teil der schweren
Geburten als Folgen pränataler Momente gedeutet werden
müssen. Den letzteren ist dann auch die größere ätiologische Bedeu¬
tung beizumessen.
4. Die akuten Infektionskrankheiten spielen bei der Ver¬
anlassung der cerebralen Hemiplegie in manchen Fällen nur insofern
die auslösende Rolle, als die Toxinwirkung ein schon vorher ge¬
schädigtes Gehirn in der am meisten betroffenen Gegend (Prä-
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Die infantile cerebrale Hemiplegie.
275
dilektionsstelle: Verbreitungsbezirk der Art. cerebri media)
am intensivsten trifft.
5. Aus ätiologisch-klinischen Rücksichten halte ich die cerebrale
Hemiplegie für einen Symptomenkomplex, dem eine vasku¬
läre Entstehung konstant zu Grunde liegt.
6. Auch die Befunde der pathologischen Anatomie lassen
sich trotz der Mannigfaltigkeit der pathologisch-anatomischen End-
Ter’änderungen mit meiner ätiologischen Betrachtungsweise in Ein¬
klang bringen.
7. Die infantile cerebrale Hemiplegie steht den cerebralen
Diplegien (Littlesche Krankheit) am nächsten.
8. Die schweren Deformitäten der Hand nach cerebraler Hemi¬
plegie sind heutzutage einer erfolgreichen chirurgisch-orthopädischen
Behandlung zugänglich, mittels deren ein gutes kosmetisches
und funktionelles Resultat erreicht werden kann.
9. Die Sehnenplastiken bei der cerebralen Hemiplegie haben
gleichzeitig krampflösende Eigenschaften. Sie beseitigen ferner nicht
nur schon vorher bestehende choreatische Unruhe, sondern hemmen
auch nach meinen Erfahrungen das Auftreten der posthemiplegischen
Chorea.
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XV.
(Aus der Professor Dr. Vulpiusschen orthopädisch-chirurgischen
Klinik zu Heidelberg.)
Die amniogene Entstehung des angeborenen
Klumpfußes.
Von
Assistenzarzt Dr. Ewald.
Mit 3 in den Text gedruckten Abbildungen.
Unter den vielen Ursachen, die für die Entstehung des kon¬
genitalen Klumpfußes verantwortlich gemacht werden, spielt nach
dem allgemeinen Urteil für die Mehrzahl der Fälle der intrauterine
Druck die größte Rolle. Nach dem anatomischen Knochenbau, den
Druckschwielen und atrophischen Hautstellen, ja selbst Decubital-
geschwüren am Fußrücken und am Malleolus externus nimmt man
an, daß der Klumpfuß meist erst in den letzten Schwangerschafts¬
monaten zu stände kommt, indem die physiologisch bestehende
Supinationsstellung durch den Druck der Uteruswand ins Patho¬
logische vermehrt wird. Zu dieser Auffassung muß man gelangen,
wenn man die das Fußskelett zusammensetzenden Knochen einzeln
nach Größe, Form und Lagebeziehung zueinander betrachtet. Wäh¬
rend die Größe kaum hinter der von normalen Fußknochen gleich¬
altriger Individuen zurücksteht, während die einzelnen Teile und
insbesondere die Gelenkflächen, die man an den einzelnen Knochen
unterscheiden kann, in ihrer Ausbildung kaum eine Einbuße erlitten
haben, ist nur ihre Form und Lagebeziehung mehr oder weniger
verändert. So wird man zu der Annahme geführt, daß die normale
Entwicklung der Tarsalknochen schon weit vorgeschritten war, ehe
durch eine mechanische äußere Kraft eine Mißbildung erzeugt wurde.
Allerdings sind, wenn auch bei weitem weniger zahlreich, genug
Fälle von Klumpfuß beschrieben worden, aus deren Form und Be¬
gleiterscheinungen mit Sicherheit hervorgeht, daß die Deformität zu
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Die amniogene Entstehung des angeborenen Klumpfußes.
277
viel früherer Zeit entstand, so daß man also sagen kann, daß der
Pes varus congenitus zu jeder Zeit des fötalen Lebens sich ent¬
wickeln kann, wenn nur einmal erst die Extremitätenstümpfe sich
gebildet haben. (Die idiopathischen Klumpfüße wollen wir, da nicht
zum Thema gehörig, ganz beiseite lassen.)
Wenn wir nun weitergehen und nach den den Druck ver¬
ursachenden Momenten fragen, so werden zunächst Tumoren der
Gebärmutter und der Abdominalorgane, Doppelmißbildungen, Hydro-
cephalus u. s. w. genannt, die wir aber wegen ihrer Seltenheit außer
acht lassen wollen. Es bleibt dann als wichtigste Entstehungsursache
der durch zu großen Mangel an Fruchtwasser veranlaßte wirkliche
Raummangel im Uterus übrig, der dann eben, wie schon gesagt, in
den letzten Monaten der Schwangerschaft einfach eine mecha¬
nische Wachstumsstörung des Fußes bewirkt. Daher weisen auch
diese auf solche Art entstandenen Pedes vari schon alle Uebergänge
zum Normalen auf. Es folgt daraus, daß für die vollständige Aus¬
bildung des Embryos eine lange Zeit hindurch Platz gewesen sein
muß, ehe Verhältnisse eintraten, die dem weiteren normalen Wachs¬
tum ein Ziel setzten, indem sie mechanisch den fötalen Geweben
unüberwindliche Widerstände in den Weg legten. — Von Geburts¬
helfern und pathologischen Anatomen ist jedoch des öfteren über
Fälle berichtet worden, in denen sich das Amnion überhaupt nicht
von der Oberfläche des Embryos abgehoben hat, und wo darum aus
der allgemeinen Enge des Amnions sich bedeutende Mißbildungen
ergaben. Hier sind dann natürlich die Deformitäten außerordentlich
zahlreich und schwer, und es kommt meist überhaupt nicht zu
lebensfähigen Geschöpfen. Der eventuell dabei mit beobachtete
Klumpfuß ist dann nur Teilerscheinung einer den ganzen Fötus
betreffenden monströsen Mißbildung. Von Marchand, Winckel,
Ahlfeld und Schwalbe sind derartige Bildungen, die eine ganze
Anzahl von amniogenen Deformitäten in sich vereinigen, besonders
gesammelt und beschrieben worden.
Von weit größerem Interesse ist nun für uns die Tatsache,
daß die Enge des Amnions zu partiellen Verwachsungen führen
kann, die ihrerseits an den befallenen Stellen ein normales Wachs¬
tum des fötalen Teils verhindern oder aber bei nachträglicher Ab¬
sonderung des Liquor amnii durch Entfernung der zusamraenge-
wachsenen Stellen voneinander Bänder entstehen lassen, die weiter¬
hin in den Entwicklungsgang des Fötus störend eingreifen. So kann
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278
Ewald.
dann auch zuweilen, wenn die untere Extremität in den Prozeß
miteinbezogen wird, ein Klumpfuß entstehen.
Dies ist nicht häufig, und Bessel-Hagen konnte diesen Ent¬
stehungsmodus des kongenitalen Klumpfußes nur mit einer kleinen
Zahl von Beobachtungen beweisen. Er führt aus seiner großen Er¬
fahrung nur zwei hierhergehörende Fälle an und hat nur 3 weitere
Fälle in der ganzen Literatur gefunden. Sonst berichtet Hoffa
noch über einen Fall, in dem neben doppelseitigem Klumpfuß auf
der einen Seite eine starke amniotische Schnürfurche am linken
Unterschenkel und einige Zehen- und Fingerdefekte bestanden. Bei
der Seltenheit dieser amniogenen Ent¬
stehungsart ist wohl ein weiterer kasuisti¬
scher Beitrag gerechtfertigt und sei hier,
soweit er für unsere Betrachtung in Frage
kommt, mitgeteilt.
Der 8 Monate alte Knabe, der von
durchaus gesunden Eltern stammt, denen
von angeborenen Anomalien in ihrer Fa¬
milie nichts bekannt ist, wurde nach Mit¬
teilung des behandelnden Arztes wegen
Beckenenge und zu geringer Wehentätig¬
keit der Mutter mit Zangenhilfe zur Welt
gebracht. Die Nabelschnur war von ge¬
höriger Länge und normaler Beschaffenheit
und war nirgends umschlungen; das Kind
war ausgetragen, aber sehr klein.
Der linke Fuß, von derselben Größe
wie der rechte, wird, belastet oder nicht, stark supiniert, adduziert
und plantar flektiert gehalten. Eine Dorsalflexion gelingt kaum bis
zum rechten Winkel, dann hindert die stark gespannte Achillessehne
eine weitere Beugung. In seiner Haltung und Gestalt ähnelt der
Klumpfuß durchaus denen, die in den letzten Schwangerschafts¬
monaten durch intrauterinen Druck entstanden sind.
Um den linken Unterschenkel laufen mehrere feine, wei߬
lichgrau glänzende zirkuläre Streifen 5mal herum (s. Fig. 1), die sich
öfter vorn und hinten kreuzen, die man aber alle einzeln, in ihrem
linearen Verlauf um die ganze Zirkumferenz des Unterschenkels ver¬
folgen kann. Sie nehmen mit der Hautoberfläche dasselbe Niveau
ein, liegen aber, wenn man durch Reiben des Unterschenkels eine
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Die amniogene Entstehung des angeborenen Klumpfußes. 279
aktive Hyperämie erzeugt, wonach sich die weißlichen Streifen sehr
schön von der roten Fläche abheben, um ein Geringes unter dem
Niveau der Oberfläche. Nach Aussage der Mutter wurden sie gleich
nach der Geburt bemerkt, waren damals hochrot und wenig breiter
und überragten etwas die Oberfläche.
Der sonst normale rechte Fuß weist zugleich eine Syndak-
tylie und Polydaktylie auf (s. Fig. 2). Die vierte Zehe hat schein¬
bar eine Nebenzehe, mit der sie zugleich zum
Teil verwachsen ist. Aus dem Röntgenbild
(s. Fig. 3) geht jedoch hervor, daß die fünfte
Zehe verdoppelt ist; denn man sieht deutlich,
wie das Köpfchen des fünften Metatarsalknochens
gespalten ist, und wie von da an jede Zehe,
die fünfte sowohl wie die überzählige, ihre
Phalangen hat, die kaum kleiner und schmaler
als die übrigen sind. Im übrigen ist der Knabe
durchaus normal gebildet. Auf der Haut, ins¬
besondere am behaarten Kopf und an den Ex¬
tremitäten findet sich nichts von Narben, die
etwa als Residuen amniotischer Verwachsungen
einen Anhaltspunkt für die Entstehungsursache der Anomalien bieten
könnten. — Um zunächst auf den eigentümlichen Befund am linken
Unterschenkel einzugehen, so können wir uns die linearen, zirku¬
lären Streifen nicht anders entstanden denken,
als durch länger dauernden Druck von seiten
eines oder mehrerer Bänder, die sich um den
Unterschenkel geschlungen haben, und deren
chronischer Reiz eine Alteration der Epidermis
und Cutis zur Folge hatte, die sich gleich
nach der Geburt als leichte Schwellung und
Rötung, später aber als streifenförmige Narbe
dokumentierte. — Intrauterine Umschlingung
durch bandartige Gebilde kommt aber, soweit wir bis jetzt wissen,
nur auf zweierlei Art zu stände: entweder durch die Nabelschnur
oder durch amniotische Stränge.
Daß die Nabelschnur mehrmals um ein oder mehrere Kindes¬
teile geschlungen sein kann, liegt sehr wohl im Bereiche der Mög¬
lichkeit, gibt doch Ahlfeld an, daß bis neun Umschlingungen beob¬
achtet worden sind. Auch daß die Nabelschnurumschlingung in-
Fig. 3.
Fig. 2.
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280
Ewald.
direkt eine Klumpfußbildung bewirken kann, wird von Hoffa als
feststehend erklärt und von Bessel-Hagen durch einen Fall Sie¬
bold s bewiesen, in dem um das eine Bein, das zugleich mit Klump¬
fuß behaftet war, die Nabelschnur in spiralig verlaufenden Win¬
dungen geschlungen war. Ohne Zweifel, so sagt Bessel-Hagen,
hatte das geringere Bewegungsvermögen der in ihrer Entwicklung
benachteiligten Extremität zu dem Klumpfuß verholfen.
In diesem Falle war aber das Kind totgeboren, die Ernährung
der befallenen Extremität war gestört, und es fanden sich deutliche
Einschnürungen; solche sieht man auch auf den Abbildungen, die
eine Nabelschnurumschlingung, resp. ihre Wirkung zeigen: es ist
immer eine sehr breite, mehr oder wenig flache, muldenförmige
zirkuläre Einsenkung. Denn gewöhnlich sind die Nabelschnurgefäße
von der W har ton sehen Sülze umgeben, und der ganze Strang ist
spiralig gewunden und wird dadurch nur noch dicker. Jedenfalls
war er in unserem Falle auch kein glattes Band ohne Hervor-
ragungen, sondern hatte eine höckerige unregelmäßige Gestalt. Diese
Tatsache würde sich bei unseren zirkulären Narben, wenn diese
wirklich von der Nabelschnur herrühren würden, in einem unregel¬
mäßigen, bald schmaleren, bald breiteren Verlauf erkennen lassen.
Statt dessen haben wir aber feine, lineare Streifen, die so aussehen,
als ob sie vor längerer Zeit mit einem feinen Messerschnitt künstlich
hergestellt worden seien.
Außerdem müßte die abnorme Länge der Nabelschnur aufge¬
fallen sein; beträgt doch die Länge eines Bindfadens, den man ähn¬
lich wie die Narben 5mal um den Unterschenkel laufen läßt, über
70 cm; und dazu müßte unbedingt noch ein größeres freies Stück ge¬
rechnet werden, das die notwendige Blutzirkulation gewährleistete und
keinen Verschluß der Nabelgefäße durch Zug oder Kompression und
damit den Tod des Kindes veranlaßte.
Theoretisch betrachtet könnten ja aber, wie das bei Mangel
an fötaler Bewegung Vorkommen soll, die Torsionen und auch die
Wh ar ton sehe Sülze ganz fehlen, und wir hätten es dann mit einer
bandartigen Nabelschnur zu tun. Auch dieses kann für unseren
Fall nicht zutreffen, denn dann hätte der behandelnde Arzt nicht
ausdrücklich betont, daß die Nabelschnur normal war. Außerdem
macht aber der Befund der Zehenanomalien am rechten Fuß eine
andere Entstehung der Streifen viel wahrscheinlicher.
Dies ist die Syndaktylie und Polydaktylie, deren Kom-
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Die amniogene Entstehung des angeborenen Klumpfußes.
281
bination ja durchaus keine Seltenheit ist. Bemerkenswert ist hier
nur, daß gerade die überzählige Zehe an der Syndaktylie be¬
teiligt ist. Während * diese nach der allgemeinen Meinung durch
Verwachsung des Amnions mit der Oberfläche des Embryos entsteht,
kommt die Polydaktylie dadurch zu stände, daß die Fingeranlage,
bezw. bei reichlicher Polydaktylie die ganze, noch ungegliederte
Handanlage durch scharf einschneidende Amnionfäden gespalten wird
(Zander u. a.). Diese Annahmen sind jetzt so allgemein gültig
geworden, daß andere Entstehungsursachen überhaupt nicht mehr
in Frage gezogen werden.
Und bis auf einen Punkt, nämlich den, weshalb die Verwach¬
sungen und Bänder selbst entstehen, worauf eine befriedigende Ant¬
wort bisher noch nicht gegeben ist, ist alles außerordentlich klar
und verständlich: schon vor Sichtbarwerden der Extremitätenknospen
hegt das Amnion der Embryooberßäche straff an; dies dauerte bis
in die vierte Woche hinein, in der die Gliedmaßenanlagen auftreten.
Wenn nun ein von außen wirkender Druck dazukommt (Kümmel-
Braun) oder wenn irgend ein Reiz (Trauma) das Ektoderm des
Amnions oder des Fötus schädigt, so daß es an den befallenen
Stellen zur Entzündung oder starken Zellproliferation kommt (Ahl-
feld-Veith), so kommt es zur „epithelialen Verklebung“ und even¬
tuell nachfolgenden Verwachsung. Diese trifft naturgemäß die Stellen
des Fötus am stärksten und häufigsten, die über die abgerundete
Form des Embryos hinausragen; daher wird kaum je der breite,
flache Rücken betroffen, umso häufiger aber der Kopf und die Ex¬
tremitäten, am häufigsten aber die Teile derselben, die aus den
distalsten Stellen der Anlage sich bilden. Durch diese Verwachsung
wird die Flächenausdehnung des verklebten Teils Aenderungen er¬
fahren, so daß dieser sich nur konform der betreffenden Amnion¬
stelle entwickeln kann.
Demnach haben wir uns also in unserem Falle die Syndaktylie
so vorzustellen, daß die Sonderung des vierten und fünften Fingers
durch eine zusammenfassende Verklebung der amniotischen Ver¬
wachsung verhindert wurde.
Die Entstehung der Bänder, die neben Ein- und Abschnürungen
eine Polydaktylie bewirken können, erklärt man sich so, daß das
Amnion bei der Bildung des Fruchtwassers sich gleichmäßig von
der Oberfläche des Fötus abhebt, nur nicht an den Stellen, wo es
mit dem Fötus verwachsen ist. Durch die allmähliche Vermehrung
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282
Ewald.
des Liquor amnii werden sich die adhärenten Stellen voneinander
entfernen, und so werden sich, je nach dem Grade und der Stelle
der Verwachsung, dünne oder dicke, lange oder kurze, wenige oder
zahlreiche Simonartsche Bänder bilden.
In unserem Falle müssen wir die Polydaktylie uns so ent¬
standen denken, daß nach Anlage des Fingerwulstes an dem distalen
Ende der linken unteren Extremitätenknospe ein scharfgespannter
Faden über diejenige Stelle hinweglief, die die fünfte Zehe zur Aus¬
bildung bringen sollte. Diese Anlage fand beim weiteren Wachs¬
tum in dem Faden einen unüberwindlichen Widerstand und wurde
daher gespalten, dergestalt, daß gerade das Metatarsusköpfchen sich
in zwei Hälften teilte und von da an zwei Zehen statt einer selb¬
ständig distalwärts weiterwuchsen.
Nach der oben berichteten Hypothese Zanders ist dies am
wahrscheinlichsten und konnte von Tor nie r durch Experimente er¬
härtet werden. Dieser machte an Amphibienlarven Längsspaltungen
der Phalangen. Waren nun die Finger genau in der Medianlinie
getroffen, so wurden bei der weiteren Entwicklung die halbierten
Phalangen zu ganzen. Allerdings handelt es sich hier um niedere
Tiere; mit einer gewissen Berechtigung kann man aber sagen, daß
das, was bei ihnen möglich ist, in geringerem Grade bei noch nicht
differenziertem Keimgewebe auch möglich sein wird, so daß man
nicht mit unbekannten Größen zu rechnen genötigt ist, wie sie bis
heute noch Namen wie »KeimesVariation, pathologische Entwick¬
lungstendenzen, spezifisches Wachstum, endogene Veranlassung“ u. a.
darstellen. Dem begründeten Einwand, daß Polydaktylie häufig ver¬
erbt auftrete, wird durch Ahlfelds Erklärung begegnet, daß die
Heredität nicht nur den Keim selbst, sondern auch die die Anomalie
bedingenden Ursachen betreffen könne.
Und die Symmetrie der Mißbildung, wie sie, wenn auch
nicht häufig, an beiden oberen oder unteren Extremitäten gefunden
wird, erklären Kümmel u. a. so, daß die Punkte der einen Körper¬
hälfte genau so exponiert sind, wie die der anderen. Die Annahme
einer exogenen Entstehungsweise ist demnach wegen des symmetri¬
schen Vorkommens nicht auszuschließen.
Finden wir also am rechten Fuß Mißbildungen, deren amnio-
gene Entstehung außer Zweifel steht, so haben wir auch ein Recht,
die Streifen am linken Unterschenkel auf die Wirkung amniotischer
Bänder zurückzuführen. Denn die einmal gebildeten Bänder können
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Die amniogene Entstehung des angeborenen Klumpfußes.
283
durch weitere, manchmal gerade in diesen Fällen exzessive, Abson¬
derung des Amnionwassers, und durch Zerrungen, die beim Wachs¬
tum entstehen, oder durch Bewegungen des Fötus zerreißen, frei
im Fruchtwasser flottieren und später sich ein- oder mehrmals um
einen Körperteil wickeln und dadurch Einschnürungen veranlassen,
die ihrerseits wieder eine Ernährungsstörung zur Folge haben oder
gar das Glied völlig abschnüren können. Leider ist in unserem Fall
bei der Geburt die Placenta auf Amnionfäden (es ist nach Schmauß
öfter ein förmliches Strickwerk solcher Fäden beobachtet worden)
nicht genau untersucht worden. Möglicherweise hätte sich aber auch
gar nichts gefunden, denn nach Schwalbe kann sehr wohl eine
Mißbildung durch Amnionanomalie zu stände gekommen sein, wäh¬
rend zur Zeit der Geburt nichts mehr von Fäden nachzuweisen ist.
Und Ahlfeld sagt sogar: „So häufig die sogenannten Spontan¬
amputationen einzelner Extremitäten Vorkommen, so selten findet
man noch vorhandene amniotische Rudimente.“
Ungewöhnlich bleibt jedoch unser Befund auf jeden Fall, und
zwar dadurch, daß es sich hier nicht um Einschnürungen, wie
immer von den Autoren beschrieben wird, sondern um flache zirku¬
läre narbige Streifen handelt. Beschrieben ist eine derartige Eigen¬
tümlichkeit meines Wissens noch nicht, nur findet sich bei Ammon
auf Tafel XXXI seines großen Atlas ein Arm, der neben einer tiefen
Einschnürung in der Mitte des Unterarms und am Handgelenk
mehrere feine, fast zirkulär verlaufende Streifen aufweist, die den
unsrigen nahezu gleichen, auf deren Besonderheit Ammon aber im
Text nicht eingeht. Man muß für unsern speziellen Fall wohl an¬
nehmen, daß der Druck der amniotischen Schlingen erst verhältnis¬
mäßig spät zur Wirkung gelangt ist — die bei der Geburt beob¬
achtete frische Rötung der Streifen würde dafür sprechen — oder
daß die Gewebe der unteren Extremität mächtig genug waren, schon
früher bei weiterem Wachstum die Fäden zu sprengen, so daß es
nicht zu Einschnürungen kam.
Mit diesen beiden Möglichkeiten ist aber die Reihe der Kombi¬
nationen keineswegs erschöpft. Wieviel andere noch denkbar sind,
zeigt sehr schön ein Fall, den Bremmenkamp beschrieben hat.
Sein Präparat entspricht einem 4 Monate alten Fötus und weist
einen amniotischen Strang auf, der von der Scheide des Nabelstrangs
in einer Dicke von 1 mm ausgeht und das linke Bein in der
Knöchelgegend nach Art einer Schlinge umgibt. Von dieser Schlinge
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284
Ewald.
aus sendet er einen zweiten Faden zum rechten Bein, der dieses
wiederum an den Knöcheln schlingenförmig umfaßt. An keiner
Stelle der Extremitäten ist irgend etwas von einer Einwirkung dieser
amniotischen Bänder, die ja vorläufig noch ganz lose den Extremi¬
täten umliegen, zu sehen, dennoch kann Bremmenkamp mit
Recht behaupten, daß die beiden Umschlingungen, falls der Fötus
weiter gelebt hätte, wenn nicht zur Abschnürung, so doch zur Ein¬
schnürung geführt haben würden.
Es kommt also nur auf Länge, Entwicklung, Dauerhaftigkeit,
auf Zeit und Dauer der Wirkung dieser Fäden an, und man hat
je nach dem besonderen Verhalten Um-, Ein- oder Abschnürung
als Resultat. Bei uns handelt es sich um einfache Umschnü¬
rungen, herrührend jedoch von Fäden, die genügend stark waren,
das Bein in einer Stellung festzuhalten, die die Herausbildung eines
Klumpfußes ermöglichte.
Wir kommen damit zum letzten Punkt unserer Betrachtung,
nämlich zu der Frage, wie wir uns die Entstehung des Klumpfußes
zu denken haben. Denkbar wäre ein rein zufälliges Zusammen¬
treffen wohl, aber wie wir alle Symptome einer Krankheit immer
auf eine Ursache zurückzuführen suchen, liegt es auch in unserem
Falle nahe, das Amnion oder seine pathologischen Abkömmlinge
wie für die anderen Anomalien auch für die Fußdeformität verant¬
wortlich zu machen. Steht es doch für Kümmel, Ahlfeld,
Klaußner u. a. außer Frage, „daß die irreguläre Abhebung des
Amnions die bei weitem größte Menge der menschlichen Mißbildungen
überhaupt erzeugt.“ Und schon von Geoffroy St. Hilaire,
Vater, wird die Bildung amniotischer Stränge als eine der Ursachen
für die Entstehung des kongenitalen Klumpfußes anerkannt. Ja,
Bessel-Hagen steht nicht an zu erklären, daß der Einfluß des
Amnions auf die Gestaltung des Fußes entschieden einleuchtend ist
für die Reihe derjenigen Fälle, in denen noch bestimmte Anzeichen
auf früher vorhanden gewesene Verwachsungen des Amnions mit der
Oberfläche des Embryos schließen lassen. Es könnten jedoch auch
zufällig Zeichen von amniotischen Verwachsungen zusammen mit
Pes varus Vorkommen; es wird daher erst dann die Annahme, daß
beide Anomalien eine Ursache haben, wahrscheinlich, wenn die ana¬
tomischen Eigentümlichkeiten des Klumpfußes damit im Einklang
stehen, daß er sekundär entstanden ist.
Nun kann unser Klumpfuß alle die Forderungen erfüllen, die
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Die amniogene Entstehung des angeborenen Klumpfußes.
285
Bessel-Hagen für diejenigen Klumpfüße aufgestellt hat, die in
den letzten Monaten der Gravidität entstehen, und wir glauben uns
keiner Täuschung hinzugeben, wenn wir ihn — angesichts des
Nebenbefunds — als eine amniogene Bildung ansprechen.
Suchen wir uns aber das Verhältnis zu vergegenwärtigen,
welches der Embryo während der Schwangerschaft zum Uterus ein¬
genommen hat, so stoßen wir wiederum auf zwei Möglichkeiten, die
denkbar sind:
Die erste wird versinnbildlicht durch einen Fall eines 7monat-
lichen Fötus, den Jensen beschreibt: von der kleinen Zehe des
linken Fußes zieht sich ein straffer Strang zu einer Hautbrücke, die
vom Abdomen zum rechten Oberschenkel gespannt ist. Der linke
Fuß, der übrigens noch eine Syndaktylie von vier Zehen aufweist,
war direkt durch dieses Band in eine starke Varo-calcaneusstellung
gezogen. Hier hatte also der amniotische Strang direkt einge¬
wirkt. Zweitens kann der Unterschenkel durch Bänder an die
Uteruswand fixiert sein, und je von der Länge und Resistenz des
festhaltenden Bandes wird die Form und der Grad der Varushaltung
des zugehörigen Fußes abhängen. Auch kann die Deformität in den
ersten oder späteren Monaten der Schwangerschaft entstanden sein,
und es wird in jedem einzelnen Falle immer die rein mechanische
Abänderung des Wachstums und ihr Grad für die Beurteilung be¬
stimmend sein müssen. Die in frühester Zeit derartig entstandenen
Klumpfüße werden, wie Bessel-Hagen einen solchen beschrieben
hat, in ganz ungewöhnlicher Art und atypischem Bau zur Ausbildung
gelangen, während die anderen Fälle den Charakter der gewöhn¬
lichen sekundär entstandenen Deformität zur Schau tragen. (Die
monströsen Früchte, wie solche von Win ekel und Ahlfeld be¬
schrieben sind, die wegen amniotischer Verwachsungen und Bänder
neben den Klumpfüßen mit Eventration der Eingeweide, Gesichts¬
spalten, Wolfsrachen, Encephalocelen u. a. behaftet sind, sollen hier
nicht näher berücksichtigt werden.)
Für unseren Fall ist am wahrscheinlichsten, daß die Amnion¬
schlingen, die die Veränderungen am linken Unterschenkel bewirkten,
diesen zugleich am Uterus in einer bestimmten Lage fortdauernd
festgehalten haben, so daß der linke Fuß immer den gleichen
Druck von der Uteruswand her zu erleiden hatte. Aus der relativ
vollständigen Ausbildung des Knochen- resp. Knorpelskeletts ist
ersichtlich, daß diese Druckwirkung erst in der letzten Zeit der
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286
Ewald.
Gravidität für die Entwicklung des Fußes verhängnisvoll gewor¬
den ist.
Anhangsweise sei noch ein hierhergehörender Fall unserer
Klinik kurz erwähnt, der neben einem rechtsseitigen Klumphacken¬
fuß die verschiedensten Folgezustände von amniotischen Verwach¬
sungen, nämlich Ein- und Abschnürungen aufweist. Vier Zehen des
deformierten Fußes sind nur rudimentär vorhanden, ebenso der
zweite und dritte Finger der rechten Hand, während vierter Finger
und Daumen eine zirkuläre Schnürfurche zeigen. Die Grundphalangen
der drei mittleren Finger sind häutig miteinander verwachsen. Auch
an der linken Hand sind Ein- und Abschnürungen bemerkbar. Um
den rechten Unterschenkel geht eine tiefe Einschnürung bis auf den
Knochen, so daß der distal gelegene Abschnitt sowie der Fuß wegen
mangelhaften Blutabflusses ödematös geschwollen ist und erst nach
operativer Beseitigung der Schnürfurche die normale Blutzirkulation
zurückerhält. — Nach der Anamnese sollen die Fäden zum Teil
noch bei der Geburt in den Furchen gelegen haben. Da der Fall,
namentlich wegen der therapeutischen Maßnahmen, die erforderlich
waren, um die Zirkulationsverhältnisse und die Funktion des Fußes
besser zu gestalten, eine eingehende Bearbeitung erfahren soll, wird
hier auf die Krankengeschichte nicht näher eingegangen.
Was den Befund am Fuß und Unterschenkel anlangt, so stimmt
dieser ziemlich genau tiberein mit dem an einem Präparat aus dem
Heidelberger pathologischen Institut, dessen Bild Schwalbe mit¬
teilt. Auch die von Koch, Marchand und R^dard beschriebenen
Fälle sind Analoga unserer Beobachtung. Von Marchand wird
übrigens noch besonders hervorgehoben, daß abgerissene amniotische
Fäden an der Placenta fixiert vorgefunden wurden.
Nehmen wir dazu noch die sechs zu Anfang unserer Abhand¬
lung erwähnten Fälle, die Bessel-Hagen und Hoffa anführen,
und den näher berichteten Fall von Bremmenkamp, der außer¬
dem noch einen ähnlichen von Fürst beschriebenen mitteilt, so
dürfte die Zahl der Fälle aus der Literatur ungefähr erschöpft sein,
ein Zeichen, wie selten amniotische Bänder direkt oder indirekt zur
Entstehung des Pes varus Veranlassung geben.
Meinem verehrten Chef, Herrn Professor Vulpius, sprecheich
zum Schluß für die gütige Ueberlassung beider Fälle meinen er¬
gebensten Dank aus.
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Die araniogene Entstehung des angeborenen Klumpfußes.
287
Literatur.
Ahlfeld, Lehrbuch der Geburtshilfe. 2. Aufl.
Derselbe, Berichte und Arbeiten III, 1886 87.
y. Ammon, Die angeborenen chirurgischen Krankheiten 1889.
Bessel-Hagen, Die Pathologie und Therapie des Klumpfußes 1889.
Bremmenkamp, Ueber einen Fall von amniotischen Schlingen an den Ex¬
tremitäten beim Fötus. Inaug.-Diss. Marburg 1889.
Hoffa, Lehrbuch der orthopädischen Chirurgie. 4. Aufl.
Jessen, Ein Beitrag zur pathol. Entwicklungsgeschichte. Virchows Archiv
1868, Bd. 42.
Klaußner, Die Mißbildungen der menschlichen Gliedmaßen 1900.
Koch, Ueber einen Fall von amniotischer Einschnürung des Unterschenkels
mit Klumpfuß. Deutsche med. Wochenschr. 1894, Nr. 34.
Kümmel, Mißbildungen der Extremitäten 1895.
Schmaus, Grundriß der pathol. Anatomie. 5. Aufl. 1899.
Schwalbe, Die Morphologie der Mißbildungen des Menschen und der Tiere.
I. Teil. 1905.
Veith, Das Amnion in seinen Beziehungen zu den fötalen Mißbildungen.
Inaug.-Diss. München 1901.
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XV. Bd. 19
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XVI.
Zur Kasuistik der angeborenen Coxa vara.
Von
Dr. Francke,
Chirurg in Altenburg (S.-A.).
Mit 3 in den Text gedruckten Abbildungen.
Erst die Röntgographie hat uns gelehrt, daß die Coxa vara
bei Kindern doch nicht ganz so selten vorkommt, wie man bisher
annahm.
Abgesehen von denjenigen Fällen, die in Verbindung mit mul¬
tiplen Deformitäten anderer Gelenke (Kredel) angeboren auftreten,
und den Schenkelhalsverkrümmungen im Gefolge akuter Osteomyelitis
und tuberkulöser Coxitis wurde die Coxa vara infantum meist
als Folge einer Rhachitis aufgefaßt oder man führte sie auf ein
oft nur geringfügiges Trauma zurück, das eine Epiphysenlösung ver¬
ursacht hätte.
Demgegenüber hat Hoffa als erster mit allem Nachdruck die
Behauptung aufgestellt, daß es auch eine typische kongenitale
Coxa vara gäbe.
In der „Freien Vereinigung der Chirurgen“ in Berlin stellte er
am 8. Mai 1905 zwei derartige Fälle vor (cf. Deutsche med. Wochen¬
schrift 1905, Nr. 32).
Da er an dem einen 4jährigen Patienten die doppelseitige Re¬
sektion der oberen Femurenden ausgeführt hatte, war er in der Lage,
makroskopisch und mikroskopisch die in Frage kommenden Teile zu
untersuchen. Auf Grund dieser Befunde konnte er den Beweis er¬
bringen, daß es sich hier um ein kongenitales Leiden handle,
welches einer Störung in der normalen Entwicklung der
Epiphysenlinie seine Entstehung verdanke.
Im folgenden gestatte ich mir nun drei einschlägige Fälle von
Coxa vara kurz zu beschreiben, die dadurch interessant sind, daß sie
Geschwister betreffen.
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Zur Kasuistik der angeborenen Coxa vara.
289
Die Eltern der drei Kinder sind gesund, in der Familie sind
keine sonstigen Deformitäten vorhanden. Nach Angabe der Mutter
waren die Schwangerschaften normal und die Entbindungen leicht
und spontan. Das älteste Kind, ein lOjähriger Knabe, ist ohne Fehl
gebaut, bei den übrigen drei Kindern fiel den Eltern längere oder
kürzere Zeit nach Beginn des Laufens ein leicht schwankender Gang
auf. Die Kinder sind sonst stets gesund gewesen, lernten mit 1 Jahr
laufen, haben nie englische Krankheit durchgemacht, noch einen Un¬
fall erlitten, der sie auch nur einen Tag ans Bett gefesselt hätte.
Fall I. Walter B., 6^4 Jahr alt (siehe Fig. 1). Für sein
Alter großer, kräftiger Knabe mit gesunden Brustorganen, ohne
Fig. 1.
Zeichen bestehender oder überstandener Rhacliitis. Beim Gehen leicht
wackelnder Gang, sehr ähnlich demjenigen bei doppelseitiger kon¬
genitaler Hüftluxation. Trend eien burgsches Symptom vorhanden.
Mäßige Lendenlordose. Gesäßmuskulatur gut entwickelt. Die unteren
Extremitäten leicht adduziert, nicht außenrotiert. Bewegungen in den
Hüften bis auf die mäßig beschränkte Abduktion frei und schmerzlos.
Die etwas vorspringenden Trochanteren stehen rechts 3, links 2 cm
über der Roser- N Platon sehen Linie.
Röntgenbild: Beiderseits Pfannen anscheinend normal,
oberer Pfannenrand nicht auffallend abgeschrägt.
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290
Francke.
Rechts: Schenkelhals stark verkürzt und verkümmert, gleich¬
sam keilförmig in den etwas verkümmerten Kopf hineingetrieben. Epi¬
physenlinie ganz unregelmäßig gezackt, von oben innen nach unten
außen verlaufend. Schenkelhalsneigungswinkel ca. 80°, so daß der
Kopf dem Trochanter minor sehr genähert erscheint und unterhalb
des Niveaus des Y-Knorpels steht.
Links: Hals besser ausgebildet, einen rechten Winkel zum
Schaft bildend. Epiphysenlinie nicht deutlich erkennbar, anscheinend
auch unregelmäßig.
Fall H. Grete B., 4 s /4 Jahr alt (siehe Fig. 2). Kräftiges,
gut genährtes Mädchen ohne Spuren früherer oder jetzt bestehender
Fig. 2.
Rhachitis. Ausgesprochen watschelnder Gang wie bei doppelseitiger
kongenitaler Hüftluxation, welche Diagnose auch anfangs gestellt
war. Erhebliche kompensierende Lendenlordose, Trendelenburg
positiv. Gesäßmuskulatur gut entwickelt. Beine leicht adduziert,
nicht außenrotiert, Bewegungen in den Hüften bis auf die beschränkte
Abduktion normal. Trochanteren vorspringend, rechts 3 x /2 cm, links
2 1 /* cm über der Roser-Nelatonschen Linie.
Röntgenbild: Beiderseits Pfannen normal, oberes Dach
etwas schräg verlaufend. Rechts: Schenkelhals verkümmert, im
Winkel von 90° vom Schaft abgehend. Epiphysenlinie nicht deut-
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Zur Kasuistik der augeborenen Coxa vara.
291
lieh im Bilde zu erkennen, doch lassen sich trotzdem unregelmäßige,
gleichsam zerfetzte Konturen mit kleinen inselartigen Schatten beob¬
achten. Verlauf nicht senkrecht, sondern schräg von oben außen nach
unten innen. Kopf annähernd normal, an normaler Stelle.
Links: Hals so gut wie fehlend. Epiphysenlinie verläuft
senkrecht von oben nach unten und ist stark verbreitert, besonders
nach unten hin. Sie ist stark gezackt, unten formen sich die Zacken
zu unregelmäßigen selbständigen Schatteninseln, die wohl kleinen
Knochenkernen entsprechen. Kopf annähernd normal, einen rechten
Winkel mit dem Schaft bildend. Der letztere erscheint in der Epi¬
physenlinie am Kopf in die Höhe geschoben, so daß das Niveau des
Trochanters dasjenige des Kopfes überragt.
Fall III. Hedwig B., l 3 /4 Jahr alt (siehe Fig. 3). Kräftiges
Kind ohne rhachitische Symptome. Derselbe Wackelgang, Lenden-
Fig. 3.
lordose, Beine leicht adduziert, nicht außenrotiert, Abduktion be¬
schränkt. Trochanteren beiderseits ca. 2 cm über der Roser-
Nelatonschen Linie.
Röntgenbild: Normale Pfanne, etwas schräges Dach. Rechts:
Hals verkürzt, Epiphysenlinie verbreitert, schräg von oben außen nach
unten innen, doch steiler als normal verlaufend. Knochenkern des
Kopfes normal. Schenkelhalsneigungswinkel etwas über 1 R.
Links: Hals verkümmert, schnabelförmig gegen den an¬
scheinend normalen Kopf zeigend, ähnlich wie in Fall I, rechte Seite.
Epiphysenlinie winklig geknickt, in der unteren Hälfte unregelmäßige
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292
Francke.
wolkige Knochenschatten. Winkel des Kopfes zum Schaft un¬
gefähr 1 R.
Die Diagnose Coxa vara kann nach den Untersuchungsbefunden
und den Röntgenbildern nicht zweifelhaft sein.
Vergleicht man unsere Befunde mit den von Hoffa beschriebenen,
sowie mit mannigfachen anderen, die auf Rhachitis oder Trauma zu¬
rückgeführt wurden, so ergibt sich ein typisches Bild.
Der wackelnde Gang, die durch Lendenlordose charakterisierte
Haltung, der Hochstand der Trochanteren über der Roser-Nälaton-
linie, das Trendelenburgsche Phänomen, alles erinnert sehr an
die kongenitale Hüftluxation. Kein Wunder, da ja bei beiden Leiden
infolge des Hinaufrückens der Trochanteren die Wirkung der pelvi-
trocbanteren Muskulatur in ähnlicher Weise verändert ist.
Wenn, wie in unseren Fällen, eine auffallende Adduktions- und
Außenrotationsstellung der Beine fehlt, wird die Diagnose ohne Hilfe
des Röntgenbildes schwer zu stellen sein. Die Abduktion ist stets
beschränkt.
Im Röntgenbild erkennt man dann sofort, daß der Kopf die
Pfanne nicht verlassen hat, aber der Winkel zwischen Kopf und
Hals einerseits und Femurschaft anderseits ist gleich oder unter
einem rechten Winkel. Der Hals ist verkümmert, scheint oft zu
fehlen. Auch der Gelenkkopf ist oft mehr oder weniger defekt
und hat sich in der Pfanne verschoben oder verdreht. Das obere
Pfannendach ist oft nach oben abgeschrägt.
Die Epiphysenlinie ist verbreitert, unregelmäßig gezackt, wie
zerfetzt, oft mit unregelmäßigen, inselartigen Knochenschatten in
den unteren Partien.
Sie verläuft in klassischen Fällen direkt senkrecht von oben
nach unten, jedenfalls steiler als normal. Gerade auf den vertikalen
Verlauf der Epiphysenlinie legt Hoffa aus differentialdiagnostischen
Gründen den größten Wert/indem er betont, daß bei der rhachitischen
Coxa vara die Epiphysenlinie immer schief von oben außen nach unten
innen verläuft.
Was nun die Aetiologie betrifft, so ist der traumatische
Ursprung mit Sicherheit auszuschließen. Ergibt schon die Anamnese
in unseren Fällen gar keine Anhaltspunkte, so schließt das doppel¬
seitige Auftreten der Deformität bei drei Geschwistern den Zufall
einer bestimmten äußeren Gewalteinwirkung wohl aus.
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Zur Kasuistik der angeborenen Coxa vara.
293
Auch für Rbachitis liegen nicht die geringsten Symptome vor,
desgleichen sind andere Erkrankungen wie Osteomyelitis, Tuber¬
kulose, hereditäre Lues, Osteomalacie ausgeschlossen.
Es handelt sich eben um ein angeborenes Leiden, für
welches in dieser Familie eine gewisse Disposition zu herrschen
scheint.
Dasselbe ist bei der jüngsten Patientin von 1 3 ,4 Jahren ebenso
deutlich ausgeprägt wie bei den 4- resp. 6jährigen Geschwistern
und demnach ziemlich stationär geblieben, so daß die Belastung
durch das Körpergewicht nur wenig Einfluß ausgeübt zu haben
scheint.
Hoffa hat durch mikroskopische Untersuchung zweier Resek¬
tionspräparate nachgewiesen, daß „der vollkommene Mangel von
Zeichen des Wachstums im Knorpel und Knochen charakteristisch
für die Coxa vara congenita ist. Dadurch unterscheidet sich das
Bild sehr deutlich von dem der rhachitischen Knochenerkrankung“.
Ihm ist es am wahrscheinlichsten, daß „durch eine intrauterin durch¬
gemachte Knochenerkrankung der Knochen die Eigenschaft des Wachs¬
tums verloren hat“. Jedenfalls zieht er den Schluß, daß „eine ange¬
borene Störung in der normalen Entwicklung der Epiphysenlinie zu
Grunde liegen muß“.
Diese Theorie erhält nach unserer Meinung durch die oben ge¬
schilderten Fälle eine weitere Stütze, indem gerade in dem Verhalten
der Epiphysenfuge die hauptsächlichsten Veränderungen sich nach-
weisen lassen. Es wird noch wiederholter mikroskopischer Unter¬
suchungen an geeigneten Präparaten bedürfen, um die Frage der
pathologischen Anatomie weiter zu lösen.
Von einer besonderen Behandlung haben wir in unseren Fällen,
als wenig Erfolg versprechend, abgesehen.
Literatur.
1. Hoffa, Die angeborene Coxa vara. Deutsche med. Wochenschr. 1905, Nr. 32.
2. Derselbe, Lehrbuch der orthopäd. Chirurgie.
3. Alsberg, Anatomische und klinische Betrachtungen über Coxa vara. Zeitschr.
f. orthopäd. Chirurgie Bd. 6 S. 106 ff.
4. Wagner, Die Coxa vara. Zeitschr. f. orthopäd. Chirurgie Bd. 8 S. 276 ff.
Letztere beide Arbeiten mit ausführlichem Literaturverzeichnis.
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XVII.
Ein Fall von Scoliosis traumatica und Diabetes
nach Blitzschlag und Trauma.
Von
Privatdozent Dr. V. Chlumsky in Krakau.
Während des Sommers 1905 wurde Krakau durch einige
Wochen fast täglich mit plötzlich einsetzendem Sturm und Gewitter
besucht. An einem heißen Tage (3. Juli 1905) kam das Gewitter
so außerordentlich schnell, daß die Passanten und Parkbesuoher nicht
einmal Zeit hatten zu flüchten. Blitz auf Blitz folgten und schlugen
in mehrere Bäume und Häuser ein. Unweit von meiner Wohnung
trafen sie in einen alten Kastanienbaum, der zum Teil zerschmettert
wurde. In dem Moment gingen zwei Personen vorbei (Mutter und
Tochter) und verunglückten.
Wie sich der ganze Vorgang abspielte, konnten sie nicht genau
angeben. Sie wurden beide sofort ohnmächtig. Die Mutter erzählt,
daß sie in einigen Sekunden nach dem Blitzschlag wieder erwachte
und aufstehen wollte; da fiel aber ein starker Baumast auf sie und
das Mädchen herunter, und sie verlor zum zweiten Male das Be¬
wußtsein. Die Passanten und die zugerufene Rettungsgesellschaft
befreite die Verunglückten von den Baumzweigen, verband sie und
transportierte sie nach Hause. Der ebetifalls unweit wohnende Haus¬
arzt Dr. F. Eichhorn ließ mich rufen, so daß ich die Verletzten
schon etwa in einer Stunde nach dem Unfall zu sehen bekam.
Die ältere Dame, etwa 35 Jahre alt, konnte schon wieder
herumgehen. Sie erlitt nur unbedeutende Hautabschürfungen und
Kontusionen so ziemlich auf dem ganzen Körper.
Das Mädchen, welches etwa 11 Jahre alt war, lag totenblaß zu
Bette und zitterte an dem ganzen Körper. Seine beiden unteren
Extremitäten waren gelähmt, der rechte Unterschenkel etwa in der
Mitte vollständig (beide Knochen) gebrochen, die rechte Beckenseite
flach eingedrückt und das rechte Os ilei ebenfalls in der Mitte
gebrochen. Außerdem bestanden zahlreiche Hautabschürfungen auf
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Ein Fall von Scoliosis traumatica und Diabetes etc.
295
der linken unteren Extremität, Distorsion des linken Fußgelenkes
und schwere Kontusionen am Rücken, doch, wie es schien, ohne
Verletzung der tiefen und inneren Organe. Obere Extremitäten,
Kopf und Brust waren unverletzt. Auf der rechten Beckenseite
bestand eine Blutsuffusion, die sich über die vordere und untere
Bauchwand bis zum Nabel und zur Mittellinie, hinten über die ganze
Kreuzgegend und unten bis zur vorderen oberen Hälfte des rechten
Oberschenkels ausbreitete.
Die Untersuchung war äußerst schwierig, da sich die Verletzte
kaum anrühren ließ. Sie schrie auch bei der vorsichtigsten Be¬
rührung und klagte in einem fort über die Schmerzen. Es war
auch nicht möglich sie aufzusetzen und genau am Rücken zu unter¬
suchen. Deswegen haben wir hier nur einen feuchten Verband mit einer
3°oigen Sodalösung angelegt und den gebrochenen Unterschenkel
mit einem fixierenden, feuchten Verband versehen. Die gequetschten
Stellen wurden teilweise trocken, teilweise feucht verbunden. Die
feuchten Verbände wurden 3—4 mal täglich gewechselt mit Aus¬
nahme des Unterschenkelverbandes, den wir nur einmal täglich wech¬
selten. Während des Verbindens hat die Patientin etwas Urin
gelassen. Die sofort in einer hiesigen chemischen Anstalt (Dr. Blas¬
berg) unternommene Untersuchung ergab nebst einzelnen roten
Blutkörperchen 3,9 °/o Zucker. Es wurde deswegen eine antidiabe¬
tische Diät angeordnet, sonst aber die Kranke kräftig genährt. Die
Temperatur stieg in den ersten zwei Tagen bis auf 38,5°, später
durch einige Tage bewegte sie sich zwischen 37,2—38 °. Eine leichte
Erhöhung, die 37,5 0 nicht überstieg, wurde noch durch ca. 3 Wochen
beobachtet. Puls war ebenfalls in der ersten Zeit recht beschleu¬
nigt und klein: er betrug 100—130 pro Minute. Alle diese Sym¬
ptome besserten sich allmählich und auch die Zuckermenge wurde
Tag für Tag geringer. Am 2. Tage nach der Verletzung betrug
sie nur 2 °;o, am 4. Tage war es nur 1 °/o und am 6. Tage fand
man nur unbedeutende Spuren. Seit dem 8. Tage war kein Zucker
mehr vorhanden, deswegen wurde von der antidiabetischen Ernährung
Abstandgenommen. Auch das Allgemeinbefinden wurde ebenfalls besser.
Die Patientin klagte zwar sehr über die Schmerzen, die auch in der
Ruhelage auftraten. Doch sie wurde immer ruhiger. Am 5. Tage
nach der Verletzung wurde an dem gebrochenen Unterschenkel ein
Gipsverband angelegt. Beide Extremitäten wurden täglich vorsichtig,
soweit es ging, massiert und vom 6. Tage an elektrisiert.
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296
V. Chlumsky.
Unter dieser Behandlung heilten die oberflächlichen Wunden,
die alle infiziert waren und recht stark sezernierten; auch die Läh¬
mungen gingen langsam zurück. Zuerst zeigten sich die Zehen¬
bewegungen an der linken Extremität, die sich etwas rascher erholte,
so daß sie im Verlaufe von etwa 3 Wochen eine fast vollkommene
Beweglichkeit erzielte. Die rechte untere Extremität zeigte erst
3 Wochen nach der Verletzung die ersten spontanen Zehen- und
einige Tage später auch die Quadricepsbewegungen und wurde erst
in 5 Wochen nach der Verletzung so ziemlich hergestellt. Die
Sensibilität hat durch die Verletzung nicht gelitten. In der rechten
Beckenseite und der nächsten Umgebung, deren Umfang schon oben
näher bezeichnet wurde, trat zuerst eine sehr starke Schwellung ein,
die an der lateralen Seite des Beckens direkt eine Fluktuation auf¬
wies. Diese Partie war schon bei einer recht vorsichtigen Berührung
äußerst empfindlich. Auch die Massage, die ich hier vorsichtig aus¬
führte, wurde von der Patientin als sehr schmerzhaft empfunden.
Durch ca. 14 Tage lag die Patientin in derselben Position,
und nur mit der größten Mühe konnte man die Unterwäsche wech¬
seln. Inzwischen wurden die Verbände in entsprechenden Inter¬
vallen durch neue ersetzt und in der 5. Woche auch der Gipsver-
band gespalten. An den Bruchstellen hat sich ein ziemlich fester
Callus gebildet, der die Bruchenden in normaler Lage zusammenhielt.
Der Gipsverband wurde aber doch durch weitere 14 Tage beibehalten,
nur täglich eröffnet und die Extremität fleißig massiert und elektri¬
siert, wodurch auch die Beweglichkeit fast zur normalen Grenze ge¬
bracht wurde.
Am längsten hielt die Schwellung und die Schmerzhaftigkeit
der rechten Beckenhälfte und des Rückens an. Erst in der dritten
Woche nach der Verletzung konnte die Patientin mit Unterstützung
sitzen und umgebettet werden. Schon damals fiel es uns auf, daß
sie sich stark krumm hielt, doch da die Verletzung noch ziemlich
frisch war, betrachteten wir es als eine natürliche Folge der Ab¬
schwächung und der Schmerzen.
Als aber die Patientin in der 6. Woche zu stehen probierte,
hat sie diese schiefe Stellung beibehalten. Sie stand hauptsächlich auf
der linken unteren Extremität, neigte stark nach links, so daß die
rechte Beckenhälfte bedeutend hervorstand. Die Lendenwirbelsäule
bildete einen großen Bogen nach links mit einer Entfernung von
der Körpermittellinie von ca. 3 cm in der Bogenkonvexität und einer
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Ein Fall von Scoliosis traumatica und Diabetes etc.
297
Entfernung von der Vertikalen (durch die Crena ani geführt), die
etwa 5 cm an dieser Stelle betrug. In der unteren Brusfcparfcie
(10.—11. Wirbel) ging die Wirbelsäule nach rechts und bildete dort
einen zweiten Bogen mit der Konvexität nach rechts. Dieser Bogen
war ebenso groß wie der untere. Es bestand weiter die bekannte
hohe Schulter, kurz und gut, wir hatten hier ein Bild von einer weit
fortgeschrittenen Skoliose. Doch eins fehlte hier, eine entsprechend
große Rotation der Wirbel. Sie war zwar vorhanden, doch in einem
minimalen Grade, so daß von einer Buckelbildung keine Rede sein
konnte. Eine Verbiegung der Rippen war sicher nicht vorhanden.
Diese Verkrümmung der Wirbelsäule ging ziemlich schnell
ohne eine besondere Behandlung zurück, so daß in der 8. Woche
nach der Verletzung nur eine unbedeutende Skoliose bestand, die
stationär blieb. Aber auch diese wurde dann unter entsprechender
Behandlung besser; heute, 3 Monate nach der Verletzung, ist an
dem Rücken des Mädchens nur eine leichte Schwellung des rechten
Beckens zu sehen, die Wirbelsäule ist aber vollkommen gerade.
Der weitere Verlauf des Leidens war ein normaler. Von der
ti. Woche an konnte die Patientin selbständig und eine Woche später
auch ohne den Verband hinkend gehen. Die spontanen Schmerzen sind
vollständig verschwunden und auch die Fluktuation in der rechten
Beckengegend wurde sowie die Schwellung geringer, bis von der
ersteren keine Spur zu finden war. Die noch zurückgebliebene
Schwellung entspricht der ziemlich großen Callusbildung am Os ilei.
Bei dieser Verletzung waren zwei Tatsachen besonders be¬
achtenswert: 1, das Auftreten von Zucker im Harn und 2. die
merkwürdige Form von Skoliose. Zucker im Harn ist nach
der Verletzung keine Seltenheit, doch gewöhnlich tritt er nach
schweren Kopf- und Bauchverletzungen auf. Bei subkutanen Knochen¬
verletzungen wurde er nur selten bemerkt.
In unserem Falle waren, wie es schien, innere Organe intakt.
Die Verletzung war zwar schwer und mit großen Blutsuffusionen
verbunden, doch für die Erklärung des Diabetes war unserer Mei¬
nung nach diese Ursache nicht hinreichend. Wenigstens schien es
uns nicht verständlich, warum der Diabetes so schnell verschwand,
da doch die Suffusionen eigentlich in den ersten Tagen stetig wuchsen
und auch die Schwellung zunahm.
Vielleicht wurde der Diabetes direkt durch den Blitzschlag
oder durch den großen Schrecken während der Verletzung verursacht.
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298 V. Chlumsky. Ein Fall von Scoliosis traumatica nach Diabetes.
Wie erwähnt, wurde die Patientin höchst wahrscheinlich zuerst durch
den Blitz betäubt — und erst später von den fallenden Baumästen
getroffen. Darauf weist die Erzählung der Mutter, die etwas weiter
von dem Baumstamme ging und während des Blitzschlages in Ohn¬
macht fiel. Als sie dann aufstehen wollte, wurde sie von den
fallenden Baumzweigen zum zweiten Male zu Boden geschleudert. Beide
Patientinnen wiesen aber keine Verletzungen auf, die man für spezi¬
fische Blitzschlagverletzungen betrachten könnte. Die jüngere Patientin
hat alles vergessen, was mit ihr kurz vor und während der Verletzung
geschah. Sie ist eine nervöse, reizbare Natur, die in den ersten
Wochen durch jedes darauf folgende Gewitter in die höchste Auf¬
regung gebracht wurde.
Vor der Verletzung wies sie keine Symptome von Diabetes
auf. Sie wurde von einem sehr gewissenhaften Kinderarzt (Dr. Rosen¬
blatt) wegen Blasenkatarrh kurz vorher behandelt, und von Diabetes
wurde keine Spur gefunden. Sie fiel auch weder durch häufiges
Trinken noch durch häufiges Wasserlassen auf.
Noch beachtenswerter als der so schnell verschwundene Diabetes
war die Skoliose, die sicher in dem so großen Grade erst durch
die Verletzung hervorgerufen wurde. Sie erinnerte an die bekannte
Scoliosis ischiadica. Es bestand eine auffallende Verkrümmung der
Wirbelsäule mit einer normalen Torsion ohne die Verunstaltung der
Rippen. Mit der Heilung der Verletzung verschwand sie ebenfalls
wie die ischiadische Skoliose nach der Heilung des Grundleidens
ohne eine besondere antiskoliotische Behandlung. Es ist zwar mög¬
lich, daß ein leichter Grad der Skoliose schon auch vor der Verletzung
bestand, wenn auch die Eltern behaupten, daß das Kind vorher
kerzengerade war. Eine kleine Verkrümmung konnte leicht den
Eltern entgehen; doch eine so auffallende Verbiegung, wie sie nach
der Verletzung bestand, müßte schon von der Umgebung gesehen
werden. Daß die Skoliose durch den Unfall aquiriert wurde, das
bestätigt auch die ziemlich spontane Besserung derselben. Heute,
6 Monate nach der Verletzung, ist die Wirbelsäule der Patientin
schnurgerade. Nur die rechte Hüfte ist etwas abstehend, was durch
den Knochencallus und eine leichte abnorme Verschiebung der Knochen¬
teile hervorgerufen ist.
Diese Form der Skoliose nach Traumen wurde unseres Wissens
noch nicht beobachtet.
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XVIII.
Ein neues Nabelbruchband für Kinder.
Von
Privatdozent Dr. V. Chlumsky in Krakau.
Mit 1 in den Text gedruckten Abbildung.
Die Umbilikalhernien heilen bei kleinen Kindern meistens sehr
gut ohne Operation durch die Anwendung von entsprechenden Vor¬
richtungen. Wenn die Sache doch manchmal mißglückt, so liegt die
Ursache in der Schwierigkeit der Wahl und der Mangelhaftigkeit
dieser Vorrichtungen. Auch die große Anzahl dieser Mittel weist
darauf hin, daß sie ihrem Zwecke oft nicht entsprechen. Ich meine
hier besonders die vielen Bruchbänder, die gewöhnlich schlecht sitzen
und das Vorwölben und Austreten des Bruches nicht verhindern. Unter
solchen Umständen ist natürlich auch die Verkleinerung und die Schlie¬
ßung des Bruches ungemein erschwert.
Kein Wunder, daß infolgedessen viele Aerzte die Bruchbänder
bei den Umbilikalhernien überhaupt verwerfen und die Brüche nur mit
Gaze oder Pflasterverbänden behandeln oder sehr zeitig zur Operation
schreiten. Doch die Hernienverbände müssen mit einer besonderen
Geschicklichkeit gemacht werden und — besonders die Pflasterver¬
bände — werden oft schlecht vertragen.
Ich habe in den letzten Jahren mehrere Fälle von Umbilikal¬
hernien bei Kindern behandelt und alles mögliche mit verschiedenen
Resultaten ausprobiert. Ich muß zugeben, daß die Pflasterverbände
— besonders diejenigen aus dem amerikanischen Pflaster — sich als
die besten Mittel erwiesen haben. Sie wurden gewöhnlich leicht
vertragen und erzeugten fast keine Ekzeme. Doch die Eltern
wünschten fast immer was anderes, da durch die Verbände das Baden
des Kindes erschwert und auch das Anlegen des Verbandes für die
meist sehr arme Praxis lästig war. Von der Operation wollte die
Mehrzahl überhaupt nichts hören, und das mit Recht, da schließlich
alle di$se Hernien mit Geduld doch ohne Operation heilen und die
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300 V. Chlumsky.
Kinder keiner so großen Gefahr, wie sie doch bei jeder Operation
vorkommt, ausgesetzt sind.
Ich wurde also gezwungen, wieder zu den Bruchbändern zu
greifen. Da aber die Bänder fast nie ordentlich saßen — auch die
besten nicht ausgenommen —, bemühte ich mich, irgend was aus¬
findig zu machen, was von dem Hauptübel — dem Abrutschen —
befreit wäre. Zuerst suchte ich die Ursache des schlechten Sitzens
der Bänder. Diese liegt unzweifelhaft darin, daß die Bänder am
Körper keinen festen Halt haben. Sie werden quer über die Mitte
des Bauches gelegt, gerade dort, wo sich die stärkste Schicht der
Weichteile befindet, die beweglich ist und keinen stärkeren zirkulären
Druck verträgt. Da also diese Stelle als Stützpunkt für die Bruch¬
bänder direkt ungeeignet ist, so muß eine andere vorteilhaftere dazu
gewählt werden. Auf erster Stelle kommt hier die Beckengegend in
Betracht. Sie dient oft als Stützpunkt für verschiedene Apparate
und liegt der Nabelgegend am nächsten. Sie ist der eigentliche
Stützpunkt der Bauchbinden, die wir auch zur Behandlung der
großen Nabel- und Bauchbrüche an wenden und wurde von Hoffa
für seine Nabelbruchbinde für Erwachsene als Grundlage genommen.
Doch diese letztere sonst vorzügliche Bruchbinde ist für die Kinder un¬
geeignet. Sie ist zu kompliziert und auch zu teuer; außerdem ist die
Anfertigung derselben gerade in der Kinderpraxis sehr schwer; dies
wird wieder ein Grund von manchen technischen Fehlern und von
weniger exaktem Funktionieren der Binde.
Ich habe also was anderes suchen müssen und zuerst die ge¬
wöhnlichen entsprechend modellierten Leistenbruchbänder versucht.
Diese Bänder richtig angepaßt sitzen gut, sind verhältnismäßig billig
und leicht zu tragen. Auch das Anlegen und Anpassen derselben ist
nicht allzu schwer.
Ich habe diese Bruchbänder noch mit einer elastischen Feder
versehen, welche durch zwei Schrauben mit der Bruchpelotte ver¬
bunden ist und von hier schief über die Bauchhöhle zum Nabelbruch
verläuft. Sie ist bei den Bruchbändern für kleine Kinder etwa so
stark wie die Federstahlbänder bei den orthopädischen Miedern; für
ältere Kinder wird sie entsprechend stärker genommen. In der Nabel¬
gegend liegt sie fest der Bauchwand an und ist hier mit einer läng¬
lichen Spalte versehen. Hier wird eine ovale, ca. 6—8 cm im Durch¬
messer messende Pelotte angebracht, die sich mittels einer Schraube
in der Spalte verschieben läßt (siehe Figur).
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Ein neues Nabelbruchband für Kinder.
301
Damit ist eigentlich die ganze Sache erledigt. Das Leisten¬
bruchband — egal, ob es von links oder von rechts verläuft — wird
so wie gewöhnlich angelegt und unten mit dem Schenkelband gehörig
befestigt. Zugleich legt sich die Pelotte, deren Lage und Größe wir
schon bei der Konstruktion des Bruchbandes entsprechend gewählt
haben, von selbst über die Nabelöffnung und wird in dieser Lage
unverschieblich durch den Druck der Feder an der gegebenen Stelle
fixiert. Da die Feder den Patienten sonst nirgends drückt, wird sie
leicht vertragen. Beim starken Pressen, Weinen, Schreien etc. gibt
sie zwar etwas nach, doch ist die Kraft
genügend stark, um das Austreten des
Bruchsackes zu verhindern. Uebrigens
kann man die Lage der Pelotte, und die
Kraft, mit welcher sie die Bruchpforte
verschließt, noch dadurch unterstützen,
daß man ein Gummiband um den Bauch
herumführt und an beiden Seiten der
Pelotte mittels Stift befestigt.
Die Nabelpelotte ist ganz flach und, wie gesagt, von ovaler
Konfiguration. Sie dringt nicht wie die Knopfpelotte in die Nabel¬
öffnung und läßt sich nach Wunsch entweder quer oder parallel
mit der Federachse legen, wodurch das Anpassen derselben sehr er¬
leichtert wird.
Wir richten die Sache so an, daß wir zuerst ein fertiges Leisten¬
bruchband anpassen und zugleich die Lage und die Länge der Feder
sowie die Form und die Größe der Pelotte bestimmen, die dann erst
angefertigt werden. Die untere Pelotte, die beim Leistenbruchband
zum Verschluß des Inguinalringes dient, wird gewöhnlich etwas flacher
und breiter genommen als sonst.
Mit diesen Bruchbändern waren die Eltern der Patienten —
besonders diejenigen, die schon mehrere andere Behandlungssysteme
probiert haben — recht zufrieden und auch die Endresultate sind
bis jetzt durchwegs gut gewesen. Das Modell des Bruchbandes
wurde beim Patentamt angemeldet 1 ).
*) Anmerkung während der Korrektur: Dieses Bruchband habe ich jetzt
auch bei zwei erwachsenen Patienten mit einem guten Resultat angewandt.
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XIX.
(Aus der chirurgisch-orthopädischen Privatklinik des Sanitätsrat
Dr. Köhler-Zwickau i. S.)
Ueber einen Fall veralteter Sublnxation des Os
navicnlare am Fuß.
Von
Dr. med. Karl Gängele,
leitendem Arzt der Klinik.
Mit 3 in den Text gedruckten Abbildungen.
Isolierte Luxationen der Fußknochen sind eine seltene Ver¬
letzung. Während die Luxationen im Talocruralgelenk und die
Luxationen pedis sub talo noch einen verhältnismäßig größeren Pro¬
zentsatz dazu stellen und auch von Luxationen der Metatarsalknochen
eine nicht kleine Anzahl von Fällen in der Literatur bekannt ge¬
worden sind, sind Luxationen der kleinen Tarsalknochen nur in ganz
geringer Zahl berichtet.
Was speziell die Luxationen des Kahnbeins anbelangt, so dürfen
wir nach Bähr 1 ) nur 5 der veröffentlichten Fälle als „ eigentliche“
oder „isolierte“ Luxationen anerkennen: Piedagnet, Walker,
Smith, Linhart, Röschke 2 ). Dazu kommen nachHoffa 3 ) noch
4 weitere Fälle von Pieper, Quänu, Berger und Woday. In
dem Falle von Riegner 4 ) handelt es sich nur um Luxation im Talo-
naviculargelenk. Gobeliewski 5 ) spricht in seinem Atlas der „Un¬
fallheilkunde“ allerdings von 18 Fällen von Luxationsfrakturen resp.
Subluxationen des Os naviculare pedis aus seinem eigenen Materiale.
*) Traumatische Luxationsformen der kleineren Fußwurzelknochen. Samm¬
lung klin. Vorträge Nr. 136.
2 ) Bähr 1. c.
3 ) Frakturen und Luxationen. Stuttgart 1904.
4 ) Allgem. med. Zentralzeitung 1901, Nr. 53.
s ) Unfallheilkunde. Verlag von J. F. Lehmann, München.
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Ueber einen Fall veralteter. Subluxation des Os naviculare am Fuß. 303
Nähere Angaben fehlen: doch betont auch Gobeliewski, daß ganz
reine Luxationen des Kahnbeins zu den seltensten Verletzungen
gehören. Bei dem von ihm im Röntgenbild veranschaulichten Falle
handelt es sich mehr um eine Fraktur des genannten Knochens mit
nur ganz geringer Subluxationsstellung.
Die Seltenheit der Verletzung findet ihre Erklärung in der
Festigkeit und Menge der Band verbin düngen zwischen den einzelnen
Fußwurzelknochen. Betrachten wir ein Bänderpräparat, so sehen
wir das Kahnbein mit Ausnahme der Tuberositas von straffen Faser¬
zügen bedeckt. Auf der Streckseite verlaufen
a) das Ligamentum tibio-naviculare (ein Teil des Lig» del-
toideum);
b) das Ligamentum talo-naviculare dorsale;
c) » g calcaneo-naviculare dorsale;
d) die Ligamenta naviculari-cuneiformia dorsalia;
auf der Hohlfußseite:
a) das Ligamentum calcaneo-naviculare plantare;
b) die Ligg. naviculari-cuneiformia plant.
Die Bänder der Streck- wie Beugeseite greifen auf die mediale
Seite über. Lateral ist das Kahnbein durch die Pars calcaneo-
navicularis des Ligamentum bifurcatum am Calcaneus befestigt (cfr.
Toldt, Anatomischer Atlas S. 249). Soll es zu einer Kahnbein¬
luxation kommen, müssen beinahe sämtliche genannten Bänder teils
durchrissen, teils an ihrem Ansatz abgesprengt werden.
Einen gewissen Schutz gegen eine Verschiebung des Kahn¬
beines bieten übrigens auch die dieses überbrückenden Sehnen und
Muskeln.
Aus der Lage des Kahnbeins und der Anordnung seiner
Bänder ergibt sich auch der Mechanismus der isolierten Luxa*-
tion. Eine »laterale 14 ist durch das benachbarte Keilbein un¬
möglich gemacht. Am leichtesten dürfte die Luxation nach
oben (»dorsale 44 Kahnbeinluxation) und die nach der medialen Seite
(»mediale 44 Luxation) erfolgen; aber auch eine »plantare 44 Verren¬
kung erscheint im Gegensatz zu den Behauptungen von B r o c a,
Richet 1 ), nach welchen die plantaren Bänder des Fußes unzer¬
reißbar sein sollen, nicht von vornherein ausgeschlossen, nachdem
Linhart und Piedagnet eine solche durch Sektionsbefund fest-
l ) Bahr 1. c.
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XV. Bd. 20
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304
Karl Gaugele.
gestellt haben. Gobeliewski hält sie sogar nach seinen Erfah¬
rungen mit der medialen für die häufigste.
Nach Bährs Anschauung ist in den bis dahin (1895) ver¬
öffentlichten Fällen wohl ausschließlich eine direkte Gewalteinwir¬
kung die Ursache der Verletzung gewesen. Eine solche wird bei
einer Luxation des Os naviculare nach der medialen Seite z. B. in
einem schräg auf den Fußrücken von oben lateral nach unten medial
mit großer Kraft niederfallenden Gegenstand gegeben sein können;
bei der plantaren Luxation kommt die ebengenannte Ursache oder
Ueberfahren eines Wagenrades, bei der dorsalen meist ein Sturz
auf den Fuß (Sprung vom Pferde, besonders unerwartetes Tiefer¬
treten bei Tragen einer schweren Last) in Frage.
Daß es auch auf indirektem Wege, z. B., wie Linhart meint,
durch forcierte Höhlung der Sohle zu einer Kahnbeinluxation kom¬
men kann, ist theoretisch wohl möglich, scheint aber bis jetzt nicht
nachgewiesen zu sein.
Aus der Art der einwirkenden Gewalt ist ferner leicht einzu¬
sehen, daß die Verletzung sich meist nicht auf das Kahnbein be¬
schränkt, sondern auch die umgebenden Knochen mehr oder weniger
in Mitleidenschaft gezogen werden.
In der Tat sind sehr häufig Frakturen teils am Kahnbein selbst,
teils an den Keilbeinen u. s. w. beobachtet worden.
Bekannt ist weiterhin durch die Arbeiten 1 ) von Bur nett,
Malgaigne und Kaufmann eine beinahe typisch zu nennende Ver¬
bindung der Luxation im Gelenk zwischen dem Kahnbein und den
drei Keilbeinen mit der Luxatio sub talo, wobei das Os naviculare
am Kopfe des Talus haften bleibt.
Daß es in einigen Fällen durch die einwirkende Gewalt doch
zu einer isolierten Luxation (resp. Subluxation) ohne größere Ver¬
letzung der umgebenden Knochen kommt, dürfte nach meiner An¬
sicht vielleicht durch eine bereits bestehende Bänderlockerung, wie j
sie durch schon vor dem Unfall vorhandene Plattfußstellung teilweise
gegeben sein kann, begünstigt werden. Noch mehr dürfte aber
diesbezüglich die mit Pes valgus verbundene Lageveränderung der
Fußwurzelknochen in Betracht zu ziehen sein. In ausgesprochenen
Fällen von Plattfuß (Pronationskontrakturen) tritt das Kahnbein ja
*) Handbuch der praktischen Chirurgie von v. Bergmann, v. Bruns,
v. Mikulicz Bd. 4.
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Ueber einen Fall veralteter Subluxation des Os naviculare am Fuß. 305
auch in einen geringen Grad von Subluxationsstellung, wie der Paus¬
abzug eines Röntgenbildes auf Fig. 1 deutlich zeigt. Es läßt sich
leicht denken, daß es in solchen Fällen sowohl bei direkt als in¬
direkt einwirkender Gewalt eher zu einer Luxation kommen wird,
während bei dem normalen, durch straffe Bänder in seiner Lage
gehaltenen Fuß eine Fraktur wahrscheinlicher erscheint.
Mit Bähr möchte ich noch hervorheben, daß es sich wohl
in den allerseltensten Fällen um eine vollkommene Luxation, sondern
vielmehr um eine Subluxation handeln dürfte, indem das Kahnbein
Fig. 2.
entweder mit dem Talus oder den Keilbeinen nicht ganz außer Ver¬
bindung getreten ist.
In unserem Falle handelt es sich um einen heute 57 Jahre
alten Unfallskranken, der vor 17 Jahren eine Verletzung seines
linken Fußes erlitt. Die Krankengeschichte, welche ich den Unfalls¬
akten entnahm, ist folgende:
H. M„ Geschirrführer, war damit beschäftigt, eiserne Brücken¬
träger von 15 m Länge abzuladen; der letzte Träger kam dabei
ins Rutschen und fiel aus Wagenhöhe dem Patienten auf den linken
Fußrücken. Es blutete stark aus einer mehrere Zentimeter langen
Wunde, der ganze Fuß schwoll rasch stark an, Patient konnte keinen
Schritt mehr gehen. Der behandelnde Arzt stellte komplizierten
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306
Karl Gaugele.
Bruch der Fußwurzelknochen fest. Nach Beendigung der mehrere
Monate währenden Kur (Verbände, Massage etc.) erhielt Patient eine
Dauerrente von 20°/o.
Anfangs Dezember 1905 uns zur Kontrolluntersuchung über¬
wiesen, bot der Mann folgenden Befund (Auszug aus dem Gut¬
achten) :
Subjektive Angaben: Beim schweren Heben und Tragen
klagt Patient über starke Schmerzen im linken Fuß; ebenso wenn
er länger als eine Stunde gehen oder stehen muß. Er könne nur
leichte häusliche Arbeiten verrichten.
Objektiver Befund: Kräftig gebauter Mann von gut ent¬
wickelter Muskulatur.
Linkes Bein in X-Beinstellung mittleren Grades. Ziemlich
starke Krampfaderbildung an beiden Unterschenkeln. Beiderseits
Knick- und Plattfußstellung, links erheblich stärker als rechts.
Keine ödematöse Schwellung, nirgends Druckempfindlichkeit.
Das Kahnbein ist beinahe seiner ganzen Länge nach an der medialen
Fußseite vorgelagert, und zwar derart, daß die Keilbeinfläche des
Kahnbeins medialwärts sieht. Der mediale Fußrand wird dadurch
deutlich verlängert, beträgt 28 x /a cm, gegenüber 27 cm rechts.
Zehenbewegungen sind normal ausführbar; ebenso die im Fußgelenk,
mit Ausnahme der Dreh- und Rollbewegungen, welche stark be¬
hindert sind.
Die Wadenmuskulatur ist gegenüber rechts stark abgemagert
(Umfangsdifferenz 2 x /a cm).
Die Leistungsfähigkeit des Beines ist eine verhältnismäßig
gute: Patient kann auf dem kranken Bein allein stehen, mit dem¬
selben freihändig voran auf einen Stuhl steigen. Der Gang im
Zimmer ist beschwerdefrei, nicht hinkend.
Das Röntgenbild (Fig. 3) zeigt, daß drei Viertel Volurateile
des Kahnbeines über den mittleren Fußrand hervorragen. Seine Ver¬
bindung mit dem Taluskopf wurde durch die Luxation aber nur
um das laterale Drittel aufgehoben, während es mit dem 2. und 3.
Keilbein, und dem Würfelbein vollkommen außer Kontakt getreten
ist. Nur mit dem 1. Keilbein ist die Verbindung noch aufrecht
erhalten. An der dem 1. Keilbein zugekehrten Gelenkfläche des
Kahnbeins sehen wir eine kleine Infraktionslinie verlaufen, die je¬
doch keine Konturenveränderung bewirkt hatte.
Das 2. Keilbein scheint ebenfalls in seiner halben Breite in-
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Ueber einen Fall veralteter Subluxation des Os naviculare am Fuß. 307
frakturiert gewesen zu sein; doch läßt sich das jetzt nicht mehr mit
voller Sicherheit erkennen. Die kleinen Exostosen endlich am la¬
teralen Gelenkende zwischen Os cuboideum und Calcaneus dürften
mit dem Unfall kaum einen Zusammenhang haben.
Das beigelegte photographische Bild (Fig. 2) zeigt deutlich die
starke Plattfußstellung des verletzten Beines; auch die Umrisse des
medial vorgelagerten Kahnbeins
sind bei genauem Betrachten wohl
zu erkennen.
Es handelt sich also in unse¬
rem Falle um eine veraltete, nicht
reponierte mediale Subluxation des
Os naviculare ohne gröbere Ver¬
letzungen am Kahnbein selbst oder
an den umgebenden Knochen.
In ätiologischer Beziehung ist
zu bemerken, daß die Verletzung
durch eine direkte Gewaltein¬
wirkung zu stände kam. Trotz des
enormen Gewichtes des schweren
Eisenträgers kam es aber auf¬
fallenderweise nur zu geringen
anderweitigen Verletzungen, speziell
Frakturen an den Fußwurzelkno-
chen. Dagegen ist auch hier die Luxation keine vollkommene;
speziell die Verbindung mit dem Taluskopf ist nur wenig gelöst.
Die Symptome sind ziemlich ausgesprochen:
Deutliche Vorlagerung des Kahnbeines, Abflachung des Fu߬
gewölbes mit Verlängerung des medialen Fußrandes. Die heutigen
Beschwerden des Patienten bestehen hauptsächlich in leichter Er¬
müdbarkeit und Schmerzhaftigkeit, erstere bedingt durch eine nicht
unerhebliche Muskelabmagerung, letztere durch die Plattfußstellung.
Daß trotz der Deutlichkeit der Symptome die Diagnose direkt
nach der Verletzung nicht richtig gestellt wurde, dürfte einerseits
an der großen akuten Schwellung dieser Fälle gelegen haben, an¬
derseits seine Entschuldigung darin finden, daß dem Untersucher
damals das exakteste diagnostische Hilfsmittel, die Röntgenstrahlen,
noch nicht zu Gebote stand. Mit der Verkennung der Diagnose war
die Unterlassung eines Repositionsversuches von selbst gegeben, der
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308
Karl Gaugele.
bei den geringen anderweitigen Verletzungen wahrscheinlich geglückt
wäre. Ich komme darauf weiter unten zurück.
Im allgemeinen dürfte die Diagnose in ausgesprochenen Fällen
nicht schwerfallen, da schon durch die Betastung das Fehlen des
Kahnbeins an normaler Stelle zu konstatieren ist. Bei der * medialen *
Luxation wird damit zugleich eine Verlängerung des medialen Fu߬
randes, bei der dorsalen und plantaren dagegen eine Verkürzung
verbunden sein. Allerdings pflegt die Weichteilschwellung nach dem
übereinstimmenden Bericht der Autoren anfänglich oft eine so hoch¬
gradige zu sein, daß eine sichere Diagnose geradezu unmöglich er¬
scheint. Eine solche erlangen wir aber heute dann immer noch
mit Bestimmtheit mittels der Durchleuchtung mit Röntgenstrahlen.
Letztere dürfte sich auf jeden Fall empfehlen, schon um die meist
mitauftretenden Nebenverletzungen an Knochen und Gelenken zu
erkennen und dementsprechend die Therapie in dieser oder jener
Richtung zu modifizieren.
Prognostisch ist die Verletzung immer eine schwere zu nennen;
auch nach vollkommen geglückter Reposition wird die Heilungsdauer
schon wegen der genannten Komplikationen immer längere Zeit in
Anspruch nehmen und eventuell dauernde Folgen zurücklassen.
Die Behandlung hat zunächst die Reposition des luxierten
Kahnbeins zu erstreben. Diese dürfte bei einer bloßen Subluxation,
bei der das Kahnbein seinen Gelenkspalt nicht vollkommen verlassen
hat, nicht zu schwer sein, vorausgesetzt, daß die Luxation trotz der
Weichteilschwellung sofort richtig erkannt, speziell durch die Rönt¬
genstrahlen festgestellt ist. So dürfte bei der „medialen“ Subluxa¬
tion bei einer an den Zehen und Ferse nach lateral ausgeübten
Zugwirkung ein Druck auf das Kahnbein in der Richtung von
medial nach lateral genügen, um normale Verhältnisse zu schaffen;
bei der dorsalen Subluxation ein Druck in der Richtung von oben
nach unten, bei der plantaren von unten nach oben.
Die Reposition kann allerdings durch Frakturen am Kahnbein
selbst oder den mit ihm artikulierenden Knochen bedeutend erschwert,
wenn nicht unmöglich gemacht werden.
Noch schwieriger gestalten sich die Verhältnisse bei der totalen
Luxation, bei der das Kahnbein gänzlich aus seinen Gelenkverbin¬
dungen herausgetreten ist, auch wenn keine weiteren Komplikationen
durch Frakturen an den Fußwurzelknochen gegeben sind. Nach
den bisherigen Erfahrungen dürfte es nur schwer gelingen, das Ziel
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Ueber einen Fall veralteter Subluxation des Os naviculare am Fuß. 309
durch die oben angegebenen einfachen Repositionsmanöver zu er¬
reichen. Man wird vielmehr ohne weiteres gezwungen sein, die
Reposition auf blutigem Wege zu erreichen zu suchen. Der Haut¬
schnitt ist dort anzulegen, wo man am besten die für die Reposition
des Kahnbeins nötige Lücke herzustellen vermag: bei der dorsalen
und plantaren Luxation am medialen Fußrand, bei der medialen an
der entsprechenden Stelle des Fußrückens. Die Wiederherstellung
der Kahnbeinlücke mit irgend einem geeigneten Instrument (Meißel
oder ähnl.) dürfte durch den oben beschriebenen, an Ferse und
Zehenballen ansetzenden, lateralwärts wirkenden Zug bestens unter¬
stützt werden.
Gelingt die Reposition trotz aller Versuche nicht, kann in
Fällen, wo durch den luxierten Knochen eine schwerere Funktions¬
störung gegeben erscheint, die Exstirpation angebracht sein.
Eine weitere, nicht immer leichte Aufgabe ist es, den repo-
nierten Knochen in seiner Stellung zu erhalten. Bähr empfiehlt
einen geeigneten Heftpflasterverband, da derselbe eine genaue Kon¬
trolle zulasse. In der Tat kann man z. B. den bekannten Verband
von Gibney als durchaus zweckmäßig betrachten. Nach Abnahme
der Schwellung dürfte aber auch sicher ein Gipsverband seinen Dienst
für die erste Zeit tun; späterhin kämen Massage und medikomecha-
nische Nachbehandlung in Frage.
In unserem Falle einer veralteten Kahnbeinluxation kann
natürlich von einer Reposition keine Rede mehr sein. Ferner ist
es fraglich, ob durch die Exstirpation des Kahnbeins, wie dies für
veraltete Fälle besonders empfohlen wird, hier eine wesentliche
Besserung erzielt werden könnte. Die hauptsächlich die Leistungs¬
fähigkeit des verletzten Beines herabsetzenden Momente sind die
Muskelschwäche und die schmerzhafte Plattfußstellung; erstere dürfte
nach so langer Zeit selbst durch eine energische Behandlung nicht
mehr wesentlich gehoben werden können; dagegen wird letztere
durch geeignetes Schuh werk mit Einlage gebessert werden können;
dabei ist vor allem darauf zu achten, daß das Gewölbe des Fußes
wieder hergestellt und besonders vorragende Punkte des luxierten
Kahnbeins durch genügende Polsterung resp. Ausarbeitung des
Schuhes vor Druck geschützt werden.
Meinem Chef, Herrn Sanitätsrat Dr. Köhler, der mich bei
der Arbeit mit seinem gütigen Rate unterstützte, möchte ich hierfür
meinen ergebensten Dank aussprechen.
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XX.
Meine bei der angeborenen Luxation des Hüftgelenks
gemachten Erfahrungen 1 ).
Von
Dr. Blencke,
Spezialarzt für orthopädische Chirurgie in Magdeburg.
Mit 15 in den Text gedruckten Abbildungen.
Meine Herren! 5 Jahre sind es nun bereits her, daß ich
an derselben Stelle über das gleiche Thema, über die angeborene
Hüftverrenkung und ihre Behandlung, zu Ihnen sprach. In dieser
immerhin kurzen Spanne Zeit sind so vielerlei Verbesserungen, so
große Umwälzungen, so mannigfache Veränderungen auf diesem Ge¬
biet vorgekommen, daß es mir wohl der Mühe wert erschien, einmal
wieder einen Abend mit diesem Kapitel auszufüllen, zumal da ich auch
in diesen 5 Jahren Gelegenheit genug fand, meine eigenen Erfahrungen
bei dieser angeborenen Deformität an einer ganzen Anzahl von Fällen
zu bereichern. Ist doch die 5 Jahre zurückliegende Zahl von 39 fast
um das Vierfache gestiegen, so daß mir jetzt 154 Hüften zur Ver¬
fügung stehen und zwar 154 Hüften an 105 Patienten.
An der Hand dieser Fälle möchte ich nun heute abend über
die gemachten Erfahrungen berichten und möchte diese erläutern
durch eine Reihe angefertigter Lichtbilder, die Ihnen klarer und deut¬
licher noch als die Patienten selbst beweisen werden, daß nicht nur
eine Heilung im funktionellen Sinne, sondern auch im anatomischen
Sinne vollkommen möglich ist.
Die Zahl derer, die von einer Behandlung dieses Leidens nichts
wissen wollen, nun die ist wohl zur Zeit auf das allerkleinste Minimum
zusammengeschrumpft, ich glaube bestimmt sogar auf Null.
*) Nach einem in der Magdeburger med. Gesellschaft am 2. November
1905 gehaltenen Vorträge mit Demonstration von 97 Lichtbildern.
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Meine bei d. angebor. Luxation d. Hüftgelenks gemachten Erfahrungen. 311
Wir bekommen heute die Kinder viel frühzeitiger in die Be¬
handlung, und das liegt wohl vor allen Dingen daran, daß dieses Leiden
jetzt eher erkannt wird und daß es nicht mehr, wie so häufig früher
namentlich bei doppelseitigen Luxationen, als eine Rhachitis, als eine
Schwäche in den Beinen angesehen wird, die sich schon von selbst
wieder geben sollte oder die mit solchen Mitteln behandelt wurde,
die nur dazu da waren, die Zeit zu vertrödeln und den günstigen
Zeitpunkt vorübergehen zu lassen, in dem dem Kinde noch geholfen
werden konnte. Wie überall, so gilt auch hier bei diesem Leiden
als oberster Grundsatz der: Je früher, desto besser.
Meine Herren! Ich will nun etwa nicht Ihre Geduld damit auf
die Probe stellen, daß ich Ihnen alle die einzelnen Entstehungstheorien,
die ihrer ja viele sind, aufzähle oder gar kritisiere, ich will auch nicht
lange bei der pathologischen Anatomie dieses Leidens verweilen, nein,
ich will nur alles das kurz erwähnen, was für den Praktiker wichtig
und von Interesse ist, um dann ein wenig länger bei der Therapie
und bei den Erfolgen dieser stehen bleiben zu können, bei Dingen
also, die Sie ja doch hauptsächlich interessieren dürften*
Wie Sie ja alle wissen, finden wir das Leiden öfter bei Mäd¬
chen als bei Knaben. Nach Hoffa wird das weibliche Geschlecht
siebenmal häufiger von dieser Deformität befallen als das männ¬
liche. Unter meinen 105 Patienten befanden sich 88 weibliche,
dagegen nur 17 männliche; es war also das Verhältnis wie 1 : 5,2,
ein Verhältnis also, das dem obengenannten nicht ganz gleich-
komnit.
Daß oft mehrere Familienmitglieder mit diesem Leiden behaftet
sind, ist Ihnen ja auch bekannt. So befanden sich z. B. unter meinen
Fällen lmal Mutter und Tochter mit angeborener Hüftluxation,
3mal zwei Schwestern, lmal ein Bruder und eine Schwester, lmal
ein Bruder und zwei Schwestern, lmal zwei Schwestern und ein
Vetter, deren Großmutter auch gehinkt haben soll, und 3mal Vettern
bezw. Cousinen.
In der allergrößten Mehrzahl der Fälle handelt es sich anfangs
um Luxationen über den oberen Pfannenrand nach vorn zu, die ge¬
wöhnlich in eine Luxatio iliaca überzugehen pflegen; nur in ganz
vereinzelten Fällen nicht. Auch ich kann über einen solchen Fall
berichten, bei dem man den Kopf ganz deutlich direkt unterhalb
der Spina ilei ant. sup. fühlte; der Kopf stand fest an dieser Stelle,
der Gang war ein guter zu nennen und ich konnte deshalb von jedem
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312
Blencke.
Eingriff absehen, zumal da ich die Patientin noch zu einer Zeit in
Behandlung hatte, in der die wirklichen Repositionen noch weniger
häufig vorkamen, sondern mehr sogenannte Transpositionen, auf
die ich noch weiter unten zu sprechen kommen werde.
Eine eigentliche Pfanne fehlt nie; sie ist nur in der Mehrzahl
der Fälle verkümmert und flach, oft auch dreieckig und mit Fett
bezw. Bindegewebe oder Knorpel ausgefüllt; namentlich letzterer
kann den Pfannenboden stark verdicken. Diese eben angeführten
Tatsachen sind auch die Ursache dafür, daß wir uns an den Röntgen¬
bildern nicht genau über die Tiefenverhältnisse der Pfanne orientieren
können. Man könnte, wollte man sich lediglich auf diese verlassen,
oft großen Täuschungen begegnen. Hoffa hat bei seinen vielen
blutigen Operationen des öfteren schon ganz andere Verhältnisse
der Pfanne gefunden, als er nach dem vorher aufgenommenen
Röntgenbilde vermutet hatte.
Genauen Aufschluß geben uns dagegen die Bilder über den
Hochstand des Kopfes, über die Veränderungen am Schenkelkopf
und -Hals und dergleichen mehr, keinen Aufschluß aber dagegen über
die Ebene, in welcher sich der Kopf befindet, ob vor oder hinter
der Pfanne. Hildebrand hat ein Verfahren angegeben, stereo¬
skopische Aufnahmen zu machen, durch die wir uns auch hierüber
sehr gut orientieren können.
Verdickt ist natürlich auch die Gelenkkapsel durch die große
Inanspruchnahme; sie nimmt oft Sanduhrform an, namentlich bei
älteren Kindern und gibt dann oft ein wesentliches, ja das schwie¬
rigste Hindernis bei den Einrenkungsversuchen ab.
Das Ligamentum teres ist in manchen Fällen vorhanden und
dann verlängert und verdickt, in manchen Fällen fehlt es auch
ganz. Hoffa fand es bei 200 Fällen, die er blutig operierte,
54mal fehlend, Lorenz bei 100 Fällen 79mal.
Schenkelkopf und Schenkelhals zeigen natürlich auch Ver¬
änderungen und zwar mehren sich diese mit dem zunehmenden
Alter.
Auf die Veränderungen der in Frage kommenden Muskelgruppen
und auf ähnliches will ich hier nicht mehr näher eingehen, es würde
uns das zu weit führen. Ich gehe deshalb sogleich zu den Symptomen
der angeborenen Hüftluxation über:
In allen Fällen werden die Eltern zuerst wohl auf das Leiden
aufmerksam, wenn die Kinder zu laufen anfangen; nur in einem
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Meine bei d. angebor. Luxation d. Hüftgelenks gemachten Erfahrungen. 313
meiner Fälle waren die Eltern eher darauf aufmerksam geworden;
es handelte sich um ein sehr schwächliches mageres Kindchen, bei
dem die Mutter beim Waschen eine Geschwulst auf der einen Seite
bemerkt hatte, die durch den in die Höhe geschobenen Troch. major
vorgetäuscht wurde. Bei einseitigen Luxationen knicken die Kinder
auf der erkrankten Seite ein, sie hinken. Dieses typische Hinken,
dieses typische Einknicken wird einesteils durch das Hinaufrutschen
des Schenkelkopfes auf der Darmbeinschaufel erzeugt, zum anderen
Teil aber auch — worauf Trendelenburg aufmerksam machte —
durch die Veränderung der Richtung der Gesäßmuskeln, vor allem des
Glutaeus medius und minimus, die verlängert sind und das Becken
in seiner Lage nicht zu halten vermögen.
Typisch und nicht zu verkennen ist ja dieser sogenannte Enten¬
gang, dieses Watscheln bei älteren Kindern, bei denen auf beiden
Seiten das Leiden besteht. Bei Kindern, die eben erst anfangen zu
laufen, ist dieser Gang nicht so deutlich erkennbar. Die Eltern so¬
wohl wie auch der Arzt sind dann nur allzuoft und allzuleicht ge¬
neigt, dieses unbedeutende Einknicken, zumal wenn es auf beiden
Seiten stattfindet, einer leichten Schwäche in den Beinen oder einer
bestehenden Rhachitis, bei der manchmal der Gang ein ähnlicher sein
kann, zuzuschreiben, die mit der Zeit schon verschwinden wird. Man
sollte sich bei dieser Diagnose nie beruhigen, sondern man sollte in
allen den Fällen, in denen Verdacht auf Luxation vorliegen könnte,
zu dem Hilfsmittel greifen, das uns sicher Aufschluß geben kann,
ob es sich um eine angeborene Luxation handelt oder nicht, zu der
Untersuchung mit Röntgenstrahlen.
Ein weiteres Symptom ist bei einseitiger Luxation die Ver¬
kürzung des betreffenden Beines und das Zurückbleiben der ganzen
Extremität auch in ihren Dickenverhältnissen. Namentlich kann
erstere oft genug recht erhebliche Grade mit zunehmendem Alter
annehmen, die sich beliebig verringern, bezw. vergrößern läßt durch
Zug am Oberschenkel. Bei so erheblichen Verkürzungen stellen die
Patienten dann den Fuß in Spitzfußstellung auf, um den Boden zu
erreichen, und wir haben dann den typischen Zehengang vor uns.
Wenn wir dann ferner das mit einseitiger Luxation behaftete
Kind mit uns zugekehrtem Rücken betrachten, so sehen wir eine
Abflachung der kranken Gesäßhälfte, einen seitlichen Vorsprung der
Trochantergegend und ein Tieferstehen der Glutäalfalte der kranken
Seite. Lassen wir dann weiter das gesunde Bein heben — auf dieses
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314
Blencke.
Symptom, das sogenannte Trendelenburgsche Phäuomen, möchte ich
vor allen Dingen noch aufmerksam machen —, so fällt die gesunde
Beckenseite sofort nach unten herab, so daß also die Gesäßfalte viel
tiefer als die der kranken Seite steht, läßt man dann die Beine wech¬
seln, so steht jetzt die kranke Beckenseite und. demnach auch die
entsprechende Glutäalfalte höher als die andere.
Im Liegen muß man dann weiter nach dem Scheukelkopf suchen;
man verfährt hierbei genau wie bei den gewöhnlichen Hüftluxationen
auch. Als weitere Symptome kommen dann noch hinzu das Höher¬
stehen des Trochanter über der Roser-Nelatonschen Linie und die
bei größerer Verkürzung bestehende statische Skoliose, die wir durch
Erhöhung des kranken Beines oder im Liegen ausgleichen können.
Die Bewegungen im Gelenk sind keineswegs beschränkt, sondern
eher noch ausgiebiger als im gesunden Gelenk, namentlich bei Rota¬
tionen. Faßt man den Oberschenkel mit der einen Hand und fixiert
man das Becken mit der anderen, so kann man den Kopf auf dem
Darmbein auf und ab schieben; macht man dann auch noch Rota¬
tionsbewegungen, so fühlt man oft eine Art Krepitation, die nach
Hoffas Ansicht ein Zeichen für das Fehlen des Lig. teres abgibt.
Bei der doppelseitigen Luxation tritt dann noch eine hochgradige
Lordose der Lendenwirbelsäule hervor und das starke Hervortreten
der beiden sogenannten Hüften.
Meine Herren! Wie steht es nun mit der Behandlung dieser
Deformität? Sollen wir dieselbe behandeln, d. h. operieren?
Wie oft muß man die Worte hören: Es handelt sich ja nur
um einen Schönheitsfehler, der im übrigen dem Träger dieses Leidens
nicht hinderlich ist. Nun, meine Herren, dies gebe ich nur für ganz
vereinzelte Fälle zu und bei diesen auch nur für die Jugend. Die
Patienten ermüden leicht, können keine weiten Wege machen und
vor allen Dingen wird ja die Deformität mit zunehmendem Alter
immer schlimmer. Denken Sie nur an die schweren Adduktions¬
stellungen bei doppelseitiger Luxation, was für Schwierigkeiten
machen diese beim Gehen, was für Unannehmlichkeiten bereiten sie
den Frauen während der Menstruation, ja sie machen verheiratete
Frauen oft genug unfähig zum Beischlaf. Schmerzen und Beschwerden
stellen sich bei zunehmendem Alter ein, deren Ursachen nach Lorenz
in einer traumatischen entzündlichen Reaktion aller Weichteile zu
suchen sind, durch deren fortwährende Zerrung und Anspannung
die Suspension des Rumpfes am oberen Femurende vermittelt wird,
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Meine bei d. angebor. Luxation d. Hüftgelenks gemachten Erfahrungen. 315
oder in arthritischen Prozessen, die sich viel leichter in diesen Ge¬
lenken als in gesunden bilden können. Unter meinen Patienten be¬
findet sich eine Dame, die in ihrer Jugend den flottesten Walzer trotz
ihrer doppelseitigen Luxation tanzen konnte, die aber jetzt im Alter
von 47 Jahren nicht mehr im stände ist, auch nur wenige Schritte
ohne jede Hilfe zu gehen.
Ich stehe deshalb auf dem Standpunkt, daß jede Luxation
operiert werden muß, auch wenn sie zunächst keinerlei Beschwerden
macht, vorausgesetzt natürlich, daß die Altersgrenze noch nicht über¬
schritten ist.
Und wenn ein Mann, namens Hessing, ein Neffe jenes
genialen Hessing, dem wir so manches auf dem Gebiete der
Orthopädie zu verdanken haben, zu glauben scheint, daß mit dem
Namen Hessing auch immer die Genialität verbunden sein müsse,
und sich erdreistet, in einem Prospekt, den er in alle Welt hinaus¬
sendet, die Operation hinabzutun und behauptet, die Erfolge der
operativen Eingriffe seien so geringe, die der Apparatbehandlung
dagegen so tadellose, so muß dem hier nachdrücklichst widersprochen
werden. Entweder sagt dieser zweite Hessing bewußt die Unwahr¬
heit aus Furcht, es könnten ihm Patienten verloren gehen, oder er
hat keine Ahnung von der Literatur und gibt sich nur, wie so man¬
cher andere Kurpfuscher auch, den Anschein, sie zu kennen. Und
wenn er behauptet, daß für die Operation in Wort und Schrift die
größtmöglichste Propaganda gemacht wird, nun so fällt dieser Vor¬
wurf nur auf ihn zurück. Er singt in seinem Prospekt das Loblied
der Apparatbehandlung, ohne auch nur den geringsten Beweis zu
liefern für die Güte derselben, wir aber, wir berichten in wissen¬
schaftlichen Arbeiten über unsere Erfolge, ohne aber auch unsere
Mißerfolge zu verschweigen. Ich habe mich hierbei etwas länger
aufgehalten, weil ja der Name „Hessing“ einen guten Klang hat.
Dieser Neffe Hessing möge hervortreten und uns durch eine Reihe
von Röntgenserienbildern beweisen, daß er auch nur einen einzigen
Fall von angeborener Hüftluxation mit seinen Apparaten geheilt hat.
Leere Worte machen hier nichts, wir wollen Taten sehen und diese
auch noch durch Röntgenbilder erhärtet.
Vereinzelte Mißerfolge, die ja Gott sei Dank immer weniger
werden, sollen uns nicht abhalten, diese Operation, diese Einrenkung
vorzunehmen. Welche Operation hätte wohl keine Mißerfolge auf¬
zuweisen !
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316
Blencke.
Wenn wir auch, wie Narath sagt, noch nicht so weit sind,
daß jedes Kind im repositionsfähigen Alter geheilt aus unserer Be¬
handlung hervorgeht, nun so sind wir doch diesem unserem Ideal
gerade im Laufe der letzten 5 Jahre erheblich näher gerückt, wie
Sie gleich sehen werden.
Meine Herren! Große Gefahren sind ja mit dieser Operations¬
methode nicht verbunden. Gewiß, ich gebe ja zu, daß Frakturen,
Epiphysenlösungen, Lähmungen, ja Todesfälle vorgekommen sind,
aber sie waren — von letzteren ist nicht einmal erwiesen, ob sie
mit der Operation in irgend einem Zusammenhang standen — ver¬
schwindend wenige. Ich habe bei meinen Einrenkungen nur eine
Epiphysenlösung und zwei Peroneuslähmungen gesehen, die aber
bald wieder vorübergingen und keine bleibenden Folgen hinterlassen
haben. Einen Fall möchte ich nicht unerwähnt lassen, weil er ge¬
rade ein Magdeburger Kind betrifft. Die Hüfte wurde von Lorenz
eingerenkt und das Bein mußte später von Herrn S. R. Möller
exartikuliert werden. Nun das war natürlicherweise ein unglück¬
licher Zufall, der auch meines Wissens einzig dasteht.
Bei einer meiner kleinen Patientinnen, die ich wegen einer
doppelseitigen Luxation mit tadellosem Erfolg operiert hatte — am
Gange war nicht das Geringste mehr zu sehen —, trat nach ge¬
raumer Zeit eine Poliomyelitis ant. auf, die beide Arme und Beine befiel,
dann aber allmählich zurückging und nur ihre Folgen wie gewöhn¬
lich an dem einen Unterschenkel und Fuß zurückließ. Die Eltern
schreiben es vielleicht — ich weiß es nicht — der Einrenkung zu;
ich bin mir aber meiner Sache sicher, daß dies nicht der Fall ist,
und Herr Dr. Zätsch wird diese meine Ansicht bestätigen können.
Die Einrenkung wurde am 10. Oktober 1901 vorgenommen. Das
Kind wurde am 14. April 1902 als vollkommen geheilt entlassen
und erst Ende Januar 1903, also ziemlich 16 Monate nach der
Operation, wurde Herr Dr. Zätsch zu dem Kinde gerufen und
stellte eine Pol. ant. fest, eine Diagnose, die ich nur voll und ganz
bestätigen konnte.
Ich glaube, daß jene erwähnten unliebsamen Ereignisse heute
noch viel weniger Vorkommen, weil wir jetzt die früher ausgeübte
forcierte Extension nicht mehr in Anwendung bringen und weil wir
über die vorgeschriebene Altersgrenze nicht mehr hinausgehen.
Wann ist dann nun das beste Alter zur Einrenkung?
Möglichst früh, aber auch nicht zu früh. Die Kinder müssen
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Meine bei d. angebor. Luxation d. Hüftgelenks gemachten Erfahrungen. 317
sich schon reinlich halten können und der Körper muß schon seine
rundlichen Formen verloren haben und muß, wenn ich mich so aus-
drücken darf, schon Konturen zeigen, die es ermöglichen, den Gips¬
verband gut anmodellieren zu können.
Wir sollen die Kinder sofort operieren und wir sollen nicht
erst mit palliativen Maßnahmen die Zeit vertrödeln, die doch nichts
nützen. Derartige Apparate, Hüftbügel, Korsette u. dergl. m. pflegen
wir nur anzuwenden, wenn die Patienten bereits das gewiesene Alter,
in dem wir die Einrenkung nicht mehr zu machen pflegen, überschritten
haben, oder wenn aus anderen Gründen die Operation nicht indiziert
erscheint, oder zur Nachbehandlung von schwierigen Fällen. Wir
wenden sie aber dann nicht an, um das bestehende Leiden durch
sie zu heilen, sondern nur, um den Gang zu bessern, bezw. dem
sich nur allzuleicht einstellenden Ermüdungsgefühl vorzubeugen und
die vorhandenen Schmerzen zu lindern.
Ich habe derartige Apparate bei 12 Hüften angewandt; 7mal
als palliative Maßnahmen; 5mal zur Nachbehandlung.
Warnen möchte ich vor allen Dingen vor der Verordnung einer
hohen Sohle, wie man sie so häufig sieht und findet, denn diese nützt
nichts nur, sondern schadet eher noch insofern, daß sie den Schenkel¬
kopf noch höher am Becken hinaufschiebt. Ich habe die Beobachtung
gemacht, daß die hochgradigsten Verkürzungen gerade bei den Kindern
zu konstatieren waren, die von Jugend auf eine hohe Sohle getragen
hatten.
Welche Fälle eignen sich nun für die sogenannte unblutige
Behandlung? Alle Kinder, die das sogenannte repositionsfähige
Alter noch nicht überschritten haben. Die gewiesene Grenze ist
für gewöhnlich bei einseitigen Luxationen 8 Jahre, bei doppelseitigen
6 Jahre. In manchen Fällen können wir auch diese Grenze über¬
schreiten; meine älteste Patientin, bei der ich noch eine wirkliche
Reposition erzielte, war 11 Jahre. Sie sehen hier die Serie Bilder.
(Fig. 1-3.)
Bei einer 13jährigen bekam ich noch eine Transposition mit
recht befriedigendem funktionellen Erfolg, allerdings auch mit einer
leichten Peroneuslähmung, die aber in kurzer Zeit wieder zurückging.
Bis jetzt ist es mir immer gelungen, die Hüfte einzurenken.
Ich führe die Einrenkungsmanöver folgendermaßen aus: Bei ganz
jungen Kindern versuche ich zunächst den Kopf über den hinteren
Pfannenrand zu hebeln; ich beuge das betreffende Bein rechtwinklig
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318
Blencke.
Fi g- 1.
Fig. 2.
im Hüft- und Kniegelenk, übe mit der einen Hand einen Zug in der
Richtung des Oberschenkels aus und suche mit der anderen Hand den
Kopf durch direkten Druck auf den Trochanter hinüberzuhebeln. Ge¬
lingt dies nach einigen Versuchen nicht, nun dann nehme ich die
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Meine bei d. angebor. Luxation d. Hüftgelenks gemachten Erfahrungen. 319
Einrenkungsmanöver vor, wie ich sie bei älteren Kindern sogleich von
vornherein anzuwenden pflege. Jede forcierte Extension wird dabei
vollkommen vermieden. Das Bein wird ad maximum in der Hüfte
und im Knie gebeugt; dadurch wird der Kopf in die Pfannengegend
gebracht. Sodann wird das Bein leicht einwärts rotiert, maximal
abduziert und nun nach Hof fas Angabe wie ein Pumpenschwengel
nach dem Rumpf hin und wieder zurück bewegt, indem allmählich
immer mehr und mehr hyperextendiert wird. Diese Manöver werden
so lange wiederholt, bis der Kopf unter deutlichem Geräusch oft nicht
Fig. 3.
nur für den Operateur, sondern auch für alle Umstehenden in die
Pfanne springt. Dieses Geräusch, diese Erschütterung ist in der
Mehrzahl der Fälle da, kann aber auch in einer ganzen Reihe Fälle —
ungefähr in l jz — fehlen oder zum mindesten sehr abgeschwächt sein.
Trotzdem können aber diese Fälle ausgezeichnete, ja geradezu ideale
Resultate in kosmetischer, funktioneller und anatomischer Hinsicht
geben, vorausgesetzt, daß man dann etwas extreme Verbandstellungen
wählt.
Viel schwieriger als die Reposition ist die Retention, d. h. das
Festhalten des Kopfes in der Pfanne durch den Gipsverband.
In der Stellung, in der der Kopf in der Pfanne stehen bleibt,
wird der Gipsverband angelegt, der natürlich aufs genaueste der Körper¬
form anmodelliert wird, und den ich jetzt anders anzulegen pflege,
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie XV. Bd. 21
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320
Blencke.
wie ich es früher tat. Früher umfaßte er nur das Becken und den
betreffenden Oberschenkel, heute nehme ich auch noch, wie sie hier
sehen (Fig. 4 und 5), das Knie der erkrankten Seite und den Ober¬
schenkel der gesunden Seite mit hinein. Dieser Aenderung, glaube
ich, habe ich es wohl in der Hauptsache zu verdanken, daß ich unter
den letzten 17 einseitigen Luxationen keine Transposition, geschweige
Fig. 4.
denn eine Reluxation mehr erlebt habe, sondern nur Repositionen in
anatomischer Hinsicht.
Ausgehend von dem Gedanken, daß die erkrankte Hüfte doch
wohl nicht genügend fixiert werden könnte, wenn sie nur allein in
den Gipsverband eingezogen werden würde, und daß sich, auch wenn
der Verband noch so gut anmodelliert wurde, trotzdem dieser infolge
Abmagerung des Kindes u. dergl. m. verschieben könnte, entschloß ich
mich dazu, den Verband so anzulegen, wie es auch schon in ähnlicher
Weise von anderer Seite geschehen war. Ein solcher Verband mußte
die kranke Hüfte absolut fixieren und es konnte sich in einem solchen
Verbände die Stellung, die wir einmal dem erkrankten Bein gegeben
hatten, keineswegs wieder ändern. Daß ich bei einem solchen Verbände
natürlich von vornherein auf die sogenannte funktionelle Belastung
verzichten mußte, durch die doch die Umformung und Aushöhlung
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Meine bei d. angebor. Luxation d. Hüftgelenks gemachten Erfahrungen. 321
der Pfanne hervorgerufen werden sollte u. dergl. m. und die für die
allermeisten Autoren die Hauptsache bei der ganzen Behandlung zu
sein schien, war mir klar. Ich ließ die Kinder in diesem Verband
liegen und den größten Teil des Tages sitzen. Nach 8—10 Wochen
entfernte ich denselben und legte nun den zweiten Verband in alt¬
gewohnter Weise an (Fig. 6 und 7). In diesem konnten dann die
Fig. 5.
Patienten laufen und so kam die funktionelle Belastung doch noch
zu ihrem Rechte. Narath macht die Verbände in derselben Weise
und läßt die Kinder mit diesen komplizierten Verbänden laufen. Nun
ich glaube, daß damit den Kindern nicht viel gedient ist; es wird
doch immer, mögen die Verbände auch noch so kunstvoll ausgeführt
sein, ein schlechtes Gehen, ein Stelzen bleiben.
Meine Herren! Ich schalte demnach die funktionelle Belastung
nur für den ersten Verband aus, wende sie aber bei allen folgenden
in der ausgiebigsten Weise an, denn sie hat in der Tat ihr Gutes,
wie mir erst neulich wieder ein Fall bewiesen hat, der irrtümlicher¬
weise durch ein Mißverständnis der Mutter länger im Verband ge¬
blieben war, wie ich es eigentlich beabsichtigt hatte. Nach Ab¬
nahme des Verbandes ließ die vorgenommene Röntgenuntersuchung
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322
Blencke.
erkennen, daß jetzt an Stelle der früher sehr flach erscheinenden
Pfanne ein gut ausgeprägtes Pfannendach vorhanden war. Das Re¬
sultat war sehr gut und dieser eine Fall bestimmte mich nun auch
wieder dazu, in gewissen Fällen von einer kürzeren Fixations¬
periode abzusehen und dieselbe unter Umständen bis zu 6 Monaten
und noch länger auszudehnen.
Meine Herren! Auch Lorenz selbst, der ärgste Verfechter und
Vorkämpfer für die funktionelle Belastung, sieht unter Umständen
Fig. 6. Fig. 7.
von dieser ab, nämlich dann, wenn er die von ihm angegebene und
von Reiner beschriebene sogenannte axillare Stellung anwendet
in denjenigen Fällen, wo ihm wiederholt eine Reluxation erfolgt oder
wo eine solche zu befürchten ist. Ich habe eine derartige Stellung
noch nicht angewendet, wohl aber eine annähernd so extreme, wie
Sie auf der Abbildung sehen (Fig. 8 und 9). Auch in diesem Falle
war eine Reluxation auf der einen Seite zu befürchten und dieser
Verband ließ voraussichtlich eine solche nicht zu.
Wann eine solche extreme Stellung anzuwenden ist, dafür lassen
sich natürlich keine bestimmten Regeln geben; es muß eben von
Fall zu Fall entschieden werden. Wie überall, so gilt auch bei der
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Meine bei d. angebor. Luxation d. Hüftgelenks gemachten Erfahrungen. 323
angeborenen Hüftluxation als
oberster Grundsatz immer
der: nicht schematisieren,
sondern von Fall zu Fall ent¬
scheiden, welche Stellung zu
wählen ist und mit welcher
Stellung wir wohl am besten
fahren werden. Nach meinen
bisher gemachten Erfahrun¬
gen wird es ja immerhin die
Minderzahl der Fälle sein und
bleiben, in denen solche für
die Patienten sehr unange¬
nehmen, extremen Stellungen
angewendet werden müssen.
In der Zeit, in der ich
bei den erwähnten 17 ein¬
seitigen Luxationen nur wirk¬
liche Repositionen erzielte,
hatte ich nicht ein gleiches
Glück mit den doppelseitigen.
Bei 2 Fällen erlebte ich
beiderseits Reluxationen, so
daß eine nochmalige Einren¬
kung nötig wurde. Ich nahm
eine Hüfte nach der anderen
vor und trotzdem erzielte ich
bei der einen Patientin nur
eine beiderseitige Transposi¬
tion. Die andere Patientin
ist noch im Verband, ich
glaube aber, auch in diesem
Falle wird nicht viel anderes
herauskommen. Schuld war
meines Erachtens daran eine
angeborene Kapselerschlaf¬
fung. Die eine kleine Patien¬
tin hatte überall schlaffe Ge¬
lenkbänder. man konnte leicht
Fig. 8.
Fig. 9.
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324
Blencke.
die Fingernägel bis zum Handrücken bringen; auch eine Schwester
von ihr zeigte eine gleiche Disposition; sie renkte sich schon
wiederholt das Ellbogengelenk aus, lediglich infolge einer un¬
geschickten Bewegung, eines ungeschickten Zufassens u. dergl. m.
Auch bei der zweiten Patientin lagen ähnliche Verhältnisse vor. Sie
konnte mit ihren Extremitäten Bewegungen vornehmen, die in der
Tat einem Schlangenmenschen alle Ehre gemacht hätten. Ob nun
die abnormen Kapselverhältnisse allein den Grund abgegeben haben,
Fi g. 10.
für die angeborene Luxation, nun das vermag ich natürlich nicht zu
entscheiden, jedenfalls werden sie schon das ihrige dazu beigetragen
haben. Gegen solche Fälle können nach meinen Erfahrungen auch
die bestangelegten Verbände nichts ausrichten, mag man sie auch
noch so lange liegen lassen; bei derartigen Fällen werden wir immer
auf ähnliche Mißerfolge, wie ich sie eben angeführt habe, zu rechnen
haben.
Sollen wir nun bei doppelseitigen Hüftverrenkungen beide Hüften
in einer Sitzung reponieren oder sollen wir erst die andere Hüfte vor¬
nehmen, wenn die erste vollkommen geheilt ist? Nun, meine Herren,
über diese Frage ist auch schon viel und oft debattiert worden. Ich
habe beides versucht. Unter den 33 doppelseitigen Verrenkungen
habe ich 21raal in einer Sitzung reponiert und 12mal in zwei
Sitzungen, d. h. eine nach der anderen. Ich stehe jetzt auf dem
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Meine bei d. angebor. Luxation d. Hüftgelenks gemachten Erfahrungen. 32T>
Standpunkt, daß wir auch hier nicht uns für das eine oder für das
andere von vornherein zu entscheiden haben.
Sehe ich, daß nach der Einrenkung der einen Hüfte diese
nicht sogleich wieder bei der geringsten Bewegung oder Erschütte¬
rung die Pfanne verläßt, daß also demnach eine ziemlich genügend
tiefe Pfanne vorhanden ist, in der der Kopf stehen bleibt, auch
wenn die Stellung eine nicht allzu extreme ist, nun dann gehe ich
auch sogleich an die zweite Hüfte heran und mache die Operation
Fig. 11.
in einer Sitzung. Sehe ich aber, daß es sich um eine äußerst flache
Pfanne handelt und daß der Kopf auch bei der geringsten Bewe¬
gung diese sogleich wieder verläßt, nun dann verschiebe ich die
Einrenkung der zweiten Hüfte auf spätere Zeit und gipse die eine
Hüfte in solch extremer Stellung ein, wie ich es vorhin be¬
schrieben habe.
Nach Abnahme der Gipsverbände setzt sofort die Nachbehand¬
lung ein, die entschieden einen sehr wichtigen Faktor bei der Be¬
handlung ausmacht. Sie besteht in Massage und Gymnastik und
hat vor allen Dingen den Zweck, die Hüfte wieder gut beweglich
zu machen und die Muskulatur ordentlich zu kräftigen, denn von
deren Restituierung hängt, die Besserung des Ganges wesentlich ab.
Nun, meine Herren, zum Schluß noch zu den Resultaten.
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320
Blencke.
Vor 5 Jahren hieß es: wenn nun auch die Transposition keine
ideale Heilung, sondern richtig ausgedrückt, eine Reluxation ist, aber
eine Reluxation nach vorn, so ist damit jedoch dem Patienten schon
sehr viel gedient. Der Kopf stellt sich bei der Transposition unter¬
halb und etwas nach außen von der Spina ant. inf. fest, wo er ein
Widerlager findet, das ihn daran hindert, weiter nach oben zu
rutschen. Wir waren damals zufrieden mit einer Transposition und
waren froh, wenn wir sie erreichten, das beweisen am besten
Fi g. 12.
Kümmells damalige Auslassungen. Ihm genügte es, eine Fixation
anzustreben, durch die die abnorme Beweglichkeit aufgehoben wurde.
Ob dabei der Kopf an die Stelle gebracht wurde, an die er ana¬
tomisch hingeliörte, ist nach seiner Ansicht für die spätere Funktion
von nicht so großer Bedeutung, da das Wesentliche eben das ist, daß
der Kopf fest steht.
Damals standen auch die Transpositionen in dem Vordergrund,
sie überwogen bei weitem die wirklichen Repositionen, die damals
immer nur vereinzelt vorkamen. Seit dieser Zeit ist es wesentlich
anders geworden. Das Verhältnis hat sich erheblich geändert und
hat sich sehr zu Gunsten der wirklichen anatomischen Reposition
verschoben. Heute überwiegen diese.
Unter meinen 154 Hüften wurden 18 mit Korsett, mit Massage,
kurz mit palliativen Maßnahmen behandelt; sie alle hatten bis auf
eine 8jährige Patientin das repositionsfähige Alter überschritten; bei
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Meine bei d. angebor. Luxation d. Hüftgelenks gemachten Erfahrungen. 327
der letzteren war eine Operation — aus den anfangs bereits erwähnten
Gründen — nicht nötig. Acht Hüften waren anderwärts blutig operiert.
Aus den Resultaten kann ich auf die Güte der Operation und ihre
Erfolge keine Schlüsse ziehen, da ich natürlich zumeist nur schlechte
Fälle in Behandlung bekam, die des schlechten Resultates wegen noch
irgend einer Behandlung bedurften oder die überhaupt mit dem Re¬
sultat nicht zufrieden waren. Bei vier Hüften mußte der hochgra¬
digen Deformität wegen — es handelte sich um Mädchen zwischen
Fig. 13.
25 und 30 Jahren — 2mal die Resektion des Kopfes vorgenommen
werden, die sogenannte Pseudarthrosenoperation, und 2mal zur Be¬
seitigung der hochgradigen Adduktionsstellungen die subtrochantere
Osteotomie. 12 Fälle wurden einer weiteren Behandlung nicht unter¬
zogen; zum allergrößten Teil handelte es sich eben um ältere Pa¬
tienten, denen nicht mehr zu helfen war, und nur in ganz wenigen
Fällen wurde von den Eltern die Operation verweigert, trotzdem
diese von meiner Seite warm empfohlen wurde. 112 Hüften wurden
unblutig operiert, und zwar 8 von anderen Operateuren und 104 von
mir selbst. Unter jenen 8 wurden 7 von Hoffa operiert, eine Pa¬
tientin war darunter mit doppelseitiger Luxation; die eine Seite re-
luxierte und Lorenz renkte diese noch einmal ein, erhielt aber auch
nur eine Transposition; somit haben an dem einen Kinde die beiden
tüchtigsten auf diesem Gebiet ihre Kräfte erprobt. Eine Patientin
wurde von Dr. Habs mit sehr gutem Resultat operiert.
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328
Blencke.
Fig. 14.
Fig. 15.
Sehen wir also von diesen 8 Fällen ab, so fallen auf mein
Teil 104 Hüften, die unblutig eingerenkt wurden. 7 Hüften sind
noch augenblicklich im Verband; diese müssen, wollen wir die Re¬
sultate prüfen, natürlich noch in Abzug gebracht werden, so daß
demnach 97 Hüften zu verwerten sind, bei denen die Behandlung
vollkommen abgeschlossen ist.
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Meine bei d. angebor. Luxation d. Hüftgelenks gemachten Erfahrungen. 329
Bei diesen 97 Hüften wurden 31 Transpositionen erzielt und
55 Repositionen; llmal trat eine Reluxation ein. Von diesen
11 reluxierten Hüften wurden 6 nochmals eingerenkt und zwar
wurde 3mal eine Transposition erzielt und 3mal eine Reposition, so
daß sich also demnach das definitive Verhältnis folgendermaßen ge¬
staltet.
Von 97 unblutig eingerenkten Hüften wurden 34 Transpositionen
erzielt, 58 Repositionen und 5 Reluxationen, ein Verhältnis, mit dem
man, glaube ich, ganz zufrieden sein kann, das in Prozenten ausgedrückt
59,8 V anatomische Heilungen ergibt. Wenn wir auf dem Wege
weiter arbeiten und die Behandlung so leiten, wie ich es auseinander¬
gesetzt habe, nun, dann glaube ich, werden die Resultate noch besser
werden und die Mißerfolge immer weniger. Ganz werden wir letztere
wohl nicht aus der Welt schaffen können, da sich eben bei manchen
Fällen Hindernisse in den Weg stellen werden, die wir nicht, wie
ich schon oben bei den beiden doppelseitigen Fällen erwähnte, be¬
seitigen können.
N.B. Einige Platten habe ich beigefügt, die einen Beweis da¬
für abgeben sollen, was sich mit der unblutigen Operation bei der
angeborenen Hüftluxation erreichen läßt.
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XXL
Ueber die Tuberkulose des Iliosakralgelenkes.
(Die tuberkulöse Sakrocoxalgie.)
Von
Denis G. Zesas in Lausanne.
Mit 2 in den Text gedruckten Abbildungen.
Akute und chronische Entzündungen des Iliosakralgelenkes
werden nicht häufig beobachtet. Der Hauptgrund dürfte wohl darin
liegen, daß dieses Gelenk eine geringe Bewegung aufweist, da ja
nach Bardeleben die Prädisposition eines Gelenkes zu Entzün¬
dungen umso größer sein soll, je mehr dasselbe bewegt wird.
Unter den chronischen Prozessen, die das Iliosakralgelenk
ergreifen, ist die Tuberkulose die allerhäufigste Erkrankung. Es ist
der französische Chirurg Boyer [1], der im Jahre 1814 zum ersten
Male die Affektion ausführlicher schilderte, den „skrofulösen“ Ur¬
sprung des Leidens hervorhob und seine Analogie mit den „Tumeurs
blanches“ anderer Gelenke betonte. Fünfzehn Jahre später war es
Larrey [2], der diese Erkrankung von neuem zur Sprache brachte
und sie unter der Bezeichnung „Sakrocoxalgie“ beschrieb. Doch
blieb das Leiden ziemlich unbeachtet, obwohl Laugier [3], Clo-
quet und Berard [4] (1833) sich eingehend mit ihm befaßten und
ihm die richtige pathologische Deutung verliehen.
Dem deutschen Chirurgen Hahn [5] gebührt das Verdienst,
der Tuberkulose des Iliosakralgelenkes in der Pathologie der Ge¬
lenke eine bleibende Stellung gesichert zu haben. Seine im Jahre
1883 in der * Allgemeinen medizinischen Zeitung“ veröffentlichte
Arbeit ist es in der Tat, die das Interesse auf die uns hier be¬
schäftigende Affektion hinlenkte, wozu allerdings Cliambeyron [6]
und Frbre [7] durch Verallgemeinerung der Hahnschen Arbeit
wesentlich beitrugen.
Eine Reihe beachtenswerter diesbezüglicher Arbeiten entstan¬
den bald darauf (Nichet [8], Giraud de Nolhac [9] u. a.) und
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Ueber die Tuberkulose des Iliosakralgelenkes.
331
im Jahre 1852 erschien die erste zusammenfassende Arbeit von
Hattute [10] unter der Leitung von Larrey, „Tun des pöres de
la Sacrocoxalgie*, wie Naz in seiner These ihn benennt. Nach
diesem Zeitabschnitte folgte eine Reihe von einschlägigen Veröffent¬
lichungen, von denen wir jene von Gurlt [12] in Deutschland,
Crocq [13] in Belgien und Erichsen [14] in England hervor¬
heben. In Frankreich sind es Guöniot [15], Velpeau [16], Boi¬
sarie [17], Duplay [18] und Delens [19], welche sich in ein¬
gehenderer Weise mit der Sakrocoxalgie beschäftigten. Delens hat
im Jahre 1872 eine bemerkenswerte Thöse d'agrögation über dieses
Thema geliefert, eine Arbeit, die von dem sich für die Iliosakral-
tuberkulose Interessierenden nicht unbeachtet bleiben sollte.
Die neuere Zeit hat unsere Kenntnisse über die Pathologie
dieses Gelenkleidens bedeutend erweitert und unser therapeutisches
Können ihm gegenüber gefördert. DieNamenHeath [20], König[21],
Rieder [22], Schede [23], Bo ekel [24], Delorme u. a. sind mit
dieser Arthropathie eng verknüpft!
Die Affektion befällt vorzugsweise Erwachsene zwischen dem
20. und 40. Lebensjahre. Bei Kindern und älteren Personen soll
sie selten Vorkommen. Die Beobachtungen Heater und Biggs
an Neugeborenen, sowie jene von Gould und Mason an Indivi¬
duen, die das 60. Lebensjahr überschritten haben, stehen in der
Kasuistik so ziemlich vereinzelt da.
Bezüglich des Geschlechtes lauten die Angaben verschieden,
nichtsdestoweniger steht es außer Zweifel, daß die Affektion bei
weitem häufiger bei Männern als bei Frauen aufzutreten pflegt.
Hahn ist der Ansicht, daß die Schneider, Hattute, daß Artillerie-
und Kavalleriesoldaten vornehmlich von diesem Leiden befallen
werden. Das rechte Iliosakralgelenk erkrankt am häufigsten, doppel¬
seitig ist die Arthropathie selten beobachtet worden (König).
Meist erkrankt das zweite Gelenk sekundär von dem zuerst befallenen
Gelenk aus.
Herr Geheimrat Bardenheuer hatte die Freundlichkeit, uns
2Fälle von doppelseitiger Erkrankung der Ileosakralgelenke mitzuteilen.
I. Fall. 27jähriger Mann. Doppelseitige Tuberkulose der Syn-
chondrose. Resektion am 27. Februar 1899. Tod am 7. März 1900.
II. Fall. 37jähriger Mann. Doppelseitige Tuberkulose der llio-
sakralgelenke. Resektion (Sprengelscher Schnitt) am 13. August
1900. Tod am 2. Oktober 1900.
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332
Denis G. Zesas.
Aetiologisch werden direkte oder indirekte Traumen, die auf
das Becken oder auf die Artikulation selbst ein wirken, in ursäch¬
lichen Zusammenhang mit dem Gelenkleiden gebracht, auch Ueber-
müdung und, wie erwähnt, fehlerhafte Sitzungsweise als veranlassende
Momente bezeichnet. Panas glaubt, das weibliche Geschlecht be¬
treffend, daß wiederholte Schwangerschaften nicht ohne Einfluß auf
die Entwicklung der Tuberkulose der Beckengelenke blieben, indem
sie auf diese Artikulationen gewissermaßen traumatisch einwirken.
„C’est en effet la symphyse sacro - iliaque qui constitue un des
sifeges d^lection de Tartlirite tuberculeuse pendant la grossesse*
(Walther [26]).
Doch von all den verschiedenartigen ätiologischen Momenten
sind es die direkten traumatischen Insulte, die eine eingehende Be- !
achtung verdienen. Wie überhaupt bei Gelenk- und Knochentuber- i
kulose, so wird auch bei der Anamnese von Iliosakraltuberkulose
recht oft ein Trauma angegeben. Es ist unzweifelhaft, daß die Er¬
krankung des Gelenkes sich früher oder später einer einfachen Kon¬
tusion der Lumbal- oder Sakralgegend anschließen kann und solchen
Fällen gebührt auch bezüglich der Unfallsgesetzgebung besondere
Berücksichtigung. Gerade bei solchen Patienten wird das Leiden
nicht selten auf Hysterie zurückgeführt, wenn es nicht kurzweg als
Simulation erklärt wird. „Wiederholt — so schreibt Rieder —
habe ich Fälle von solchen Fehldiagnosen gesehen, ganz besonders
erinnere ich mich eines Patienten, der jahrelang vergeblich bei
Aerzten und Schiedsgerichten sein Recht suchte, immer aber wieder,
meist unter dem Verdacht der Simulation, abgewiesen war; und doch
hatte der Kranke, als er auf die chirurgische Abteilung des Ham¬
burger Krankenhauses kam, eine ausgesprochene Synchondrosenkaries.
Das Gelenk wurde aufgemeißelt und Patient starb später an Tuber¬
kulose der inneren Organe.“ Charon [27] beschrieb eine typische
fungös-kariöse Zerstörung des rechten Iliosakralgelenks im Anschluß
an einen Sturz von der Leiter bei einem 7jährigen Knaben, welcher
nach Durchbruch der tuberkulösen Abszesse im Bereich des großen
Trochanters etwa 2 Jahre nach dem Unfall an Albuminurie starb.
Die Sektion ergab eine ausgedehnte Karies der rechten Articulatio
sacro-iliaca, starke fettige Degeneration der Glutäen und des Psoas
und nur geringe amyloide Degeneration der inneren Organe. Zu¬
weilen ist die Tuberkulose des Iliosakralgelenks mit Spondylitis lum-
balis tuberculosa kompliziert (Ridlon, Jones [29]). Wahrschein-
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Ueber die Tuberkulose des Iliosakralgelenkes.
333
lieh ist die letztere dann meist die primäre Erkrankung, die Arti-
culatio sacro-iliaca wird sekundär, meist durch einen Senkungsabszeß
infiziert.
Die Articulatio sacro-iliaca ist bekanntlich ein wahres Gelenk.
„In diesem Gelenk verbindet sich das Os sacrum mit einem Os coxae.
Es legen sich dabei die überknorpelten Superficies articulares beider
Knochen aneinander und bilden ein Gelenk. Es ist falsch, wenn
man diese Verbindung oft noch als Synchondrosis bezeichnen hört“
(Pansch). Somit besitzt diese Artikulation alle Bestandteile eines
Gelenkes: knorpelüberzogene Gelenkflächen, spaltförmige Gelenkhöhle,
die niemals fehlt und die mit Synovialhaut und Epithel ausgekleidet
ist. Dementsprechend werden wir in pathologisch-anatomischer Hin¬
sicht die gleichen Formen der Tuberkulose zu erwarten haben, die
wir bei der Tuberkulose der Gelenke im allgemeinen vorfinden. Und
in der Tat begegnen wir hier nicht nur der trockenen Form, son¬
dern auch und zwar am häufigsten jenen Formen, welche als fungöse
Gelenkentzündung bezeichnet und zuerst mit serösem oder sero-fibri¬
nösem, später mit eitrig-käsigem Ergüsse einhergehen.
Die trockenen Formen, welche auch die bessere Prognose
abgeben, sind im Iliosakralgelenke selten. Anatomopathologisch
bieten sie das gleiche Bild der Caries sicca anderer Gelenke: ent¬
weder werden die oberflächlichen Gelenkknochenschichten zerstört
oder die Zerstörung beschränkt sich auf den knorpeligen Ueberzug.
Erichsen hat diese spezielle Form zum ersten Male an dem Ilio-
sakralgelenk beobachtet und das betreffende Präparat in seiner im
Jahre 1859 erschienenen Arbeit beschrieben. Hi eher gehört zweifellos
auch jene Form von Tuberkulose, auf die Lannelongue aufmerk¬
sam gemacht und die bisweilen im Iliosakralgelenk beobachtet
wird. „Les surfaces articulaires — berichtet Lannelongue —
depourvues de cartilage ont conservä leur forme normale et les os
ont le meme aspect que s’ils etaient simplement mac^rös; le tissu
osseux mis ä nu, garde sa consistance, ou meme est devenu plus
dense qu'ä Fötat normal. Sous Finfluence de Firritation inflamatoire
provoquee par les deF lösions tuberculeuses, il se produit souvent de Fos
nouveau sur les bords de Farticulation. (Fest ainsi que parfois les
surfaces iliaque et sacr^e sont soudees ensemble par du tissu osseux
sur une portion de leur etendue, alors que le reste de la cavite est
plein de pus et de fongosite. L’ankylose peut encore etre periphe-
rique et formee par des jetees osseuses periostiques. Mais les couches
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334
Denis G. Zesas.
osseuses nouvelles n’ont pas le plus souvent pour resultat d’amener
l’ankylose; eiles se font d'une maniöre independante sur le sacrum
et sur Tos iliaque.“
Die Tuberkulose des Kreuzdarmbeingelenkes kann analog den
sonstigen Gelenktuberkulosen teils in der Synovialis, teils im Knochen
beginnen. Der synoviale Ursprung der Iliosakraltuberkulose scheint
äußerst selten zu sein, finden sich doch in der Literatur nur zwei
diesbezügliche unanfechtbare Fälle, nämlich jene Golding Birds [30]
und Erichsens, bei welchen eine primäre Erkrankung der Syn¬
ovialis außer Zweifel steht.
Der ostale Ursprung ist schon von Boy er und Hahn als der
häufigste bezeichnet worden, „la carie commence sur la surface ente-
rieure du sacrum“ — sagt Boy er. Die operativ behandelten Fälle,
sowie die in der Literatur zerstreuten diesbezüglichen Autopsien
sprechen zu Gunsten der Annahme eines primären Knochenherdes,
so daß Naz mit vollem Recht betonen konnte: „que le döbut osseux
röpond ä Timmense majorite des cas.“ Freilich genügen die vor¬
handenen Beobachtungen kaum, uns endgültig über die Frage zu
orientieren, ob der primäre Knochenherd in dem Kreuzbein oder dem
Darmbein am häufigsten seinen Sitz hat. Immerhin aber berechtigen
uns die bis anhin gesammelten Erfahrungen zur Annahme, daß das
Kreuzbein in der Regel den primären Knochenherd, der sich
nachträglich in das Iliosakralgelenk Bahn bricht, beherbergt. „Dans mes
cas — schreibt Deibet [31] — je crois que le sacrum a 6te le
premier atteint. En effet, si Tos iliaque avait äte primitivement pris,
on ne s’expliquerait pas les douleurs sciatiques qui ont marque le
debut de l’affection, tandis que les douleurs s’expliquent aisement
avec un foyer osseux dans le sacrum.“ Erwähnt sei noch, daß ein¬
zelne Autoren, unter denen Morestin, eine periartikuläre, primäre
Entwicklung der tuberkulösen Arthropathie annehmen. „D’apres les
observations que nous avons compulsees et d’aprös Texamen n£cro-
psique de deux sacrocoxalgies, il nous parait probable, que tres sou¬
vent ces lesions sont plutöt peri-articulaires qu’articulaires. Les
foyers tuberculeux entourent la jointure en avant, au dessous et en
arriere.“ Es ist uns nicht gelungen, in der Kasuistik andere Fälle
periartikulären Ursprungs, die für die Annahme Morestins unter¬
stützend eintreten könnten, ausfindig zu machen. Die periartikuläre
Entstehung der Affektion scheint somit zu den seltenen Ausnahmen
zu gehören. Viel häufiger wird die sekundäre parartikuläre Ent-
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Ueber die Tuberkulose des Iliosakralgelenkes.
335
Zündung, resp. Infektion beobachtet. Nach van Hook [34] saß
dieselbe in 61,8 °/o der Fälle an der Innenseite des Beckens und
in 38,3 °/o an der Außenseite.
Die weiteren anatomischen Veränderungen bestehen in zuneh¬
mender kariöser Zerstörung der Gelenkflächen des Darm- und Kreuz¬
beins, in Destruktion der Gelenkkapsel und des Bandapparates mit
entsprechender Lockerung des Gelenks und in der allmählich fort¬
schreitenden Ausbreitung der tuberkulösen Exsudate resp. Abszesse
im Becken und auf der Außenfläche des Darm- und Kreuzbeine
(Tillmanns [36]). In besonders schweren Fällen ist das Becken
von mehreren Fistelgängen durchsetzt, die auf Umwegen in das er¬
krankte Gelenk führen. Gewöhnlich stecken stets in der Tiefe
größere und kleinere Sequester. Van Hoock hat in 24 Autopsien
viermal das Vorhandensein von Sequestern konstatiert. Riedel
konnte in zwei Fällen Totalnekrose der ganzen Gelenkfläche des
Darmbeins bei Kindern im Alter von 5 und 14 Jahren beobachten.
In dem einen Falle wurde nach Extraktion des Sequesters von der
Glutäalgegend aus Heilung erzielt. Die Sektion des 14jährigen
Kindes ergab, daß die ganze entsprechende Beckenhälfte vereitert
resp. nekrotisch war; die nekrotische Beckenhälfte war von den
umgebenden Weichteilen völlig gelöst. Gleichzeitig bestand Lösung
der Pfannenepiphysen und Spontanluxation des Oberschenkels.
Die bei der Tuberkulose des Iliosakralgelenkes beobachteten
Senkungsabszesse werden in zwei Gruppen eingeteilt. In eine, die
ihren Weg ins Innere des Beckens nimmt und in eine solche, die
sich außerhalb desselben entwickelt. Erstere ist die häufigere
(61,8 °/o). Die Eiteransammlung entsteht an der Vorderfläche des
Gelenks, hebt das Periost des Darmbeins ab und folgt meistens dem
Verlaufe des Musculus ilio-psoas durch die Lacuna musculorum, um
dann in der Gegend seines Ansatzes auf die Vorderfläche des Ober¬
schenkels zu kommen, genau so, wie es bei den Senkungsabszessen
infolge von Karies der unteren Wirbelkörper der Fall ist. Von
diesem Wege aus kann sich der Eiter nun nach verschiedenen
Seiten hin Bahn brechen. Er kann entweder dem Musculus ilio-
pectineus entlang laufen und von da aus in das Hüftgelenk gelangen
und eine Coxitis Vortäuschen (D e m o n s [39]), oder der Abszeß ge¬
langt in die Fossa ischio-rectalis und senkt sich von hier aus neben
dem Rektum bis zum Anus hin, wobei nicht ausgeschlossen bleibt,
daß er schon vorher in den Mastdarm durchbricht. Die Eiterung
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XV. Bd. 22
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Denis G. Zesas.
kann ferner durch das Foramen ischiadicum dringen und nun dem
Nervus ischiadicus entlang gehen. Sie erscheint dann schließlich
außerhalb des Beckens in der Glutäalgegend, kann aber auch noch
weiter wandern und erst in der Kniegegend zum Vorschein gelangen.
Daß bei einem solchen Verlaufe der Nervus ischiadicus gereizt wird
und solche Fälle gern als hartnäckige Ischias gedeutet werden
(Schede), ist leicht begreiflich. Eine letzte Möglichkeit besteht
noch darin, daß der Eiter dem Samenstrang entlang wandert und
von hier weiter auf die mit den Gefäßen und Nerven desselben
zusammenhängenden Organe, wie Nieren, Blase etc. übergreift. In
einem von Schede beobachteten Falle hatte sich eine Blasenfistel
nach dem Darm hin gebildet.
Weniger häufig bahnt sich der Eiter extrapelvikal von der
Hinterfläche des Gelenkes aus seinen Weg (36,2 °/o van Hook).
In diesem Falle kann er direkt nach außen durchbrechen, sodann
aber kann er, wenn auch sehr selten, nach oben steigen und in der
Lumbalgegend bis zur zwölften Rippe und noch höher zum Vor¬
schein kommen. Oder er senkt sich nach unten und der Abszeß
macht sich dann in der Glutäalgegend bemerkbar. Nicht immer
beschränkt sich aber der Verlauf der Abszesse auf einen der ange¬
führten Wege, er kann sich auf mehreren, ja sogar auf allen zu¬
gleich ausbreiteu, wodurch das Krankheitsbild dann natürlich ungleich
kompliziert erscheint (v. d. Heyden [37]). Interessant ist eine
diesbezügliche Beobachtung Schedes, wo die Eiterung durch das
Os ileum sich verbreitet hatte und in das Hüftgelenk durchgebrochen
war, wodurch ein Teil des Gelenkkopfes sequestriert wurde. Die so¬
eben angeführten Bahnen können aber auch von Abszessen ein¬
geschlagen werden, welche nicht vom Iliosakralgelenk ausgehen,
sondern von den angrenzenden Knochen; es ist daher bisweilen
nicht möglich, eine Differenzialdiagnose zwischen den Abszessen zu
stellen und daraus bezüglich der primären Erkrankung Schlüsse zu
ziehen.
Das Hauptsymptom, durch welches sich die Affektion mani¬
festiert, ist der Schmerz. Dieser lokalisiert sich entweder in dem
erkrankten Gelenke, oder strahlt in entferntere Körperteile aus.
Solche Patienten klagen über Schmerzen im Leibe, an der Hüfte,
am Trochanter, oder am Knie. Hochgradig ausstrahlende Schmer¬
zen sind meist ein ungünstiges Zeichen und weisen gewöhnlich auf
eine ernstere Erkrankung des Os sacrum hin (Tillmanns). Am
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Ueber die Tuberkulose des Iliosakralgelenkes.
337
häufigsten wird der Schmerz in der Lumbalgegend oder im Ver¬
laufe des Ischiadicus angegeben.
Es darf daher nicht befremden, wenn die Affektion im Be¬
ginne häufig mit Lumbago und Ischias verwechselt und demnach
behandelt wird. Erst vor kurzem hatten wir Gelegenheit, einen
solchen Fall zu beobachten. Ein 39jähriges Fräulein klagte seit
einiger Zeit über starke Schmerzen in der Kreuzgegend, die als
Lumbago rheumatischer Natur aufgefaßt wurden. Eine in Aix les
Bains vorgenommene Kur, die besonders in starker Massage der
Lumbalgegend bestand, verschlimmerte das Leiden. Als wir die
Patientin Ende Juli zu sehen bekamen, war eine teigige Schwellung
in der Gegend des rechten Iliosakralgelenkes vorhanden mit starker
Schmerzhaftigkeit in dieser Gegend, sowohl spontan, als bei direktem
Druck. Die Schmerzen irradiierten nach vorn über den Leib und
nach der erkrankten Körperhälfte bis zur Kniekehle hin; außerdem
fieberte Patientin bisweilen Abends (37,8). Die Kranke war tuber¬
kulös ziemlich belastet: der Vater starb rasch an einem „Lungen¬
leiden“, eine Schwester der Kranken erlag einer tuberkulösen Peri¬
tonitis und eine andere einer Meningitis. Die vorgenoramenen intra¬
artikulären Jodoform-Emulsion-Einspritzungen, die uns in solchen
Fällen in der Regel vorzügliche Dienste leisten, blieben erfolglos;
Patientin entleerte eines Tages, nach einer mehr als 24stündigen Urin¬
retention, einen mit ziemlich viel Eiter und Blut gemischten Urin,
magerte zusehends ab und Ende November starb sie unter menin-
gitischen Erscheinungen. Die Autopsie wurde leider vom Hausarzt
unterlassen.
Wenn die Affektion am häufigsten zu Verwechslung mit Lum¬
bago und Ischias Anlaß gibt (Miller [40]), so finden wir anderseits
in der Literatur eine Anzahl von Beobachtungen, wo die Arthro¬
pathie andere Leiden vortäuscht. So erfahren wir, daß bei einem
Kranken von Collier [41] an eine Affektion des Ovariums ge¬
dacht und in einem anderen Falle das Gelenkleiden als eine Hüft¬
gelenkverstauchung aufgefaßt wurde. Wie schwierig es mitunter
ist, eine richtige Diagnose zu stellen, beweist auch ein Fall Schedes,
wo das dargebotene Krankheitsbild die Annahme einer Aktinomy-
kose berechtigte.
Differentialdiagnostisch ist es daher wünschenswert, pathogno-
monische Zeichen der Affektion zu besitzen und in dieser Hinsicht
scheint uns die richtige Lokalisation des Schmerzes von großer
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Denis G. Zesas.
Wichtigkeit. Um den Schmerz richtig in das erkrankte Gelenk zu
lokalisieren, sind verschiedene Handgriffe vorgeschlagen worden.
Larrey empfahl, dem Patienten, der auf einer harten Unterlage sitzt,
zu befehlen, den Oberkörper, indem er sich auf beide Hände stützt,
von dieser zu erheben und ihn dann plötzlich fallen zu lassen. Eine
solche Bewegung dient „ä enfoncer le sacrum comme un coin entre
les ilions“ und wird bei Erkrankung des Iliosakralgelenkes da¬
durch in diesem einen heftigen Schmerz erzeugen (Larreysches
Symptom). Auch die Bewegung, welche man dem Darmbein mit¬
teilt, indem man seine Schaufel mit den Fingern ergreift, soll nach
v. Volkmann Schmerzen im erkrankten Gelenke hervor rufen. So¬
dann kann man aber auch bei Seitenlage des Patienten die Becken¬
schaufel von hinten fassen und nach vorn schieben. Die Gelenk¬
flächen müssen dann ein wenig voneinander weichen und wenn das
Gelenk Sitz der Erkrankung ist, werden die Schmerzen durch diesen
Handgriff wesentlich erhöht. Wir pflegen zur richtigen Lokalisie¬
rung des Schmerzes uns folgender Prozedur zu bedienen: Indem
der Patient auf dem Rücken liegt, werden die beiden Darmbein¬
schaufeln ergriffen und versucht, dieselben näher an- und weiter
auseinander zu bringen. Eine solche Bewegung erzeugt an den
Iliosakralgelenken eine erhebliche Belastung an zwei verschiedenen
Gelenkflächen und beim Vorhandensein einer artikulären Entzündung
wird sie nie verfehlen, an der affizierten Artikulation einen heftigen
Schmerz auszulösen. Die richtige Lokalisierung des Schmerzes ist
uns durch diesen Handgriff stets ermöglicht gewesen und dürfte
differentialdiagnostisch in solchen Fällen nicht unbeachtet bleiben,
umsomehr als, wie bereits erwähnt, die vom Patienten selbst ange¬
gebene Schmerzgegend meist nichts Charakteristisches und Konstantes
darbietet. Anknüpfend an den Gelenkschmerz ist noch zu bemerken,
daß derselbe beim längeren Sitzen (Johnstone) und Gehen wesent¬
lich gesteigert wird; in einem diesbezüglichen Falle Duplays war
das Sitzen überhaupt unmöglich. Einzelne Beobachter teilen mit,
daß der Schmerz beim Vorwärtsbeugen des Körpers gesteigert wird,
andere berichten, daß die Patienten eine gewisse Erleichterung fin¬
den, wenn sie den Oberkörper nach hinten straffen. Am wohlsten
fühlen sie sich in der Rückenlage, leicht auf der gesunden Seite
ruhend. Lokalerscheinungen pflegen im Initialstadium zu fehlen;
Schmerz bei lokalem Druck wird in dieser Periode nicht immer
manifestiert; dieser tritt erst dann auf, wenn anderweitige Erschei-
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Ueber die Tuberkulose des Iliosakralgelenkes.
339
nungen, wie ödematöse Schwellung der Verbindungslinie beider
Knochen u. s. w. sich entwickelt haben. Mit der deutlichen Aus¬
bildung der Lokalerscheinungen werden in der Regel die spontanen
Schmerzen geringer. Auffallend ist die Haltung solcher Patienten.
Beim Gehen spannen sie ihre Rückenmuskulatur möglichst an, um
das erkrankte Gelenk zu immobilisieren und zu entlasten und bieten
daher eine, dem Anfangsstadium der Spondylitiden eigene analoge
Haltung dar. Nach Bird sollen die Patienten noch das Gefühl
haben, „als ob der unterste Teil des Rückens nachgeben wollte“,
ln einigen Fällen scheint das Bein an der erkrankten Seite ver¬
längert zu sein. Nach Erichsen ist diese Verlängerung eine
scheinbare, indem der Kranke die affizierte Beckenhälfte senkt und
nach vorn drängt, wodurch die Verlängerung der Extremität vor¬
getäuscht wird. Auch eine Verkürzung des Beines der erkrankten
Seite ist der Symptomatologie der Entzündung des Iliosakralgelen¬
kes angereiht worden, doch auch diese ist eine scheinbare und
beruht auf einer abnormen Beckenstellung. Eine reelle Verkürzung
der der erkrankten Beckenhälfte entsprechenden Extremität kann
nur in den Endstadien der Affektion auftreten, wenn die Ligamente
zerstört und das Gelenk eine Subluxationsstellung eingenommen
hat. Delens ist der gleichen Anschauung, indem er sagt: „on ne
saurait nier cependant que les alterations graves de Tarticulation, la
destruction des ligaments ne puissent permettre un certain degr6
de deplacement des surfaces articulaires.“
Nicht selten stellt sich leichtes Hinken ein. Der Gang des
Kranken wird unsicher, watschelnd, weil der Patient auf den Fuß
der affizierten Seite sich nicht stützen kann. Die Kranken stützen
sich gewöhnlich auf das gesunde Bein, neigen ihren Körper leicht
nach vorn, sobald sie gehen wollen, und schleppen die affizierte Ex¬
tremität nach. Auffallend ist es jedoch, wie in einzelnen, sogar weit
fortgeschrittenen Fällen keine wesentlichen Veränderungen im Gehen
wahrgenommen werden. „C’est ainsi — sagt Provendier [42] —
qu’un des op^rös de M. Delorme n’entre ä l’höpital qu’ä la der-
niere limite, ayant voulu continuer jusque lä son Service d’ordon-
nance, quoiqu’il füt porteur ä la fesse d’une tumeur volumineuse; le
raoment de 1’Operation venu, M. Delorme le fit courir devant les
assistants, de son lit ä la salle d’op^ration.“ Bei jüngeren Individuen
kommt es infolge der andauernden abnormen Haltung zu Verschie¬
bungen der Wirbelsäule, zu den sogenannten „Scolioses d’attitude“.
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Denis G. Zesas.
Auch Paresen und Paralysen einzelner Muskelgruppen sind beobachtet
und auf Kompression der Nerven des Plexus sacralis zurückgeführt
worden. Einen hierher gehörenden operativ geheilten Fall hat
Bo ekel [43] mitgeteilt. Wenn wir dem soeben geschilderten kli¬
nischen Bilde noch hinzufügen, daß solche Kranke bisweilen leicht
fiebern und daß Johnstone, Collier und Sayre auch lokale
Temperatursteigerungen am erkrankten Gelenke beobachten konnten,
so scheint uns der Symptomenkomplex der Affektion so ziemlich
erschöpft.
Differentialdiagnostisch ist es, wie bereits betont, von Wichtig¬
keit, sich gegen eine Verwechslung mit Ischias oder Lumbago zu
verwahren und bei jedem hartnäckigen Ischiasfall auch die Möglich¬
keit einer Affektion des Iliosakralgelenkes in Erwägung zu ziehen.
Die richtige Lokalisation des Schmerzes durch die angegebenen Pro¬
zeduren, eventuell durch eine Untersuchung per rectum (bei
Frauen durch eine solche auch per vaginam), werden zur richtigen
Diagnose verhelfen. Die zunehmende teigige Anschwellung im Be¬
reiche des Iliosakralgelenkes ist oft zuerst vom Mastdarm aus zu
fühlen, weil der vordere schwächere Bandapparat dem tuberkulösen
Exsudat eher nachgibt, als der hintere straffere (Tillmanns). Die
Tuberkulose der Lendenwirbelsäule erzeugt mitunter ein der Ent¬
zündung des Iliosakralgelenkes ähnliches Krankheitsbild. Doch fehlt
bei dieser Affektion die Schmerzhaftigkeit bei Druck auf die Proc.
spin. oder bei Belastung vom Kopfe oder den Schultern ausgehend.
„II ne faut pas oublier en tout cas que la coxalgie succfcde souvent
ä un mal de Pot lombaire ou plutöt lombo-sacre'“ (Lannelongue).
Mit der tuberkulösen Coxitis ist die Erkrankung des Iliosakral¬
gelenkes am häufigsten verwechselt worden. Doch auch zur Unter¬
scheidung dieser beiden Krankheitsprozesse besitzen wir maßgebende
Merkmale. Die Coxitis stellt eine Krankheit der Kindheit, die Ent¬
zündung der Uiosakralartikulation eine Affektion der Erwachsenen
dar. Ferner sind bei letzterem Leiden bei Feststellung des Beckens
die Bewegungen im Hüftgelenke frei und schmerzlos, wesentlich die
Abduktion und Rotation. Eine Differentialdiagnose zwischen den
gonorrhoischen (Le Dentu), syphilitischen (Fournier), rheumati¬
schen, puerperalen und tuberkulösen Entzündungen des Iliosakral¬
gelenkes ist nicht immer möglich. Verhelfend kommt uns jedoch der
Umstand entgegen, daß die tuberkulöse Entzündung das häufigste
Leiden dieses Gelenkes darstellt, während die übrigen angedeuteten
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Ueber die Tuberkulose des Iliosakralgelenkes.
341
Entzündungen seltener und akut zu stände kommen. „Für die
Diagnose ist besonders wichtig eine sorgfältige Anamnese, der
schleichende, schmerzhafte Verlauf, oft im Anschluß an Traumen,
das meist relativ jugendliche Alter, die veränderte Haltung und
Schonung der erkrankten Beckenhälfte und des betreffenden Beines“
(Till man ns). Zuweilen können Tumoren im Bereiche des Kreuz¬
beins oder Darmbeins eine Tuberkulose der Articulatio sacro-iliaca
Vortäuschen. Hier kann die Röntgenuntersuchung entscheidend ein¬
tret en.
Was den Ausgang der Tuberkulose des Iliosakralgelenkes be¬
trifft, so besteht dieselbe in den günstig verlaufenden Fällen in einer
Ankylose des Gelenkes, und es zielen nach einem solchen Ergebnisse
die Bestrebungen der orthopädischen Behandlung hin. Simon [44],
Thomas [45] und Sayre [46] haben in dieser Richtung positive
Erfahrungen gemacht. In Anbetracht der geringen physiologischen
Beweglichkeit des Gelenkes ist ein solcher Ausgang ein glücklicher,
wenigstens für das männliche Geschlecht, da ja bei Frauen eine
Ankylose in diesem Gelenke zu einem geburtserschwerenden Momente
heranwachsen kann. Einen lehrreichen diesbezüglichen Fall publi¬
zierte Aepli [47] im Korrespondenzblatt für Schweizer Aerzte. In
den meisten Fällen aber ist der Ausgang der Aflfektion ein un¬
günstiger. Das Allgemeinbefinden wird teils infolge der anhaltenden
Schmerzen und der mangelhaften Bewegung, teils wegen der lang¬
wierigen Eiterungen in Mitleidenschaft gezogen, die Kranken magern
ab und sterben an Erschöpfung und Marasmus, wenn nicht mit dem
Grundleiden zusammenhängende Komplikationen den Tod früher her¬
beiführen.
Die Prognose der Aflfektion ergibt sich klar aus dem eben Ge¬
sagten. Obwohl eine Heilung in jedem Stadium des Leidens nicht
ausgeschlossen bleibt, wie die Fälle von Boy er, Nelaton [48],
Follin, Duplay [49], Barker [50], Crocq u. a. beweisen, so
gestaltet sich die Vorhersage verschieden bei den trockenen und
den mit Fungositäten und Abszessen einhergehenden Formen. Die
trockenen Formen bieten im allgemeinen eine günstigere Prognose,
sie heilen häufig rasch unter dem Einflüsse einer einfachen Behand¬
lung, wesentlich dem der Ruhe (94°/o), und sie sind es, die am
häufigsten zur Ankylose des Gelenkes führen. Die mit Fungositäten
und Eiterbildung einhergehenden Formen ergeben eine viel ernstere
Prognose. Van Hook berechnet die Mortalität solcher nicht ope-
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Denis G. Zesas.
rierten Fälle auf 92 °/o und Webb kommt zu einer ähnlichen Be¬
rechnung, indem er von 11 in Guys Hospital beobachteten Fällen
bloß einen einzigen in Heilung übergehen sah. Welchem Umstande
diese Bösartigkeit der Tuberkulose des Hiosakralgelenkes zuzuschrei¬
ben ist, bleibt dahingestellt; es darf eben nicht übersehen werden,
daß die Tuberkulose dieser Artikulation eine Erkrankung der Er¬
wachsenen darstellt und daß bei diesen die Gelenktuberkulose eine
geringere Neigung zur Spontanheilung zeigt. Sich selbst überlassen
führt die Affektion, wie bereits erwähnt, früher oder später zum Tode.
Unter den Todesursachen wurden am häufigsten Meningitiden und
Peritonitiden, weniger oft Pleuritiden (Zwicke), eitrige Perikarditiden
(Nich et) und Lungentuberkulose verzeichnet. Bartels [51] be¬
schrieb 2 Fälle aus der psychiatrischen Klinik in Straßburg, in
welchen die Tuberkulose der Articulatio sacro-iliaca auf die Dura
mater übergegangen war und zu einer Pachymeningitis caseosa mit
Kompression der Cauda equina geführt hatte. Einen seltenen Aus¬
gang der Affektion stellt die von Morrant-Barker beobachtete
Verblutung infolge Arrosion der hypogastrischen Gefäße dar. Die
trübe Prognose, die die Affektion im allgemeinen bietet, soll zu
einer frühzeitig richtigen Diagnose und einer entsprechenden Be¬
handlung anregen, denn obwohl noch Erichsen der Ansicht war,
daß „kein Mittel den Kranken zu retten vermöge“, so steht es fest,
daß die moderne Therapie auch bei diesem Leiden schöne Ergebnisse
errungen hat.
Wie die Bekämpfung der Gelenktuberkulose im allgemeinen,
zerfällt auch die Therapie der Tuberkulose dieses Gelenkes in eine
konservative und operative Behandlung. Zu der konservativen The¬
rapie gehört in erster Linie die Ruhestellung des Gelenkes. Dies
kann in leichten Fällen durch Bettruhe erzielt werden. Gleichzeitig
wendet man eine Fixation des Gelenkes und eine zweckmäßige Lage¬
rung des Kranken in einem entsprechenden Gipsverband oder in
einer Bonne t sehen Drahthose an. Bei fortgeschrittenen Fällen und
bei solchen Patienten, die sich eine langdauernde Bettruhe nicht ge¬
statten dürfen, besitzen wir in der Immobilisation und Entlastung
des Gelenkes ein vorzügliches Heilmittel. Unser Hauptaugenmerk
soll dahin zielen, den Oberkörper zusammen mit dem Kreuzbein zu
fixieren und dann die unteren Extremitäten zusammen mit dem
Becken von diesem abzuheben. Dies wird am besten durch den
Say re sehen Gipsverband erreicht, welcher im Hängen angelegt
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Ueber die Tuberkulose des Iliosakralgelenkes.
343
wird, die Wirbelsäule und die Synchondrosen entlastet, indem er
bewirkt, daß das Gewicht des Oberkörpers nun auf den Darmbein¬
schaufeln ruht. Die erzielten Resultate sind vorzügliche, dank auch
dem Umstande, daß die Kranken dadurch nicht den nachteiligen
Einwirkungen eines verlängerten Bettliegens ausgesetzt werden. In
leichteren Fällen kann der Patient in einem Becken-Gehverband mit
Gehbügel oder mit hoher Sohle unter dem
gesunden Fuß umhergehen. Ridlon em¬
pfiehlt behufs Immobilisierung der Arti-
culatio sacro-iliaca bei Bettruhe den in
Fig. 1 u. 2 abgebildeten Apparat 1 ). Sayre
befürwortet im Beginn der Affektion be¬
sonders energische Einpinselungen von Jod¬
tinktur und den Gebrauch sonstiger Haut¬
reize. Eine fernere empfehlenswerte Be¬
handlungsmethode besteht in den intra-
Fig. 1.
Fig. 2.
artikularen Jodoformglyzerininjektionen. Wir bedienen uns der¬
selben seit mehreren Jahren und können gerade bei der Tuberkulose
dieses Gelenkes ihre Anwendung nicht genügend empfehlen. Nur
ist es erforderlich, die Einspritzung richtig in den Gelenkspalt zu
machen und ferner darauf zu achten, daß die Injektionen der ganzen
Gelenkspalte entlang ausgeführt werden. Faliochio [52] empfiehlt
alle 4—6 Wochen die Trunececksche Lösung zu injizieren (Na-
*) Die Abbildungen sind dem Ti 11 mannsehen Werke entnommen.
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Denis G. Zesas.
triumsulfat 15,46, Chlornatrium 16,4, Natriumphosphat 0,5, kohlen¬
saures Natrium 0,7, Kaliumsulfat 0,94, Aqua 80).
Führt die konservative Behandlung zu keinem befriedigenden
Ergebnisse, dann ist ein operatives Vorgehen ungesäumt indiziert.
„Macht die Krankheit Fortschritte, sind Abszesse oder Fisteln vor¬
handen, dann empfiehlt sich am besten die Radikaloperation, d. h.
die vollständige Entfernung des Krankheitsherdes. Kleinere Opera¬
tionen, wie Auskratzung, Ausmeißelung u. s. w., Jodoforminjektionen
genügen nicht, letztere gelangen bei Fisteln und Abszessen gar nicht
an den ursprünglichen Krankheitsherd. Solche ungenügend behandelte
Kranke mit Fisteln und Abszessen gehen meist allmählich infolge
dieser unzulänglichen Therapie zu Grunde. Nur bei extrapelvikalen
Abszessen kann man durch Entleerung des Eiters und Abmeißelung
der erkrankten Knochenpartie Heilung erzielen. Aber das sind seltene
Ausnahmefälle, häufiger sind, wie wir sahen, Abszesse der Becken¬
höhle mit oder ohne Außenabszesse vorhanden und diese Fälle können
nur durch radikale Entfernung des ganzen Krankheitsherdes, durch
ausgedehnte Knochenresektionen besonders an der Darmbeinschaufel
geheilt werden“ (Tillmanns).
Nach van Hook hat Sayre zum ersten Male einen Fall von
Tuberkulose des Iliosakralgelenkes operativ behandelt. Die Ope¬
ration ist auf das Jahr 1853 zurückzuführen. Es handelte sich um
ein 2 ^jähriges Kind, das angeblich nach einem Fall einen Abszeß
in der Lendengegend bekam. Nach vergeblicher konservativer Be¬
handlung machte Sayre einen 7 “10 cm langen Schnitt der Ilio-
sakralartikulation entsprechend, entleerte den Eiter und kratzte die
erkrankten knöchernen Bestandteile des Gelenkes aus. Die Wunde
wurde mit Perubalsamtampons ausgefüllt und die Heilung erfolgte
rasch. Zehn Jahre später (1863) führte Sayre eine zweite der¬
artige Operation aus. Auch dieses Mal handelte es sich um Tuber¬
kulose des Gelenkes mit Abszeßbildung. Nach Bloßlegung der Arti¬
kulation wurden zwei Knochenherde, der eine im Sakrum, der andere
am Darmbein konstatiert und mittels Hammer und Meißel radikal
entfernt. Es trat Heilung ein. Doch die operative Therapie fand
wenig Anhänger, man begnügte sich vielmehr bei Vorhandensein von
Abszessen das Beispiel Barkers nachzuahmen, d. h. den Abszeß
zu spalten, ohne nach dem Knochenherd zu fanden und zu versuchen,
ihn operativ zu entfernen. Selbst Pean ist in einem Falle nicht
anders vorgegangen.
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Ueber die Tuberkulose des lliosakralgelenkes.
345
Der Umstand, daß die betreffenden Patienten erst dann dem
Chirurgen zu Gesichte kommen, wenn sie schon stark entkräftet sind,
die Knochenherde sich beträchtlich erweitert haben und zahlreiche
Fisteln vorliegen, ist wohl der Grund, daß dem radikalen Eingriffe
meist ernste Bedenken entgegengebracht werden. So gebietet denn
die Pflicht dem behandelnden Arzte, in solchen Fällen sich nicht
allzulange auf einen event. günstigen Erfolg der konservativen Be¬
handlung zu vertrösten, denn da, wo diese letztere noch etwas zu
leisten vermag, stellt die Besserung sich bald ein.
Von einer typischen Gelenkresektion kann bei der uns hier
beschäftigenden Affektion kaum die Rede sein. Man wird trachten,
auf das sorgfältigste alles Erkrankte zu entfernen „bei penibelster Er¬
haltung des Gesunden“.
Die Verfahren, die zur Resektion des lliosakralgelenkes in An¬
wendung gezogen worden, sind verschiedene. Die von Barden¬
heuer [53] empfohlene Methode wird in folgender Weise ausge¬
führt: Modifizierter Sprengelscher Schnitt; derselbe beginnt an der
Grenze des vorderen und mittleren Drittels der Crista iliaca und ver¬
läuft, gleichzeitig das Labium externum der Crista iliaca abtrennend,
nach hinten, bis zu den Processus spinosi, steigt von hier senkrecht
nach unten bis zum Os coccygis und wendet sich nun gegen den
Trochanter minor, ohne ihn zu erreichen. Ablösung des Periosts
von der äußeren Fläche des Darmbeins bis zur Incisura ischiadica
major, ebenso des Labium internum und des Periosts von der Innen¬
fläche. Entfernung eines Keiles aus dem oberen Rande des Os ilium,
Durchführung einer Giglisehen Säge von dem Knochendefekt aus
zum Foramen ischiadicum majus, Durchsägung des Darmbeins und
Entfernung desselben dadurch, daß man einen breiten Meißel auf
das Gelenk aufsetzt. Vom Darmbein resp. von der Darmbeinschaufel
soll man möglichst reichlich resezieren, weil sich sonst die Gelenk¬
enden sehr bald zu fest wieder aneinander legen und Sekretverhal¬
tung veranlassen. Der Gelenkteil des Os sacrum wird mit der Gigli-
schen Säge entfernt, tiefer greifende Herde werden vorsichtig mittels
eines schmalen Meißels reseziert. Vernähung der cristalen und
trochanteren Wunde. Tamponade des hinteren Teiles, Nachbehand¬
lung bei Bauchlage und mittels Gipshose. Die Operierten erhalten
einen großen Gipsverband, der, bis zum Rippenbogen reichend, das
ganze Bein der resezierten Seite und den Oberschenkel der gesunden
Seite bis zum Knie umfaßt. Beide Beine stehen in der Hüfte in
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Denis G. Zesas.
leichter Abduktion. Die Nachbehandlung ist in schweren Fällen
mühsam. Zuweilen ist die Lagerung des Kranken im permanenten
Wasserbett zweckmäßig.
Bardenheuer hat die Resektion des Iliosakralgelenkes wegen
Tuberkulose in 20 Fällen ausgeführt mit 30 °/o Mortalität. Von den
4 letzten Fällen ist keiner gestorben. In einer Beobachtung wurde
der 23jährige Patient nach der Operation als Bäckergeselle wieder
arbeitsfähig; das ganze Iliosakralgelenk war entfernt worden, oben
5 cm und unten 3 cm breit. Der Patient ging mit frei beweglichem
Hüftgelenk normal. Das Röntgenbild zeigte, daß sich der resezierte
Teil der Darmbeinschaufel gänzlich wieder regeneriert hatte. In der
neueren Zeit entfernt Bardenheuer stets die Darmbeinschaufel bei
der Resektion der Articulatio sacro-iliaca; bei der früheren streifen¬
förmigen Resektion des Gelenks entstehen leicht Sekretverhaltungen,
so daß Nachoperationen notwendig werden.
In den letzten Jahren hatte Geheimrat Bardenheuer Ge¬
legenheit, in einer Reihe von Fällen die Resektion auszuführen. Die
diesbezüglichen Krankengeschichten, deren Mitteilung wir der Zu¬
vorkommenheit Herrn Geheimrat Bardenheuers verdanken, sind
folgende:
Fall 1. 20jähriger Fabrikarbeiter. Vor 4 Monaten beim
schweren Heben plötzlicher Schmerz in der linken Lumbalgegend.
Seit 6 Wochen Geschwulst, die bei Inzision Eiter entleert. Oeff-
nung schloß sich nicht wieder. Patient hereditär belastet, schlecht
aussehend. Links: oberhalb der Crista ilei von der Axillarlinie zur
Wirbelsäule verlaufender Abszeß. Zwei Fistelöffnungen. Synchon-
drosis nicht vorgewölbt, nicht druckempfindlich. Wirbelsäule funk¬
tionell gut. 12. April 1899: Freilegung der Synchondrosis sacro-
iliaca nach Spaltung des Abszesses. Wegen Schwäche Abbrechen
der Operation. In der Folge anhaltende Sekretion. Temperatur
Abends 40°. 11. Mai: Resektion eines großen Stückes des linken
Kreuzbeinflügels und des linken Os ilei. Wegen Schwäche Sistieren
der Operation. Tamponade. Extension. Längszug an beiden Beinen.
Außen Querzug am linken Oberschenkel. Querzug am Rumpf nach
rechts. 2. Juni: Starke Sekretion. Besseres Allgemeinbefinden.
Temperaturen Abends: 37—38°. 3. Juni: Nachresektion bis weit
ins Gesunde. Teilweiser Verschluß und Tamponade. Gipshose beider
Oberschenkel in starker Abduktionsstellung. 15. Mai: Ständig hohe
Abendtemperaturen bei starker Sekretion. Häufiger Verbandwechsel.
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Ueber die Tuberkulose des Iliosakralgelenkes.
347
Nähte gelockert. Wundhöhle ganz offen. Extension am linken Bein.
Von jetzt ab allmähliches Absinken der Temperatur und Nachlassen
der Sekretion und allgemeine Erholung. 12. Juli: Sistieren der
Sekretion, Verkleinerung der Höhle. Temperatur normal. Befinden
gut. 1. August: Der Knochendefekt hat sich völlig durch Knorpel
ersetzt. Um die sekundäre Naht der Haut machen zu können, Re¬
sektion eines Knochenstückes. Schluß der Wunde bis auf ein tief
eingeführtes Drainrohr. Gipsverband in Abduktion. Allmählicher
Schluß der Wundhöhle, unter Anfangs hoher Temperatur (39°).
Starke Sekretion; langsame Entfernung der Drainage. Nähte halten.
3. November geheilt entlassen. Hüftgelenk gut beweglich, Patient
kann mit Stock längere Zeit, ohne Unterstützung einige Schritte
gehen. Nachheriger Verlauf gut.
Fall II. Mann, 21 Jahre alt. Tuberkulose des linken Sakro-
iliakalgelenkes. Resektion im Januar 1899. 9. Februar 1900: Mit
zwei kleinen, wenig sezernierenden Fisteln und gutem Allgemein¬
befinden ohne Beschwerden entlassen. Am 10. Dezember 1902
Wiederaufnahme wegen Fortbestehens einer Fistel. Nachresektion
am 23. Dezember. Fistel geht auf den neugebildeten Darmbein¬
kamm. Abmeißelung eines 12,5 cm breiten großen Stückes. Aus¬
stopfen mit Jodoformgaze. Reaktionsloser Verlauf. Sekundärnaht. —
Heilung. — Endresultat gut.
Fall III. 32jähriger Mann. Tuberkulose des linken Ileo-
sakralgelenkes. — Resektion am 11. August 1898. — Geheilt
entlassen am 28. Oktober 1898.
Fall IV. Frau. — Resektion am 19. März 1900. Geheilt
entlassen am 23. Juli 1900.
Fall V. 42jährige Frau. Resect. articul. sacro-iliac. dextr.
am 29. Mai 1903. Heilung.
Fall VI. 26jährige Frau. Tuberkulose des rechten Sakro-
iliakalgelenkes. Resektion am 22. Mai 1905. Tod am 25. Mai 1905.
Fall VII. Mann. Caries des rechten Sakroiliakalgelenkes.
Resektion März 1904. Dauernde Heilung.
Fall VIII. 25jähriger Mann. Am 13. Juni 1900: Resektion
der 9. und 10. Rippe wegen Caries; später auch der 6., 7. und 8.
nebst Pleura. Vor einem Jahr wegen Abszeß Punktion in der Gegend
des linken Ueosakralgelenkes. Seit 3 Monaten Anschwellung am
Oberschenkel. Zbc-Abszeß unter den Adduktoren links, der sich
ins Becken fortsetzt. Ueber dem linken Darmbeinkamm kann man
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348
Denis G. Zesas.
nicht so tief eindrücken als rechts. Bewegung in dem Hüftgelenke
nur wenig eingeschränkt. Knochen nirgends druckempfindlich, eben¬
falls Synchondrosen. Lungenspitzen adhärent, sonst kein Katarrh.
Röntgenbild negativ. Retroperitoneale Freilegung des Beckens. Abszeß
kommt nicht von oben, von den Rippen her. Wegen Herzschwäche
Unterbrechung der Operation. Patient erholt sich. Resektion der
Articul. sacro-iliaca links. Ueber dieser eine Fistel, aus der sich
beim Druck Eiter entleert. Cristalschnitt unter Benützung des vor¬
hergegangenen Schnittes neben dem Os sacrum abwärts. Ablösung
des Periosts samt des Hautmuskellappens vom Os ileum; schwierige
Durchführung der G i gl i sehen Säge durchs Foramen ischiad. majus.
Durchsägung von der Spin. il. aus. Der sakrale Teil des Os ileum
in der Synchondrose luxiert und entfernt. Os sacrum malacisch.
Herd scheint noch zentral im Os sacrum zu liegen. Offene Tam¬
ponade.
10. August: Lappen angelegt, keine Temperatursteigeruug, am
unteren Wundwinkel noch Fistel. Wunde an der Synchondrose ver¬
schmälert sich schnell. Keine Bewegungsstörungen in den Extremi¬
täten. Allgemeinbefinden bedeutend gehoben. Ueber der rechten
Scapula eine hühnereigroße Schwellung nachweisbar. Auf Wunsch
entlassen. Geringe Sekretion. Kräfte haben sich sehr gehoben.
Schede [55] ist in anderer Weise vorgegangen. Er führt zu¬
nächst entlang der Crista ossis ilii, ungefähr von der Mitte be¬
ginnend, einen Schnitt, der bogenförmig schräg nach unten bis zur
Spina post. sup. und eventuell bis zur inferior verläuft. Sodann löst er
die außen an der Crista und der Darmbeinschaufel anhaftenden
Weichteile (Glutäusursprünge) und klappt sie zurück. Nun liegt das
hintere obere Ende des Darmbeins frei zu Tage und dieses wird,
um zur Synchondrose zu gelangen, mit dem Meißel entfernt. Auf
diese Weise gewinnt man eine ausgezeichnete Uebexsicht über die
erkrankte Gelenkfläche und kann weiterhin, was noch als erkrankt
erkannt wird, fortnehmen, sodann aber auch ohne große Schwierig¬
keiten die im Becken event. befindlichen Abszesse erkennen und
entleeren. Obgleich bei der Operation eine große Anzahl Bänder
durchtrennt und ein großer Teil des Knochens verloren worden ist,
wird dennoch die Verbindung wieder so fest, daß die Gehfähigkeit
keine Einbuße erleidet. Schede resezierte im wesentlichen mit dem
Meißel, welchen Bardenheuer verwirft, weil er einmal nach Meißel¬
resektion Tod durch Fettembolie sah. Die Resektion des Iliosakral*
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Ueber die Tuberkulose des lliosakralgelenkes.
349
gelenkes wegen Caries wurde von Schede in 26 Fällen mit 10 Hei¬
lungen ausgeführt. Drei konnten erheblich gebessert werden, einer
schied aus dem Krankenhaus ungebessert und bei zweien blieb das
Endresultat unbekannt. Dazu kommen noch zwei in seiner Vertre¬
tung von Rieder operierte Fälle, wovon der eine heilte, der andere
starb. Die Mortalität beträgt 42,86 °/o.
D eibet legt die Articulatio sacro-iliaca bald durch einen senk¬
rechten, bald durch einen mehr queren Schnitt frei, je nach dem
größten Durchmesser des vorhandenen Abszesses. Der Außenabszeß
wird gründlich entleert, dann folgt man der meist vorhandenen Fistel
in die Tiefe und entfernt nun zuerst mit dem scharfen Löffel, dann
mit Hammer und Meißel den kranken Knochen an der hinteren
Fläche des Gelenks. Nun dringt man auf die Vorderfläche des Ge¬
lenks vor, indem man letzteres mit dem Meißel durchschlägt und
entfernt die in der Beckenhöhle vorhandenen Krankheitsherde im
Knochen und in den Weichteilen.
In fortgeschrittenen Fällen empfiehlt Rieder und mit ihm
Tillmanns einen die ganze Beckenschaufel auf der Höhe der Crista
iliaca umkreisenden Schnitt, welcher am Ligamentum Pouparti be¬
ginnt und event. hinten an der Steißbeinspitze endigt. Von diesem
Schnitt aus werden die Weichteile in genügender Ausdehnung vom
Knochen abgelöst. Man halte sich stets möglichst am Knochen und
vermeide an der Innenseite des Beckens die Verletzung des Bauch¬
fells. An der Crista iliaca erhalte man besonders am hinteren Um¬
fange die Ansatzstelle der Bauch- und Rückenmuskeln. Auch die
Crista iliaca selbst soll möglichst erhalten bleiben. Nach subperi¬
ostaler Ablösung und Abschiebung der Weichteile wird der Knochen,
besonders im Bereich der Darmbeinschaufel, breit mittels des Meißels
entfernt, um die Innenabszesse und alle sonstigen Beckenräume frei
zu legen, wohin Senkungen möglich sind. Die Abmeißelung der
kariösen Gelenkfläche des Kreuzbeins geschieht ganz nach Bedarf,
zuweilen genügt die Auslöffelung derselben. Bei geschwächten
Kranken macht man die so eingreifende Operation event. zweizeitig,
wie es besonders Rieder mit gutem Erfolge getan hat.
Die Gesamterfahrungen der operativen Therapie erweisen sich
als nicht ungünstig, wenn man berücksichtigt, daß in den diesbezüg¬
lichen Beobachtungen es sich um ausgedehnte Erkrankungen handelte,
die eingreifenderes Vorgehen erforderten. Naz, der in seiner These
ein kasuistisches Material von 38 operativ behandelten Fällen zu-
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Denis G. Zesas.
sammenstellte, notiert eine Mortalität von 15,8 °/o. Von diesen
38 Fällen wurden 16 vollkommen und 3 wahrscheinlich geheilt.
Sechs der Operierten starben. Naz empfiehlt die Frühoperation und
glaubt, daß mehrere vonSayre angeblich konservativ geheilte Fälle
keine Tuberkulosen waren. Seiner Ansicht nach würden die opera¬
tiven Resultate noch bessere sein, wenn man sich nach dem Vor¬
schlag Delbets schon bei der bloßen Schwellung der Gelenkgegend
zum Eingriffe entschlösse.
Wir haben aus der Literatur 94 operativ behandelte Fälle zu¬
sammenstellen können. Von diesen wurden 36 geheilt und 18 ge¬
bessert, 29 endeten letal und bei den übrigen blieb das Endresultat
unbekannt. Die funktionellen Ergebnisse der Operation gestalten
sich nicht ungünstig. Die Resektionsflächen nähern sich im Laufe
der Zeit einander und werden durch neugebildetes Narbengewebe so
verbunden, daß der Beckenring an Festigkeit kaum etwas einbüßt.
Ein frühzeitiges Einschreiten erscheint daher in allen Fällen, wo die
konservative Behandlung nicht rasche Besserung einbringt, als indi¬
ziert und vollauf berechtigt. Eine Ausnahme hierzu dürften nur sehr
heruntergekommene Kranke und solche mit Lungen- und Darmleiden
behaftete Patienten abgeben.
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80- Braunstein, Ueber Beckengeschwülste. Dissertation. Bonn 1888.
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XXII.
(Aus dem Pathologischen Institut in Berlin.)
lieber kongenitale Skoliose.
Von
Dr. A. Perron© aus Neapel.
Mit 9 in den Text gedruckten Abbildungen.
Die kongenitale Skoliose ist ohne Zweifel eine sehr seltene
Mißbildung, besonders wenn man sie mit anderen derselben Natur
vergleicht. Obwohl ihr Vorhandensein — oft von anderen wieder
bestritten und geleugnet — bereits im Jahre 1700 von Mery 1 ) be¬
hauptet wurde, so kann man gleichwohl sagen, daß sie erst seit
wenigen Jahren zum Besitztum der Pathologie gehört.
Im Jahre 1895 fand Coville 2 ) unter 1015 Kindern im Alter
von 1 Tag bis 3 Monaten nur einen Fall von kongenitaler Skoliose.
Wenn wir auch wirklich diese AfFektion für sehr selten halten, so
sind wir doch der Meinung, daß die von Coville gegebene Ziffer
etwas zu niedrig gegriffen ist, wenn wir in Betracht ziehen, was
Lüning und Schultheß 3 ) besonders betonen, daß nämlich die kon¬
genitale Skoliose nicht immer wie andere Mißbildungen derselben
Natur in den ersten Tagen des extrauterinen Lebens sich offenbart,
sondern oft erst später auftritt, wenn nämlich die Kinder zu
sitzen und zu laufen anfangen. Das gilt besonders für die leichteren
Fälle, welche hinsichtlich der Wirkung der Behandlung uns am
meisten interessieren müssen. Die kongenitale Skoliose ist auch
heute noch relativ wenig gekannt und studiert. So findet man selbst
in den neueren und vollkommenen Werken von Lorenz 4 ), Kirmis-
! ) Mery, Histoire de l'Academie des Sciences. Paris, Annee 1700.
*) M. C oville, De la scoliose congenitale. Revue d’Orthopedie Bd. 7.
Paris 1896.
8 ) Lüning und Schultheß, Atlas der orthopädischen Chirurgie.
München 1901.
4 ) Lorenz, Pathologie und Therapie der seitlichen Rückgratverkrüm¬
mungen 1886.
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354
A. Perrone.
son x ), Bergmann-Bruns-Mikulicz 2 ) und König 3 ) dieser Affek¬
tion nur wenige und nicht ausreichende Zeilen gewidmet; und man
muß schon die neuesten und speziellen Arbeiten auf diesem Gebiet
zur Hand nehmen, um eine wirklich eingehende Darstellung anzu¬
treffen, so bei Redard 1 ), Lüning und Schultheß 5 ) und Hoffa 6 ),
welcher in seinem Lehrbuch außerdem zwei ausgezeichnete Radio¬
graphien gibt. Die Geschichte der kongenitalen Skoliose ist strittig
und verwickelt, da von den einzelnen Autoren eine große Anzahl
von Theorien zur Erklärung ihres Vorkommens aufgestellt wor¬
den sind.
Den ersten Fall veröffentlichte im Jahre 1700 Mery 7 ) bei einer
Mißgeburt, bei der neben anderen Mißbildungen auch eine Skoliose
vorhanden war. Roy 8 ) im Jahre 1774 hinwiederum leugnete ihr
Vorkommen und van Gescher 9 ) (1794) läßt diese Frage unent¬
schieden. Wenige Jahre später im Anfang des 19. Jahrhunderts
behaupteten Fleischmann 10 ) (1810) undMeckel ll ) (1816) zum ersten
Male die Möglichkeit des Vorkommens einer kongenitalen Skoliose bei
Individuen, die Mißbildungen anderer Art nicht boten. Diese An¬
sicht fand ihre Bestätigung durch Mührig 12 ), Förster 13 ), Hohl 14 )
l ) Kirmisson, Tratte des maladies Chirurg, d’origine congenitale.
Paris 1898.
*) v. Bergmann, v. Bruns, v. Mikulicz, Handbuch der praktischen
Chirurgie. 2. Aufl. 1902, Bd. 2, 2 S. 814.
*) König, Lehrbuch der speziellen Chirurgie. 8. Aufl. 1905, Bd. 3 S. 88 .
4 ) Redard, Tratte pratique de Chirurgie orthopedique. Paris 1892.
5 ) Lüning und Schultheß,
6 ) Hoffa, Lehrbuch der orthopädischen Chirurgie. 5. Aufl. 1905, S. 455.
7 ) Mery,
8 ) Roy, Comm. de scoliose. L. B. 1774. In Waiz 1 neuen Ausz. aus Diss.
für Wundärzte Bd. 15.
9 ) David van Gesehen, Bemerkungen über die Entstellungen des Rück¬
grates. Aus dem Holländischen. Göttingen 1794.
,0 ) Fleischmann, Dissert. de vitiis congenitis circa thoracem et ab-
domen. Erlangen 1810.
n ) Joh. Friedr. Meckel, Handbuch der pathologischen Anatomie Bd. 2.
Leipzig 1816.
12 ) G. C. Mühry, De spinae dorsi distorsionibus et pede equino. Diss.
Göttingen 1829.
,3 ) A. Förster, Handbuch der spez. patholog. Anatomie. Leipzig 1854.
u ) A. F. Hohl, Die Geburten mißgestalteter, kranker und toter Kinder.
Halle 1850.
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Ueber kongenitale Skoliose.
355
und Rokitansky 1 ). Walter 2 ) war der letzte, der die Existenz
einer kongenitalen Skoliose bestritt und nur mehr eine kongenitale
Disposition für sie anerkennen wollte.
In den letzten 25 Jahren ist nun die Kasuistik dieser Affektion
um eine beträchtliche Anzahl von Fällen bereichert worden, die zur
Aufklärung der Aetiologie beigetragen haben. Unter ihnen befinden
sich in Wirklichkeit viele, die unzulänglich und ohne wissenschaft¬
liche Bedeutung sind. Wenn wir eine besondere Klassifikation vor¬
nehmen wollten, in der Weise, daß wir die Fälle, welche eine ana¬
tomische Beschreibung oder Röntgenphotographien enthalten, aus
denen die Art der Mißbildung klar und deutlich hervorgeht, von
denen — und das sind die zahlreicheren, scheiden, welche nur eine
einfache klinische Beschreibung bringen und die Behauptung, die
Skoliose sei kongenital, nur durch die Erzählung der Eltern zu
stützen vermögen, so müßte sicherlich ihre Zahl erheblich ein¬
geschränkt werden.
In der Literatur besitzen wir vier Arbeiten auf diesem Gebiete,
in denen dieser Gegenstand ausführlich behandelt wird. Die erste,
chronologisch geordnete, stammt von Hirschberger a ), die zweite
von Fleury 1 ), eine dritte rührt von Athanassow 5 ) her und der
Verfasser der vierten und neuesten ist Nau 6 ). Alle diese Autoren
geben in ihren Arbeiten eine Zusammenstellung der in der Literatur
zerstreut vorhandenen Fälle und führen ihrerseits neue hinzu. Hin¬
sichtlich der Aetiologie der kongenitalen Skoliose gehen die Ansichten
der einzelnen Autoren auseinander. Die Momente, die als ursäch¬
lich und als allgemein angenommen in Betracht kommen, sind:
Ungleiche Entwicklung der beiden Hälften eines Wirbels (Fleisch¬
mann, Förster 7 ); zentrale nervöse Störungen (Rokitansky,
Guerin 8 ), Redard); Hemmungsbildungen an einzelnen Wirbeln
! ) C. Rokitansky, Handbuch der spez. pathologischen Anatomie. Wien
1844, Bd. 2.
*) Ph. Fr. v. Walter, System d. Chirurgie. Freiburg i. B. 1851, Bd. 5.
3 ) Hirschberger, Beitrag zur Lehre der angeborenen Skoliosen. Zeit¬
schrift f. orthopäd. Chir. Bd. 7 Heft 1 S. 129.
4 ) Fleury, Scoliose congenitale. Diss. Paris 1901.
5 ) P. Athanassow, Ueber kongenitale Skoliose. Arch. f. Orthopädie,
Mechanother. u. Unfallchir. 1903, Bd. 1 Heft 3 S. 353.
6 ) P. Nau, Les scolioses congenitales. Diss. Paris 1904.
*) A. Förster, Die Mißbildungen des Menschen. Jena 1861.
8 ) J. Guerin, Recherches sur les difformites congenitales. Paris 1880.
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356
A. Perrone.
während der fötalen Entwicklung (Meyer) 1 ); fötale Rhachitis
(Fischer 2 ) und Vogt) 3 ). Kürze der Nabelschnur, wodurch im
Uterus abnorme Druckverhältnisse entstehen.
Wir sind mit dem größten Teil der neueren Autoren (Barde¬
leben 4 ), Barwell 5 ), Adams 6 ), Coville, Hoffa-Hirschberger,
Athanassow, Maaß 7 ) der Ansicht, daß alle diese eben angeführ¬
ten Ursachen sich zu zwei Hauptgruppen vereinigen lassen. Danach
wäre die kongenitale Skoliose einerseits als Folgezustand abnormer
Ausbildung, sei es Vermehrung, Mangel, oder Verschmelzung ein¬
zelner Wirbel, anderseits als eine intrauterine Belastungsdeformität
zu betrachten. Schließlich halten wir es für angebracht, wie Hoffa
es tut, zu diesen beiden Hauptgruppen noch eine dritte, der wir
lieber den Namen „Unterart“ geben möchten, hinzuzufügen. In
diese Kategorie gehören alle die Fälle, in denen kongenitale Skoliose
mit anderweitigen mehr oder weniger großen Defekten und Hem¬
mungsbildungen am Skelett und den Weichteilen verbunden ist.
Dazu rechnen wir auch jene als Mißgeburten beschriebenen Fälle.
Diese Art der Unterscheidung gründet sich zwar nicht auf
wissenschaftliche Tatsachen, hat aber dennoch ihre besondere Be¬
deutung vom Standpunkt der Praxis, d. h. der Behandlung und noch
mehr der Prognose.
Gegenstand vorliegender Arbeit ist die Beschreibung dreier neuer
und sehr interessanter Fälle von Skoliose aus dem pathologischen
Institut der Berliner Universität, deren kongenitaler Ursprung über
jeden Zweifel erhaben ist und bei denen wir glauben, Besonderheiten
zu finden, die in den bisherigen Veröffentlichungen noch nicht
beschrieben worden sind. Daraus dürften sich dann nach unserer
Meinung wichtige praktische Schlüsse hinsichtlich der Therapie
ziehen lassen.
*) M ey er-Zürich, inHenle-Pfufers Zeitschr. f. rationelle Medizin 1855.
Neue Folge. Bd. 6.
2 ) H. Fischer, Spezielle Chirurgie. Berlin 1892.
3 ) Vogt, Moderne Orthopädik. Berlin 1896.
4 ) A. Bardeleben, Lehrbuch der Chirurgie. Berlin 1882, Bd. 4.
5 ) R. Bar well, The causes and treatment of lateral curvature of the
spine. London 1889.
6 ) W. Adams, Lectures of curvature of the spine. London 1882.
7 ) Maaß, Kin Fall von angeborener Skoliose. Zeitschr. f. orthopäd. Chir.
1903, Bd. 7.
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Ueber kongenitale Skoliose.
357
I. Präparat Nr. 1862 umfaßt Becken, Kreuzbein und die drei
letzten Lumbalwirbel.
Der Befund, der sich gleich aus der ersten flüchtigen Betrach¬
tung ergibt, ist folgender (siehe Fig. 1, 2, 3): Kleines asymmetri-
Fig. 1.
Fig. 2.
sches Becken stark nach vorn und unten geneigt, besteht aus sehr
dünnen Knochen, die an einigen Stellen vollkommen durchscheinend
sind. Der Beckeneingang hat die Form eines Dreiecks, dessen Spitze
von der Symphys. pub. und dessen Basis vom Sacrum gebildet wird.
Sein antero-post. Durchmesser scheint beträchtlich verkürzt, während
sein querer Durchmesser etwas vergrößert aussieht.
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358
A. Perrone.
Das Kreuzbein ist so stark um seine transversale Achse ge¬
dreht, daß es sich von vorn fast ganz dem Blicke des Beobachters
entzieht. Dabei ist sein oberer Abschnitt stark nach vorn, der
untere Teil erheblich nach hinten verschoben.
Kurz, es handelt sich um ein typisch rhachitisches Becken.
Die drei untersten vorhandenen Lendenwirbel zeigen die Er¬
scheinung einer sehr stark ausgesprochenen Lordose und linkskon¬
vexen Skoliose, welch letztere deutlich durch die synostotische Ver¬
bindung des Processus transv. des V. Lumbalwirbels mit dem ent¬
sprechenden lateralen Abschnitt des Sacrum hervorgerufen wird.
Wenn man das Präparat von
hinten betrachtet, bemerkt man, daß
der Processus spinosus des V. Lenden¬
wirbels „bifidus“ ist und unmittelbar
unterhalb desselben sich ein Substanz¬
verlust entsprechend dem obersten
Teil des Kreuzbeins findet (Spina
bifida sacral.).
Betrachten wir jetzt jeden ein¬
zelnen Teil des Präparats etwas ein¬
gehender und genauer, so sehen wir:
das Becken ist in seiner Größe und
der Dicke seiner Knochen beträchtlich
reduziert und stark abwärts geneigt.
Außerdem hat es in der Richtung von
rechts nach links eine solche Drehung ausgeführt, daß seine Spina
iliaca ant. sup. sin. ungefähr 3 cm hinter der der anderen Seite
zurückbleibt.
Die beiden Darmbeinschaufeln sind unregelmäßig gestaltet,
entfernen sich in ihrer Form von der Norm und sind außerdem
asymmetrisch gebaut. Das rechte Darmbein ist in seinem antero-post.
Durchmesser beträchtlich stärker entwickelt als das linke. Während
nämlich die Entfernung der Mitte der Articulatio sacro-iliaca und
der Mitte der Inzisur zwischen Spina il. ant. sup. und inferior rechts
8 cm mißt, beträgt sie links kaum 7 cm. Die Innenfläche der
rechten Fossa iliaca ist flacher als normal. Im Gegensatz hierzu
hat die linke eine mehr konkave Gestalt. Die Verkleinerung des
antero-post. Durchmessers des linken Darmbeines hängt also von
seiner stärkeren Wölbung in dieser Richtung ab. Zugleich ist die
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Ueber kongenitale Skoliose.
359
linke Darmbeinschaufel nicht überall gleichmäßig dick, sondern zeigt
etwa im Zentrum eine erhebliche Verdünnung des Knochens, der
hier ganz durchscheinend ist. Auf der rechten Seite nimmt die
Crista iliaca einen annähernd normalen Verlauf, d. h. flach S-förmig,
links dagegen sind die beiden Bogen, welche das S bilden, erheblich
stärker ausgebaucht. Außerdem hat der ganze Darmbeinkamm eine
etwas größere Wölbung in vertikaler Richtung. Daß die beiden
Synchondr. sacro-iliac. in gleicher Höhe liegen, darauf möchten wir
besonders hin weisen.
Die normal gestalteten Acetabula lassen deutlich, besonders links,
ihre Zusammensetzung aus drei Knochenstücken unterscheiden. Die
Ossa iliaca zeigen von hinten betrachtet nichts Abnormes, abgesehen
von kleinen Asymmetrien und Abweichungen von der normalen Form,
auf die einzugehen sich wegen ihrer Geringfügigkeit nicht lohnt.
Die beiden horizontalen Schambeinäste sind derart gerichtet,
daß sie anstatt der normalen Rundung einen nach der Beckenhöhlung
offenen Winkel bilden. Beiderseits ist ein Tubercul. pub. nicht vor¬
handen. Dagegen sieht man rechts wie links auf der oberen Fläche
des horizontalen Schambeinastes seiner ganzen Länge nach eine
scharfe Crista verlaufen, welche deutlicher auf der linken Seite aus¬
gebildet ist, wo sie an manchen Stellen eine Höhe von 2—3 mm
erreicht und etwa entsprechend der Mitte des oberen Randes des
Acetabulum mit einer Spitze endet. Während ihres Verlaufes (5 cm)
wechseln Vertiefungen und Erhebungen geringen Grades miteinander
ab, ohne daß sie aber jemals ihren scharfrandigen Charakter verlöre.
Das Kreuzbein ist um seine transversale Achse so gedreht, daß
sein oberer Teil, der mit dem V. Lumbalwirbel artikuliert, eine so
starke Verschiebung nach vorn erfahren hat, daß diese Gelenkfläche
nicht mehr nach oben, sondern direkt nach vorn gerichtet ist.
Dagegen ist der untere Abschnitt, an den sich das Steißbein an¬
schließt, so erheblich nach hinten verlagert, daß bei der Betrachtung
des Beckens von vorn, während die Tubera oss. isch. auf der Hori¬
zontalebene ruhen, man vom Sacrum nur den lateral, der Art. sacro-
iliac. entsprechenden Teil und die beiden I. Sakralwirbel sieht.
Das hängt einzig und allein nur von der Drehung des ganzen
Kreuzbeins um seine transversale Achse ab, und ist nicht etwa durch
eine stärkere Wölbung seiner Vorderfläche bedingt; denn diese hat
ihre normale Wölbung in sagittaler Richtung verloren und ist fast
gerade geworden.
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360
A. Perrone.
Wenn wir schließlich zwei Lote auf die Horizontalebene fällen,
einmal von dem vordersten Punkte der Basis des Kreuzbeins und
zweitens vom hintersten Punkt des Apex, so mißt die Verbindungs¬
linie 7 cm. Um auf der Photographie die Vorderfläche des Kreuz¬
beins sichtbar zu machen, hat man das Präparat um seine transversale
Achse drehen müssen, indem man den Vorderrand der Unterlage
um etwa 7 cm hob. Bei der Betrachtung des Kreuzbeins für sich
allein, unabhängig von den anderen Beckenknochen, sehen wir, daß
es die normale Form einer Pyramide besitzt und daß es sich aus fünf
einzelnen Wirbeln zusammensetzt. Die Intervertebralscheiben sind
zwar vollkommen verknöchert, aber doch zu unterscheiden, besonders
die beiden obersten. Ferner hat das Sacrum noch eine weitere
Drehung, bei der es der Rotation der Ossa iliac. gefolgt ist, von
rechts nach links ausgeführt. Infolgedessen bleibt sein linker oberer
Seitenrand 6—7 mm hinter dem rechten zurück. Rechts sind drei
Foram. sacral. vorhanden, links dagegen vier; doch gehört das Oberste
offensichtlich nicht dem Kreuzbein an, sondern wird gebildet durch
die abnorme synostotische Verbindung zwischen dem Proc. transv.
des V. Lumbalwirbels und dem Sacrum. Die obere Gelenkfläche
zur Artikulation mit dem Körper des V. Lendenwirbels nimmt einen
schrägen Verlauf, weshalb der linke Rand etwa 8 mm tiefer als
der rechte steht.
Auf der Rückseite sieht man sofort, daß unmittelbar unterhalb
des Proc. spin. vertebr. lumb. V. bifidus ein trichterförmiger Substanz¬
verlust sich vorfindet, etwa 2 1 /2 cm hoch und in der Mitte 1,8 cm
breit, welcher mit dem Wirbelkanal in Kommunikation steht. (Spina
bifida sacral. occulta.) Zu beiden Seiten liegt das erste Foram.
sacral. post.
Der oberste Abschnitt des Kreuzbeins schiebt sich gleichsam
keilförmig ins Becken vor.
Die Hinterfläche ist nach oben und hinten gerichtet. Ein
Steißbein ist nicht vorhanden.
Beckenmaße.
Beckeneingang:
Conjugata anatomica . . .
8,5
linker schräger Durchmesser
11
rechter „ „
11
querer Durchmesser . . .
13,5
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Ueber kongenitale Skoliose.
361
Beckenmitte:
Gerader Durchmesser ... 11
Spinallinie.10,7
Beckenausgang:
Gerader Durchmesser . . 10,5
Querdurchmesser .... 11
Wirbel. Die drei letzten Lumbalwirbel bilden eine auffallende
Lordose und linkskonvexe Skoliose. Der vorderste am meisten
vorspringende Punkt der Lordose entspricht dem unteren Rande
des IV. Lendenwirbels, der Scheitel der Skoliose wird dargestellt
von dem linken oberen Rande des III. Lumbalwirbels.
V. Lendenwirbel. Die untere Fläche des Körpers dieses
Wirbels ist in derselben Weise, wie die des Kreuzbeins, mit welcher
sie artikuliert, schräg lateral von rechts nach links gerichtet. Die
Zwischenwirbelscheibe zwischen den beiden Flächen trägt ihrerseits
dazu bei, diese Abschrägung noch zu vermehren, indem sie rechts
einige Millimeter dicker als links ist.
Dieser Wirbel hat sich um seine vertikale Achse von links
nach rechts entgegengesetzt zur Rotationsrichtung des ganzen Beckens
und der zwei über ihm liegenden Wirbel gedreht. Infolgedessen
liegt der Mittelpunkt seines Körpers nicht mehr direkt nach vorn
gekehrt, sondern mehr der rechten Seite zugewendet; auch befindet
sich der linke Querfortsatz weiter vorn als der rechte.
Ebenso ist die obere Fläche dieses Wirbels abgeschrägt; ihr
rechter Rand steht höher als der linke, und zwar besteht eine Diffe¬
renz von 2 cm. Da nun zwischen der linken und rechten Seiten¬
fläche in der Höhe nur ein Unterschied von 7—8 mm vorhanden
ist zu Gunsten der letzteren, so ist es klar, daß ein Niveauunterschied
von mehr als 2 cm, in diesem Punkte, zum Teil auf die ungleiche
Ausbildung der Höhe der beiden Wirbelhälften zurückzuführen ist,
zum Teil aber auf die Abschrägung der Gelenkfläche des Sacrum
zu beziehen und endlich als Folge eines Dickenunterschiedes der
Zwischenwirbelscheibe zu betrachten ist.
Der Proc. transv. sin. des V. Lendenwirbels ist durch eine
wirkliche Synostose mit dem entsprechenden seitlichen Abschnitt des
Kreuzbeins verbunden. Die Art der Verbindung der beiden Knochen
ist von vorn sehr gut zu sehen. Die Verlaufslinie der Sutur zwischen
Apophysis transv. und Sacrum ist vorn deutlich sichtbar, desgleichen
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362
A. Perrone.
von hinten, nur im oberen Teil nicht, da sie sich hier bis zum Rande
der Art. sacro-iliaca erstreckt.
Dieser Querfortsatz, der den der anderen Seite bedeutend an
Größe übertrifft, mißt in seinem größten Durchmesser 3 cm; seine
größte Breite beträgt 2,5 cm, und ist in vertikaler Richtung ab¬
geplattet. Der viel kleinere Proc. transv. dext. ist 1,5 cm lang und
1,5 cm hoch und ist in der Richtung von vorn nach hinten ab¬
geplattet.
Von hinten betrachtet erscheint der Bogen dieses V. Lenden¬
wirbels aus zwei in der Mitte vollkommen getrennten und ungleich
entwickelten Teilen gebildet. Die linke Hälfte ist ungefähr 1 cm
kürzer als die rechte, und strebt mehr der Sagittalebene zu, während
die rechte mehr nach der Frontalebene gerichtet ist. Beide tragen
je einen kleinen Processus spinosus, die dicht nebeneinander liegen
und nur wenig in Größe und Lage differieren. Diese beiden Dorn¬
fortsätze weichen nach links von der Medianlinie ab, so daß der
äußere Rand des rechten mit dieser Linie zusammenfällt.
Der IV. Lumbalwirbel ist im umgekehrten Sinne wie der fünfte
gedreht, d. h. in der Richtung von vorn nach hinten und von rechts
nach links; sein linker Querfortsatz liegt weiter zurück als der rechte.
Gleichzeitig besteht eine Abschrägung des Wirbelkörpers, sowie eine
starke Einsattelung der linken, und eine schwächere der rechten
Seitenfläche. Während der rechte 3 cm hoch ist, mißt der linke
nur 2 cm. Auch die Intervertebralscheibe zwischen dem IV. und
V. Lendenwirbel zeigt eine Ungleichheit in ihrer Dicke zu Gunsten
der rechten Seite.
Die Rotation nach links und hinten, welche bereits am IV. Lum¬
balwirbel beginnt, ist deutlich am dritten ausgesprochen. Die Vor¬
derfläche seines Körpers schaut fast direkt nach links, wendet sich
mithin der Crista iliaca dieser, d. h. der linken Seite zu, von der
ihr nächster Punkt nur 2 cm entfernt ist. Dieser Wirbel zeigt
ganz entgegengesetzte Charaktere als der vorhergehende, insofern
als der linke Seitenrand hier größer ist und 3 cm mißt, während
der kleinere rechte nur 2,3 cm hoch ist. Aber dieses Verhalten
hindert den Wirbel nicht, die Skoliose fortzusetzen, insofern als er mit
seinem oberen linken Rande den Scheitel der Skoliose darstellt. Das
Foramen vertebrale dieses letzten Wirbels des Präparats, welches
man daher von oben betrachten kann, zeigt keine besondere Ver¬
änderungen in seiner Form; es ist fast dreieckig.
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Ueber kongenitale Skoliose.
363
Wenn wir jetzt die drei Lumbalwirbel in ihrem Verbände mit¬
einander betrachten, so sehen wir von vorn aus vom fünften die beiden
Processus transv., vom dritten und vierten jedoch sind nur die auf
der rechten Seite sichtbar, während die linken durch die Körper
verdeckt sich dem Blicke entziehen. Denken wir uns jetzt die verti¬
kale Medianebene entsprechend dem Verlauf der Körpersenkrechten
gelegt, so schneidet diese Ebene den Körper des fünften in der
Weise, daß 2 /3 links und V 3 rechts liegen, den IV. Wirbel so, daß
er fast ganz auf der linken Seite der Ebene liegt und rechts ein nicht
mehr als 1 qcm umfassendes, dem unteren Abschnitt des Körpers
entsprechendes Stück läßt. Der III. Lendenwirbel liegt nicht nur
vollkommen links von der vertikalen Medianebene, sondern der der
Körpersenkrechten nächstgelegene Punkt seines Körpers ist von ihr
sogar 1 1 /2 cm entfernt.
Zwischen den beiden Seiten des III. Wirbels besteht ein Höhen¬
unterschied von 3 cm.
Bei der Betrachtung der Lendenwirbel von hinten beobachten
wir, daß ihre Processus spin. in einer links und ein wenig nach
hinten bogenförmig verlaufenden Linie liegen. Man kann sagen,
daß sie an der Drehung der Wirbelkörper fast gar nicht teilgenommen
haben. Die Wirbelbogen und Bogenepiphysen des III. und IV. Wirbels
zeigen nur leichte Abweichungen von der Norm.
Epikrise. In diesem Falle scheint die Skoliose, welche, nach
den drei vorhandenen Wirbeln zu urteilen, sehr ausgeprägt war, her¬
vorgerufen worden zu sein durch die abnorme synostotische Ver¬
bindung des linken Querfortsatzes des V. Lendenwirbels mit dem
oberen seitlichen Teil des Kreuzbeins. Diese Synostose hat den
V. Lendenwirbel gezwungen, sich beträchtlich nach dieser Seite zu
neigen, dadurch, daß sie einen enormen Niveauunterschied schuf
zwischen dem oberen rechten und linken Rande, wodurch natürlich
das Gleichgewicht der ganzen Wirbelsäule sehr erheblich gestört
wurde, die sich dann nach der tieferen Seite hin geneigt hat. Es
besteht für uns kein Zweifel, daß diese Synostose als kongenital
zu stände gekommen anzusehen ist, da der ganze V. Lumbalwirbel
Störungen fötalen Ursprungs darbietet. In dieser Weise ist das
Ausbleiben einer Verschmelzung der beiden Wirbelbogenanlagen zu
deuten. Außerdem bezeugt das Vorhandensein einer Spina bifida
sacralis, daß schwere Störungen bei dem Verknöcherungsprozesse
sicherlich vorgekommen sind. Noch eine andere Tatsache muß man
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364
A. Perrone.
in Betracht ziehen, nämlich das Nebeneinandervorkommen von kon¬
genitalen Mißbildungen und Rhachitis, von der wir am Becken die
ausgesprochensten Merkmale finden. Wir glauben durchaus nicht,
daß die Rhachitis in direktem ursächlichem Zusammenhang mit der
Skoliose steht, es sei denn, daß man sie als fötale Rhachitis deuten
wollte; aber das ist ein noch so unaufgeklärter und umstrittener
Punkt, daß wir nicht meinen, auf ihm fußen und daraus sichere
Schlüsse ziehen zu können. In Betreff der Deutung der Synostose
behalten wir uns vor, sie in der Folge an der Hand der anderen
Fälle zu besprechen. Zum Schluß möchten wir noch hinzuftigen,
daß sich mit aller Wahrscheinlichkeit annehmen läßt, daß sich an
der übrigen Wirbelsäule nichts wirklich Atypisches gefunden hat.
Denn wir glauben nicht, daß Virchow, aus dessen Sammlung dieses
sowie die folgenden Präparate stammen, sich so wichtige Besonder¬
heiten entgehen lassen hat, während er selbst die geringfügigsten
Einzelheiten an diesen Präparaten, z. B. die Hyperostosen, welche
sich an der Crista pubis und den Knochen, welche das Foramen
obturatum begrenzen, finden, mit eigener Hand vermerkt hat.
Sektionsprotokoll. Emilie Töpfer, 44 J., Nr. 7431 (1886).
Magere kleine Leiche. Starke Braunfärbung der Bauchhaut.
Herz klein; braun. Klappen intakt.
In beiden Lungen starkes Emphysem und Oedem der Unter¬
lappen. Leichte Struma parenchymatosa. Cyanose und Schwellung
der Larynx- und Pharynxschleimhaut.
Diagnose: Prolapsus vaginae et uteri et partial, vesicae. Pachy-
dermia vaginae. Elongatio permagna et Hypertrophia uteri. Fibro-
myoma subserosum et subraucosum uteri. Peritonitis chronica:
apostematosa, ichorosa, Nephritis interstitialis, parenchymatosa. Hydro-
nephr. lev.
Hepatitis parenchymat. Hyperplasis levis lienis. Hydrothorax
dupl. Incurvatio vertebral, columnae.
Rechtsseitige Skoliose der Brustwirbel, linksseitige der Lenden¬
wirbel. Gerade Verengerung des Beckens, seitliche Verbiegung der
aufsteigenden Schambeinäste bei gleichzeitiger Dislokation nach vom
und oben. Starke Verbreiterung der Symphyse. Leichte rhachitische
Verkrümmung beider Oberschenkel. Multiple geheilte Fraktur der
Rippen. Sämtliche Darmschlingen sind untereinander und mit der
Bauchwand und Leber verwachsen, zum Teil verklebt. Abgekapselte
faustgroße Eiterhöhlen. Das Becken wird durch ein kleinkinderkopf-
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Ueber kongenitale Skoliose.
365
großes gestieltes Myom des Uterus ausgefüllt. Die Adnexa sind in
dichte Bindegewebsmassen eingehüllt und nicht zu isolieren.
Uterus enorm elargiert, erweitert und vergrößert. Orific. ext.
leicht invertiert und prolabiert. Pachydermie der prolabierten Va¬
gina, die die hintere Blasenwand weit unter die Symphyse mit sich
herabgezogen hat. Uterusschleimhaut wulstig verdickt; zwei gestielte
Polypen und darüber ein haselnußgroßes Fibromyom auf der hin¬
teren Wand des Fundus.
Wirbelsäule und Becken werden herausgenommen:
Skoliose der oberen Lendenwirbel nach links, der Brustwirbel
nach rechts. Geheilte Infraktionen einzelner Rippen. Hyperostose
und Achsendrehung der aufsteigenden Schambeinäste. Starke Ver¬
breiterung der Symphyse. Exostosen.
II. Präparat Nr. 2234 umfaßt die ganze Wirbelsäule (Fig. 4,
5 und 6).
Wenn wir das Präparat betrachten, so bemerken wir sogleich
eine beträchtliche seitliche Verbiegung der Wirbelsäule in doppelter
Art und zwar: erstens eine lumbale Skoliose mit nach links gerichteter
Konvexität und eine zweite dorsale, kompensatorische, rechtskonvex
und viel stärker als die erstere. Außerdem ist die ganze Halswirbel¬
säule nach links verschoben und ebenso das Kreuzbein, aber in etwas
geringerem Grade. Die normalen antero-posterioren Krümmungen,
Lordose in Hals- und Lendenwirbelsäule und Kyphose im Bereich
der Brustwirbelsäule sind fast vollständig verschwunden. Die ein¬
zelnen Wirbelkörper mit Ausnahme derer des Halsteils, die die nor¬
male Lage beibehalten haben, sind von ihrer normalen Stellung
abgewichen und zwar in der Richtung der Konvexität, während ihr
Schlußteil an den Dorsalwirbeln nach der Konkavität, an den Lenden¬
wirbeln fast gerade nach hinten schaut. Wir können also sagen,
daß sich die ganze Brustwirbelsäule nach rechts, die Lendenwirbel¬
säule nach links gedreht hat. Die Reihe der Dornfortsätze bildet in
ihrem Verlauf eine einfache bogenförmige Linie, die in keinem
Verhältnis zu der starken Torsion steht, welche die Wirbelkörper
erlitten haben.
Wenn wir uns die Körpersenkrechte gezogen denken, so schnei¬
det die Wirbelsäule diese Linie 3mal, das erste Mal beim Ueber-
gang vom Kreuzbein in die Lendenkrümmung, ein zweites Mal an
der Grenze zwischen dieser und der Brustkrüramung und drittens
schließlich beim Uebergang letzterer in den Halsteil. Diese drei
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366
A. Perrone.
Kreuzungspunkte stellen die sogen. Interferenzpunkte der skoliotischen
Wirbelsäule dar und entsprechen in ihrer Lage hier also dem V. Lum¬
bal-, dem XII. und II. Dorsalwirbel. Durch diese drei Punkte wird
die Wirbelsäule in zwei Bogen geteilt, deren Scheitel in der oberen,
d. h. der Brustkrümmung 6 cm, in der unteren, der Lendenkrüm¬
mung V* cm von der Körpersenkrechten entfernt liegt. Der Keil-
Fig. 4.
Fig. 5.
wirbel der Brustkrümmung wird vom VII. Dorsal-, der der Lenden¬
krümmung vom II. Lumbalwirbel dargestellt.
Jetzt wollen wir nacheinander genau die einzelnen Teile, welche
die Wirbelsäule zusammensetzen, prüfen.
Das Kreuzbein besteht aus fünf innig miteinander verschmol¬
zenen Stücken; jedoch sind die ursprünglichen Intervertebralscheiben
gut zu unterscheiden. Es hat vier Foramina sacral. auf der rechten
und fünf auf der linken Seite. Es zeigt seine beiden normalen
Krümmungen, eine in vertikaler, die andere in transversaler Rich-
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Ueber kongenitale Skoliose.
367
Fig. 6.
tung, erstere ist deutlicher ausgesprochen als letztere. Das Sacrum
erscheint in vertikaler Richtung mehr konkav, als das sonst bei
dem eines männlichen Individuums der Fall zu sein pflegt. Außer¬
dem sind geringgradige Asymmetrien vorhanden, insofern als im
großen und ganzen die rechte Hälfte oben etwas breiter als die
der anderen Seite ist und der vordere Rand ihrer Gelenkfläche zur
Artikulation mit dem Os ileum nach vorn stärker als der entsprechende
linke vorspringt. Ferner scheint das Kreuzbein zwei Rotations¬
bewegungen ausgeführt zu haben, die
um eine antero-posteriore Achse, wo¬
durch die Basis mehr nach rechts, die
Spitze mehr nach links von der Median¬
linie gedreht wurde, eine andere um
eine vertikale Achse in der Richtung
von rechts nach links, so daß der am
weitesten nach vorn liegende Teil
seines rechten Randes um etwa 1 1 j 2 cm
vor dem der anderen Seite sich be¬
findet. Das am meisten auffallende
aber in seinem Verhalten ist die feste
Verschmelzung zwischen seinem oberen
lateralen Abschnitt links und dem
Processus transv. des V. Lendenwir¬
bels, deren genauere Beschreibung wir
bei Besprechung des V. Lumbalwirbels
geben werden. Die Betrachtung von
hinten bestätigt unsere Ausführungen
betreffs der Rotation des Sacrum und bietet im übrigen nichts be¬
sonderes. — Ein Steißbein ist nicht vorhanden.
Am V. Lendenwirbel beobachten wir, daß sein Körper um eine
vertikale Achse gedreht erscheint, und zwar in umgekehrter Richtung
als das Kreuzbein. Während sich nämlich letzteres von rechts nach
links gedreht hat, ist der Körper dieses Wirbels in umgekehrter
Richtung von links nach rechts rotiert. Infolge dessen schaut der
Mittelpunkt seiner Vorderfläche nicht mehr unmittelbar nach vorn,
sondern ist nach rechts gerichtet. Sein Körper ist in der Weise
abgeschrägt, daß die Höhe seiner linken Seitenfläche (an der Stelle
der geringsten Höhe gemessen) 2,6 cm beträgt, die der rechten
(gemessen an der Stelle der größten Höhe) 3,4 cm ergibt. Diese
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XV. Bd. 24
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A. Perrone.
Abschrägung wird zum größten Teil durch die Stellung der oberen,
zum geringeren durch die der unteren Fläche hervorgerufen.
Aber was mehr an diesem Wirbel auffällt, ist das Verhalten
seiner Querfortsätze. Der riesige 4 cm in der Länge und 2 1 ji cm
in der Breite messende rechte hat von vorn gesehen eine schräge
Stellung, in der Richtung von oben und hinten nach unten und
vorn. Von einer Sonderung in drei Fortsätze (Transv. mammill.
accessor.) ist bei ihm auch nicht mehr eine Spur zu bemerken;
er ist vielmehr umgeformt zu einer einzigen, kompakten, gleich¬
mäßigen, glatten Knochenlamelle, welche, direkt nach außen gerichtet,
oberhalb des oberen Randes der Articulatio sacro-iliaca verläuft und
diese noch um 1 j* cm überragt. Von hinten gesehen besteht sie
aus zwei Flächen, einer hinteren oberen, die von oben nach unten
verläuft und also nach hinten sieht, und einer unteren, die von hinten
und oben nach vorn und unten verlaufend nach hinten und unten
schaut. Die beiden Flächen stoßen hinten und unten unter Bildung
eines abgerundeten Winkels im äußeren und der eines spitzen im
inneren Abschnitt aneinander. Der Processus transversus sin. ist
vollkommen mit dem oberen lateralen Kreuzbeinteil verschmolzen; sie
bilden eine einheitliche Masse, an der man nirgends auch nur eine
Spur einer ursprünglichen Trennung entdecken kann.
Dieser Processus transversus begrenzt seinerseits ein Foramen
sacrale und nimmt Teil an der Bildung des Randes der Articulatio
sacro-iliaca. Kurz, er gleicht auffallend dem normalen oberen Ab¬
schnitt eines Kreuzbeins; und wenn von dem Präparat nur diese
Hälfte in Augenschein genommen würde, so müßte man diesen
Wirbel ohne weiteres für den I. Sakralwirbel halten. Die Betrach¬
tung von der Rückseite bestätigt den von vorn aus erhobenen Befund.
An dem Wirbelbogen und Bogenepiphysen des V. Lendenwirbels sind
größere Unterschiede zwischen den beiden Hälften nicht zu bemerken.
Es fällt nur auf, daß sich auf dem hinteren Abschnitt des linken
Processus transversus eine Gelenkfacette findet, welche vollkommen
einer anderen entspricht, die am Endteile des absteigenden Proc.
articul. vert. lumb. IV. derselben Seite vorhanden ist.
Während der V. Lendenwirbel um eine vertikale Achse im
Sinne von links nach rechts gedreht erscheint, haben die vier übrigen
Lendenwirbel um dieselbe Achse, aber in entgegengesetzter Richtung,
eine Rotation ausgeführt. Und während am IV. Lumbalwirbel die
linke Seitenfläche des Körpers fast 1V* cm tiefer steht als die rechte
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Ueber kongenitale Skoliose.
369
und in höherem Grade eingesattelt ist, greift, wenn man weiter auf¬
steigt, nach und nach das umgekehrte Verhalten Platz, so daß der
Unterschied in der Höhe der beiden Seitenflächen eines jeden Wirbels
immer deutlicher wird, bis wir schließlich am II. Lendenwirbel, der
als Keilwirbel der Lendenkrümmung zu betrachten ist, die linke Seiten¬
fläche 1,5 cm höher als die rechte finden.
An der Lendenwirbelsäule kann man von vorn aus rechts die
Processus transv. in ihrer ganzen Ausdehnung, von der Basis bis
zur Spitze übersehen; links dagegen ist von dem Proc. transv. des
IV. Lendenwirbels nur die Spitze, von dem des dritten etwas mehr
und dem des zweiten wieder etwas weniger sichtbar.
Bei Betrachtung der Wirbelsäule von der Seite springt die
Asymmetrie in Form und Stellung der Processus transv. besonders
am III. und VI. Wirbel ins Auge. Während die der konkaven Seite
nach unten schauen, dünner sind und mit einer Spitze enden, sind
die der konvexen Seite nach oben gerichtet, in der Richtung von vorn
nach hinten abgeplattet und gleichen auffallend rudimentären Rippen.
Der Processus transversus des III. Lendenwirbels trägt eine von
oben und außen nach unten und innen verlaufende Furche, die mit
einer direkt nach vorn gerichteten Gelenkfacette versehen ist.
Von der Lendenkrümmung aus gelangen wir über den XII. Brust¬
wirbel zur Dorsalkrümmung, an deren Wirbeln Torsion und In¬
flexion weniger ausgesprochen sind. Vom XII. an bis zum VI. ein¬
geschlossen wenden sie den Mittelpunkt ihres Körpers nach und
nach immer weiter nach rechts, bis sie einem Blick von vorn nur
die linke Seitenfläche ihres Körpers, der sich in den Bogen fortsetzt,
sowie die horizontalen, ein wenig nach vorn und unten geneigten
Querfortsätze dieser Seite darbieten. Sie stehen durch wirkliche Ge¬
lenkflächen miteinander in Verbindung. Die höhere Seitenfläche der
Wirbelkörper liegt selbstverständlich der konvexen Seite zugekehrt,
die niedrigere auf der Seite der Konkavität. Letztere ist am VII.,
dem Keilwirbel der Brustkrümmung, in ihrer Dicke auf wenige
Millimeter reduziert. Die Brustwirbel, vom VI. bis zum II. exkl.,
machen nach und nach eine Drehung in umgekehrter Richtung; sie
zeigen das Bestreben, den Mittelpunkt ihres Körpers nach links zu
wenden. Der Mittelpunkt des III., IV. und V. schaut direkt nach
unten. Die Querfortsätze der linken Seite werden von den Wirbel¬
körpern verdeckt, sind also von vorn nicht zu sehen, während die
rechts sehr deutlich hervortreten.
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370
A. Perrone.
Der II. Dorsalwirbel, d. h. der Uebergangswirbel zwischen
Brust- und Halskrümmung ist in der Richtung von links nach rechts
rotiert. Die ganze Halswirbelsäule ist stark nach links verschoben:
jedoch führen die einzelnen Wirbel keine sichtliche Torsion aus und
scheint der Mittelpunkt ihres Körpers nach vorn gerichtet. Linke
und rechte Querfortsätze sind von vorn gleich gut sichtbar.
Wir übergehen der Kürze halber die genaue Beschreibung der
einzelnen Wirbel, welche die Dorsalskoliose bilden, die als ein sehr
schönes und typisches Beispiel von erworbener Skoliose angeführt
werden könnte. An ihr finden wir in der Tat alle die Charaktere
ausgeprägt, welche die Autoren ihr zugeschrieben haben.
Epikrise. In diesem Präparat, welches die ganze Wirbelsäule
vom Atlas bis zum Sacrum ohne Veränderung in der Gesamtzahl
der Wirbel umfaßt, betrachten wir als Ursache der vielfachen seit¬
lichen Verkrümmungen die vollständige Verschmelzung des linken
Querfortsatzes des V. Lendenwirbels mit dem entsprechenden oberen
Seitenteil des Kreuzbeins. Wenn wir jetzt dieses Präparat mit dem
vorherigen vergleichen, so erkennen wir an beiden zwei verschieden
weit fortgeschrittene Stadien ein und desselben embryologischen Pro¬
zesses, nämlich der Einbeziehung des V. Lumbalwirbels ins Kreuz¬
bein. Während im ersten Falle diese Erscheinung weniger aus¬
gesprochen ist und man an einigen Stellen (vorn wie hinten) deutlich
die ursprüngliche Sonderung in zwei Knochen sehen kann, ist hier
keine Spur mehr davon vorhanden, sondern man findet eine einzige
homogene kompakte Knochenmasse, welche unbestreitbar die Massa
lateralis des I. Sakralwirbels darstellt.
Im ersten Fall trägt dieser Wirbel zu sehr den Charakter eines
Lendenwirbels, als daß man ihn als I. Kreuzbeinwirbel ansprechen
könnte, aber in diesem zweiten Falle sind wir, trotzdem wir in der
Beschreibung aus Rücksichten der Klarheit und Einfachheit immer
vom V. Lumbalwirbel gesprochen haben, geneigt ihn für den I. Sakral¬
wirbel, und zwar für einen mangelhaft ausgebildeten oder besser für
einen lumbo-sakralen Uebergangswirbel zu halten und die Zahl der Len¬
denwirbel demgemäß von fünf auf vier zu reduzieren. Die Brustwirbel
sind, wie wir aus ihren Kostalgelenkfacetten ersehen können, in der
Zahl von zwölf vorhanden. Die ganze Wirbelsäule besteht also aus
7 K + 12D4*4L + 6S = 29 Wirbeln. Mit aller Sicherheit glauben
wir behaupten zu können, daß die Skoliose der Lendenwirbelsäule die
primäre und die, wenn auch stärker ausgesprochene, der Dorsalwirbel-
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Ueber kongenitale Skoliose.
371
säule nur als kompensatorisch zu betrachten ist, und zwar aus folgenden
Gründen. Die seitliche Verkrümmung der Dorsal Wirbelsäule zeigt ab¬
gesehen von ganz geringfügigen Abweichungen nichts, was sie von der bei
erworbener Skoliose unterscheiden könnte. So sind die Wirbelkörper
nach der Seite der Konvexität, die Schlußteile der Bögen der Kon¬
kavität zu gerichtet.
An der Lendenwirbelsäule dagegen bemerken wir außer der
Verschmelzung des linken Querfortsatzes des V. Lumbalwirbels mit
dem Seitenteil des Kreuzbeins, wodurch an den beiden Wirbelhälften
ein beträchtlicher Höhenunterschied hervorgerufen wird, der allein
schon zur Erklärung der Verkrümmung der Wirbelsäule genügen
würde, daß im Gegensatz zu den Wirbelkörpern, die nach der Seite
der Konvexität gedreht sind, ihre Bogen nicht nach der Konkavität,
sondern fast direkt nach hinten schauen, ein Befund, den die Autoren
für ein besonderes Charakteristikum der kongenitalen Skoliose halten.
Und während endlich die Processus transv. der übrigen Wirbel normal
gestaltet sind, zeigen die der Lendenwirbel Modifikationen in Rich¬
tung und Form, so daß sie den Eindruck rudimentärer Rippen er¬
wecken.
III. Präparat A 256 A. 1886. Das Präparat umfaßt Becken,
die vier untersten Lendenwirbel, sowie die oberen Femurenden beider¬
seits (Fig. 7, 8 und 9).
Das Becken ist in der Richtung von vorn nach hinten abge¬
plattet; es bietet eine etwas asymmetrische Gestalt, insofern als die
beiden Ossa ilii nicht vollkommen gleichgebaut und von derselben
Form erscheinen. Die linke Fossa iliaca. ist mehr konkav als die
der anderen Seite. Die rechte Darmbeinschaufel ist ungefähr in
ihrem zentralen Abschnitt so sehr in ihrer Dicke vermindert, daß
sie vollkommen durchscheinend ist. Das Becken ist in allen seinen
Durchmessern verkleinert, sowohl der antero-posteriore als der trans¬
versale Diameter ist verkürzt. Die Schambeine sind mächtig ent¬
wickelt. Die Symphysis pubis hat eine Höhe von 4 cm und mißt
1,8 cm in der Dicke. Am Rand des Foramina obturat. sind einige
Hyperostosen zu beobachten. Der rechte dicht bei der Art. sacro-iliaca
liegende Teil des Beckeneingangs hat einen stärker gebogenen Verlauf
als der entsprechende linke Abschnitt. Im übrigen sind am Becken
wichtige Anomalien nicht zu bemerken.
Kreuzbein. Das Kreuzbein besteht aus fünf Wirbeln, die voll¬
ständig miteinander verschmolzen sind. Von den ursprünglichen
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372
A. Perrone.
Intervertebralscfneiben ist keine mehr vorhanden; sie sind vollkommen
verknöchert und ihr früherer Platz kaum mehr zu erkennen. Die
Vorderfläche hat ihre normale Krümmung in vertikaler Richtung
behalten, aber sie ist asymmetrisch und weicht insofern von der Norm
ab, als sie die Wölbung in transversaler Richtung verloren hat. Der
zwischen der Reihe der Foramina sacralia aut. gelegene mittlere Teil
erscheint wie nach rechts verschoben derart, daß er als flache Her-
vorragung längs der rechten Foram. sacral. und unmittelbar neben
ihnen verläuft. Links sind vier Foram. vorhanden im Gegensatz zu
Fi*. 7.
fünf auf der rechten Seite. Das erste Foram. sacral. rechts kommt
dadurch zu stände, daß der Proc. transv. des V. Lendenwirbels fest
mit dem seitlichen Abschnitt des Kreuzbeins verschmolzen ist. Die
Artikulationsfläche zwischen Sacrum und Lendenwirbelsäule ist in
der Richtung von links nach rechts abgeschrägt. Das Steißbein
besteht aus verschiedenen innig miteinander und dem Kreuzbein ver¬
schmolzenen Stücken, die scharf voneinander nicht mehr abzu¬
grenzen sind.
Beckenmaße.
Beckeneingang:
Conjugata anatomica . . .
9,4
linker schräger Durchmesser
12,5
rechter * ,,
13
Querdurchmesser ....
13,5
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lieber kongenitale Skoliose.
373
Beckenmitte:
Gerader Durchmesser . . . 10,5
Spinallinie.11,3
Beckenausgang:
Gerader Durchmesser . . . 9,3
Querdurchmesser .... 12,5
Wirbel. Die obere mit dem IV. Lumbalwirbel artikulierende
Fläche des V. Lendenwirbels, der ein wenig nach links gedreht er-
Fig. 8.
scheint, ist abgeschrägt, und zwar in umgekehrter Richtung wie die
des Sacrum, nämlich von rechts nach links. Während die Höhe der
rechten Seitenfläche dieses Wirbels 3 cm mißt, beträgt die der linken
nur 2 cm. Die ganze rechte Seitenfläche des Körpers vertebr.
lumb. V. geht unmittelbar in den oberen lateralen Abschnitt des
Kreuzbeins über in Form eines Knochenfortsatzes, der mit dem
Sacrum zusammen ein besonderes Foramen bildet, welches in der
Reihe der übrigen Foram. sacral. ant. liegt.
Während einerseits diese Knochenbrücke, welche vom V. Len¬
denwirbel zum Kreuzbein verläuft, den rechten Rand der oberen
Fläche dieses Wirbels erhöht, zieht sie anderseits den ganzen Wirbel
nach rechts herüber und bewirkt auf diese Weise, daß er sowie die
nächstoberen Wirbel ihre mediane Lage verlassen und mehr rechts
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374
A. Perrone.
als links zu liegen kommen. Vom hinteren Teil des oberen Randes
des V. Lumbalwirbels und vom oberen inneren Rand dieser Knochen¬
brücke entspringt eine nach oben und außen verlaufende Apophyse,
welche ungefähr 1 cm hoch ist und an der Stelle ihrer größten
Breite 1 cm mißt und die wir als wirklichen Querfortsatz betrachten
können. Der linke Proc. transv. des V, sowie die der drei folgenden
Lendenwirbel haben nicht die normale Gestalt, insofern als an
ihnen die Sonderung in drei Fortsätze
(transv., mammillar. und accessor.)
nicht wahrzunehmen ist, sondern nur
durch ein einziges Knochenstück dar¬
gestellt werden, welches in der Rich¬
tung von vorn nach hinten abge¬
plattet in seiner annähernd horizon¬
talen Lage vollkommen einer rudi¬
mentären Rippe gleicht. Von den
drei übrigen Lendenwirbeln zeigt der
Körper des IV. eine leichte Drehung
nach rechts und die rechte Seiten¬
fläche eine Einsattlung, welche deut¬
licher als auf der linken Seite aus¬
gesprochen ist; jedoch wird dadurch
ein Unterschied in der Höhe nicht
bedingt. Die Körper der beiden übri¬
gen Wirbel schauen direkt nach vorn
und bieten keine Besonderheiten.
Wenn wir jetzt das Präparat in der Ansicht von hinten be¬
trachten, so tritt die Verschiebung der ganzen Wirbelsäule vom
Sacrum an aufwärts nach der linken Seite viel deutlicher hervor;
desgleichen die leichte rechtskonvexe Skoliose.
Den Scheitelpunkt dieser Skoliose bilden der obere Rand des
V., sowie der untere des IV. Lendenwirbels. Die Reihe der Processus
spin. stellt in ihrem Verlaufe eine leicht bogenförmig geschwungene,
etwas nach links abweichende Linie dar. An den Wirbelbogen und
Bogenepiphysen findet sich nichts Außergewöhnliches.
Die vertikale Medianebene teilt die Wirbelkörper in zwei un¬
gleiche Hälften ( 2 /s rechts und J /s links).
Die kürzeste Entfernung zwischen dem linken Seitenrande des
IV. Lumbalwirbels und der linken Crista iliaca und die geringste
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Ueber kongenitale Skoliose.
375
Distanz des rechten Seitenrandes des genannten Wirbels von der
rechten Crista zeigen eine Differenz von l 1 ^ cm. Die Mittellinie
der Körper und die der Bogen scheinen im allgemeinen in ihrer
Richtung zusammenzufallen; nur am IV. Lendenwirbel kann man
feststellen, daß sie einen sehr stumpfen, nach der Seite der Konvexität
offenen Winkel miteinander bilden,
Epikrise, Dieses Präparat, welches aus den vier untersten
Lendenwirbeln, den Darmbeinen, Kreuz- und Steißbein besteht,
gleicht dem vorhergehenden sehr und unterscheidet sich von ihm
nur durch einige Besonderheiten. Während nämlich auch hier einer¬
seits die Skoliose hervorgerufen wird durch die Verschmelzung
des Querfortsatzes des V. Lumbalwirbels mit dem entsprechenden
Seitenteil des Kreuzbeins, wodurch ein Höhenunterschied von 1 cm
zwischen den beiden Seiten dieses Wirbels hervorgebracht wird, ist
anderseits weniger eine seitliche Verkrümmung als eine Abweichung
der Wirbelsäule in toto nach der Seite, der Verschmelzung ein¬
getreten. Die ganze Wirbelsäule ist, wenn wir von seitlichen Ver¬
krümmungen absehen, asymmetrisch gelegen, indem sie zum größeren
Teile rechts, zum kleineren links liegt, eine Asymmetrie, die man
in gleicher Weise am Kreuzbein ausgesprochen findet.
Auch hier wie im vorigen Falle gleichen die Querfortsätze
besonders der beiden ersten Wirbel auffallend rudimentären Rippen.
Schließlich erkennt man einen bemerkenswerten Unterschied im Ver¬
halten des V. Lendenwirbels selbst; während nämlich im Fall 2 der
linke Querfortsatz vollständig mit der Massa lateralis des Kreuz¬
beins verschmolzen ist, ohne auch nur eine Spur seiner Zusammen¬
setzung aus drei gesonderten Vorsprüngen zu hinterlassen, können
wir hier sagen, daß es der Processus costar. ist, welcher mit dem
Kreuzbein verschmolzen ist; denn sein Processus transv. ist gut er¬
kennbar und von der übrigen Knochen masse deutlich abgegrenzt.
Wir sehen also hier ein anderes Zwischenstadium der Ein¬
beziehung des V. Lendenwirbels in das Sacrum; auch hier kommt
es zur Bildung eines lumbo-sakralen Uebergangswirbels, unvollkom¬
mener als im vorigen, aber vollständiger als im ersten Falle.
Zwei Besonderheiten sind noch bemerkenswert, einmal eine
andere Synostose zwischen dem absteigenden Gelenkfortsatz des
V. Lendenwirbels und dem entsprechenden Kreuzbeinteil auf der
rechten Seite, und die Zeichen der Rhachitis, die man deutlich am
Becken beobachten kann. Für letzteres gilt das, was wir bei der
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376
A. Perrone.
Besprechung des ersten Falles geäußert haben, wo die Merkmale
der Rhachitis viel erheblicher als in diesem waren.
Im Anschluß an die Beschreibung unserer 3 Fälle wollen wir
jetzt auf die in der Literatur vorhandenen des näheren eingehen
und der größeren Deutlichkeit und Uebersichtlichkeit halber eine
Unterscheidung in drei verschiedene Gruppen vornehmen.
Die erste Gruppe umfaßt die Fälle von reiner Skoliose, die
nicht mit anderen kongenitalen Mißbildungen vergesellschaftet sind,
und welche deutlich und klar hervorgerufen werden a) durch ab¬
norme Entwicklung von Wirbeln (Vermehrung, Fehlen und Ver¬
schmelzung etc.) oder b) als Belastungsdeformität zu deuten sind.
In die zweite Gruppe fallen diejenigen Fälle von kongenitaler
Skoliose, die mit anderen kongenitalen Mißbildungen verbunden sind,
aber deren Ursache klar ist.
3. Skoliosen, für die ein bestimmter Grund nicht namhaft ge¬
macht werden kann.
Wir beanspruchen durchaus nicht, hiemit eine neue wissen¬
schaftliche Einteilung gegeben zu haben, sondern wir wollen nur
die verschiedenartigsten Fälle zu mehr oder weniger gleichartigen
Gruppen vereinigen.
Wir übergehen absichtlich alle Fälle von Mißgeburten, bei
denen man neben den mannigfaltigsten und kompliziertesten Mi߬
bildungen meistenteils als nebensächlichen Befund eine Skoliose beob¬
achtet; denn wir sind der Ansicht, ein Betreten des Gebietes, welches der
Teratologie angehört, trage nur dazu bei, die ätiologische Deutung
zu erschweren, und führe uns immer weiter ab von der Möglichkeit
praktischer Anwendung, welche als Endzweck zu betrachten ist, auf
den all unser Bestreben gerichtet sein muß.
Wenn jemand sich übrigens für derartige Fälle interessieren
sollte, so verweisen wir nur auf die Arbeit von Willett und Wal-
sham 1 ), ferner auf die Zusammenstellung in der Abhandlung von
Hirschberger 2 ) und besonders auf die Dissertation von Nau 3 ),
bei dem sogar Skelette von Schlangen und Pferden aus den ver¬
schiedenen Museen beschrieben werden.
*) Willett und Wal sh am, Medico chirurgical transactions 1880, T. LXIII
p. 257.
2 ) Hirschberger 1. c.
3 ) Nau 1. c.
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Ueber kongenitale Skoliose.
377
I. Teil, a)
1. Fall von Rokitansky 1 ). An der Wirbelsäule einer
46 Jahre alten Frau sind mehrfache seitliche Krümmungen sichtbar,
welche durch das Vorhandensein von vier überzähligen halben
Wirbeln mit den entsprechenden Bogen und Fortsätzen hervorge¬
rufen sind.
Die Sakralwirbelsäule zeigt eine linkskonvexe, die Lumbal- und
untere Dorsalwirbelsäule eine rechtskonvexe Skoliose. Außerdem
sind noch zwei weitere seitliche Verbiegungen zu konstatieren, die
eine linkskonvex im Bereich des mittleren Abschnitts, eine andere
rechtskonvex im oberen Teil der Brustwirbelsäule. Die Rippen sind
hinsichtlich Zahl und Insertion abnorm gestaltet.
2. Fall von Rokitansky. Das Präparat stammt von einem
70jährigen Manne.
Es besteht eine leichte linkskonvexe Skoliose, welche den Be¬
reich vom VI.—XII. Brustwirbel umfaßt; der IX. Dorsalwirbel ist
nur zur Hälfte vorhanden, und zwar nur auf der konvexen Seite der
Krümmung, während auf der konkaven die andere Hälfte dieses
Wirbels fehlt. Das Kreuzbein besteht aus 4 Wirbeln.
Drei weitere, in diese Gruppe gehörige Fälle sind von Meyer 2 )
veröffentlicht worden.
1. Fall. Die Wirbelsäule, deren Dorsalabschnitt aus 10 ganzen
und 2 halben Wirbeln besteht, macht in ihrem VerUuf zwei Ein¬
knickungen, von denen die eine, stärkere, durch dir Einlagerung
eines keilförmigen Knochenstückes zwischen den XII Brust- und
I. Lendenwirbel bedingt ist, die andere durch das \orhandensein
nur einer Hälfte vom IX. Brustwirbel an normaler Stelle her¬
vorgerufen wird. Außerdem läßt sich an der Wirbelsäule eine
spiralige Drehung sowie Verwachsungen mannigfacher Art zwischen
Wirbelkörpern und Bögen konstatieren.
2. Fall. Das Skelett einer Wirbelsäule, an der 13 Irustwirbel
vorhanden sind, zeigt als besondere Veränderung in ihrem Bau eine
erhebliche rechtskonkave Ausbiegung im Lumbalteil. Diese hat ihren
Grund darin, daß der III. und IV. Lendenwirbel nur zur Hllfte ent¬
wickelt und miteinander verschmolzen sich als keilförmiges Knochen-
*) Rokitansky 1. c.
*) Meyer 1. c.
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378
A. Perrone.
stück von links her zwischen II. und V. Lumbalwirbel einschieben.
Nur in ganz geringer Ausdehnung berühren sich die beiden rechten
Ränder des II. und V. Lendenwirbels. An der Wirbelsäule ist gleich¬
zeitig eine spiralige Drehung, sowie Verwachsungen zwischen den
Körpern des I. und II. Brust-, und des III. und IV. Halswirbels zu
beobachten.
3. Fall. V. und VI. Brustwirbel sind in der Art mißbildet,
daß sie als niedrige keilförmige Knochenstücke sich zwischen den
IV. und VII. Thorakalwirbel einlagern, die sich beide entsprechend
der Keilform der beiden Wirbelrudimente an ihren vorderen Rändern
berühren. An dieser Stelle besteht eine Einknickung der Wirbel¬
säule.
Drei Fälle dieser Art hat Noble Smith 1 ) veröffentlicht:
1. Skelett einer 31jährigen Frau. Es besteht eine Verkrüm¬
mung des Thorax, welche durch Fehlen von 4V2 Wirbeln, sowie
4 Rippen links und 5 rechts hervorgerufen wird. Die rechte Hälfte
des III. Rückenwirbels fehlt, wodurch eine starke Seitenkrümmung
nach links bedingt ist. Im ganzen sind nur 12 V* Wirbel vorhanden,
nämlich 2 Hals-, 7 x /2 Brust- und 3 Lendenwirbel.
2. Skele;t eines 64jährigen Mannes. 7 Halswirbel bis herab
zum IV. Brustwirbel inkl. sind an ihrer Vorderseite miteinander
verwachsen, desgleichen die linken Hälften des VII. Hals- und
II. Brustwirbels — die linke Hälfte des ersten fehlt nämlich —.
Von dieser Verwachsungsstelle entspringt ein Knochenstück, welches
die erste Rippe darstellt. Es besteht eine rechtskonvexe Skoliose.
3. Die Körper des III., IV. und V. Brustwirbels sind mitein¬
ander verwachsen; der des IV. bis auf einen kleinen Rest der linken
Seite geschvunden. Leichte linke Dorsalskoliose.
Daran schließt sich eine von Mouchet 2 ) mitgeteilte Beob¬
achtung.
Es landelt sich um ein 2jähriges Mädchen — ausgetragen.
8 Tage nach der Geburt bemerkte die Amme das Vorhandensein
eines Buckels, der sich im Lauf eines Jahres langsam vergrößerte.
Das Allg3meinbefinden des Kindes blieb ausgezeichnet. Das Röntgen-
! ) Noble Smith, Clinical Sketches. London, September 1895.
2 )A. Mouchet, Scoliose congenitale dorso-lombaire par piece vertebrale
surnuimVaire. Gaz. hebdom. de med. et de chir. 19 mai 1898.
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lieber kongenitale Skoliose.
379
bild gestattete die Anwesenheit eines überzähligen Wirbelstückes
zwischen I. und II. Lumbalwirbel links festzustellen. Gleichzeitig
ergab sich eine Verwachsung der 4., 5., 6., 7 und 8. Rippe links.
Dadurch wurde eine linkskonvexe Dorsolumbalskoliose mit Kompen¬
sationskrümmung im Bereich der oberen Brustwirbelsäule hervorge¬
rufen. Kein Zeichen von Rhachitis.
Dieser Fall wurde abermals im Jahre 1902 in der Zeitschrift
für orthopädische Chirurgie Bd. 10 von Pendel publiziert.
In diese Gruppe gehört noch ein von Hirschberger 1 ) be¬
schriebener Fall.
Die vollständige Wirbelsäule mit Kreuzbein von einem Er¬
wachsenen macht drei seitliche Krümmungen, eine linkskonvexe im
unteren Abschnitt der Wirbelsäule, darauf folgt eine mittlere mit
rechts gelegener Konvexität, an die sich eine dritte, wieder links¬
konvexe anschließt. Diese leichten seitlichen Abweichungen von der
Vertikallinie werden durch die Verschmelzung des II. und III. Lenden¬
wirbels zu einem Doppelwirbel bewirkt. Zwischen den beiden Wirbel¬
körpern findet sich eine deutlich ausgeprägte, vorgewulstete Narbe.
Die beiden Processus transv. dieses Doppelwirbels liegen bedeutend
näher zusammen als die übrigen.
Einen sehr wichtigen und interessanten Fall dieser Art ver¬
danken wir Codivilla 2 ).
Die Wirbelsäule eines 11jährigen Kindes, das keinerlei Spuren
von Rhachitis zeigt, bietet eine doppelte Seitenkrümmung dar, eine
linkskonvexe dorso-lumbale, und eine mit nach rechts gerichteter
Konvexität dorsale. Der größte Radius der unteren Lendenskoliose
beträgt 6 cm und letztere ist anscheinend nicht gedreht; die Brust¬
krümmung dagegen, deren Radius 9 mm mißt, hat eine Drehung
um ihre longitudinale Achse ausgeführt. Das Becken ist nach links
geneigt. Die Röntgenphotographie läßt an der Lendenwirbelsäule
auf der Seite der Konkavität deutlich 5, auf der Konvexseite 6 Ge¬
lenkfortsätze unterscheiden. Der im Scheitel der seitlichen Ab¬
weichung liegende, also dem Keilwirbel der gewöhnlichen Skoliose
entsprechende Wirbel trägt auf der einen Seite einen, auf der an¬
deren zwei Processus articulares. Auf anderen Röntgenbildern kann
man sehen, daß dieses Segment auf der konvexen Seite aus zwei
*) Hirschberger 1. c.
*) Codivilla, Societä medic.-chir. di Bologna 1901.
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380
A. Perrone.
Teilen besteht, einem oberen, wirklich keilförmigen, der sich bis zur
Mitte der Wirbelsäule verliert und einen Gelenkfortsatz trägt, und
einem unteren vom Aussehen eines gewöhnlichen, schiefen, skolioti-
schen Wirbels. Außerdem bemerkt man das Vorhandensein einer
Hypertrichose im unteren Dorsal-, dem Lumbal- und oberen Kreuz¬
beinabschnitt. Die an einzelnen Stellen bis zu 10—12 cm langen
Haare richten im Gegensatz zu denen bei Spina bifida ihre Spitze
der Peripherie zu.
In dreifacher Hinsicht ist dieser Fall sehr interessant; einmal
gehört er zu den wenigen Fällen von reiner kongenitaler Skoliose, bei
denen über die Aetiologie kein Zweifel bestehen kann, ferner ist er
einer der ersten, die mit Röntgenphotographien ausgestattet sind,
und schließlich bietet er eine typische Hypertrichosis.
Zum Schluß führen wir noch zwei in der Dissertation von Nau
zitierte Fälle an.
Calori. An der Wirbelsäule eines kleinen Mädchens, an der
6 Lendenwirbel vorhanden sind, findet sich zwischen dem I. und
H. Brustwirbel rechts ein halber Wirbel eingeschoben. Auf der
rechten Seite ist ein Wirbelbogen, eine Rippe und ein Spinalnerv
mehr als links.
R e id. Die Wirbelsäule (stammt aus dem Museum des St. Thomas-
Hospitals) zeigt eine rechtskonvexe Skoliose und einen Buckel. Zwischen
Vin. und IX. Brustwirbel schiebt sich rechts ein halber Wirbel ein,
bestehend aus Körper, Bogen und Processus transv. Diese Wirbel¬
hälfte trägt zwei Facies costales und stellt die Ursache der Sko¬
liose dar.
b) Belastungsdeformität.
Fall von Hirschberger. Das Präparat stammt von einem
Kinde, bei dem man kurze Zeit nach der Geburt eine starke Ver¬
krümmung der Wirbelsäule, angeborene Hüftgelenksluxation, ausge¬
sprochene Adduktionskontraktur des rechten Beines, Lähmungen
beider Arme und Beine bemerkte, die sich innerhalb einiger Tage
teilweise zurückbildeten und nur an der linken unteren Extremität
bestehen blieben. Das Präparat umfaßt Wirbelsäule, Becken, Rippen,
Femurenden und zeigt zwei seitliche Verkrümmungen der Wirbel¬
säule, eine leichtere rechtskonvexe im Bereich der Hals- und obersten
Brustwirbel und eine hochgradige Skoliose mit der Konvexität nach
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Ueber kongenitale Skoliose.
381
links im Brust- und Lendenteil. Diese beiden seitlichen Abwei¬
chungen sind bedingt durch die ausgesprochene Abschrägung der
Ligamenta intervertebralia des Keilwirbels (X. Brustwirbel) und
seiner Nachbarwirbel im Bereich der unteren linkskonvexen Krüm¬
mung, und durch ein ähnliches, jedoch nicht so hochgradig ent¬
wickeltes Verhalten der Ligamenta intervertebralia des Keilwirbels
(II. Brustwirbel) der oberen Skoliose. Außerdem ist eine starke
Torsion der Wirbelsäule sowie eine buckelartige Vorwölbung der
linken Seite und endlich eine starke Neigung des Beckens von rechts
oben nach links unten vorhanden.
An diese Publikation von Hirschberger reihen sich zwei
Beobachtungen von Bonnaire 1 ) (1894 und 1901), in denen die
Aetiologie sehr deutlich hervortritt.
1. Bei einem Fötus, bei dem man äußerst ausgesprochenen Olig-
amnios konstatierte und welcher 20 Stunden nach der Geburt starb,
fand man alle Teile mit Ausnahme des Skeletts im Zustande voll¬
kommener Entwicklung. Die Wirbelsäule zeigt eine rechtskonvexe
dorso-lumbale Skoliose. Die Wirbel erscheinen nicht um ihre verti¬
kale Achse gedreht; eine kompensatorische Krümmung ist nicht vor¬
handen.
2. Es bandelt sich um einen Fötus mit einem großen Nabel¬
bruch und mit einer Deformität, bestehend in der Bildung einer
Skoliose mit einer fehlerhaften Stellung der unteren Extremitäten
und mit mißbildetem Becken. Im oberen Teil der Dorsalwirbelsäule
findet sich eine rechtskonvexe Skoliose und unterhalb im Dorso-
lumbalteil eine kompensatorische Krümmung, welche oberhalb der
Basis des Kreuzbeins aufhört.
Der Verfasser nimmt als ätiologisches Moment „Oligamnios“ an.
In dieselbe Gruppe gehört ein mit Röntgenphotographie aus-
gestatter Fall von Maaß 2 ).
Drei Monate altes, wohlgebildetes Kind.
Bald nach der Geburt bemerkte die Mutter, daß das Kind
immer krumm lag. Im Alter von 2 Monaten zeigte sich eine deut¬
liche Krümmung des Rückgrats, verbunden mit einer stärkeren Vor-
*) Bonnaire, Bulletins soc. obstet, de Paris 1894. — Derselbe,
ebenda 1901.
2 ) Maaß 1. c.
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382
A. Perrone.
Wölbung der linken Rückenseite. Keine Spur von fötaler Rhachitis.
Es besteht eine linkskonvexe totale Skoliose, die in sanfter gleich¬
mäßiger Biegung alle Brust-, sowie die oberen Lenden- und unteren
Halswirbel in sich schließt und ihren Scheitel in der Höhe des
IX. Brustwirbels hat. Verfasser glaubt aus Mangel anderer ätio¬
logischer Momente die Skoliose als Belastungsdeformität auffassen
zu müssen.
Hirschberger zitiert noch einen, wahrscheinlich als Be¬
lastungsdeformität zu verstehenden Fall von kongenitaler Skoliose
von Adams a ).
Dabei handelt es sich um eine linkskonvexe starke Verkrüm¬
mung der Brust- und Lendenwirbelsäule bei einem 2jährigen Kinde
mit mißstaltetem Becken. Nach der Angabe der Eltern war diese
Mißbildung angeboren.
Nach der Meinung von Hirschberger sind noch 2 Fälle von
Nivert und Casselli in diese Kategorie der als Belastungs¬
deformität zu deutenden Skoliosen zu zählen.
II. Teil.
Noble Smith 2 ). An der Wirbelsäule sind Skoliose und Spina
bifida vorhanden. Die seitliche Verkrümmung wird durch den Mangel
der ganzen linken Hälfte, sowohl des Körpers als der Fortsätze, des
IX. Dorsalwirbels hervorgerufen.
Ein ähnlicher Fall von Wyß zitiert Athanassow.
Hernia ventral, lat. cong.
Der Lage des XIII. Dorsalwirbels einer kindlichen Wirbelsäule
entsprechend beobachtet man besonders deutlich in der Ansicht von
hinten eine leichte rechtskonvexe Skoliose, bedingt durch die Form
des XIII. Brustwirbels, dessen rechte Seite höher als die linke ist.
Der Wirbel trägt rechts zwei Bogen, von denen der obere mit einer
Rippe versehen ist, während auf der linken Seite nur ein Bogen mit
Rippe vorhanden ist. Die rechte Hälfte des XII. Dorsalwirbels fehlt
vollkommen und ruft dadurch eine Skoliose hervor, welche durch
die ungleiche Ausbildung des XIII. Dorsalwirbels überkorrigiert wird.
Carus 3 ) gibt die Beschreibung eines totgeborenen rhachiti-
schen Kindes mit deformierter und skoliotischer Wirbelsäule. Die
j ) Ad am 8 1. c. 2 ) 1. c.
3 ) C. G. Carus, Zur Lehre der Schwangerschaft. Leipzig 1822.
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Ueber kongenitale Skoliose. 383
Mutter des Kindes war infolge von Rhachitis besonders klein ge¬
blieben.
Ein weiterer Fall wurde von Willett und Walsham 1 ) beob¬
achtet.
Eine 31 Jahre alte Frau, deren Mutter eine Verkrümmung der
Wirbelsäule hatte, ist von Geburt an mit einer Skoliose behaftet.
Bei der Autopsie konstatierte man im Bereich der oberen Dorsal¬
wirbelsäule eine Skoliose, eine ausgedehntere und leichtere kompen¬
satorische Krümmung im unteren Abschnitt der Dorsalwirbelsäule.
Es fehlten 4 1 /* Brustwirbel, 5 Rippen rechts, 4 links. Die Inter¬
kostalräume sind abnorm breit. Das Sternum steht schief nach links
und unten. Die Brusthöhle ist in allen Durchmessern verengert, be¬
sonders im sagittalen.
Athanassow 2 ). 13jähriges Kind, bei dem eine starke rechts¬
konvexe lumbo-dorsale Skoliose vorhanden ist. Die Processus spinosi
sind scheinbar in zwei Reihen angeordnet, welche einen elliptischen
Raum einschließen — diastasierende Bogenhälften. (Aus dem Atlas
der orthopädischen Chirurgie von Lüning und Schultheß, Mün¬
chen 1901.)
Derselbe Autor beschreibt noch einen Fall, dem er ausge¬
zeichnete Photographien und Radiographien beifügt.
Es besteht eine linkskonvexe Abbiegung der Wirbelsäule, an
der das Kreuzbein teilnimmt. Weiter oben geht sie in die rechts¬
konvexe Dorsalkrümmung über, am Uebergang beider liegt der
XII. Dorsalwirbel. Der Scheitel der Lendenkrümmung befindet sich
in der Höhe des III. und IV. Lendenwirbels.
Nach der Ansicht des Autors handelt es sich entweder um ein
Fehlen oder eine rudimentäre Ausbildung einer Wirbelhälfte am
III. Lumbalwirbel, abnorme Gestaltung des IV. und in geringem
Grade des II. Möglich wäre auch eine Verschmelzung der beiden
rechten Wirbelhälften des III. und IV. Lendenwirbels.
Spina bifida lumbalis.
In einem Fall von Fleury handelt es sich um ein 6jähriges
Mädchen, das mit einer Atresia ani zur Welt kam und bei dem
man im 8. Lebensmonate eine Verkrümmung der Wirbelsäule be¬
merkte. Augenblicklich hat das Kind zwischen dem X. Brust- und
HI. Lendenwirbel eine rechtskonvexe Skoliose, welche, wie das
>) 1. c. 2 ) 1. c.
Zeitschrift fi'ir orthopädische Chirurgie. XV Bd. 25
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384
A. Perrone.
Röntgenbild zeigt, durch das Vorhandensein eines überzähligen
Wirbels zwischen dem XI. und XII. Dorsalwirbel hervorgerufen wird.
Jetzt zitieren wir noch einen Fall, bei dem die Skoliose nach
der Ansicht des Autors auf paralytische Störungen zurückzuführen ist
Coville 1 ). Bei einem 16 Monate alten Kinde sind neben¬
einander eine Verbiegung der Wirbelsäule, Luxation des linken Ell¬
bogens nach hinten sowie Klumphand rechterseits vorhanden *— alles
Lähmungserscheinungen. Die Skoliose ist eine zweifache, eine lum¬
bale linkskonvexe und eine dorsale mit nach rechts gerichteter Kon¬
vexität. Das Kind kann nicht aufrecht sitzen, es beugt sich nach
vorn über und die Wirbelsäule gewährt dabei den Anblick einer
sehr ausgesprochenen Kyphose. Das Kind ist seit der Geburt nie¬
mals krank gewesen.
Schließlich finden wir in der Literatur 4 Fälle, wo sogenannte
fötale Rhachitis mit Verkrümmung der Wirbelsäule vergesellschaftet
war. Bei drei von ihnen, in den von A. Fischer, Stilling und
Coville beschriebenen, handelte es sich um Skoliose, bei dem vierten
•— von Ehrlich publiziert — war eine Kyphose der Lendenwirbel¬
säule und eine starke Lordose der Brustwirbelsäule vorhanden.
III. Teil.
Smith 2 ). An der Wirbelsäule eines 12jährigen Mädchens
lassen sich zwei Verkrümmungen, eine im Bereich der Brustwirbel¬
säule nach links und eine zweite im Lendenabschnitt nach rechts,
beobachten, beide anscheinend kompensatorisch infolge einer scharfen
kongenitalen Einknickung im Nacken.
Kirmisson 3 ). Bei einem 20 Monate alten Kinde besteht
neben einem asymmetrischen Schädel eine Skoliose der Wirbelsäule
nach der linken Seite, sowie ein Tieferstehen der rechten Rippen.
Die rechte Thoraxhälfte ist umfangreicher als die linke. Das Kind
starb kurze Zeit nach einer Kraniektomie. Das Gehirn ergab bei
der Untersuchung keinerlei pathologisch-anatomische Veränderungen.
Coville 4 ) beschreibt drei verschiedene derartige Fälle von kon¬
genitaler Skoliose.
Bei dem ersten, der von Kirmisson zuerst untersucht ist,
handelt es sich um eine linkskonvexe Lumbalskoliose bei einem
*) 1. c. 2 ) 1. c. 3 ) 1. c. 4 ) 1. c.
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Ueber kongenitale Skoliose.
385
2 Monate alten Kind, das nach der Angabe der Eltern von Geburt
an dieser Mißbildung leidet.
Der 2. Fall, den Coville nach einer Beobachtung von Ziems-»
sen beschreibt, betrifft ein löjähriges Mädchen mit enormer rechts¬
konvexer Skoliose. Außerdem fallen Kleinheit des Schädels, Muskel¬
kontrakturen an den Extremitäten und das Vorhandensein eines
Pes varus ins Auge.
Der 3. ist der einzige Fall, den Coville bei seiner Unter-**
suchung von 1015 Kindern im Alter von 1 Tag bis 3 Monaten fand.
Der halbe Umfang des Thorax dieses 11 Tage alten Kindes
mißt rechts 16, links 17 cm. Veränderungen am Skelett oder Zeichen
von Rhachitis bestehen nicht.
Zwei Fälle, die in diese Kategorie gehören, veröffentlicht
Athanassow 1 ).
1. Bei einem neugeborenen Kinde beobachtete man eine links¬
konvexe Totalskoliose, die anfänglich wieder verschwand, im 9. Lebens¬
jahre aber wiederkehrte. Später zeigte die Skoliose die Tendenz
zum Uebergang in eine Lendenskoliose.
2. Bei einem 18jährigen Mädchen besteht nach der Angabe
der Mutter seit der Geburt eine leichte linkskonvexe Lumbalskoliose.
Einen weiteren Fall teilt Guörin 2 ) mit.
Die Wirbelsäule eines 7jährigen Knaben zeigt zwei seitliche
Verkrümmungen, eine stärkere, linkskonvexe im Dorsolumbalteil und
eine schwächere rechtskonvexe in dem Lumbosakralabschnitt. Außer¬
dem finden sich Mißbildungen am Truncus, Asymmetrie des Schädels,
Genu valgum und endlich Lähmungen an den oberen Extremitäten.
Diese Deformitäten bestehen nach der Erzählung der Eltern von
Geburt an.
Carus 3 ). Zwillinge mit deutlich ausgesprochener Skoliose bei
gleichzeitigem Hervorstehen der rechten Scapula. Die übrigen Or¬
gane sind normal, abgesehen von Anomalien der Muskeln von Brust
und Vorderarm.
Auch von Foerster und Fleischmann existiert je eine Be¬
schreibung einer hierhergehörigen Skoliose.
Foerster 4 ). Bei einem Fötus von 8 Monaten ist die Wirbel¬
säule stark nach links gekrümmt; die Rippen der linken Seite sind
sehr defekt und bilden eine Spalte der Brustwand.
l ) 1. c. 2 ) 1. c. 3 ) 1. c. 4 ) 1. c.
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386
A. Perrone.
Fleischmann 1 ). Es handelt sich um eine Doppelskoliose,
bei der die Rückenwirbel nach links, die Lendenwirbel nach rechts
und die Halswirbel torquiert sind.
Es gibt noch mehr derartige Fälle, so von Sayre und Busch,
die wir aber übergehen möchten, da sie Besonderheiten nicht bieten.
Jetzt sei es uns gestattet, das zusammenzufassen, was wir in
den Epikrisen der einzelnen Fälle gesagt haben, und dann einige
Betrachtungen allgemeiner Natur daran zu knüpfen.
Bei den drei von uns beschriebenen Fällen erkennen wir also
eine einheitliche, wenn auch verschiedengradige und allen gemein¬
same Ursache der Skoliose, nämlich die unvollständige und unvoll¬
kommene Einbeziehung des V. Lendenwirbels ins Kreuzbein, der da¬
durch zu einem lumbo-sakralen Uebergangswirbel wird. Es ist klar,
daß dieser abnorme Prozeß, welcher unbestreitbar bis ins intrauterine
Leben zurückreicht, einen beträchtlichen Höhenunterschied zwischen
den beiden Wirbelhälften hervorrufen kann, der sich dann natur¬
gemäß bei dem weiteren Wachstum steigern muß. Dieser Niveau¬
unterschied veranlaßt selbstverständlich die Wirbelsäule, sich nach
der tieferen Seite zu neigen und gibt auf diese Weise den Grund
ab für die Entstehung einer Skoliose. Bei unseren 3 Fällen finden
wir verschiedene Durchgangsstadien dieses Vorgangs der Einbe¬
ziehung; und während er im 1. Fall kaum angedeutet ist, da man
hier unmöglich den V. Lenden- als I. Sakralwirbel betrachten kann,
wird er mehr ausgesprochen im 3. Fall, wo aber doch der Proc.
transv. des V. Lumbalwirbels noch gesondert sichtbar bleibt, und
schließlich vollkommen im 2. Fall.
Es ist bekannt, daß das Kreuzbein nach dem Os coccyg. der
Teil der Wirbelsäule ist, der die meisten Anomalien in der Zahl
seiner Wirbel zeigt, welche anstatt der normalen Zahl von fünf in
einer Anzahl von sechs, was häufiger ist, oder vier, was seltener der
Fall ist, vorhanden sein können. Zur Erklärung dieser Tatsache hat
man drei besondere Theorien aufgestellt.
Die erste sehr unklare stammt von Meckel.
Er führt das Vorhandensein überzähliger Wirbel auf eine ge¬
steigerte Bildungstätigkeit bei der Entwicklung der Wirbelsäule, das
Fehlen auf eine entsprechende Herabsetzung zurück (obscurum, per
obscurius!).
l ) 1. c.
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Ueber kongenitale Skoliose.
387
Die zweite von Taruffi verteidigte Theorie läßt uns gleich¬
falls zurückgehen bis in die Zeit des embryonalen Lebens und nimmt
eine ursprünglich abnorme Segmentierung der häutigen Wirbelsäule
an, die also eine Ueberzahl von Segmenten bei den Individuen dar¬
bieten würde, die später überzählige Wirbel werden haben müssen,
und eine Verminderung der Segmente im entgegengesetzten Falle.
Die dritte von Regalia im Jahre 1880 aufgestellte Theorie
gründet sich vollkommen auf die embryologische Tatsache, auf die
Rosenberg aufmerksam gemacht hat, daß nämlich das Becken im
Lauf seiner ontogenetischen Entwicklung keinen festen Platz hat,
sondern langsam entlang der Wirbelsäule emporrückt, indem es nach
und nach mit immer höher gelegenen Wirbeln in Verbindung tritt.
So sind die Ossa coxae beim menschlichen Embryo zuerst mit dem
26., 27., 28. Wirbel, später mit dem 25., 26., 27. in Verbindung;
sie sind also bis zum 25. Wirbel emporgerückt und haben jeden
Zusammenhang mit dem 28. verloren.
Man begreift nun leicht die Veränderungen, welche diese auf¬
steigende Bewegung des Beckens in der anatomischen Zusammen¬
setzung des Kreuzbeins und der Lendenwirbelsäule herbeiführen muß.
Id der Tat nimmt das Sacrum bei seinem Aufsteigen neue Elemente
in sich auf, während die Lendenwirbelsäule im Gegensatz von ihren
eigenen Bestandteilen verliert. Dieser Assimilationsprozeß kann voll¬
kommen sein und es entsteht dann keine Störung im Gleichgewicht
der Wirbelsäule, sondern nur eine einfache Veränderung in der Zahl
der Wirbel; oder aber sie kann unvollständig sein, und dann ist
eine mehr oder weniger ausgesprochene Asymmetrie des Kreuzbeins
die Folge, welche notwendigerweise ihre besonderen Wirkungen aut
Becken und Wirbelsäule ausüben muß. Die Anatomen behaupten
zwar, daß derartige Asymmetrien des Kreuzbeins Beckenabnormitäten,
insbesondere Schiefheit bedingen, weil die beiden Synchondr. sacro-
iliac. in verschiedener Höhe liegen; aber bei keinem von ihnen haben
wir eine Andeutung gefunden, daß eine solche Asymmetrie die direkte
Ursache einer Skoliose sein kann. Es sei hier besonders bemerkt,
daß wir stets von einer primären Skoliose sprechen, und nicht von
einer sekundären, die eine Schiefstellung des Beckens kompensieren
soll. In unseren Fällen geht zur Evidenz hervor, daß die seitlichen
Verkrümmungen der Wirbelsäule nichts mit der Stellung und Asym¬
metrie des Beckens zu tun haben; denn die beiden Synchondr. sacro-
iliac. haben eine kaum sichtbare Niveaudiiferenz. Die wirkliche Ur-
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388
A. Perrone.
Sache der Skoliose ist bei ihnen unzweifelhaft in der Abschrägung
der Flächen des Körpers des mißbildeten Wirbels zu suchen.
Hinsichtlich der Therapie behaupten die Autoren übereinstim¬
mend, daß bis jetzt darüber wenig oder gar nichts zu sagen ist.
Das ist in der Tat wirklich so, weil es sich in der Mehrzahl der
von ihnen beschriebenen Fälle fast stets um einen Mangel oder Ver¬
mehrung um eine Wirbelhälfte handelte oder um eine Verschmelzung
von zwei oder mehreren Wirbeln. Es ist klar, daß hier einerseits
ein chirurgischer Eingriff an den Wirbelkörpern die Festigkeit der
Wirbelsäule beträchtlich gefährden würde, anderseits die gewöhn¬
lichen Mittel wie Gipskorsett, Gymnastik, Massage etc. nur sehr
kümmerliche Resultate geben könnten, da sie selbst in günstigen
Fällen nur bis zu einem gewissen Punkte im Sinne einer Hintan¬
haltung der stetigen Zunahme der Skoliose zu wirken vermögen.
Umgekehrt kann man bei unseren Fällen unseres Erachtens
an die Möglichkeit der Anwendung einer aussichtsvollen Therapie
denken. Wir glauben in der Tat, daß ein chirurgischer Eingriff,
besonders in der ersten Zeit des Lebens unternommen, wenn näm¬
lich die kompensatorischen Krümmungen noch nicht so zur Entwick¬
lung gekommen sind und die Wirbelkörper noch nicht eine stärkere
Drehung ausgeführt haben, nicht zu gewagt sei, noch ohne Aussicht
auf Erfolg.
Die Operation müßte darin bestehen, die Knochenbrücke, welche
abnormerweise unvollständig (Fall I) oder vollständig (Fall II und III)
den Querfortsatz des V. Lumbalwirbels mit dem entsprechenden
Seitenteil des Kreuzbeins verbindet, zu sprengen. Dabei hätte man
nur die Absicht zu verfolgen, die Asymmetrie zu beseitigen und die
normalen Verhältnisse der Wirbelsäule wiederherzustellen, ohne im
geringsten ihre Festigkeit zu gefährden. Ein gutes Gipskorsett in
der ersten Zeit, später Gymnastik, Massage, Elektrotherapie etc.
könnten vielleicht einen ungeahnten Heilerfolg zeitigen. Die zwei
Momente, auf welche wir noch einmal zusammenfassend hinweisen
möchten, und die als wichtiges Ergebnis dieser Arbeit zu betrachten
sind, lassen sich in zwei Sätze formulieren.
I. Zu den bisher anerkannten Ursachen einer kongenitalen
Skoliose muß man die durchaus nicht seltene Asymmetrie des Sacrum
hinzufügen.
II. Die Prognose solcher Fälle ist viel günstiger zu stellen als
die der übrigen.
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Ueber kongenitale Skoliose.
389
Nun möchten wir uns höflichst erlauben, Herrn Geheimerat
Professor Orth unseren verbindlichsten Dank für die freundliche
Ueberweisung von drei so interessanten Präparaten abzustatten.
Gleichzeitig kommen wir der angenehmen Verpflichtung nach,
Herrn Privatdozent Dr. Schultheß (Zürich) für das freund¬
liche Interesse für unsere Arbeit zu danken; ebenso Herrn Professor
Hoffa für die Ehre, die er uns durch das Lesen unserer Arbeit
erwiesen hat.
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XXIII.
Ein neues Stützkorsett
zur Maskierung der Deformität bei Skoliotikern
mit großem Rippenbuckel.
Von
Dr. Engen Kopits,
ordinierender Arzt für orthopädische Chirurgie im Stefanie-Kinderspital
zu Budapest.
Mit 6 in den Text gedruckten Abbildungen.
In der Behandlung der Skoliose befolgen wir heutzutage im
allgemeinen jenen Behandlungsplan, welcher die Kräftigung der
Rückenmuskulatur mit Hilfe der Massage und Gymnastik, die
Mobilisierung des Rückgrates durch verschiedene aktive und
passive Uebungen, sowie durch Anwendung von zu diesem Behufe
konstruierten Apparaten, schließlich die Fixierung der durch dieses
Vorgehen erreichten Resultate mit entsprechendem Stützapparate,
zum Zwecke hat. Keines dieser Behaudlungsmittel ist entbehrlich,
und derjenige, der die Skoliose nur vermöge der Gymnastik heilen
will, begeht einen ebenso großen Fehler als derjenige, welcher zu
demselben Zwecke nur ein Korsett allein verwendet. Wer bei der
Behandlung der Skoliose es bloß bei dem Korsett bewenden läßt,
schadet sogar dem Kranken mehr als er ihm nützt, denn der im
Korsett fixierte Rumpf macht kaum irgend eine Bewegung, demzu¬
folge die an und für sich schon schwachen Rückenmuskeln, ihrer
Untätigkeit halber, nur noch mehr geschwächt werden. Möge das
Korsett den Rumpf noch so gut redressieren, wird sein Tragen
dennoch erfolglos sein, weil der Rumpf bei dessen Nichtbenützung
infolge der Verkrüppelung der Muskulatur sozusagen zusammenfällt
Aber durch die Behandlung mit der Gymnastik allein wird der Er¬
folg auch nicht vollkommen sein, wenn nicht gleichzeitig für ent¬
sprechende Apparate gesorgt wird, welche das Rückgrat, soweit
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Ein neues Stützkorsett zur Maskierung der Deformität etc.
391
dessen Beweglichkeit dies nur gestattet, in einer gestreckten Lage
erhalten.
Schon in dem Anfangsstadium der Skoliose, wenn die Verkrüm¬
mung des Rückgrates nur noch als eine sich oft erneuernde habi¬
tuelle schlechte Körperhaltung zeigt, muß neben der Kräftigung
und Disziplinierung der Muskulatur gleichzeitig das Sitzen mit ge¬
krümmtem Rückgrate durch längere Zeit verhindert werden. Dies
ergibt sich von selbst aus der Kenntnis der Entwicklungsmechanik der
Skoliose. Wenn das heranwachsende Kind stundenlang mit ver¬
krümmtem Rückgrate sitzt, wirkt das auf seine noch plastibilen, ja
sogar erweichten Wirbelknochen so nachteilig, daß die täglich nur
kurze Zeit dauernden redressierenden Uebungen dem Uebel zu steuern
nicht im stände sind, sondern es erfolgt trotzdem eine Anpassung
der einzelnen Wirbel, sowie der Bänder an die aus der Veränderung
der statischen Verhältnisse des Rückgrates entstehenden Nebenver¬
krümmungen, die Rippendeformitäten, mit einem Worte: die Seiten¬
verkrümmung des Rückgrates wird eine konstante. Dann empfehlen
schon auch jene das Tragen des orthopädischen Korsetts, welche bis
dahin, als eine skoliotische Körperhaltung nur noch wahrnehmbar
wurde, gegen dessen Benützung waren. Nur daß, während damals
das Rückgrat des Kranken passiv, oft aktiv, vollständig ausgleich¬
bar war und es in dieser Lage mit Hilfe des Korsetts zu er¬
halten war, später nach der Fixierung der Skoliose, die Aus¬
gleichung schon nur teilweise, je nach dem Grade der Steifigkeit
des Rückgrates, möglich ist. Aus diesem Grunde erachte ich es für
unbedingt notwendig, daß das Kind schon in dem Anfangsstadium
der Skoliose, besonders aber dann, wenn die Skoliose schon einiger¬
maßen fixiert ist, ein Korsett tragen soll, denn in diesem Zustande
sind die einzelnen Wirbel in ihrer pathologischen Lage infolge des
Druckes der Körperschwere einer beständigen Umgestaltung unter¬
worfen. Demnach ist das Tragen des Korsetts zur Verhinderung
der Deformitätsentwicklung, zur Vermeidung ihrer Verschlimmerung,
sowie zur Fixierung des erreichten Erfolges durch die Behandlung
notwendig.
Daher ist das orthopädische Korsett das unentbehrliche
Hilfsmittel in der Behandlung der Skoliose.
Viele Eltern, sogar auch Aerzte, fürchten sich vor der Benützung
des Korsetts, indem sie dafürhalten, daß es die allgemeine körper¬
liche Gesundheit des heranwachsenden Kindes bedroht und auf die
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392
Eugen Kopits.
Entwicklung der Brustorgane störend wirkt. Dies verdanken wir
hauptsächlich dem Umstande, daß das orthopädische Korsett den¬
selben Namen als der zur Verunzierung der Frauentaille dienende
bekannte Toiletteartikel führt. Die schädliche Wirkung des letzteren
zeigt sich hauptsächlich darin, daß es, zusammengeschnürt, die Taille
nur um diesen Preis zu einer schlanken macht, daß es auf allen
Punkten des Körperumfanges in der Richtung der Radien nach innen
einen Druck ausübend, die zwischen dem Brustkörbe und dem Becken
befindlichen Organe konzentrisch zusammenpreßt und dieselben gleich¬
zeitig nach abwärts teils in das Becken, teils nach oben gegen das
Zwerchfell drückt. Das Frauenmieder läßt infolge seiner Konstruk¬
tion seiner Trägerin freien Spielraum zur Entfaltung dieser schäd¬
lichen Wirkung, indem es beliebig zusammengeschnürt werden kann.
Es ist daher nur natürlich, daß, wenn derartig konstruierte Korsetts
zu orthopädischen Zwecken benützt werden, dieselben von ebenso
schädlicher Wirkung sind. Das richtige orthopädische Korsett aber
darf in erster Linie nur bis zu einem gewissen Grade zusammen-
schnürbar sein, soweit dies schon bei der Herstellung des Gipsab¬
druckes bestimmt wurde; es muß sowohl durch sein Material als
auch durch seine Konstruktion die Zusammenschnürung des Rumpfes
verhindern; darf weder die Organe des Unterleibes, noch den Brust¬
korb drücken; sein Verbleiben auf der gewünschten Stelle hingegen
darf nicht mittels einer zu festen Zusammenschnürung gesichert
werden. Das richtige orthopädische Korsett muß, seinem Zweck
entsprechend, neben der Vermeidung dieser schädlichen Eigenschaften
den Rumpf, respektive das Rückgrat soweit als nur möglich gestreckt
und in reklinierter Stellung halten. Ein solches Korsett behindert
weder die Entwicklung der Brustorgane, noch aber wirkt es schäd¬
lich auf die allgemeine körperliche Gesundheit. Unsere Erfahrungen
lehren uns vielmehr, daß die in unserer Behandlung stehenden Kinder
körperlich herrlich gedeihen, ohne Zweifel deshalb: weil wir neben
dem Tragen des Korsetts die Gymnastik als ein unerläßliches Er¬
fordernis der Skoliosenbehandlung halten.
Ich kann mich hier in die Beschreibung und Beurteilung der
im Gebrauche befindlichen verschiedenen Korsetts nicht einlassen und
will nur von demjenigen sprechen, welches von mir benützt wird
und welches ich aus Erfahrung für zweckdienlich halte. Das ist
das Korsett mit einem Hinterteile aus hartem Leder und einem weichen
Vorderteile, dessen Form und Konstruktion Dollinger zu verdanken
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Ein neues Stützkorsett zur Maskierung der Deformität etc.
393
ist und welches von mir in seiner Form für Skoliotiker mit großem
Kippenbuckel zum Stützen und gleichzeitigem Maskieren der De¬
formität konstruiert wurde; dieses Korsett beabsichtige ich näher
zu beschreiben.
Wie erzeugt nun dieses orthopädische Korsett die gewünschte
Wirkung?
Im Anfangsstadium der Skoliose, wenn das Rückgrat zumeist
noch ganz biegsam ist, gleicht es sich bei suspendierten Kranken
vollkommen aus: beide Hälften des Brustkorbes werden symmetrisch,
die Niveaudifferenz der Hüften verschwindet, mit einem Worte, es
entsteht die normale Form des Rumpfes. In dieser Lage wird der
Gipsabdruck des Rumpfes hergestellt, an dem Gipstorso wird ein
solches Korsett konstruiert, dessen hinterer Teil aus hartem Leder
ist und sich an die Taille anschmiegt, während der vordere Teil aus
weichem, aber stärkerem Stoffe ist, und welcher vorn in der Mittel¬
linie durch Schnüre befestigt, die Verschiebung des rückwärtigen
Teiles verhindert. Wenn wir ein auf diese Weise konstruiertes
Korsett dann an den mittels Suspension korrigierten Rumpf anbringen,
sind wir im stände, den Rumpf und damit das Rückgrat in der
korrigierten Lage auch zu erhalten. Der mittels Suspension exten¬
dierte Rumpf bestrebt sich nämlich, sobald die Suspension auf hört,
in das — der Form des Gipsabdruckes entsprechende — trichter¬
förmige Korsett herabzusinken; aber dadurch, daß das Korsett sich
unten an die Hüften stützt, anderseits aber, daß es sich mit seinen
Seitenteilen genau an den sich versenkenden Brustkorb anschmiegt,
wird ein Zurücksinken des Rumpfes in die pathologische Lage
verhindert.
Die richtige Körperhaltung wird auch noch durch die Benützung
der von Dollinger konstruierten, an die Seitenschienen des Korsetts
angebrachten Schulterhalter gesteigert. Mit deren Hilfe werden die
Schultern zurückgezogen und so das Vorwärtssenken verhindert, die
Schulterblätter werden an den Rumpf angeschmiegt gehalten und
gleichzeitig wird die Schwere der Schultern zurückgeschoben. Im
Anfangsstadium der Skoliose kommt die Seitenverkrümmung des
Rückgrates meist gleichzeitig mit einem runden Rücken zum Vor¬
schein; in solchen Fällen hört mit der Reklination des Rückgrates
auch dessen Seitenkrümmung auf. Das besprochene Korsett kann
daher in solchen Fällen schon dadurch, daß es das Rückgrat rekliniert
hält, seine vollständige Wirkung erzielen.
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394
Eugen Kopits.
Bei hochgradigen Skoliosen, wo die Verkrümmung des Rück¬
grates fixiert ist, das Rückgrat infolge der Veränderung der statischen
Verhältnisse mehrfache Verkrümmungen bildet, ist die Kurve des
Rückgrates wegen der zwischen den Gelenken der einzelnen Wirbel
entwickelten Pseudoankylosen mehr oder weniger steif. Den ein¬
zelnen Kurven entsprechend befinden sich an dessen Konvexseite aus
der Rotation des Rückgrates entstehende Rippenbuckel, während an
der Konkavseite der Brustkorb eingefallen ist; in diesem Grade der
Deformität ist der Rumpf mittels der Suspension nicht mehr voll¬
kommen ausgleichbar, selbst dann nicht, wenn neben der Suspension
auch noch andere Detorsionsverfahren angewendet werden; nur das
Rückgrat gleicht sich bis zu einem gewissen Grade aus, soweit dies
eben dessen Biegsamkeit gestattet, die Rippenbuckel aber bleiben
unverändert.
Bei solchen Fällen sind auch an den Gipstorsos, den Rippen¬
buckeln und Vertiefungen entsprechende Unebenheiten sichtbar. Mit
dem oben besprochenen Korsett gelingt auch jetzt die durch Sus¬
pension erreichte korrigierte Stellung des Rumpfes zu erhalten, worin
die den einzelnen Kurven entsprechenden Rippenbuckel, eine gute
Stützfläche bietend, uns behilflich sind. Die den mehrfachen Ver¬
krümmungen entsprechenden Rippenbuckel können wir zur exten¬
dierten Haltung des Rückgrates in der Weise benützen, daß wir die
einzelnen Kurven an der Konkavseite mit Benützung der Fläche des
über der Kurve gelegenen entgegengesetzten Rippenbuckels stützen.
Wenn zu diesem Zwecke für den deformierten Rumpf das oben er¬
wähnte Lederkorsett mit hartem Hinterteile angebracht wird, muß
dasselbe wegen der Fixierung der mittels Suspension korrigierten
Stellung den Rumpf sowohl an der eingefallenen Konkavseite, als
auch an der stark erhöhten Konvexseite vollkommen plastisch um¬
spannen. Aus der Benützung des Korsetts in dieser Weise ergeben
sich zwei Nachteile:
1. Indem die Platte des Korsetts sich auch an die eingefallene
Seite des Brustkorbes vollkommen anschmiegt, verhindert sie beim
Atmen dessen Erweiterung.
2. Indem das Korsett den Rumpf in seiner deformierten Gestalt
umspannt, zeigt es die Deformität auch durch die Kleider hindurch,
oftmals auch trotz der an dem Korsett äußerlich angebrachten Mas¬
kierung umso auffallender.
Im Bestreben, diesen Mängeln beim Korsett — bei hochgradigen
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Ein neues Stützkorsett zur Maskierung der Deformität etc. 395
Deformitäten — abzuhelfen, habe ich das Korsett folgendermaßen
konstruiert: ich benützte die vorerwähnte Stützung des
oberhalb der Kurve liegenden Rippenbuckels, aber nur
mit Anwendung von so viel Fläche des Korsetts, als
eben zur guten Stützung unbedingt erforderlich ist.
Die an der Konkavseite der Kurve befindliche Brust¬
korbvertiefung jedoch habe ich unbedeckt gelassen,
Fig. 1.
wodurch der Erweiterung der vertieften Brustkorb¬
fläche freier Raum gelassen wurde. Damit aber gleich¬
zeitig auch die Deformität maskiert werde, habe ich die
Brustkorbvertiefung in der Höhe des Rippenbuckels, oder
wenigstens annähernd in dessen Höhe, mit der die eine Seite
des Korsetts bildenden harten Lederplatte überbrückt und
verdeckt. Ein solches Korsett (Fig. 1) zeigt von außen eine voll¬
kommen symmetrische Gestalt, von innen hingegen (Fig. 2), der
Konkavseite, der Hauptverkrümmung entsprechend (nach Bedarf
eventuell auch bei mehreren Kurven), ist es mit einer Stützfläche
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Eugen Kopits.
(Fig. 2a) versehen, welche konform dem Negativabdrucke der unteren
Fläche des oberhalb der Kurve liegenden Rippenbuckels sich daselbst
sicher anpaßt und so das Herabsinken des gestreckten Rumpfes in
das Korsett verhindert.
Die Herstellung des Korsetts geschieht folgenderweise: Zum
Zwecke der Vertiefung des Gipsabdruckes wird der Kranke mit ent¬
blößtem Rumpfe beim Kopfe mittels des bekannten Say re sehen
Fig. 2.
Apparates suspendiert und das Rückgrat auf diese Weise soweit
als möglich ausgeglichen. Für die Suspension ist es maßgebend,
daß der Kranke mit seinen Fersen den Boden kaum berühre; er
darf nicht auf den Fußspitzen stehen, sonst verändern, infolge der
Schwingung des Kranken die Hüften, das Rückgrat und der ganze
Rumpf während der Herstellung des Gipsabdruckes ihre Lage, was
sehr störend wirkt. Wenn ich zur Herstellung des Korsetts die
gehörige Zeit habe, lasse ich die ruhige Suspension vor der Vor¬
nahme des Gipsabdruckes durch mehrere Tage einüben. Den nega¬
tiven Gipsabdruck bereite ich aus in laues Wasser getauchten 15 cm
breiten Gipsbinden; bin besonders darauf bedacht, daß die einzelnen
Bindentouren ohne jede Spannung sich an den Rumpf anschmiegen
und dessen Vertiefungen nicht überbrücken sollen. Besonders genau
müssen die Cristae ilei, die Spinae ant. sup., sowie die neben dem
Rückgrat befindlichen Rippenbuckel modelliert werden. Binden-
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Ein neues Stützkorsett zur Maskierung der Deformität etc. 397
Verdrehungen, Einziehungen müssen vermieden werden, ebenso dürfen
die Lendenteile mittels der Binden nicht schlank gedrückt werden.
Nach der Größe des Rumpfes sind fünf bis sechs Stück Binden zur Her¬
stellung des Gipsabdruckes nötig. An dem noch am Rumpfe liegenden
Modelle zeichne ich — nach der Erstarrung des Gipses — die Um¬
risse des Korsetts und dann schneide ich es in der Mittellinie der
Brust über der schon früher angelegten Schnur auf. Das Modell
muß sehr vorsichtig von dem Rumpfe herabgenommen werden, damit
Fig. 3.
es weder eingedrückt noch gebrochen werde. So wird der negative
Gipsabdruck hergestellt, welcher mit Gipsbrei ausgefüllt wird. In
dem derart gewonnenen Gipstorso bekomme ich die genaue Kopie
des deformierten Rumpfes (Fig. 3). Großes Gewicht lege ich darauf,
daß an dem Gipsmodelle die Cristae ilei und die Spinae aut. sup.
besonders plastisch ausgebildet werden; ich lasse sogar — zur Ver¬
meidung eines Druckes von seiten des Korsetts — an deren Stelle
Lederstücke in übereinander gelegten Schichten annageln und zwar
in der Weise, daß deren Ränder sich in der Fläche des Gipsmodells
in einer schiefen Ebene verlieren. An dem Gipsmodelle bestimme
ich, wo die Kurve des Rückgrates gestützt werden und auf welche
große Fläche des darüber liegenden Rippenbuckels die im Korsett
unterzubringende Stützfläche (Fig. 3c) sich erstrecken soll.
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398
Eugen Kopits.
Bei der Herstellung des Korsetts beginnt der Bandagist damit,
daß er auf die zur Stützung bestimmte Fläche einen durch Feuch¬
tigkeit plastibil gemachten Lederlappen auflegt, den er an das Modell
genau anschmiegt und bis zu dessen vollständiger Verhärtung auf
dem Modell läßt. Damit diese Lederplatte unverändert bewahrt
werde, lasse ich an ihre hintere Fläche eine dünne Stahlplatte an¬
nieten. Das so vorbereitete Stützblatt wird vorläufig beiseite gelegt.
Hernach korrigiere ich das deformierte Gipsmodell derart, daß ich
die eingefallene Seite des Rumpfes
mit Gipsbrei so hoch, wie die
erhöhte Seite ist, ausfülle, indem
ich die deformierte Gestalt so¬
weit als möglich symmetrisch
mache (Fig. 4). Natürlich darf
bei einem sehr hohen, scharfen
Rippenbuckel die hochgradige
Erhöhung nicht vollständig nach¬
geahmt werden, sondern man
muß sich mit einer geringeren
Ausfüllung begnügen. Auch dar¬
auf muß Rücksicht genommen
werden, daß die Füllung auf der
eingefallenen Seite nur bis zur
oberen Umrißlinie des herzustel¬
lenden Korsetts reichen soll, weil
sonst das Korsett an dieser Stelle
vom Rumpfe zu sehr wegsteht.
Auf das derart korrigierte Modell spannt der Bandagist her¬
nach die dem hinteren Teile des Korsetts entsprechende Lederplatte
auf, die auf dem Modelle wieder bis zur vollständigen Verhärtung
gelassen wird. Sind die hinteren Lederplatten des Korsetts in dieser
Weise hergestellt, entfernen wir von dem Gipsmodelle wieder die
aufgelegte korrigierende Gipsschichte, indem wir dessen ursprüngliche
deformierte Gestalt herstellen. Die schon früher hergestellte und
beiseite gelegte, mit einer Stahlplatte versehene, zur Stützung die¬
nende Lederplatte wird auf die ursprüngliche Stelle des Gipsmodells
gelegt und mit der, an dem korrigierten Modelle hergestellten, hin¬
teren Lederplatte des Korsetts vernietet. Dadurch bekomme ich in
dem Korsett, an der Konkavseite der der Krümmung entsprechenden
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Ein neues Stützkorsett zur Maskierung der Deformität etc.
399
Seite des Hinterteiles des Korsetts, am oberen Rande eine bank¬
förmig hervorstehende schiefe Fläche, welche oberhalb der dorsalen
Krümmung des suspendierten Kranken auf die untere Fläche des
auf der entgegengesetzten Seite befindlichen Rippenbuckels paßt.
Diese stützt sich daselbst und verhindert das Zurücksinken des
mittels Suspension gestreckten Rumpfes in das Korsett. Die am
korrigierten Modell hergestellte Lederplatte (Fig. 26) hingegen zieht
Fig. 5.
sich hinter diesem Stützbänkchen vorbei und überbrückt ganz bis
zur Hüfte die Vertiefung des Brustkorbes an der Konkavseite der
Krümmung, indem dadurch die Erweiterung der eingefallenen Brust¬
korbhälfte ermöglicht und gleichzeitig die Deformität maskiert wird.
Die zwei Platten des Hinterteiles des Korsetts sind in der Mittel¬
linie des Rumpfes durch ein 2 cm breites Leinwandband verbunden.
Die einzelnen Platten bedecken beide Hälften des Rückens, nach oben
zur Mitte der Schulterblätter, nach abwärts 2—3 cm über der Spitze
der Trochanteren, nach vorn zu erstrecken sie sich bis zur vorderen
Achsellinie, jedoch nur bis zu den Cristae ilei; von da erstrecken
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XV. Bd. 26
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400
Eugen Kopits.
sie sich nach vorn bis zu den Spinae ant. sup., unter welchen sie
schief in der Linie des unteren Randes des Korsetts hinunterlaufen.
Ich halte es für sehr wichtig, daß das Korsett auf dem Becken eine
gute Stütze finde; deshalb lasse ich den Beckenteil des Korsetts so
groß hersteilen, damit er die Cristae ilei bis zu den Spinae ant.
sup. vollständig bedecken soll (Fig. 5). Je größer die Fläche ist.
mit der sich das Korsett an diese Stelle stützt, desto vollkommener
Fig. 6.
kann der Rumpf in seiner gestreckten Lage erhalten werden. Eine
besonders große Aufmerksamkeit verwende ich auf die Ausarbeitung
dieses Teiles des Korsetts, denn die her vorstehenden Cristae ilei
dürfen nicht im geringsten gedrückt werden. Zu diesem Behufe
lasse ich — wie ich bereits erwähnt habe — auf dem Gipstorso an
die Stelle der Cristae ilei Lederstücke annageln, wodurch sich das
aufgezogene Lederblatt gehörig wölbt. Die harten Lederplatten
des hinteren Teiles des Korsetts werden durch an ihre Ränder an¬
genietete halbrunde Stahlschienen in ihrer ursprünglichen Form ge¬
halten. Dies ist die einzige Aufgabe der Schienen. Das Korsett
darf weder durch die Schienen drücken, noch auch stützen.
Diese Schienen laufen an den Rändern der Lederplatten herab, eine
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Ein neues Stützkorsett zur Maskierung der Deformität etc.
401
hingegen läuft bogenförmig von dem Lendenteile nach vorn, parallel
mit den Cristae ilei; von hier gelangt sie wieder, am Rande der Leder¬
platte, vor die Spinae ant. sup., von wo sie in die rings um den
unteren Rand laufende Schiene sich schief hinzieht. Von Wichtig¬
keit ist es, daß auch an dieser Stelle die Schienen keinen Stützpunkt
bilden, sondern daß das Korsett hier mit der plastisch anliegenden
harten Lederplatte auf dem Becken liegen soll. Der hintere Teil
des Korsetts wird durch einen mit Fischbeinstäbchen versehenen
Vorderteil aus starker Leinwand festgehalten, welcher in der Mittel¬
linie zusammenschnürbar ist. Dieser Vorderteil reicht oben bis zu
den Brustwarzen, unten aber bis zu den Spinae ant. superiores.
Zum Anlegen des Korsetts muß der Kranke selbstverständlich
jedesmal suspendiert werden.
Das Korsett entspricht seiner Aufgabe dann, wenn es den
Rumpf gestreckt hält, die Erweiterung des Brustkorbes nicht be¬
hindert und gleichzeitig die Deformität maskiert. In dem durch die
Figuren veranschaulichten Falle (Fig. G) erfüllt das Korsett seine
Aufgabe; denn die Körperhöhe des Kranken ist ohne Korsett 155,6 cm,
in dem Korsett aber 158,7 cm. Daß auch die Deformität gleichzeitig
mit dem Korsett maskiert werden kann, vergleichen wir zu diesem
Zwecke Fig. 6 mit Fig. 1.
Das Korsett ist für solche Kranke geeignet, deren Rückgrat
seine Biegsamkeit verloren hat, sich durch Suspension nicht aus¬
gleicht; Kranke, die größere Rippenbuckel haben und deren defor¬
mierte Gestalt des Rumpfes trotz der Suspension verbleibt. Es ist
sowohl bei Verkrümmungen mit einer Kurve oder mehreren ver¬
wendbar, am besten jedoch bei solchen Skoliotikern, bei denen die
Hauptverkrümmung des Rückgrates auf den dorsalen Teil fällt und
oberhalb dieser Verkrümmung in dem cervikalen und oberen dorsalen
Teile in entgegengesetzter Richtung auch eine Verkrümmung sich
befindet. Besonders zu empfehlen ist das Korsett für Er¬
wachsene, welche neben der gestreckten Haltung ihres
Rückgrates zugleich auch auf die Maskierung ihrer De¬
formität Gewicht legen.
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XXIV.
(Aus der chirurgisch-orthopädischen Klinik des Herrn Geheimrats
Prof. Dr. A. Hoffa in Berlin.)
Zur mechanischen Behandlung der
Hüftgelenkskontrakturen.
Von
Dr. Simon Silberstein,
Assistent der Hoffaschen Klinik.
Mit 5 in den Text gedruckten Abbildungen.
Einen rationellen Weg zur Behandlung der Hüftkontrakturen
einzuschlagen, ist zweifellos nur dann möglich, wenn die Prinzipien,
die den dominierenden Methoden zu Grunde liegen, richtig gewür¬
digt sind. Nachdem man die Einsicht in die Vorteile resp. Nach¬
teile derselben gewonnen hat, sind auch die Forderungen klar, die
einer rationellen Methode gestellt werden müssen. Um dieser Auf¬
gabe näher zu treten, scheint mir aber unbedingt nötig, wenn auch
kurz, der pathologischen Veränderungen, sowie der mechanischen
Verhältnisse des Gelenkes Erwähnung zu tun.
Wie bekannt, sind es entweder knöcherne Verwachsungen
(relativ selten) zwischen den das Gelenk konstituierenden Knochen-
teilen — Ankylosen, oder es sind Verwachsungen fibrösen Charak¬
ters, die sich auf die knorpelige, bindegewebige Umgebung des Ge¬
lenkes beziehen, nutritive Schrumpfungen, die auch die umgebende
Muskulatur befallen können — Kontrakturen. Die Kontrakturen
können sich aber auch, hervorgerufen durch die von dem kranken
Gelenk ausgehenden Reflexe, auf spastische Verkürzung der um¬
gebenden Muskulatur beziehen. Die Prozesse, die sich hauptsächlich
bei der tuberkulösen Coxitis abspielen, welche die meisten Ver¬
krümmungen des Hüftgelenkes liefern, verdanken ihren Ursprung der
Erkrankung des Knochens resp. Synovialis; sie, die Coxit. tuberc.,
zeichnet sich unter allen anderen hier vorkommenden Erkrankungen
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Zur mechanischen Behandlung der Hüftgelenkskontrakturen. 403
wie gonorrhoischen, nach Infektionskrankheiten, deformierenden durch
besondere Empfindlichkeit aus, durch besondere Neigung, manchmal bei
den kleinsten mechanischen Insulten Rezidive und Verschlimmerungen
zu zeitigen. Was die Behandlung betrifft, so unterliegen die echten Anky¬
losen, die durch knöcherne Verwachsung entstanden sind, den blutig ope¬
rativen Eingriffen, alles übrige läßt sich bei entsprechender Indikation
in einem großen Prozentsatz der Fälle durch mechanische Behandlung
günstig beeinflussen. Die mechanische Behandlung soll die perversen
mechanischen Verhältnisse im Gelenke, die die Krankheit geschaffen hat,
auf heben, im besten Falle die Funktion hersteilen und, wenn nicht
wenigstens den konstituierenden Gelenkteilen die Gegenstellung geben,
die am erträglichsten und nützlichsten für den Kranken sein kann,
vorausgesetzt, daß die Zerstörung eines oder beider Gelenkenden nicht
so weit gegangen ist, daß nach geschehener Geraderichtung eine
Hoffnung auf Erhaltung der geschaffenen Lageverhältnisse nicht
mehr vorhanden ist. Es werden also Fälle von großer Zerstörung
des Kopfes resp. der Pfanne keine genügende Aussicht auf Erfolg
einer mechanischen Behandlung haben. — Das Hüftgelenk ist be¬
kanntlich ein Kugelgelenk, das nach allen Richtungen die Bewegung
gestattet. Durch diese Vorrichtung sind verschiedene Knochen¬
systeme miteinander verbunden: das kurze unförmliche Becken mit
dem langen schlanken Hebel — dem Bein, das etwa die Länge des
Beckens um das Fünffache übertrifft. Infolgedessen wird jede Ge¬
walt resp. Kraft, die auf den langen Hebel, das Bein, wirkt, auch
einen dementsprechend größeren Effekt ausüben, als die auf das
kürzere Becken wirkende. Dieser Umstand fällt schwer ins Gewicht
bei der mechanischen Geraderichtung einer Kontraktur. Um eine
Distraktion einer Kontraktur zu stände zu bringen, muß der Gegen¬
widerstand seitens des Beckens in jedem Moment der Redression
gleichwertig der auf das Bein wirkenden Kraft sein, sonst wird
keine Distraktion, sondern einfach eine Mitbewegung des Beckens
zu stände kommen. Nun, da einmal das Becken einen um
so viel kürzeren Hebelarm darstellt, so muß folglich auch die
Kraft, die den entsprechenden Widerstand leisten könnte, um
so viel größer sein. Wenn wir zugleich in Betracht ziehen, daß
das Becken einen so unförmlich gebauten Körper darstellt, daß kein
passender Applikationspunkt für die Kraft zu finden ist, so wird die
große Schwierigkeit, die der mechanischen Behandlung von Anfang
an entgegensteht, gleich klar sein. — Auf welche Weise man
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404
Simon Silberstein.
diesem Uebelstand bei verschiedenen Methoden zu Leibe gegangen
ist, werden wir weiter auseinandersetzen. — Was aber die Methoden
betrifft, wie man die redressierende Kraft an dem langen Hebelarm
ansetzt, so unterscheiden sie sich wesentlich von einander.
Die in der Praxis gebräuchlichste Methode, die Extension nach
Volkmann, stellt einen Typus dar, zu dem die Redression nach
Dollinger und die vermittels der Etappen verbände zu zählen sind.
Das Gemeinsame, was sie haben, ist die Redression ohne Narkose,
was ihnen einen besonderen Charakter verleiht. Da es ohne Nar¬
kose geschehen soll, so ist somit auch schon gesagt, daß man auf
eine langsame Dehnung der kontrakten Teile rechnet, weil ja die
Schmerzäußerung eine gewisse Garantie gegen ein zu brüskes Ver¬
fahren bietet: man redressiert eben so weit es geht, bei der ersten
Redressionsmethode steigert man nach Möglichkeit das Gewicht, bei
der zweiten und dritten bleibt man einstweilen beim maximal erreich¬
baren Redressionswinkel stehen. Es erleiden die Weichteile bei den ge¬
nannten Methoden die minimalste Läsion, es wird nur auf die
Dehnungsfähigkeit der versteiften Weichteile, auf das allmähliche
Ermüden, Nachlassen der spastisch kontrahierten Muskeln gerechnet.
In Bezug auf die Gleichmäßigkeit der Wirkung möchte ich der
ersten Methode den Vorzug geben: die immerwährende, Tag und
Nacht wirkende Kraft der Schwere bietet so eine ununterbrochene
Arbeit, die der Wirkung eines ununterbrochen fallenden Wasser¬
tropfens auf einen Stein gleicht, der spastische Muskel erlahmt
endlich und gibt nach, das statische Gleichgewicht der fibrös de¬
generierten Weichteile wird durch die fortwährende Kraft aufge¬
hoben. Nun aber haftet dieser Methode ein Nachteil an, der schwer
ins Gewicht fällt. Wir haben betont, daß zur erfolgreichen Ein¬
wirkung der redressierenden Kraft unbedingt auch ein entsprechen¬
der Widerstand seitens des Beckens nötig ist. Wie wird dies bei
Volkmann erreicht? Man legt den Kranken ins Bett, der wir¬
kenden Kraft stellt man einen Gegenzug vermittels einer Schleife um
das Becken, das am oberen Bettende fixiert wird, entgegen, zugleich
hebt man das Fußende und nützt die Schwere des Körpers auf der
schiefen Ebene aus. Nun wissen wir ganz gut, daß die Kranken unwill¬
kürlich geneigt sind, der Wirkung des Gegenzuges, der sie fort¬
während belästigt, zu entweichen. Sie verschieben sich fortwährend,
um sich des Druckes auf das Perineum zu entledigen, um die ganze
Wirkung der ziehenden Kraft abzuschwächen, weil ja die Extension
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Zur mechanischen Behandlung der Hüftgelenkskontrakturen. 405
sich dann in der Richtung der Deformität und nicht gegen sie ein¬
stellt. Die Fixierung des Körpers und des gesunden Beines in
einem Gipsbett resp. Beinlade auf einer Plattform, wie es
Lorenz angegeben hat, ist zwar theoretisch wohl begründet, ist
aber wohl nur für kurze Zeit zu gebrauchen; es ist für
den Patienten sehr beschwerlich, Rumpf und gesundes Bein voll¬
kommen still und zugleich das kranke unter Extension zu halten
und zwar wochenlang, wie es im Sinne der Extensionsbehandlung
liegt. Die ungenügende Fixation des Beckens also und zugleich
die Unmöglichkeit, die Behandlung ambulant durchzuführen, das
sind die Schattenseiten der ersten Methode. In dieser Hinsicht ist
die Methode von Dollinger und die der Etappenverbände von
Wolff, durch Fink vervollkommnet, der vorigen überlegen. — Ohne
zu redressieren, fixiert Dollinger das Becken und als Fortsetzung
desselben, um einen langen Hebelarm zum besseren Angreifen zu
bekommen, auch den Rumpf an seine Eisenstangen, Fink legt auch
den Beckenrumpfverband an, setzt ihn fürs erste Mal, ohne zu re¬
dressieren, auf das kranke Bein fort und erst in zweiter Sitzung
wird der Beinteil gelöst, um den Beckenrumpfverband ebenso wie
Dollinger zur Fixation des Beckens zu benutzen; doch fehlt bei¬
den Methoden die automatische Gleichmäßigkeit des Gewichtszuges,
die Redression ist folglich auf die im Bereiche der menschlichen
Geschicklichkeit und Ausdauer möglichen Gleichmäßigkeit beschränkt
— ein Umstand, der für manche Fälle wohl nicht von großem
Belange ist, aber doch nicht für alle.
Zur zweiten Gruppe gehören die Methoden, die unter Narkose
ausgeführt werden. Man verzichtet eben auf das subjektive Emp¬
finden des Kranken, auf das Schmerzgefühl, das uns einigermaßen
auch alz Zeiger dienen kann, wie hoch für jeden gegebenen Fall
die Dehnung, die Zerrung zu treiben ist. Wohl gibt es Fälle, wo
man dieses Zeigers gar nicht bedarf, wo es sich um rein reflekto¬
rischen Muskelspasmus handelt, welcher mit der tiefsten Narkose
auch erlischt — Fälle von akuter synovialer Coxitis. In einer an¬
deren Reihe von Fällen ist man bei der Redression unbedingt auf
die Zerrung und Dehnung angewiesen und da scheint eben die
Narkose, die die Sache erleichtern soll, in bestimmten Fällen un¬
bedingt schadenbringend zu wirken. Nichts kann uns zur Garantie
dienen, daß der unter unseren Händen narkotisiert daliegende Kranke
schonend genug behandelt werden wird. Die Absicht, möglichst
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406
Simon Silberatein.
viel zu erreichen, verführt oft den Arzt weiter, als er das zuerst
selbst wollte. Hat man schon etwas erreicht, so kommt man häufig
in Versuchung, noch weiter zu probieren, bis man endlich selbst
halt macht: es ist genug. Ob man aber zur rechten Zeit auf hört,
ist nicht immer klar, weil die Fälle doch außerordentlich vonein¬
ander verschieden sind. Auch die vorher gemachte Röntgenauf¬
nahme kann uns nicht immer Bescheid geben, ob nicht etwa ein
versteckter Herd unter der Synovalis sich befindet, der bald zum
Aufflackern kommt. Selbstverständlich hängt vieles vom Operateur
ab, ob er geübt ist, ob er schon das Unglück gehabt hat, Zeuge
schlechter Folgen nach übertriebener Redression zu sein. Auch
hängt es auch von der Methode ab, der man sich bedient. Diese
Methoden könnte man in 2 Gruppen einteilen: die der manuellen
und der maschinellen, jede von ihnen hat ihre relativen Vorteile.
— Die manuelle ist insofern besser, als der Operateur, indem er
am Bein manipuliert, das unmittelbare Gefühl der Spannung der
Weichteile, des Widerstandes hat, es läßt sich, wenn auch subjektiv,
einigermaßen abtaxieren. Dem maschinellen Verfahren, wo die Ex¬
tension durch Spindel- resp. Kurbelspannung geschieht, fehlt die
Schätzung des Widerstandes; wohl kann man sagen, es läßt sich
nach der Spannung der Spindel resp. der Kurbel taxieren; das gibt
ja aber keinen richtigen, genauen Begriff über die hervorgebrachte
Spannung und die daraus resultierende Zerrung, schon aus diesem
Grunde, daß die Hand des Operateurs, die die Spindel resp. Kurbel
in Bewegung setzt, ihren Angriffspunkt an einem Hebel hat, der
vielmal länger ist, als die Dicke (Querdurchschnitt) der Spindel
resp. Kurbel. — Das Glied muß dabei nolens volens dem einmal
durch die Drehung der Spindel resp. Kurbel vorgeschriebenen Wege
folgen, ob nun die Weichteile so weit dehnungsfähig sind oder nicht,
im letzten Falle müssen sie eingerissen werden. Dazu kommt noch
der Umstand in Betracht, daß bei der Redression des extendierten
Beines und zwar beim Senken, beim Ad- resp. Abduzieren sich
mit der Veränderung des Winkels auch die relative Lage aller
das Gelenk umgebenden Weich teile, Bänder, Kapseln etc., auch
der Knochenteile verändert. — Wie verhalten sich dann die Span¬
nungsverhältnisse der einmal durch die Spindel- resp. Kurbel¬
extension gedehnten Weichteile? — alles bleibt unklar und un¬
bestimmt. Freilich ist das nicht immer der Fall, daß die genaue
Orientierung von besonderer Wichtigkeit ist. — Wenn also das
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Zur mechanischen Behandlung der Hüftgelenkskontrakturen. 407
manuelle Verfahren vor dem maschinellen den Vorzug hat, indem
es bessere Schätzung des Widerstandes und bessere Orientierung
gestattet, was bei suspekten Fällen von Wichtigkeit ist, so steht es
anderseits an Mangel an Ausdauer dem maschinellen nach.
Bei chronischen Fällen mit ausgebildeter Schrumpfung um¬
gebender Teile kommt es eben darauf an, die Extension anhaltend
gleichmäßig auszufübren und nicht nur während der Redression,
sondern auch während des Verbandanlegens. Da erlahmt die Hand
auch eines kräftigen Assistenten. Für solche Fälle möchte ich die
maschinelle Redression vorziehen, es sind ja Fälle, wo der Prozeß
längst erloschen ist, wo etwa eine genaue Individualisierung des
Falles nicht sehr wichtig erscheint.
Ohne darauf einzugehen, ob die Methode des manuellen mo¬
dellierenden Redressement besser ist, als die des manuellen for¬
cierten, was von unserem Standpunkte selbstverständlich ist, ohne
darauf Gewicht zu legen, ob das maschinelle Redressement durch eine
Kurbel oder Spindel zu stände gebracht wird, möchte ich darauf
die Aufmerksamkeit lenken, daß keine von diesen Methoden für einen
genügenden und bequemen Gegenwiderstand gesorgt hat. Zur Fixa¬
tion des Beckens, um einen Gegenwiderstand der wirkenden Kraft
zu leisten, wird überall — horribile dictu — ein Stahlstachel ge¬
braucht, dessen Zweck ist, durch Druck auf das nur von Haut
bedeckte Os pubis dem Becken einen festen unverrückbaren Halt
zu geben. Jeder weiß aus eigener Erfahrung, was für ein lästiges
Gefühl manchmal eine Druckstelle am Knochen hervorruft, umso¬
mehr ein Stahlstachel (wenn auch mit etwas Watte umhüllt) auf
die zarte Haut der Kinder, denn um die handelt es sich am meisten.
Es bleiben Druckzeichen, die für den ganzen Tag Vertiefungen und
schmerzhafte Stellen zurücklassen. Dieser Stachel ist der inte¬
grierende Teil jeder Beckenstütze, mag sie mit einer Stützplatte oder
einer Stützgabel versehen sein, das ist die am weitesten verbreitete.
Es ist aber nicht die einzige Schattenseite. Die Beckenstütze erfüllt
auch ihren Zweck nicht: der Schmerz, den der Stachel verursacht,
ruft reflektorisch eine Lendenlordose hervor, indem der Kranke
unbewußt Mittel aufsucht, dem Drucke zu entweichen: das Becken
bleibt nicht ruhig, es hebt sich und wackelt zugleich bei jedem
Versuche, die Ab- resp. Adduktion zu redressieren, weil ja die
Fläche, die den Widerstand leisten soll, nur vom linienförmigen
Stachel gebildet wird. Auch ist die Stützfläche für das Becken
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408
Simon Silberstein.
schmal genug, um das seitliche Schwanken zu verhindern; da
kommen zur Hilfe die Hände des Assistenten, die bald wieder keinen
Platz finden, da sie beim Anlegen des Verbandes den Binden Platz
schaffen müssen. Unzweifelhaft geht dabei ein großer Teil der ge¬
wonnenen Redression verloren und zwar infolge der mangelhaften
Fixation des Beckens. Und doch wird man sagen: wir erzielen auch
mit dieser Beckenstütze gute Resultate. Ja, viele Wege führen nach
Rom, ob aber der der beste ist? Eine Abart dieser Beckenstütze
bildet die Gochtsche, wenn auch nach demselben Prinzip gebaut
— der Stachel bewirkt auch hier die Beckenhemmung — bietet
aber beim Anlegen des Verbandes wesentlichen Vorzug: die Glutäal-
und Kreuzgegend ist vollkommen zugänglich, frei, weil die Stütz¬
stange von oben herankommt, es ist ganz bequem möglich, die
Glutäalgegend bis zur Rima ani zu vergipsen und anzumodel¬
lieren. — Einen ganz besonderen Platz nimmt die Methode der
Ausführung der Beckenhemmung bei dem instrumenteilen kombinierten
Redressement nach Lorenz ein. Der unheilvolle Stachel fehlt ganz,
und wenn auch das Becken auf einer gewöhnlichen Stützplatte ruht,
so verleiht ihm eine ganz schöne Fixation die Art und Weise, wie
die Redression ausgeführt wird: vermittelst zweier Spindeln wird bei
einer Adduktionskontraktur z. B. das kranke Bein gezogen und das
gesunde gedrückt, welches dadurch bei fixiertem Kniegelenk sich an
das Acetabulum stemmt. So eine Art physiologischer Hemmung
wäre das denkbar Beste. Leider stößt man sogleich auf ein Hin¬
dernis. Recht schön, wenn es sich um eine Adduktionskontraktur
handelt, wie wird es aber bei einer Abduktionskontraktur sein, —
da muß der Zug am gesunden Bein und der Druck gegen das
kranke Bein, ergo auch gegen das kranke Acetabulum angebracht
werden. Ob ein solches Verfahren ab und zu nicht schaden w r ird ?
Dazu werden sich nur ganz ausgeheilte Fälle, am besten nicht tuber¬
kulöse, sondern gonorrhoische, deformierende Coxitiden eignen.
Aus dieser kurzen Uebersicht der momentan konkurrierenden
Methoden läßt sich leicht der Schluß ziehen, daß jede von ihnen
seine raison d’etre hat und keine von ihnen für alle Fälle gleich
gut und praktisch ist. — Doch müßten wir auf Grund dieser Be¬
trachtung zur Kenntnis gelangen, welch ist das Gesamtbild, das uns
zum Muster dienen soll, um eine ebenso praktische, wie allen Fällen
entsprechende Methode auszubilden. Erstens, welcher Gruppe soll
die von uns erwünschte Methode angehören? Ich möchte mich fest
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Zur mechanischen Behandlung der Hüftgelenkskontrakturen. 409
ftir die erste Gruppe aussprechen, es soll ohne Narkose geschehen.
Denn daß die Redression ohne Narkose zu den schonendsten (in
Beziehung zum Krankheitsprozeß) gehört, haben wir schon erörtert,
es gibt auch andere, recht praktische Gründe, für solche zu stimmen.
— Die Coxitis tuberculosa, die doch die meisten Kontrakturen liefert,
ist eine so allgemein verbreitete Krankheit, daß ihre Behandlung nur
in großen Städten (auch das nicht immer) einem Spezialisten zu¬
kommt, sonst ist das die Arbeit, die jeder praktische Arzt verrichten
muß und zwar überall und bei verschiedenen Umständen: in den
kleinsten Krankenhäusern, in den kleinsten Flecken, auf dem Lande,
wo man vielleicht einen Kollegen zur Narkose nicht so leicht und
zu jeder Zeit heranziehen kann, geschweige denn, daß das Herein-
ziehen eines Kollegen die Kosten der Behandlung vergrößert, was
bei nicht sehr bemittelten Leuten manchmal ein Hindernis zur Be¬
handlung abgibt. Dann sind die Leute, besonders in kleinen Flecken,
nicht immer so leicht zu einer Narkose zu bewegen, besonders
wenn nach ihrer Meinung keine dringende Gefahr bevorsteht und
auf diese Weise wird oft die Zeit vergeudet, der wichtige Zeitpunkt
unterlassen. Endlich, warum soll man die Narkose wirklich nicht
vermeiden, wenn man sie vermeiden kann. Wenn auch die Mor¬
talität unter Narkose minimal ist, so trifft es jemanden doch ab
und zu. Wohl dem vielbeschäftigten Operateur, Leiter eines großen
Krankenhauses, wenn ihm auch ein Unglück passiert — so sprechen
für ihn die Massen anderer gut abgelaufener Fälle und seine er¬
worbene Autorität. Was soll aber der praktische Arzt tun, wenn
er Pech hat, unter seiner kleinen Praxis solch ein Unglück zu
erleben. Also Narkose vermeiden, wo es geht. Und wenn zu¬
gleich das auch das schonendste Verfahren ist, desto besser. —
Jetzt die andere Frage, wie soll die Fixation des Beckens be¬
sorgt werden? Die Fixation muß unbedingt flächenhaft und mög¬
lichst ausgiebig groß sein. Das wäre vielleicht die Fixation nach
Dollinger oder nach Fink. Doch liegt nach Dollinger der
Beckenrumpfverband hinten am Rücken nicht gut, nicht plastisch
an, weil ja zwischen den Stangen, denen der Kranke auf liegt, der
Verband vom Rücken aufgehoben wird, so daß nach Anlegung des
ganzen Verbandes post redressionem derselbe hinten lose ist und
darum ein Teil der Redression verloren geht. Das ist auch die
Ursache, weswegen das Redressement der Ab- resp. Adduktions¬
kontrakturen nach Dollinger von keinem Erfolg ist. Außerdem
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410
Simon Silberstein.
befindet sich die Stange zwischen Tuber ischii und Trochanter der
kranken Seite und eben dort, wo es am meisten ankommt, die
Glutäalgegend zu modellieren, wirkt sie störend und beim Heraus¬
ziehen hinterläßt sie ein Loch, wodurch eben die wichtigste Stelle
— der Stützpunkt — für die Gesäßgegend geschwächt wird. Eher
möchte ich den gut anliegenden Beckenrumpfverband nach Fink
zur Fixation des Beckens benutzen, doch glaube ich, daß die Fixa¬
tion bei jeder nächsten Etappe loser wird: wir wissen ja ganz gut,
daß kein Verband später das leisten kann, was er, frisch angelegt,
vermag. Deshalb wäre es eben ratsam den Beckenrumpfverband
behufs Fixation bei der Redression immer frisch zu haben; es wird
also somit auch die Anwendung der Etappenverbände ausgeschlossen,
und wir kommen wieder also auf den Dollingerschen Verband
zurück, nur müssen wir eine solche Vorrichtung treffen, wo nichts
im Wege liege, den Verband überall gleichmäßig stark und gut,
plastisch anliegend zu machen.
Damit wäre auch die Fixation des Beckens besprochen. Es
erübrigt also, den letzten Punkt unseres Problems klarzulegen und
zwar: Wie soll die Redression vollzogen werden, damit wir möglichst
die Vorzüge der besprochenen Methoden beibehalten und deren Nach¬
teile nach Möglichkeit vermeiden? Das gewünschte Verfahren soll:
1. ein maschinelles sein, um an Gleichmäßigkeit und Ausdauer nichts
zu wünschen übrig zu lassen, 2. die redressierende Kraft soll nicht
durch die vermittelst der Kurbel- resp. Spindeldrehung heraus¬
gezwungene Verlängerung der Extremität zur Geltung kommen,
sondern nur durch ein Plus an Kraft, durch einen am kranken Bein
applizierten Zug eines frei aufgehängten Gewichtes. Ob sich im
gegebenen Moment das Bein verlängert resp. distrahiert, oder ob
sich der Zug nur in potentielle Energie, in Spannung der kontrakten
Gewebe umsetzt, um endlich, wenn die Spannung überwunden ist,
nachzugeben, das hängt vom Zustande der umgebenden Weichteile
ab. 3. Soll der Zug langsam und gleichmäßig anschwellen, um jede
Zerrung zu vermeiden. 4. Der Zug soll immer in der Richtung der
Längsachse des Beines ausgeführt werden, um das Gelenk, den
Schenkelkopf nie zu einem Hypomochlion zu machen, das Gelenk
soll also in jedem Moment entspannt, distrahiert sein. 5. Falls der
Zug an und für sich nicht ausreicht, den Krümmungswinkel gerade
zu richten, so muß die Senkung resp. Ab- und Adduktion durch eine
dosierende maschinelle Vorrichtung geschehen, wobei immer der
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Zur mechanischen Behandlung der Hüftgelenkskontrakturen. 411
sub 4 erwähnte Zug in der Längsachse des Beines strenge be¬
halten wird.
Da wir laut voriger Auseinandersetzung die Redression ohne
Narkose vollführen, so ist das subjektive Abschätzen seitens des
Arztes, wie es bei der gebräuchlichen manuellen Redression der
Fall ist (die gewöhnlich unter Narkose geschieht), durch ein nicht
minder zuverlässiges seitens des Kranken ersetzt: eine wirkliche
Schinerzäußerung seitens des letzten ist für uns das beste Zeichen,
die Redression für den gegebenen Moment nicht weiter treiben zu
dürfen.
Ein unter den besprochenen Bedingungen eingeleitetes Ver¬
fahren ist unzweifelhaft das schonendste, absolut ungefährlichste
und zugleich wirksamste. Und wenn auch, wie es sich in der
Praxis zeigt, in manchen Fällen ein minder schonendes Verfahren sich
als genügend erweist, so sind ja die Fälle so verschieden und schwer
abschätzbar, daß auch der geringste Prozentsatz mißlungener Fälle
uns veranlassen muß, das schonendste Verfahren zu einem allge¬
meinen zu machen.
Geleitet von den oben angeführten Prinzipien, bemühte ich
mich, im Verlaufe mehrerer Jahre einen einfachen Weg zur Be¬
handlung der Hüftkontrakturen, speziell der Coxitis, einzuschlagen,
was mir nach längeren Versuchen gelungen zu sein scheint. Auf
meines Chefs, des Herrn Geheimrats Hof fas Anregung habe ich
meinen Apparat modifiziert, um dessen Funktion, sowie Form ge¬
nauer gestalten zu lassen und dank der Liebenswürdigkeit, mit der
mir das klinische Material zur Verfügung gestellt wurde, hatte ich
Gelegenheit, auch den modifizierten Apparat in der Arbeit durch¬
zuprobieren und somit in seiner vollkommeneren Gestalt der Oeffent-
lichkeit übergeben zu dürfen. Was die Beckenstütze (Fig. 1 u. 2)
betrifft, so handelt es sich um eine ganz einfache Vorrichtung, die
mir viele Jahre gut gedient hat, bequem, leicht transportabel und
den aufgestellten Bedingungen vollständig genügend. Sie besteht aus
einer Lagerungsplatte ab und Fixierstange er/, beide aus Hartholz.
Mit seiner Hälfte liegt die erste auf dem Tisch, durch die Fixier¬
stange vermittels zweier Schrauben cf und noch einer dritten g am
Tisch solid fixiert. Die Platte ist etwa 2 cm dick, etwa V 3 der
Rückenbreite, also für Kinder etwa 10 cm breit und an seinem freien
Ende verdünnt und abgerundet, etwa der Form des Kreuzes ähnelnd.
Auch trägt sie auf ihrer Oberfläche eine seichte Aushöhlung.
Digitized by CjOOQle
412
Simon Silberstein.
Die Fixation auf dieser Platte geschieht ebenso wie bei Dol-
linger durch den zuerst angelegten Rumpf beckenverband, und zwar,
nachdem der Kranke etwa von der Achselhöhle bis zu den Fuß-
Fig. 1.
Becken st ätze. Die Klemme h ist auf der Lagerungsplatte ab aufgesetzt, der Stelle
entsprechend, wo sie den Verband zu fixieren hat.
knöcheln des kranken Beines mit Watte umhüllt ist, wird er auf die
Platte gelegt, so daß das Kreuz am verdünnten Ende und die Schultern
etwa am Tischrande liegen. Dann folgt ein gut an modellierter Rumpf-
Fig. 2.
i
Dieselbe auseinandergenommen.
beckenverband I m in Fig. 3, der auch die Platte miteinschließt. Vor
dem Festwerden des Gipsverbandes wird von unten her die Klemme h auf
die Platte aufgesetzt, wobei das verdünnte, dem Kreuzbein anliegende
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Zur mechanischen Behandlung der Hiiftgelenkskontrakturen. 413
Ende frei bleibt; hierdurch wird der Verband fest angezogen und
macht zugleich mit der Platte ein unverschiebliches Ganzes aus. Ist
der Verband trocken, so bildet er wirklich eine solide Basis,
die bei einer ganz langsamen, allmählichen Redression einen posi¬
tiven, untrügerischen Erfolg auf weist. Das durch die Redression
erhaltene Resultat läßt sich bequem durch Fortsetzung des Ver¬
bandes aufs kranke Bein fixieren. Der fertige Verband ist leicht von
der Beckenstütze zu lösen: die Klemme wird heruntergenommen,
durch beiderseitige Langschnitte und einen sie verbindenden Quer¬
schnitt, die mit einem starken Messer gegen das Brett, wo die
Klemme saß, geführt werden, ist der Verband von der Platte gelöst;
der letztere bekommt dadurch einen bis zur Kreuzgegend viereckigen
Ausschnitt, welcher, nachdem der Kranke durch einfaches Hervor¬
schieben vom Brette befreit ist, durch einige zirkuläre Gipstouren
resp. Stärkebindentouren geschlossen wird. — Die vollste Zugäng¬
lichkeit der Platte, die große Lagerungsfläche und die absolute Fixa¬
tion verleiht dem Kranken, wie auch dem Operateur die größte Be¬
quemlichkeit. Es läßt sich wirklich bequem, wie auf einer Werkstatt,
der Verband anlegen und modellieren. Ich glaube damit den ge¬
stellten Forderungen einer vollkommenen Beckenfixation gerecht zu
werden.
Um die aufgestellten Bedingungen einer rationellen Redression
durchzuführen, modifizierte ich das von mir seit längerer Zeit ge¬
brauchte einfache hölzerne Gestell 1 ), das jedem praktischen Arzte
zugänglich ist, zu folgendem Apparat (Fig. 4 u. 5). — Durch einen
Eimer 2?, zu welchem im langsamen Tempo (am besten durch Ver¬
bindung desselben mit der Wasserleitung resp. einer Siphonflasche)
Wasser zufließt, wird vermittels eines Gurtes, der über eine Rolle 11
läuft und an den Fußknöcheln des kranken Beines befestigt ist, ein
gleichmäßig anschwellender Zug in der Richtung der Achse des
Beines bewirkt. Durch Drehung der Kurbel in der Pfeilrichtung
(Fig. 4) wird das langsame Senken der den Zug leitenden Rolle
ausgeführt, was zu gebrauchen ist, wenn der einfache Zug nicht
ausreicht, die Flexion zu verringern. Besteht zugleich eine Ad-
resp. Abduktion, so wird, während die langsame Redression vor
sich geht, das Tischende von einem Assistenten entsprechend ver¬
schoben, so daß das Becken zürn adressierenden Zug unter ge-
*) S. Riedingers Archiv Bd. 2 Heft 3.
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414
Simon Silberstein.
wünschtem Winkel zu stehen kommt, und infolgedessen die Zug¬
kraft eine Komponente abgibt, die auf die Ab- resp. Adduktion
redressierend einwirkt. Ein Blick auf die eigenartige Wirkung des
Apparates (Fig. 3) zeigt, daß er allen aufgestellten Forderungen
Fig. 3.
Der Extensionsapparat Kt nachträglich u ingeändert: er ist zusammenlegbar (Fig. 6) und
mit eigener Stutze fürs gesunde Bein versehen (Fig. iS u. 6).
entspricht, und wirkt dabei absolut schonend, unter ganz allmählich zu¬
nehmender Extension redressierend. Bei höheren Kontrakturen läßt
sich der Zug nicht in der Richtung des Beines einstellen, weil
die den Zug leitende Rolle in ihrer Einstellung durch die Höhe
resp. Krümmung des Apparates beschränkt ist. In solchen Fällen
ist die Zugwirkung gleich der bei der Redression nach Dollinger
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Zur mechanischen Behandlung der Hüftgelenkskontrakturen. 415
resp. nach Lorenz durch den Redresseur; bei beiden erwähnten
Methoden ist die Zugrichtung von vornherein bei jeder auch leichten
Kontraktur nicht in der Beinachse angebracht. Während aber bei
Fig. 4.
Extensionsapparat. Derselbe, zusammen¬
gelegt, transportabel.
geringen und mittleren Kontrakturen dies als störendes Moment zu
betrachten ist, da sich das Gelenk zu einem Hypomochlion um¬
wandelt, so ist dies bei hohen Kontrakturen nicht der Fall, weil bei
der Redression der Kopf gegen die Pfanne doch nicht anstößt,
höchstens stemmt sich der Schenkelhals gegen den Pfannenrand.
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XV. Bd. 27
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416 S. Silberstein. Zur mechan. Behandlung der Hüftgelenkskontrakturen,
Außerdem unterliegen ja die hochgradigen Kontrakturen in der
Regel unserer Redression am wenigsten, geschweige denn, daß man
in solchen Fällen durch eine vorausgeschickte Tenotomie noch immer
den Krümmungswinkel herabsetzen kann. — Indem ich meine Be¬
trachtungen über die methodische Redression der Hüftkontrakturen
schließe, möchte ich eines Umstandes erwähnen: am besten gelingt
die Redression ohne Narkose, wenn die Kontraktur für etwa zwei
Wochen durch einen von der Achselhöhle bis an die Fußknöchel,
in akuten Fällen inklusive den Fuß einschließenden Verband in ihrer
pathologischen Stellung fixiert war und wenn bei partieller Re¬
dression nach Abnahme des Verbandes unmittelbar die nächste Re¬
dression folgt 1 ).
Zum Schlüsse ist es mir eine angenehme Pflicht, meinem
hochverehrten Chef, dem Herrn Geheimrat Hoffa, für die Anregung
und freundliche Ueberlassung des klinischen Materials meinen innig¬
sten Dank auszusprechen.
*) Sämtliche Apparate werden vom medizinischen Warenhause Berlin
hergestellt.
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XXV.
Zur Messung mittels Photographie.
Von
W. F. J. Milatz,
Arzt in Rotterdam.
Mit 5 in den Text gedruckten Abbildungen.
Wenn man bestimmte Vorsorgen trifft, läßt sich die Photo¬
graphie vorteilhaft für die Messung eines Gegenstandes benützen.
Man ist hierdurch zugleich im stände, ein Objekt in verschie¬
denen Stadien zu beurteilen und zu vergleichen. Sowohl für allge¬
mein technische, wie für medizinische und anthropologische Zwecke
insbesondere kann man diese Messung anwenden.
Es werden mehrere Methoden angegeben, um die photogra¬
phische Messung zu ermöglichen. Der Zweck des folgenden Auf¬
satzes besteht darin, die mathematischen Hauptprinzipien kurz zu
besprechen; hauptsächlich für die Erklärung der Benützung einer
Meßvorrichtung, welche der Einfachheit und Genauigkeit wegen eine
Stelle neben den vielen Apparaten zur Messung vielleicht einzu¬
nehmen verdient.
Wenn man die im Handel zu habenden symmetrischen photo¬
graphischen Objektive als genügend korrigiert betrachtet, so ist die
Photographie mit diesen Linsen genau denselben Gesetzen unter¬
worfen wie die polaren Projektionen.
Auch ist dies mit der Radiographie der Fall.
Als Projektionspol hat man den optischen Mittelpunkt der
Linse bezw. den Brennpunkt der radiographischen Röhre anzusehen.
Die Gesetze der polaren Projektionen werden beschrieben bei
der Perspektivlehre; die folgenden daraus abgeleiteten Sätze finden
hier eine nähere Erörterung, weil sie speziell für die Messung des
Bildes ihren Nutzen haben.
Ihre Begründung kann man sich leicht klar machen.
I. Alle Flächen, gerichtet durch den Pol, photographieren sich
in ihren Schnittlinien mit der Bildplatte.
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418
W. F. J. Milatz.
Derartige zugleich vertikale Ebenen bilden sich also in verti¬
kalen Linien ab, wenn die Visierscheibe vertikal steht.
Fi*. 1.
Mit Pfeilen ist in den Fig. 1 u. 2 angegeben worden, wie man verschiedene Maß« mittels dAS
Zirkels auf dem Seitengruude mild. — Die Lini«* l.J bezieht sich auf Fig. 5. Durch zweck¬
mäßige Vergrößerung kann mau die Genauigkeit der Messung erhöhen.
II. Alle Linien senkrecht auf der Visierscheibe verlaufend
schneiden auf dem Bilde die normalen Projektionen des Poles.
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Zur Messung mittels Photographie.
419
III. Die mit der Platte in paralleler Ebene befindlichen Figuren
liefern gleichförmige Bilder mit den ursprünglichen Figuren.
Fig. 2.
Kennt man also in einer derartigen Fläche das Maß einer
Linie, so kann man diese zur Messung aller anderen Linien in der¬
selben Fläche benützen.
Die Größe eines quadratischen Gitternetzes z. B. ist also in
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420
W. F. J. Milatz.
derartigen Fällen gegeben durch eine Seite des Quadranten. Wenn
man nichts weiter beabsichtigt als eine Messung, braucht man also
nicht das ganze Gitter abzubilden. Stellt man das Gitter senkrecht
zur Scheibe, so hat man den Vorteil, daß die der Platte parallelen
Linien des Gitters verschiedene Maßstäbe darstellen, die übrigen senk¬
recht zur Platte gerichteten bewirken die Einteilung. (Vergleiche die
Seitenansicht in Fig. 1 und 2.)
Wenn man dies z. B. für die Beurteilung der Symmetrie oder
dergleichen wünscht, ist man im stände, in jeder beliebigen Schnitt¬
fläche des Gegenstandes, parallel zur Platte, sich ein Liniengitter
zu konstruieren.
Man hat ferner auch noch den Ort des Gegenstandes zu den
mitabgebildeten Skalenlinien näher zu bestimmen.
Ist man mit einer annähernden Ortsbestimmung des Gegen¬
standes im Raume zufrieden, dann kann man mit Zuhilfenahme be¬
kannter Punkte des Fußbodens die Stellung des zu messenden Teiles
des Gegenstandes in Bezug auf die parallelen Flächen und ihre
Skalenlinien abschätzen.
Mittels der stereoskopischen Photographie kann man sich dies
noch erleichtern.
Die näher zu beschreibende Vorrichtung macht ein genaueres
Vorgehen möglich.
Man ist obendrein im stände, hiermit die Längenbestimmung
von den der Platte nicht parallelen Linien vorzunehmen. Die ge¬
nannte Vorrichtung ist das in den verschiedenen Figuren mit AB CD
bezeichnete Rechteck bezw. Quadrat.
Man kann es sich selbst anfertigen, wenn man die Einteilung
des Rechteckes auf den Fußboden oder auf eine transportable qua¬
dratische Tafel einträgt.
Dieses verteilte Rechteck wird senkrecht zur Visierscheibe an¬
gebracht und ermöglicht es uns, alle Ortsbestimmungen der in der
Photographie zu sehenden Punkte vorzunehmen und ihre Distanzen
untereinander zu bestimmen. Zur Längenbestimmung einer der
Platte nicht parallelen Linie braucht man eine Berechnung oder eine
Konstruktion. In Fig. 3 stellt AB CD das Rechteck dar. Jede
seiner Seiten ist mit einer Einteilung versehen, welche schematisch
angegeben ist. Mittels dieser Einteilung läßt sich jeder Punkt einer
Seite auf dem Bilde zurückfinden.
Zur genauen Bestimmung eines Punktes ist es notwendig, sich
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Zur Messung mittels Photographie. 421
das Bild mindestens von zwei Polen aus anzusehen, bezw. zu photo¬
graphieren.
Praktisch sorgt man nun dafür, daß einmal die Seite AB , das
andere Mal die Seite BC der Visierscheibe parallel läuft, während
in beiden Fällen die Fläche AB CD senkrecht zur Platte steht.
Aufgabe ist nun z. B. die Länge der Linie PQ, deren beide
Photographien gegeben sind, zu messen (Fig. 3). Zu dem Zwecke
Fig. 3 b.
projiziert man PQ auf AB CD. Die normalen Projektionen P* und
Q! der Punkte P und Q befinden sich jede in den Schnittlinien der
durch den Pol gerichteten, senkrecht auf AB CD verlaufenden Flächen,
in welchen P und Q sich vorfinden.
Satz I zufolge treffen auf dem Bilde diese Schnittlinien zu¬
sammen mit PP* und QQ*, den projektierenden Linien von P und Q.
Diese Schnittlinien sind auch auf der Photographie bestimmt
durch ihre Schnittpunkte E, P, G und H mit den Seiten von AB CD.
Das nochmalige Photographieren ist notwendig, um P* und
die sich in den Linien PP 7 und QQ 7 , also auch in EF und GH
irgendwo befinden, zu bestimmen.
Natürlich begegnet man im zweiten Bilde den Linien PP* und
QQ* wieder, und diese geben hier durch Schneidung mit den nach¬
her eingezogenen Linien EF und GH die Punkte P* und Q* und die
normale Projektion von PQ. Nun ist
PQ = [/(PP'— QQ') S + P'Q' 2 -
In der Fig. 4. läuft die Hilfslinie QfR parallel mit AD und
P*R parallel mit AB, also ist
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422
W. F. J. Milatz.
P'Q'* = P'R* + Q'R*
und PQ = j/(PP' - QQO 2 + P'R 2 + Q'ß 2 -
PP 4 — QQ 4 , P 4 R und Q / R sind nach Gesetz III zu bestimmen.
Durch die Anwendung der perspektivischen Konstruktionslehre
läßt sich auch die Länge der Linie PQ in irgend einem Maßstabe
wiedergeben.
Es wird genügen, hierzu auf Fig. 4 hinzu weisen, wo P"'Q
PQ, in derselben Skala als Q 4 R durch Konstruktion aufgezeichnet,
darstellt. (Hierzu braucht man auch Gesetz II.)
Fig. 4.
o
wie das perspektivisch abgebildete Dreieck
Wie schon hervorgehoben worden ist, ist die Messung von
Linien, welche mit der Platte parallel sind, bedeutend einfacher.
Man braucht hierzu hauptsächlich Gesetz III.
Nun wird noch mit einigen Worten mitgeteilt werden, wie
man die nötigen Skalenlinien immer zur Hand haben kann, und wo¬
durch die Zeichnung eines Gitters z. B. überflüssig wird.
In Fig. 5 ist zu dem Zwecke eine Reduzierskala abgebildet.
ln der Figur ist die bekannte Distanz IJm ihrer perspekti¬
vischen Abmessung an der durch die übereinstimmende Zahl der
Teilung bestimmten Stelle zur Demonstration eingetragen.
Jede Linie der IJ zugehörigen Fläche, parallel mit der Platte,
wird mittels eines Zirkels und der Tafelteilung auf der Linie IK
gemessen.
Die wirkliche Länge von IJ, das ist die Länge des Recht¬
eckes der Figuren 1 und 2, beträgt 69,5 cm.
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Zur Messung mittels Photographie.
423
Es sei übrigens noch bemerkt, daß man Winkel bestimmen
kann durch die Bestimmung eines Dreiecks, welches den Winkel be¬
sitzt. Konturen eines Gegenstandes kann man bestimmen durch die
Konstruktion eines eingeschriebenen Vieleckes, dessen Seiten und
Winkel man in der beschriebenen Weise bestimmt.
Die Distanz der Kamera zum Objekte, die Brennpunktdistanz
der Linse u. s. w. sind hier nicht in Anmerkung gezogen. Man
kann sie, wenn nötig, auch auf den Bildern rekonstruieren oder be¬
rechnen.
Die Projektion des Poles z. B. findet man mit dem Schnitt¬
punkte der Linien AD und BC bezw. AB und CD . (Gesetz II.)
Maßstab ll: 20.
Die Methode läßt sich natürlich in verschiedenen Arten modi¬
fizieren. Für stereoskopische Bilder ist streng genommen die mehr¬
fache Aufnahme überflüssig, weil man hier extra zwei Pole hat. In
analoger Weise kann man sie zur Messung benützen. Eine Abart
der stereoskopischen Photographie ist die Projektion mit weiten
untereinander entfernten Polen, während die Bildfläche im mathemati¬
schen Sinne für beide Aufnahmen dieselbe ist.
Eine derartige Doppelprojektion läßt sich für Röntgographie
auch benützen. Je nach der Art des Objektes wählt man den einen
oder den anderen Weg.
In analoger Weise wie für die gewöhnliche Photographie stellt
man das Meßgestell senkrecht zur Plattenoberfläche. Die Konstruk¬
tionen und Berechnungen sind prinzipiell dieselben wie oben be¬
schrieben.
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XXVI.
(Aus Prof. Dr. Vulpius* orthopädisch-chirurgischer Klinik
in Heidelberg.)
Ueber kongenitale Osteodysplasie der Schlüsselbeine,
der Schädeldeckknochen und des Gebisses.
(„Angeborener Schluss elbeindefekt.“)
Ein kasuistischer Beitrag.
Von
Dr. Hax H. Klar,
bisherigem I. Assistenzarzt, Arzt für orthopädische Chirurgie in München.
Mit 9 in den Text gedruckten Abbildungen und einem Nachtrag
aus dem Ambulatorium für orthopädische Chirurgie des k. k. Regierungsrats
Prof. Dr. Lorenz in Wien.
Unter den mannigfachen Formen der angeborenen Mißbildungen
des Skeletts, insbesondere den Defektbildungen der Knochen gibt
es viele, zu deren Beseitigung wir therapeutisch meist nichts, oder
nur sehr wenig unternehmen können; nichtsdestoweniger aber ist
ihre Kenntnis wichtig und interessant, schon deswegen, damit man
sie nicht als erworbene, etwa traumatische, gelegentlich ansieht.
Einen solchen Fall, bei dem es sich um angeborene Knochendefekte
bezw. mangelhafte Knochenentwicklung im Bereich des Schulter¬
gürtels, der Schädeldecke und der Kiefer handelt, kombiniert mit
einer schweren kyphoskoliotischen Verkrümmung der Wirbelsäule,
hatten wir in unserer Klinik zu beobachten Gelegenheit. Dieser
Fall kam wegen der Skoliose schon im Jahre 1897 in die Anstalt
und wurde im vergangenen Jahr wiederum behandelt; da bei der
Untersuchung der teilweise Mangel der Schlüsselbeine und die
Schädelform auffiel, so veranlaßte uns dieser Umstand, uns eingehend
mit der einschlägigen Kasuistik und Literatur zu beschäftigen und
nach den Ursachen der seltenen Mißbildung zu forschen.
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Ueber kongenitale Osteodysplasie der Schlüsselbeine etc.
425
Die Patientin ist ein jetzt 18^ Jahre altes Mädchen; der
Vater, der körperlich ganz normal war, starb vor einigen Jahren
an einer Pneumonie. Die Patientin ist das dritte von 4 Kindern
aus zweiter Ehe ihrer Eltern. Der Vater hatte in erster Ehe
3 Kinder:
1. eine Tochter, jetzt 32 Jahre alt, die eine Skoliose hat und
Mutter zweier normaler Kinder ist;
2. einen Sohn von jetzt 31 Jahren, der „dicke Kniegelenke“ und
„einwärtsgedrehte Füße“ haben soll;
3. eine Tochter von jetzt 29 Jahren, die stets „schwachen Rücken“
hatte und an „Lungenkatarrh“ leidet.
Die Mutter hatte in erster Ehe, mit einem Epileptiker, ein
epileptisches Kind, das im Alter von 5 Monaten starb. Die Frau
gibt an, keinerlei Deformität aufzuweisen und nichts von angeborenen
Deformitäten in ihrer Familie zu wissen. Die 2 Kinder, die in
zweiter Ehe vor unserer Patientin geboren wurden, kamen im siebenten
bis achten Schwangerschaftsmonat zur Welt und haben keinerlei Mi߬
bildung aufzuweisen. Das vierte, nach der Patientin geborene, Kind
starb im Alter von 7 Wochen; es soll einen „Fehler an der Brust“
nach Aussage des Arztes gehabt haben; Genaueres über diesen
„Fehler* ist nicht in Erfahrung zu bringen. Als die Mutter etwa im
vierten Schwangerschaftsmonat mit der Patientin war, wusch sie ein¬
mal in knieender Stellung Möbel ab, verspürte dabei einen Schmerz
im Leib und konnte sich danach mehrere Tage lang nicht mehr
nach links drehen. Die Patientin wurde „um gerade 2 Monate zu
früh“ geboren und wog bei der Geburt nur knapp 1500 g (die an¬
deren 2 Kinder vor der Patientin hatten 2000 — 2200 g gewogen).
Es war wenig Fruchtwasser vorhanden. Erst am elften Lebenstag
habe die Patientin zum ersten Male Urin und Mekonium entleert.
Die Mutter stillte das Kind einige Wochen hindurch. Im Laufe
des ersten Lebenshalbjahres wurde bei der Patientin schon eine
Verkrümmung des Rückgrates bemerkt. Patientin lernte im Alter
von 11 Monaten gehen, hat nie Verkrümmungen der Beine gehabt.
Die Scheitelfontanelle schloß sich erst nach Ablauf des zweiten Lebens¬
jahres, die Stirn soll in der Mitte noch im vierten Lebensjahr „ganz
weich“ gewesen sein. Die Zähne kamen bei der Patientin sehr spät,
erst im zweiten Lebensjahr, zum Durchbruch, und sehr unregel¬
mäßig. Nur 3 Zähne seien vom definitiven Gebiß zur Zeit des
Zahnwechsels und später durchgebrochen, und im übrigen blieb das
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426
Max M. Klar.
Milchgebiß, mehr oder minder defekt, bestehen. Im zweiten Lebens¬
jahr soll eine Zeitlang Rachitis bestanden haben, im dritten Lebens¬
jahr erlitt die Patientin einen Bruch des rechten Oberschenkels.
Fig. la.
Die Masern iiberstand sie im Alter von 2 Jahren, Diphtherie mit
7 Jahren. Sie soll immer ein „aufgeregtes“ Kind gewesen sein, in
der Schule habe sie regelrechte Fortschritte gemacht. Die Skoliose
verschlimmerte sich im Laufe der Jahre
etwas, weshalb die Patientin wiederholt
in der Klinik behandelt wurde. Die
Patientin ist schmächtig entwickelt und
grazil gebaut und hat eine Körperlänge
von nur 134,5 cm. Bei der Untersuchung
fällt nächst der Form der Wirbelsäule
und des Thorax zuerst der deformierte,
verhältnismäßig große Schädel auf. Das
Gesicht zeigt eine leichte Asymmetrie,
die rechte Gesichtshälfte erscheint etwas
breiter als die linke, die Nasenspitze ist
etwas nach rechts gerichtet. Die Tubera frontalia springen stark,
hornartig, hervor, ebenso sind die Tubera parietalia stärker als
normal ausgeprägt. Zwischen den Stirnbeinhöckern fällt eine tiefe,
rinnenartige Depression auf (siehe Fig. lb), die, an der Nasen¬
wurzel beginnend, genau in der Mittellinie sagittal nach oben ver¬
läuft, ihre größte Tiefe in der Mitte der Stirn erreicht und sich
Fig. lb.
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Ueber kongenitale Osteodysplasie der Schlüsselbeine etc.
427
von da ab allmählich verflacht, bis sie in der Gegend der Sutura
coronalis, ins Niveau der Scheitelbeine übergehend, ganz verschwindet.
Man fühlt überall unter der Haut Knochen, ein kräftiger Mittel¬
finger läßt sich bequem in die Rinne einlegen. Weiter nach hinten
zeigt der Schädel wiederum eine mediane, dem Verlauf der Sagittal-
naht folgende, etwas flachere, aber fast zweifingerbreite Vertiefung,
die etwa am Haarwirbel flach beginnt und bis an die Lambdanaht
verläuft; hier erreicht die Furche ihre größte Tiefe, so daß das Os
occipitale mit seinem unteren Teil besonders stark hervorspringt;
der rechte Ast der Lambdanaht fühlt sich gewulstet an. Der jSchädel-
umfang beträgt, in der Höhe der Stirnmitte gemessen, 54,5 cm; bei
der Körpergröße von 134,5 cm ist dieser Umfang wohl als beträcht¬
lich zu bezeichnen. Die übrigen Schädelmaße sind: Distantia bitem-
poralis 12,5 cm, Distantia mento-occipitalis 16,5, Distantia biparietalis
10,0, Distantia fronto-occipitalis (von der Tiefe der Stirnvertiefung
aus gemessen) 18,5 cm. Der Unterkiefer der Patientin ist leicht
prognath, der Gaumen ist ziemlich hoch, zeigt leichte Spitzbogen¬
form. Das Gebiß weist eigenartige, höchst merkwürdige Verhält¬
nisse auf (s. Fig. 2 und 3); ein großer Teil des Milchgebisses
Fig. 2.
links
rechts
Oberkiefer Unterkiefer
ist bestehen geblieben, fast alle Zähne sind mehr oder weniger
defekt. Im Oberkiefer stehen: rechts: 1. bleibender Incisivus,
Stummel des 2. Milchincisivus, Milchcaninus, 1. Milchmolar, Stummel
des 1. bleibenden Molaren, 2. bleibender Molar; links: 1. und
2. Milchincisivus, Milchcaninus, Wurzel des 1. Milchmolaren, 1. und
2. bleibender Molar. Im Unterkiefer finden sich folgende Zähne:
rechts: 1. und 2. Milchincisivus, Milchcaninus, 1. Milchmolar,
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428
Max M. Klar.
2. Milchmolar, 1. bleibender Molar, 2. bleibender Molar im Durch¬
brechen; links: 1. und 2. Milchincisivus, Milchcaninus, 2. Prä¬
molar, 1. und 2. bleibender Molar. Wie die Röntgenaufnahmen
beider Kiefer zeigen, sind überall in den Alveolen hinter den
Milchzähnen Keime der definitiven Zähne vorhanden. Bei der Be¬
sichtigung des Körpers von vorn fällt zunächst die außerordentlich
starke Wölbung des Thorax nach vorn, also der sehr große antero-
posteriore und der verhältnismäßig kleine quere Durchmesser des
Thorax auf. Das Sternum tritt stark hervor, Andeutung von Pectus
carinatum. Der ganze Oberkörper erscheint nach links verschoben,
der rechte Rippenbogen steht so im Becken, der linke Rippenbogen
steht auf dem linken Beckenrand. Die linke Spina anterior superior
steht ein wenig tiefer als die rechte; die Entfernung des Nabels
von der rechten Spina anterior superior beträgt 14,0 cm, von der
linken Spina 12,0 cm, von der rechten Mamilla 17 cm, von der
linken Mamilla 19,5 cm.
Von beiden Schlüsselbeinen sind nur je ein größeres ster-
nales und ein kleineres akromiales Rudiment vorhanden; links ent¬
springt vom Manubrium sterni ein knapp 5 cm langer, zarter
Knochen, der abgerundet und völlig frei endet; vom Akromion aus
geht links ein etwa 2 cm langes, schmächtiges Knochenstück, das nach
der Mitte zu ebenfalls frei, doch etwas tiefer als das äußere Rudiment,
endet, so daß das äußere Ende des sternalen Rudiments auf dem
inneren des akromialen „reitet“; eine Verbindung zwischen den
beiden Stücken, die ganz frei gegeneinander verschieblich sind, ist
nicht nachzuweisen. Rechts ist das sternale Rudiment 5 cm lang
und endigt nach außen sehr verdünnt, konisch, spitz; dann fühlt
der tastende Finger eine Lücke von gut 2 cm Breite und danach
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Ueber kongenitale Osteodysplasie der Schlüsselbeine etc.
429
weiter nach außen ein schwer palpables, sehr zartes Knochenstück¬
chen von 2 1 /* cm Länge, das akromiale Rudiment, das mit dem
Akromion nur in ganz lockerer ligamentöser Verbindung steht. Aus
dem Krankenbericht vom Jahre 1897 geht hervor, daß damals ein
akromiales Rudiment überhaupt noch nicht zu fühlen war, sondern
daß ein fibröser Strang vom Ende des sternalen Rudiments zum
Akromion führte; es ist also anzunehmen, daß hier in den letzten
8 Lebensjahren der Patientin erst eine teilweise Ossifikation erfolgt
ist. Das Röntgenbild der rechten Schultergegend zeigt (s. Fig. 7)
Fig. 4.
sehr zarte Rudimente, das akromiale, besonders dünne, Stück be¬
findet sich unterhalb des sternalen und ist mit dem Akromion nicht
knöchern verbunden.
In der Lücke zwischen den beiden mittleren Enden der Stücke
fühlt und sieht man eine kuppenförmige Hervorwölbung, deren
anteroposteriorer Durchmesser 8 cm, deren querer 2 cm beträgt:
die obere Thoraxapertur mit der 1. Rippe. Die Beckenknochen
sind durchaus regelrecht, insbesondere sind keine Anomalien an den
Ossa pubis zu finden. Die Knochen der Extremitäten sind grazil,
aber ganz normal bis auf die ohne wesentliche Dislokation, aber mit
1 cm Verkürzung geheilte Fraktur des rechten Oberschenkels, die
im dritten Lebensjahr erfolgte.
Von hinten gesehen, bietet die Patientin folgendes Bild: Der
Kopf ist leicht nach links geneigt; die linke Nackenschulterlinie ist
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430
Max M. Klar.
tief eingebaucht, ihr unterer Schenkel steigt nach außen deutlich an.
Rechts zeigt der untere Schenkel die oben erwähnte ausgeprägte
Kuppe, deren Vorwölbung eine knöcherne Resistenz, die 1. Rippe,
entspricht. Die linke Schulterhöhe bildet eine wagerechte, 3 bis
4 Querfinger breite Ebene, die hinten von der Spina scapulae, vorn
von den Schlüsselbeinrudimenten begrenzt wird. Die Fossa supra-
spinata der linken Scapula ist kaum abtastbar, sie liegt offenbar
völlig horizontal. Rechts fehlt dieses Plateau, erstlich, weil die
rechte Scapula tiefer steht, und zweitens, weil die beschriebene Vor¬
wölbung vorhanden ist. Beide Scapulae erscheinen am Thorax nach
außen abgeglitten, so daß ihre Flächen mehr nach außen als nach
hinten schauen und die Spinae scapulae mehr nach vorn als lateral ge¬
richtet sind; auch dieser Befund ist links mehr ausgeprägt als rechts.
Die Abdrängung der Scapulae ist bedingt durch eine hochgradige
dorsale Kyphose der Wirbelsäule. Die Kuppe der Kyphose, die sich
zwischen dem 5. und 6. Brustwirbel befindet, liegt 7 cm hinter der
Vertebra prominens, der Winkel der Kyphose beträgt 130°. Gleich¬
zeitig besteht eine nach rechts konvexe Skoliose der Halswirbelsäule
bis zum 7. Halswirbel, von diesem ab wendet sich die Dornfort¬
satzlinie scharf nach rechts, so daß eine hochgradige rechtskonvexe
obere dorsale Skoliose besteht: die Scheitelhöhe dieser Krümmung
beträgt, in der Höhe etwa des 3. Brustwirbels, 4 cm, von da ver¬
läuft die Linie wieder nach links und geht in der Höhe des 6. bis
7. Brustwirbeldornfortsatzes in eine linksseitige Skoliose der übrigen
Brustwirbelsäule über. Die Lendenwirbelsäule zeigt eine der Ky¬
phose entsprechende lordotische Gegenkrümmung und eine leichte
nach rechts konvexe Skoliose.
Der Rumpf hängt im ganzen stark nach links über, so daß
der linke Arm frei herabpendelt, während der rechte der Seitenwand
des Thorax fest anliegt.
Die linke Schulter steht im ganzen etwas höher als die rechte,
die rechte Scapula steht in höherem Grade flügelförmig ab als die
linke; der rechte Angulus scapulae steht um 4 cm tiefer als der
linke und ist 12 cm von der Mittellinie entfernt, der linke Schulter¬
blattwinkel 4 cm; die Distanz der Ränder der Scapulae beträgt
oben 7 cm, unten 9 cm. Die Rima ani verläuft etwas schräg, von
links oben nach rechts unten. In der Seitenansicht sieht man deut¬
lich die erwähnte lumbale Lordose und den fast horizontalen Ver¬
lauf des oberen Astes der Kyphose (s. Fig. 5). In der Vorbeuge-
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Ueber kongenitale Osteodysplasie der Schlüsselbeine etc. 431
haltung zeigt sich eine hochgradige linksdorsale und eine geringe
rechtslumbale Torsion der Wirbelsäule.
Die physiologische und elektrische Prüfung der zum Schulter¬
gürtel in Beziehung tretenden Muskulatur, bei deren Vornahme ich
mich der gütigen Hilfe des Herrn
Prof. Dr. Hoffmann erfreute,
dem ich auch an dieser Stelle
noch meinen ergebenen Dank ab¬
statte, ergibt:
Platysma normal;
M. sternocle idomastoi-
des beiderseits gut, die clavicu-
lare Portion inseriert beiderseits
am sternalen Rudiment;
M. deltoides beiderseits
kräftig, doch ist eine claviculare
Portion nicht palpabel;
M. cucullaris beiderseits
gut, claviculare Portion jedoch
beiderseits nicht nachweisbar;
M. pectoralis major beiderseits vorhanden, rechts schwächer,
links stärker; die claviculare Portion setzt beiderseits am sternalen
Schlüsselbeinrest an;
die Mm. serratus, rhomboides und latissimus dorsi sind beider¬
seits normal.
Bei der Drehung des Kopfes nach rechts wird das linke ster-
nale Clavicularudiment mit der Spitze nach oben und vorn ge¬
richtet, bei der Drehung des Kopfes nach
links ebenso das rechte sternale Rudiment.
Die Schultern können aktiv von der Pa¬
tientin so weit nach vorn gebracht werden,
daß ihre Entfernung voneinander noch
knapp 10 cm beträgt, die Distanz der
Akromien ist dabei 19 cm; bei passivem
Annähern der beiden Schultern gegeneinander ist die geringste Ent¬
fernung der Schultern 5 cm, die der Akromien 12 cm (s. Fig. 6).
Alle Bewegungen der Arme führt die Patientin in normaler Weise,
ausgiebig und kräftig aus; beim Turnen bemerkt man keine Stö¬
rung, Patientin turnt z. B. in ganz normaler Weise am Barren:
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XV. Bd. 28
Fig. 6.
Fig. 5.
(ÜBrni
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432
Max M. Klar.
Wende, Kehre etc. Das aktive und passive Rückwärtsführen der
Schultern ist durch die Kyphose etwas behindert. Das Röntgenbild
der rechten Claviculagegend (Fig. 7) zeigt die beschriebenen Knochen¬
verhältnisse ; leider ist der
Versuch, eine Röntgenphoto¬
graphie der ganzen oberen
Thoraxhälfte aufzunehmen,
wegen der infolge der Ky¬
phose mehrfach übereinander
gelagerten Knochen wieder¬
holt mißlungen.
Dies der Befund unse¬
rer Patientin. Um nun unse¬
ren Fall eingehend zu be¬
trachten und zu erörtern,
müssen wir alle gleichartigen und ähnlichen bisher beschriebenen
Fälle rekapitulieren. Es sind im ganzen 37 ähnliche Fälle in der
Weltliteratur veröffentlicht worden. Der erste Patient mit partiellem
Claviculadefekt wurde im Jahre 1765 von Martin beschrieben:
Fall 1 [35] 1 ): Ein 30jähriger Mann kommt wegen eines an¬
geblichen Schlüsselbeinbruchs in Behandlung, da er eine Kontusion
der einen Schulter erlitten hat. Es fällt gleich bei ihm die große
Beweglichkeit der einen Schulterpartie auf. Die Untersuchung er¬
gibt: Das eine Schlüsselbein ist um ein Viertel kürzer als das
andere, das normal ist; die Verbindung dieser verkürzten Clavicula
mit dem Akromion fehlt und das freie Ende, das man von allen
Seiten gut umfassen kann, ist um reichlich 2 Querfingerbreiten vom
Akromion entfernt; vom Processus coracoides der kranken Seite
geht ein Knochenvorsprung aus, der etwas dünner ist als das
Schlüsselbein und in der Nähe des freien Endes der Clavicula eben¬
falls frei endet (Martin 1765).
Fall 2 [53]: Sonst wohlgebauter 9jähriger Knabe. Das linke
Schlüsselbein fehlt; an dessen Stelle fühlt man eine „sehnige kar-
tilaginöse Masse“. Die „tendinösen Teile“ scheinen an die oberen
Rippen angeheftet zu sein, und dadurch hat die Scapula die nötigen
Stützpunkte an Stelle der Clavicula erhalten. Patient kann den
*) Die in Klammern befindliche Zahl bezeichnet jedesmal die Nummer
der betreffenden Arbeit im Literaturverzeichnis.
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Ueber kongenitale Osteodysplasie der Schlüsselbeine etc.
433
linken Arm nach allen Richtungen bewegen, kann Steine werfen etc.,
scheint also das fehlende Schlüsselbein nicht zu vermissen (Stah¬
mann 1857).
Fälle 3—6 inkl. [16]:
Es handelt sich um eine Frau und um deren 3 Kinder aus
zwei verschiedenen Ehen. Ueber den ersten, verstorbenen Ehemann
ist nichts bekannt; der zweite Gatte konnte nicht untersucht werden.
Ueber die Skelettverhältnisse der Eltern der Frau ist nichts zu er¬
fahren. Die Frau ist 56 Jahre alt, mit Ausnahme der Abnormität
der Schlüsselbeine ohne Mißbildungen des Skeletts; zwischen Schulter
und Regio mammaria findet sich beiderseits eine Einsenbung, die
gegen die der Fossa supraclavicularis entsprechende Stelle sich
etwas vertieft; die Vertiefung ist links weniger deutlich als rechts.
Beide Schultern stehen tiefer als unter normalen Verhältnissen. Von
beiden Claviceln ist nur ein sternales Rudiment verhanden, das auf
der rechten Seite ist 6 cm, das linke 5 cm lang; die Entfernung
beider Enden voneinander beträgt 15 cm. Das rechte Stück ist
gerade gegen das Akromion gerichtet, das linke steht etwas höher,
so daß die Verlängerung 5—6 cm über das Akromion treffen würde.
Eine ligaraentöse Verlängerung ist nicht wahrzunehmen. Platysma
und M. sternocleidomastoides sind normal, der Cleidomast. nimmt
fast das ganze Schlüsselbeinrudiment beiderseits ein. Dem Delta¬
muskel geht jederseits die claviculare Portion ab, sie scheint aber
vertreten zu werden durch eine am inneren Rande des Akromions
entspringende Zacke, die von daher das Schultergelenk bedeckt.
Der M. cucullaris ist fast ganz normal, die sonst an die Clavicula
tretende Portion gelangt am Akromion zur Insertion. Der M. pecto-
ralis major ist in seiner clavicularen Portion beiderseits nur etwas
schwächer, M. subclavius ist nicht vorhanden. Bei Bewegung der
Schultern nach vorn können die beiden Akromien bis auf 22 cm
einander genähert werden; bei Hebung der Schultern stellen sich
die beiden Claviculae zu ihrer früheren Richtung in einen Winkel
von 90 °.
[Fall 4]: Sohn der Frau aus erster Ehe:
36jähriger Mann, 1,52 m groß; die Schultern stehen auch hier
auffallend tief. Nur die Pars sternalis der beiden Schlüsselbeine ist
vorhanden; die rechte mißt 6 cm, die linke 7 cm. Das freie, ab¬
gerundete, mit den Fingern leicht umgreifbare Ende steht rechts
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434
Max M. Klar.
wenig, links mehr hervor; die Entfernung beider Enden beträgt
16 cm. Die medialen Ränder der Scapulae divergieren von oben
nach abwärts, am oberen Winkel beträgt ihre Entfernung vonein¬
ander 13 cm, am unteren 17 cm. Es besteht eine starke Ein¬
knickung des Sternums über dem Schwertfortsatz. (Trichterbrust!
d. Verf.) Die beiden Schultern können nach vorn einander so weit
genähert werden, daß die Akromien noch 26 cm voneinander ent¬
fernt sind. Die Leistungsfähigkeit der Arme ist, wie bei der Mutter,
nicht gestört. Beide Mm. sternocleidomast. sind in Ursprung und
Verlauf normal, die claviculare Portion ist aber, beiderseits von der
sternalen getrennt, schwächer, als es die übrige Muskulatur er¬
warten ließe, entwickelt. Beim Heben der Schultern, wobei gleich¬
falls die Claviculae sich emporrichten, ist die claviculare Portion
des M. sternocleidomast. deutlich umgreifbar; das Platysma ist
beiderseits nachweisbar, der M. cucullaris ist bis auf die sonst an
die Clavicula sich inserierende Partie normal. Der M. deltoides
kann von seinem Ursprung bis an die Spitze des Akromions ver¬
folgt werden, dort ergibt sich rechts eine Unterbrechung, durch eine
Längsfurche markiert, worauf ein besonderer, anscheinend an der
Innenseite des Akromions entspringender Muskelbauch folgt; dieser
schmiegt sich im weiteren Verlauf an den medialen Rand des Delta¬
muskels an, um mit ihm sich zu inserieren. Der M. pectoralis major
ist in Verlauf und Insertion normal, durch eine sehr starke Sterno-
kostalportion ausgezeichnet, rechts mit sehr schwacher Clavicular-
portion. Das Kind des Mannes hat wohlgebildete Schlüsselbeine.
[Fall 5]; Tochter der Frau (Fall 3) aus zweiter Ehe,
22 Jahre alt. Das rechte Schlüsselbein ist in zwei fast gleich große
Stücke geteilt. Die akromiale Hälfte, 4,5 cm messend, steht einerseits
durch ein festes Ligament mit dem Akromion, anderseits durch einen
längeren bandartigen Strang mit der 4 cm langen sternalen Hälfte
in Verbindung; die letztere befindet sich anscheinend in normaler
Articulation mit dem Manubrium sterni. Das linke Schlüsselbein
besteht wiederum aus zwei Stücken, davon das sternale, mit dem
Manubrium sterni gleichfalls auf gewöhnliche Weise verbunden,
6,5 cm, das akromiale Stück 4,5 cm lang ist. Das akromiale Rudi¬
ment schiebt sich etwas unter das sternale und ist dort fest mit
ihm vereinigt, ist aber nur in loser Verbindung mit dem Akromion,
so daß es von diesem auf und ab bewegt werden kann. Ein Kind
der Tochter hat normale Schlüsselbeine.
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Ueber kongenitale Osteodysplasie der Schlüsselbeine etc.
435
[Fall 6]: Sohn der Frau (Fall 3) aus zweiter Ehe*
14\2 Jahre alt: Körpergröße 1,34 m. Die rechte Schulter steht
etwas höher als die linke, die durch den M. trapezius bedingte Hals¬
wölbung ist rechts beträchtlicher. Die 1. Rippe ist rechts fühlbar,
links nicht. Das rechte Schlüsselbein ist 5 cm, das linke 6 cm
lang; beide sind an ihrem freien Ende umgreifbar, das rechte etwas
zugespitzt, das linke mehr abgerundet; das linke ist bis nahe an
das Akromion verfolgbar, das rechte ist durch eine Pseudarthrose
in zwei fast gleich lange Stücke geteilt, die in Winkelstellung mit¬
einander verbunden sind. Der M. sternocleidomast. ist beiderseits
in Ursprung, Volumen und Insertion ganz normal; der M. cleido-
mastoides hebt die Clavicula nach oben. Die Mm. cucullares und
deltoidei sind bis auf die der Clavicula bestimmten Portionen, die
fehlen, normal. Platysma vorhanden, M. pectoralis major beiderseits
mit entwickelter Clavicularportion, die das Schlüsselbein nach vorn
abzieht.
Es besteht also ein höherer Grad des Defekts bei der Mutter
und deren Sohn aus erster Ehe, ein geringerer Grad bei den Kin¬
dern aus zweiter Ehe. (Gegenbaur 1864.)
Fall 7 [32 und 39]: 15jähriger Knabe, kräftig, mit rechts¬
seitiger Skoliose; das linke Schlüsselbein fehlt vollständig, so daß
die linke Schulter bis zum Brustbeinrande verschoben werden kann.
Die Portio clavicularis des M. pectoralis major fehlt, die Schlüssel¬
beinportion des Kopfnickers steigt in Verbindung mit der sonst an
die Clavicula angehefteten Faserung des M. trapezius über den
Sternalursprung des M. pectoralis major in ähnlicher Weise herab,
wie der anormale sogenannte M. thoracicus, dessen oberes Ende
ohnehin sehr gewöhnlich in den Kopfnicker übergeht. Das fehlende
Schlüsselbein ist durch einen sehnigen Streifen ersetzt. Die Funk¬
tionen der Schulter und des Armes sind recht wenig gestört, die
physiologischen Bewegungen und die Fixation des Schulterblattes
werden durch Muskelkontraktionen ermöglicht, (v. Luschka 1865
und Niemeyer 1866.)
Fälle 8—10 inkl. [45]:
(Fall 8): Leiche eines 52jährigen Schneiders, welcher irrsinnig
war. Geringe Körpergröße, auffallend schwach entwickelte Extre¬
mitäten und flacher Thorax. Die Gesichtsfläche ist schief nach
hinten gerichtet, der Hirnschädel groß, das Schädeldach dünnwandig,
porös; die Gegend der Stirnbein-, Scheitelbein- und Hinterhaupt-
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436
Max M. Klar.
höcker ist wie blasig vorgetrieben, so daß die dazwischenliegenden
Regionen der Nähte als tiefe Außenfurchen erscheinen. In dem
Stirnbein findet sich eine offene Fontanelle zwischen beiden Seiten¬
hälften, erst in der Nähe der Nasenwurzel sind die beiden Stirn¬
beinhälften durch Naht verbunden; auch die Hinterhaupt-Schläfen¬
beinfontanelle ist beiderseits erhalten, die Größe der Schuppe beider
Schläfenbeine ist fast auf die Hälfte reduziert. Zwischen dem Os
temporale, Os parietale und dem großen Keilbeinflügel ist rechts
ein länglicher Spalt, der Rest einer einstigen Fontanelle. In der
Pfeilnaht findet sich ein dreieckiger Zwickelknochen von l 1 /* Zoll
Länge und 3 /i Zoll Breite; zu beiden Seiten der fast papierblatt¬
dünnen Hinterhauptspitze sind fünf über silbergroschengroße, im
Reste der Lambdanaht zahlreiche kleinere Schaltknochen. Die ganze
Schädelbasis ist gegen die Schädelhöhle gehoben, zumeist jedoch
das Keilbein, so daß die Unterfläche der Schädelbasis an der Synchon-
drosis spheno-occipitalis eine Knickung zeigt. Die um die Hälfte
zu kurzen, nach abwärts verschmälerten, an ihrer gegenseitigen
Verbindung sehr dünnen Nasenbeine legen sich nur an das Stirn¬
bein, nicht aber an den Stirnfortsatz des Oberkiefers, an. Das
Foraraen incisivum ist sehr groß, die Schilddrüse ist blutarm, von
gewöhnlicher Größe. Die Clavicularportion des M. deltoides und
des M. cucullaris inseriert beiderseits an einen sehnigen Streifen,
der, vom oberen Rand des Sternums entsprungen, vor der Fossa
glenoidalis scapulae sich befestigt, und an dessen innerem Ende
beiderseits ein längliches, schmales, dünnes, schwach konvexes, an
den Rändern rauhes, an den Enden etwas aufgetriebenes, am meisten
einer Halsrippe ähnliches, 1 Zoll langes Knochenstück als Rudiment
der Clavicula eingebettet ist. An diesem Rudiment haften beider¬
seits der M. cleidomastoides und die Portio clavicularis des M. pec^
toralis major, an dem Sehnenstreifen der sehr starke M. subclavius.
(Fall 9): Aelteres Präparat der Wiener anatomischen Samm¬
lung. An diesem sind auch dieselben Fontanellen noch offen und
die Schädelbasis eingeknickt; Zwickelknochen sind aber nicht vor¬
handen und das Schädeldach ist ziemlich kompakt. Die Schlüssel¬
beine sind denen des eben beschriebenen Falles ganz gleich, nur in
allen Dimensionen noch kleiner. Die Nasenbeine sind um zwei
Drittel zu kurz, dadurch erscheint die Apertura pyriformis sehr
lang, viereckig.
Wir haben also bei Fall 8 und 9 festzustellen: Oflfensein der
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Ueber kongenitale Osteodysplasie der Schlüsselbeine etc.
437
vorderen und hinteren seitlichen Fontanellen, Kleinheit der Schläfen-
beinschuppen und der Nasenbeine, rudimentäre, nur auf das Mittel*
stück beschränkte Bildung der Schlüsselbeine, Gehobensein der
Schädelbasis und Knickung des ziemlich steil abfallenden Clivus.
Das Auffälligste ist die teilweise Substitution des Knochengewebes
durch Bindegewebe an den Schlüsselbeinen und an mehreren Knochen
des Schädels.
[Fall 10]: Monstrum anencephalum, prolapsu partis hepatis per
fissuram thoracis, intestini tenuis et crassi per fissuram abdominis
penes umbilicum insigne. Scoliosis. Pulmo sinister unilobaris et minor.
Clavicula sinistra rudimentaria.
Der Körper ist 13 Zoll 5 Linien lang, mäßig genährt, blaß.
Die weichen Decken des Schädeldachs samt der mit ihnen verschmol¬
zenen harten Hirnhaut auf den Schädelgrund herabgesunken und rück¬
wärts einer von einem Ohre zum anderen gedachten Linie bis fast
zum Foramen occipitale magnum haarlos, bis zur Transparenz ver¬
dünnt und in der Gegend der hinteren Fontanelle von einem runden,
scharfrandigen, fast talergroßen Loche durchbrochen. Links vom hin¬
teren Umfang dieser Lücke geht ein 6 Zoll langer Amnionstrang
aus, der am Kopfende 13 Linien, am Placentarende 6 Zoll breit ist
und in das Placentaramnion etwa 2 1 'j 2 Zoll vom exzentrisch gelagerten
Nabelstrang übergeht. Das Schädeldach fast ganz fehlend, indem der
vordere Teil der Scheitelbeine vollständig fehlt und nur über der
Schläfenschuppe Reste vorhanden sind, die am linken Os parietale
etwa a /g Zoll, am rechten 3 1 Zoll hoch sind und gegen das Hinter¬
hauptbein niedriger und niedriger werden. Von der Hinterhauptschuppe
ist nur ein etwa 1 1 I ! 2 Zoll breiter Streifen sichtbar, der den hinteren
üalbring des Foramen occipitale magnum bildet. Die rechte Stirn¬
beinhälfte ist beinahe l 3 /4 Zoll, die linke l 1 /* Zoll hoch, erstere zu¬
gleich etwas breiter; beide steigen fast senkrecht ohne nennenswerte
Wölbung auf. Die Ränder der so gegebenen Lücke des Schädeldachs
sind scharf und wellig. Das Gehirn fehlt vollkommen. Das Gesicht
ist stark „prognatliisch“. Der Hals kurz; der Brustkorb gewölbt,
in der Gegend des zweiten linken Interkostalraumes, 3 Linien nach
außen vom linken Sternalrand, hängt an einem strohhalmdicken, von
außen her kaum 1 Linie lang erscheinenden Bindegewebstiel eine
haselnußgroße, ovale, mäßig derbe Geschwulst, die durch eine zarte,
einer serösen Membran gleichende Hülle braunrot hindurchschimmert.
3 /i Zoll unter dem Akromion an der Innenfläche des linken Oberarms
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Max M. Klar.
ein 6 Zoll langer, in der Gegend des linken Processus coracoides
ein 5 Linien langer, strohhalmdicker, walzenförmiger, abgerundet
endender Hautanhang. Der innere Rand des adduzierten linken
Fußes ist bedeutend höher gestellt als der äußere. (Klumpfuß,
d. Verf.) Die Pars sternalis der linken Clavicula ist von der Pars
acromialis durch einen beinahe 3 Linien langen Bindegewebstrang
geschieden. Die vorderen Knorpelenden sämtlicher echter Rippen
der linken Seite sind ungefähr V 2 Zoll nach außen vom linken
Sternalrand zu einem Knorpelhalbring verschmolzen, welcher die
äußere, nur zwischen Clavicula und einem Vorsprung des ersten
Rippenknorpels membranös unterbrochene Umrandung eines fast
haselnußgroßen Loches bildet. Es besteht hochgradige nach rechts
konvexe Skoliose der Brustwirbelsäule. (Scheuthauer 1871.)
Fall 11 [25]: lßjäbriges Mädchen, noch nicht menstruiert.
Die Mutter starb mit 26 Jahren an Lungenschwindsucht; ob bei
dieser ein Bildungsfehler vorhanden war, ist unbekannt. Die einzige
Schwester der Patientin starb mit 6 Jahren an fieberhafter Krankheit.
Der Vater ist 41 Jahre alt, kräftig, hat beiderseits angeborenen
Klumpfuß, aber ganz normale Schlüsselbeine. Patientin ist das
noch lebende von zwei Kindern erster Ehe des Mannes, außerdem
sind zwei Kinder zweiter Ehe vorhanden, deren Claviculae auch
regelrecht sind; alle diese vier Kinder haben vom Vater beider¬
seitigen Klumpfuß geringen Grades geerbt. In der Jugend hatte
Patientin mehrfach Drüsenschwellungen am Hals und in den Achsel¬
höhlen, kurze Zeit auch Spondylitis; sie ist sehr klein, Körperlänge
1,29 m. Mittlere Intelligenz. Starke Abflachung des Thorax beider¬
seits von der horizontalen Mamillarlinie nach oben und Fehlen einer
Grenze zwischen Fossa supraclavicularis und infraclavicularis. Die
Schultern können passiv bis zur Berührung der Oberarmköpfe ein¬
ander genähert werden. Die Schulterblattspitzen stehen ziemlich
weit nach hinten vor, so daß sich also zwischen diesen und dem
Thorax eine tiefe Furche findet; die Fossa infraspinata ist sehr flach,
es fehlt die normale Rundung. Das rechte Schlüsselbeinrudiment ist
1,5 cm lang, 1 cm breit, nach außen spitz, lose mit dem Sternum
verbunden und nach allen Seiten in großen Exkursionen verschieb¬
bar. Das linke Clavicularudiment ist 4 cm lang, am Sternalende
0,5 cm breit, sich zuspitzend. Rechts fehlt die claviculare Portion
des M. sternocleidomastoides, links ist diese vorhanden. Mm. deltoides
und cucullaris sind beiderseits normal. M. pectoralis major ist beider-
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Ueber kongenitale Osteodysplasie der Schlüsselbeine etc.
439
seits schwach, die claviculare Portion fehlt. Alle Bewegungen sind
normal; aktiv können die Schultern so weit nach vorn gebracht
werden, daß die Akromien 15 cm, die Oberarmköpfe 9 cm vonein¬
ander entfernt sind. Die Arme sinken, wenn sie belastet werden,
stark nach abwärts. (Kappeier 1875.)
Fall 12 [12]: löjähriges Mädchen, das älteste von acht Kindern,
von denen sechs leben und gesund sind, zwei starben jung. Patientin
wurde zur rechten Zeit geboren, aber der Kopf war ungewöhnlich
flach, und nach Aussage der Großmutter streckte das Kind kurz
nach der Geburt bei Berührung die Arme und Beine aus und öffnete
die Augen wie ein Frosch. Patientin bekam im Alter von 3 Monaten
schon die ersten Zähne, lief mit 9 Monaten, sprach mit 15 Monaten;
sie war auffallend intelligent. Mit 9 Jahren traten epileptische An¬
fälle auf; mit 12 Jahren verlor Patientin für einige Zeit die Gebrauchs¬
fähigkeit der Beine und machte unwillkürliche Kreisbewegungen des
rechten Armes. Kräftiges, gut gebautes Mädchen, ohne auffallende
Mißbildung außer den folgenden: Am Schädel springen die Tubera
frontalia und die Tubera parietalia auffallend stark her¬
vor und längs der Mittellinie des Schädels verläuft eine rinn en-
artige Depression. Die Lippen sind dick, die Zähne sind
stark kariös und unregelmäßig. Das akromiale Ende beider
Schlüsselbeine fehlt. Es besteht abnorme Beweglichkeit der Schul¬
tern, beide Oberarmköpfe können willkürlich aneinander gebracht
werden. (Dowse 1875.)
Fall 13 [21a und b]: 60jährige Frau, Schultern hängend, Schulter¬
blätter flügelförmig abstehend, leichte Kyphose der Wirbelsäule im
Brustteil, Thoraxumfang in der Höhe der Mamillen 71 cm. Bei der
Untersuchung der Schlüsselbeine findet man an Stelle der akromialen
Insertion auf beiden Seiten eine Vertiefung, die nach außen hin von
dem nach vorwärts vorspringenden Oberarmknochen begrenzt ist, weiter
unten vom Thorax in der Höhe der Mamillarlinie und auf der Innen¬
seite von der Clavicula. Diese ist rechts 5 * 2 cm lang und endigt in
einer abgekanteten Spitze, ohne daß man einen fibrösen Strang finden
kann, der eine Verbindung mit dem Akromion bilden könnte. Links
ist das Schlüsselbeinrudiment 8 cm lang, mit abgerundetem Ende,
in der Tiefe fühlt man einen fibrösen Strang, der am oberen Rand
derCavitas glenoidalis inseriert. (Guzzoni degli Ancarani 1887.)
Fall 14 [59]: Rachitischer, skoliotischer Knabe, keine Spur
eines Schlüsselbeins vorhanden, auch kein akromiales Rudiment.
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440
Max M. Klar,
Trotzdem kann der Patient ein Gewicht über den Kopf heben, „ein
Zeichen dafür, daß die Wichtigkeit der Vereinigung der Bruchenden
bei Schlüsselbeinbruch bisher wohl überschätzt wurde“. (Walsham
1888 .)
Fall 15 [9]: 30jähriger Zigarrenmacher von kleiner Gestalt und
eigentümlichem Habitus; hat eine normale Schwester, die Mutter war
auch sehr klein. Patient konnte sich in der Jugend an allen Spielen
beteiligen, war aber immer früher müde als seine Kameraden. In
früher Jugend Rachitis. Der obere Thoraxabschnitt erscheint fa߬
förmig gewölbt, da die Grenze zwischen den Fossae supraclaviculares
und infraclaviculares beiderseits fehlt. Auf beiden Seiten findet sich,
mit dem Manubrium sterni artikulierend, je ein 3,5 cm langes und
kaum 3 4 cm breites Clavicularudiment; die freien Enden sind abge¬
rundet und bewegen sich bei der Atmung auf und ab. Die Entfer¬
nung der beiden Schlüsselbeinenden beträgt 12 cm, die der Akromien
29 cm. Die Rudimente sind so gerichtet, daß ihre Verlängerung ein
auf dem Akromion errichtetes Lot rechts 3 cm und links 2 cm ober¬
halb von dessen Fußpunkt treffen würde. Eine fibröse Fortsetzung
der Rudimente ist beiderseits nicht vorhanden. Aktiv können die
Akromien bis auf 20 cm einander genähert werden, die Schultern
können aktiv bis zur Berührung an die Unterkiefer herangebracht
werden. Die Scapulae stehen flügelförmig ab, es besteht an der Wirbel¬
säule sehr starke dorsale Lordose mit kompensatorischer Lendenkyphose
und eine sehr deutliche rechtsdorsale und linkslumbale Skoliose. Das
Fettpolster ist gering, die Muskulatur schwach entwickelt. Die In¬
telligenz des Mannes ist gering. Die physiologische und elektrische
Untersuchung der zum Schultergürtel in Beziehung tretenden Muskeln
ergibt: Normal sind das Platysma myoides, M. omo-hyoides, M. rhom-
boides und M. serratus anticus major beiderseits; die clavicularen
Portionen fehlen beiderseits an den Mm. pectoralis major, deltoides,
sternocleidomastoides; nicht vorhanden ist auf beiden Seiten der
M. subclavius. In der Funktion der Arme besteht keine Störung,
(v. d. Busse he 1890.)
Fall 16 [57]: Anatomische Beobachtung: Individuum ohne
Schlüsselbeine, Rudimente setzen sich am Akromion und am Sternum
an, die Mittelstücke fehlen; eine Verbindung der Rudimente besteht
beiderseits nicht. (Todd 1898, ref. nach Gianettasio, s. u., und Car-
penter, s. u.)
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Ueber kongenitale Osteodysplasie der Schlüsselbeine etc.
441
Fälle 17—20 inkl. [34 und 40]:
Wesentliche Punkte:
a) erhöhtes Wachstum des Schädels in die Breite, vergesell¬
schaftet mit verzögerter Ossifikation der Fontanellen;
b) mehr oder weniger ausgesprochene Aplasie der Schlüssel¬
beine ;
c) die Mißbildungen sind vererbt.
Es handelt sich um einen Vater mit seinem Sohn und eine
Mutter mit deren Tochter. Der Anblick des Schädels zog zuerst
bei den Fällen die Aufmerksamkeit der Untersucher auf sich. Der
Querdurchmesser ist in erstaunlicher Weise vergrößert; bei dem Mann
ist der Querdurchmesser 174 mm (Mittelwert normal 159,6 mm), bei
der Frau 171 mm (bei Frauen normaler Mittelwert 149,3 mm), und
bei der 9 ^jährigen Tochter der Frau 157 mm. Die Stirnhöcker sind
bei allen 4 Fällen stark ausgeprägt, zwischen den Höckern ist eine
vertikale, tiefe, mehr oder weniger ausgeprägte Furche (Sutura meto-
pica), die Scheitelbeinhöcker sind ebenfalls stark auspeprägt, so daß
der Schädel die Form eines Neugeborenenschädels hat. Die Gesichter
sind bis zu einem gewissen Grade abgeplattet, die Augenbrauenbogen
geschwungen, Ohren stark abstehend. Bei der 47jährigen Frau ist
das Offenbleiben der Sutura oder vielmehr Fontanella metopica so stark,
daß man die Knochenränder fühlen kann, während bei den 3 anderen
Fällen der Schädel hier einen membranösen Eindruck macht. Der
Mann zeigt einen Gaumenspalt, der Knabe., sein Sohn, hat einen
spitzbogenförmigen Gaumen. Bei der 47jährigen Frau und ihrer
Tochter sind die Gaumen ebenfalls spitzbogenförmig gebaut. Die
Zähne sind bei allen vier Patienten sehr mangelhaft, unregelmäßig,
bei den beiden Erwachsenen sind alle kariös. Bei den beiden Kindern:
der 12jährige Knabe hat sehr kleine Schneidezähne, die wie kleine
Eckzähne geformt sind, und die Eckzähne sind schüsselförmig („cupuli-
formes“), einige Zähne sind zerbrochen und kariös. Bei dem 9 V*jäh¬
rigen Mädchen sind die Zähne sehr langsam gekommen, sie hat noch
die meisten ihrer Milchzähne, nur die mittleren unteren Schneide¬
zähne sind definitive Zähne; die Schneidezähne sind alle sehr zer¬
bröckelt. Bei dem 39jährigen Mann ist das linke Schlüsselbein bis
auf das mittlere Drittel gut entwickelt, die rechte Clavicula zeigt in
der Mitte eine Lücke, in die man die Finger tief eindrücken kann;
dieses Schlüsselbein besteht also aus zwei Stücken, die wahrschein¬
lich durch einen fibrösen Strang miteinander verbunden sind. Bei
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Max M. Klar.
dem 12jährigen Sohn des Mannes besteht Atrophie der inneren Hälfte
des rechten Schlüsselbeins, das linke besteht aus zwei Stücken, die
miteinander durch einen bindegewebigen Strang verbunden sind. Der
Vater des Mannes ist 64 Jahre alt, lebt und ist gesund und normal,
ebenso die Mutter; ein Jahr vor der Geburt des Patienten hatte seine
Mutter eine Frühgeburt im 8. Monat, die sie auf einen Fall zurück¬
führte, das Kind lebte nur 10—12 Stunden lang. Patient hat vier
Geschwister ohne Deformität; er selbst ist rechtzeitig geboren, Ge¬
burtsdauer 12 Stunden, kam asphyktisch zur Welt, Schädel war auf¬
fallend groß; keine Syphilis. Bekam zwei Söhne, die rechtzeitig ge¬
boren wurden: Die Geburt des schon erwähnten 12jährigen Knaben
war normal, es wurde außer der, der des Vaters gleichenden, Schädel¬
form nichts Besonderes bemerkt. In der Mitte der Hinterhauptfonta¬
nelle besteht bei dem Vater eine Depression und Konsistenzvermin¬
derung wie vorn. Die hintere Schädelpartie ist abgeplattet und die
Protuberantia occipitalis externa ist weniger ausgeprägt als normal;
am Sternum besteht eine leichte Depression in der Höhe des Manu-
briums. Der zweite Sohn des Mannes starb im Alter von 2 1 /* Jahren
an Krämpfen. Bei diesem war die Stirnfontanelle nicht geschlossen
und der Schädel zeigte dieselbe Deformation wie bei dem lebenden
Knaben.
Die 47jährige Frau ist normal geboren, mit großem Schädel.
Unregelmäßig menstruiert seit dem 16. Jahr. Mit 25 Jahren Ver¬
heiratung: vier Kinder, rechtzeitig geboren; eine Tochter, die mit
7 Jahren an Diphtherie starb, bot außer einem etwas großen Schädel
keinen besonderen Befund. Ein normaler Knabe starb mit 7 Monaten
an Masern; das dritte Kind ist ein kräftiger, normaler Knabe von
11 Jahren; das vierte Kind ist die erwähnte 9V*jährige Tochter,
die die pathologischen Veränderungen von der Mutter geerbt hat.
Die Frau hatte keine Aborte, war nie schwer krank; ihr Vater
starb an Altersschwäche mit 67 Jahren; die Mutter, die 20 Jahre
hindurch infolge unbekannter Ursache gelähmt war, ist ebenso mit
67 Jahren gestorben; Patientin selbst hatte neun normale Geschwister,
eine Schwester hatte eine Analfistel; der Gatte war normal und ge¬
sund. Die Frau ist 146 cm groß; an Stelle der Schlüsselbeine hat
sie beiderseits je ein 3 cm langes, am Sternum sitzendes Clavicula-
rudiment, das spitz zuläuft und sich in Bindegewebe verliert; die
Rudimente sind sehr beweglich. Die Tochter hat beiderseits ein
5 cm langes, sich wie ein harter Knochen anfühlendes Rudiment
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Ueber kongenitale Osteodysplasie der Schlüsselbeine etc. 443
der Clavicula, dessen Spitze in einen bindegewebigen Strang aus-
läuft, an dem die Muskeln ansetzen. Das Mädchen zeigt eine nach
rechts konvexe dorsale und eine nach links konvexe lumbale Skoliose.
Bei allen vier Patienten besteht leichtes Genu valgum; alle vier
wußten nichts von ihrer Anomalie; nur die Frau kann schwerere
Gegenstände nicht bis zur Wagerechten heben, sie konnte auch
kaum ihre kleinen Kinder auf dem Arm tragen, aber einen Eimer
Wasser kann sie weit tragen. Das Mädchen kann die Schultern
einander gut nähern, sie kommen aber nicht vollständig zur Berüh¬
rung, da der Thorax zu fett ist. Die Kinder zeigen die Anomalien
schon in geringerem Grade als die Eltern. (Pierre Marie und
Paul Sainton 1898, sowie Pierre 1898.)
Fall 21 [47]: 13 Jahre altes Mädchen, keine hereditäre Be¬
lastung. Das Kind war immer schwach, war rachitisch und lernte
erst im Alter von 4 Jahren gehen. Kleines Mädchen, 126 cm groß.
Der Kopf ist im Verhältnis zum Körper zu groß, doch dem Alter
entsprechend. Tubera frontalia und parietalia stark vor¬
springend, stark ausgeprägte Vertiefung zwischen den Tubera
frontalia. Fontanellen geschlossen, tiefe Einsenkungen entsprechend
der vorderen und hinteren Fontanelle. Die Mutter gibt an, daß die
vordere Fontanelle sich erst im 9. Jahr ganz geschlossen habe. Die
Schultern stehen etwas tief und fallen nach vorn, die Fossae supra-
und infraclaviculares sind nicht zu unterscheiden. Das Sternum ist
etwas eingedrückt. (Trichterbrust! d. Verf.) An beiden Schlüssel¬
beinen fehlen die äußeren 2 Drittel, rechts aber setzt eine ganz
schmale Knochenspange von 1 cm Länge die Clavicula fort und
artikuliert mit dem Akromion. Die inneren Drittel der Schlüssel¬
beine stehen in guter Verbindung mit dem Sternum, endigen fibrös
oder knorpelig. Die Scapulae sind klein, stehen flügelförmig
ab, Fossae supraspinatae sehr klein. Die Zähne sind
sehr kariös, der Schmelz ist unregelmäßig am Rand der oberen
Schneidezähne, jedoch keine Zeichen von Syphilis. Muskulatur gut,
alle Bewegungen normal. Beide Akromien können passiv miteinander
in Berührung gebracht werden. (Schorstein 1899.)
Fälle 22 — 27 inkl. [10]:
(Fall 22): Schmal gebauter Mann; der Vater war sehr kräftig
und normal gebaut, seine Mutter war schwach und hat vielleicht
Claviculadefekte gehabt. Bei dem Mann bestehen beide Schlüssel¬
beine aus zwei Stücken; rechts befindet sich das Ende des akro-
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Max M. Klar.
mialen Rudiments eine Fingerbreite tiefer als das sternale, das
auf dem ersteren auf einer Strecke von etwa 1,5 cm „reitet“;
beide Enden sind abgerundet; links sind die Rudimente wie rechts,
aber das innere Ende des akromialen Stückes befindet sich nur
1 cm unterhalb des sternalen. Beide sternale Stücke sind 7 l -* cm
lang, beide Schultern können aktiv bis auf eine Entfernung von
6 cm einander genähert werden. Der untere Teil des Sternums
ist eingesunken (Trichterbrust), dieselbe Thoraxdeformität hat ein
sonst normales Kind des Mannes. Zwei, auch sonst normale, Töchter
haben Klumpfüße.
(Fall 23): 8jährige Tochter des Mannes (Fall 22). Die Schlüssel¬
beine stellen je ein kleines Stück dar, dünn, spitz zulaufend und sich
knorpelig anfühlend; das Röntgenbild beweist aber, daß es knöchern
ist; das breitere Anfangsstück der Schlüsselbeinrudimente ist mit dem
Sternum verbunden; linkes Rudiment 3,17 cm, rechtes 1,9 cm lang.
Die Schultern fallen etwas nach unten und vorn, die Schulterblätter
stehen flügelförmig ab. Zwischen dem Processus coracoides und dem
Akromion finden sich beiderseits starke Bänder, die das Vorhanden¬
sein von akromialen Rudimenten der Schlüsselbeine Vortäuschen. Der
M. sternocleidomast. ist beiderseits vorhanden, inseriert an den Stum¬
meln, die claviculare Portion des M. pectoralis major fehlt beiderseits,
ebenso der vordere Teil des M. deltoides und die clavicularen Fasern
des M. trapezius. Alle Bewegungen der Arme werden gut und mit
leidlicher Kraft ausgeführt; die Schultern können aktiv aneinander
gebracht werden. Die Patientin kann die Arme in eigenartiger
anormaler Weise auf dem Rücken aktiv verschlingen, die Schulter¬
blätter können mit ihren inneren Rändern zusammengebracht werden;
mit beiden Schultern kann Patientin die Ohren berühren. Die Pro¬
cessus transversales des letzten Halswirbels sind, wie das Röntgen¬
bild zeigt, so groß, daß man sie annähernd für Halsrippen halten
kann. Ferner ist aktive Hyperextension der Gelenke der Finger
gut möglich.
(Fall 24): 14jähriger Bruder der vorigen. Das linke Schlüssel¬
bein ist etwas nach vorn gebogen. Das rechte Schlüsselbein besteht
aus zwei Stücken, das sternale ist 5,7 cm, das akromiale 3,2 cm
lang; das sternale Rudiment ist gut beweglich, „reitet“ auf dem akro¬
mialen; zwischen den Enden besteht eine bandartige Verbindung.
(Fall 25): 12jährige Schwester der vorhergehenden 2 Fälle.
Linkes Schlüsselbein normal, aber rechtes geteilt; das sternale Stück
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Ueber kongenitale Osteodysplasie der Schlüsselbeine etc.
445
ist etwas über 5 cm lang, das akromiale 3 cm, das sternale Rudi¬
ment „reitet“, wie bei den anderen Fällen, auf dem akromialen.
Der rechte Processus transversus des letzten Halswirbels ist so stark,
daß man ihn für eine Halsrippe halten muß Früher sollen Klump¬
füße bestanden haben, die mit Erfolg behandelt wurden.
(Fall 26): 7 Jahre alter Bruder der vorigen. Das rechte
Schlüsselbein besteht aus zwei Stücken, das sternale ist 3 *2 cm,
das akromiale 4 1 /» cm lang. Die Enden sind einander stark ge¬
nähert und durch ein Band miteinander verbunden. Geringe Beweg¬
lichkeit der Rudimente nach allen Richtungen, die sternale Gelenk¬
verbindung ist sehr locker; links besteht an der entsprechenden
Stelle des Schlüsselbeins eine „Einknickung“, aber keine Kontinuitäts¬
trennung. Die Processus transversi des letzten Halswirbels sind sehr
groß und prominent.
(Fall 27): 19jähriger Bruder der vorigen. Beide Schlüssel¬
beine zeigen an denselben Stellen, wo sich bei dem Vater und den Ge¬
schwistern die Kontinuitätstrennungen finden, Hervorragungen bezw.
Knickungen, wie auf der linken Seite des vorigen Falles. Am Sternum
starke Depression, so groß, daß eine halbe normalgroße Orange darin
Platz hat. (Trichterbrust, d. Verf.)
Bei einem 16jährigen Sohn derselben Familie finden sich nor¬
male Schlüsselbeine, ebenso bei einer 5jährigen Schwester; bei dem
Bruder waren die Processus transversi des letzten Halswirbels promi¬
nent. (Carpenter 1899.)
Fälle 28 — 31 inklusive [10] x ): Bei 3 Fällen sind nur
sternale Rudimente vorhanden von 5—7 cm Länge, beim 4. Fall sind
auch akromiale Stücke vorhanden, in ligamentöser Verbindung mit
dem sternalen.
(Jenner, zit. nach Carpenter.)
Fall 32 [17]: 54jähriger Mann. Vater starb mit 72 Jahren
an Asthma, die Mutter im Alter von 62 Jahren an einer Uterus¬
blutung. Ein Bruder litt an Säuferwahnsinn, einer leidet an Herz¬
krankheit, ein dritter an Krämpfen, ein vierter starb an unbekannter
Krankheit, eine Schwester endlich ist gesund und verheiratet. Patient
ist zur rechten Zeit normal geboren. Die Fontanella bregmatica ist
*) Leider konnten wir die Originalarbeit Jenners, in der diese 4 Fälle
beschrieben werden, trotz angestrengten Suehens nicht finden. Sie werden da¬
her nur nach Carpenters [10] kurzer Erwähnung zitiert.
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Max. M. Klar.
nicht knöchern geschlossen, der Schädel ist groß, quadratisch, un¬
regelmäßig, mit vorspringenden Scheitel- und Stirnbeinhöckern und
eingedrückten Fontanellengegenden, Prognathismus, dicker, kurzer
Hals. Von beiden Schlüsselbeinen ist nur der sternale Teil in Ge¬
stalt von zwei zarten, aber breitbasig und straff befestigten Knochen¬
stücken vorhanden; Bewegungen der Arme sind frei und normal. Es
besteht, bei sehr kleiner Gestalt, starke rechtskonvexe dorsale Kypho¬
skoliose und sehr starke Lendenlordose, Das rechte Schulterblatt
steht flügelförmig ab. Der Thorax ist unregelmäßig geformt, die
linke Seitenwand ist eingebogen, der antero-posteriore Thoraxdurch¬
messer ist größer als der quere.
(Gianettasio 1899.)
Fall 33 [44 u. 61]: Junger Mann, Der älteste von elf Ge¬
schwistern, die, ebenso wie die Mutter, gesund sind. Der Vater hat
eine Skoliose und eine Schädelmißbildung, die der des Sohnes gleicht.
Keine Rachitis; Lues in der Familie nicht nachzuweisen. Die Dif-
formität des Kopfes und der Schultern fällt gleich beim ersten An¬
blick auf. Die Schultern fallen steil ab, der Oberarmkopf erscheint
nach unten und innen verschoben. Fossae supra- und infraclavicu-
lares nicht vorhanden. An Stelle der Schlüsselbeine fühlt man beider¬
seits nur je eine 6 cm lange, harte Spange, die in normaler Weise
mit dem Sternum artikuliert und, nach dem Röntgenbild zu schließen,
nur aus Knorpel besteht. Das rechte Rudiment setzt sich in einen
derben, bindegewebigen Strang fort, der nach dem Schulterblatt zieht,
links ist ein Strang zwar nicht fühlbar, doch sichtbar. Am Schädel
mehrfache Anomalien: Stirn- und Scheitelbeinhöcker sind stark auf-
getrieben, die Gegend der Hinterhauptfontanelle ist tief eingesunken,
der rechte Schenkel der Lambdanaht tritt stark hervor. Die Nase
zeigt eine Deviation nach rechts, die Zähne sind sehr defekt. Es
besteht eine ziemlich starke Skoliose. Die Muskeln sind normal;
die Funktion der Arme ist vollkommen normal, die Schultern können
passiv vorn bis auf wenige Zentimeter einander genähert werden.
(Sachs 1902 und Wulff 1901.)
Fälle 34 u. 35 [50]: Die Kinder sind 7 und 3 Jahre alt.
Die Abnormität wurde zufällig bei der Untersuchung entdeckt. Die
Schultern sind sehr frei beweglich und lassen sich nach vorn unter
das Kinn, bis zur Berührung untereinander, bringen; Funktion des
Schultergelenks sonst völlig normal. Der Vater des älteren der
beiden Kinder hatte auf beiden Seiten Schlüsselbeinbrüche erlitten,
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Ueber kongenitale Osteodysplasie der Schlüsselbeine etc. 447
die schlecht geheilt waren. Die linke Clavicula hatte er schon im
Alter von 2 Jahren gebrochen. Der 3jährige Knabe zeigte noch
weit offene Fontanellen und eine klaffende Frontalnaht, während bei
dem 7jährigen Mädchen die Fontanellen und Nähte zwar geschlossen
sind, aber tiefe Rinnen die früheren Spalten markieren. Die Clävi-
culae fehlen bei beiden Kindern yollständig.
(Sherman, 1903.)
Fälle 36 u. 37 [42]:
12jähriger Knabe, kommt wegen Lungenkatarrhs in Be¬
handlung. Größe dem Alter entsprechend, spärlicher Panniculus
adiposus, Hautfarbe blaß, Thorax phthisisch. Die Schultern hängen
nach vorn und unten, die Schulterblätter stehen flügelförmig ab. Die
Fossae supraclaviculares sind auf Kosten der Foss. infracl. bedeutend
vergrößert, und ihre untere Begrenzung wird nicht, wie normaler¬
weise, durch einen, im medialen Teil nach vorn, im lateralen Teil
nach hinten convexen Bogen gebildet, sondern die untere Grenzlinie
verläuft in einer frontalen Ebene und ist ungefähr in ihrer Mitte
2mal rechtwinklig geknickt. Entsprechend der Knickungsstelle sieht
man auf jeder Seite je zwei rundliche Prominenzen, die knapp unter¬
einander liegen. Der palpierende Finger gelangt, vom akromialen
Claviculaende beginnend, glatt bis in die Mitte der Clavicula, fühlt
hier die untere rundliche Prominenz, muß aber, um die Kontur der
Clavicula weiter verfolgen zu können, über eine kleine Stufe hinauf¬
gleiten, deren oberster Teil durch die obere rundliche Prominenz ge¬
bildet wird. Von der einen Prominenz zur anderen fühlt man straffe
Bandmassen ziehen. Die Palpation ergibt also, daß die beiden
Claviculae aus je zwei Teilen bestehen, die, den zwei Knickungs¬
winkeln entsprechend, durch straffe Bandmassen gewissermaßen
pseudarthrotisch untereinander verbunden sind. Dabei sind die Cla¬
viculae in ihrem ganzen Verlauf von normaler Dicke, die pseudar¬
throtisch miteinander verbundenen Rudimentenden erscheinen sogar
etwas kolbig verdickt. Bei passiven Bewegungen gelingt es, das
eine „Fragmentende“ um das andere, fixiert gehaltene, herumzu¬
führen. Dabei besteht nicht etwa Krepitation, sondern man fühlt
ganz deutlich, daß zwei glatte Flächen einander berühren. Die
Schultern können passiv bis zur Berührung zusammengebracht wer¬
den; die beiden Enden weichen beiderseits dabei nach oben aus.
Der Fall wurde als pseudarthrotisch ausgeheilte, frühzeitig er¬
worbene Fraktur beider Claviculae gedeutet, obschon die Symmetrie
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XV. Bd. 29
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Max M. Klar.
der beiden Trennungslinien einige Bedenken wachrief. Als aber die
8jährige Schwester des Patienten an ihren Schlüsselbeinen untersucht
werden konnte und diese denselben Defekt aufwies, mit noch größerer
Motilität, indem sie bloß durch Kreuzung der Arme die Schultern
aneinander bringen konnte, da mußte man an angeborene Mißbildung
denken. Auch Trauma intra partum ist ausgeschlossen; beide Kinder
wurden leicht geboren, der Knabe in Schädel-, das Mädchen in Ge¬
sichtslage.
(Preleitner, 1903.)
Fall 38 [20]: 12jähriges Mädchen, klein, für sein Alter offen¬
bar sehr zurückgeblieben. Körperlänge 1,18 m, Körpergewicht nur
17,8 kg, Rumpflänge vom 7. Halswirbel bis zum Sitz 45 cm, Beine
54 cm lang. Die Maße und das Gewicht entsprechen denen eines
7—8jährigen normalen Kindes. Die Schädelmaße dagegen sind dem
Alter entsprechend: Horizontalumfang 507 mm, Kopflänge 174 mm,
Kopf breite 147 mm. Auffallend ist am Schädel eine mediane, lineare
Vertiefung der Stirngegend, wodurch die beiden Tubera frontalia
stark hervortreten. Diese Vertiefung ist durch Persistenz der Stirn¬
naht bedingt. Von den unteren Schneidezähnen fehlt der eine mitt¬
lere, einer der oberen liegt, mit seiner Schneide nach oben gewandt,
schmal und verkümmert im Zahnfleisch. Die Kuppe des sehr spitzen
und hohen Gaumengewölbes reicht 2,5 cm über den oberen Alveolar¬
rand. Die Grenze der Schlüsselbeingruben fehlt, die Akromien
springen stark hervor. Entfernung der Oberarmköpfe voneinander
18 cm, aktiv kann sie das Kind bis zu einer Entfernung von 7 cm
einander nähern, passiv können sie zur Berührung untereinander ge¬
bracht werden. Ebenso kann man die Schultern weit nach hinten
bewegen, dabei spannen sich Hautfalten in der Schlüsselbeingegend
unter starkem Anschwellen der Jugularvenen an. Die Schlüsselbeine
fehlen in ihrem lateralen Teil vollständig, medial setzt sich an das
Manubrium sterni beiderseits je ein 2 cm langer, freiendigender
Stumpf an. Die Schulterblätter sind in Gestalt und Größe normal,
ebenso beiderseits Processus coracoides und Ligam. coraco-acromiale,
das sich scharfrandig absetzt. Scapulae stehen flügelförmig ab, etwas
höher als normal befindlich. Innere Organe gesund. Hühnerbrust
mit terrassenförmig vortretendem Brustbein und starker Abknickung
der Rippen nahe der Knorpelknochengrenze.
Muskeln: Pectoralis hat beiderseits schwache Clavicularpor-
tion, setzt an den medialen Clavicularudimenten an, das vordere
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Ueber kongenitale Osteodysplasie der Schlüsselbeine etc.
449
Drittel des Deltoides entspringt beiderseits vom Akromion, Sterno-
cleidomastoides beiderseits normal, mit zwei Köpfen, Trapezius ver¬
läuft beiderseits nur zur Spina scapulae und zum Akromion. Keine
Bewegungsstörungen, Arme völlig frei und sicher brauchbar. Eltern
und Geschwister der Patientin haben wohlgeformte Schlüsselbeine
und sind frei von Mißbildungen. (Groß, 1903.)
Diese 38 Fälle konnten wir in der Literatur finden; sie sind
dem unsrigen zum Teil ähnlich, zum größten Teil aber fast gleich
geartet. Die charakteristischen Symptome sind: Mangelhaftes
Längenwachstum des Körpers, teilweises bis voll¬
ständiges Fehlen der Schlüsselbeine, Störungen der
Zahnentwickelung, spitzbogenförmiger Gaumen bis
Gaumenspalt, Schädelmißbildung bis Persistenz der
Schädelfontanellen, besonders der Stirnfontanelle, und
Kyphoskoliose.
Der Vollständigkeit halber seien hier noch einige Fälle erwähnt,
bei denen entweder gänzlicher Defekt der Schlüsselbeine mit gleich¬
zeitigem Fehlen anderer Thoraxteile vorlag, oder bei denen andere
Anomalien in der Bildung der Schlüsselbeine gefunden wurden:
Morand [37] sezierte im Jahre 1759 ein weibliches Kind, dem
beide Schlüsselbeine, das Sternum und die Rippenknorpel fehlen.
Das Herz und ein Teil der Lunge waren prolabiert durch die Thorax-
Öffnung. Das Kind hatte 20 Stunden gelebt.
Lediberder [31] beschreibt 1835 die Leiche eines Kindes,
das 16 Tage gelebt hat. Es fehlen auf der linken Seite das Schlüssel¬
bein, das Schulterblatt und der Arm. Am rechten Arm fehlen
Radius, Metacarpale I und Daumen, sowie Os metacarpale V und
der Kleinfinger.
Bennet [5] fand ein an seinem äußeren Ende N/'^rmig g e “
spaltenes Schlüsselbein. Der eine Ast artikulierte normal, der andere,
breitere, nach hinten verlaufende, entsprang außen vom Processus
coracoides und besaß ein vollständiges Gelenk mit dem oberen Rand
der Spina scapulae. Einen ähnlichen Fall berichtet Giovanni [18].
Spencer [54 a u. b] sah bei einem 2jährigen Mädchen mit
allen Symptomen überstandener Rachitis am inneren Ende der
Schlüsselbeine eine feste Masse zwischen dem Schlüsselbein und der
ersten Rippe, die beiderseits das Schlüsselbein mit dem Sternum ver¬
band, die sternalen Enden der Schlüsselbeine erschienen also nach
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Max M. Klar.
vorwärts disloziert und verdickt« Die Deformität entwickelte sich
im Alter von 6 Monaten.
Heinrich Haeckel [69] endlich veröffentlichte einen Fall,
bei dem die Schlüsselbeine eine gewisse Aehnlichkeit mit den
Fällen 26 und 27 unserer Aufstellung (von Carpenter) zeigen:
14jähriges Mädchen mit leichter linkskonvexer Dorsalskoliose. Mm.
pectoralis major, pectoralis minor und serratus anticus major fehlen
links vollständig. Die linke Scapula ist in allen Dimensionen kleiner als
die rechte, das linke Schlüsselbein ist ein wenig stärker gebogen und
zeigt an der Grenze des äußeren und mittleren Drittels eine Ver¬
dickung, ohne daß jemals eine Fraktur stattgefunden hat; das ster-
nale Ende der 3. und 4. linken Rippe, die ein wenig tiefer als das
Niveau der übrigen liegen, fehlt.
Offene Stirnfontanellen (Fontanella mediofrontalis oder meto-
pica oder glabellaris genannt), wie sie bei den beschriebenen 39 Fällen
sogar im extrauterinen Leben noch Jahre hindurch vorhanden waren
oder gar noch vorhanden sind, fanden unter anderen Autoren Le
Courtois [30] 6mal bei 175 Schädeln von Föten und Kindern und
G. Schwalbe [48a u. b] bei 7 Kinderschädeln der Straßburger
anatomischen Sammlung, unter 11 Schädeln von Neugeborenen 3mal,
unter 5 Schädeln von Kindern aus dem 1. Lebensmonat 2mal und
unter 17 Kindern aus dem 2.—12. Lebensraonat lmal, und endlich
lmal unter 13 Kinderschädeln von 1 — l 1 /* Jahren, also bei 46 Kinder¬
schädeln überhaupt 7mal.
Manouvrier [33] berichtet über einen Fall von Schädel- und
Zahnanomalien, bei dem für uns folgende Punkte interessant sind:
Fast alle Zähne sind in den Alveolen eingeschlossen geblieben, die
selbst unvollständig gebildet sind. Die Oberkiefer sind unvoll¬
ständig entwickelt und durch eine transversale Naht getrennt.
Die Sutura metopica ist persistierend und in der Höhe der Stirn¬
beinhöcker befindet sich in der Mitte eine breite Fontanelle. Die
Ossa parietalia zeigen in der Höhe der Tubera eine Verdickung.
Zwei große Ossa Wormiensia finden sich in der Sagittalnaht, die
Lambdanaht weist solche Zwickelknochen in ihrer ganzen Ausdeh¬
nung auf.
Da diese Schädel viele Aehnlichkeiten mit den bei unseren
Fällen beobachteten Schädelanomalien aufweisen, so ist es zu be¬
dauern, daß den Untersuchern nicht auch das übrige Skelett zur
Verfügung gestanden hat; freilich wurden von diesen Autoren die
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451
Schädeldifformitäten nur als Anomalien und nicht als Produkte
eines pathologischen Prozesses angesehen.
Bei den 39 beschriebenen Fällen finden wir beiderseitige
Schlüsselbeinmißbildung 32mal, darunter 3mal totales Fehlen, ein¬
seitigen partiellen Mangel der Clavicula finden wir 7mal, beider¬
seitige »Einknickung“ ohne eigentlichen Defekt lmal, einseitige
Einknickung des Schlüsselbeins bei teilweisem Fehlen der anderen
Clavicula 3mal. In 8 Fällen wird der Claviculadefekt allein be¬
schrieben, ohne jede begleitende Mißbildung; die beschriebene Schädel¬
mißbildung besteht zu gleicher Zeit — in ihren Abstufungen vom
Hervortreten der Stirn- und Scheitelbeinhöcker bis zum Offenbleiben
der Stirn- und Scheitelfontanelle (lmal sogar Anencephalie) — in
15 Fällen, Störungen in der Entwicklung der Zähne werden von
8 Patienten mit Schlüsselbeindefekt berichtet; bei 9 Fällen finden
wir neben den anderen Mißbildungen Skoliose bezw. Kyphoskoliose,
diese ist aber wohl häufiger vorhanden gewesen, und nur von einem
oder dem anderen Autor übersehen bezw. als irrelevant betrachtet
und deshalb nicht mit beschrieben worden. Einmal ist eine Exostose
der Cavitas glenoidalis scapulae beschrieben, ein anderes Mal ein
Knochenfortsatz am Processus coracoides (Fall 1); beide hatten die
Richtung auf das stemale Schlüsselbeinrudiment. Trichterbrust be¬
stand bei 5 Patienten, leichtes Genu valgum wurde 4mal festgestellt,
Halsrippen 3mal, angeborener Klumpfuß 2mal, lmal doppelseitig,
lmal einseitig; der, normale Schlüsselbeine aufweisende, Vater und
alle vier sonst ebenfalls normalen Geschwister eines Patienten hatten
Klumpfüße (Fall 11); ebenso zwei sonst normale Töchter eines
Patienten, ein sonst gesundes Kind desselben Mannes hatte vom Vater
die Trichterbrust geerbt; Hühnerbrust bestand bei zwei Patienten.
Die Muskulatur der Schlüsselbeingegend war bei vielen Fällen
normal; das Platysma wurde stets intakt beobachtet. Die übrigen
in Betracht kommenden Muskeln wählten an Stelle ihres Ur¬
sprunges oder Ansatzes am Schlüsselbein die Rudimente, eventuell
den die Clavicula ersetzenden fibrösen Strang, oder benachbarte
Skeletteile. Der M. sternocleidomastoides war meist normal,
wenn auch manchmal etwas atrophisch; in einem Fall bestand
auf der einen Seite ein Defekt der clavicularen Portion. Vom
M. trapezius fehlte meist der an die Clavicula sich ansetzende Teil;
war dieser doch vorhanden, so inserierte er am akromialen Rudiment,
an dem dem Schlüsselbein entsprechenden Band, oder am Akromion
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452
Max M. Klar.
selbst. Ebenso wurde oft Mangel der clavicularen Portion des
M. deltoides beobachtet. Der M. pectoralis major war meist voll¬
ständig vorhanden, wenn auch der an dem Schlüsselbein inserierende
Teil meist atrophisch war; in einem Fall fehlte die claviculare Por¬
tion des Muskels ganz. Der M. subclavius, der ja eigentlich nur
anatomischer Untersuchung zugänglich ist und dessen Vorhandensein
durch physiologische und elektrische Prüfung nicht festzustellen ist.
wurde von den meisten Autoren nicht beachtet: Gegenbaur nimmt
bei seinen 4 Fällen an, daß dieser Muskel fehlt; Scheuthauer [4o]
beschreibt bei einem seiner Fälle (Fall 8), bei dem ein mittleres,
in einen Bandstreifen eingebettetes Rudiment der Clavicula beider¬
seits vorhanden war, einen sehr stark entwickelten M. subclavius;
wir konnten den Muskel bei unserer Patientin nicht nachweisen. Die
HereditätsVerhältnisse sind folgende: Die Claviculamißbildung bestand in
vier Familien bei einem der Eltern und bei einem oder mehreren der
Kinder (Fälle 3—6, 17—20, 22—27) und in einer Familie bei zwei
Geschwistern (Fälle 36 und 37), also in fünf Familien im ganzen
bei 16 Fällen; lmal war die Schlüsselbeinmißbildung von der Mutter
auf drei Kinder zweier verschiedener Ehen vererbt (Gegenbaur),
lmal vom Vater auf fünf Kinder (Carpenter), lmal vom Vater
auf den Sohn (Marie und Sainton, Pierre) und endlich lmal von
der Mutter auf die Tochter. Eines Patienten (Fall 33) Vater wies
dieselbe Schädelmißbildung auf wie sein Sohn, und lmal hatte ein
Sohn die Schädelmißbildung, während der Vater und der andere
Sohn (Fälle 17 und 18) die Schädel- und die Schlüsselbeinmi߬
bildung aufwiesen. Darüber, ob die Mißbildungen vererbt sind oder
nicht, ist bei 11 Fällen nicht die Rede, zumal da es sich bei
einem Teil von diesen uni anatomische Präparate handelt; sicher
nicht vererbt sind die Mißbildungen bei 5 Fällen, inklusive
unserem Fall, nicht mit Sicherheit festzustellen war bei 2 Fällen
(Fälle 11 und 15), ob nicht die Mutter dieselben Deformitäten ge¬
habt hatte.
Bei zweien der vererbten Fälle aber wurde schon in der dritten
Generation die Rückkehr zur normalen Entwicklung von Gegen¬
bau r [16] beobachtet: ein Kind des Sohnes und ein Kind der
Tochter (Fälle 3—6) haben wohlgebildete Schlüsselbeine. Gegen-
baur äußert sich hierüber:
„Es hat sich so durch den Einfluß des hinsichtlich der Clavi¬
cula normaler beschaffenen zeugenden Teils wieder die Regel her-
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Ueber kongenitale Osteodysplasie der Schlüsselbeine etc.
453
gestellt. Welche Bildung Platz gegriffen haben würde, wenn auch
der andere der zeugenden Teile mit dem gleichen Defekte behaftet
gewesen wäre, eine Frage, der man sich nicht leicht entschlagen
kann, läßt sich nur vermuten. Was bis jetzt über die Erblichkeits¬
verhältnisse physischer wie psychischer Eigentümlichkeiten bekannt
ist, läßt es in hohem Grade wahrscheinlich erscheinen, daß, unter
der Voraussetzung derselben Vorbedingung für spätere Generationen,
das zur Norm sich gestaltet haben würde, was vorher nur eine
Ausnahme war. “
Wenn wir uns nun über die Aetiologie der uns heute beschäfti¬
genden Kombination angeborener Mißbildungen der Schlüsselbeine,
der Schädeldeckknochen, des Gebisses und der Wirbelsäule Klarheit
verschaffen wollen, so müssen wir uns zunächst überlegen, zu welchem
Zeitpunkt des intrauterinen Lebens die Ursache jeder einzelnen Mi߬
bildung in Aktion getreten sein muß. Dazu sei uns zunächst ein
Rückblick auf die onto- und phylogenetische Entwicklungsgeschichte
der Clavicula gestattet. Darüber, ob das Schlüsselbein des Menschen
ein primordialer Knochen, also knorpelig präformiert oder ein Be¬
legknochen sei, tobte der Streit unter den Anatomen in den Sechziger¬
jahren des verflossenen Jahrhunderts. Auf der einen Seite behaup¬
teten die Untersucher, besonders Bruch auf Grund seiner Studien
[66 und 8], daß die menschliche Clavicula ein ohne knorpelige
Grundlage sich entwickelnder, also sekundärer Knochen, Hautknochen
sei: Bei einem menschlichen Fötus von 7—8 Linien Länge (also
etwa aus der 8. Embryonalwoche) bestand die Clavicula aus einer
winzigen Knochenscheibe von dem charakteristischen Gefüge der
sekundären Knochenanlagen, mit strahligen Knochenkörperchen,
ohne eine Spur von Knorpel daran. Sie war zugleich der einzige
und erste Knochenkern im ganzen Fötus, d. h. in dem bereits ge¬
bildeten Primordialskelett war noch kein einziger Knochenkern auf¬
getreten. Bei einem Fötus aus dem 3. Monat hatte die Clavicula
an beiden Enden, am merklichsten am vorderen Ende, eine dünne
Knorpellage angesetzt, worin primordiale Verknöcherung mit großen
strahlenlosen Knochenkörperchen das sekundäre Mittelstück ergänzte.
Demgegenüber kam damals Gegenbaur [16, 64, 65, 67] durch
seine Untersuchungen von Föten, die einzeln hier aufzuzählen zu
weit führen würde, zu der Ansicht, daß das Schlüsselbein ein knor¬
pelig präformierter Knochen sei, und daß die Knorpelanlage der
Clavicula sich nur in unwesentlichen Dingen von den Knorpeln an-
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454
Max M, Klar.
derer Knochen unterscheide. Die Wahrheit liegt, wie so häufig, in
der Mitte: Das mittlere Stück der Clavicula ist in seiner Anlage
Hautknochen, die sternalen und akromialen Enden sind knorpelig
präformiert. Das Schlüsselbein hat also eine ähnliche Entwicklung
wie der Unterkiefer, der ja auch sehr früh als Hautknochen ent¬
steht, mit dem aber später ossifizierende Reste des M ecke Ischen
Knorpels verwachsen (Wiedersheim [70]). Gegenbaur selbst
äußert sich über diesen Punkt in seinem Lehrbuch [62] jetzt fol¬
gendermaßen :
*Das Schlüsselbein ist der am frühesten ossifizierende Knochen.
Die Ossifikation ist zugleich das erste Zeichen der Anlage des
Knochens, der nicht, wie andere, knorpelig präformiert ist.
An einer der Mitte des späteren Skeletteiles entsprechenden Stelle
entsteht aus indifferentem Gewebe ein Knochenkern, an dem sowohl
nach dem Sternum als auch nach dem Akromion hin Knorpel¬
gewebe sich auszubilden beginnt. Dieser Knorpel bedingt das Länge¬
wachstum des Schlüsselbeins. Von dem in der Mitte der Anlage
zuerst aufgetretenen Knochenstückchen aus erstreckt sich Knochen¬
gewebe über den Knorpel und wächst mit ihm unter zunehmender
Dicke gleichfalls in die Länge aus, so daß dann der größte Teil
der Clavicula äußerlich durch Knochen dargestellt ist. Dieser von
allen anderen Knochen abweichende Entwicklungsgang leitet sich von
den Beziehungen ab, welche die Clavicula bei niederen Wirbeltieren
besitzt. Sie ist hei Fischen ein reiner Integumentknochen, und
zwar einer, der sich am frühesten ausbildet. In dem Maße, als sie
bei höheren Wirbeltieren mit anderen Skeletteilen sich beweglich
verbindet, kommt an dem Knochen noch Knorpel zur Ausbildung,
bei den Säugetieren sehr frühzeitig, da hier die Clavicula die relativ
größte Beweglichkeit erhalten hat. Ihre Ausbildung geht Hand in
Hand mit der Freiheit der Bewegungen der Vordergliedmaßen. Wo
diese Freiheit beschränkt, und die Vordergliedmaße bloße Stütze des
Körpers ward, ist die Clavicula rückgebildet oder kommt gar nicht
mehr zur Entwicklung, z. B. bei vielen Raubtieren, allen Huf¬
tieren etc. Rudimente der Claviculae finden sich bei manchen Carni-
voren (Katze), Nagern (Hase) u. a. tt Bei den Flugvögeln (Cari-
naten) ist das als rein dermaler Knochen sich bildende Schlüssel¬
bein wohl entwickelt (Wiedersheim [60]), und zwar umso kräftiger,
ein je besserer Flieger der Vogel ist.
Da also gerade das Mittelstück der Clavicula, das bei fast allen
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Ueber kongenitale Osteodysplasie der Schlüsselbeine etc.
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unserer Fälle — nur bei zweien nicht l ) — fehlt (soweit nicht totaler
Defekt besteht), schon in der 7. Woche des embryonalen Lebens
sich als Hautknochen bildet, so müssen wir annehmen, daß die Ur¬
sache der Mißbildungen, für die wir wohl, wegen der bei den Fällen
ziemlich konstanten Kombination, ein gemeinsames, zu gleicher
Zeit wirkendes ätiologisches Moment verantwortlich zu machen be¬
rechtigt sind, schon vor der 7. Embryonalwoche auf den Fötus ein¬
gewirkt haben muß. „Es entstehen ja überhaupt sehr viel häufiger
Mißbildungen in früher Embryonalzeit als in späterer. Die schwersten
Mißbildungen, die Mißbildungen, welche nicht nur ein Organ, son¬
dern Organsysteme oder viele Stellen der Körperfläche treffen,
werden im allgemeinen eine frühe Entstehungszeit annehmen lassen“
(E. Schwalbe [49]).
Vergegenwärtigen wir uns nun einmal die Ansichten, die die
Autoren der sich mit der beschriebenen Kombination von Knochen¬
mißbildungen befassenden Arbeiten über die Aetiologie geäußert
haben: Einige lassen die Frage nach der Ursache der Mißbildung
unberührt. Andere nehmen hereditäre Lues an. Oft ist ja die er¬
erbte Syphilis für Knochendeformitäten des Schädels — infolge
Hydrocephalus — als Aetiologie angesehen worden; aber eine solche
Kombination von Knochenmißbildungen ist bei hereditärer Syphilis
noch nicht beobachtet worden, es sind auch bei keinem der sämt¬
lichen zitierten Fälle sonstige Zeichen von Syphilis gefunden worden.
Es wurden zwar in 8 Fällen kariöse und unregelmäßig gestellte
Zähne beschrieben, aber die für Lues hereditaria charakteristischen
Hutchinsonschen Zähne niemals festgestellt. Pierre Marie und
Paul Sainton bezeichneten ihre vier, später von Pierre in seiner
These bearbeiteten Fälle [17—20], bei deren erster Demonstration
im Mai 1897 in der „Socidte m£dicale des Höpitaux“ in Paris und
in ihrer ersten Veröffentlichung als „erbliche Hydrocephalie“, da
ihnen als Neurologen besonders die Schädelform imponierte, korri-
9 Diese 2 Fälle, die von Scheuthauer [45], bei denen nur das
Mittelstuck entwickelt ist, nehmen morphologisch und ätiologisch überhaupt
eine Sonderstellung ein (Fälle 8 und 9), siehe weiter unten im Text.
Die 3 Fälle von einseitiger und der eine Fall von doppelseitiger „Ein¬
knickung“ (Fall 27) rechnen wir deshalb auch zu den Mißbildungen, weil wir
annehmen, daß auch bei ihnen das Mittelstück nicht angelegt wurde, und daß
nur die beiden Endstücke in einer späteren Embryonalperiode sich trafen und
deform zusammenwuchsen.
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456
Max M. Klar.
gierten ihre Ansicht aber später und gaben den Fällen, die sie für
ganz singulär hielten, den Namen „ Dysostose cl&do-cränienne here-
ditaire“, ein Name, der die Aetiologie nicht angibt und dem ich die
Benennung „Osteodysplasia congenita“ nachgebildet habe. Dowse[12]
denkt noch an einen Bruch der Schlüsselbeine in utero oder unter
der Geburt, bekennt sich aber schließlich zu der Ansicht, daß es
sich um ein „vitium primae formationis“ handle, das dadurch viel¬
leicht entstanden sein könnte, daß sich die Mutter der Patientin
während der Schwangerschaft „versehen“ habe; diese sei nämlich
bei ländlichen Spaziergängen öfter durch Frösche, an deren Anblick
sie nicht gewöhnt gewesen sei, heftig erschreckt worden, und das
Kind habe bei der Geburt „einen Kopf und Augen wie ein Frosch"
gehabt und habe froschähnliche Bewegungen mit den Extremitäten
gemacht. Die Mehrzahl der Autoren aber, wie z. B. Schorstein.
Gianettasio, Walsham, Scheuthauer, glauben in der sogenannten
„fötalen Rachitis“ die Ursache für die Knochenmißbildungen ihrer
Fälle erkannt zu haben; Schorstein war dabei mit der Tatsache
wohl vertraut, daß die Knochen, die bei seinem und den ihm be¬
kannten Fällen von Gegenbaur [16] und Scheuthauer [45]
mangelhaft entwickelt waren, Hautknochen sind (Claviculae und Ossa
frontalia, parietalia, occipitalia, nasalia) und daß deren Bildung schon
in der 7.—9. Fötalwoche beginnt, und deshalb verlegten er und
Gianettasio [17] die angenommene Erkrankung des Fötus an
„Rachitis“ schon in den 2. Fötalmonat. Man machte sich über¬
haupt bisher bei angeborenen Leiden im Knochensystem oft die
Sache ziemlich leicht, insofern, als man alle bei der Geburt bemerk¬
baren Knochenanomalien, die mit Verdickungen in den Epiphysen
und gehinderter oder fehlerhafter Entwicklung der Diaphysen und
der Schädelknochen auftraten, auf Rachitis bezog; und da diese
Prozesse im Mutterleibe entstanden waren, nannte man sie eben ein¬
fach „fötale Rachitis“. Nun, die Akten über die „fötale Rachitis“
sind nunmehr als abgeschlossen zu betrachten, und zwar in dem
Sinne, daß es eine „fötale Rachitis“ überhaupt nicht gibt.
Die fötale Knochenerkrankung, deren bei dem Neugeborenen oder
Fötus vorhandene Folgen — mangels mikroskopischer Untersuchung —
oft Anlaß zur Verwechslung mit Rachitis gegeben hat, ist die
„Chondrodystrophia foetalis“, die von Kaufmann im Jahre 1892 [26]
in einer ausführlichen Monographie — 13 Fälle — und von
Stoeltzner [55a und 55b], Scholz [46], Johannesen [24]
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Ueber kongenitale Osteodysplasie der Schlüsselbeine etc.
457
und anderen in kleineren Arbeiten beschrieben worden ist; Silber¬
stein [51] veröffentlicht auch einen solchen Fall, bezeichnet ihn
aber— im Jahre 1903! — noch als „fötale Rachitis“, Es handelt
sich bei der „Chondrodystrophia foetalis“ um totgeborene oder in
den ersten Lebenstagen oder -Wochen gestorbene Individuen, die
folgenden Befund aufwiesen: Starke Verdickung der Epiphysen und
Verkürzung der Diaphysen der Extremitätenknochen, Offenbleiben
der Fontanellen, besonders auch zuweilen der Stirnfontanelle, Klein¬
heit der Schläfenbeinschuppen und der Nasenbeine, Gehobensein
der Schädelbasis und Knickung und Verkürzung des
ziemlich steil abfallenden Clivus; dieser ist sowohl in seinem
sphenoidalen als occipitalen Anteil so sehr verkürzt, daß die ganze
Schädelbasis zu kurz wird, und dadurch die Nasenbeine, indem ihre
oberen Enden durch die verkümmerte Schädelbasis nicht genügend
hinausgedrängt wurden, fast horizontal stehen und daher einen sehr
kleinen Gesichtswinkel bilden helfen; dadurch bekommt das Gesicht
einen kretinistischen Ausdruck, wie ja überhaupt bei den meisten
Fällen auch der Körper kretinistischen Habitus zeigt, ein Umstand,
der neben den gelegentlich gefundenen Schilddrüsenveränderungen
Stoeltzner veranlaßte, die Krankheit bei gewissen Fällen auch als
„fötales Myxödem“ zu bezeichnen. Die Verkürzung der Schädel¬
basis ist entstanden durch allzu rasches Knorpelwachstum an der
Synchondrosis spheno-occipitalis und darauf folgende zu frühzeitige
Verknöcherung dieser Synchondrose („Os tribasilare“, Virchow).
Hier sind wohl die beiden ersten Fälle (8 und 9) von Scheut-
hauer einzureihen und sicher der in Scheuthauers Arbeit [45]
beschriebene, hier im Interesse der Kürze nicht näher zu zitierende
vierte Fall, der den für „Chondrodystrophia foetalis“ charakteristi¬
schen Befund darbietet. Aber gerade bei diesem Fall sind die
Schlüsselbeine hypertrophisch und nicht etwa atrophisch oder
gar defekt, und bei allen übrigen Fällen von „Chondrodystrophia
foetalis“ von Kaufmann u. a. ist die Clavicula immer noch am
ehesten normal gefunden worden. Wir sind auch deshalb schon
geneigt, Scheuthauers 2 erste Fälle (8 und 9) aus dem Rahmen
des uns heute beschäftigenden Krankheitsbildes wegzulassen und bei
der fötalen Chondrodystrophie einzureihen, weil bei ihnen das Mittel¬
stück der Clavicula, das, wie wir oben gesehen haben, als Haut¬
knochen angelegt wird, ausgebildet ist, während gerade die als
knorpelig präformiert anzunehmenden sternalen und akromialen Enden
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Max M. Klar.
der Schlüsselbeine fehlen. Die „Chondrodystrophia foetalis“ ist, nach
den Befunden zu schließen, eine Krankheit, die wahrscheinlich nicht
vor dem letzten Drittel des fötalen Lebens auftritt, zu einer
Zeit also, wo die Schlüsselbeine schon vollständig ausgebildet sind.
Es kann bei allen den Fällen von fötaler Chondrodystrophie kein
Zweifel sein, daß das Skelett auf normale Weise angelegt gewesen
ist und dann erst erkrankte, während bei unseren 37 Fällen die
fehlenden Knochenteile sicher gar nicht zur Anlage gekommen
sind, eine Annahme, die Ca rp ent er (1. c.) ausspricht, und der wir
beistimmen müssen. Die „Chondrodystrophia foetalis“ kann also
nicht die Ursache der oben berichteten Mißbildungen sein. Bei einem
ähnlichen Fall, den Johannesen [24] beschreibt, kann man zu¬
nächst vielleicht im Zweifel sein, ob „Chondrodystrophia* oder „Osteo-
dysplasia congenita“ vorliegt, aber wir glauben, aus dem Umstand,
daß die Schlüsselbeine entwickelt sind, die Folgerung ziehen zu
müssen, daß dieser Fall in die Rubrik der fötalen Chondrodystrophie
einzureihen ist. Es handelt sich um ein weibliches Kind, das ein
Alter von 2 Monaten erreichte. Die Anamnese ist ohne Belang.
An allen Knochen der Extremitäten sowie am distalen Ende der
Schlüsselbeine sind die Epiphysen stark entwickelt; die Wirbel¬
säule ist sehr lang, der lumbo-dorsale Teil zeigt eine kypho-
tische Krümmung. Die große Fontanelle ist 6x4,5 cm groß und
etwas eingefallen. Die Sutura frontalis kann beinahe bis zur
Nasenwurzel hin verfolgt werden. Der Hirnschädel sieht groß
aus im Verhältnis zu dem kleinen Gesicht. Dem Tuberculum ossis
navicularis entsprechend, sieht man eine rote Partie mit einer zen¬
tralen Ulzeration. Die Schlüsselbeine sind 4,5 cm lang, etwas
stärker gekrümmt als gewöhnlich; die Gelenkenden sind etwas ver¬
dickt. Sie bestehen aus Knochensubstanz mit Ausnahme der Ge¬
lenkenden. Beide Scapulae springen stark hervor, besonders mit den
hinteren Rändern. Dies Johannesens Fall.
Scheuthauer, der seiner Diagnose „fötale Rachitis“ — im
Jahre 1871 — nicht ganz sicher ist und wohl in ihr durch den Be¬
fund seines 3. Falles (Fall 10, s. oben), der unseren 37 Fällen ein¬
zureihen ist, schwankend gemacht wurde, bemerkt noch betreffs der
Aetiologie folgendes:
„Noch könnte mau bei der großen Rolle, welche der Darwin¬
schen Lehre künftig in der Erklärung von Monstrositäten zufallen
dürfte, an eine Tierähnlichkeit denken, in dem Ganzen nur eine
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Ueber kongenitale Osteodysplasie der Schlüsselbeine etc.
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Mahnung an Nager und Carnivoren erblicken, deren Schlüsselbein
ebenfalls aus einem rudimentären Mittelstück besteht.“ Dieser Deu¬
tung können wir uns natürlich nicht anschließen.
Groß [20] begnügt sich damit, die Vermutung auszusprechen,
daß sein dem unseren ziemlich analoger Fall als „ Hemmungsmi߬
bildung“ aufzufassen sei. Freilich, eine „Hemmung“ muß Vorge¬
legen haben, die die Ausbildung der fehlenden Knochenteile ver¬
hinderte. Aber welcher Art diese Hemmung war, das ist eben noch
zu ergründen. Wenn wir bedenken, daß neben den Schädel- und
Schlüsselbeindefekten 9mal Kyphoskoliose bestand, die bei einigen
wohl angeboren war, daß ferner bei 5 Fällen Trichterbrust, bei
zweien aber Klumpfuß zu gleicher Zeit bestand, Mißbildungen, die
doch auf Raumbeschränkung in utero zurückgeführt werden, so
müssen wir daran denken, daß vielleicht zu dem Zeitpunkt, wo sich
die von der Mißbildung befallenen Knochen anlegten, also schon in
der 7.—9. Woche, und auch später noch —, aber dann in geringerem
Grade, der Embryo in utero abnorm beengt war. Der am
besten als Begründung meiner Ansicht verwertbare Fall ist Scheut-
hauers [45] 3. Fall (Fall 10): bei diesem lag außer dem Clavicula-
defekt fast vollständige Aplasie der Schädeldeckknochen, Anen-
cephalie, Exenteratio partialis und einseitiger Klumpfuß vor und die
Entstehungsursache war gegeben in den breiten Amnion¬
strängen, die sich an dem Fötus fanden (s. oben). Wären wir
nicht zu der Annahme berechtigt, daß bei unseren 37 Fällen die
Beengung des Fötus in utero durch ein zu enges Amnion verursacht
wurde? Wir müßten uns den Vorgang so denken, daß zu derZeit,
in der die Mittelstücke der Schlüsselbeine sich hätten bilden und die
Stirnnaht sich hätte schließen müssen, das zu enge Amnion den
Fötus fest umschloß und durch sein festes Anliegen an der Haut
die Bildung von Hautknochen verzögerte bezw. ganz verhinderte,
und daß ferner im weiteren Fötalleben, nachdem das Amnion durch
Absonderung von Fruchtwasser weiter geworden war, dieses doch
immerhin noch so eng blieb, daß das Längenwachstum des Körpers
und die Aufrichtung der Wirbelsäule gehemmt wurden. Zwei als
Beweis für diese unsere Hypothese zu benützende Fälle berichten
Marchand und E. Schwalbe [49] (S. 187 ff.): Bei dem Falle von
Marchand (zit. nach Schwalbe) handelt es sich um einen 6- bis
7wöchigen Embryo, der vom Amnion eng umschlossen ist und eine
schwere, fast rechtwinklige Kyphose zeigt; und der von E. Schwalbe
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Max M. Klar.
beschriebene, infolge Enge des Amnions mißbildete Embryo bietet
folgenden Befund: Der Fötus hat eine hochgradige Knickung in der
Mitte des Körpers erlitten und in der unteren Hälfte eine Drehung
um seine Körperachse von 180°. Während die Länge des ausge¬
streckten Fötus etwa 38 cm betragen würde, mißt er in der Stellung,
in der er sich befindet, 13 cm in größter Ausdehnung. Das Kinn
ruht auf der rechten Glutäalgegend, Mundöffnung und Anusöffhung
sind nur 3 cm voneinander entfernt. Die Baucheingeweide liegen
in einem dünnen häutigen Sack, dessen tiefste von der Leber ein¬
genommene Kuppe den von der Oberfläche des Kopfes entferntesten
Punkt des Körpers darstellt. Die Wirbelsäule ist also völlig
geknickt. Das Amnion ist im unteren Teil gut erhalten und
schmiegt sich der Oberfläche des Fötus sehr eng an; „es
ist klar, daß für Fruchtwasser hier kaum Raum war“. Es
besteht ferner am Kopf Akranie und Exencephalie, Gesichtsspalte,
teilweise Phokomelie etc.; starke amniotische Bänder zogen
z. B. von der rechten Kopfseite zur linken Glutäalgegend.
So können wir uns die Osteodysplasia congenita als amniogene
Mißbildung erklären; der bei den 4 Fällen von Pierre teilweise
bestehende Wolfsrachen und die, wie bei nur einigen Fällen, so auch
bei dem unsrigen bestehenden spitzbogenförmigen Gaumen, die Ab¬
ortivform des Wolfsrachens, sind ja auch als durch das Amnion ent¬
standene Bildung annehmbar; kommen doch amniogene Hasenscharte
und Wolfsrachen sicher vor!
Es ist überhaupt immer der Umstand im Auge zu behalten, daß
alle bei unseren Fällen mißgebildeten Knochen mit Ausnahme der
Wirbelsäule, deren kyphoskoliotische Verkrümmung ja rein mechanisch
zu erklären ist, sämtlich solche Knochen sind, die sich aus der Haut
sekundär bilden, wie die Knochen der Schädeldecke, die mittleren
Stücke der Schlüsselbeine, der Unterkiefer mit Zähnen und die Zähne
des Oberkiefers; und so können wir die Enge des Amnions auch für
die mangelhafte Zahnentwicklung verantwortlich machen, indem wir
annehmen, daß das Amnion in der Zeit, in der sich die Zahnkeime
bilden, den Kiefern noch zu fest angelegen hat. Anders, doch ge¬
zwungener, könnten wir uns die Störungen im Wachstum der Zähne
bei unserem und bei den anderen Fällen als durch die allgemeine,
ja auch das Körperwachstum hemmende Wirkung des zu engen Am¬
nions entstanden denken.
Die Rachitis, die bei unserer Patientin im 2. Lebensjahr eine
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461
Zeitlang bestanden haben soll, hat vielleicht die schon in den ersten
Xiebensmonaten bemerkte, also wohl angeborene, Skoliose verschlim¬
mert und wohl die Thoraxform hervorgebracht — an den Extremi¬
tätenknochen finden sich keine Spuren einer überstandenen Ra¬
chitis —, kann aber die übrigen Mißbildungen samt und sonders
nicht verursacht haben. Das von der Mutter angegebene geringe
Trauma, durch Arbeit in knieender Körperstellung bewirkt, ist auch
nicht als Ursache für die Kombination schwerer Knochenmißbil¬
dungen an den Schlüsselbeinen, der Schädeldecke, dem Gebiß, dem
Gaumen und der Wirbelsäule aufzufassen, zumal da es sich erst im
4. Schwangerschaftsmonat ereignet haben soll, wenn auch intra¬
uterine Traumen oft als Ursache von Schädelmißbildungen angesehen
werden.
Wir erklären uns also die Osteodysplasia congenita als
eine amniogene Hemmungsmißbildung.
Aber der angeborene partielle oder totale Schltisselbeindefekt
bei sonst lebensfähigen und lebenden Individuen bietet auch noch ein
hohes klinisches und physiologisches Interesse. Die Patienten,
denen ein, bisher für sehr wichtig und unentbehrlich gehaltener,
Teil des menschlichen Schultergürtels teilweise oder ganz abgeht,
haben doch die Fähigkeit, ihre Arme gut und regelrecht zu brauchen;
die Muskulatur besorgt bei ihnen eben den sonst der Clavicula zu¬
kommenden Anteil an der Arbeit der Fixation der Scapula allein.
Und so können wir Baudon [3] nicht beipflichten, der sich
bemüht, nachzuweisen, daß der frühzeitige Eintritt der Verknöche¬
rung der Clavicula seinen Grund finde in der großen Wichtigkeit
des Schlüsselbeins, indem er von folgenden Erwägungen ausgeht:
„Das Schlüsselbein dient als Anheftungspunkt für Fascienblätter,
namentlich Fascia omo-clavicularis und Fascia omo-hyoidea, die das
Zungenbein fixieren und dadurch das Saugen und Schlucken möglich
machen, die ferner verhindern, daß beim Atmen die Luft nicht in
die obere Brustöffnung hineindrückt, und dadurch für die Atmung
wichtig sind — und die endlich die großen Venen offen halten und
dadurch regelnd für die Zirkulation werden.“
Unter dem Namen „Osteodysplasia congenita“ verstehen
wir also eine ziemlich konstante Kombination von Knochenmißbil¬
dungen folgender Art:
1. Mangelhafte Ausbildung bezw. Anlage sämtlicher
Belegk nochen des Schädels, so daß es bei den schwersten
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Max M. Klar.
Fällen zu deren vollständigem Defekt mit Anencephalie kommt, bei
den mittelschweren Stirnnaht, Stirn- und Scheitelfontanellen das
ganze Leben hindurch offen bleiben, und in den leichten Fällen
endlich sich an den Stellen der im extrauterinen Leben manchmal
noch einige Jahre offen gebliebenen Stirnfontanelle und der Scheitel¬
und Hinterhauptfontanelle Vertiefungen zwischen den vorspringenden
Stirn- und Scheitelbeinhöckern finden;
2. Teilweiser oder gänzlicher Mangel eines oder meist
beider Schlüsselbeine;
3. Mangelhafte Zahnbildung mit Persistenz eines
Teiles des Milchgebisses;
4. Gaumenspalte oder hoher Gaumen;
5. Auffallend geringe Körperlänge bei großem, oben
näher charakterisiertem Schädel;
6. Kyphoskoliose,
Als Aetiologie nehmen wir abnorme Enge des Am¬
nions an; und die Fälle, bei denen die Osteodysplasie vererbt
wurde, erklären wir uns durch familiäres Vorkommen der Amnion¬
enge, keineswegs aber können wir als Ursache eine fötale Knochen¬
erkrankung oder gar „fehlerhafte Keimanlage“ (sogenanntes „vitium
primae formationis“) ansehen.
Zum Schluß erfülle ich die Pflicht, folgenden Herren für ihre
gütige Unterstützung bei der Abfassung dieser Mitteilung und den
Vorarbeiten zu ihr meinen ergebensten Dank auch an dieser Stelle aus¬
zusprechen: meinem verehrten bisherigen Chef und Lehrer, Herrn Prof.
Dr. Vulpius, und den Herren: Prof. Dr. Port, Direktor des zahn¬
ärztlichen Instituts, Prof. Dr. Ho ff mann, Prof. Dr. Schwalbe,
Prof. Dr. Göppert, sämtlich in Heidelberg, Prof. Dr. Stoeltzner
in Halle a. S. und endlich Dr. Ottendorff, Oberarzt der Klinik.
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52. Staderini, Süll’ osso fontanellare mediofrontale. Atti della R. Academia
dei fisocritici. Siena 1896.
53. Stahmann, F., Angeborenes Fehlen des linken Schlüsselbeins bei einem
Knaben von 9 Jahren. Zeitschr. f. Medizin, Chirurgie und Geburtshülfe.
Magdeburg u. Leipzig 1857, Bd. 11S. 433 ff.
54a. Spencer, Walter G., Deformity of sternal ends of both clavicles. Trans¬
actions of the Patliological Society of London Vol. 39 p. 227 ff. London
1888.
54b. Derselbe, Ricketty deformity of sterno-clavicular joint. Pathological
Society of London, 7. Febr. 1888, in: British medical journal 1888, p. 298.
55a. Stoeltzner, Wilhelm, Fötales Myxödem und Chondrodystrophia foe*
talis hyperplastica. Jahrbuch für Kinderheilkunde, N. F., Bd. 50, 1899.
55b. Derselbe, Fetal bone diseases. Brit. med. journal 1902.
56. Taruffi, C., Storia della teratologia. Tomo YII p. 159 ff. Bologna 1894.
57. Todd, St. Louis Courier of medicine 1898 (zit. nach Gianettasio [s. o.]).
58. Veith, Adolf, Das Amnion in seinen Beziehungen zu den fötalen Mi߬
bildungen. Inaug.-Diss. München 1901.
59. Walsham, W. J., Peculiar abnormities of the Clavicles in a boy. Medical
Society of London, 29. Oct. 1888. The British medical journal 1888,
p. 994.
60. Wieder8heim, Robert, Vergleichende Anatomie der Wirbeltiere. 5. Aufl.
1902.
61. Wulff, Angeborener Defekt beider Schlüsselbeine. (Freie Ver. d. Chir.
Berl., Sitzung vom 10. Dezember 1900.) Ref. im Zentralbl, f. Chirurgie
1901, S. 180.
62. Gegenbaur, C., Lehrbuch der Anatomie des Menschen. 7. Aufl. S. 265.
Leipzig 1903.
63. Kollmann, J., Lehrbuch der Entwicklungsgeschichte des Menschen S. 280.
Jena 1898.
64. Gegenbaur, C., Ueber primäre und sekundäre Knochenbildung mit be¬
sonderer Beziehung auf die Lehre vom Primordialkranium. Jenaische
Zeitschr. f. Med. und Naturwissenschaft Bd. 3 S. 54 ff. Leipzig 1867.
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466
Max M. Klar.
65. Derselbe, Ueber die Bildung des Knochengewebes. Zweite Mitteilung.
Ibidem S. 206 ff.
66. Bruch, C., Ueber die Entwicklung des Schlüsselbeins. Ibidem S. 299 ff.
67. Gegenbaur, C., Nachschrift zu Bruchs Mitteilung. Ibidem S. 304 ff.
68. Stoeltzner, Wilhelm, Pathologie und Therapie der Rachitis. Berlin
1904.
69. Haeckel, Heinrich, Ein Fall von ausgedehntem angeborenem Defekt
am Thorax. Virchows Arch. 1888, Bd. 113 S. 474 ff.
70. Wiedersheim, Robert, Der Bau des Menschen als Zeugnis für seine
Vergangenheit. Freiburg i. B. und Leipzig, 1893.
Nachtrag.
(Aus dem Ambulatorium für orthopädische Chirurgie ira k. k. allgemeinen
Krankenhaus in Wien.)
Während der Drucklegung der Arbeit hatte ich, anläßlich meiner
Tätigkeit in dem Ambulatorium des Herrn Prof. Dr. Lorenz, Ge¬
legenheit, einen weiteren Fall von „angeborenem Schlüsselbeindefekt“
zu beobachten. Herr k. k. Regierungsrat Prof. Dr. Lorenz ge¬
stattete mir, über diesen Fall im Anschluß an meine Arbeit zu be¬
richten; für die bereitwilligst und freundlichst erteilte Erlaubnis
sage ich Herrn Prof. Dr. Lorenz auch an dieser Stelle noch meinen
ergebensten Dank.
Der 10jährige Sohn eines Arztes aus Brasilien kommt zur Unter¬
suchung wegen einer angeborenen Deformität beider Hüftgelenke. Der
Knabe ist zur rechten Zeit ohne Kunsthilfe geboren, die Geschwister
des Knaben und die Eltern sind gesund und weisen keinerlei Mißbil¬
dungen auf. Der Vater beobachtete, daß die Stirnfontanelle des Knaben
bis zum Ende des 4. Lebensjahres offen blieb, die Mißbildungen wurden
beobachtet, sobald das Kind lernte, seine Extremitäten zu gebrauchen.
Am Schädel fällt das Hervortreten der Stirn- und der Scheitel¬
beinhöcker auf; es sind noch sämtliche Milchzähne, in leidlich
gutem Zustand, vorhanden. In der Mitte der Stirn sieht und tastet
man eine flache, länglichovale Vertiefung zwischen den Stirnbein¬
höckern, eine ebensolche, etwas weniger flache zwischen den Scheitel¬
beinhöckern. Der Unterkiefer ist etwas prognath, das Kinn auffallend
spitz, die Nasenwurzel erscheint tief eingesunken, so daß im Profil
der Gesichtswinkel sehr tief ist. An Stelle der linken Clavicula
tastet man ein akromiales dünnes Rudiment von etwa l 3 /4 cm Länge,
das mit dem Akromion in ligamentärer Verbindung steht, dann fühlt
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Ueber kongenitale Osteodysplasie der Schlüsselbeine etc. 467
man nach einem Zwischenraum von etwa 4 — 4 l j* cm, in dem man
die erste Rippe abtasten kann, ein sternales zartes Rudiment von
etwa 2 1 /*—3 cm Länge; eine Bandverbindung zwischen den Rudi¬
menten ist nicht zu fühlen. Rechts besteht ein dem linken ganz
gleiches, zartes, am Ende abgerundetes sternales Clavicularudiment,
von dessen Spitze ein fibröser Strang nach dem Akromion zieht; ein
akromiales Rudiment ist rechts weder zu fühlen noch auf dem Rönt¬
genbild zu sehen. (Vgl. die nach dem Röntgenbild angefertigte Zeich¬
nung, Fig. 8.) Das Röntgenbild zeigt eine auffallende Spaltbildung
der Bögen der untersten Hals- und obersten Brustwirbel.
Fig. 8.
a Die punktierte Linie bezeichnet die fibröse Verbindung zwischen dem rechten sternalen
Rudiment und dem Akromion; b = akromiales Rudiment links; c — sternale Rudimente;
d = infiltrierte Bronchialdrüsen rechts (Nebenbefund).
Der Knabe kann mit Leichtigkeit beide Schultern miteinander
und diese mit den Ohren und dem Kinn zur Berührung bringen und
kann die unglaublichsten Verschlingungen der Arme vornehmen;
Funktionsstörungen der Arme und des Schultergürtels sind auch bei
diesem Falle nicht zu bemerken. Es besteht eine leichte rechts¬
dorsale Skoliose und eine starke Lendenlordose; diese letztere, in
Verbindung mit dem wackelnden Gang des Knaben, gab dem Vater
und anderen Aerzten Veranlassung zu der Fehldiagnose einer an¬
geborenen Hüftluxation; in Wirklichkeit handelt es sich um beider¬
seitige Coxa vara congenita. Da wir die Coxa vara als eine durch
intrauterine Raumbeengung entstandene Deformität betrachten, so
erblicken wir in diesem Fall einen weiteren Beweis für meine Theorie,
nach der, wie oben erwähnt, die abnorme Enge des Amnions in
früher Embryonalzeit als die Ursache der „Osteodysplasia congenita“
anzusehen ist.
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XXVII.
Zur Nachbehandlung der tuberkulösen Coxitis.
Von
A. Schanz in Dresden.
Als das Normalverfahren gilt heute unter den Orthopäden für
die Behandlung der tuberkulösen Coxitis die konservativ-ambulante
Behandlung. Es ist unzweifelhaft festgestellt, daß man mit dieser
Behandlung einen sehr hohen Prozentsatz von Heilungen erreichen
kann. Es herrscht unter den Orthopäden heute auch im großen
und ganzen Uebereinstimmung betreffs der Grundsätze, nach welchen
die konservativ-ambulante Behandlung durchzuführen ist.
Unter diesen Umständen haben wir zwei Aufgaben, welche zu
erfüllen sind, wenn die Coxitistherapie gefördert werden soll. Die
erste Aufgabe ist die Auffindung der Indikationen für die konser¬
vative und für die operative Behandlung der Erkrankung. Denn es
ist keine Frage, daß trotz der günstigen Resultate der konservativen
Behandlung Fälle existieren, welche, für diese Methode ungeeignet,
operativ behandelt werden müssen. Aber welches sind diese Fälle?
Die zweite Aufgabe ist die, die konservative Behandlung so
auszubilden, daß mit ihr nicht nur die Heilung der Entzündung er¬
reicht, sondern daß auch das denkbar beste funktionelle Resultat
erzielt wird. Zur Lösung dieser zweiten Aufgabe möchte ich ver¬
suchen einen kleinen Beitrag zu liefern.
Wenn wir eine tuberkulöse Coxitis (Kindesalter und
konservative Behandlung hier überall vorausgesetzt)
glücklich zur Ruhe gebracht haben, wenn wir den Prozeß als aus¬
geheilt erklären können, so ist damit unsere ärztliche Tätigkeit
noch nicht beendet, und zwar deshalb nicht, weil zu diesem Zeit¬
punkte noch die Möglichkeit einer schweren Funktions¬
verschlechterung des zur Ausheilung gebrachten Gelenkes ge¬
geben ist. Am besten wird ein Beispiel die Sachlage illustrieren:
Denken wir uns einen Fall von Hüftgelenkentzündung, bei dem wir
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Zur Nachbehandlung der tuberkulösen Coxitis.
469
nach 2-, 3- oder 4jähriger Behandlung die Hüfte seit geraumer Zeit
Yölüg schmerzfrei haben, bei der nirgends mehr Entzündungserschei-
nungen nachweisbar sind, bei der also alle Symptome lokaler Aus¬
heilung des tuberkulösen Prozesses konstatiert werden können; nehmen
wir weiter an, daß in diesem Falle die Stellung des Gelenkes die
denkbar günstigste ist — also leichte Abduktion und leichte Flexion —
und stellen wir uns vor, daß an dem Gelenk eine mäßige Beweg¬
lichkeit vorhanden ist. Nehmen wir diesen Fall aus Verband oder
Schiene, so geht der Patient bei der angestellten Probe flott mit
einem ganz geringen Hinken und er gibt uns an, daß er ohne Schiene
oder Verband wesentlich leichter gehe, als mit denselben.
Es liegt nun natürlich in solchem Falle sehr nahe, die Stütze,
den schützenden Verband oder, was wir sonst für ein mechanisches
Behandlungsmittel verwendet hatten, jetzt von dem Hüftgelenke
zu entfernen und den Patienten frei auf seinem Beine umher¬
gehen zu lassen. Tun wir es, so erleben wir fast ausnahms¬
los bei einer in kürzerer oder längerer Zeit vorgenommenen
Nachuntersuchung eine wenig erfreuliche Ueberraschung: Wir
finden eine erhebliche Funktionsverschlechterung. Der
Patient hinkt entschieden mehr als bei der Ablegung
von Schiene oder Verband. Wenn wir ihn untersuchen,
so finden wir, daß sich aus der Abduktionsstellung eine
Adduktionsstellung gebildet hat und daß sich die Flexion
in erheblicher Weise vermehrt hat; wir finden, daß die
Beweglichkeit des Gelenkes teilweise oder auch ganz ver¬
loren gegangen ist, wir finden in nicht seltenen Fällen
leichtere Muskelspasmen um das Gelenk herum, vor allen
Dingen in den Adduktoren, wir finden, daß passive Be¬
wegungsversuche Schmerzen verursachen.
Bei diesem Befund wird natürlich der erste Gedanke der sein,
daß es sich um ein erneutes Aufflackern des alten Prozesses, also
um ein Rezidiv der Coxitis handele. Und in der Tat wird die
genauere Beobachtung in einem gewissen Prozentsatz der Fälle diesen
Verdacht bestätigen und wird uns damit die Richtschnur für unser
therapeutisches Verhalten geben.
In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle aber ist die
Stellungs- und Funktionsverschlechterung der Hüfte nicht
auf ein Rezidiv, sondern auf einen anderen pathologischen
Prozeß zurückzu führen.
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470
A. Schanz.
Welches dieser Prozeß ist, das werden wir am leich¬
testen erkennen, wenn wir die Ros er-N Platon sehe Linie und
das Röntgenbild kontrollieren. Wir werden mit deren Hilfe er¬
kennen können, daß zwischen der Zeit, wo wir der ausgeheilten
Hüfte die Stütze entzogen, und der Zeit, wo wir bei der Nach¬
untersuchung die beschriebenen Veränderungen gefunden haben,
ein Verbildungsprozeß in Schenkelhals und Hüftkopf gespielt
hat. Im Schenkelhals hat dieser Prozeß eine Art Coxa-
varabildung herbeigeführt, der Hüftkopf macht den
Eindruck, als sei er PÜ zförmig zerdrückt. Diese letztere
Beobachtung können wir natürlich nur in solchen Fällen machen,
wo der Kopf nach der Erkrankung in seiner Form noch gut er¬
halten war.
Es ist nun die Frage, worauf beruht dieser Deformie¬
rungsprozeß, den gewiß alle Kollegen, welche sich mit Coxitis-
behandlung beschäftigen, eben so gut wie ich beobachtet haben,
und der anderen gewiß ebenso unwillkommene Ueberraschungen be¬
reitet hat wie mir.
Diese Frage werden wir am leichtesten beantworten, wenn wir
uns einmal klar machen, woraus überhaupt die coxitische De¬
formität entsteht. Die erste Komponente derselben ist ohne
Zweifel der direkt durch die Erkrankung entstehende Gelenkdefekt.
Als zweite Komponente kommen dazu diejenigen Veränderungen,
welche aus der Belastung der durch die Entzündung erweichten Ge-
lenkkonstituentien resultieren. Als dritte endlich, in der Hauptsache
sekundärer Natur und in ihrem Grad und ihrer Form bestimmt durch
die beiden erstgenannten Komponenten, ist die Kontraktur und
Schrumpfung der um das Gelenk gelegenen Weichteile zu nennen.
Von diesen drei Komponenten der coxitischen Deformität kommt
für die Fälle, welche ich genannt habe, die erste nicht in Betracht,
denn was der Entzündungsprozeß als solcher an Defekt zu setzen
hatte, das ist zu der Zeit, wo unsere Deformitätenbildung beginnt,
fertig. In Betracht kommt ausschließlich die zweite Komponente
und die dritte, soweit als sie von der zweiten bedingt wird.
Vergegenwärtigen wir uns, daß durch die Entzündung eine
Erweichung der knöchernen Gelenkkonstituentien, ganz besonders
eine Erweichung des Hüftkopfes und des Schenkelhalses bedingt
wird, daß diese Erweichung durchaus nicht mit der Ausheilung des
Entzündungsprozesses spontan verschwindet, vergegenwärtigen wir
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Zur Nachbehandlung der tuberkulösen Coxitis.
471
uns, daß durch die lange Zeit, meistens eine Reihe von Jahren, fort¬
gesetzte Entlastung und Fixation des Hüftgelenkes zu dieser Er¬
weichung noch eine Inaktionsatrophie hinzugefügt werden muß,
so kann es für uns keinem Zweifel unterliegen, daß ein solches
Gelenk in dem Moment, wo wir die Ausheilung konstatieren, unter
keinen Umständen wieder seine normale Tragfähigkeit besitzen kann.
Im Gegenteil, seine Tragfähigkeit muß weit unter der Norm
liegen. Die unbedingte Folge davon muß sein, daß dieses Gelenk,
wenn wir demselben eine normale Belastung zumuten, Ueberlastungs-
sehädigungen erleidet.
Diese Ueberlastungsschädigungen müssen nach der
Lage der gegebenen anatomischen und mechanischen Be¬
dingungen in einer Verbiegung des Schenkelhalses im
Sinne einer Coxavarabildung und in einer Zerstauchung des
Hüftkopfes ihren prägnantesten anatomischen Ausdruck finden.
Es müssen also diejenigen anatomischen Erscheinungen entstehen,
welche wir als das charakteristische Substrat der oben beschriebenen
Deformierung kennen gelernt haben.
Mit dieser Erkenntnis erhalten wir die Richtschnur für
Prophylaxe und Therapie dieser Fälle.
Jene Deformierungen müssen zu vermeiden sein, wenn und
soweit es gelingt, eine Belastung des ausgeheilten Hüftgelenkes über
die Grenzen seiner Tragfähigkeit hinaus zu vermeiden, oder mit
anderen Worten: sie müssen zu vermeiden sein, wenn wir das Ge¬
lenk nicht nach der Ausheilung des tuberkulösen Prozesses wieder
belasten, sondern erst nachdem die Tragfähigkeit des Ge¬
lenkes wieder hergestellt ist.
Ich habe versucht, diese prophylaktische Aufgabe zu erfüllen
dadurch, daß ich die Entlastung des Hüftgelenkes nicht mit einem
Male nach der Konstatierung der Heilung der Entzündung vollständig
aussetze, sondern die Entlastung allmählich aufhören lasse,
und daß ich dabei versuche, den Grad der teil weisen Entlastung
dem Grad der Tragfähigkeit des Hüftgelenkes anzupassen,
d. h. ich versuche die Entlastung Schritt für Schritt zu ver¬
mindern, in dem Tempo, in welchem sich die Tragfähigkeit des Ge¬
lenkes hebt.
Zur Erfüllung dieser Aufgabe ist kaum ein anderes Hilfsmittel
zu verwenden als eine Hüftkrücke. Wenn wir die Behandlung
im Schienenhülsenapparat durchgeführt haben, so erhalten wir diese
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472
A. Schanz.
Hüftkrücke in einfachster Weise dadurch, daß wir von dem Apparat
den Beckenteil wegnehmen.
Man könnte nun versuchen, mit dieser Hüftkrücke die gegebene
Aufgabe dadurch zu erfüllen, daß man die Krücke zeitweise — etwa
stundenweise — tragen und ablegen ließe. Das wird natürlich besser
sein, als wenn wir die Stütze mit einem Male ganz entziehen. Aber
wir erhalten auch so Zeiten, wo jede Stütze fehlt, und in diesen
Zeiten kann der zu vermeidende Schaden immer noch in unerwünscht
hohem Maße eintreten.
Ich habe darum an der Hüftkrücke eine Vorrichtung angebracht,
welche eine allmähliche Herabsetzung der Entlastung erlaubt, ohne
daß die Entlastung jemals ganz aufgehoben werden muß, ehe das
beabsichtigt ist. Die Vorrichtung besteht in einer Feder, welche in
die Schienen der Hüftkrücke eingeschaltet ist und welche sich im
Moment der Belastung der Krücke zusammendrückt und im Moment
der Entlastung wieder ausdehnt. Dadurch erreiche ich es, daß
ein Teil der Belastung von der Krücke übernommen wird,
ein Teil derselben von der Hüfte aber getragen werden
muß. Je nachdem wie die Kraft der Feder gewählt wird, wird das
gegenseitige Verhältnis der Belastung verändert: ist die Feder straff
und kräftig, so drückt sie sich nur wenig zusammen: der größte
Teil der Belastung fällt auf die Hüftkrücke. Ist die Feder weich
und nachgiebig, drückt sie sich mehr zusammen: der größere Teil
der Belastung fällt auf die Hüfte. So hat man es in der Hand,
durch die Wahl und die Einstellung der Feder einen mehr oder
weniger großen Teil der Belastung auf das Hüftgelenk zu legen.
Im allgemeinen reguliert sich der Mechanismus automatisch dadurch,
daß die Feder mit der Länge des Gebrauches weicher und nach¬
giebiger wird und endlich dadurch, daß infolge der Wachstumsver-
längerung des Beines sich das Tuber ischii von dem Sitzringe loshebt.
Die Details der Konstruktion dieser „federnden Hüftkrücke“
sind an anderer Stelle, in der Zeitschrift für orthopädische Chirurgie
beschrieben.
Mit der Anwendung dieses Apparates verbinde ich in der Nach¬
behandlungsperiode der tuberkulösen Coxitis regelmäßig die Anwen¬
dung einer mäßigen Extension für die Dauer der Nachtruhe.
Ich verfolge damit die Absicht, durch den Extensionszug, falls doch
eine Ueberlastung im Laufe des Tages stattgefunden haben sollte,
den dadurch bedingten Schaden zu korrigieren oder zu vermindern.
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Zur Nachbehandlung der tuberkulösen Coxitis.
473
Im übrigen sind meine Maßnahmen genau dieselben, die auch
von anderer Seite empfohlen werden, d. h. ich suche durch Massage,
vorsichtige Gymnastik, Prießnitzumschläge, Elektrisationen u. dergl.
das Bein zu kräftigen, hüte mich aber dabei vor allen Irritationen
des Gelenkes.
Seitdem ich diese Nachbehandlung übe, habe ich die Freude
gehabt, daß in allen Fällen, wo verständige Eltern und genügend
günstige soziale Verhältnisse meine Bestrebungen unterstützten, das
Resultat, welches im Moment der Heilung des Entzün¬
dungsprozesses konstatiert wurde, zum dauerhaften
funktionellen Endresultat erhalten werden konnte.
Nun noch einige Worte darüber, wie wir uns zu verhalten
haben, wenn diese prophylaktischen Maßnahmen nicht durchgeführt
wurden und wenn es zur Ausbildung der sekundären coxi-
tischen Deformität — so möchte ich die uns hier beschäftigende
Verbildung nennen — gekommen ist.
In allen den Fällen, wo die Deformität nur einigermaßen höhere
Grade erreicht hat, ist natürlich die Korrektur derselben indiziert.
Wenn wir unter den Maßnahmen, mit denen wir zur Korrektur
schreiten können, Umschau halten, so wird unser Blick zuerst auf
das Redressement fallen. Es kann keinem Zweifel unterliegen,
daß in fast allen Fällen, wo überhaupt eine Beweglichkeit in dem
Gelenk konstatiert werden konnte, mit Hilfe des Redressements die
Achse des Femurschaftes in die normale Stellung zum Becken ge¬
bracht werden kann. Trotzdem wird es nicht zweckmäßig sein, diese
Deformitäten durch das Redressement zu korrigieren. Wir erhalten,
wenn wir auch den Femurschaft in die richtige Direktion bringen,
eine Einstellung der Schenkelhalsachse noch mehr im Sinne der
Coxa vara und wir werden infolgedessen stets auch nach gelunge¬
nem Redressement ein bedeutendes Hüfthinken zurückbehalten.
Sodann aber ist nach dem Redressement eine sehr
große Wahrscheinlichkeit der Rezidivbildung gegeben.
Nach einer Coxitis, und besonders nach der Bildung der sekun¬
dären coxitischen Deformität besitzen Kopf und Pfanne niemals mehr
die schöne kugelige Gestalt wie unter normalen Verhältnissen, es
passen darum auch Kopf und Pfanne nicht mehr in jeder beliebigen
Stellung des Gelenkes zueinander, sondern die deformierte Pfanne
kann den deformierten Kopf nur in einer einzigen Stellung
aufnehmen: in der Stellung, welche sich bei der Bildung der De-
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474
A. Schanz.
formität ergeben hat. Aendern wir diese Stellung auf dem Wege
des Redressements, so werden die gegebenen mechanischen Be¬
dingungen sie wieder herstellen, sowie wir den Zwangsverband weg¬
nehmen. Daß in der Tat das praktische Ergebnis des Redresse¬
ments meist ein Rezidiv ist, werden die meisten Kollegen mir aus
ihren Erfahrungen bestätigen.
Alle die Einwendungen, welche gegen das Redressement
sprechen, fallen weg, wenn wir zur Korrektion der sekundären
coxitischen Deformität die intra- oder subtrochantäre Osteo¬
tomie wählen.
Diese Operationen, ihre Technik und ihre Resultate sind so
bekannt, daß ich hier nicht weiter darauf einzugehen brauche. Ich
will nur auf ein paar Kleinigkeiten aufmerksam machen, die sich
bei den Operationen mir als zweckmäßig erwiesen haben. Ich
operiere auf dem Heusn er sehen Extensionstisch, ich durchschneide
nicht die Adduktoren, sondern stelle im Anschluß an die Operation
zunächst die Korrekturstellung durch Extension nur soweit her, als
sich die Adduktoren gutwillig dehnen lassen. Dann lege ich einen
Extensionsverband an und über denselben einen Fixationsverband
(Holz-Watteverband), welcher vom Unterschenkel bis auf den Thorax
heraufreicht. In diesem Verband extendiere ich eine Woche lang
so kräftig wie möglich; dann wechsle ich den Verband, entferne
die Nähte und stelle wiederum auf dem Heusn ersehen Tisch die
gewünschte volle Korrekturstellung her. Ich gehe dabei mit der
Korrektur etwas über den Grad von Abduktion und Streckung, den
ich als Endresultat der Kur haben will, hinaus: erstens einmal, weil
bei diesen Korrektionen stets auch neben der Korrektur an der
Osteotomiestelle ein gewisses Redressement im Hüftgelenkspalt statt¬
findet, und weil der Teil der Korrektur, welcher dadurch entsteht,
wie oben ausgeführt, später wieder verloren gehen muß; sodann aber
stelle ich etwas Ueberkorrektur ein, weil der Callus, der an der
Osteotomiestelle entsteht, lange Zeit fort plastisch bleibt und große
Neigung behält, durch Ueberlastung sich im Sinne der Rezidiv¬
bildung zu verbiegen.
Aus Rücksicht auf diese Eigentümlichkeit des Callus muß man
auch nach diesen Operationen eine vorzeitige Belastung des
Beines vermeiden. Ich gebe darum den so operierten Pa¬
tienten ausnahmslos wieder die federnde Hüftkrücke, die
ich in der Nachbehandlung der Coxitis verwende. Ich lasse ebenso
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Zur Nachbehandlung der tuberkulösen Coxitis.
475
nach diesen Operationen nächtliche Extension anlegen. Diese Vor¬
sichtsmaßregeln haben sich mir recht erfolgreich erwiesen. Ich
habe mit ihnen wesentlich bessere Dauerresultate jener Osteotomien
erhalten als früher, wo ich die Patienten nach der Konsolidation der
Fraktur ungestützt und ungeschützt herumgehen ließ.
Zum Schluß möchte ich noch empfehlen, ganz dieselben Nach¬
behandlungsmaßregeln bei Schenkelhalsbrüchen anzuwenden. Wir
Orthopäden haben ja so viel Gelegenheit zu sehen, wie nach diesen
Brüchen, obgleich dieselben zuerst tadellos geheilt waren, Coxavara-
bildungen auftreten, und wir wissen, welch außerordentlich schwere
Funktionsstörungen dadurch erzeugt werden. Diese Coxavarabil-
dungen sind natürlich die Folge von vorzeitiger Inanspruchnahme
des nicht genügend gehärteten Callus und sie sind zu vermeiden wie
die sekundären coxitischen Deformitäten und die Rezidive nach der
Osteotomie dadurch, daß die Hüfte nur schrittweise, je nach
dem Grade wie sie ihre Tragfähigkeit wiedergewinnt, der
Belastung wieder zugeführt wird.
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XXVIII.
Technische Kleinigkeiten.
Von
A. Schanz in Dresden.
Mit 4 in den Text gedruckten Abbildungen.
1. Eine federnde Hüftkrücke.
Bei der Behandlung von Erkrankungen des Hüftgelenkes und
des Schenkelhalses erscheint es nicht selten angezeigt, einen Teil
der Körperlast von der erkrankten Partie wegzunehmen, einen
Teil aber von derselben selbst tragen zu lassen. Unsere ge¬
bräuchliche Technik gibt uns dafür bis heute noch kein recht brauch¬
bares Hilfsmittel. Alle die Hüftkrücken, welche wir in den verschie¬
denen Konstruktionen haben, entlasten entweder das Hüftgelenk voll¬
ständig oder sie bewirken überhaupt keine Entlastung desselben. Wenn
wir mit diesen Konstruktionen die genannte Aufgabe erfüllen wollen,
so können wir es höchstens dadurch, daß wir die Apparate zeitweise
tragen und dann wieder den Patienten zeitweise ohne Apparat gehen
lassen. Das ist eine Manier, die ja vielfach, z. B. in der Nachbehand¬
lung der C oxitis geübt wird, aber die doch als das Ideal nicht ange¬
sehen werden kann; denn wenn schon die Hüfte und der Schenkelhals
nicht genügend tragfähig sind, so werden sie natürlich auch durch
die kurzen Zeiten, in denen sie zu voller Belastung herangezogen
werden, immerhin Schaden erleiden.
Um dieses Bedenken auszuschalten, habe ich eine kleine Vor¬
richtung konstruiert, welche es erlaubt, die auf die Hüfte fal¬
lende Körperbelastung teilweise von dieser selbst,
teilweise von der Hüftkrücke tragen zu lassen und welche
gestattet, den Grad der Entlastung zu variieren und nach
unserem Wunsch zu bestimmen.
Die Vorrichtung besteht in einer elastischen Spiralfeder, welche
ich mit den Schienen des Unterschenkelteiles der Hüftkrücke so ver-
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Technische Kleinigkeiten.
477
binde, daß die Feder im Moment der Belastung der Krücke zusammen-
gedrückt wird, im Moment der Entlastung sich wieder ausdehnt. Je
nachdem wie die Kraft der Feder gewählt wird, wird bei diesem Vor¬
gang ein mehr oder weniger großer Teil der Belastung von der Hüfte
auf die Schiene übernommen; man hat es demgemäß durch die Wahl
der Feder in der Hand, das Verhältnis von Belastung und Entlastung
beliebig zu variieren.
Die Einzelheiten der Konstruktion (Fig. 1 u. 2) sind
folgende: Ich pflege als Hüftkrücke den gewöhnlichen Schienenhülsen-
Fig. 1.
apparat zu nehmen, aus diesem aber die Unterschenkelhülse zu ent¬
fernen. An die Stelle der letzteren setze ich eine Spange, welche
rückwärts über die Wade die beiden vom Knie heruntergehenden
Seitenschienen verbindet; vorn über den Unterschenkel gehört dazu
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478
A. Schanz.
ein Schnallriemen. Die Teile der Unterschenkelschienen, welche über¬
einander zu liegen kommen, werden so gerichtet, daß sie ausgiebig
aneinander verschoben werden können, ohne daß eine Hemmung ein-
tritt. An das obere Ende der vom Fußgelenk aufsteigenden Schiene
werden zwei Backen angesetzt, in welchen die überliegende Schiene
geführt wird. Die Schraube, welche durch den Schlitz in die unter¬
liegende Schiene eingesetzt ist, wird natürlich nur so weit angezogen,
daß die beiden Schienen aufeinander verschoben werden können. Nun
wird an die beiden Schienen je ein nach rückwärts abgehender Backen
angesetzt. Von dem oberen dieser Backen geht ein Dorn ab und tritt
durch den unteren, welcher eine entsprechende Oeffnung besitzt, hin¬
durch, so daß er dort geführt wird. Auf diesem Dorn wird eine
Spiralfeder aufgeschoben, welche sich unterSpannung gegen die beiden
Backen preßt.
Wird nun diese Hüftkrücke von oben her belastet, so verschieben
sich die beiden Unterschenkelschienen so weit übereinander, als es die
Kraft der Feder gestattet. Wird die Belastung aufgehoben, so geht
dieselbe Bewegung rückläufig, erzeugt durch die Wiederausdehnung
der Feder.
Durch entsprechende Einstellung einer solchen Hüftkrücke,
durch die Wahl der Größe, der Elastizität und der Kraft der Feder
hat man es in der Hand, vom Hüftgelenk und Schenkelhals einen
beliebig großen Teil der Belastung wegzunehmen und auf die Krücke
zu übertragen. Wenn man den Wunsch hat, das Belastungsverhältnis
allmählich so zu verschieben, daß ein immer größerer Teil der Last
auf das Gelenk kommt, so unterstützt uns diese Konstruktion in ziem¬
lich hohem Maße automatisch dadurch, daß sich unter dem Gebrauch
die Federn erweichen und damit ohne unser Eingreifen eine Herab¬
setzung des Entlastungsgrades bewirken. Wo das nicht ausreicht,
müssen wir durch Auswechslung der Federn diese Aufgabe lösen.
2. Ein Extensionsstuhl 1 ).
Der Apparat soll dazu dienen, bei bequemem Sitzen die
Wirbelsäule zu extendieren. Zu diesem Zwecke habe ich an meinem
Stuhle die Rückenlehne beweglich gemacht, im Gegensatz zum Spri-
monsehen Extensionsstuhl, an welchem dieselbe unbeweglich steht.
*) Der Stuhl wird von der Firma Knoke & Dreßler in Dresden nach
meinen Angaben angefertigt.
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Technische Kleinigkeiten. 479
Ebenso habe ich eine bewegliche Fußstütze an dem Stuhle anbringen
lassen.
Als Extensionskraft ist eine über zwei Rollen geführte Gewichts¬
belastung gewählt.
Der Stuhl leistet mir besonders gute Dienste bei der Skoliosen¬
behandlung — besonders bei der Nachbehandlung des Redressements—,
Fig. 3.
sowie bei entzündlichen Aftektionen der Wirbelsäule; ganz besonders
hat er sich bewährt für Fälle von Bechterewscher Wirbelsäulen¬
entzündung.
3. Der Modellierstuhl 1 ).
Ein Modell, über welches wir einen gut passenden Hülsen¬
apparat arbeiten wollen, muß den betreffenden Körperabschnitt in
der Situation wiedergeben, in welcher der Apparat zur
Anwendung kommen soll. Wenn wir z. B. einen Gehapparat
anfertigen wollen, so müssen wir im Modell diejenige Form des
Beines wiedergeben, welche das Bein beim Gehen annimmt.
*) Der Stuhl wird von der Firma Knoke & Dreßler in Dresden nach
meinen Angaben angefertigt.
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XV. Bd 31
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480
A. Schanz.
Das ist eine Form, die wesentlich verschieden ist von der¬
jenigen Form, welche das Bein in Rückenlage besitzt.
Noch viel mehr weicht die Form des Beines von der Gehform ab,
Fig. 4.
wenn wir dasselbe bei Rückenlage des Patienten erheben lassen, wie
das geschieht, wenn wir einen Gipsmodellverband in der von Beely
einst angegebenen und heute noch allgemein üblichen Weise anfer¬
tigen. Die Form, welche wir bei dieser Arbeitsmanier erhalten, ist
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Technische Kleinigkeiten.
481
von der Trittform so weit verschieden, daß auch ein sehr geübter
Gipstechniker große Mühe hat, das Modell bis zur Herstellung der
Trittform des Beines umzuarbeiten. Natürlich kann der über das
Modell gearbeitete Apparat nur dann als Gehapparat das denkbar
Beste leisten, wenn diese Umarbeitung vorgenommen wird und
gelingt.
Viel sicherer arbeiten wir, wenn wir das Bein in der Tritt¬
form abgipsen. Dann erhalten wir natürlich in unserem Modell
sofort diese Form und der über dieses Modell gearbeitete Apparat
muß als Gehapparat tadellos funktionieren.
Aus diesen Ueberlegungen habe ich seit längerer Zeit Modelle
für Gehapparate so genommen, daß ich den Patienten auf einen auf
den Operationstisch gestellten Stuhl setzte, das abzumodellierende
Bein seitlich herunterhängen und auf die Platte des Operations¬
tisches oder auf einen Schemel oder dergleichen fest auftreten ließ.
Um die Sache bequemer zu machen, habe ich mir nun für
diesen Zweck einen besonderen Stuhl bauen lassen.
Die Form des Stuhles zeigt unsere Abbildung genügend deut¬
lich. Ebenso ist der Gebrauch desselben aus der Abbildung zur
Genüge ersichtlich.
Die auf diesem Stuhl hergestellten Modelle — ich pflege die¬
selben bei leicht gebeugtem Knie zu nehmen — entsprechen den
oben gestellten Anforderungen ebenso wie die nach diesen Modellen
gearbeiteten Apparate, besonders ergibt sich ein erfreulicher Unter¬
schied im Passen des Sitzringes gegenüber den Apparaten, welche
auf nach alter Manier gearbeiteten Modellen hergestellt sind.
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XXIX.
Keimfehler oder abnorme Druckwirkung?
(Zugleich Erwiderung auf Wollenbergs Abhandlung:
„lieber die Kombination der angeborenen Hüftgelenksverrenkung mit
anderen angeborenen Deformitäten“) J ).
Von
Dr. Pani Ewald,
Assistenzarzt der Vulpiusschen Klinik.
Es würde eine große Monographie werden, die zu schreiben
Berufeneren überlassen bleiben muß, wenn der Wert der verschiedenen
Hypothesen für die Entstehung angeborener Mißbildungen gründlich
beleuchtet werden sollte. Wer die inneren und äußeren Kräfte,
deren Einwirkung die Deformitäten ihre Entstehung verdanken, ge¬
nau zergliedern und die Gründe ihres Zustandekommens erklären
wollte, müßte nicht nur ein Biologe allerersten Ranges sein, sondern
hätte auch — wie Johannes Müller einst sagte — neben hin¬
reichender Verstandesstärke und Erfahrung eine zum Allgemeinen
strebende Phantasie nötig, die durch neue Kombinationen alle Er¬
scheinungen von einem höheren, verallgemeinernden Gesichtspunkt
betrachten könnte. Nur dann wäre es möglich, eine Hypothese auf¬
zustellen, die der Wahrheit einigermaßen nahe kommt, und die ver¬
spricht, in der Folgezeit einige Frucht zu tragen. Und auch dann
muß man sich immer noch gegenwärtig halten, daß man es nur mit
einer Theorie zu tun hat, die ja viel Wahrscheinlichkeit für sich
haben, aber doch nie als Lehrsatz gelten kann. Es gibt wohl kaum
eine Hypothese, nicht nur in der Philosophie, sondern auch Physio¬
logie, die nicht einmal als Wahrheit in den Himmel gehoben, später
wieder gestürzt oder doch auf das gebührende Maß zurückgebracht
wurde. Ein Beispiel dafür ist die Abstammungslehre Darwins
und alles, was mit ihr zusammenhängt. Von vielen bedeutenden
*) Zeitschr. f. orthopäd. Chir. Bd. 15.
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Keimfehler oder abnorme Druckwirkung?
483
Geistern (Hackel) wird sie noch heute mit orthodoxer Strenge als
Grundlage jeder Wissenschaft angesehen, während neuere und auch
durchaus ernste Forscher die Ueberzeugung gewonnen haben, daß
der ganze Darwinismus tot sei und längst schon der Geschichte an¬
gehöre (Driesch-Fleischmann).
Wir können aus der Tatsache des Steigens und Fallens der
Theorien das Resultat ziehen, daß sie bis zu einem gewissen Punkte
hin, wo eben unserer Erkenntnis ein Halt geboten wird, auf einer
erklärbaren Basis ruhen und zwar so, daß ihnen ein gewisser Grad
von Wahrscheinlichkeit anhaften muß. Und die Theorie wird uns
umso wertvoller sein, je mehr Schlüsse — wissenschaftliche und
praktische — wir aus ihr ziehen können, d. h. je mehr sie auf unser
Wissen und Können befruchtend eingewirkt hat. Sind jetzt der
Deszendenzlehre auch grundlegende Irrtümer nachgewiesen, so hat
sie doch Zoologie, Entwicklungsgeschichte, Philosophie und viele
andere Gebiete gefördert, und hat dadurch Existenzberechtigung für
einen gewissen Abschnitt unseres Zeitalters bekommen. Damit ist
aber nicht gesagt, daß heute so ohne weiteres mit ihren wenig er¬
klärten Schlag Wörtern, wie Atavismus, Variation, Anpassung, Phylo-
und Ontogenie, spekuliert werden darf. Wie man weiß, ist von dieser
Gepflogenheit auch die Orthopädie und speziell die Lehre von den
Mißbildungen nicht freigeblieben, sondern derartige, vermeintlich
feststehende Begriffe kommen allenthalben auch noch in den neuesten
Abhandlungen zum Vorschein.
Wie sieht es nun mit den Theorien, die über die Entstehung
kongenitaler Mißbildung aufgestellt sind, aus, was haben sie für eine
Grundlage, und was ist durch sie erreicht worden?
Eine Hypothese verlegt die Ursache anormaler Entwicklung
in den Keim des Embryos selbst, eine zweite in seine äußere Um¬
gebung.
Die erste nimmt eine primäre KeimesVariation an, um
das Auftreten der Mißbildung in einer bisher normalen Familie zu
erklären; sie geht damit bis auf die einzelnen Geschlechtszellen und
die befruchtete Eizelle zurück und will aus ihrem anormalen Ver¬
halten, respektive ihrer Entwicklungsstörung die Deformität herleiten.
Das heißt, wohlverstanden, nur ganz im allgemeinen: denn da man
sowohl von den normalen Geschlechtszellen als auch von den ersten
EntwicklungsVorgängen nur wenig sicher feststehende Tatsachen
kennt, so sind natürlich die Vorgänge atypischer Bildungen noch
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484
Paul Ewald.
gänzlich in Dunkel gehüllt, und man kann sich über ihr Zustande¬
kommen und ihr Wesen kaum Vermutungen hingeben. Es ist eine
echte und rechte Verzweiflungstheorie; man könnte an Stelle des
Wortes „vitium primae formationis“ ebensogut eine Größe X setzen,
und am besten würde man zu Werke gehen, wenn man resigniert
sagte: „Wir wissen darüber nichts!“
Eine Unterabteilung von diesen Mißbildungen, deren Entstehung
wir nicht einmal ahnen können, sind diejenigen, die schon in der
Aszendenz vorhanden waren, die also vererbt sind. Aber was
heißt Vererbung? Es ist, wie Schwalbe 1 ) sagt, zunächst nur die
Erfahrungstatsache, daß die Kinder den Eltern gleichen, und es ist
darum eine weitere Erklärung dadurch noch nicht gegeben, daß ich
sage, dies oder jenes sei durch Vererbung zu stände gekommen.
Uebrigens muß ja auch einmal bei den Voreltern die Mißbildung
zum ersten Male aufgetreten sein, und wir hätten dann in der Des¬
zendenz nur die Kopierung des Erzeugers, also gewissermaßen die
normale Entwicklung eines vom gewöhnlichen abweichenden Indi¬
viduums. Wie schwierig alle diese großen, grundlegenden Fragen
sind, geht aus dem ungeheuren Material hervor, das Biologen, Zoo¬
logen und Botaniker zusammengetragen haben. Ich nenne nur
Weißmann, Roux und Hertwig, die ein gut Teil ihrer Lebens¬
arbeit daran gesetzt haben, um Licht in diese schwierigen Ver¬
hältnisse zu bringen. Und nun sind diese hervorragenden Forscher
kaum über die Anfänge hinaus und nicht einmal einig. Wenn wir
also bei der Aetiologie der Deformitäten von endogener Entstehung
sprechen, so müssen wir uns immer Vorhalten, daß dieser und ähn¬
liche Ausdrücke für uns bis jetzt weiter nichts als Worte sind, bei
denen wir uns so gut wie nichts denken können. Und da jegliche
Unterlage einer Vorstellung fehlt, können wir uns auch über das
Zustandekommen selbst absolut kein Bild machen. Leider haben
wir nun aber — wenigstens für diejenigen Mißbildungen, deren Ver¬
erbung zweifellos dasteht — bis heute keine andere „Erklärung*
und so operieren wir mit diesem Notbehelf, indem wir die Defor¬
mitäten per exclusionem auf „innere“ Ursachen zurückführen, weil
wir keine anderen Ursachen kennen. Wir erinnern uns dabei des
Wortes von Kümmel 2 ): „das Kausalbedürfnis veranlaßt wohl jeden
’) Schwalbe, Die Morphologie der Mißbildungen. Jena 1905.
2 ) Kümmel, Mißbildungen der Extremitäten. Bibliotheca medica.
Kassel 1895.
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Keimfehler oder abnorme Druckwirkung?
485
zu dem Streben, das Gebiet der endogenen Mißbildungen, deren Ent¬
stehung wir ohne das Rechnen mit unbekannten Größen nicht be¬
greifen können, möglichst einzuschränken. Die endogene Entstehung
wird, bis wir etwa ganz neue Erfahrungen gesammelt haben, not¬
wendig wohl nur für die exquisit vererblichen Mißbildungen ihre
Geltung behalten müssen. Dagegen besteht für alle anderen wenig¬
stens theoretisch die Möglichkeit, daß die an sich normale Entwick¬
lung durch äußere Einflüsse gestört wurde.“
Was wissen wir nun aber von diesen äußeren Einflüssen?
Bei einigen seltenen Gelegenheitsursachen liegen ja die Ver¬
hältnisse klar: Tumoren des Uterus und raumbeengende Geschwülste
im Mutterleib, Uterus bicornis, Hydrocephalus und Zwillings¬
schwangerschaft machen wohl die partielle Beengung eines Kinds¬
teils, aus der dann eine Mißbildung resultiert, ohne weiteres ver¬
ständlich. Es darf vielleicht auch hier erwähnt werden, daß den
Tierärzten das Vorkommen von Deformitäten eines oder mehrerer
gleichzeitig zur Welt gekommener Jungen eine geläufige Erschei¬
nung ist. In jüngster Zeit hat man fernerhin über Fälle von Tuben¬
gravidität berichtet, bei welchen der durch Laparotomie entfernte
Fötus Deformitäten aufwies, die hier unbedingt durch mechanische
Einwirkungen auf den Fötus entstanden sind.
Aber alle diese Beobachtungen, in denen eine offenkundige
Ursache den mechanischen Druck zu stände gebracht hat, sind doch
relative Seltenheiten im Vergleich zu den Fällen von angeborenen
Mißbildungen, bei welchen nichts derartiges nachzuweisen ist. Bei
diesen letzteren ist uns der letzte Grund des Zustandekommens eines
mechanischen Drucks ebenso dunkel wie die »innere Störung“
der Keimentwicklung und die primäre Keiraesvariation. Wir wissen
absolut nicht, wie das Amnion dazu kommt, einmal weniger Frucht¬
wasser als nötig abzusondern, mit der Oberfläche des Fötus ganz
oder partiell zu verwachsen, überhaupt die normale Ausbildung des
Fötus zu stören. Wir haben keine Ahnung, ob äußere Ursachen
dieses abnorme Verhalten des Amnions bewirken können, oder ob
andere Momente, eben die sogenannten falschen Anlagen, sich auch
auf die abnorme Bildung und Funktion des Amnions erstrecken
können. Ein Versuch, hier Klarheit zu schaffen, wäre rein theoretische
Spekulation und würde mit der Darstellung der ersten Entwicklungs¬
verhältnisse zusammenfallen. Man würde sich also auch hier von
vornherein auf einem äußerst unsicheren Boden bewegen.
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486
Paul Ewald.
Setzen wir aber einmal die Entstehung eines mechanischen
Druckes beiseite und nehmen diesen einfach als gegeben an, wie
wir ihn ja wirklich oft aus der Gestaltung der Mißbildung direkt
vom Fötus oder Neugeborenen ablesen können! Dann finden wir
doch für viele Deformitäten eine verständliche Erklärung und haben
wenigstens eine Basis, auf der wir weiter bauen können. Und
sicherlich ist auch mit der Belastungstheorie in der plausiblen Deu¬
tung der klinischen Bilder, des pathologisch-anatomischen Befundes,
ja, wie ich glauben möchte, auch in den therapeutischen Maßnahmen
ein Fortschritt erreicht worden; denn die Annahme, daß Mi߬
bildungen oft durch einen lang andauernden Druck zu stände kom¬
men, konnte meines Erachtens erst den Anstoß geben zu jenen
modernen Behandlungsmethoden, die bezwecken, durch Herstellung
anderer Druckbedingungen ein Hineinwachsen in normale Verhält¬
nisse zu veranlassen. Man schafft schnell oder allmählich eine Stel¬
lung, die der falschen Stellung des Gliedes im Uterus gerade ent¬
gegengesetzt ist, und hofft alles andere von der Umbildungsfähigkeit
der Knochen. Und in dieser Hoffnung wird man nicht getäuscht.
Ich kann natürlich nicht behaupten, daß die Erfindung des forcierten
oder modellierenden Redressements, der verschiedenen Behandlungs¬
arten durch Druck und Zug u. s. w. das Resultat einer derartigen
bewußten Gedankenoperation war; aber zweifellos konnte überhaupt
erst auf eine gewisse Aussicht auf Erfolg gerechnet werden, nach¬
dem die Vorstellung geläufig geworden war: „was einmal normal
angelegt war, kann auch wieder normal werden.“ Der Gedanke
dagegen, daß im Keim etwas verfehlt sei, wird anderseits kaum
eine Freudigkeit, in diesem Sinne zu handeln und zu behandeln,
entstehen lassen. Nun gibt es allerdings viele Mißbildungen, denen
man von vornherein nicht die Entstehung ansieht, die aber sonst in
jeder Beziehung identisch mit solchen sind, die wegen ihrer Haltung,
wegen Hautveränderungen, Eindrücken und sonstigen Merkmalen ohne
weiteres als Belastungsdeformitäten zu erkennen sind. Sollte man da
nicht den kleinen Sprung wagen dürfen, nach dem Prinzip vom zu¬
reichenden Grunde auch bei jenen dieselbe Entstehungsursache anzu¬
nehmen? Forscht inan doch z. B. bei jeder Tabes nach der überstandenen
Syphilis und ist geneigt, trotz negativer Anamnese und auf Lues be¬
züglicher Untersuchung eine solche anzunelnnen. So hat man wohl auch
eine Berechtigung, in Fällen von Mißbildungen, wo andere Ursachen
wie Defekte, Paralysen u. s. w. nicht direkt dagegen sprechen, wo viel-
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Keimfehler oder abnorme Druckwirkung?
487
mehr auf eine einst normale Anlage alles hinweist, eine mechanische
Ursache für die abnorme Ausbildung eines fötalen Teils anzunehmen.
Natürlich muß da alles zwanglos in die Theorie hineinpassen, und
es darf nicht etwa ein Moment, der Theorie zuliebe, unterdrückt
werden. Derartige unwillkommene Momente wird ja jede Theorie
aufzuweisen haben, und die Erklärung dafür wird dann weit her¬
geholt sein oder völlig ausstehen. Deswegen wird aber der Hypo¬
these nicht gleich das Urteil gesprochen, sondern sie wird fortbestehen,
solange sie Frucht trägt und bis sie durch eine bessere ersetzt wird.
So ist es auch mit der Belastungstheorie: auf wichtige Punkte, wie
namentlich die Vererbung von Mißbildungen kann sie eine Antwort
nicht geben, zu anderen Erscheinungen liefert sie dagegen die Grund¬
lage für eine einzig plausible Erklärung.
Wenn ich nun nach diesen kurzen allgemeinen Ausführungen
auf die Arbeit Wollenbergs, in welcher die Entstehung der an¬
geborenen Hüftluxation abgehandelt wird und die sich lebhaft mit
einem von mir verfaßten Artikel*) über denselben Gegenstand be¬
schäftigt, eingehe, so ist leicht einzusehen, worauf ich hinaus will.
Wir nehmen beide denselben Ausgangspunkt zu unserer Be¬
trachtung: die Kombination der Hüftluxation mit anderen angebo¬
renen Deformitäten. Und wir kommen beide zu entgegengesetzten
Resultaten, Wollenberg zur Aetiologie des primären Keimfehlers,
ich zur Annahme einer mechanischen, von außen her wirkenden Ur¬
sache. Wollenberg unterzieht die einzelnen Punkte meiner Arbeit
einer Kritik und sucht zunächst nachzuweisen, daß die neben der
Luxation beobachteten Deformitäten (Torticollis, Pes varus, Genu
recurvatum, Coxa vara), von denen ich behaupte, daß sie einstimmig
als meist (!) durch eine abnorme Belastung entstanden angesehen
werden, absolut nicht immer als Belastungsdeformität ange¬
sprochen werden. Genau dasselbe dachte ich deutlich genug durch
das Wörtchen „meist“ ausgedrückt zu haben, das in meiner Arbeit
eine nähere Erläuterung findet. Und so kann ich dann meine Be¬
hauptung auch durchaus aufrecht erhalten.
Zunächst muß einer zum Punkte „Torticollis“ gemachten Be¬
merkung Wollenbergs entgegengetreten werden, da sie geeignet
*) Deutsche Zeitschr. f. Chirurg. Bd. 80.
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488
Paul Ewald.
ist, falsche Vorstellungen über die Entstehung des Leidens hervor¬
zurufen. Er sagt nämlich: „Die gar nicht so selten vorkommende
Vererbung macht die gelegentliche Entstehung des Leidens auf
Grund einer fehlerhaften Keimanlage zweifellos.“ Hoffa (Lehrbuch
V. Aufl. S. 175) kann dafür nur einen Fall anführen, und Joachims¬
thal l ) nicht mehr als drei weitere hinzufügen. In allen übrigen, mit
diesen zusammen genannten Beobachtungen handelt es sich um
mehrere Kinder derselben Frau und desselben Mannes, in
ihnen kann also die „Vererbung“ auch ebensogut auf den Ein¬
fluß derselben äußeren Schädlichkeit in allen Schwangerschaften
beruhen. Ich glaube hier, wie bei der angeborenen Hüftluxation,
eine durchaus „zulässige“ Bemerkung zu machen, wenn ich sage,
daß dies gemeinsame Vorkommen bei Kindern derselben Mutter
nicht mehr zum Begriff der Vererbung im strengen Sinne ge¬
rechnet werden darf. (Die Prozentzahlen, die Vogel und Narrath
angegeben hat [30—40], würden sich dann jedenfalls sehr modifi¬
zieren.) Ich meinerseits halte es für unzulässig, daß dieses Vor¬
kommen mit der eigentlichen Heredität zusammengeworfen wird, um
dann mit zur Stütze der Keimfehlertheorie verwendet zu werden.
Aus den Ausführungen Joachimsthals geht sonst gerade her¬
vor, daß es sich in den meisten Fällen von Torticollis um mecha¬
nische Einwirkungen handelt. Und diese gewöhnliche Ent¬
stehungsart kommt für uns in Betracht.
Die auffallend häufige Kombination der Hüftluxation mit Tor¬
ticollis gibt Wollenberg zu, will aber trotzdem das Zusammen¬
treffen für ein zufälliges halten. Warum? sagt er eigentlich nicht,
und seine Bemerkung, „daß der Schiefhals sich nicht im entfernte¬
sten so gut eignet, aus seiner Kombination mit Hüftverrenkung auf
eine Belastungsätiologie der letzteren zu schließen, wie Knieluxa¬
tionen sowie Knie- und Hüftkontrakturen“, erfährt keine nähere Be¬
gründung. Ich meinerseits glaube doch, daß beide Anomalien zu
selten, und die beobachteten Fälle von Vergesellschaftung (Wollen¬
berg berichtet über 13!) für eine Zufälligkeit zu häufig sind.
Ebensogut könnte man die Vererbung, den einzigen Grund für die
Annahme einer primären Hemmungsbildung, die auch Hoffa so
sympathisch ist, für zufällig halten, oder man könnte gar einer ver¬
erbten krankhaften Beschaffenheit des Amnion, wie das Joachims-
*) Joachimsthal, Handbuch d. orthopäd. Chir. Jena 1904.
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Eeimfehler oder abnorme Druckwirkung?
489
thal und Klaußner für die Strahldefekte z. B. tun, die Schuld für
die Entstehung beimessen. Ich möchte hier jedoch auf diese Frage
nicht weiter eingehen. Dagegen will ich noch einmal betonen, daß
die Luxatio coxae cong. eine exquisit hereditäre Anomalie nicht ist.
Die fehlerhafte Keimanlage als Aetiologie des Pes varus ist
nicht, wie Wollenberg meint, die „seltenere“, sondern geradezu
eine Rarität. Die Fälle, bei welchen ein Knochendefekt oder fehler¬
hafter Muskelansatz die abnorme Stellung des Fußes bedingt, werden
auch in der großen Beobachtungsreihe der Hoffaschen Klinik kaum
eine nennenswerte Größe ausmachen, wie sie auch in dem sehr
reichen Klumpfußmaterial der Vulpiusschen Klinik nur äußerst
selten zur Beobachtung gelangen. Die Belastung ist die gewöhn¬
liche Entstehungsursache, dafür spricht das anatomische Bild des
Klumpfußes, die eigentümliche Haltung der Beine und Füße gleich
nach der Geburt, das gelegentliche Hineinpassen eines Klumpfußes
in einen Plattfuß u. s. w., und dann auch gerade die „eigenartigen
erblichen Verhältnisse“, von denen im Vergleich zu der Häufigkeit der
Mißbildung so selten etwas berichtet wird, während das Vorkommen
bei mehreren Kindern einer Familie allein in unserer Klinik gut ein
dutzendmal beobachtet wurde: die Föten haben eben immer die
gleichen abnormen uterinen Verhältnisse angetroffen.
Bei dem Punkte „Genu recurvatum“ kommt Wollen¬
berg auf Schwierigkeiten im allgemeinen zu sprechen, die sich der
Belastungstheorie entgegenstellen: warum kommen Belastungsdefor¬
mitäten (insbesondere Luxatio coxae congenita und Pes varus) nicht
häufiger gemeinsam vor? Und wieso finden sich so selten bei Hüft-
luxation Spuren der intrauterinen Raumbeschränkung? Ich frage
weiter, warum ein Kind mit angeborenem Klumpfuß, der seinerseits
Druckspuren zeigt, am ganzen übrigen Körper frei von denselben
ist. Wollenberg findet ein schwerwiegendes Argument darin, daß
bei Genu recurvatum und angeborener Knieluxation so wenige Hüft-
luxationen beobachtet sind. Ich sehe nicht ein, wieso durch die ab¬
normen äußeren Verhältnisse im Uterus, unter denen sich ein Genu
recurvatum bildet, notgedrungen auch das Hüftgelenk des Fötus
betroffen werden muß. Wie ich in meiner Arbeit näher ausgeführt
habe, braucht man sich den mechanischen Druck gar nicht so
ungeheuer groß vorzustellen. Im Gegenteil; bei erheblichem dauern¬
dem Fruchtwassermangel wird es kaum zur Entwicklung lebens¬
fähiger Individuen kommen. Dagegen wird ein einfaches Festgehal-
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490
Paul Ewald.
tenwerden des Beins in einer falschen Stellung, in unserem Falle in
starker Adduktion und Flexion zum Abheben des Femurkopfes von
der Pfanne genügen und damit zum abnormen Knochenwachstum
führen. Das, was Bessel-Hagen 1 ) für den Klumpfuß anführt, kön¬
nen wir, mutatis mutandis, auch auf das Hüftgelenk beziehen: es
bedarf nicht immer einer vollständigen Bewegungsunfähigkeit, um
einen anfangs normal gebauten Fuß zu einem Pes equino-varus um¬
zugestalten. Es können dem Fötus bis zu einem gewissen Grade
Bewegungen gestattet werden, und dennoch äußere Kräfte im stände
sein, einen deformierenden Einfluß auszuüben. Der Fuß eines Fö¬
tus kann immerhin so wenig behindert sein, daß er die Kindesbe-
wegungen mitmacht. Und doch wird er zum Klumpfuß werden,
wenn er in seiner Ruhelage sich immer wieder der Uteruswand in
Supinationsstellung anlegt, selbst wenn er nur einen überaus sanften
Druck erleidet. In den ursächlichen Momenten des Druckes kann
dabei natürlich eine große Mannigfaltigkeit herrschen.
Den Schluß, daß Hoffa seine Fälle von einseitiger Coxa vara
cong. mit Hüftluxation der anderen Seite auf intrauterinen Raum¬
mangel zurückführt, habe ich folgendermaßen gezogen. Im Zentral¬
blatt für Chir. 1905, Nr. 25, wird aus Hoffas Vortrag allerdings
nur vom kongenitalen Ursprung der Anomalie berichtet, dagegen
steht in seinem Lehrbuch V. Aufl. S. 618: „Coxa vara kann Vor¬
kommen: als angeborene Deformität (Kredel) in Verbindung mit
multiplen schweren Deformitäten anderer Gelenke. Als Ursache
ist intrauteriner Raummangel anzunehmen.“ Ich nahm an,
daß diese mit aller Bestimmtheit geäußerte Behauptung auch für den
Fall Gültigkeit hat, daß die angeborene Coxa vara mit Hüftluxa¬
tion der anderen Seite kombiniert ist. Auch auf Seite 603 des
Lehrbuchs steht nur, daß die Entstehung der angeborenen Schenkel¬
halsverbiegung jedenfalls auf eine Erkrankung an der Stelle der Epi¬
physenlinie zurückzuführen sei (und nicht etwa auf ein Trauma!).
Jedenfalls konnte ich nirgends eine Stelle finden, woraus zu ent¬
nehmen wäre, daß Hoffa 2 ) „auf dem Standpunkt der Keimfehler¬
theorie“ stehe. Wieso hiefür die anatomische Anomalie des Schenkel¬
kopfes und -halses als Beweis anzusehen ist, wie Wollenberg
meint, vermag ich nicht einzusehen. Auch die Beckenbilder von
*) Bessel-Hagen, Die Pathologie und Therapie des Klumpfußes.
Heidelberg 1889.
2 ) Hoffa-Rauenbusch, Atlas d. orth. Chir. in Röntgenbildern 1905.
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Keimfehler oder abnorme Druckwirkung?
491
Coxa vara und dieser in Verbindung mit angeborener Hüftluxation
der anderen Seite konstatieren wohl die Tatsache des kongenitalen
Vorkommens, sind aber nicht geeignet, die Entstehung des Leidens
irgendwie aufzuklären (auf die Röntgenbilder der Luxatio coxae selbst
bin ich in meiner Arbeit genügend eingegangen). Mir spricht das
unregelmäßige Wachstum der in Frage kommenden Knochen, so¬
wohl bei Coxa vara als auch bei Luxatio coxae cong., auch beim
Betrachten dieser Bilder am meisten dafür, daß eine abnorme Be¬
lastung die Veranlassung dazu abgegeben hat.
Meine Behauptung jedoch, daß alle Autoren die oben genann¬
ten Deformitäten meist durch eine abnorme intrauterine Belastung
entstanden ansehen, kann ich durchaus aufrecht erhalten und daraus
die angedeuteten Folgerungen ziehen.
Die Tatsache des abnormen Knochenwachstums bei abnormer
Belastung ebenso wie die Tierversuche glaubte ich mit Recht her¬
vorheben zu müssen, weil ich zeigen wollte, daß die starken Knochen¬
veränderungen, die man an Pfanne und Kopf findet, allein durch
Abheben des Kopfes aus der Pfanne entstanden sein können, wie
ich es ja auch für die Entstehung der kongenitalen Luxation annehme.
Der zitierte Lorenz sehe Fall einer durch spastische Paraplegie
hervorgerufenen Luxation der Hüften ist gerade dazu angetan, die
Möglichkeit der Entstehung der Luxation zu beweisen, und zwar unter
den gleichen Lageverhältnissen, wie wir sie für die uterin entstan¬
denen Luxationen annehmen. Den Muskelzug im Lorenzschen Fall
mit dem Druck im Uterus bei den angeborenen Fällen zu identifi¬
zieren, glaube ich mit dem Hinweis auf die einander verwandten
Bilder des Pes varus congenitus und des im späteren Leben entstan¬
denen Pes varus paralyticus rechtfertigen zu können.
Dem Einwand, den ich gegen die Keimfehlertheorie wegen der
fast völligen Wiederherstellung normaler Verhältnisse einige Zeit
nach erfolgter Reposition erhob, begegnet Wollenberg nicht sehr
glücklich, wenn er die Bildung des Hüftgelenks mit der Nearthrosen-
bildung identifiziert.
Erstens sind Nearthrosen, was Beweglichkeit und normale
Funktion anlangt, kaum je vollkommen ausgebildete Gelenke. Zwei¬
tens ist alles, was das Gelenk zusammensetzt, da und braucht nicht
erst zum Teil gebildet zu werden, wie es für den Begriff Nearthrose
erforderlich ist. Und drittens, wenn die in Frage kommenden Teile
in Berührung gebracht sind, so erklärt die Theorie des primären
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492
Paul Ewald.
Keimfehlers noch nicht, wie die Pfanne und der Kopf sich fast nor¬
mal gestalten können, während ihnen doch aus „inneren Ursachen“
die Möglichkeit genommen sein soll, sich normal anzulegen und zu
bilden. Viertens betont Wollenberg, daß die „Nearthosenbildung“
„an dem ursprünglich angelegten normalen Pfannenort“ vor sich
ginge. Wie kann man aber als Anhänger der Keimfehlertheorie
von einem normalen Pfannenort reden, wenn man sich vergegen¬
wärtigt, daß dieser erst durch das Wachstum und die Umwandlung
desselben Mutterblastems, aus dem auch der Femurkopf hervorgeht,
und in dem gerade der primäre Keimfehler sitzt, gebildet wird.
Nun sieht Wollenberg die abnormen mechanischen Kräfte für
die Manifestation der angeborenen Hüftverrenkung als sehr wichtige an,
hält sie aber für sekundäre. „Es müssen ganz besondere Verhält¬
nisse vorliegen, um infolge mechanischer Einwirkung ein Hüftgelenk
zur Luxation zu bringen.“ So niipmt auch Hoffa zu dem Keim¬
fehler noch eine Kraft an, wodurch die untere Extremität des Fötus
eine solche Stellung erhält, daß die Veränderungen an der Hüfte
vor sich gehen und der Schenkelkopf an der Pfanne vorbeiwach¬
sen kann.
Weshalb soll nun aber in die Aetiologiefrage eine Schwierig¬
keit hineingetragen werden, da doch die Hauptsachen, wenn auch
nicht alles durch das klinische Bild und das Experiment direkt
sicher gestellt ist, theoretisch als mechanisch hervorgerufen gedacht
werden können. In der gesamten Medizin besteht die Neigung,
sämtliche Symptome, die man vereint erfahrungsgemäß an einem
Kranken findet, zu einem Krankheitsbild zu vereinigen und eine ge¬
meinsame Ursache an seinem Zustandekommen zu beschuldigen.
Und man ist damit gut gefahren.
Außerdem gibt Wollenberg des öftern zu, daß auch die mit
Hüftluxation kombinierten Deformitäten wohl für intrauterine Be¬
lastungsmomente sprechen, hält es aber gleichwohl für „plausibler,
in der fehlerhaften Haltung der Gliedmaßen eher einen Ausdruck
der durch gemeinsame primäre Gelenkanomalien bedingten Funktions¬
störung zu sehen“. Trotzdem ihm das so plausibel scheint, muß er
doch bekennen, daß die Theorie der primären Bildungsfehler große
Rätsel umgeben, und daß man gar nichts von ihnen weiß. Und nun
frage ich: Wie kann man mit einem Begriffe wirtschaften, den man
kaum zu definieren vermag, geschweige denn, daß man sich eine Vor¬
stellung von seinem Zustandekommen und seinem Wirken machen kann.
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Keimfehler oder abnorme Druckwirkung?
493
Nach wie vor glaube ich, daß die Annahme eines vitium pri¬
mae formationis uns keinen Schritt in der Erkenntnis der kongeni¬
talen Hüftluxation weiter bringt. Für einige wenige Fälle, wie auch
für den idiopathischen Klumpfuß und andere Bildungsanomalien
und teratologische Bildungen haben wir ja leider keine andere „Er¬
klärung“ als die durchaus unbefriedigende der fehlerhaften Keiman¬
lage. Dagegen glaube ich für die meisten Fälle die mechanische
Theorie allein für die Entstehung des Leidens mit vieler Wahr¬
scheinlichkeit heranziehen zu dürfen, nicht aus einem Gefühl der
Dankbarkeit, weil sie uns schon so oft geholfen hat, sondern weil
bis jetzt keine Theorie im stände ist, alle Erscheinungen besser auf¬
zuklären.
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XXX.
Keimfehler oder abnorme Druckwirkung?
Bemerkung zu Ewalds gleichnamigem Aufsatz.
Von
Dr. Gustav Albert Wollenberg,
Assistent der Hoffaschen Klinik.
In vorstehender Abhandlung spricht Ewald über den Wert
theoretischer Spekulationen im allgemeinen und im besondern über
den Wert der Theorie des endogenen Keimfehlers, sowie über
den der abnormen Druckwirkung. Ich will zu seinen Ausfüh¬
rungen nur in Kürze das Wort nehmen.
In allen Disziplinen, in welchen man sich zur Erklärung von
Tatsachen und Erscheinungen der Theorie bedient, fordert man von
derselben, daß sie möglichst alle Einzelheiten der dunklen Tat¬
sachen und Erscheinungen in ungezwungener Weise erklärt. Sobald
eine Tatsache gegen die Theorie spricht, wird die letztere über
Bord geworfen, und wir sind gezwungen, uns eine neue, bessere
Theorie zu suchen. Meiner Meinung nach ist der ideelle Wert einer
ätiologischen Theorie weniger davon abhängig, ob die Begriffe, mit
denen sie arbeitet, für uns schwierige und dunkle sind, oder ob die
Theorie befruchtend auf unser therapeutisches Handeln wirkt, als
vielmehr davon, ob sie alle Einzelheiten einheitlich zu erklären ver¬
mag, und ob keine Tatsachen gegen sie sprechen.
Daß bei der Aufstellung von Theorien in allen Disziplinen —
und zwar in viel exakteren, als in der Medizin — mit Begriffen ge¬
arbeitet wird, welche an unser Vorstellungsvermögen hohe Anforde¬
rungen stellen, ist bekannt; ich weise z. B. auf die physikalische
Theorie vom „Aetlier“, welcher den Weltenraum und die Zwischen¬
räume der Körperteilchen ausfüllen soll, hin; niemand kennt diesen
„Stoff“ oder kann sich von seinen Eigenschaften eine Vorstellung
machen, und doch ist die Aethertheorie eine allgemein anerkannte,
da sie uns die einzelnen Erscheinungen der Optik am befriedigendsten
erklärt.
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Keimfehler oder abnorme Druckwirkung?
495
Ich hebe also hervor, daß die Schwierigkeit, welche in
dem Begriffe einer Theorie liegt, nicht gegen den Wert
der letzteren spricht.
Gehen wir nun auf die beiden uns hier interessierenden Theo¬
rien kurz ein:
Zunächst die Theorie des primären Keimfehlers; das Wort,
welches diese Theorie bezeichnet, sagt uns allerdings nicht viel —
nur, daß wir die Ursache der Mißbildung eben in der Anlage
des Fötus selbst, nicht außerhalb desselben zu suchen haben.
Welcher Art die Ursache ist, ob eine Anomalie des Eies oder des
befruchtenden Sperma oder ob eine Anomalie der ersten Ent¬
wicklungsvorgänge des befruchteten Eies (vielleicht durch eine Er¬
krankung desselben) vorliegt, das wird sich, solange wir über die
ersten Entwicklungsvorgänge und vor allem über die Pathologie
derselben nicht orientiert sind, einstweilen unserer Kenntnis ent¬
ziehen. Wir kennen also weder das Wie? noch das Warum? der
Entstehung primärer Keimfehler.
Liegen nun zwingende Gründe vor, an diesem Begriffe trotz
seiner Dunkelheit festzuhalten?
Schwalbe sagt, daß wir häufig „die Mißbildung auf ,innere 1
Ursachen per exclusionem zurückführen, weil wir keine äußeren
Ursachen kennen, die die Veranlassung gewesen sein könnten“. Es
gehören hierher vor allem die Fälle, bei denen eine „Erblichkeit“
erfahrungsmäßig häufig zu finden ist. Wenn wir auch zugeben,
daß der Ausdruck „Vererbung“ für uns große Schwierigkeiten ent¬
hält, daß er lediglich „der Ausdruck einer Erfahrungstatsache“ ist,
so haben doch klinische Erfahrungen und experimentelle Züchtungs¬
versuche (Hippel) die Vererbung angeborener Leiden zur Genüge
dargetan. Ich verweise hier nur auf die Ausführungen Schwalb es,
der genügend Fälle aus der Literatur zusammenstellt. Für der¬
artige Fälle und für viele teratologische Bildungen müssen wir den
Begriff primärer Keimfehler, und damit auch Zieglers „primäre
Keimesvariation“, also das erstmalige Auftreten einer Mißbildung
in einer gesunden Familie, anerkennen; der letztere Begriff, der ja
nur der Ausdruck einer Erfahrungstatsache ist, macht es auch ver¬
ständlich, daß eine Vererbung von angeborenen Mißbildungen nicht
immer eintreten muß, denn ein plötzlich in einer Generation auf¬
tretender Fehler muß eine gewisse Labilität besitzen; er muß ebenso,
wie er einen Anfang hatte, im Laufe der Generationen, zumal bei
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XV. Bd. 32
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496
Gustav Albert Wollenberg.
der Mischung mit normalen Individuen, später oder früher, auch ein
Ende erreichen können. Es hat also nichts Wunderbares an sich,
wenn eine große Reihe angeborener Bildungsfehler schon in der
nächsten Generation verschwunden ist. Beobachten wir aber bei
einer gewissen angeborenen Erkrankung eine gewisse, nicht zu
geringe Zahl von Vererbungen, ja, lassen sich in einzelnen Fami¬
lien regelrechte „ Stammbäume “ von Mißbildungen nach weisen, so
haben wir ein Recht, von einer Vererbung des Leidens zu sprechen.
Ich werde noch einmal auf die Vererbungsfrage zurtickkommen
müssen.
Auch Ewald erkennt nun offenbar einstweilen für gewisse
Fälle (idiopathischer Klumpfuß und andere Bildungsanomalien und
teratologische Bildungen) die Berechtigung der Theorie des pri¬
mären Keimfehlers an, da wir nichts Besseres dafür haben, wenn
er sie auch für durchaus unbefriedigend hält; gleichwohl fragt er
wenige Zeilen vorher, wie man mit einem Begriffe wirtschaften
könne, „den man kaum definieren, geschweige denn, daß man sich
eine Vorstellung von seinem Zustandekommen und seinem Wirken
machen kann“? Dem gegenüber stimme ich in den bescheidenen
Satz ein: „Die Unzulänglichkeit unseres Wissens allein ist kein
Grund, den ganzen Begriff fallen zu lassen“ (Schmidt, diese Zeit¬
schrift Bd. XII).
Was nun die Theorie der abnormen Druckwirkung be¬
trifft, so ist ihre Berechtigung für die Deutung vieler Fälle über
jeden Zweifel erhaben. Aber auch die Belastungstheorie steht, wie
Ewald selbst ausführt, auf durchaus unsicherem Boden, auch sie
muß mit einer unbekannten Größe rechnen, denn bei der großen
Mehrzahl der Fälle, in denen wir mechanischen Druck als Ursache
annehmen müssen, ist uns „der letzte Grund des Zustandekommens
eines mechanischen Druckes ebenso dunkel, wie die innere Sto¬
rung, der Keimentwicklung und die primäre Keimesvariation.“
Also, die Tiefe unserer Kenntnisse von den Bedingungen, die
zur Entstehung einer intrauterinen Belastungsdeformität führen, ist
nur um etwas bedeutender als die Tiefe unserer Kenntnisse von den
Bedingungen, welche den primären Keimfehler veranlassen.
Wir können uns hier das Wie? vorstellen; über das Warum?
dagegen fehlt uns in den meisten Fällen jeder Anhaltspunkt.
Beide Theorien behalten trotzdem einstweilen einen hohen
Wert, und sie werden einstweilen wohl noch nebeneinander hergehen
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Keimfebler oder abnorme Druckwirkung?
497
müssen. Warum ich mich für die angeborene Hüftluxation
mit vielen anderen Autoren auf die Seite des „Keimfehlers“ stelle,
habe ich in meiner Arbeit „Ueber die Kombination der angeborenen
Hüftgelenksverrenkung mit anderen angeborenen Deformitäten“
(Zeitschr. f. orthop. Chir. Bd. XV. H. 1) kurz zusammengefaßt.
Nach diesen allgemeinen Betrachtungen will ich nun auf den
Teil der Ewaldschen Ausführungen eingehen, welcher meine Kritik
seiner Arbeit „Zur Aetiologie der angeborenen Hüftgelenks Verren¬
kung“ (Deutsche Zeitschrift für Chir. Bd. 80, 1905) zurückzu¬
weisen sucht.
Wenn ich mich dagegen wandte, daß Ewald sagt, Deformi¬
täten, wie Torticollis, Pes varus, Genu recurvatum, Coxa vara, wür¬
den „einstimmig als meist durch abnorme intrauterine Belastung
entstanden angesehen“, so tat ich das, weil diese Worte — obwohl
Ewald mit dem Wörtchen „meist“ eine Einschränkung gibt —
leicht den Eindruck hervorrufen könnten, als sei die Aetiologie
dieser Affektionen mit geringen Ausnahmen als eine einheitliche
anerkannt; das gilt aber nur für die Mehrzahl der Klumpfüße und
für das Genu recurvatum congenitum. Für den Torticollis dagegen
und für die Coxa vara trifft dies absolut nicht zu, vielmehr finden
wir hier noch sehr entgegengesetzte Meinungen.
Wenngleich auch die große Menge der Klumpfüße wohl
intrauteriner Belastung ihre Entstehung verdankt, so wollen wir
doch nicht vergessen, daß zu den idiopathischen Klumpfüßen auch
die zu rechnen sind, bei denen einwandsfreie hereditäre Momente
vorliegen; und auch sonst wird mancher Klumpfuß ein idiopathischer
sein, dem man das von außen nicht ohne weiteres ansieht; die Selten¬
heit der Erwähnung von Klumpfüßen mit groben anatomischen Ab¬
weichungen beruht sicher nicht allein auf der Seltenheit der idiopa¬
thischen Klumpfüße überhaupt, sondern auch auf der Seltenheit
exakter anatomischer Untersuchungen an Klumpfußpräparaten.
Beim Torticollis sprechen einerseits die zahlreichen Kom¬
binationen mit anderen angeborenen Verbildungen, für welche wir
eine Belastungsätiologie nicht gut annehmen können, anderseits die
Vererbung dafür, daß es sich in einer Reihe von Fällen um einen
Keimfehler handelt. Also würde es durchaus nicht gezwungen sein,
wenn man Kombinationen dieser Leiden mit der Hüftverrenkung
für mehrfache Keimfehler halten würde.
Ewald tadelt nun mein Zitat aus dem Joachimsthalschen
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498
Gustav Albert Wollenberg.
Handbuche, daß „die gar nicht so selten vorkommende Vererbung
die gelegentliche Entstehung des Leidens auf Grund einer fehler¬
haften Keimanlage zweifellos mache“, da die meisten der beob¬
achteten Fälle mehrere Kinder derselben Eltern betreffe. Ebenso
richtet sich Ewald dagegen, daß ich seine Auffassung von der
Erblichkeit bei der Hüftluxation als unzulässig bezeichne; er will,
daß wir die Fälle, wo mehrere Kinder derselben Mutter dasselbe Leiden
haben, von dem strengen Begriff der Vererbung ausschließen sollen.
Ich gebe zu, daß es für unsere Kenntnis der noch so dunklen
Vererbungsfrage von hohem Werte wäre, wenn die Fälle von Ver¬
erbung eines Leidens einer eingehenden Kritik im Sinne Ewalds
unterzogen würden; dabei wären aber noch einzelne Punkte zu be¬
rücksichtigen ; vergegenwärtigen wir uns einmal die Ursachen, welche
zu abnormer Druckwirkung auf den Fötus führen können; es sind das
1. außerhalb des Eies und seiner Adnexe gelegene
Ursachen (abnorme Verhältnisse des Beckens sowie des Uterus;
Raumbeengung infolge von Tumoren oder Zwillingsschwanger¬
schaft etc.); (
2. innerhalb des Eies und seiner Adnexe gelegene
Ursachen (a. Raumbeschränkung infolge von Anomalien einzelner
fötaler Organe [Hydrocephalus etc.] oder infolge von Doppelmißbil¬
dungen. b. Raumbeschränkung infolge von Amnionanomalien [amnio¬
tische Adhäsionen, Fruchtwasseranomalien]).
Die unter 1. angeführten Anomalien, soweit sie überhaupt ver¬
erbbar sind, können also natürlich — mit Ausnahme der Zwillings- |
Schwangerschaften — nur durch die Mutter vererbt werden, die
unter 2. angeführten dagegen sowohl durch den Vater wie durch
die Mutter. Daraus folgt umgekehrt, daß bei Anomalien, die sowohl
durch den Vater wie durch die Mutter vererbt zu werden pflegen,
a priori die Vererbung rein äußerer abnormer mechanischer Mo- .
mente weniger in Frage kommt; hier müßte es sich vielmehr in der f
großen Mehrzahl der Fälle um Anomalien des Amnion handeln. (Da J
nun das letztere, welches das Fruchtwasser zum großen Teile liefert, i
ein fötales Organ ist, so kommen wir zum Schlüsse wieder auf eine '
in den Organen des Fötus gelegene vererbbare Anomalie zurück; |
da weiter für die Vererbungsmöglichkeit erworbener Anomalien bis- |
her noch keine sicheren Anhaltspunkte vorliegen, müßten wir diese
Amnionanomalien wieder für „angeborene“ im engeren Sinne des !
Wortes halten.)
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Keimfehler oder abnorme Druckwirkung?
499
Weiter ist zu bedenken, daß eine Auswahl der Fälle von Ver¬
erbung, wie sie Ewald fordert, sehr leicht zu Fehlschlüssen führen
könnte, wobei die „angeborenen“ Deformitäten zu kurz kommen
könnten; denn bei Mißbildungen oder Anomalien, welche wir nach
dem heutigen Stande unseres Wissens für rein „angeborene“ halten
müssen, finden wir doch auch häufig mehrere Kinder derselben
Mutter von der Anomalie ergriffen; bei diesen würde es uns nicht
einfallen, die von Ewald gewünschte Auslese zu treffen. Ich er¬
innere nur vergleichsweise an eine hereditäre Erkrankung mit be¬
kanntem Vererbungstypus, bei der äußere mechanische Einflüsse
auszuschließen sind, an die Hämophilie, die man ja auch eine
chemische Mißbildung genannt hat; bei dieser erkranken doch auch
häufig mehrere Söhne der erblich belasteten, selber gesunden Mutter.
Diese Verhältnisse sind bei einer Kritik des Kapitels „Vererbung“
wohl zu berücksichtigen.
Daß bei der Hüftluxation die Prozentzahlen der Ver¬
erbungen, wenn man die von Ewald geforderte Auslese trifft, sich
geringer stellen, als die von Vogel und Narrath berechneten, ist
zweifellos — immerhin aber bleibt auch dann noch eine erhebliche
Reihe von Fällen — wenigstens nach unseren Beobachtungen —, die
unzweideutig für die auffallend häufig vorkommende Erblichkeit der
Affektion, auch im strengen Sinne, zeugt.
Wenn ich mich gerade beim Schiefhalse enthalten habe,
eine bestimmte Ansicht über seine Beziehungen zur angeborenen
Hüftluxation auszusprechen, obgleich ich mehr geneigt bin, hier
Kirmisson beizupflichten, der den Schief hals in seinem Falle für
einen traumatischen hält, so geschieht das aus mehreren Gründen,
die ich absichtlich in meiner Arbeit nicht angeführt habe, da ich
mit meinen anatomischen Untersuchungen, betreffend den Schief¬
hals, noch nicht abgeschlossen habe.
Wenngleich ich, nach dem oben Gesagten, die „gelegentliche“
Entstehung des Schief halses auf der Basis eines Keimfehlers anerkenne,
neige ich mich für viele, besonders die in Steißlage geborenen Fälle,
mehr der alten Stromeyersehen Ansicht zu, daß hier das Geburts¬
trauma ätioligsch verantwortlich zu machen ist, und zwar:
1. Auf Grund einer mündlichen Mitteilung meines früheren
Chefs, des Herrn Dr. Geipel, Prosektor am Krankenhause Jo¬
hannstadt in Dresden, der über ein besonders großes Sektions¬
material an Neugeborenen und Säuglingen verfügt; Geipel beob-
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500
Gustav Albert Wollenberg.
achtete ziemlich häufig frische Einrisse in den sonst normalen M.
stemocleidomastoideus. Freilich ist damit noch nicht erwiesen, was
aus diesen Einrissen geworden wäre, wenn die Kinder am Leben
geblieben wären.
2. Auf Grund meiner anatomischen Untersuchungen an von
uns operierten Fällen; in einigen derselben habe ich mehr oder
minder ausgiebige Reste von Blutungen gefunden; in einem Falle,
von einem 17 Wochen alten Kinde stammend, sogar eine enorme
Menge intra- und extrazellulär in den Gewebsspalten liegenden Blut¬
pigmentes. Da nun aber auch die gelegentliche Zerreißung schon
verkürzter Muskeln intra partum ziemlich einwandsfrei nach¬
gewiesen worden ist, so möchte ich meine persönlichen Erfahrungen
noch durchaus nicht als spruchreif hinstellen.
Als feststehend erachte ich nur, daß die Aetiologie des
angeborenen Schiefhalses keine einheitliche ist.
Wenn ich in meiner Kritik der Ewaldschen Arbeit sagte, daß
der Schief hals sich nicht im entferntesten so gut eigne, aus seiner Kom¬
bination mit Hüftverrenkung auf eine Belastungsätiologie der letz¬
teren zu schließen, wie Knieluxationen, sowie Knie- und Hüftkon-
trakturen, so glaube ich, dies im ersten Teile meiner Abhandlung
(S. 133 und 134) hinreichend ausgefübrt zu haben; denn da die
Anhänger der Belastungstheorie nicht nur diese Belastung, sondern
auch eine bestimmte Beinstellung des Fötus fordern müssen,
würden die Fälle, an denen man neben weiteren Belastungsmerkmalen
aus der Konfiguration des Fötus eine intrauterine Haltung des Ober¬
schenkels in starker Flexion bezw. Adduktion rekonstruieren kann,
erhebliches Beweismaterial für die Belastungstheorie liefern. Derartige
Beinstellung zeigen u. a. die Kniekontrakturen und Hüftkontrakturen,
die Knieluxationen; sie sind durch Stellungen bedingt, welche gleich¬
zeitig einer eventuellen Luxierung der Hüftgelenke die denkbar
günstigsten Chancen bieten; es müßten also, da das Hüftgelenk nach
der Belastungstheorie das einer Luxation am meisten ausgesetzte Gelenk
ist, die angeborenen Hüft- und Kniekontrakturen sowie
Knieluxationen nicht ausnahmsweise, sondern in der Regel mit der
angeborenen Hüftverrenkung kombiniert sein — dann würden sie einen
ziemlich sicheren Beweis für die Belastungsätiologie der Hüftver¬
renkung bilden. Daß dies nicht der Fall ist, habe ich in meiner
Arbeit ausgeführt.
Zu den weiteren Ausführungen Ewalds habe ich kaum noch
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Keimfebler oder abnorme Druckwirkung?
501
etwas zu bemerken; Ewalds Mißverständnis bezüglich des Hoffa¬
schen Standpunktes in Betreff der Coxa vara congenita ist erklärt durch
eine Uebertragung des früher im Hoffaschen Lehrbuche Gesagten
auf eine spätere Arbeit, deren Resultate hauptsächlich das Produkt
eingehender Röntgenstudien sind. Was das von Hoffa beschriebene
anatomische Präparat von Coxä vara betrifft, so spricht es zum min¬
desten gegen eine mechanische Entstehung der Anomalie — ob
eine fötale Erkrankung oder eine primäre Keimanomalie vorliegt,
ist freilich nicht zu entscheiden. Wenn ich ein Röntgenbild aus
dem Hoffa-Rauenbusch sehen Atlas zitierte, so geschah das
lediglich, um einen Beleg der von uns beobachteten Anomalie zu
geben; Schlüsse habe ich meines Wissens aus diesem Bilde nicht
gezogen, wie ich ja überhaupt diese Kombination der Luxation mit
Coxa vara der anderen Seite unberücksichtigt gelassen habe.
Was schließlich meinen Hinweis auf die Nearthrosenbil-
dung betrifft, so handelt es sich bei demselben natürlich um eine Ana¬
logie, nicht eine Identifizierung; ich meine, die Anführungszeichen
bei dem Worte „Nearthrose“ drücken das deutlich genug aus.
Das nicht minder seltsame Mißverständnis Ewalds betr. meiner
Worte vom * ursprünglich angelegten normalen Pfannen ort“ be¬
dürfte eigentlich ebensowenig der Erwähnung; es versteht sich wohl
ohne weiteres von selbst für einen Anhänger der Keimfehlertheorie,
daß ich damit den Ort meine, wo normaliter die Differenzierung
von Femurkopf und Pfanne eintritt, denn der Ort, wo die Pfanne
des luxierten Hüftgelenkes sitzt, stimmt doch mit dem Pfannenorte
eines normalen Hüftgelenkes überein.
Ich meinte also, daß dort, wo bereits eine gewisse, wenn auch
abnorme Pfanne vorhanden ist, infolge „funktioneller Belastung“
die Ausarbeitung eines brauchbaren Gelenkes nach Analogie der
Nearthrosenbildung wohl verständlich ist, und ich sehe also nicht
ein, warum die Resultate unserer Therapie gegen die Aetiologie des
Keimfehlers sprechen sollten.
Zum Schlüsse hebe ich noch einmal hervor, daß meiner Mei¬
nung nach besonders die Erblichkeitsverhältnisse und die häufigen
Veränderungen am oberen Pfannendach der klinisch gesunden
Seite direkt gegen die Belastungstheorie sprechen, während sie durch
die Keimfehlertheorie zwanglos erklärt werden, daß also vom rein wissen¬
schaftlichen Standpunkt aus letztere, trotzdem sie in ihrem Wesen
noch dunkler ist als erstere, für die Hüftluxation den Vorzug verdient.
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XXXI,
Die Coxa vara
unter Zugrundelegung des Materials aus der Privatklinik des Herrn
Geheimrat Hoffa und der kgl. Universitätspoliklinik für orthopädische
Chirurgie zu Berlin.
Von
Dr. Carl Helbing,
I. Assistenten der kgl. Universitätspoliklinik für orthopädische Chirurgie
zu Berlin.
Mit 81 in den Text gedruckten Abbildungen.
Von den Erkrankungen des Skelettsystems hat die Coxa vara
in dem letzten Jahrzehnt eine eingehende und ausführliche Bearbei¬
tung von seiten der Chirurgen und Orthopäden erfahren. Besonders
hat dabei die Frage nach der Aetiologie dieser eigentümlichen Knochen¬
verbiegung interessiert, und diese Fragestellung eine große Anzahl
wertvoller und ausführlicher Arbeiten an den Tag gefördert. Wenn
ich es unternehme, eine erschöpfende Darstellung dieses Krankheits¬
bildes zu geben, so glaube ich aus drei Gründen dazu berechtigt zu
sein. Erstens verfüge ich über das stattliche Material von 77 klinisch
beobachteten Fällen, dann sind mir im Laufe der letzten 3 Jahre
mehrere durch Operationen gewonnene Präparate zu histologischen
Untersuchungen zugänglich geworden, die einen Einblick in das
Wesen der Coxa vara geben, und endlich hat das große Material
auch unserem therapeutischen Handeln bestimmtere Indikationen
gegeben.
Die Geschichte der Coxa vara entbehrt nicht eines gewissen
Interesses. Als eigenes und abgeschlossenes Krankheitsbild mit dem
Nachweis klinischer Bedeutung hat es als erster Ernst Müller [136]
aus der v. Brunsschen Klinik im Jahre 1888 beschrieben, und ihm
gebührt deshalb auch das Verdienst, der Deformität zu der ihr in
der Pathologie gebührenden Stellung verholfen zu haben. Die älteste
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Die Coxa vara.
503
Beobachtung überhaupt stammt aus dem Jahre 1843 von Röser [157],
der unter „Morbus coxarius 44 die Beschreibung eines Krankheitsfalles
gab, die allerdings nur eine entfernte Aehnlichkeit mit dem Bilde einer
Coxa vara hat.
Als das Interesse für die Coxa vara einmal geweckt war, da
gelang es Leuten mit historischem Sinne, auch noch eine Reihe von
Einzelbeobachtungen aus der älteren Literatur auszugraben; ich nenne
hier nur die Beschreibungen von Wernher [189], Zeiß [200], Ri-
chardson [156], Fiorani [44], Monks [130] undKeetle [87],
Aber die kritische Betrachtung dieser Fälle führte zu einer weiteren
Ausscheidung. Wie schon erwähnt, ist aus der Röser sehen Kranken¬
geschichte und dem anatomischen Befunde die Diagnose einer Coxa
vara nicht mehr aufrecht zu erhalten. Bei einem an Phthise ver¬
storbenen 24jährigen Manne bestand eine Ankylose des Hüftgelenks
in hochgradiger Flexion, Adduktion und Innenrotation. Der Trochanter
major war nach vorn gerückt. Bei der Eröffnung des Gelenks zeigte
sich, daß der Schenkelknochen eine Drehung nach vorn erfahren hatte,
so daß Hals und Trochanter nach vorn und innen sahen. Von einer
Verbiegung am coxalen Ende ist hiernach gar keine Rede, und die
Bemerkung im Protokolle * Trochanter minor stark vorspringend und
nach hinten gerichtet, der Schenkelknochen selbst zwischen ihm und
dem Trochanter major etwas verbogen 14 , berechtigt nur zur Annahme,
daß eine Verbiegung im oberen Teile des Schenkelschaftes bestand.
Nach diesem Befunde ist die Annahme einer ausgeheilten Coxitis
mit sekundärer Kontrakturstellung viel wahrscheinlicher.
Mit der Ausscheidung des Röserschen Falles gewinnt die Be¬
schreibung eines anatomischen Präparates von Wernher aus dem
Jahre 1847 eine erhöhte Bedeutung. Hier ist zum ersten Male der
Verbiegung des Schenkelhalses gegen den Schenkelschaft bis zum
rechten Winkel, also der Verkleinerung des Schenkelhalswinkels,
Erwähnung getan, und die Darstellung läßt intraartikuläre Verände¬
rungen am Hüftgelenk ausschließen. Ich möchte hier die Beschreibung
des Präparates in extenso wiedergeben:
„Die Apophysenlinien sind noch nicht völlig mit der Röhre des
Knochens verschmolzen, der Schenkelhals steht in einem vollkommen
rechten, selbst etwas spitzen Winkel zur Röhre des Femur. Der
Schenkelkopf ist sehr stark herab- und nach hinten gebogen, so
daß er nach oben und vorn gar keinen, nach unten und hinten da¬
gegen einen sehr bedeutenden champignonartigen Vorsprung bildet.
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Carl Helbing.
An der überknorpelten Fläche zeigt sich keine Spur eines Knochen-
Schliffes, der Schenkelkopf ist zwar exzentrisch auf den Schenkelhals
gestellt, aber nicht verunstaltet.“
Wir haben hier also die geradezu klassische Beschreibung eines
anatomischen Präparates von einer Coxa vara adolescentium, doch hat
jene ohne einen begleitenden klinischen Befund nur die Bedeutung
einer pathologischen Rarität* Das Gleiche gilt für die Mitteilung
von Zeiß, der im Jahre 1851 folgende Darstellung von einem anato¬
mischen Präparate gibt:
„Schenkelkopf eines jugendlichen Individuums. Derselbe ist
breit gedrückt und überragt den Hals pilzförmig mit seinen Rändern.
Er ist demselben schräg aufgesetzt, so daß die Gelenkfläche zu zwei
Drittel nach vorn sieht. Der Hals selbst ist nach vorn convex ver¬
bogen und bildet mit dem Schaft einen rechten Winkel. Die Epi¬
physenlinie ist nach dem Kopf zu stark convex verbogen.“
Hier handelt es sich zweifellos um eine Schenkelhalsverbiegung,
doch macht es die Darstellung wahrscheinlich, daß der anatomischen
Veränderung ein Gelenkprozeß, eine Arthritis deformans zu Grunde lag.
30 Jahre lang ist es dann wieder in der Literatur still, bis der
Italiener Fiorani im Jahre 1881 mit einer ausführlicheren Arbeit her¬
vortrat, die sich diesmal mit der Aetiologie und dem klinischen Ver¬
lauf unserer Deformität beschäftigt. Bei 15 Patienten, mit einer Aus¬
nahme Kindern, die mit der Diagnose einer kongenitalen Hüftgelenks¬
luxation Fiorani vorgestellt wurden, beobachtet er eine Verkürzung
eines Beines, die anfangs 1 / 2 —1 cm beträgt, im Laufe der Jahre stark
zunimmt. Bewegungen im Hüftgelenk sind frei, ein Trauma oder
entzündlicher Prozeß nicht vorangegangen. Der Schenkelkopf ist in
der Pfanne, der Trochanter major dagegen in die Höhe gerückt und
dem Darmbeinkamm genähert. Fiorani nimmt eine rhachitische
Verbiegung des Schenkelhalses an und hat damit als erster die
Rhachitis als ätiologisches Moment der Coxa vara hereingezogen.
Trotz dieser Vorläufer bleibt es Müllers [135] unbestrittenes
Verdienst, die Coxa vara adolescentium durch eine ausführliche Dar¬
stellung des klinischen Verlaufes zu einem besonderen Krankheitsbild
gestempelt zu haben. Er hat den Nachweis gebracht, daß die De¬
formität sich von anderen Affektionen scharf abgrenzen läßt und zu¬
gleich eine mustergültige Beschreibung des Krankheitsbildes gegeben.
Müller beobachtete bei 4 jugendlichen Individuen von 14—18 Jahren
ohne besondere Veranlassung oder angeblich infolge eines vorange-
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Die Coxa vara.
505
gangenen leichten Traumas Schmerzhaftigkeit einer Hüfte; der Gang
wurde hinkend, dann kam es zu einer schnellen Ermüdbarkeit und
einer allmählichen Verkürzung der Extremität. Unter langsamer
Entwicklung der Symptome waren die Individuen nicht dauernd an
das Bett gefesselt, und abgesehen von der Hüftaffektion im übrigen
ganz gesund. Objektiv ließ sich eine Verkürzung des kranken Beines
von 2—3 cm nachweisen. Das Bein stand leicht nach außen rotiert,
in der Hüfte gestreckt oder leicht flektiert, beschränkt war die Be¬
weglichkeit der Hüfte nur im Sinne der Rotation und Abduktion.
Da der Nachweis des Kopfes in der Pfanne in allen Fällen gelang,
so mußte die Verkürzung des Beines darauf beruhen, „daß die Dia-
physe an der Epiphyse in die Höhe gerückt resp. der Winkel zwischen
Schaft und Schenkelhals ein kleinerer geworden ist.“ Durch ein Re¬
sektionspräparat wurde dann Müller ein genauer Einblick in die
bestehenden Veränderungen gegeben. Der Schenkelhals sieht aus,
als ob er durch einen Druck von oben nach abwärts abgebogen
wäre. Die obere Begrenzungslinie des Schenkelhalses ist demgemäß
konvex gestaltet und verlängert, umgekehrt die untere verkürzt, und
die Knorpelgrenze des Kopfes dem Trochanter minor genähert.
Bei der veränderten Richtung des Schenkelhalses muß der
Schenkelkopf schon bei gerader Stellung des Beines in extremster
Abduktionsstellung sich befinden, so daß es ohne weiteres klar ist,
warum auch in Narkose eine Abduktion des Beines unmöglich war.
Als Ursache der Erkrankung nimmt Müller eine Spätform
der Rhachitis an, auf deren Basis es bei der zu großen Nachgiebig¬
keit und Weichheit des Knochens infolge einer relativ zu hohen Be¬
lastung durch das Körpergewicht zu einer Gestaltsveränderung des
Knochens kommt. Es handelt sich nach Müller also um eine typi¬
sche Belastungsdeformität.
Von weiteren Mitteilungen über unser Thema sind dann die
meisterhaften Darstellungen Kochers [96] und Hofmeisters [74
bis 79] zu nennen, auf die wir noch zurückzukommen haben. Durch
sie ist das typische Krankheitsbild der Coxa vara adolescentium ge¬
schaffen worden. In rascher Folge haben sich dann kasuistische Be¬
obachtungen und ausgezeichnete Gesamtdarstellungen über das Wesen
der Coxa vara vermehrt, von denen ich hier nur die Arbeiten von
Alsberg [5], Wagner [187], Joachimsthal [82 u. f.], Manz
[124], Kredel [105], Reiner [152], Küster [108], Gerstle
[53], Sprengel [170] und Hoffa [69 u. f.] nennen möchte. Durch
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Carl Helbing.
sie ist ganz besonders der Begriff der Coxa vara und ihre Aetiologie
geklärt worden, und wir haben darnach verschiedene Gattungen der
Deformität zu unterscheiden.
Ich lasse jetzt mit Einbeziehung der Krankengeschichten der
von Hoffa inaugurierten Arbeiten Alsbergs und Wagners unsere
eigenen Beobachtungen folgen und will im zweiten Teil der Arbeit
unter Verwertung der gegebenen Krankheitsfälle das Wesen, den
Begriff, die Anatomie, das klinische Bild und die Therapie der Coxa
vara besprechen.
Bei der Gruppierung der Krankengeschichten möchte ich das
von Alsberg gegebene Schema der Entstehungsursachen für die
Coxa vara im großen ganzen beibehalten, doch sind kleine Verände¬
rungen durch die Erschließung neuer ätiologischer Gesichtspunkte
notwendig geworden.
Die Coxa vara kann also auftreten:
A. als angeborenes Leiden,
1. für sich ohne sonstige Deformitäten,
2. als scheinbarer Oberschenkeldefekt,
3. in Verbindung mit anderen angeborenen Deformitäten,
a) als Teilerscheinung einer Luxatio congenita,
b) in Verbindnng mit angeborenen Deformitäten anderer
Gelenke.
B. Als postfötal erworbenes Leiden infolge von
1. Rhachitis,
2. einer noch nicht sicher zu bestimmenden Erkrankung
des Wachstumsalters,
3. Osteomalacie,
4. Ostitis fibrosa,
5. Osteomyelitis,
6. Tuberkulose,
7. Cystenbildung und maligner cystischer Tumoren,
8. Arthritis deformans,
9. äußeren Gewalteinwirkungen.
Die Coxa vara congenita für sich, ohne sonstige Deformitäten.
Wir verfügen über Beobachtungen, bei welchen die Affektion
einseitig und doppelseitig ist, ohne daß sonstige Deformitäten be¬
stehen.
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Die Coxa vara.
507
A. Fälle von einseitiger angeborener Coxa vara.
Beobachtung 1. W. K., 4 3 /4 Jahr. Anamnese ergibt, daß Pa¬
tient mit 1 Jahr das Laufen lernte. Außer Masern keine Infektionskrank¬
heit, englische Krankheit nicht durchgemacht. Als der Knabe 1 l ji Jahr
alt war, bemerkte die Mutter bei ihm leicht watschelnden Gang. Die
Beschwerden nahmen allmählich mit einer von der Mutter konsta¬
tierten Verkürzung des linken Beines zu; das Kind trat schließlich
gar nicht mehr mit dem linken Beine auf, und das Gehen wurde
immer mühsamer. Treppensteigen ganz unmöglich geworden.
Gut entwickelter Knabe. Die seitliche Kontur der linken Hüft-
gegend erscheint verbreitert. Linkes Bein 4 cm kürzer als das rechte,
ist nur wenig nach außen rotiert, dagegen stark adduziert und in
Streckstellung. Abduktion und Außenrotation vollkommen aufge¬
hoben. Links konvexe statische Lumbalskoliose, Trendelenburg-
sches Phänomen links positiv. Keine Zeichen überstandener Rhachitis.
Das Röntgenbild (Fig. 1) ergibt folgendes: Asymmetrie des
Beckeneingangs derart, daß der linken oberen Beckenapertur ein
Radius mit kleinerem Durchmesser
entspricht. Absteigender und hori¬
zontaler Schambeinast verschmä¬
lert und verkleinert gegenüber
der gesunden Seite. Linkes Tuber
kleiner, ganz besonders schmal
der aufsteigende Ast des linken
Os ischii. Foramen obturatorium
links kleiner. An der linken
Beckenpfanne erscheint der dem
Os ilii gehörende Anteil flacher
und ist nicht so gewölbt wie auf
der gesunden Seite. Pfannengrund ohne Abweichung. Der Kopf ist
links bedeutend kleiner (Durchmesser 2,4 cm gegen 2,8 cm rechts)
und viel durchlässiger, besonders in seiner unteren Hemisphäre. Seine
obere Umrandung ist gerade, nicht konvex wie auf der gesunden Seite.
Die Epiphysenlinie ist verbreitert, verläuft im oberen Teil vertikal,
um sich etwa in der Mitte in einen medialen, schräg nach innen und
einen äußeren in der Fortsetzung des oberen Teils liegenden, also
vertikal verlaufenden Schenkel zu teilen. Zwischen beiden Schenkeln
noch eine quere durchlässige Brücke, so daß eine kleine obere und
Fig. 1.
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508
Carl Helbing.
eine größere, tiefer gelegene Knochenabsprengung verursacht ist. Ein
eigentlicher Schenkelhals existiert nicht. Die geschilderte Epiphysen¬
linie grenzt dem Schenkelschaft unmittelbar an. Die Entfernung des
Kopfes vom lateralen Schenkelschaftkontur beträgt 5,1 cm (gegenüber
5,4 cm auf der gesunden Seite). Auffallend ist die Verschmälerung
des Schenkelschaftes; unterhalb des Trochanter minor beträgt die
Dicke links 2,0, rechts 2,6 cm. Schenkelhalswinkel beträgt 80 °,
der Winkel, den eine durch die Epiphysenlinie gelegte Gerade mit
dem Schenkelschaft einschließt, ist = — 15° 1 ). Der höchste Punkt des
linken Kopfes liegt noch 0,3 cm unterhalb des Y-förmigen Knorpels,
rechts sieht er 2 mm über denselben hinaus. Dadurch ist der obere
Teil der Pfanne leer, und die Entfernung des Kopfes vom Pfannendach
nimmt nach außen noch zu. Trochanterkern links kleiner als rechts.
Der Schenkelschaft ist um ca. 10° der vertikalen Körperachse ge¬
nähert.
Im Februar 1904 wird die subtrochantäre Osteotomie links
vorgenommen, und das Bein in rechtwinkliger Abduktion für
6 Wochen durch Gips verband fixiert. Das Gehen war sofort nach
Abnahme des Gipsverbandes möglich. Eine Nachuntersuchung
1 Jahr später ergibt, daß noch leichtes Hinken auf dem linken
Bein besteht. Aktive Abduktionsmöglichkeit beträgt links 45°,
rechts 60°. Beugung des linken Oberschenkels bis zum Winkel
von 70° möglich. Rotationsbewegungen am linken Bein frei.
Linker Trochanter steht noch IV 2 cm oberhalb der Roser-Nelaton-
schen Linie. Trendelenburgsches Phänomen nicht mehr positiv.
Entfernung der Spina ant. sup. vom Malleol. ext.
links = 57 cm, rechts 58 ^ cm.
Entfernung des Trochanter major vom Malleol. ext.
beiderseits 53 cm.
Beobachtung 2. W. R., 3 Jahre alt. Patient nie krank
gewesen, lernte mit 11 Monaten das Laufen, bald nachher wurde
leicht watschelnder Gang auf dem rechten Bein bemerkt. Das
Hinken steigerte sich, und der Knabe wurde uns deshalb mit der
*) Das Minuszeichen vor dem Winkelgrade soll ausdrücken, daß die durch
die Knorpelfuge gelegte Gerade erst in ihrer Verlängerung nach unten den
Schenkelschaft schneidet; der <£ wird künftighin der Kürze halber als Epi¬
physenwinkel bezeichnet.
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Die Coxa vara.
509
Diagnose einer rechtseitigen kongenitalen Hüftgelenksluxation zur
Behandlung überwiesen.
Kräftig gebautes Kind, rechtes Bein ist adduziert, nur minimal
nach außen rotiert. Die Verkürzung beträgt 2 cm, dementsprechend
steht die rechte Trochanterspitze auch 2 cm oberhalb der Roser-
N^latonschen Linie. Trendelenburgsches Phänomen positiv.
Abduktion rechts beschränkt, die übrigen Bewegungen in der Hüfte
frei. Keine Zeichen von bestehender oder überstandener Rhachitis.
Am Röntgenbilde (Fig. 2) ist das Beckendach rechts etwas flacher
und weniger konkav, sonst keine
Differenzen der beiden Becken¬
hälften. Der Kopf ist rechts
in Abduktionsstellung gedreht,
der obere Rand steht noch 0,4 cm
unterhalb des Y-förmigen Knor¬
pels, wodurch der obere Teil
der Pfanne leer erscheint. Der
Kopf hat die Form eines Eies
mit nach unten gestellter Spitze.
Die Epiphysenlinie ist stark ver¬
breitert, verläuft wellenförmig in
einer Senkrechten, zwischen ihr ein kleiner, dattelförmiger Knochen¬
kern eingelagert. Medialster Teil des Kopfes vom lateralen Rande
des Schenkelschaftes 4,3 cm entfernt. Schenkelhalsspitze ist durch¬
lässiger als links. Der Schenkelhals selbst stark verkürzt, die Ver¬
kürzung betrifft besonders seinen unteren Rand. Schenkelschaft etwas
schmäler als links, Schenkelhalswinkel 87°, Epiphysenwinkel = 10°.
Beiderseits noch keine Trochanterepiphysenkerne.
Beobachtung 3. C. R., 5 1 /-> Jahre alt. Mädchen aus ge¬
sunder Familie, selbst nie krank gewesen, hat nie an englischer
Krankheit gelitten, mit 1 Jahr das Laufen gelernt. Linkes Bein
steht leicht nach außen rotiert, aber sehr stark adduziert und
bildet mit der Körpersenkrechten einen Winkel von 20°. Beugung
bis zum rechten Winkel frei. Außenrotation leicht behindert, Ab¬
duktion vollkommen aufgehoben. Trendelenburgsches Phänomen
links positiv. Linker Trochanter 2 cm oberhalb der Roser-N^laton-
schen Linie.
Am Röntgenbild (Fig. 3) besteht leichte Asymmetrie des Beckens
Fig. 2.
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510
Carl Helbing.
derart, daß auf der kranken Seite der oberen Beckenapertur ein klei¬
nerer Radius entspricht. Oberer Teil der linken Pfanne in ihrer late¬
ralen Partie unausgefüllt. Linker Kopf kleiner, durchlässiger als rechts.
mehr walzenförmig gestaltet und
in seinem frontalen Durchmesser
verlängert. Die Epiphysenlinie
im ganzen verbreitert, verläuft
rein vertikal und erweitert sich
nach unten spaltförmig. Schen¬
kelhals als solcher nicht vor¬
handen, insbesondere fehlt jede
Andeutung einer Schenkelhals¬
spitze, so daß die untere Hälfte
des Kopfes in ihrem lateralen
Abschnitt dem Schenkelschaft fast unmittelbar aufliegt. Schenkel¬
halswinkel beträgt 75°, Epiphysenwinkel = — 15°. Die Dicke des
Schenkelschaftes ist durchschnittlich um 3 mm gegenüber der ge¬
sunden Seite verringert.
Beobachtung 4. H. B., 3 Jahre alt, kräftig entwickeltes
Mädchen aus gesunder Familie, lernte mit 11 Monaten das Laufen
und litt nicht an englischer Krankheit. Leicht watschelnder Gang
bestand schon bei den ersten Gehversuchen. Rechtes Bein um
1 1 j 2 cm kürzer, steht adduziert.
Am Röntgenbild (Fig. 4) ist die ganze rechte Beckenhälfte
etwas kleiner, das rechte Pfannendach auffallend abgeflacht und
steiler verlaufend. Die knö¬
cherne Kopfepiphyse erheblich
um ihre sagittale Achse so nach
außen gedreht, daß der Kopf in
starker Abduktionsstellung steht.
Die Epiphysenlinie ist zackig,
verbreitert, verläuft in ihrem
oberen Teil fast vertikal und
teilt sich dann in zwei Schenkel,
die ein dreieckiges Stück ein¬
schließen. Dieses dem über-
knorpelten Schenkelkopf noch angehörende Stück ist auf 3 mm
dem Trochanter minor genähert. Trochanterkerne beiderseits gleich
Fig. 4.
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Die Coxa vara.
511
groß. Schenkelhalswinkel 85 °, Epiphysenwinkel 18°. Schenkelschaft
nur um ein Geringes verschmälert.
Beobachtung 5. K. B., 4 Jahre alt. Einziges Kind seiner
Eltern, fing erst mit l 3 /4 Jahren an zu laufen. Ob englische Krank¬
heit bestand, kann nicht angegeben werden. Hat seit den ersten
Gehversuchen immer etwas hinkenden und watschelnden Gang ge¬
zeigt, rechts stärker als links. Beim Gehen ermüdete das Kind
leicht, ohne aber über Schmerzen zu klagen. Der Mutter fiel es
auf, daß sie beim Baden die Beine
behufs Reinigung der Innenseite Fl S- 5 -
nicht auseinandernehmen konnte.
Früher bestanden leichte Drüsen¬
anschwellungen am Halse, sonst
soll Patient immer gesund ge¬
wesen sein.
Am Röntgenbild (Fig. 5)
zeigt sich, daß beiderseits der
Schenkelhals winkel verkleinert ist:
links beträgt derselbe 115°, rechts
85°. Epiphysenwinkel links 40°,
rechts 10°. Abgesehen von dieser
Differenz in der Größe des Schenkelhalswinkels bestehen aber auch noch
andere auffallende Unterschiede an beiden coxalen Femurenden, die
es sehr wahrscheinlich machen, daß hier zwei verschiedene Krank¬
heitsprozesse die Coxa vara bedingt haben.
Auf der rechten stärker deformierten Seite erscheint die ganze
Beckenhälfte etwas kleiner, der Kopf ist in seiner Ossifikation zurück¬
geblieben, für die Röntgenstrahlen viel durchlässiger und kleiner. Die
Epiphysenlinie verläuft in ihrer oberen Hälfte vertikal und gabelt sich
dann wieder in zwei Schenkel, die ein dreieckiges Stück in sich ein¬
schließen. Trochanterkerne beiderseits noch nicht vorhanden. Schenkel¬
schaft etwas verschmälert. Links verläuft die Epiphysenlinie in einem
Winkel von 50° zur Horizontalen (Epiphysenwinkel = 40°). Der Kopf
ist in der Verknöcherung weiter vorwärts geschritten, die Schenkel¬
halsspitze sehr deutlich ausgeprägt, Schenkelschaft leicht nach außen
konvex verbogen.
Wir haben es hier offenbar auf der linken Seite mit einer leichten
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XV. Bd. 33
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512
Carl Helbing.
Coxa vara rhachitica, rechts dagegen mit einer kongenitalen Schenkel¬
halsverbiegung zu tun.
Es wurden bei dem Knaben im Mai 1904 die Tenotomie der
Adduktoren beiderseits vorgenommen, und die Beine in rechtwink¬
liger Abduktion für 6 Wochen im Gipsverband fixiert. Eine Nach¬
untersuchung zeigte eine erhebliche Besserung des Leidens, so daß
Patient jetzt im stände ist, die Beine bis zum Winkel von 45° beider¬
seits zu abduzieren.
Beobachtung 6. Mädchen B. (cf. Helbing [61], Fall 2‘,
4 Jahre alt. Das Röntgenbild (Fig. 6) ergibt folgendes: Schenkel¬
halswinkel beiderseits verklei¬
nert. Auf der linken Seite ist
der Kopf wesentlich kleiner,
sein Schatten weniger dicht,
die Epiphysenlinie verläuft ge¬
nau vertikal. Ihr unterstes
Ende teilt sich gabelförmig
und schließt so ein kleines
dreieckiges Stück Knoclien-
substanz ein. Der obere Teil
der Gelenkpfanne, die abge¬
flacht ist, erscheint leer. Schen¬
kelhals selbst stark verkürzt,
Schenkelhalswinkel 85°, Epiphysenwinkel 10°. Auf der rechten
Seite füllt der Kopf die Gelenkpfanne vollkommen aus. Schenkel¬
halsspitze stark prominent, Schenkelhalswinkel 105°, Epiphysenwinkel
45°. Der Trochanterkern ist auf der rechten Seite etwas größer als
auf der linken. Die Verhältnisse liegen hier ebenso wie in Fall 5.
Beobachtung 7. C. L., 4 Jahre alt. Ein jüngerer Bruder
der Patientin leidet an kongenitaler Hüftgelenksluxation, Patientin
selbst lernte schon frühzeitig laufen, hinkte aber immer auf dem
linken Beine. Beide Kinder wurden uns mit der Diagnose einer
kongenitalen Hüftgelenksluxation zur Behandlung überwiesen.
Kräftig gebautes Mädchen, kein Zeichen einer überstandenen
Rhachitis, linkes Bein um ca. 3^2 cm verkürzt, steht adduziert, aber
nicht nach außen rotiert. Links konvexe statische Lumbalskoliose.
An dem Röntgenbild (Fig. 7) ist auf der rechten Seite der
Schenkelhalswinkel = 125°, der Epiphysenwinkel = 65°. Der Kopf
Fig. 6.
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Die Coxa vara.
513
füllt die Pfanne vollkommen aus, die Knorpelfuge stellt eine schmale,
scharf begrenzte Linie dar. Auf der linken Seite steht der Kopf
durch eine Abduktionsdrehung in
leichter Subluxation nach unten
und läßt wieder den oberen Teil
der Pfanne leer. Der obere Rand
des Kopfes steht noch unterhalb
des Y-förmigen Knorpels. Kopf
walzenförmig, im frontalen Durch¬
messer ausgezogen. Das untere
Drittel des Kopfes, das außer Kon¬
takt mit der Pfanne ist, zeigt
eine starke Aufhellung. Die Epi¬
physenlinie verläuft vertikal, ist
zackig und zeigt sich nach der Kopfkappe zu nicht scharf begrenzt.
Schenkelhalswinkel beträgt 87°, Epiphysenwinkel 10°. Der etwas
verschmälerte Schenkelschaft zeigt eine Adduktionsstellung von 10°.
Beobachtung 8. E. B., 10 Jahre. Eltern gesund, zwei
Schwestern der Mutter an Phthise gestorben. Im Alter von 3 Jahren
soll Patient öfters als andere Kinder gefallen sein, ohne jedoch über
Schmerzen zu klagen. Von da ab stellte sich allmählich bei dem
Kinde Hinken ein. Ein Arzt stellte damals Luxation fest. Das
Hinken nahm immer mehr zu, über Schmerzen wurde jedoch nie ge¬
klagt, auch bestand kein Ermüdungsgefühl. Wohl aussehender Knabe,
Skelettsystem ziemlich gut entwickelt, Muskulatur schwach. Das linke
Bein im ganzen atrophisch. Linkes Bein 4 cm kürzer. Die ganze
Trochanterengegend links deutlich vorgewölbt. Besonders deutlich
wird diese Vorwölbung beim Gehen. Der Trochanter steht, der
Verkürzung des linken Beines entsprechend, 4 cm oberhalb der
Roser-Nelatonschen Linie. Hinter dem linken Trochanter ist
eine deutliche Grube, die sich beim Gehen noch mehr vertieft.
Entfernung des Trochanter vom Malleol. ext. beiderseits 08V* cm;
von der Spina bis zum Malleolus links 08 */*, rechts 72 l j% cm. Das
linke Bein steht in deutlicher Adduktionskontraktur. Abduktion
unmöglich, ohne daß das Becken sich mitbewegt. Schmerzen be¬
stehen nicht. Flexion rechts wie links in gleichen Exkursionen aus¬
führbar. Extension beschränkt. Beim Gehen bemerkt man deutlich
ein Vor- und Rückwärtsbewegen des linken Trochanter. Links kon-
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514
Carl Helbing.
vexe Lumbalskoliose. Eine Verschiebung des Femur am Darmbein
ist nicht ausführbar. Deutliches Trendelenburgsches Phänomen
auf dem linken Beine.
Auf dem Röntgenbild (Fig. 8) erscheint links sowohl das Os
pubis als auch das Os ischii atrophisch und kleiner als rechts. Das
linke Pfannendach ist in seinen
äußeren Partien steiler gestellt,
der Kopf hat eine walzenför¬
mige Gestalt und ist in Abduk¬
tionsstellung so stark gedreht,
daß die Epiphysenlinie wieder
einen senkrechten Verlauf hat.
Letztere zeigt auch gegenüber
der gesunden Seite eine stärkere
Verbreiterung. Der Schenkel¬
hals ist verschmälert und ver¬
kürzt, bildet mit dem Schenkel¬
schaft einen Winkel von 67°.
Der hochgradigen Verkleinerung des Schenkelhalses entsprechend ist
auch der Epiphysenwinkel ein negativer geworden, d. h. die durch
die Knorpelfuge gelegte Gerade schneidet in ihrer Verlängerung
nach unten die Achse des Schenkelschaftes und beträgt — 22°.
Auch der Schenkelschaft ist stark verschmälert.
Auf der rechten gesunden Seite beträgt der Schenkelhalswinkel
125, der Epiphysenwinkel 57°.
Es wird die schräge subtrochantere Osteotomie ausgeführt und
ein Gipsverband unter starker Extension und Abduktion angelegt.
Eine Woche später wird der Gipsverband durch einen Schienenhülsen¬
apparat ersetzt. Nach 2 Monaten wird der Apparat fortgelassen, Pa¬
tient geht dann auf dem nunmehr in Abduktion befindlichen Beine
recht gut. Das Trendelenburgsche Phänomen ist nach der Ope¬
ration fast vollkommen verschwunden.
Der Patient ist vollkommen beschwerdelos, die Beweglichkeit
im Hüftgelenk eine recht gute. Während vor der Operation das
Bein eine Verkürzung von 4 cm aufgewiesen hatte, läßt sich jetzt
nur noch eine reelle Verkürzung von 2 cm nachweisen. Auch 1 Jahr
später waren die Nachrichten über den Erfolg der Operation außer¬
ordentlich zufriedenstellend.
Fig. 8.
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Die Coxa vara.
515
Beobachtung 9. H. H., 13 Jahre 6 Monate alt, der jüngste
von vier Geschwistern. Bemerkenswert ist, daß ein Bruder und ein
Neffe des Patienten an kongenitaler Hüftgelenksluxation leidet. Der
Knabe lernte sehr frühzeitig das Laufen, hatte außer Masern und
Röteln keine Krankheit durchgemacht, insbesondere ist es sicher fest-
gestellt, daß er nicht an englischer Krankheit litt. Schon vom
2. Lebensjahre ab fiel den Eltern auf, daß der Patient mit dem
linken Bein beim Gehen einknickte und hinkte, das Kind ermüdete
sehr schnell beim Gehen, klagte aber nie über Schmerzen. All¬
mählich verschlimmerte sich der Zustand immer mehr, das Bein
wurde kürzer und konnte schließlich gar nicht mehr gespreizt
werden. Im Januar 1904 gelangte er dann in unsere Behandlung.
Kräftig gebauter Knabe, linkes Bein um 3 cm kürzer, steht
adduziert und kann überhaupt nicht gespreizt werden. Es besteht
keine stärkere Außenrotation, Flexion bis zum rechten Winkel möglich.
Das Röntgenbild (Fig. 9), das beim Knaben im Alter von
12 Jahren aufgenommen wurde, zeigt folgende Verhältnisse: Linke
Beckenhälfte im ganzen kleiner
wie die rechte. Oberer Pfannen¬
rand ist steil und bildet mit
einer durch das Becken geleg¬
ten Horizontalen einen Winkel
von 40°, während er auf der
gesunden Seite höchstens 10°
beträgt. Der Kopf hat eine
Drehung nach außen um seine
sagittale Achse erfahren, so
daß sein größter Durchmesser
nicht schräg, sondern genau
vertikal steht. Dadurch hat er sich dem Trochanter minor so ge¬
nähert, daß er mit seinem Schatten zum Teil zusammenfällt. Ein
unterer Rand des Schenkelhalses existiert also gar nicht. Die obere
Begrenzung des Schenkelhalses verläuft entsprechend der Verkleine¬
rung des Schenkelhalswinkels auf ca. 75° nach oben und außen und
bildet mit der oberen Kopfkontur eine leicht konkave Linie. Die
Trochanterspitze steht a / 2 cm oberhalb der knöchernen Pfanne und
ist von derselben nur 2 cm entfernt. Auf der gesunden Seite beträgt
diese Distanz das Doppelte. Trochanterkern etwas kleiner wie auf
der gesunden Seite. Die Epiphysenlinie ist nicht mehr mit Deut-
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516
Carl Helbing.
lichkeit erkennbar, so daß über die Größe des Epiphysen winkeis
nichts Sicheres ausgesagt werden kann. Der Schenkelschaft zeigt
keine wesentliche Verschmälerung.
Zur Beseitigung der hochgradigen Adduktionskontraktur wurde
die subtrochantere Osteotomie vorgenommen. Eine spätere Nach¬
untersuchung zeigt, daß das rechte Bein immer noch um 3 cm kürzer
ist. Die Entfernung der Spina ant. sup. vom Malleol. ext. beträgt
rechts 73,5 cm, links 70,5 cm. Das rechte Bein kann jetzt aktiv
um 30° abduziert werden.
Wenn bei der späten Beobachtungszeit auch nichts mehr
Sicheres über die Stellung der Epiphysenlinie und ihre Form aus¬
gesagt werden kann, so macht doch die Anamnese (frühzeitiges Ein¬
setzen der Krankheitserscheinungen, Fehlen einer rhachitischen Er¬
krankung oder eines Traumas und endlich das Vorkommen von
kongenitalen Hüftgelenksleiden in der Familie) es im hohen Grade
wahrscheinlich, daß es sich auch hier um eine kongenitale Form der
Coxa vara handelt.
B. Fälle von doppelseitiger kongenitaler Coxa vara.
Beobachtung 10 (cf. Helbing [61], Fall 1). 3 1 \%jähriges
kräftiges Mädchen, das bei den ersten schon früh vorgenommenen
Gehversuchen hinkte und nicht an englischer Krankheit gelitten hat.
Da bei einem 1 Jahr älteren Bruder eine doppelseitige Hüftgelenks¬
verrenkung bestand, die mit Erfolg dem unblutigen Repositionsver¬
fahren unterzogen worden war, so gewinnt die Angabe der Eltern,
daß das Kind bereits bei den ersten Gehübungen watschelte, ganz
besondere Bedeutung. Die Eltern waren der Meinung, daß es sich
auch bei ihm um eine angeborene Hüftgelenksverrenkung handle
und brachten das Kind zur Behandlung in die Klinik.
Am Röntgenbild fällt zuerst die hochgradige Verkleinerung
des Schenkelhalswinkels beiderseits auf. Rechts beträgt derselbe 70°,
links 90°, der Epiphysenwinkel ist b ß iderseits = 0°, d. h. eine
durch die Knorpelfuge gelegte Gerade läuft mit der Achse des
Schenkelschaftes parallel. Die Schenkelköpfe sind abnorm durch¬
lässig, langgezogen und walzenförmig gestaltet. An Stelle der nor¬
malen Epiphysenlinie findet sich am Ursprung des Schenkelhalses
vom Schenkelschaft eine breite, vertikal verlaufende, nach unten sich
noch mehr verbreiternde helle Zone. Trochanterkern beiderseits vor-
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Die Coxa vara.
517
handen. Oberschenkelschaft bildet auf beiden Seiten mit der Körper¬
vertikalen durch Adduktionsstellung einen Winkel von 15 °. An
der Pfanne ist der obere äußere Teil durch die Drehung der Köpfe
um eine sagittale Achse (Abduktionsstellung des Kopfes) wieder leer.
Beobachtung 11. E. T., 5 Jahre alt. Im Alter von
3 1 /* Jahren begann das Kind über Schmerzen im linken Knie und
leichte Ermüdbarkeit beim Gehen zu klagen. Vom Arzt wurde eine
Hüftgelenksentzündung angenommen.
Zart gebautes Mädchen. Als Zeichen überstandener Rhachitis
leichter Rosenkranz und Pedes plano-valgi. Ziemlich erhebliche
Lendenlordose. Beim Gehen sinkt die freie Beckenhälfte immer
etwas herunter, die normale Furche medial und oberhalb des Tro¬
chanters erscheint besonders vertieft. Die seitliche Kontur der Hüft-
gegend ist verbreitert, besonders rechts. Die Abduktion ist auf
beiden Seiten vermindert, links beträgt die aktive Abduktionsmög¬
lichkeit 15°, rechts 20°, die
Beine stehen nicht in Außen¬
rotation. Rotationsbewegungen
sind bei den Hüften vollkom¬
men frei, ebenso die Beugun¬
gen. Die Lendenlordose gleicht
sich erst bei einer Flexions¬
stellung beider Hüften um
ca. 60° aus, wenn das Kind
Rückenlage einnimmt. Rechts
Spina ant. sup. vom Malleol.
ext. 49,5 cm entfernt, des¬
gleichen links. Trochauterspitze beiderseits 5 cm über der Roser-
Nölatonschen Linie. Bei der Beugung auf beiden Seiten Krepi-
tieren im Hüftgelenk.
Das Röntgenbild (Fig. 10) zeigt das Pfannendach beiderseits
abgeflacht. Die Köpfe sind im Verhältnis zum Alter des Kindes
in der Verknöcherung wenig vorgeschritten und noch abnorm durch¬
lässig. Sie stehen beiderseits unterhalb des Y-förmigen Knorpels,
so daß der obere Teil der Pfanne leer ist, und die unteren lateralen
Quadranten keinen Kontakt mehr mit der Pfanne besitzen. Der linke
Kopf ist vom oberen Rande des knöchernen Pfannendachs fast 1 cm
entfernt, seine untere laterale Hälfte liegt dem Trochanter minor
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518
Carl Helbing.
fast direkt an. Die Epiphysenlinie verläuft links vertikal und ver¬
breitert sich nach unten. Schenkelhalswinkel = 82 °, Epiphysen¬
winkel = 20°. Auf der rechten Seite beträgt der Schenkelhals¬
winkel nur 77 °. Der Epiphysenwinkel ist ein negativer geworden,
d. h. die durch die Knorpelfuge gelegte Gerade schneidet in ihrer
Verlängerung nach unten die Schenkelschaftachse und beträgt — 12 ".
Die Epiphysenlinie verläuft ebenfalls vertikal, teilt sich jedoch nach
oben und nach unten, so daß der Kopf in drei Teile zersprengt er¬
scheint, in einen medialen größten, einen unteren lateralen und
einen oberen lateralen kleinsten Teil. Trochanterkerne beiderseits
vorhanden. Schenkelschaft zeigt keine Verbiegung.
Beobachtung 12. E. T., 3*/2 Jahre. Gesundes, kräftiges
Mädchen. Zeigte schon bei den ersten Gehversuchen watschelnden
Gang. Beine zeigen keine Außen¬
rotation. Abduktion stark be¬
hindert. Am Röntgenbild (Fig. 11)
erscheint das Pfannendach bei¬
derseits abgeflacht, die obere
Pfannenhälfte ist leer. Die
Köpfe sind abnorm durchlässig,
klein, erscheinen gefleckt und
stehen 5 mm unterhalb des
Y-förmigen Knorpels. Außer¬
dem sind sie durch Drehung
um eine sagittale Achse nach
außen in maximaler Abduktionsstellung. Die Epiphysenlinien ver¬
laufen vertikal, sind stark verbreitert, Trochanterkerne in Erbsen¬
große eben sichtbar, Schenkelhalswinkel beiderseits = 85°, Epiphysen¬
winkel = 25°. Femurdiaphysen ohne Verbiegung.
Beobachtung 13. 0. H., 7 1 /* Jahre. Patient gelangte im
Januar 1904 in unsere Behandlung. Anamnese ergibt, daß der
Knabe mit 1 1 \i Jahren das Laufen lernte und damals ein sehr dickes,
kräftig entwickeltes Kind war. Englische Krankheit hat er nicht
durchgemacht. Mit 8 Monaten Keuchhusten, sonst immer gesund.
Sobald der Knabe anfing zu laufen, bemerkte die Mutter bei ihm
einen watschelnden Gang. Bei schnellerem Gehen sank immer die
freie Körperhälfte herunter. Die Beine konnten schon in der frühe¬
sten Jugend nicht gespreizt werden, so daß die Innenseite der Ober-
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Die Coza vara.
519
Schenkel von der Mutter beim Baden nicht abgetrocknet werden
konnten. Das Gehen, das von Anfang an erschwert war, wurde in
letzter Zeit so mühsam, daß Patient nur höchstens 10 Minuten ohne
Ermüdungsgefühl zu gehen im stände war. Schmerzen bestanden nie-
Mäßig kräftig gebauter,
für sein Alter etwas kleiner
Knabe. Es fällt sofort eine
starke Lendenlordose auf. Beim
Gehen ausgesprochenes Wat¬
scheln wie bei einer kongenitalen
Hüftgelenksluxation. Beine zei¬
gen eine ganz geringe Außen-
rotation, können aktiv bis zum
rechten Winkel gebeugt, aber
absolut nicht abduziert werden.
Beiderseits ausgesprochenes Trendelenburgsches Phänomen. Von
Rotationsbewegungen nur die Außenrotation etwas behindert.
Das Röntgenbild (Fig. 12) zeigt keine Beckenasymmetrie.
Pfannendach beiderseits abgeflacht, obere Hälfte der Gelenkpfanne
nicht ausgefüllt. Kopf auf bei¬
den Seiten walzenförmig ge¬
staltet, im frontalen Durch¬
messer verlängert, abnorm
durchlässig. Die Epiphysen¬
linien verlaufen vertikal, sind
verbreitert, auf der rechten
Seite teilt sich die untere Hälfte
in zwei Schenkel, die ein drei¬
eckiges Knochenstück in sich
einschließen. Der rechte Kopf
erscheint also in zwei Teile
zersprengt. Die Epiphysenlinien liegen unmittelbar dem Schaft an,
so daß von einem Schenkelhals kaum etwas angedeutet ist. Tro¬
chanterkerne noch nicht sichtbar, Schenkelschaft nicht verbogen.
Der Schenkelhalswinkel beträgt rechts 82°, links 70°, der Epiphysen¬
winkel beiderseits 20°.
Im Januar 1904 Keilexzision aus dem coxalen Femurende auf
beiden Seiten in der Trochantergegend. Fixation der Oberschenkel
in rechtwinkliger Abduktion, so daß beide Beine in einer Geraden
Fig. 13.
Fig. 12.
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520
Carl Helbing.
stehen. Abnahme des Gipsverbandes nach 6 Wochen. Heilung per
p. i. Anlegung eines zweiten Gipsverbandes in Abduktion derart
daß beide Beine einen Winkel von 60 0 einschließen. Nach weiteren
4 Wochen begann der Junge zu laufen.
Nachuntersuchung ergibt, daß Beugung, Außenrotation und
Innenrotation in beiden Hüftgelenken vollkommen unbehindert sind.
Aktive Abduktion bis zum rechten Winkel möglich, so daß Patient
mit vollkommen gespreizten Beinen sitzen kann (cf. Fig. 13). Beider¬
seits kein Trendelenburgsches Phänomen. Trochanterspitze auf
beiden Seiten unterhalb der Roser-N^latonschen Linie. Beide
Beine gleich lang, Entfernung
Flg ’ 14 ’ des Trochanter vom Malleol. ext.
47 * 2 cm. Beckenmuskulatur gut
entwickelt. Leichter flacher
Rücken, da die physiologische
Lendenlordose verringert ist
Patient kann jetzt stundenlange
Spaziergänge ohne Ermüdungs¬
gefühl unternehmen.
Die mikroskopische Unter¬
suchung des exzidierten Keils
aus der Gegend der unteren
Trochanterspitze ergibt eine Rarefizierung der Knochenbälkchen. Das
lymphoide Mark ist sehr spärlich entwickelt und stellenweise ganz
durch Fettmark ersetzt. Da das untersuchte Stück noch weit von
dem eigentlichen Krankheitsherd entfernt ist, so hat der Befund
natürlich keine allzu große Bedeutung, wenn auch die Substitu¬
tion des lymphoiden Marks durch Fettmark den Schluß nahelegt,
daß die Wachstumsenergie dieses jugendlichen Knochens eine ge¬
ringere ist, ähnlich wie beim Knochen eines ausgewachsenen Indi¬
viduums.
Ein jetzt aufgenommenes Röntgenbild (Fig. 14) zeigt, daß die
Operation völlig veränderte statische Verhältnisse am coxalen Femur¬
ende geschaffen hat. Die Gelenkpfanne ist jetzt auch in den oberen
Teilen von den Schenkelköpfen ganz ausgefüllt. Die Epiphysen¬
linien verlaufen ganz horizontal, ein eigentlicher Schenbelhalswinkel
existiert nicht mehr, da die verlängerte Längsachse des Schenkel¬
schafts ungefähr die Mitte des Kopfes trifft. Das coxale Femurende
hat eine bajonettförmige Gestalt angenommen.
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Die Coxa vara.
521
Beobachtung 14. R. K., 7 1 /-* Jahre. Einziges Kind seiner
Eltern, lernte mit 1 Jahr 2 Monaten das Laufen. Außer Masern
hat das Kind keine Krankheit durchgemacht, insbesondere nicht an
englischer Krankheit gelitten. Am Ende des 2. Lebensjahres be¬
merkte die Mutter watschelnden Gang. Die Erscheinungen nahmen
mit der Zeit zu. Später zog er die Füße beim Gehen nach. Ohne
Schmerzen trat beim Gehen sehr schnell Ermüdungsgefühl auf, so
daß der Junge noch mit dem 3. Lebensjahre viel getragen werden
mußte. Im Mai 1902, im Alter yon 4 Jahren, wurde Patient unserer
Behandlung überwiesen. Damals wurde folgender Status aufge¬
nommen:
Für sein Alter zart gebauter Junge, keine Zeichen überstan¬
dener Rhachitis, hochgradige Lendenlordose. Beine zeigen keine
Auswärtsrotatiou, sind dagegen so stark adduziert, daß die Kniee
beim Gehen immer gegeneinander gerieben werden. Spreizbewegungen
vollkommen unmöglich. Rotations- und Beugebewegungen frei.
Trendelenburgsches Phänomen auf beiden Seiten positiv. Die
Trochantergegend erscheint bei der Betrachtung der seitlichen Körper¬
kontur verbreitert. Trochanter beiderseits 3 cm über der Roser-
Nölatonschen Linie.
Das im Juli 1902 aufgenommene Röntgenbild (Fig. 15) zeigt
am Becken keine Besonderheiten.
Am rechten coxalen Femurende sieht man an der Stelle des
Schenkelhalses eine ca. 1 cm breite, vertikal verlaufende, vollkommen
durchlässige Zone, an die sich medialwärts ein schwacher, als
Knochenkern des Schenkelkopfes anzusprechender Schatten anschließt.
Der größte Durchmesser dieses Knochenkerns beträgt nur 1,6 cm.
Er liegt exzentrisch zur Pfanne, sein höchster Punkt noch 0,8 cm
unterhalb des Y-förmigen Knorpels. Seine untere Hälfte hat keinen
Berührungspunkt mehr mit der Pfanne, er findet sich also in einer
gewissen Subluxationsstellung nach unten und ist außerdem um seine
sagittale Achse nach außen gedreht, so daß er in stärkster Abduk¬
tionsstellung sich befindet. Legt man bei der Bestimmung des
Schenkelhalswinkels den Mittelpunkt des Knochenkernes vom Kopfe
zu Grunde, so beträgt der Winkel 80°, der Epiphysenwinkel = 10 °.
Trochanterkern noch nicht vorhanden, Schenkelschaft zeigt keine
Verbiegung.
Am Röntgenbild ist also bei dem 4jährigen Knaben noch gar
nichts von einem knöchernen Schenkelhals zu sehen, an seiner Stelle
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522
Carl Helbing.
findet sich eine 1 cm breite, unregelmäßig begrenzte annähernd verti¬
kal verlaufende und nach unten sich verbreiternde Zone von Knorpel¬
substanz, die mit der Knorpelfuge zusammenfällt.
Fast die gleichen Verhältnisse finden sich an der linken Hüfte,
nur ist hier der Knochenschatten der Kopfepiphyse etwas dunkler
und die Knorpelzone hat die Gestalt eines spitzwinkligen Dreiecks
mit der Basis nach unten angenommen. Auch ist ihre Begrenzung
noch unregelmäßiger, als auf der rechten Seite.
Da sich der Junge nur noch mühsam fortbewegen konnte, und
eine auch nur minimale Spreizung der Beine überhaupt nicht mög-
Fig. 15. Fig. 16.
lieh war, so entschloß man sich im November 1902 zur Resektion
des coxalen Femurendes unterhalb des Trochanter auf beiden Seiten.
Nach Freilegung des Trochanter durch einen Längsschnitt wird
mit dem Meißel ungefähr 4 cm unterhalb der Trochanterspitze der
Schenkelschaft quer durchtrennt, die Muskelinsertionen vom Tro¬
chanter mit möglichster Schonung abgetrennt und nach Eröffnung
des Hüftgelenks und Durchtrennung des Ligamentum teres und des
Kapselansatzes der Kopf mit Schenkelhals und Trochanter in einem
Stück entfernt. Der Trochanter minor wird in die Gelenkpfanne
eingestellt und die Beine in einen Winkel von 45 0 zur Körperachse
durch Gipsverband auf 6 Wochen immobilisiert. Die Heilung er¬
folgte per p. i. Nachbehandlung bestand in Massage und gymnasti¬
schen Uebungen, insbesondere Abduktions- und Adduktionsbewegungen
und Fixation der Beine durch Schienenhülsenapparate. Während das
linke Bein bald gut adduziert werden konnte, leistete das rechte
Bein den Adduktionsbewegungen großen Widerstand. Es mußte
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Die Coxa vara.
523
deshalb noch im Juli 1903 zur Beseitigung der Abduttionstontrak¬
tion eine quere Osteotomie des Oberschenkels analog der subtrochan-
teren Osteotomie vorgenommen werden.
Das 2 Monate nach dieser Operation aufgenommene Röntgen¬
bild (Fig. 16) zeigt, daß die obere mediale Spitze des linken Schenkel¬
schaftes gut in der Gelenkpfanne steht und ca. 1 cm unterhalb des
Y-förmigen Knorpels sich findet. Auf der rechten Seite ist durch
die nachträgliche Osteotomie eine Art künstlichen Schenkelhalses ge¬
schaffen worden, der mit dem Schenkelschaft einen Winkel von 130°
bildet. Das Ende hat sich hier zu einer Kugelkappe gut abgerundet
und steht wie ein Schenkelkopf gut in der Pfanne.
Eine spätere Nachuntersuchung ergibt folgendes:
Beide Oberschenkel sind etwas zu kurz im Verhältnis zu der
Körpergröße, der linke ist stärker im Wachstum zurückgeblieben
und ca. 3 cm kürzer. Lendenlordose geringer als normal. Es be¬
steht eine linkskonvexe statische Lumbalskoliose. Pelvitrochantere
Muskulatur und die des Oberschenkels gut entwickelt. Links ist
das Trendelenburgsche Phänomen noch vorhanden, rechts nicht
mehr. In der rechten Hüfte sind alle Bewegungen ziemlich be¬
schränkt. Die Abduktion ist bis zum Winkel von 15 0 möglich. In
der linken Hüfte gelingt die aktive Spreizung bis zum Winkel von
30°, die Beugung bis zu 17°. Rotationsbewegungen fast ganz frei.
Auf beiden Seiten ist der höchste Punkt des Oberschenkelknochens
in der Höhe der Ros er-Nelaton sehen Linie. Hervorzuheben ist
noch, daß eine 1 Jahr früher vorgenommene Nachuntersuchung nur
eine Verkürzung des linken Beines um 1 1 /s cm ergeben hat, so daß
das Wachstum des linken Beines im letzten Jahre um l 1 /» cm zu¬
rückgeblieben ist. Die Gesamtkörperlänge des Jungen beträgt 1 m 7 cm.
Abstand des Nabels von der Fußsohle 64 cm, Länge des rechten
Beins 55 cm, des linken Beins 52 cm.
Beschreibung des Resektionspräparates von der linken Hüfte
(Fig. 17 und 18): Der Femurkopf hat überall einen glatten Knorpel¬
überzug, der Ansatzpunkt des Ligamentum teres sieht bei senkrechter
Stellung des Schenkelschaftes nach unten und innen, der Kopf hat
also seine Stellung zum Schaft derart verändert, daß er nach unten
und ganz wenig nach hinten abgebogen erscheint. Seine höchste
Wölbung sieht also nach abwärts. Abgesehen davon, daß der Kopf
in seinem sagittalen Durchmesser etwas verringert ist und im fron¬
talen ausgezogen erscheint, zeigt er keine Unregelmäßigkeit. Die
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524
Carl Helbing.
geringe Abbiegung des Kopfes von der frontalen Ebene nach hinten
tritt nur bei der Betrachtung des Präparates von oben in die Er¬
scheinung und beträgt höchstens 10°. Der Kopf grenzt sich gegen
den Schenkelhals an der Vorderfläche des Präparates in einer zackigen
mit der Konkavität medialwärts gerichteten Bogenlinie ab; bei senk¬
rechter Stellung des Schenkelschaftes verläuft diese Linie genau
vertikal. Der Schenkelhals hat an seiner vorderen Fläche eine Länge
von 0,7 —1,3 cm, am längsten ist er an seiner oberen Begrenzung
zwischen Trochanter major und Kopf. Der Uebergang zwischen
Kopf und Schenkelhals macht sich vorn nur durch eine minimale
Fig. 17.
Fig. 18.
Einsattelung bemerkbar. An der Hinterfläche des Präparates be¬
trägt die größte Länge des Schenkelhalses 1,6 cm. Hier zeigt der
Schenkelhals eine stärkere Verjüngung. Die Dicke des Kopfes be¬
trägt in seinem sagittalen Durchmesser 3,1 cm, die des Schenkel¬
halses 3,7 cm. Die ganze Oberfläche des Schenkelhalses zeigt einen
Knorpelüberzug und setzt sich dadurch äußerlich scharf ab gegen den
Trochanter major und die Femurdiaphyse, die beide durch Muskel¬
ansätze eine rauhe Oberfläche haben. Durch die Kürze des Schenkel¬
halses und die Abbiegung des Kopfes nach unten und nach rück¬
wärts hat sich der Kopf dem Trochanter minor so genähert, daß
sein Knorpelrand von der Spitze des Trochanter minor nur 6 mm
entfernt ist. Die Spitze des Trochanter überragt bei senkrechter
Stellung des Schenkelschaftes den höchsten Punkt des Kopfes um
1 cm. Auf einem frontalen Durchschnitt durch das Präparat sieht
man im Kopf einen Knoehenkern, dessen größte Länge 1,8 cm be¬
trägt. Die Zone, die dem Schenkelhals entspricht, ist auf dem
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Die Coxa vara.
525
Durchschnitt 1 cm breit und noch vollkommen knorplig, ebenso weist
der Trochanter major noch keinen Knochenkern auf.
Am besten sind die Verhältnisse auf einem Röntgenbilde zu
sehen (Fig. 19), die von einem frontalen Furnierblatte des rese¬
zierten Femurendes angefertigt ist. Der Knochenkern des Femur¬
kopfes zeigt eine von seinem Zentrum ausgehende dendritische Ver¬
zweigung. In dem knorpligen Schenkelhals sind an seiner unteren
Hälfte mehrere hirsekorngroße verknöcherte Partien eingelagert.
Der knöcherne Schenkelschaft zeigt in seinem distalen Teil noch die
schöne Anordnung der senkrecht sich kreuzenden, in einem Winkel
von 45° von der Corticalis entspringenden Verstärkungsbälkchen.
Nach oben zu verwischt sich
diese Spongiosastruktur. Die
Corticalis zeigt an dem Winkel
zwischen dem unteren Schenkel¬
halsrand und medialen Schen¬
kelschaft eine besondere Ver¬
dickung, der Ad am sehe Bo¬
gen ist nicht ausgebildet.
Dieselben Verhältnisse
zeigt das Präparat des rechten
resezierten Femurendes.
Zur mikroskopischen Un¬
tersuchung wurde das aus der
Mitte des Präparates entnommene Furnierblatt verwendet, und nach
seiner Entkalkung und Einbettung ein Schnitt durch das ganze Prä¬
parat gelegt.
Der mikroskopische Befund ist folgender: Die Zone, welche
der Epiphysenlinie entspricht, d. h. also im Präparate der Ueber-
gang der knorpligen Kopfepiphyse zum Schenkelhals, stellt eine
ganz unregelmäßig begrenzte Kurve dar. Die Knorpelzellen liegen
hier regellos in dichten Haufen. Gruppen von solchen sind wieder
von reichlicher Interzellularsubstanz umgeben. Die Anordnung der
Knorpelzellen selbst zeigt an keiner Stelle eine Andeutung von
säulenförmiger Gruppierung. Die knorplige Interzellularsubstanz über¬
wiegt außerordentlich an Masse und zeigt stellenweise eine faserige
Beschaffenheit und manchmal krümliche Verkalkung. Am Rande
der unregelmäßig begrenzten, als Epiphysenfuge zu betrachtenden
Zone sind die Knorpelinseln häufig in osteoides Gewebe verwandelt
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526
Carl Helbing.
und zeigen manchmal auch krümliche Verkalkung. Nur an ganz
wenigen Stellen ist überhaupt großzelliger, aus seinem Ruhezustand
erwachter Knorpel zu sehen, eine Schichtung zeigt er jedoch nicht
Nähert man sich dem Uebergang des Schenkelhalses in den Schenkel¬
schaft, so ist das Knorpelgewebe gegen den Knochen keineswegs
scharf abgegrenzt. Die Knorpelinseln dringen ganz unregelmäßig
zwischen die Bälkchen ein, und Markräume sind ringsum von Knorpel
umgeben. Die Knochenbälkchen sind auffallend schmal und zart,
vielfach verästelt, an der Peripherie fehlt die sonst typische Lage
von Osteoblasten. Im Zentrum der Knochenbälkchen finden sich
noch eingeschlossene Knorpelreste, die manchmal krümlige Ver¬
kalkung aufweisen. Das Knochenmark hat, trotzdem es von einem
kindlichen Knochen stammt, seinen lymphoiden Charakter vollständig
verloren und ist stellenweise auffallend blutreich; in ihm finden sich
auch freie Blutextravasate. Es stellt meist ein Maschenwerk von
Spindelzellen und sternförmigen Zellen mit wenig Interzellularsub¬
stanz dar, auch sein Gehalt an Fettzellen ist recht gering. Der
knorplige Teil des Kopfes besteht ausschließlich aus ruhendem,
kleinzelligem Knorpel mit reichlicher Interzellularsubstanz. Der im
Röntgenbild als Knochengewebe imponierende Schatten ist nach der
mikroskopischen Untersuchung kein echter Knochen, sondern besteht
aus unregelmäßig angeordneten verschieden großen Inseln, krümlig
verkalkten Knorpelgewebes. Außerdem finden sich in der Kopf-
epipbyse noch Inseln, die außer Blutgefäßen und Blutextravasaten
aus fibrillärem Bindegewebe bestehen. Gegen die Peripherie dieser
Inseln zu nimmt auch das umgebende Knorpelgewebe eine faserige
Beschaffenheit an. Die Knochenbälkchen in der Femurdiaphyse sind
ebenfalls zart und vielfach verästelt und treten hinter den großen
Markräumen an Masse sehr zurück. Vorgänge von lakunärer Resorp¬
tion, wie sie bei der geringen Entwicklung des Knochengewebes
zu erwarten wären, können nicht beobachtet werden.
Wenn wir den mikroskopischen Befund nochmals zusammen¬
fassen, so fällt vor allem der Mangel irgendwelcher Wachstums¬
energie an dem Gewebe auf. Entzündliche Prozesse oder solche,
die wir als rhachitische auffassen könnten, fehlen. Wenn auch
heute noch nichts über den uns noch gänzlich unbekannten Krank¬
heitsprozeß ausgesagt werden kann, so steht doch so viel auf
Grund der mikroskopischen Untersuchung fest, daß sowohl der
Knorpel als auch der Knochen seine bioplastische Energie
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Die Coxa var».
527
verloren hat und das Gewebe gewissermaßen in einem Ruhe¬
zustände verharrt, wie wir es nur bei einem vollkommen fertigen
Knochen zu erwarten hätten. Es ist also hier nicht nur eine Ver¬
zögerung der Knochenbildung, sondern ein direkter Mangel jeder
Knochenneubildung vorhanden.
Beobachtung 15. 6jähriges Mädchen mit erheblicher Lenden¬
lordose, geringer Adduktionsstellung beider Beine, keine wesentliche
Außenrotation, watschelnder Gang. Am Röntgenbilde (Fig. 20) zeigt
das Pfannendach leichte Steilstellung derart, daß es mit einer Hori¬
zontalen links einen Winkel von
35°, rechts von 25° einschließt.
Die knöcherne Kopfepiphyse liegt
im unteren Teil der Gelenkpfanne
an, oberer Teil der letzteren ist
leer, und der höchste Punkt des
Schenkelkopfes liegt noch unter¬
halb des Y-förmigen Knorpels.
Außerdem hat der Kopf eine Drehung um seine sagittale Achse nach
außen erfahren (Abduktionsstellung), die Epiphysenlinie verläuft dadurch
vertikal, der Epiphysenwinkel beträgt beiderseits 10°. Der untere
Teil der linken Epiphysenfuge teilt sich wieder gabelförmig und
schließt ein dreieckiges Stück vom knöchernen Kopf ein, das be¬
sonders stark aufgehellt und fleckig erscheint. Linker Schenkelhals¬
winkel 85°. Am rechten coxalen Femurende sind die Verhältnisse
fast die gleichen, nur beginnt die Teilung der Epiphysenlinie schon
im oberen Drittel, Schenkelhalswinkel 80°; Trochanterkeme beider¬
seits deutlich.
Beobachtung 16. G. H., 8 Jahre alt, gesundes, kräftig
entwickeltes Mädchen, keine Deformitäten in der Familie. Die
Eltern bemerkten schon bei den ersten Gehversuchen einen wat¬
schelnden Gang des Kindes.
Das Röntgenbild (Fig. 21) zeigt auf beiden Seiten eine hochgradige
Verkleinerung des Schenkelhals winkeis. Rechts beträgt derselbe 76°,
links 78 °. Der Epiphysen winkel ist ein negativer und beträgt beider¬
seits — 12°. Der Kopf hat auf beiden Seiten wieder eine Drehung
um seine sagittale Achse nach außen erfahren, nur die obere Hälfte
steht noch in der Gelenkpfanne, die untere hat mit ihr keine Be¬
rührungspunkte mehr. Der Schatten des unteren Teils des Gelenk-
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XV. Bd. 34
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528
Carl Helbing.
kopfes ist besonders stark auf¬
gehellt. Die Epiphysenlinien
verlaufen in ihrem oberen Ab¬
schnitt vertikal, um in ihrem
unteren Drittel nach außen
abzubiegen, so daß ihre Kon¬
kavität nach außen und oben
sieht. Die Drehung des Kopfes
hat eine Annäherung seines
unteren lateralen Endes an den
Trochanter minor bis zur Be¬
rührung bewirkt. Trochanter-
spitze nur wenige Millimeter vom knöchernen Becken entfernt, steht
2 cm höher als der höchste Punkt des Kopfes. Schenkelschaft beider¬
seits ohne Verbiegung.
Beobachtung 17. A. L., 9 Jahre alt. Die Mutter bemerkte
bei dem Mädchen vom 2. Lebensjahre ab eine zunehmende Ver¬
kürzung des linken Beines. Ir¬
gendwelche Verletzung ist bei
dem Mädchen, dessen watscheln¬
der Gang bereits bei den ersten
Gehversuchen in die Augen fiel,
nicht vorausgegangen. Am Rönt¬
genbilde (Fig. 22) fällt auf der
stärker affizierten linken Seite
der ganz enorme Hochstand des
Trochanters auf. Der Schenkel¬
hals ist hier stark verkürzt und
bildet mit dem atrophischen
Schenkelschaft einen Winkel von
50 °. Der durchsichtig erscheinende Kopf ist walzenförmig gestaltet,
eine Vertikale, als Epiphysenlinie anzusprechende, nach unten sich
verbreiternde Spalte, die ungefähr in der Linea intertrochanterica
verläuft, trennt den Schenkelhals vom Schenkelkopf. Epiphysen-
winkel — 15 °. Auf der rechten Seite beträgt der Schenkelhalswinkel
90°. Auch hier verläuft die Epiphysenlinie ganz vertikal. Epiphysen¬
winkel = 20 °. Die Epiphysenlinien des Trochanter major sind beider¬
seits deutlich.
Fig. 22.
Fig. 21.
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Die Cosa vara.
529
Die Coxa Tara congenita als scheinbarer Oberschenkeldefekt.
Eigene Beobachtungen über diese sicher kongenitale Form
der Coxa vara, die wir erst durch neuere Untersuchungen von
Reiner [152], Joachimsthal [85], Drehmann [39] und
Franz [49] kennen gelernt haben, fehlen mir. Der Vollständigkeit
halber möchte ich hier aber kurz die einschlägigen Fälle zitieren.
Joachimsthal berichtet über ein 7jähriges Mädchen mit an -
gebornem Herzfehler, bei welchem die Röntgenuntersuchung an. der
linken Hüfte eine leichte Abbiegung am oberen Abschnitt des Femur
und eine hochgradige Coxa vara mit einem Schenkelhalswinkel von
80 0 erkennen läßt. Am rechten Femur fehlt der obere Teil. Ur¬
sprünglich wurde von Joachirasthal der Fall so gedeutet, daß die
linksseitige Coxa vara als funktionelle Anpassung an den rechten
Oberschenkeldefekt entstanden sein sollte. Auf Grund der neueren
diesbezüglichen Erfahrungen muß man jedoch annehmen, daß auch
auf der rechten Seite kein eigentlicher Defekt vorlag, sondern „daß
es sich auch hier um eine Vorstufe der Coxa vara congenita ge¬
handelt hat, bei der die Diagnose auf dem Röntgenbild nur deshalb
unmöglich war, weil der obere Abschnitt des Femur noch im knorp¬
ligen Zustande verharrte.“
Weiter hatte Reiner Gelegenheit, einen bereits von Lange
beschriebenen Fall von Oberschenkeldefekt nach 5 Jahren nachzu¬
untersuchen. Neben einer Hypoplasie der rechten Becbenhälfte be¬
steht eine Wachstums Verkürzung des rechten Beines um 12 ! /a cm.
Die Gelenkpfanne annähernd normal weit, der Oberschenkel zeigt
eine Coxa vara hohen Grades, derart, daß die Verkürzung, welche
der Oberschenkel durch die Coxa vara allein erfährt, 4 cm beträgt.
Die Epiphysenlinie des Kopfes verläuft nicht horizontal, sondern
nach abwärts und innen und schließt mit der horizontalen einen
Winkel von 35—40° ein.
Die Beschreibung eines 3. Falles verdanken wir Dreh mann,
welcher einen Knaben mit linksseitigem Oberschenkeldefekt ö x /2 Jahre
lang beobachten und während dieser Zeit das Wachstum des Ober¬
schenkels im Röntgenbilde genau studieren konnte. Im Alter von
5 Jahren bestand bei dem Knaben eine Verkürzung des linken Beines,
die auf eine mangelhafte Entwicklung des linken Oberschenkels zu¬
rückzuführen war. Das obere Femurende trat nach Art eines Tro¬
chanter hervor und stand mit diesem umgebogenen Ende beträcht-
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530
Carl Helbing.
lieh über der Roser-Ndlatonsehen Linie. Die Beweglichkeit des
Beines war in der Hüfte nach allen Seiten frei; man hatte den
Eindruck, als ob eine Luxation des coxalen Femurendes auf das
Darmbein bestünde. Ein 2 Jahre später aufgenommenes Röntgen¬
bild zeigt eine gute Ausbildung des Kniegelenks und der unteren
Femurdiaphyse. Das obere Diaphysenende verjüngt sich nach oben
zu und biegt sich nach dem Darmbeinkamm zu etwas ab. Von
diesem abgebogenen Ende ziehen einige Stränge nach der Pfanne
hin, in welchen wir schon das Vorhandensein von Knochensubstanz
annehmen müssen. Nach weiteren 2 Jahren zeigen sich die Stränge
im Röntgenbilde vollkommen verknöchert. In der Pfanne liegt jetzt
ein deutlicher Femurkopf, an welchen sich ein schlanker Hals ansetzt.
Betrachtet man jetzt das coxale Femurende, so sieht man eine
hochgradige Coxa vara, bei welcher nicht nur der Schenkelhals,
sondern auch das verkümmerte obere Femurende in die Verbiegung
einbezogen ist. Das umgebogene Femurende entspricht nicht dem
Trochanter, sondern einer Knickung in dem oberen Diaphysenteil des
Femur.
Ich möchte noch auf die am Röntgenbild deutlich sichtbare
Pfannenveränderung hinweisen, auf die Drehmann nicht näher ein¬
geht. Das obere Pfannendach hat einen mehr schrägen Verlauf und
bildet mit einer Horizontalen einen Winkel von 40 °, während es
auf der gesunden Seite fast horizontal verläuft.
Ein vierter von Joachimsthal beschriebener Fall führt in
ganz analoger Weise die Beziehungen des Oberschenkeldefektes zur
kongenitalen Coxa vara vor Augen. Auch hier konnte durch eine
über 4 Jahre sich hinziehende Beobachtung das Wachstum des defekten
linken Oberschenkels genau verfolgt werden. Das erste Röntgen¬
bild, das von dem Patienten im Alter von 4 Jahren aufgenommen
wurde, zeigt normale Verhältnisse am rechten Femur; links verläuft
die verkürzte Femurdiaphyse konisch und endet mit einer kleinen
Anschwellung. Das oberste Femurende überragt die Gegend des
Y-förmigen Knorpels um mehrere Zentimeter. Ein zweites 2 Jahre
später aufgenommenes Röntgenbild zeigt, daß eine obere Epiphyse
auf der Seite des Oberschenkeldefekts noch vollkommen fehlt, der
Oberschenkel stark verkürzt ist und sein proximales, breiter gewor¬
denes Ende etwas nach innen abgebogen ist.
Auf den folgenden Röntgenbildern läßt sich nun sehr schön
die allmähliche Verknöcherung des bisher nur knorpligen oder
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Die Coxa vara.
531
bindegewebigen, zwischen dem nach oben verschobenen Ende der
Femurdiaphyse und der Hüftgelenkspfanne gelegenen Oberschenkelendes
verfolgen. Zuerst kommt es zu einer Andeutung des Caput femoris,
das die Pfannengegend nach unten pilzförmig überragt. Etwas
lateralwärts davon liegt noch ein kleiner Knochenkern. Das obere
Diaphysenende ist jetzt schärfer nach innen umgebogen, als auf dem
früheren Bilde. Zu den beiden hier deutlich werdenden Knochen¬
kernen kommt auf dem nächsten Skiagramm ein dritter Knochen¬
kern, der zwischen der abgebogenen Femurdiaphyse und dem Caput
femoris liegt und einen weiteren Fortschritt der Ossifikation andeutet.
Aus den jetzt vorhandenen Knochenkernen läßt sich die spätere Ge¬
stalt des coxalen Femurendes mit Sicherheit Voraussagen. Wie in
dem von Drehmann beschriebenen Falle wird eine hochgradigste
Coxa vara mit Abbiegung der proximalen Femurdiaphyse unterhalb
des Trochanters resultieren.
Diese Beobachtungen werden in Bezug auf ihr weiteres Schick¬
sal in schöner Weise ergänzt durch den fünften von Franz be¬
schriebenen Fall, der einen erwachsenen Mann betrifft. Der rechte
Oberschenkelknochen hat hier eine bedeutende Verkürzung erfahren,
rechts hat er eine Länge von 25 cm, links von 50 cm. Die Gegend
des Trochanter steht bedeutend vor und 2 1 /2 cm über der Roser-
N^latonschen Linie. Abgesehen von hier weniger interessieren¬
den anderen angeborenen Deformitäten, läßt sich auf dem Röntgen¬
bild eine Hypoplasie der ganzen linken Beckenhälfte erkennen.
Dann besteht eine hochgradige Coxa vara. Der nach außen als
Trochanter imponierende Vorsprung ist nicht der Trochanter, son¬
dern die Regio subtrochanterica, die wie in dem Falle von Reiner und
Drehmann eine starke Abbiegung erfahren hat. Endlich zeigt der
Knochen auf dem Röntgenbild sehr viel mehr hellere Partien in der
Struktur als auf der gesunden Seite, was den Rückschluß auf mangel¬
hafte Ossifikation des Knochens gestattet.
Als letzten Fall führe ich die Beobachtung von Reiner an,
welcher bei einer ßmonatlichen männlichen Frucht folgende Ver¬
änderungen an der rechten unteren Extremität feststellen konnte:
Das rechte Bein ist um ca. ein Drittel kürzer als das linke,
an der Verkürzung beteiligen sich Ober- und Unterschenkel, am
Unterschenkel fehlt das Wadenbein, die Tibia zeigt etwas unterhalb
ihrer Mitte eine Abknickung mit nach hinten offenem Winkel,
welcher 130° beträgt. Kniegelenk normal entwickelt, hat nur
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Carl Helbing«
kleinere Querdurchmesser. Der Femurknochen zeigt eine Kontinui-
tatstrennung in der Regio subtrochanteriea, welche mit Pseudo¬
arthrose geheilt ist. Das Hüftgelenk, das im übrigen normal ent¬
wickelt, nur in seinen Dimensionen verjüngt ist, zeigt eine ausge¬
sprochen deutliche Varusstellung«
Die Coxa vara congenita als Teilerscheinung einer
kongenitalen Luxation.
Beobachtung 18. W. P«, 4 Jahre alt, doppelseitige ange¬
borene Hüftgelenksverrenkung.
Hochgradige Lordose der Lendenwirbelsäule, watschelnder Gang.
Trochanteren beiderseits 6 cm oberhalb der Roser-Ndlaton sehen
Linie, Einrenkung der beiden Hüften auf blutigem Wege. Patient
erlag 16 Tage nach der Operation einer Influenzapneumonie, aus
dem Leichenpräparat ergibt sich folgendes:
Beide Schenkelköpfe stehen fest in der Pfanne, der Schenkel¬
halswinkel beträgt am linken Oberschenkel 105 °, am rechten 140
der Richtungswinkel links 15°, rechts 50 °« Der linke Schenkel¬
hals zeigt an seinem Ursprung beginnende Abbiegung nach abwärts,
der Kopf, abgesehen von der Verkleinerung und Verkümmerung
eine Verlagerung nach abwärts in der Epiphysenlinie. Bei der Be¬
trachtung des Präparates von oben zeigt der gegenüber der anderen
Seite um l p cm verlängerte Schenkelhals eine Verbiegung nach vorn,
die erst in der äußeren Hälfte stärker wird. Dadurch rückt der
Trochanter major nach außen und hinten.
Beobachtung 19. E. J., 10 Jahre alt, doppelseitige an¬
geborene Hüftgelenksluxation. Am Präparat ist eine deutliche Ab¬
wärtsbiegung des Schenkelhalses vorhanden. Der Schenkelhalswinkel
beträgt 100°. Der Schenkelhals verläuft zuerst gerade und ist erst
in seinem äußeren Drittel nach hinten verbogen. Der Trochanter
major ist flacher wie normal und erscheint nach hinten und innen
gedrückt und steht so fast senkrecht über dem Trochanter minor.
Beobachtung 20. Am Präparate einer linksseitigen Hüft¬
gelenksluxation von einem 1 ^ 2 jährigen Kinde beträgt der Schenkel¬
halswinkel 115°, der Trochanter major ist ebenfalls nach hinten um¬
gebogen und steht etwas steiler über dem Trochanter minor wie
normal.
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Die Coxa vara.
533
Beobachtung 21. G. E., 3 Jahre alt, linksseitige ange¬
borene Hüftgelenksluxation, Nach der Reposition für 3 Monate Fi¬
xation im Gipsverband, danach erscheint der Schenkelhalswinkel bis
zum rechten Winkel verkleinert.
Wie in dem zuletzt geschilderten Falle erwähnt Ludloff [121]
ebenfalls 2 Fälle von einseitiger kongenitaler Hüftgelenksluxation,
bei welchen erst nach der Reposition Verbiegung des Schenkelhalses
eingetreten ist. Er führt diese auf den Zug der pelvitrochanteren
Muskeln zurück und auf die längere einseitige Belastung des fixierten
Gelenkes. Unsere Beobachtungen 18, 19 und 20 zeigen jedoch, daß
es Fälle von kongenitaler Hüftgelenksluxation gibt, bei welchen schon
vor einer solchen länger dauernden Belastung eine Coxa vara bestan¬
den hat, die als eine kongenitale Deformität aufgefaßt werden muß.
Coxa yara congenita kombiniert mit angeborenen Deformitäten
anderer Gelenke*
Am bekanntesten sind die Fälle von Coxa vara, in welchen an
der einen Hüfte eine kongenitale Hüftgelenksluxation, an der anderen
die Schenkelhalsverbiegung besteht. Diese Fälle sind im allgemeinen
so gedeutet worden, daß ihre Entstehung auf eine stärkere Beanspru¬
chung der ursprünglich gesunden Seite zurückgeführt worden ist. Es
ist sicher, daß auf diesem Wege Schenkelhalsverbiegungen, welchen
so eine funktionelle Bedeutung zukäme, entstehen können. Sie sind
dann in dieselbe Kategorie der Sch enkelhals Verbiegungen unterzu¬
bringen, von denen wir bereits bei der Beschreibung der einseitigen
kongenitalen Coxa vara mit rhachitischer Verbiegung der anderen
Seite gesprochen haben (z. B. Beob. 5 u. 6).
Albert [4] beschreibt zwei anatomische Präparate, welche die
beachtenswerte Kombination einer Luxation der einen Hüfte mit
Schenkelhalsverbiegung der anderen aufweisen.
An dem einen Präparat, das von einer 33jährigen Frau stammte,
fand sich ein nicht verkürzter, aber ganz horizontal gestellter Schenkel¬
hals, der in dem Sinne einer Drehung des oberen Randes nach vorn
und unten eine Torsion aufwies.
In dem anderen Präparate von einem 14jährigen Mädchen war
auf der gesunden Seite der Femurhals kürzer und wagrecht gestellt,
ohne weitere Veränderung.
Auch Albert faßt die Veränderungen am Schenkelhals als
Ausdruck einer stärkeren Beanspruchung des Beines auf.
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534
Carl Heibing.
Dieselbe Deutung gibt Ludloff [121] einem Röntgenbilde
von einem 17jährigen Mädchen mit angeborener einseitiger Hüft-
luxation, bei der auf der gesunden Seite eine Coxa vara bestand.
Ich selbst verfüge über zwei einschlägige Beobachtungen, von
welchen 1 Fall klinisch genauer von mir untersucht werden konnte.
Beobachtung 22. C. F., 3 Jahre alt, fing mit 1 3 /i Jahren
zu laufen an, bei dem Kinde fiel sogleich der watschelnde ßang auf.
Schmächtig gebautes Mädchen mit Zeichen deutlicher Rhachitis. Er¬
hebliche Lendenlordose. Linkes Bein etwa */* cm kürzer wie das rechte,
bis auf eine geringe Abduktionsbehinderung vollkommen frei beweg¬
lich. Die linke Inguinalgegend stärker vertieft, Kopf in der Pfanne
nicht zu fühlen, Trochanter ca. 2 1 /2 cm über der Roser-Nelaton-
schen Linie. Das rechte Bein
steht adduziert und nach außen
rotiert und zeigt erhebliche Ab¬
duktionsbeschränkung. Trochan¬
ter 2 cm über der RoSer¬
if e lat on sehen Linie, beider¬
seits Trendelenburg sches
Phänomen.
Das Röntgenbild (Fig. 23)
ergibt links eine typische Luxatio
coxae subspinosa. Die Kopfepi¬
physe ist in ihrer Verknöche¬
rung stark zurückgeblieben, die
Pfanne zeigt keine Besonderheiten, das Pfannendach ist nahezu hori¬
zontal gestellt. Rechterseits füllt der Schenkelkopf die Pfanne voll¬
kommen aus, der Schenkelhalswinkel auf 100° verkleinert, der Epi¬
physenwinkel beträgt 45°. Die Schenkelhalsverbiegung ist hier wohl
auf Grund der bestehenden Rhachitis durch die stärkere Bean¬
spruchung des ursprünglich gesunden Beines entstanden.
Von anderer Seite (Alsberg) [ö] wird jedoch die Ansicht
vertreten, daß das gleichzeitige Bestehen einer Luxation auf der einen
Seite und Coxa vara auf der anderen Seite möglicherweise eine kon¬
genitale Grundlage hat. Alsberg [6] hat in einem solchen Falle
auch das Hüftgelenk, an welchem die Coxa vara bestand, nicht ganz
normal gefunden, insofern als der Schenkelkopf die Pfanne nicht ganz
ausfüllt, sondern vielmehr distalwärts ein leerer Pfannenteil vorhanden
Fig. 23.
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Die Coxa vara.
535
ist. Dementsprechend schien das Pfannendach weiter proximalwärts
ausgeweitet zu sein. Dieser Befund ließe sich nach Alsberg so er¬
klären, daß bei der Geburt auch der rechte Schenkelkopf am oberen
Pfannenrand gestanden hat, dann aber nicht bei den ersten Gehver¬
suchen luxiert ist, sondern sich vielmehr im Laufe der Jahre über
dem Gelenkkopf an Ort und Stelle ein neues Gelenkdach gebildet
hat. Die Subluxationsstellung hat zwar nicht zur konkreten Luxa¬
tion geführt, aber am proximalen Femurende ist es zu den anderen,
bei der kongenitalen Luxation häufig sich ausbildenden Veränderungen,
nämlich der Schenkelhalsverbiegung, gekommen. Diese Anschauung
hat auf Grund der Beobachtungen an unseren Fällen von kongenitaler
Coxa vara sehr viel Bestechendes, denn in fast allen Fällen fand sich
eine solche Ausweitung des Gelenkdaches, die mit Schrägstellung ver¬
bunden war.
Die Coxa vara auf rhachitischer Basis.
Die erste Mitteilung einer rhachitischen Schenkelhalsverbiegung
stammt, wie schon erwähnt, von Fiorani [44] aus dem Jahre 1881.
Wir verfügen über 24 Fälle von rhachitischer Coxa vara, von
welchen bereits drei Krankengeschichten (Beob. 5, 6 u. 22) nieder¬
gelegt sind. Es sollen hier die Krankengeschichten und Befunde
am Röntgenbilde von den übrigen Patienten kurz zu Protokoll ge¬
geben werden.
Beobachtung 23. W. Sch., 3 Jahre alt. Zweitjüngstes
Kind von vier Geschwistern. Lernte mit l 3 /4 Jahren das Laufen,
um nach */ 2 Jahre wieder mit demselben auszusetzen. Damals wurde
ärztlicherseits englische Krankheit konstatiert. Mit 2*/4 Jahren machte
dann der Knabe wieder seine ersten Gehversuche. Wegen des wat¬
schelnden Ganges und der leichten Ermüdung, die sich manchmal bis
zu Schmerzen in der Hüfte steigert, suchte die Mutter bei uns ärzt¬
liche Beratung. Gut entwickelter Knabe mit Zeichen florider Rhachitis.
Das Röntgenbild (Fig. 24) ergibt eine Verkleinerung des Schenkel¬
halswinkels rechts auf 105, links auf 110°. Becken ohne Besonder¬
heiten. Die Epiphysenlinien sind stark verbreitert, die Epiphysen¬
winkel betragen 50°. Schenkelhalsspitze beiderseits stark ausgeprägt,
springt schnabelförmig nach unten und innen vor. Die Schenkelhälse
erscheinen dicker als normal.
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536
Carl Helbing.
Bei einer 3 Jahre später vorgenommenen Nachuntersuchung zeigt
der Trochanter rechts einen Hochstand von 1 */* cm, links von */* cm
über der Ros er-N6latonschen Linie. Dementsprechend ist das linke
Bein 1 cm kürzer. Leichte links konvexe Lumbalskoliose. Als Zeichen
abgelaufener Rhachitis noch deutlicher Rosenkranz und Auftreibung der
unteren Radiusepiphyse. Linkes Bein zeigt außerdem noch eine leichte
Adduktionskontraktur. Am jetzt aufgenommenen Röntgenbild (Fig. 25)
Fig. 24.
TT': _ nt
ist der Verlauf der Epiphysenlinie ein normaler, Epiphysenwinkel be¬
trägt 55°. Becken und Gelenk ohne Besonderheiten. Rechts beträgt
der Schenkelhalswinkel 120°, links 125°.
Die Schenkelhalsverbiegung ist also hier inner¬
halb dreier Jahre nur mit rein antirhachitischen Ma߬
nahmen ohne besondere orthopädische Therapie ausgeheilt.
Beobachtung 24. L. L., 3 Jahre, lernte erst mit 2Jahren
das Laufen. Schwächlich gebautes, im Wachstum etwas zurückgeblie¬
benes Mädchen. Zeichen deut-
Fig. 26.
licher Rhachitis. Leicht wat¬
schelnder Gang. Trendelen-
b u r g sches Phänomen positiv,
ganz geringe Verbiegung der
Oberschenkeldiaphysen nach vorn
und außen. Leichte Genua valga,
Pedes plano-valgi, geringerlinks¬
seitiger Torticollis. Linker Tro¬
chanter l ji cm oberhalb der Ro¬
ser -Nelatonsehen Linie.
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Die Coxa vara.
537
Am Röntgenbild (Fig. 26) bilden die Epiphysenlinien mit dem
Schenkelschaft einen Winkel von 45° und sind etwas verbreitert.
Schenkelhalsspitze beiderseits stark nach unten und innen prominent,
biegt sich hakenförmig um. Schenkelhalswinkel rechts 115, links 118°.
Beobachtung 25. G. R., 5 1 /ä Jahre, hat vier Geschwister,
von welchen zwei an englischer Krankheit gelitten haben. Das
Mädchen hatte selbst schwere Rhachitis und machte erst im 4. Le¬
bensjahre die ersten Gehversuche. Von Krankheiten hat es Wind¬
pocken, Masern, Stickhusten, Lungenentzündung und Ziegenpeter
durchgemacht. Vor 2 1 /* Jahren kam es zu uns in Behandlung, weil
es eine Rückgratsverkrümmung
und watschelnden Gang zeigte.
Bei längerem Gehen bestehen
Schmerzen in der Hüfte, die
Beine, besonders das linke, kön¬
nen nur wenig abduziert werden,
im übrigen sind alle anderen
Hüftbewegungen frei. Ober¬
schenkel zeigen eine erhebliche
nach vorn und außen konvexe
Verbiegung.
Am Röntgenbild (Fig. 27)
ist das Pfannendach beiderseits wohlgebildet, die Köpfe sind leicht
nach unten subluxiert und lassen den oberen Teil der Gelenkpfanne
frei. Ihr Knochenschatten ist überall gleich dicht und nicht kleiner,
als es dem Alter des Kindes entspricht. Die Epiphysenlinien stellen
einen nach innen und oben konvexen Bogen dar und sind nicht
verbreitert. Epiphysenwinkel links 45, rechts 40°. Schenkelhals¬
winkel links 105, rechts 98°. Trochanterkerne noch nicht vorhanden.
Beobachtung 26. A. Sch., 3 Jahre alt. Schwächlich ge¬
bauter Knabe mit Zeichen deutlicher Rhachitis. Beine werden beim
Gehen nachgezogen, und es tritt sehr schnelles Ermüdungsgefühl ein.
Gang überhaupt sehr mühsam. Linkes Bein steht in Abduktion von
20°, Abduktionsbewegungen beiderseits unmöglich. Oberschenkel sind
erheblich nach außen und vorn konvex verbogen. Pedes plano-
valgi rhach.
Das Röntgenbild (Fig. 28) zeigt am Pfannendach beiderseits
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538
Carl Helbing.
eine schrägere Stellung als es dem normalen entspricht. Der obere
Teil der Pfanne leer. Knochenkerne des Kopfes klein, aufgehellt,
gefleckt, zeigen zwar überall mit der Pfanne noch Kontakt, stehen
aber mit ihren obersten Konturen noch 3—4 mm unterhalb des
Y-förmigen Knorpels. Die Epiphysenlinien sind stark verbreitert,
Epiphysenwinkel 45°. Die Scben-
28 * kelhalsspitze tritt scharf nach
einwärts vor und ist um ein
gut Teil tiefer gelegen, als der
tiefste Teil des Kopfes. Der
Schenkelhals selbst scheint bei¬
derseits etwas verlängert. Die
Entfernung des medialsten Teils
des Kopfes von der Außenfläche
des Schenkelschaftes beträgt links
4,7, rechts 4,2 cm. Schenkel¬
halswinkel links 90, rechts 95°. Der rechte Schenkelhals außerdem
nach außen leicht konvex verbogen. Noch keine Trochanterkerne
vorhanden.
Wegen der mangelnden Spreizfähigkeit der Beine entschloß
man sich im Januar 1904 zu einer Keilosteotomie aus der trochan-
teren Gegend beiderseits.
Die Beine werden in eine Abduktionsstellung von 60° durch
Gipsverband immobilisiert, nach 5 Wochen Abnahme des Verbandes,
Heilung perprimam intentionem.
Fig. 29.
Ueber das spätere Resultat der
Operation kann nichts Näheres
angegeben werden, da eine
Nachuntersuchung nicht zu er¬
möglichen war.
Beobach tu ng 27. R. Sch.,
2 1 /* Jahre. Zeichen von Rha-
chitis, vermehrte Lendenlordose,
watschelnder Gang, Trendelen-
burgsches Phänomen positiv.
Beide Beine können nur bis zu einem 30° einschließenden Winkel
passiv abduziert werden und stehen in leichter Außenrotation. Ro-
tations- und Flexionsbewegungen frei. Beide Oberschenkel nach vorn
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Die Coxa vara.
539
und außen leicht verbogen. Trochanter rechts 2 l ji , links 2 l j% cm
über der Roser-Ne'laton sehen Linie.
Das Röntgenbild (Fig. 29) zeigt keine Besonderheiten am Becken
und an der Pfanne. Epiphysenwinkel beiderseits 45°, Schenkelhals¬
winkel links 112, rechts 115°. Trochanterkerne noch nicht vor¬
handen.
Beobachtung 28. E. B., 2 l j± Jahre. Dickes, rhachitisches
Kind, das erst jetzt Anstalten zum Laufen macht. Watschelnder
Gang, Trendelenbur g-
sches Phänomen beiderseits vor¬
handen.
Am Röntgenbild (Fig. 30)
zeigt die Pfanne keine Beson¬
derheiten, die Oberschenkel-
diaphysen stehen in einer Ab¬
duktion von ca. 12°, die Köpfe
füllen ihre Pfanne überall gleich¬
mäßig aus, ihr oberer Rand
steht in der Höhe des Y-förmi-
gen Knorpels. Epiphysenwinkel
beiderseits 40°, Schenkelhalsspitze stark prominent, Schenkelhals¬
winkel links 105, rechts 112°, Oberschenkeldiaphvsen ohne Ver¬
biegung.
Beobachtung 29. E. K., 3 Jahre. Schwächliches Kind.
Am Röntgenbild (Fig. 31) ist das Pfannendach beiderseits fast
ganz horizontal gestellt. Die gut entwickelte Kopfepiphyse füllt die
Pfanne gleichmäßig aus, ihr oberer Rand in der Höhe des Y-förmigen
Knorpels. Die linke Epiphysen¬
linie ist von gleichmäßiger
Breite, Epiphysenwinkel 55°.
Linker Schenkelhalswinkel
105°. Rechts steht das Bein
in einer Abduktion von 12°
und außerdem in Außenrota¬
tion, so daß der 125° betra¬
gende Schenkelhalswinkel in
Wirklichkeit wohl kleiner ist.
Auch der mehr horizontale
Fig. 31.
Fig. 30.
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540
Carl Helbing.
Verlauf der Epiphysenlinie (Epiphysenwinkel = 75°) ist wohl auf
die stärkere Außenrotation des Beines zurückzuführen.
Es ist hier nicht mit Sicherheit zu entscheiden, ob es sich
wirklich um eine einseitige Coxa vara rhach. handelt, oder ob nur
die Vergrößerung des Schenkelhalswinkels durch die Außenrotation
vorgetäuscht wird.
Beobachtung 30, F. Sch., 3 1 /* Jahre. Das kräftig ent¬
wickelte Mädchen lernte erst mit 2 l Jt Jahren das Laufen, watscheln¬
der Gang, rechts stärker als
links, Trendelenburgscbes
Phänomen auf beiden Seiten
vorhanden.
Am Röntgenbild (Fig. 32)
steht das Pfannendach beider¬
seits fast horizontal. Der linke
Schenkelkopf etwas kleiner wie
der rechte, sein oberer Rand in
der Höhe des Y-förmigen Knor¬
pels. Epiphysenlinien verbrei¬
tert, scharf begrenzt, Epiphysenwinkel beiderseits 70°. Schenkel¬
hälse erscheinen etwas verlängert, Schenkelhalsspitze nach unten
hakenförmig abgebogen, Trochanterkerne noch nicht vorhanden,
Schenkelhalswinkel links 110, rechts 105°.
Beobachtung 31. Fr. R., 3 Jahre. Anamnese ergibt, daß
das Kind außer Stickhusten keine Krankheit durchgemacht hat, aber
erst mit 2 1 /* Jahren zu laufen anfing. Von dem behandelnden Arzt
wurde angenommen, daß der eine Schenkelkopf nicht in der Pfanne
saß. Schlecht entwickeltes Kind, leichte Lendenlordose, geringes
Genu valgum rhach. dextr., Pedes plani rhach. Das Kind kann
ohne Schmerzen und Ermüdungsgefühl längere Zeit gehen, hinkt
jedoch auf dem rechten Bein. Abduktionsmöglichkeit rechts geringer
wie links. Alle übrigen Bewegungen in beiden Hüften frei. Eine
1 Jahr später vorgenommene Untersuchung zeigt, daß sich die Erschei¬
nungen wesentlich gebessert haben. Das rechte Bein ist jetzt noch
1 cm kürzer als das linke, linker Trochanter in der Roser-Nelaton-
schen Linie, rechter 1 cm oberhalb derselben.
Am Röntgenbild (Fig. 33) erscheinen beide Schenkelköpfe gleich
groß, die Begrenzung gegen die Epiphysenlinie ist etwas verwaschen
Fig. 32.
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Die Coxa vara.
541
und ausgezackt. Links beträgt der Epiphysenwinkel 60 °, der
Schenkelhalswinkel 120°, Rechts ist der Epiphysenwinkel 42°, der
Schenkelhals winkel 100°. Der rechte Schenkelhals erscheint gegen¬
über dem linken etwas ver¬
längert. Außerdem besteht noch
eine leichte Verbiegung der
rechten Femurdiaphyse.
Es liegt also hier eine
einseitige rhachitische Coxa
vara vor.
Beobachtung 32. A.B.,
4 Jahre. Das Mädchen begann
mit 3 /4 Jahren zu laufen, hörte
dann aber wieder nach l j\ Jahr
auf, machte dann erst wieder mit 2 1 /; Jahren Gehversuche, Abgesehen
von Keuchhusten litt das Kind nur noch an englischer Krankheit.
Für sein Alter abnorm kleines Mädchen. Körperlänge 75 cm. Caput
quadratum, aufgetriebener Leib, hochgradige Lendenlordose, leichte
links konvexe Lumbalskoliose. Starke Verbiegung beider Ober¬
schenkel nach vorn und außen. Genu valgum beiderseits, rechts¬
seitiger Pes planus, linksseitiger Tarsus valgus metatarsus varus.
Die Oberschenkel stehen in star¬
ker Auswärtsrotation. Abduk¬
tionsfähigkeit beider Hüften ca.
25°, Innenrotation ebenfalls be¬
hindert, übrige Bewegungen der
Hüfte frei. Die Lendenlordose
gleicht sich in Rückenlage erst
bei rechtwinkliger Beugung der
Oberschenkel aus. Linker Tro¬
chanter 2, rechter Trochanter
l 1 ^ cm oberhalb der Roser-
Nölatonschen Linie. Linkes
Bein ca. 1 cm kürzer. Beim Gehen watschelt das Kind sehr stark.
Beiderseits Trendelenburgsches Phänomen positiv.
Am Röntgenbild (Fig. 34) ist das Pfannendach beiderseits fast
horizontal gestellt. Die Knochenkerne des Schenkelkopfes noch sehr
klein, ihre Konturen sind aber überall gleichmäßig weit von der knö-
Mi
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542
Carl Helbing.
ehernen Pfanne entfernt. Nur ihre mediale Zirkumferenz ist scharf
begrenzt. Nach der Epiphysenlinie zu werden sie immer durchsich¬
tiger, so daß sie mehr eine Mondsichelform haben. Die Epiphysen¬
linien erscheinen infolgedessen stark verbreitert. Der Epiphysenwinkel
beträgt, wenn man nur den obersten Teil der sehr stark konvex ver¬
bogenen Femurdiapbyse bei der Messung zu Grunde legt, links 45 ö t
rechts 55°. Der Schenkelhals ist auf beiden Seiten plump gestaltet
zeigt keine Verjüngung und setzt sich gegen den Epiphysenknorpel
in einer scharfen Linie ab. Die Schenkelhalswinkel betragen 95°.
Trochanterkerne noch nicht sichtbar.
Beobachtung 33. F. K., 4 Jahre. Lernte das Laufen erst
mit 2^2 Jahren. Zeichen schwerer Rhachitis. Hochgradige Verbie¬
gung der Oberschenkel nach vorn und außen, Genu valga, Pedes
plani, starke Lendenlordose, die
sich in Rückenlage erst bei einer
Flexionsstellung der Oberschenkel
im Winkel von 120° ausgleicht
Abduktion behindert, Innenrota¬
tion unmöglich, die übrigen Bewe¬
gungen sind frei. Trendelen-
burgsches Phänomen positiv auf
der rechten Seite.
Am Röntgenbild (Fig. 35) ist
die Pfanne gut ausgebildet, das
knöcherne Pfannendach fast hori¬
zontal gestellt, die Kopfepiphyse gibt beiderseits nur einen ganz
schwachen Schatten, dadurch erscheinen die Epiphysenlinien stark
verbreitert. Epiphysenwinkel links 65, rechts 55°, Schenkelhals¬
winkel links 130, rechts 105°. Der linke Femurschaft zeigt 5 cm
unterhalb des Trochanter eine scharfe Abknickung nach innen, offen¬
bar von einer rhachitischen Infraktion herrührend.
Es handelt sich also auch hier um eine einseitige Coxa
vara rhach.
Beobachtung 34. J. G., 3^4 Jahre. Knabe zeigt noch
schwere rhachitische Erscheinungen. Infraktion beider Claviculae,
starke Lendenlordose, rhachitische Verbiegung beider Oberschenkel
nach vorn und außen.
Am Röntgenbild (Fig. 36) ist das Pfannendach beiderseits hori-
Fig. 35.
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Die Coxa vara.
543
zontal gestellt. Die verknöcherte Kopfepiphyse überall im gleichen
Abstand vom Pfannenrand. Epiphysenlinien gleichmäßig und scharf
begrenzt, der Epiphysenwinkel beiderseits 55°. Der Schenkelhals
erscheint verlängert, bildet mit dem oberen Teil der Femurdiapbyse
einen Winkel von 105°. Die Schenkelhalsspitze ist ganz besonders
prominent und im Vergleich zum obe¬
ren medialen Teil des Schenkelhalses
aufgehellt. Die Oberschenkeldiaphyse
weist eine nach außen konvexe Ver¬
biegung auf, die in ihrem unteren
Drittel ganz erheblich ist. Trochanter¬
kerne noch nicht vorhanden.
Beobachtung 35. E. S.,
4 Jahre, schwächliches Mädchen mit
Erscheinungen von Rhacbitis. Am
Röntgenbild (Fig. 37) erscheint der
Knochenkern noch verhältnismäßig
klein, ist aber vom knöchernen Pfannen¬
dach überall gleich weit entfernt. Die
Epiphysenlinien verbreitert, Epiphysenwinkel 50°. Schenkelhals plump,
in seinem vertikalen Durchmesser vergrößert, Schenkelhalswinkel
links 110, rechts 100°. Tro¬
chanterkerne noch nicht vorhan¬
den , oberer Teil der Femur-
diaphyse nach außen konvex ver¬
bogen, links stärker als rechts.
Beobachtung 36. H. G.,
4 1 /* Jahre. Schwer rhachitischer
Knabe, starke Lendenlordose,
hochgradige Genua vara, winklige
Abknickung beider Tibien im
oberen und unteren Abschnitt der
Diaphyse, so daß die Unterschen¬
kel eine nach außen konvexe Kurvatur bilden. — Auf dem Röntgen¬
bild (Fig. 38) ist das knöcherne Pfannendach horizontal gestellt.
Schenkelköpfe eiförmig, klein, die Epiphysenlinien nicht wesentlich
verbreitert, bilden einen nach oben und innen konkaven Bogen.
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XV. Bd. 35
Fig. 37.
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544
Carl Helbing.
Epiphysenwinkel links 65°, rechts 55 c .
Die Oberschenkel stehen in leichter
Außenrotation, so daß der Trochanter
minor deutlich hervortritt. Knochenkerne
des Trochanter major noch nicht vorhan¬
den. Schenkelhalswinkel links 110, rechts
105°. Der untere Teil der Femurdia-
physe ist nach außen konvex verbogen.
Die beiden Tibien zeigen einen winkligen
Knick nahe ihrer oberen Epiphysen und
außerdem stehen die Beine so stark nach
außen rotiert, daß die Fibula medialwärts
von der Tibia auf dem Skiagramm erscheint.
Beobach tung 37. G. K., 5^2 Jahre. Lernte mit2 1 /* Jahren
das Laufen, hat an Masern und englischer Krankheit gelitten. Den
Eltern fiel beim Gehen Hinken besonders auf dem linken Bein auf.
Für sein Alter ungewöhnlich klei¬
nes, schwächliches Kind. Körper¬
länge 91 cm. Erhebliche Lenden¬
lordose, die sich in Rückenlage erst
bei Beugung der Beine im Winkel
von 120° ausgleicht. Unterschenkel
zeigen eine stark nach außen kon¬
vexe Verbiegung im unteren Drittel.
Aktive Abduktionsmöglichkeit des
linken Beines 25, des rechten 30°.
Links Trendelenbu r gsches Phä¬
nomen positiv. Trochanter steht
links 3 cm, rechts 2 cm über
der Roser-NtHatonsclien Linie. Linkes Bein dementsprechend
um 1 cm kürzer. Die Verbiegung der Unterschenkel wurde durch
Osteotomie beseitigt.
Am Röntgenbild (Fig. 39) zeigt knöchernes Pfannendach fast
horizontalen Verlauf, beide Schenkelköpfe überall gleich weit von
der knöchernen Pfanne entfernt. Die schmale, scharf begrenzte Epi¬
physenlinie verläuft schräg, Epiphysenwinkel links 00, rechts 45°.
Linker Schenkelhalswinkel = 98, rechter = 118°. Linker Schenkel¬
hals erscheint gegenüber dem rechten etwas verlängert. Trochanter-
epiphysen beiderseits deutlich.
Fig. 39.
Fig. 38.
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Die Coxa vara.
545
Beobachtung 38. E. K., 4*4 Jahre, lernte erst mit
2 1 2 Jahren das Gehen, hinkte von da ab, ermüdete sehr leicht und
klagte dann bei längerem Gehen über Schmerzen in den Hüften.
Außer Masern keine Krankheit durchgemacht. Schwächliches Mäd¬
chen mit ausgesprochen rhachitischem Habitus. Rechts konvexe
rhachitische Totalskoliose, leichte Verbiegung der Ober- und Unter¬
schenkel. Erhebliche Lendenlordose, Genua valga, Pedes plani. Der
Trochanter steht rechts 2, links l 1 /* cm über der Roser-Nelaton-
schen Linie. Die Lendenlordose gleicht sich in Rückenlage erst dann
aus, wenn man die Beine rechtwinklig flektiert. Abduktionsmöglichkeit
rechts 25, links 33°, sonst keine Beschränkung der Beweglichkeit
in den Hüften. Außenrotation über das physiologische Maß hinaus
möglich.
Am Röntgenbild (Fig. 40) ist das knöcherne Pfannendach ganz
horizontal, der eiförmige Kopf überall gleich weit von der Pfanne
Fig. 40.
Fig. 41.
entfernt. Epiphysenlinien schmal, scharf begrenzt, verlaufen schräg
nach innen und unten. Epiphysenwinkel links G5, rechts 45°.
Schenkelhalswinkel links 110, rechts 105°.
An einem zweiten 1 Jahr später aufgenoramenen Röntgenbild
(Fig. 41) ist außer einer ganz geringen Verkleinerung des Schenkel¬
halswinkels (links = 120, rechts = 115°) und einer nach außen kon¬
vexen Verbiegung der Oberschenkeldiaphyscn nichts Besonderes zu
bemerken. Epiphysenwinkel links 70, rechts 50°.
Es geht daraus hervor, daß hier eine gewisse spontane Hei¬
lungstendenz der Schenkelhalsverbiegung besteht. Der Schenkelhals¬
winkel hat sich auf beiden Seiten um 10° vergrößert, der Epiphysen-
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546
Carl Helbing.
winkel ist ebenfalls um 5° gewachsen, die Epiphysenlinien haben also
einen mehr horizontalen Verlauf angenommen.
Beobachtung 39. 0. P., 8*2 Jahre, für sein Alter ab¬
norm kleiner Junge, Zähne ohne Besonderheiten. Als Zeichen über¬
standener Rhachitis noch deutlicher Rosenkranz, leichte rechtskonvexe
Dorsalskoliose, Oberschenkel
nach vorn und außen verkrümmt
Unterschenkel zeigen säbel¬
scheidenförmige Verkrümmung
mit Konvexität nach vorn.
Trendelenburgsches Phäno¬
men beiderseits positiv. Die
nach der Seite etwas ausladende
Trochanterengegend ist durch
eine nach der Medianen zu kon¬
vexe Vertiefung von der Glutaal¬
gegend scharf begrenzt. Beim
Gehen fällt die freie Becken¬
hälfte herunter. Leichte Lendenlordose. Spitze des Trochanter beider¬
seits l 1 /* cm oberhalb der Roser-Nelatonschen Linie. Einwärts¬
rotation vollkommen behindert. Geringe Abduktionshemmung. Aus¬
wärtsrotation über das Normale möglich, Beugebewegungen frei.
Am Röntgenbild (Fig. 4*2) zeigt das Becken nichts Besonderes.
Die Epipbysenlinien scharf begrenzt, Epiphysenwinkel links 70,
rechts 80°, Schenkelhalswinkel 110 ° beiderseits.
Trotzdem wir hier die ausgesprochenen klinischen Erscheinungen
einer mittelschweren Coxa vara haben, sind ihre anatomischen Grund¬
lagen verhältnismäßig gering.
Beobachtung 40. P. R., 12 Jahre, hat Masern durchgeraacht
und an schwerer englischer Krankheit gelitten, so daß er erst am
Ende des 4. Lebensjahres zu gehen anfing. Bei längerem Gehen
noch jetzt Ermüdungsgefühl und Schmerzen in der Hüfte. Für sein
Alter sehr kleiner Junge, leichte Verbiegung beider Oberschenkel
nach außen, doppelseitiger Plattfuß, vermehrte Lendenlordose, Tren¬
del enburgsches Phänomen beiderseits angedeutet, Gang watschelnd,
Bewegungen in beiden Hüften bis auf eine Behinderung der Abduk¬
tion frei.
Fig. 42.
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Die Coxa vara.
547
Am Röntgenbild (Fig. 43)
sind die Kopfepiphysenlinien
durch eine scharfe schräge,
nach innen und unten konkav
bogenförmige Linie markiert.
Schenkelhalswinkel beiderseits
110°, Epiphysenwinkel 55°.
Trochanter durch eine knorpe¬
lige Epiphyse vom Schaft be¬
grenzt.
Beobachtung 41. E. S., 6 1 j 2 Jahre. Zeichen abgelaufener
Rhachitis. Watschelnder Gang, links Trend elenburgsches Phä¬
nomen deutlich, rechts nur angedeutet.
Am Röntgenbild (Fig. 44) ist das Pfannendach horizontal ge¬
stellt, Kopf füllt die Pfanne
gleichmäßig und vollkommen
aus. Epiphysenlinie scharf be¬
grenzt, stellt einen nach oben
und innen konkaven Bogen dar.
Epiphysenwinkel links 55, rechts
60°. Schenkelhalswinkel links
98, rechts 105°. Beiderseits
Trochanterkerne vorhanden,
Oberschenkel ganz leicht nach
außen konvex verbogen.
Beobachtung 42. J. L., 5*/2 Jahre. Lernte erst mit
4 8 /4 Jahren das Laufen. Vom Ende des ersten Lebensjahres ab
Erscheinungen der Rhachitis, sehr schwere Dentition. Kräftig ge¬
bautes Kind, adenoide Wucherungen und hypertrophische Mandeln,
die Beine stehen im Hüftgelenk nach außen rotiert und adduziert.
Im Röntgenbild (Fig. 45) ist das Pfannendach horizontal gestellt.
Die noch recht helle knöcherne Kopfepiphyse beiderseits durch eine
verbreiterte schräg verlaufende, überall gleich breite Epiphysenlinie
vom plumpen Schenkelhals getrennt. Epiphysenwinkel links 40,
rechts 42°, Schenkelhalswinkel links 85, rechts 95°. Der Schenkel¬
hals erscheint in seinen Durchmessern verdickt, seine obere Hälfte
ist verdichtet und gibt einen stärkeren Schatten. Links befindet sich
Fig. 44.
Fig. 43.
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548
Carl Helbing.
Fig. 45. in der Höhe des Trochanter
minor eine zweite Abknickung
im Sinne der Varität, so daß
der Schenkelhals mit dem dar¬
unter liegenden Schenkelschaft
einen Winkel von nur 70° ein¬
schließt. Trochanterkerne bei¬
derseits vorhanden.
In diesem Falle wurde ex¬
trakapsulär hart am Trochanter
aus dem Schenkelhals beiderseits
ein Keil herausgemeißelt mit nach vorn gelegener Basis. Die Be¬
weglichkeit der Hüften nach der Operation anfangs gering, besserte
sich im Laufe der Jahre.
Beobachtung 43. E. B., 4 Jahre. Lernte erst im 3. Le¬
bensjahre das Laufen, hat Masern, Lungenkatarrh und Rhachitis
durchgemacht. Kräftig gebautes Mädchen, rechtes Bein verkürzt,
statische rechtskonvexe Lumbalskoliose, beide Beine stark adduziert.
rechtes Bein außerdem noch
Flg ' 46 *’ nach außen rotiert. Die Ober¬
schenkel zeigen in ihrem obe¬
ren Drittel hochgradige Ver¬
biegung nach außen und vorn.
Rechtsseitiges Genu valgum
rhach., Pedes plani, Tren¬
delenburg sches Phänomen
beiderseits positiv. Beide Beine
schließen bei stärkster Abduk¬
tion einen Winkel von 45° ein.
Dabei ist besonders rechts die
Abduktion stark behindert. Passive Außenrotation vermehrt und
soweit möglich, daß die Längsachse des Fußes noch über die Frontal-
ebene hinaus einen nach hinten offenen Winkel von 20° mit derselben
einschließt. Rechter Trochanter 2 cm, linker */ 2 cm über der Roser-
Nelatonschen Linie.
Im Röntgenbild (Fig. 46) beträgt auf der rechten Seite der
Schenkelhalswinkel 110°, die Varusstellung des Oberschenkels wird
durch eine zweite Abknickung unterhalb des Trochanter minor noch
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Die Coxa vara.
549
vermehrt. Epiphysenwinkel 45°, links ist der Schenkelhalswinkel
nicht verkleinert, Epiphysenwinkel 60°.
Wir haben es also auch hier mit einer einseitigen Coxa vara
rhach. zu tun.
Die sogenannte Coxa vara adolescentium.
Gerade von der Coxa vara adolescentium, die zuerst die Kennt¬
nis der Coxa vara übermittelt hat, verfügen wir nur über wenige
eigene Beobachtungen, deren Krankengeschichten hier kurz wieder¬
gegeben werden sollen.
Beobachtung 44. H. V., 17 Jahre, Mechanikerlehrling. Als
Kind soll Patient öfters an Rheumatismus gelitten haben, der sich
hauptsächlich auf beide Knie lokalisiert hat. An englischer Krankheit
hat er sicherlich nicht gelitten. Vor einem Jahr traten zuerst
Schmerzen in der linken Hüfte auf, die nach Einreibungen, Salizyl
und Bettruhe schnell zurückgingen. Ganz allmählich entstand dann
eine dem Patienten selbst auffällige Verkürzung des linken Beines.
Beim Gehen empfindet Patient reißende Schmerzen in der Hüfte,
Stehen auf dem linken Bein ist ihm unmöglich. Es tritt sehr schnell
Ermüdbarkeit ein.
Besonders kräftig gebauter junger Mann, innere Organe ohne
Besonderheiten. Der Gang ist stark hinkend, das linke Bein steht
adduziert, nach außen rotiert, der stark prominente Trochanter major
überragt die Roser-Nelatonsche Linie um 2 cm. Dement¬
sprechend ist die Entfernung der
Spina ant. sup. vom Malleol. ext.
rechts 93, links 91 cm. Die
pelvitrochantere Muskulatur links
atrophisch, Trend elenburg-
sches Phänomen links positiv,
Abduktion des linken Beins völlig
aufgehoben. Die Rotations- und
Flexionsbewegungen frei.
Am Röntgenbild (Fig. 47)
ist das Pfannendach horizontal
gestellt. Auf der linken Seite
ist der äußerste Teil desselben mit einem sogar nach unten und
außen verlaufenden knöchernen Sporn ausgestattet. Korrespondierend
Fig. 47.
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550
Carl Helbing.
mit dieser Stelle zeigt sich an der äußersten oberen Peripherie des
Schenkelhalses eine kammartige Vorwölbung, durch die jeder Ab¬
duktionsbewegung ein knöcherner Widerstand geleistet werden muß.
Die Epiphysenlinien nicht mehr erkennbar, Schenkelhalswinkel 120 s .
Zur Beseitigung der Deformität wird die schräge subfcrochan-
tere Osteotomie offen ausgeführt mit gleichzeitiger subkutaner Teno-
tomie der Adduktoren. Unter starker Extension und Abduktion
wird das Bein im Gipsverband fixiert und auf 7 Wochen immobili¬
siert. Der Erfolg der Operation ist bereits nach 2 Monaten ein
eklatanter. Die 2 cm betragende Verkürzung des Beins ist voll¬
kommen ausgeglichen. Das Bein steht in einer Abduktionsstellung
von 30 0 und kann aktiv bis 45 0 abduziert werden. Bei maximaler
aktiver Spreizung beider Beine im Stehen schließen die Beine einen
Winkel von 90 0 ein.
Beobachtung 45. M. J., 20 Jahre alt, Dienstmädchen. Pa¬
tientin gibt an, an englischer Krankheit nicht gelitten zu haben,
ebenso schließt sie irgend ein Trauma als Ursache ihrer jetzigen
Erkrankung aus. Seit einem Jahre hat sich das schon längere Zeit
bestehende Hinken auf dem rechten
Beine vermehrt, der Gang ist da¬
durch immer mühsamer geworden, jetzt
ist sie nicht mehr im stände, allein
auf dem kranken Bein zu stehen.
Das rechte Bein steht in starker Ad¬
duktion und Außenrotation. Abduk¬
tionsbewegungen nicht möglich, auch
die Flexion ist in der rechten Hüfte
nur bis zum Winkel von 90 0 aus¬
führbar.
Am Röntgenbilde (Fig. 48) zeigt
sich, wie bei der Beobachtung 44.
das Pfannendach in seinem äußeren oberen Teil durch einen
knöchernen Vorsprung stärker ausladend. Der Kopf hat seine
normale Gestalt eingebüßt, erscheint im frontalen Durchmesser kom¬
primiert und steht nur mit den unteren zwei Dritteln des Schenkel¬
halses in Kontakt. Er erscheint so von der Epiphysenlinie nach
unten abgerutscht und dabei um eine sagittale Achse nach außen
gedreht. Das freie obere Ende des Schenkelhalses steht dem sporn-
Fig. 48.
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Die Coxa vara.
551
ähnlichen Gebilde am Pfannendach gerade gegenüber und verhindert
so jede Abduktionsbewegung. Lateral von jenem freien Ende des
Schenkelhalses findet sich noch an seinem oberen Rande eine zweite
knöcherne Prominenz, durch welche die sonst geradlinige Begrenzung
eine nach oben und außen konkave Gestalt annimmt. Schenkelhals¬
winkel selbst nicht besonders verkleinert = 120 °. Faßt man die
Linie, in welcher der Schenkelkopf vom Schenkelhals abgerutscht
erscheint, als Epiphysenlinie auf, so beträgt der Epiphysenwinkel 25 °.
Die vorgeschlagene subtrochantere Osteotomie wurde abgelehnt. Eine
weitere Beobachtung des Falles ist nicht möglich gewesen.
Beobachtung 46. M. 0., 15 Jahre, Gärtner. Seit 2 Jahren
leichte Ermüdbarkeit des linken Beines, die sich bei längerem Gehen
zu Schmerzen steigert und hinkender Gang. Die linke untere Ex¬
tremität ist 4 cm kürzer, steht
adduziert und nach außen ro- Fig *
tiert. Abduktion stark be¬
schränkt, die übrigen Bewe¬
gungen, von einer leichten
Behinderung der Innenrotation
abgesehen, sind frei.
AmRöntgenbilde(Fig.49)
ist am Schenkelkopf selbst
nichts Besonderes erkennbar.
Der untere äußere Quadrant
ist dem Trochanter minor
genähert, linker Schenkelhalswinkel beträgt 110°, Epiphysenlinie
nicht mehr sichtbar. Rechter Schenkelhalswinkel 130 °.
An dieser Stelle mögen die Krankengeschichten einiger älterer
Patienten eingefügt werden, bei welchen die Erscheinungen der
Coxa vara erst nach der Pubertätszeit im Mannesalter auf¬
getreten sind, und die viel Gemeinsames in ihrer Aetiologie auf weisen.
In allen Fällen handelt es sich um Offiziere, bei welchen die Affek¬
tion bemerkbar wurde, als der Dienst sie zu längerem Reiten zwang.
Beobachtung 47. Hauptmann M., 38 Jahre. Hat als Kind an
englischer Krankheit gelitten. Als Fähnrich machte ihm schon das
Reiten mehr Beschwerden als anderen. Beim Stehen und Marschieren
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552
Carl Helbing.
zeigten sich nie Schmerzen. Auch der Gang ist nie nachteilig beein¬
flußt gewesen. Erst als Hauptmann verspürte Patient eine plötzliche
Zunahme der Schmerzen bei längerem Reiten, die sich dermaßen
steigerten, daß das Reiten allmählich unmöglich wurde, besonders
auf breiten Pferden.
Kräftig gebauter muskulöser Mann. Beide Beine stehen in
leichter Außenrotation, die beiden Trochanteren stehen ungefähr
2 cm höher als normal. Abduktion ist nur in geringem Maße mög¬
lich, dabei kontrahieren sich die Adduktoren straff.
Am Röntgenbild ist linker Schenkelhalswinkel 125, rechter 105 °.
Trochanter minor springt stark vor, die Beine stehen also in starker
Außenrotation. Links ist die Außenrotation stärker als rechts, so
daß die Verkleinerung des Schenkelhals winkeis geringer erscheint,
als sie de facto ist.
In Narkose wurden die Adduktoren subkutan durchtrennt und
beide Beine in größtmöglicher Abduktion auf dem Extensionstisch
gestreckt; Fixation in dieser Stellung auf 6 Wochen. Durch Massage
und Uebungen am Pendelapparat wurde Patient bald soweit her-
gestellt, daß er seine Beine wie ein normaler Mensch spreizen konnte.
Jetzt kann Patient die größten Manöver mitmachen und 16—19 Stun¬
den ohne die geringsten Beschwerden zu Pferde sitzen.
Beobachtung 48. Leutnant F., 20 Jahre. Seit 2 Jahren
Schmerzen bei längerem Reiten, während das Marschieren ohne
irgend welche Beschwerden möglich ist. Linkes Bein um ca. 1 cm
kürzer als das rechte. Hinken besteht nicht, doch ist die Abduktion
beschränkt.
Am Röntgenbild (Fig. 50) erscheint der Schenkelhals verkürzt,
Schenkelhalswinkel 110°, der untere Teil der Kopfkappe dem Tro¬
chanter minor genähert.
Beobachtung 49. Oberleutnant V., 29 Jahre. Seit einem Jahre
Beschwerden, ähnlich den in den beiden vorangehenden Fällen ge¬
schilderten. Beine in leichter Adduktion und starker Außenrotation.
Am Röntgenbild (Fig. 51) springt auf beiden Seiten der Tro¬
chanter minor sehr stark hervor, so daß der nach dem Röntgen¬
bilde 115° betragende Schenkelhalswinkel sicherlich in Wirklichkeit
kleiner ist.
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Die Coxa vara.
553
Fig. 50.
Fig. 51.
Coxa vara infolge von Osteomalacie.
Ein diesbezüglich klinisch beobachteter Fall steht mir nicht
zur Verfügung, ich möchte darum in Kürze die spärlichen Beob¬
achtungen aus der Literatur hier anführen.
Beobachtung von Hofmeister [74]. 34jährige Frau, typische
funktionelle Störungen in beiden Hüften bei fast völlig freier Außen¬
rotation und Flexion. Hochgradige Beschränkung der Abduktion,
watschelnder Gang, rechter Trochanter 3, linker 2 cm oberhalb der
Roser-Nölatonschen Linie. Dementsprechend rechtes Bein 1 cm
kürzer. Die Lendenwirbelsäule ist stark lordotisch verkrümmt.
Linke Darmbeinschaufel nach innen winklig eingeknickt, untere
Thoraxapertur ruht den Darabeinschaufeln auf. Schnabelform der
Symphyse. Die Beckenmasse wie beim osteomalacischen Becken,
der Druck einzelner Knochen, insbesondere des Beckens, schmerzhaft.
Bei der vaginalen Untersuchung gibt der Knochen das Gefühl der
Eindrückbarkeit. Beckeneingang Y-förmig gestaltet. Die Affektion
entstand im Anschluß an ein Puerperium.
Beobachtung von Alsberg [5]. 45jährige Frau, bisher immer
gesund gewesen, hat mehrere normale Entbindungen durchgemacht.
Seit 4 Jahren Schmerzen und Schwäche in den unteren Extremi¬
täten, so daß das Gehen nur mit Hilfe eines Stockes möglich war.
Schließlich wurde Patientin bettlägerig. Unter Zunahme der Dorsal-
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554
Carl Helbing.
kyphose besserte sich der Allgemeinzustand, so daß Patientin einen
Teil des Tages außer Bett zubringen konnte.
Die Knochen des Rumpfes und der Extremitäten druckempfind¬
lich, die Rippen federn deutlich. Bei passiven Bewegungen in der
Hüfte besteht eine Beschränkung der Abduktion und Rotation.
Trochanteren 3 cm über der Roser-Nölatonschen Linie. Die
Bewegungen im Hüftgelenk äußerst schmerzhaft. Patientin geht
6 Jahre nach Beginn der Erkrankung an allmählich zunehmender
hochgradiger Schwäche im Kollaps zu Grunde.
Bei der Sektion findet sich an den inneren Organen, abgesehen
von der durch die Skelettdeformitäten bewirkten Kompression der
Lungen und Furchen an der Leberoberfläche nichts Besonderes. Die
Knochen von kautschukähnlicher Konsistenz, überall leicht sclineid-
bar. Ganz besonders stark ist die Beckendeformität. Die seit¬
lichen Beckenwandungen nach einwärts gedrängt, Symphyse springt
schnabelförmig vor, die Darmbeinschaufeln nach innen umgerollt,
das Kreuzbein spitzwinklig abgeknickt. Die Konsistenz der Becken¬
knochen so weich, daß sie leichter schneidbar sind als die umgeben¬
den Weichteile. Brustbein und Rippen zeigen Einknickungen, die
Wirbel sind zusammengedrückt und schief. Durch die mikroskopische
Untersuchung wird die Diagnose der Osteomalacie mit Sicherheit
festgestellt. Die Untersuchung des linken coxalen Femurendes er¬
gab folgendes: Der ganze Knochen außerordentlich weich, durch
leichten Fingerdruck eindrückbar. Der Knochen in seiner äußeren
Form dadurch verändert, daß der Kopf nach unten abgerutscht er¬
scheint. Der Schenkelhals zeigt eine geringe nach vorn konvexe
Verkrümmung. Schenkelhalswinkel nicht verkleinert. Der Richtungs¬
winkel beträgt 29 °. Auf einem Frontalschnitt ist die kompakte
Substanz außerordentlich reduziert, die Spongiosa weitmaschig mit
gelbem Knochenmark ausgefüllt. Das Röntgenbild zeigte ebenfalls
die veränderten Knochenstrukturverhältnisse. Die Corticalis ist von
faseriger Beschaffenheit und am Adam sehen Bogen leicht gewellt.
Die Spongiosastruktur verwischt, nur wenige Lamellen noch vor¬
handen, die vom Adam sehen Bogen nach der oberen Kopfperipherie
hinstreben. Die Epiphysenlinie des Kopfes hat einen abnormen
Verlauf.
Faßt man das Bild zusammen, so hat man einen hochgradig
erweichten Knochen vor sich, der der Funktion, die Körperlast zu
tragen, nicht mehr gewachsen war. Daß trotzdem der Schenkelhals
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Die Coxa vara.
555
in seiner Form so wenig sich verändert zeigte, liegt wohl daran, daß
die Patientin in ihren letzten Lebensjahren bettlägerig gewesen ist.
Ein weiteres Präparat ist von Albert [4] beschrieben worden,
das aus dem Wiener Museum stammt.
Es handelte sich um eine 54 jährige Frau. Der Eingang zum
kleinen Becken stellt ein gleichseitiges Dreieck dar, die Pfannen¬
ebenen sind mehr frontal eingestellt, die Schenkelhälse nicht ver¬
kürzt, wagrecht gestellt und nach hinten gerichtet, zu gleicher Zeit
so torquiert, als ob der obere Rand über vorn nach unten streben
wollte. Femurköpfe normal gestaltet.
Die Coxa vara infolge einer fibrösen Ostitis.
Die wenigen bisher bekannt gewordenen Fälle sind durch
Küster [108] und durch v. Brunn [21] zur Kenntnis gelangt.
An der Hand eines wohl als pathologische Rarität aufzufassenden
Präparats besprach Küster ,auf dem Chirurgenkongreß 1897 die
hochinteressante Leidensgeschichte eines 17jährigen Mädchens.
Im Alter von 5 Jahren hatte sich dasselbe auf ganz leichte
Traumen hin den rechten Oberschenkel mehrmals gebrochen und
hinkte von da ab. Einige Tage bevor sie in Küsters Beobachtung
gelangte, hatte sie sich wieder durch einen leichten Fall eine Fraktur
des rechten Oberschenkels oberhalb der Mitte zugezogen. Außer
dieser Fraktur fiel noch folgende Hüftdeformität auf. Das rechte
stark verkürzte Bein zeigte Flexion, Adduktion und Innenrotation.
Die Hüfte sprang abnorm stark vor, Trochanter erheblich höher.
15 cm unterhalb der Spitze des Trochanter fand sich eine Ein¬
knickung des Knochens, die bei der Untersuchung deutliche Krepi¬
tation aufwies. Spitze des Trochanter 5 cm oberhalb der Roser-
Nälatonschen Linie. Die Hüftgelenksbewegungen auch in Narkose
eingeschränkt. Neben dem Oberschenkelbruch wurde nach dem Be¬
fund eine veraltete traumatische Hüftgelenksluxation nach hinten und
oben angenommen, doch stimmten hierzu die Verbreiterung der Hüft-
gegend und die Stellung des Trochanter major, der zu weit nach
hinten gerückt erschien, als daß man eine Luxatio iliaca hätte an¬
nehmen dürfen, nicht recht zu dieser Diagnose.
Da die Patientin am nächsten Tage plötzlich an einer frischen
Lungenentzündung starb, hatte man Gelegenheit, einen genauen Ein¬
blick in die Hüftgelenksveränderungen zu gewinnen. Küster be¬
schreibt das interessante Präparat folgendermaßen:
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556
. Karl Helbing.
„Der obere Teil des Femur ist in Form eines Hirtenstabes in
weitem Bogen gekrümmt; zugleich ist Schenkelhals und Kopf so
stark nach abwärts gebogen, daß beide mit dem Schaft einen sehr
spitzen Winkel bilden und der Kopf den tiefsten Punkt, die Außen¬
seite des großen Rollhügels aber den höchsten Punkt der Abweichung
einnehmen. Der Kopf ist in der Kapsel gut beweglich, nach deren
Eröffnung zeigt er sich verkleinert, von Knorpel größtenteils ent¬
blößt, aber glatt. Das Ligamentum teres ist in Form eines dicken
Stranges erhalten. Nur am hinteren Umfang des Kopfes ist noch
ein Knorpelüberzug vorhanden, der sich auf den hinteren und oberen
Umfang des Halses bis zum großen Trochanter und bis zum Anfang
der stark erweiterten Kapsel in einen knorpelähnlichen Ueberzug
fortsetzt. An der Innenseite ist der Kopf vom Halse durch eine
tiefe Furche abgesetzt, mit welcher der Hals auf dem hinteren oberen
Pfannenrande reitet; darüber liegt ein ebenfalls dem Halse ange-
böriger Buckel, welcher in einer Art zweiter Gelenksfläche auf der
äußeren Darmbeinfläche sich bewegt. Auch dieses Gelenk liegt
innerhalb der Kapsel, doch ist dieser Teil durch eine halbmondför¬
mige Falte von dem übrigen Teil der Kapselhöhle abgegrenzt. Kopf
und Hals am linken Femur sind außerordentlich fest, die obere
Epiphysenlinie ist verschwunden . . . Der ganze rechte Oberschenkel¬
schaft ist von außen nach innen sehr zusammengedrückt; größte
Breite 2 cm, größter Durchmesser von vorn nach hinten 5 cm, er
ist von einem verdickten, speckartigen Periost überzogen.*
Einen ganz ähnlich gelagerten zweiten Fall hat dann noch in
jüngster Zeit v. Brunn aus der v. Brunsschen Klinik beschrieben.
Es handelt sich um ein 10jähriges Mädchen, das im 4. Lebens¬
jahre nach einem Fall den rechten und * 2 Jahr später bei einem Fall
über einen Graben den linken Oberschenkel brach. Von dem 7. Lebens¬
jahre ab wurde das Gehen mühsam. Mit 9 Jahren erlitt sie bei einem
Sprung von 1 l j* m Höhe einen Bruch des rechten Unterschenkels.
Kräftiges über ihr Alter hinaus entwickeltes Mädchen. In
Rückenlage sind bei gerade gestelltem Becken die Beine etwa in
der Mitte des Oberschenkels gekreuzt. Aus der hochgradigen
Adduktionsstellung ist eine Abduktion ohne Mitbewegung des
Beckens nicht möglich. Außenrotation in den Hüften über das
physiologische Maß hinausgehend. Innenrotation beschränkt. Beuge-
und Streckbewegungen ganz frei. Die Ueberstreckung ist auf der linken
Seite bis zu einem nach hinten offenen Winkel von 65° möglich.
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Die Coxa vara.
557
Beim Stehen wird die gekreuzte Stellung der Beine beibehalten.
Dabei ist das rechte Bein stärker nach außen rotiert. Rechts be¬
steht ferner noch ein Genu valgorecurvatum. Doppelseitiger Pes
valgus. Rechte Spitze des Trochanter major 1 ja cra oberhalb der
Roser-Nölatonschen Linie. Nach unten und vorn vom Trochanter
fühlt man am Oberschenkel eine starke Auftreibung des Knochens, die
sich nach abwärts verjüngt, aber bis in die Mitte des Femur nach¬
weisbar ist. Linker Trochanter in der Höhe der Roser-Nölaton-
schen Linie.
Das Röntgenbild zeigt rechts den Schenkelkopf in der Pfanne.
Der Hals ist in seiner Form und in seiner Stellung zum obersten
Teil des Schenkelschafts nicht wesentlich verändert. Trotzdem kommt
eine starke Verbiegung im Sinne der Coxa vara dadurch zu stände,
daß der Schaft 3 Finger breit unterhalb der Spitze des Trochanter
eine Abknickung in einen medialwärts offenen Winkel von 135 0
erfährt. Die Spitze ist umgeben von einem besonders dichten
Knochenschatten. Im Gegensatz dazu ist die äußere Hälfte des
Oberschenkelschaftes auffallend hell.
Links steht der Kopf auch in der Pfanne. Durch die starke
Abduktionsstellung berührt aber nur der obere Teil des Kopfes noch
die Pfannenfläcbe. Der Winkel zwischen Schaft und Hals ist bis
auf einen rechten Winkel vermindert, außerdem besteht noch eine
Verbiegung des Schenkelhalses in einem nach vorn konkaven Bogen.
Ferner findet sich in derselben Höhe wie rechts eine Abknickung
des Schenkelschafts in einem nach innen offenen Winkel. Die Unter¬
fläche des Schenkelhalses bildet so mit der Innenfläche des Schaftes
einen Winkel von 55 °. Der linke Oberschenkel ist an der Stelle
der Verbiegung nur halb so breit wie der rechte.
Eine Keilexzision aus dem Knochen in der subtrochanteren
Gegend gab Gelegenheit zur mikroskopischen Untersuchung. Ohne
auf die Details näher einzugehen, sei nur so viel gesagt, daß die
Hauptmasse des exzidierten Stücks aus jugendlichem, kernreichen
und fibrillenarmen Bindegewebe bestand, in welches Knochen-
bälkchen eingelagert waren. Die an vielen Stellen erkennbaren
Appositions- und Resorptionsvorgänge wichen nicht von dem nor¬
malen Bilde ab.
Diese eigentümliche Knochenerkrankung ist von anderer Seite
(Bergmann, Schlange) als eine echte Knochenneubildung aufge¬
faßt worden, die mit cystischen Erweiterungszuständen einhergeht.
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558
Carl Helbing.
Ich selbst habe Gelegenheit gehabt, 2 Fälle von cystischer
Erkrankung im coxalen Femurende zu beobachten.
Coxa vara infolge einer Cystenbildung und malignen cystischen
Tumoren.
Beobachtung 50 (cf. Hel hing [62]). Es handelte sich um
einen 5jährigen blühend aussehenden Jungen, der, 5 Monate
bevor er in unsere Beobachtung gelangte, über Schmerzen im
rechten Knie im Anschluß an einen Fall klagte. Trotz des geringen
Traumas, und ohne daß Patient bettlägerig war, schonte er von da
ab das rechte Bein ängstlich und fing auch an, auf demselben zu
hinken. Einen Monat später traten Schmerzen in der rechten Hüfte
und leichte Ermüdbarkeit im rechten Bein ein.
An der leicht atrophischen unteren Extremität, die bis auf eine
geringe Abduktionsbehinderung der Hüfte eine vollkommen freie
Beweglichkeit in allen Gelenken aufwies, besteht leichte Außenrotation
der Hüfte und eine deutliche Auftreibung in der Trochantergegend.
Rechtes Bein l ji cm kürzer als das linke.
Das Röntgenbild (Fig. 52) bot folgenden interessanten Befund:
Das linke coxale Femurende zeigt normale Verhältnisse. Die deut¬
lich sichtbare Epiphysenlinie hat
einen nahezu horizontalen Verlauf.
Epiphysenwinkel 70, Schenkelhals¬
winkel 135 °. An der rechten
Hüfte hat der Kopf eine Drehung
um seine sagittale Achse nach
außen erfahren und steht so in
starker Abduktionsstellung. Die
Epiphysenlinie ist steiler gestellt.
Epiphysenwinkel 45 °. Trotz der
Abduktionsstellung des Kopfes hat
sich sein oberer Rand nicht vom
Pfannendach entfernt. Der Schen¬
kelhals selbst ist stark verkürzt, sein unterer Rand verläuft hori¬
zontal und bildet einen nach unten konkaven Bogen. Die Schenkel¬
halsspitze hat an den Trochanter minor durch die Verkürzung eine
Annäherung bis auf 1 cm erfahren. Der obere Rand des Schenkel¬
halses bildet mit einer Horizontalen einen Winkel von 33 °. Auf
Fig. 52.
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Die Coxa vara.
559
der gesunden Seite beträgt er 55 °. Der oberste Teil des Femur-
schaftes und ein kleiner Teil des angrenzenden Schenkelhalses sind
durch eine ovoide, annähernd hühnereigroße, für die Röntgenstrablen
durchlässige Höhle aufgetrieben. Die Corticalis der Femurdiaphyse
ist hier bis auf wenige Millimeter verdünnt. Innerhalb der auf¬
gehellten Partie finden sich einige wenige, Knochenschatten gebende
Leisten. Der Schenkelhalswinkel beträgt 115°.
Eine damals vorgeschlagene Operation wurde von den Eltern
abgelehnt, der Patient deshalb zur Entlastung des Beines und zur
Verhütung einer Spontanfraktur mit einem Stützapparat entlassen.
Bei einer zweiten Röntgenaufnahme (Fig. 53) nach 6 Wochen
war eine deutliche Vergrößerung des Hohlraumes in allen seinen
Durchmessern eingetreten. Das Bein hatte, obgleich es nicht be¬
lastet war, eine weitere Verkürzung von l 1 /» cm erfahren. Der
Schenkelhalswinkel hatte sich auf 110° verkleinert. Zugleich be¬
stand Druckempfindlichkeit am Trochanter major. Die Beugebeweg¬
lichkeit in der Hüfte jetzt etwas beschränkt. Die schnell eintretende
Verkürzung und die Schmerzen ließen die Eltern jetzt zu der in
Aussicht genommenen Operation ihre Einwilligung geben.
Bei der von mir ausgeführten Operation wurde durch Längs¬
schnitt an der Außenseite des Oberschenkels in Trochanterhöhe und
Vertiefung desselben bis zum Knochen der oberste Teil des Femur¬
schaftes freigelegt. Es zeigte sich zunächst, daß die Verbiegung
und Verkürzung des Schenkelhalses viel hochgradiger war, als das
Röntgenbild vermuten ließ; so hochgradig, daß der Kopf der tumor¬
artig aufgetriebenen Femurdiaphyse fast dicht anlag und der Längs¬
schnitt nicht nur den oberen Femurschaft, sondern sofort auch den
kurzen vorderen oberen Schenkelhalsrand und den vorderen oberen
Teil der Kopfkappe freilegte. Der Schenkelhals zeigte in sich selbst
keine Verbiegung, hatte überall noch knorpligen Ueberzug. Der
Kopf ohne Form Veränderung. Da sich das Gelenk vollkommen ge¬
sund erwies, beschloß ich, konservativ vorzugehen und nur den
cystischen Tumor freizulegen. An einer Stelle des Längsschnittes
war die Corticalis des Femurschaftes derart verdünnt, daß sie mit
Leichtigkeit mit dem Skalpell durchbrochen werden konnte. Man
kam in eine mit hellgelber klarer Flüssigkeit gefüllte Höhle, deren
Wandungen netzförmig angeordnete vorspringende Leisten zeigten,
so daß man den Eindruck hatte, als ob ursprünglich eine viel-
kammerige Höhle Vorgelegen hätte. Diese unregelmäßige Innen¬
zeitschrift fUr orthopädische Chirurgie. XV. Bd. 36
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560
Carl Helbing.
fläche der Cyste gibt auch eine Erklärung für die am Röntgenbild
sichtbaren feinen netzförmigen Schatten innerhalb der Höhle. Nach
Entfernung der ganzen lateralen Wand der Cyste wurde die jetzt
halbkuglige Höhle kurettiert, dann tamponiert, und die Weichteil¬
wunde bis auf den notwendigen Zugang zur Höhle geschlossen. Bei
vollkommen fieberfreiem, günstigen Heilungsverlauf wurde die Fixa¬
tion im Gipsverband nach 6 Wochen durch einen Schienenhülsen¬
apparat ersetzt, der von dem Jungen 3 /4 Jahr lang getragen wurde.
Die während dieser Zeit aufgenommenen Röntgenbilder (cf. Fig. 541
zeigen, daß der ursprüngliche Hohlraum nach und nach durch
Fig. 53.
Fig. 54.
soliden Knochen ersetzt wird, so daß 1 Jahr nach der Operation
das obere Femurende auch an seiner lateralen Begrenzung Knochen¬
substanz auf weist. Der Schenkelhals winkel beträgt jetzt auf der
operierten Seite 130 °, die Epiphysenlinie hat wieder eine mehr
horizontale Stellung angenommen, Epiphysenwinkel 55 °. Der Knabe
ist jetzt, 3 1 /* Jahre nach der Operation, noch vollkommen rezidivfrei
geblieben. Die Beweglichkeit in der Hüfte ist vollständig normal
geworden, die Verkürzung des Beins betrug bei der letzten Unter¬
suchung nur noch knapp 1 cm.
Die bei der Operation abgetragene Cystenwand hatte eine Dicke
von 4—11 mm und ließ eine deutliche Schichtung erkennen: die innerste
rotbraun verfärbte Schicht zeigt eine rauhe Fläche und entspricht
der eigentlichen Cystenwand, die intermediäre schmälste Zone läßt
sich am besten nach ihrem Aussehen mit einer Knorpelfuge ver¬
gleichen, die äußere breiteste Schicht besteht aus Knorpel, in
welchem Knochenbälkchen von verschiedener Dicke eingelassen sind.
Entsprechend dieser makroskopischen Beschaffenheit der Cystenwand
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Die Coxa vara.
561
treten auch im mikroskopischen Bilde drei verschiedene Zonen
zu Tage.
Die innere, die eigentliche Cystenwand bildende Lage besteht
aus vielfach verästelten Knorpelinseln, deren Peripherie schichtweise
verknöchert ist. Zwischen den einzelnen Vorsprüngen findet sich,
die Lücken ausfüllend, riesenzellenhaltiges, stark vaskularisiertes und
kernreiches Granulationsgewebe, ohne tumorartigen Charakter. Epi¬
theliale Bildungen als Auskleidungen der Cystenwand wurden nirgends
gefunden. Die mittlere Schicht, die makroskopisch durchsichtig er¬
scheint, wird aus säulenförmig angeordneten Knorpelzellen gebildet,
deren Grundsubstanz weiter lateralwärts einen streifigen Charakter
annimmt. Die breiteste äußere Schicht enthält weiter nichts als
hyalinen Knorpel im Ruhezustand.
An Stelle der knöchernen Corticalis der oberen Femurdiaphyse
findet sich also fast ausschließlich Knorpelgewebe, so daß die Ent¬
wicklung der Cyste aus einer erweichten gutartigen Knochengeschwulst
recht wahrscheinlich wird.
Beobachtung 51. Herr J., 28 Jahre alt, Kaufmann, brach
beim Tanz nach einem leichten Stoß gegen das rechte Knie zusammen
und konnte sich nach diesem Unfall nicht mehr erheben. Der hinzu¬
gezogene Arzt konstatierte eine Schenkelhalsfraktur. 3 /± Jahre später
kam er in unsere Beobachtung. Es bestand damals eine Adduktion
und Außenrotation des um ca. 5 cm verkürzten rechten Beins. Ab¬
duktionsbewegung vollkommen aufgehoben, die Beugung bis zum
rechten Winkel möglich. Die Trochantergegend stärker ausladend
und verdickt. Der Gang durch die Verkürzung und Adduktions¬
stellung recht mühsam und hinkend.
Auf dem Röntgenbild (Fig. 55) ist der Schatten des Kopfes
stark aufgehellt. An der Stelle des Schenkelhalses findet sich eine
mehrere Millimeter breite, helle, vertikal verlaufende Zone, die an¬
nähernd in der Richtung der Epiphysenlinie verläuft. Trochanter
und Schenkelschaft sind in dieser Linie nach oben disloziert, derart,
daß die Trochanterspitze etwas höher steht als die obere Kopfkon¬
tur. Der Trochanter und der oberste Teil der Femurdiaphyse er¬
scheinen blasig aufgetrieben durch eine 3^2 cm breite und circa
4 cm lange, absolut durchlässige Geschwulst, welche die Corticalis
auf 2 mm verdünnt hat. Eine knöcherne Vereinigung des Kopfes
mit dem Oberschenkelknochen ist aus dem Röntgenbilde nicht zu
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Die Coza vara.
563
ganz analoge Beobachtungen gemacht. Auch Ludloff [121] de¬
monstrierte am 2. Orthopädenkongreß 2 Röntgenbilder von Coxa
vara, bei welchen die Abknickung dicht unterhalb des Trochanter
major stattgefunden hatte. Bei dem einen hatte ein Fibrosarkom,
bei dem anderen eine Knochencyste die Stabilität des Knochens
geschädigt.
Die Coxa vara infolge von Osteomyelitis.
Beobachtung 52. Herr F., 22 Jahre alt. Außer Rheuma¬
tismus im 14. Lebensjahr keine Krankheit bis zur Pubertätszeit
durchgemacht. Im Anschluß an den Rheumatismus soll sich eine
Anschwellung in der rechten Hüfte eingestellt haben, die 1 Jahr
später aufbrach. 4 Wochen lang entleerte sich aus der Fistel
Eiter, dann heilte sie von selbst zu. Im Januar 1905 traten dann
wieder unter plötzlich einsetzendem hohen Fieber Schmerzen im
rechten Knie und Hüfte ein. Die Schmerzen sind auch jetzt noch
bei der Belastung des rechten Beins vorhanden.
Blaß aussehender junger Mann, Muskulatur mittelkräftig ent¬
wickelt, an den inneren Organen nichts Besonderes. Die rechte
Beckenhälfte steht ca. 1 cm tiefer. Beide Füße stehen nach außen
rotiert, doch ist die Außenrotation rechts stärker. Die seitliche
Oberschenkelkontur ist rechts mehr konvex gestaltet als links. Die
Trochantergegend erscheint verbreitert. 15 cm unterhalb der Spina
ant. sup. an der Außenseite des rechten Oberschenkels eine ein-
gezogene strahlige Narbe, die mit der Unterlage verwachsen ist.
Beide Knie werden leicht hyperextendiert gehalten. Plattfußstellung
beiderseits. Das Gehen ist nur dadurch möglich, daß Patient sich
mit beiden Händen auf einen Stock stützt und so das rechte Bein
entlastet. Im unteren Drittel des linken Unterschenkels an der
Vorderseite zwei strahlige Narben, die auf der Unterlage verschieblich
sind. Etwas oberhalb des Fußgelenkes noch mehrere kleinere, quer
oval gestellte scharf begrenzte Narben. Die Muskulatur des rechten
Oberschenkels atrophisch, das rechte Bein steht in Flexion von 20
und Adduktion von 25 °. Die Hüftgelenksgegend rechts ist in allen
ihren Durchmessern, besonders aber im sagittalen, verbreitert, die
Inguinalfalte vollkommen verstrichen.
Entfernung des Trochanter major vom Malleol. ext. beiderseits
88 cm. Entfernung der Spina ant. sup. vom Malleol. ext. rechts
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564
Carl Helbing.
92,5 cm, links 95 cm. Die Beweglichkeit des Hüftgelenks ist sehr
beschränkt, nur leichte Flexionsbewegungen im Winkel von 15°
ohne Mitbewegung des Beckens möglich. Innenrotation und Ab¬
duktion vollkommen unmöglich, die Bewegung im Kniegelenk frei.
Das Röntgenbild (Fig. 57) zeigt folgenden hochinteressanten
Befund: Der rechte Schenkelkopf füllt die Gelenkpfanne vollkommen
aus, eine Epiphysenlinie ist nicht mehr erkennbar. Der Schenkel¬
hals erscheint in allen seinen
Durchmessern vergrößert, ist
plump und Sitz einer fast ganz
durchlässigen, kreisrunden Auf¬
treibung. Der obere Rand des
Schenkelhalses ist nicht, wie
normalerweise, konkav, sondern
konvex gestaltet. Eine ganz feine,
millimeterdünne Corticalis be¬
grenzt denselben scharf. Der
Durchmesser der Höhle beträgt
6 cm. Ungefähr in der Linea
intertrochanterica erfährt die Ge¬
schwulst ihre laterale Begren¬
zung. Trochanter major, minor
Fig. 57.
und Schenkelschaft zeigen wieder normalen Knochenschatten. Der
Schenkelhalswinkel ist bedeutend verkleinert und beträgt 110°.
Es handelt sich hier mit größter Wahrscheinlichkeit um eine
akute, rezidivierende Osteomyelitis im Schenkelhälse, die diesen cysti-
schen Pseudotumor zur Entwicklung gebracht hat.
Beobachtung 53. A. R., 3 Jahre alt. Bis zu seinem
1. Lebensjahr gesund gewesen, gegen Ende des 2. Lebensjahres
bildet sich eine Anschwellung an der Hinterseite des rechten Ober¬
schenkels, aus welcher sich seit einiger Zeit Eiter entleerte. Seit
dieser Zeit hinkte der Knabe. 2 Monate später schloß sich die Fistel
spontan, doch soll das Hinken noch weiter zugenommen haben.
Gut genährtes Kind von gesundem Aussehen. Innere Organe
ohne abnormen Befund, keine Drüsenschwellung, keine Zeichen von
Rhachitis. An der Hinterseite des rechten Oberschenkels findet sich
eine kleine lineare Narbe. Das rechte Bein ist stark nach auswärts
rotiert und etwas adduziert. Abduktion und Einwärtsrotation ver-
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Die Coxa vara.
565
mindert, Außenrotation in höherem Grade als normal auszuführen.
Kopf in der Pfanne, Trochanter major 1,5 cm über der Roser-
Nölaton sehen Linie. Rechtes Bein 2 cm kürzer als das linke.
Am Röntgenbild ist das obere Femurende plump, verdickt, der
Schenkelhals verkürzt, der Schenkelhalswinkel beträgt ca. 100 °.
Bei der Operation, die in Resektion des Kopfes bestand,
zeigt sich der Kopf herabgesunken; an der Vorderseite besteht noch
ein kurzer rechtwinklig vom Schenkelschaft entspringender Schenkel¬
hals. An der Hinterseite ist er fast ganz verschwunden, so daß der
Kopf nur durch eine seichte Furche vom Trochanter major getrennt
ist. Der resezierte Schenkelkopf ließ weder an seiner Meißelfläche
noch an der überknorpelten Fläche etwas Abnormes erkennen.
Beide Fälle von akuter Osteomyelitis im oberen Teil des
Femur haben das gemein, daß eine Beteiligung des Hüftgelenks an
dem entzündlichen Prozeß nicht stattgefunden hat.
Oberst [142] hat ebenfalls 3 Fälle von akuter Osteomyelitis
gesammelt, in welchen im Verlauf der Erkrankung das obere Femur¬
ende eine Verbiegung im Sinne der Varität erfahren hatte. Im
ersten bereits von Volkmann publizierten Falle wurde die Diagnose
erst post mortem gestellt. Der Kranke wies zahlreiche Narben am
oberen Teile des Oberschenkels auf, das Bein stand in starker Ein¬
wärtsrotation und Adduktion. Trochanterspitze 2 Zoll oberhalb der
Roser-Nölatonschen Linie.
Bei der Sektion zeigte sich der Schenkelhals, die Trochanter¬
gegend und die anstoßenden Partien des Femurschafts S-förmig ver¬
bogen, derart, daß der Ansatzpunkt des Ligamentum teres am Kopf
2 1 /* Zoll unterhalb der Trochanterspitze sich befand.
Schede und Stahl [166] berichten über einen 9jährigen
Knaben, welcher an akuter Osteomyelitis des rechten Oberschenkels
litt, und bei welcher es zu einer sekundären Vereiterung des Hüft¬
gelenks kam. Nach 3 Monaten wurde die Nekrotomie vorgenommen
und von Schenkelhals und Trochanter major erweichtes Knochen¬
gewebe entfernt. 1V* Jahre später überragte der Trochanter die
Roser-Nelatonsche Linie um 2 cm, das Bein stand in starker
Adduktionsstellung und war im Hüftgelenk ankylosiert.
Endlich beobachtete Diesterweg [37] eine ganz hochgradige
Verbiegung der Trochantergegend und des Schenkelhalses bei einem
13jährigen Knaben, 4 Monate nach beginnender Osteomyelitis acuta,
die eine Verkürzung des Beines von 10 cm bewirkt hatte.
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566
Carl Helbiug.
Die Coxa vara infolge yon Tuberkulose.
Aus den Publikationen von Koenig [101], Braun [19] und
Scharff [165] wissen wir, daß Verbiegungen des Oberschenkels
in sagittaler Richtung nicht selten zu stände kommen bei Kindern,
welche an Kniegelenkstuberkulose gelitten haben. Auch wir haben
diese sagittalen, nach vorn konvexen Verbiegungen des Oberschenkels
bei vollkommen ausgeheilter Kniegelenkstuberkulose mehrfach beob¬
achtet. In 2 Fällen wurde wegen knöcherner Kniegelenksankylose
mit rechtwinkliger Flexionsstellung eine Keilresektion mit der Basis
nach vorn vorgenommen. Trotzdem die Basis des Keils beinahe
5 cm betrug, konnte nach Geradestellung des Beins keine Ver¬
kürzung konstatiert werden, so daß wir annehmen müssen, daß der
vordere untere Teil der Oberschenkeldiaphyse ein vermehrtes Längen¬
wachstum erfahren hat, und so die Verbiegung entstanden ist.
In diesen Fällen handelt es sich also um ein infolge des ent¬
zündlichen Reizes exzessiver gewordenes Wachstum des vorderen
unteren Teils der Oberschenkeldiaphyse.
Anders liegt es bei der Tuberkulose des Schenkelhalses. Hier
wird das erweichte Knochengefüge durch die Belastung und den Zug
umgeformt.
Ich verfüge über vier Beobachtungen, welche alle das gemein¬
sam haben, daß der tuberkulöse Prozeß den Schenkelhals und die
Trochantergegend betroffen, das Hüftgelenk selbst aber vollkommen
freigelassen hat.
Beobachtung 54. G. Sp., 4 Jahre. Der Knabe hat im
Säuglingsalter an Durchfall und Krämpfen gelitten, später an Veits¬
tanz, seit 2 Monaten zeigte sich im Anschluß an Masern das Hinken
auf dem linken Bein. Zart gebauter, blaß aussehender Junge. Auf
beiden Augen an der Conjunetiva bulbi randständige Knötchen mit
starker Injektion. Am Halse und in der Inguinalgegend beiderseits
geschwollene Lymphdrüsen. Leichte linkskonvexe Lumbalskoliose.
Hinkender Gang auf dem linken Bein. Deutliche Zeichen über¬
standener Rhachitis (Crura rliach., pedes plani, Rosenkranz). Der
linke Oberschenkel zeigt in seinem oberen Drittel eine gleichmäßige
Auftreibung. Sein Umfang in dieser Höhe 32^2 cm gegenüber 31 cm
auf der gesunden Seite in derselben Höhe. Die Anschwellung bietet
deutliche Fluktuation. Das linke Bein ist um */2 cm kürzer, die Ab¬
duktion in der linken Hüfte etwas behindert, alle übrigen Bewe-
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Beobachtung 55. E. W., 5 Jahre. Einziges Kind, stammt
von ganz gesunden Eltern. Mit 3 Jahren begann das Mädchen das
linke Bein zu schonen, allmählich stellte sich Hinken ein, und beim
Gehen klagt es über Schmerzen in der linken Hüfte. Später be¬
merkten die Eltern auch eine leichte Verkürzung des linken Beines.
Blasses, zartes Mädchen. Muskulatur des linken Beines im
ganzen atrophisch. Das linke Bein ist ca. 1 ll i 2 cm kürzer und steht
in Adduktion. Der Verkürzung entsprechend Trochanterspitze 1*/* cm
über der Ros er-Ne'latonschen Linie. Bis auf eine leichte Ab¬
duktionshemmung sind alle Bewegungen im Hüftgelenk frei.
Am Röntgenbild (Fig. 59) ist auf der gesunden Seite der
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568
Carl Helbing.
SchenkelhaLsvvinkel vergrößert und beträgt 155°. Es besteht also eine
ausgesprochene Coxa valga. Der Epiphysenwinkel ist dementspre¬
chend ebenfalls vergrößert und beträgt 78°.
Am linken Bein ist der Schenkelhals wiederum stark verkürzt
und erscheint plumper. Der Kopf füllt die Pfanne vollkommen aus.
seine untere mediale Hälfte ist
aufgehellt und fleckig. Der
Epiphysenwinkel beträgt 55°,
der Schenkelhalswinkel 100°.
Im oberen Teil der Femur-
diaphyse findet sich eine tau¬
beneigroße Höhle, die im Rönt¬
genbild fleckige Struktur hat.
Die Höhle reicht an der schmäl¬
sten Stelle des Schenkelhalses
auf 8 mm an die Epiphysen¬
linie heran. Der Oberschenkel¬
schaft ist im Bereich der Höhle
etwas verbreitert. — Nach schriftlicher Mitteilung hat sich das Be¬
finden der Patientin insofern verschlechtert, als 1 Jahr später eine
vollkommene Steifigkeit in der Hüfte eingetreten ist, während zur
Zeit unserer Beobachtung die Beweglichkeit der Hüfte eine gute war.
Die Verkürzung des Beins soll nicht weiter zugenommen haben.
Man geht hier wohl nicht fehl, wenn man annimmt, daß der
tuberkulöse Prozeß später auch das Hüftgelenk selbst in Mitleiden¬
schaft gezogen hat.
Beobachtung 56. N. L., 7 1 /* Jahre. Das dritte Kind von
vier Geschwistern, die alle gesund sein sollen. Der Knabe lernte mit
1 V-i Jahren das Laufen, englische Krankheit bestand nicht. Vor
einem Jahr klagte Patient über Schmerzen im linken Hüftgelenk, zu¬
gleich fing er an, das Bein zu schonen und auf demselben zu hinken.
Zarter, schwächlicher Knabe. Inguinaldrüsen beiderseits ge¬
schwollen. Das linke Bein ist leicht adduziert, Abduktion nur bis
zum Winkel von 25° möglich. Alle übrigen Bewegungen in der
Hüfte frei. Das linke Bein ist ca. 1 cm kürzer als das rechte, doch
steht auf der rechten Seite der Trochanter ebenfalls über der Roser-
Nelatonschen Linie.
Am Röntgenbilde (Fig. 60) ist der Schenkelhalswinkel beider-
Fig. 59.
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Die Coxft vara.
5G9
seits verkleinert. Rechts beträgt er 115°, links 90°. Auf der
rechten Seite ist die Epiphysenlinie scharf begrenzt, der Epiphysen¬
winkel = 47 °. Links fällt vor allem die starke Aufhellung der un¬
teren Kopfhälfte in die Augen. Schenkelhals verkürzt, Epiphysen¬
linie nur verschwommen und undeutlich, Epiphysenwinkel 40 °. Auch
der Schenkelhals zeigt in seinen unteren Partien eine stärkere Auf¬
hellung.
Zur Beseitigung der Adduktionsstellung auf der linken Seite
wurde die Keilosteotomie unterhalb des Trochanter major ausgeführt
und das Bein in stärkerer Abduktionsstellung durch Gipsverband
fixiert. Nachdem die Wunde vollkommen p. p. i. geheilt war, zeigte
es sich nach 8 Wochen, daß
noch keine vollkommene Kon¬
solidation eingetreten war und
die Narbe sich vorwölbte. Als
zwecks Anfrischung der nicht
konsolidierten Knochenwund¬
flächen in der alten Narbe eine
Inzision gemacht wurde, ent¬
leerten sich ungefähr zwei E߬
löffel flockigen, dünnen Eiters,
die Abszeßhöhle wurde kuret-
tiert. Es zeigte sich nun, daß
eine schmale Knochenspange die beiden Knochenenden fest mitein¬
ander verband. Allmählich gewann auch der von der Knochen¬
spange ausgehende Callus an Festigkeit, doch schloß sich die Wunde
nicht mehr, und es bildete sich nunmehr eine Fistel aus, die typisch
tuberkulösen Eiter entleerte.
Die mikroskopische Untersuchung des exzidierten Teils aus
dem Trochanter läßt nichts Besonderes erkennen; dieser negative
Befund ist jedoch nicht weiter auffallend, da das entfernte Knochen¬
stück ja weit ab liegt vom eigentlichen Krankheitsherd, der sich
am unteren Teil des Schenkelhalses etabliert hat.
Eine zweite Röntgenaufnahme (Fig. öl) kurz vor der Ent¬
lassung des Patienten, bei der die Fistel immer noch offen war,
zeigt, daß auf der rechten Seite die Coxa vara, die wohl als durch
vermehrte Beanspruchung entstanden zu denken ist, geringer ge¬
worden war. Der Schenkelhalswinkel, der ursprünglich 115° be¬
trug, hat sich unter Bettruhe auf 120° vergrößert. Auf der linken
Fig. 60.
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570
Carl Helbing.
Seite ist der Schatten des
Kopfes noch stärker aufgehellt,
der Schenkelschaft scheint in
den Trochanter und den Schen¬
kelhals eingekeilt, das äußere
Ende des Trochanter hängt
über den Schenkelschaft hinaus.
Beobachtung 57. M.D..
15 Jahre. Vater der Patientin
luetisch infiziert, Patientin hat
erst mit 2 Jahren das Laufen
gelernt und bald darauf über
Schmerzen im rechten Hüftgelenk geklagt, die die Anlegung von
Gipsverbänden notwendig machten. Im 4. Lebensjahre erhielt sie
dann einen Schienenhülsenapparat. Von da ab stand sie dauernd
wegen ihres „Hüftgelenksleidens“ in Behandlung. Den letzten Gips¬
verband erhielt sie in ihrem 10. Lebensjahre. Von Kinderkrank¬
heiten hat Patientin nur Diphtherie durchgemacht, außerdem hat sie
seit ihrer frühesten Jugend an den Augen gelitten. Englische Krank¬
heit soll nicht bestanden haben.
Schmächtiges, langaufgeschossenes Mädchen, Fettpolster und
Muskulatur gering entwickelt. Alte Tracheotomienarbe. Auf der
rechten Cunjunctiva bulbi ein randständiges Knötchen mit starker
Injektion. Rechts konvexe Lumbal-, und links konvexe Dorsalskoliose.
Rumpf nach links verschoben, linkes Taillendreieck verstrichen.
Innere Organe ohne Besonderheiten, Herz und Lunge gesund. Ent¬
fernung der Spina ant. sup. vom Malleol. ext. links 80 1 j 2 cm, rechts
75 cm. Rechter Trochanter steht 0 cm über der Roser-Nölaton-
schen Linie. Rechter Oberschenkel in Adduktion von ca. 20 °. Ab¬
duktionsbewegungen vollkommen aufgehoben. Auch das linke Bein
gestattet nur eine Abduktion von 25 °. Flexion und Rotation auf
dem kranken Bein nicht wesentlich eingeschränkt. Die Patientin
geht mit stark adduziertem, etwas auswärts rotiertem rechten Bein
in starker Spitzfußstellung auftretend. Gang langsam und hinkend.
Am Röntgenbild (Fig. 62) erscheint der rechte Schenkelkopf,
der die Pfanne vollkommen ausfüllt, leicht platt gedrückt und un¬
regelmäßig aufgehellt. Der kurze Schenkelhals verjüngt sich medial-
wärts stark, seine obere Begrenzung stellt eine vom Schenkelschaft
Fig. 61.
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Die Coxa vara.
571
fast senkrecht nach unten abfallende F ig- 62.
Linie dar. Epiphysenlinie verwaschen,
der Epiphysenwinkel beträgt 27°, der
Schenkelhalswinkel ist ein spitzer und
beträgt 60 °. Die Trochanterspitze
steht 3 cm über dem oberen knöcher¬
nen Pfannenrand.
Zur Beseitigung der hochgra¬
digen Adduktionskontraktur wird die
Osteotomie am Uebergang des Schen¬
kelhalses in den Schenkelschaft vor¬
genommen.
Längsschnitt medial vom vorde¬
ren Rande des Trochanter. Freilegung des letzteren und der Vorder¬
seite des Schenkelhalsrestes. Dieser wird durchmeißelt, und die
mediale Spitze des Trochanter angefrischt. Das Bein wird dann
auf dem Extensionstisch stark extendiert und abduziert, so daß die
angefrischte Partie mit der Meißelfläche des Schenkelkopfes in Be¬
rührung tritt. Fixation im Gipsverband auf 6 Wochen.
Die Wundheilung geht ohne Reaktion vor sich. 18 Tage nach
der Operation öffnet sich eine Stelle der Narbe wieder, und es tritt
ziemlich reichliche Sekretion von spezifisch tuberkulösem Aussehen
ein. Nach 12 Wochen ist eine Konsolidation eingetreten, der Gang
der Patientin hat sich wesentlich verbessert. Nach 16 Wochen be¬
steht noch immer in der Narbe die sezernierende Fistel. Außerdem
hat sich an der Innenseite des Oberschenkels über den Adduktoren
eine flache, das Gefühl der Fluktuation darbietende Prominenz ent¬
wickelt. Punktion und Aspiration von krümlichem, mit Flocken
vermischtem Eiter. Injektion von Jodoformglyzerin.
Der Abszeß hat sich in den letzten 5 Monaten noch öfters
gefüllt und muß punktiert werden. Das Allgemeinbefinden der Pa¬
tientin ist dabei gut, das Gehen vollkommen beschwerdefrei ge¬
worden.
Die Coxa vara infolge von Arthritis deformans.
Bei der typischen Arthritis deformans scheint eine Verbiegung
des Schenkelhalses im Sinne der Varität nicht sehr häufig zu sein,
wenigstens steht mir keine einzige klinische Beobachtung zu Gebote.
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572
Carl Helbing.
Eine Coxa vara kann bei der Arthritis deformans häufig dadurch
vorgetäuscht werden, daß im klinischen Bilde eine Adduktionskon¬
traktur festgestellt wird und der Trochanter über der Roser-Nela-
tonsehen Linie steht. Es wäre jedoch fälsch, aus diesen Befunden
ohne weiteres auf eine Schenkelhalsverbiegung zu schließen. An
mehreren Präparaten von hochgradiger Arthritis deformans der Hüfte
fand ich den Schenkelhalswinkel ganz normal, ja sogar vergrößert,
nur zeigte sich der Schenkelhals so stark verkürzt, daß der defor¬
mierte, pufferförmig gestaltete Kopf, der den Eindruck hervorruft,
als ob er in den Hals hineingetrieben worden wäre, mit seinem
obersten Rande immer noch tiefer steht als die Trochanterspitze.
Als Beispiel einer solchen scheinbaren Coxa vara gebe ich beifol¬
gende Abbildungen (62 a und b) von dem oberen Femurende einer
Fig. 62 a.
Fig. 62 b.
Arthritis deformans. Der Schenkelhalswinkel beträgt hier 130 °, der
Richtungswinkel 40°.
Ich bin jedoch auch in der Lage, aus der pathologisch-anato¬
mischen Sammlung von Herrn Geh.-Rat Hoffa noch über zwei
weitere Präparate arthritisch deformierter Oberschenkel zu berichten,
bei welchen eine Coxa vara im anatomischen Sinne vorliegt, und so
die Alsbergschen Mitteilungen zu ergänzen.
Präparat 1 (Fig. 63 a und b). Der Schenkelhalswinkel beträgt
110°, der Richtungswinkel 46°. Eine Bestimmung des Epiphysen¬
winkels ist wegen vollkommener Verknöcherung der Epiphysenfuge
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Die Coxa vara.
573
Fig. 63 a.
Fig. 63 b.
nicht mehr möglich. Am Präparat fällt vor allem die hochgradige
Verkürzung des Schenkelhalses auf, durch die die Linea intertro-
chanterica zu einer tiefen Furche umgestaltet ist, und der Trochanter
major an den Kopf eine Annährung von 5 mm erfahren hat. Der
Kopf selbst hat eine Drehung nach abwärts und vorn erfahren, die
Umgebung des Ansatzpunktes des Ligamentum teres ist kegelförmig
ausgezogen. Am vorderen oberen und vorderen unteren Quadranten
ausgedehnte Knochenschliffbildung. Die Linea intertrochanterica ist
steiler gestellt, der Trochanter minor hat eine mehr horizontale Rich¬
tung, der Trochanter major ist mit seiner oberen Spitze hakenförmig
umgebogen. An der Vorderfläche des Schenkelhalses verläuft parallel
mit der Linea intertrochanterica ein schmaler Knochenwulst.
Das zweite Präparat (Fig. 04 a u. b) zeigt eine hochgradige
Verunstaltung des Kopfes. Er ist pufferförmig abgeplattet, zeigt
ganz unregelmäßige Oberfläche, seine Gelenkfläche sieht nach vorn
und innen. Der Schenkelhals ist wiederum stark verkürzt, und da¬
durch eine Annäherung des Schenkelkopfes an den Trochanter major
entstanden. An der Vorderfläche des Schenkelschaftes findet sich
gegenüber der lateralen Begrenzung des Kopfes eine Exostose von
Bohnengröße; die Linea intertrochanterica verläuft senkrecht, der
Trochanter major sieht nach hinten und ist schwächer entwickelt
als am normalen Präparate. Der höchste Punkt des Kopfes steht
bei senkrecht gestelltem Schenkelschaft noch unter der Spitze des
Trochanter major. Schenkelhalswinkel 112°, Richtungswinkel 36°.
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574
Carl Helbing.
Fig. 64 b.
Coxa yara traumatica.
1. Schenkelhalsbrüche und Epiphysenlösungen bei jugendlichen
Individuen, die zur Coxa vara geführt haben.
Beobachtung 58. M. K., 13 Jahre 9 Monate. Lernte mit
l 1 /* Jahren das Gehen, zeigte nie rhachitische Erscheinungen. Hat
Masern durchgemacht, sonst immer gesund gewesen. Vor 27 s Jahren
fiel Patient auf das rechte Knie, konnte aber, wenn auch unter Schmer¬
zen, sofort wieder weiter laufen. Nach einem Vierteljahre stellte sich
erst Hinken auf dem rechten Beine ein, das Gehen wurde mühsamer
und schmerzhaft.
Kräftig gebautes Mädchen, Fettpolster ungewöhnlich stark ent¬
wickelt. Die rechte Beckenhälfte wird gesenkt, es besteht eine rechts
konvexe Lumbalskoliose. Das rechte Bein ist um 4 cm kürzer ab
das linke, der rechte Trochanter 4 cm oberhalb der Roser-Nöla-
tonschen Linie. Entfernung der Spina ant. sup. vom Malleol. ext.
rechts 87 cm, links 91 cm. Entfernung des Trochanter vom MalleoL
ext. beiderseits gleich groß.
Die Bewegungen im rechten Hüftgelenk sind bis auf die Ab¬
duktion, die nur bis zu einem Winkel von 15 0 ausführbar ist, voll¬
kommen frei. Das rechte Bein steht nicht wesentlich adduziert und
ist leicht nach außen rotiert.
Am Röntgenbild (Fig. 65) ist das linke coxale Femurende nor-
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Die Coxa vara.
575
mal. Der Schenkelhalswinkel beträgt 128 °, der Epiphysenwinkel
ca. 55°.
Am rechten Bein ist der Schatten des Gelenkkopfes stark auf¬
gehellt, der Kopf erscheint in seinem frontalen Durchmesser ver¬
schmälert. Der unterste Teil der Kopfkappe hat den Kontakt mit
der Pfanne verloren. Die Epiphysenlinie ist rechts stärker bogen¬
förmig wie links, der Epi¬
physenwinkel 35 °. Der Kopf
hat also wieder eine Drehung
im Sinne der Abduktion er¬
fahren. Der Schenkelhals ist
verkürzt, sein proximaler Teil
erscheint in den Kopf einge¬
trieben. Der obere mediale
Rand ragt mit einem spitzen
Vorsprung über den Kopf hin¬
aus. Die Trennung hat also
auch in der Epiphysenlinie stattgefunden, und der Schenkelhals in
Verbindung mit dem Schenkelschaft eine Dislokation nach oben er¬
fahren, ohne daß sich dabei der Schenkelhalswinkel verändert hat.
Dieser ist eher vergrößert und beträgt 130 °.
Beobachtung 59. E. G., 12 Jahre alt. Patientin fiel vor
einem halben Jahre von einem Treppengeländer herab auf die rechte
Seite und zog sich so eine Fraktur des rechten Schenkelhalses zu. Trotz
sorgfältiger Behandlung ist die
Fraktur mit sehr schlechter
Beinstellung ausgeheilt. Das
rechte Bein steht im Hüft¬
gelenk stark adduziert, etwas
nach außen rotiert und ist um
6 cm verkürzt. Ferner besteht
ein Genu valgum dextrum und
eine statische rechtskonvexe
Lumbal- und linkskonvexe Dor¬
salskoliose. Abduktionsbewe¬
gungen im Hüftgelenk aufgehoben, Flexion bis zum rechten Winkel
aktiv möglich. Rotationsbewegungen fast ganz frei.
Am Röntgenbild (Fig. 66) erscheint der Kopf um eine sagittale
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XV. Bd. 37
Hg. 66.
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576
Carl Helbing.
Achse so gedreht, daß sein unteres Drittel keinen Kontakt mehr mit
der Pfanne hat. Ein eigentlicher Schenkelhals fehlt. Die Epiphysen¬
linie, in welcher die Trennung stattgefunden hat, verläuft paralk
dem Schenkelschaft, der Epiphysenwinkel ist also = 0. Der Kopf
ruht unmittelbar dem Schenkelschaft an, und sein unterer Teil steh:
in direkter Berührung mit dem Trochanter minor. Der Trochanter
major ist nach oben gerückt und durch das Fehlen des Schenkel¬
halses dem knöchernen Becken so genähert, daß er von dem Schatten
des Os ilei in seiner medialen Hälfte gedeckt ist. Schenkelbals-
winkel 85 °.
Zur Beseitigung der Deformität wird die Resektion des Schenkel¬
kopfes ausgeführt, die Trochanterspitze angefrischt und in die Ge
lenkpfanne eingestellt. Gipsverband in starker Extension, Abduktion
und Innenrotation.
Durch die Operation ist die ursprünglich 6 cm betragende
Verkürzung auf 2 1 /* cm vermindert worden. Der Gang ist nach
2 v j 2 Monaten zwar noch etwas unsicher, das Gehen aber ohne Stock
möglich. Das Bein kann abduziert werden, doch ist die Bewegung
im Hüftgelenk infolge Schmerzhaftigkeit noch etwas eingeschränkt
Beobachtung 60. W. L., 15 Jahre alt, Kaufmannslehrling.
Patient fiel vor einem Jahr ca. 1 m hoch von der Leiter herab. Un¬
mittelbar nach der Verletzung konnte Patient gehen, so daß er den
Unfall wenig beachtete. Nach 4 Wochen stellten sich starke Schmer¬
zen in der linken Hüfte ein, die schließlich so heftig wurden, daß
Patient nicht mehr im stände war, aufzutreten. Jetzt hat Patient
sogar bei vollkommener Ruhe in der linken Hüfte Schmerzen.
Das linke Bein ist nur um weniges verkürzt, leicht nach außen
rotiert, etwas stärker adduziert. Bewegungen in der Hüfte bis auf
eine geringe Behinderung der Flexion und Abduktion frei. Trochanter
major ca. 2 cm über der Roser-Nölatonsehen Linie. Im Verlaufe
des N. ischiadicus typische Schmerzdruckpunkte.
Das Röntgenbild (Fig. 67) zeigt in der Höhe der Epiphysen¬
linie eine Kontinuitätstrennung. Der Kopf hat eine Drehung im
Sinne der Abduktion erfahren, so daß die Epiphysenlinie fast senk¬
recht verläuft, Epiphysenwinkel 20 °. Der Kopf ist stark aufgebellt
seine untere Gelenkfläche tiberragt nach unten die Gelenkpfanne
um 3 cm. Der Schenkelhals ist an dem Kopf vorbei nach oben
verschoben. Während sein oberer Rand keine Abbiegung zeigt, ist
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Die Coxa vara.
577
das mediale Drittel des unteren Randes abgeknickt und wie ein¬
gerollt, so daß die untere Schenkelhalsbegrenzung eine nach unten
stark konkave bogenförmige Linie darstellt. Die Kopfkappe hat
dadurch eine Annäherung von nur wenigen Millimetern an den
Trochanter minor erfahren. Schenkelhalswinkel beträgt 120°. Die
Trochantergegend und die obere Femurdiaphyse ist sehr stark auf¬
gehellt. Es wurde die Diagnose auf Epiphysenlösung mit Ver¬
schiebung des Kopfes nach unten hinten gestellt und die Re¬
sektion des oberen Femurendes in der Linea intertrochanterica von
einem vorderen Längsschnitt aus vorgenommen. Ein Gipsverband
fixiert auf 6 Wochen in starker Abduktion und Extension das Bein,
so daß die angefrischte Trochanterspitze in die Gelenkpfanne ein¬
gestellt ist.
Das Resektionspräparat (Fig. 68) enthält den rechten Schenkel¬
kopf und vom Schenkelhals die proximale Partie bis zum Trochanter
minor. Der Schenkelkopf ist überall gleichmäßig von Knorpel über¬
zogen und zeigt nur in der Umgebung des Ansatzpunktes des Liga¬
mentum teres leichte Unebenheiten des Knorpelüberzuges. Außer¬
dem findet sich im vorderen oberen Quadranten eine fingerdruck¬
ähnliche Vertiefung. Der Kopf erscheint auf dem Schenkelhals nach
unten abgerutscht. Eine Drehung um den vertikalen Durchmesser
hat er nicht erfahren.
Auf einem Frontalschnitt (siehe Fig. 68) durch die Mitte des
Resektionspräparates ist ganz besonders schön die Abrutschung des
Kopfes in der Epiphysenlinie sichtbar. Die Konsolidierung des
Kopfes mit dem Schenkelhals ist nicht knöchern erfolgt, sondern
noch größtenteils knorplig. Die Vereinigungsfläche wird präsentiert
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578
Carl Helbing.
durch eine im Zickzack verlaufende ca. 3 mm breite Knorpelfuge,
deren Knorpel im Gegensatz zu dem milchweißen Knorpelüberzug
des Kopfes eine durchsichtige Beschaffenheit hat. In der Umgebung
dieser Knorpelzone erscheint der Knochen blutreicher, außerdem
finden sich einige freie Knorpelinseln, besonders im unteren Teile
der Kopfepiphyse. Der Schenkelhals ragt an seinem oberen proxi¬
malen Rande mit einer Spitze frei über den Kopf hinaus. Eine
Verbiegung des Schenkelhalses besteht nicht, nur sein unterer me¬
dialer Teil ist durch den herabgesunkenen Kopf mit nach unten ver¬
bogen, und es macht hier den Eindruck, als ob die Knochenmasse
ineinander eingekeilt wäre.
Besonders schön sind die geschilderten Verhältnisse an dem
Röntgenbild zu sehen, das von einem durch die Mitte des Präpa¬
rates gelegten Furnierschnitt
hergestellt worden ist (Fig. 69).
Eine leistenartige Ver¬
dickung der Spongiosa verläuft
parallel zu der zickzackförmig
gestalteten Knorpelfuge in dem
Schenkelkopf. Eine ähnliche
Verdichtung der Spongiosa fin¬
det sich dann noch als laterale
Begrenzung der Epiphysenlinie
im Schenkelhals. Ganz be¬
sonders verdickt ist die mediale
untere Corticalis des Schenkel¬
halses. Hier ist auch die regel¬
mäßige Spongiosazeichnung
verwischt. Im Kopf finden
sich in seinem unteren Abschnitte noch zwei atrophische Partien un¬
mittelbar unterhalb des Knorpelüberzugs, in welchen die Spongiosa-
bälkchen stark rarifiziert sind. Auch der unterste Teil der Schenkel¬
halsspitze ist erweicht und strukturlos.
Zur mikroskopischen Untersuchung wurde die Knorpelzone und
die angrenzenden Partien des Kopfes und Schenkelhalses verwendet.
Entsprechend der makroskopisch so unregelmäßig gestalteten
Knorpelfuge ist auch im mikroskopischen Bilde die Breite des
Knorpelstreifens sehr verschieden. Er zeigt keine regelmäßige An¬
ordnung, nirgends ist Säulenknorpel festzustellen. Die Knorpelzelleu
Fig. 69.
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Die Coxa vara.
579
liegen in größerer Anzahl in Knorpelkapseln vereinigt. Die Knorpel¬
grundsubstanz tritt im ganzen zurück, die benachbarten Knochen-
bälkchen enthalten in ihren Zentren noch zahlreiche solcher Knorpel¬
kapseln und außerdem klumpige tief schwarz sich tingierende, an
der Peripherie verästelte Gebilde. Mitten im Knochen finden sich
dann kleine Knorpelinseln ohne Zusammenhang mit der Epiphysen¬
fuge. Die Knorpelzone ist nicht überall erhalten, stellenweise ist
sie unterbrochen von knöchernem Gewebe, hier tritt auch osteoide
Substanz auf. Gerade an diesen Stellen zeigt das Knochengewebe
manchmal auch keine Struktur mehr, es ist kernlos, zertrümmert
und umgeben von kleinen Blutextravasaten. Die benachbarten Mark¬
räume enthalten wenig lymphoide Elemente, auch der Gehalt an
Fettzellen ist gering, dagegen findet sich reichliches fibrilläres Ge¬
webe. Auch in den Markräumen finden sich freie Blutextravasate.
Die folgenden 11 Fälle sind ausführlich bereits von Hoffa [73]
im Jahre 1903 veröffentlicht worden.
Beobachtung 61. I. S., 14 Jahre alt. Patientin ist vor
6 Wochen von einem Baum herab auf die rechte Hüfte gefallen,
konnte sich aber noch selbst erheben und, wenn auch unter Schmer¬
zen, nach Hause gehen. Zu Hause schwoll das Hüftgelenk an, so
daß das Kind acht Tage zu Bett liegen mußte; während dieser Zeit
wurden von einem Arzte Umschläge auf die Hüfte appliziert. Eine
weitere Behandlung fand nicht statt. Als das Kind aufstand, hatte
dasselbe Schmerzen in der Hüfte und hinkte beim Gehen; deshalb
wurde es in die Klinik gebracht.
Kräftiges Mädchen. Das rechte Bein steht in leichter Ab¬
duktion, stark nach außen rotiert und ist um 2 cm verkürzt. Bei
Bewegungen im Hüftgelenk fühlt man deutlich eine weiche Krepi¬
tation.
Diagnose: Wegen dieser Krepitation und in Anbetracht der
übrigen Symptome wurde die Diagnose „traumatische Epiphysen¬
trennung“ gestellt und die operative Entfernung des Schenkelkopfes
vorgeschlagen.
Operation: Das Hüftgelenk wurde mittels des Langenbeck-
schen Schnittes freigelegt. Es zeigte sich, daß der Schenkelkopf
völlig in der Epiphyse gelöst und der Schenkelhals an dem Kopf
in die Höhe gerückt war. Zwischen Schenkelkopf und -hals war
nicht einmal eine bindegewebige Verbindung eingetreten. Der
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580
Carl Helbing.
Schenkelkopf wurde nun aus der Pfanne herausgewälzt und ließ
.sich nach Durchschneidung des Lig. teres leicht herausheben. Seine
Epiphysenfläche hatte ein glattes, glänzendes Aussehen. Der Schenkel¬
hals wurde in die Pfanne eingestellt. Leichte Jodoformgaze-Tam¬
ponade, keine Naht. Gipsverband. Glatte Heilung. Nach 4 Wochen
Entfernung des Gipsverbandes. Beginn mit Massage und Gymnastik.
Bei der Nachuntersuchung nach 12 Jahren äußert Patientin,
daß sie kaum noch merkt, daß sie einmal operiert worden ist. Sie
hat sich inzwischen verheiratet, geht und steht und verrichtet alle
Feldarbeiten ohne jede Beschwerde. Wenn sie nicht ermüdet ist,
ist kaum eine Spur von Hinken zu merken. Nur nach stärkerer
Anstrengung tritt ein leichtes Hinken ein.
Beobachtung 62. A. M., 19 Jahre. Gesundes Mädchen.
Im Alter von 4 Jahren wurde sie beim Gehen von jemand gestoßen
und fiel nach rückwärts zu Boden. Es war sofortige Funktions¬
störung des rechten Beines und Schmerzhaftigkeit der rechten Hüfte
vorhanden, so daß Patientin nach Hause getragen werden mußte.
Ein Gips verband wurde angelegt und blieb 4 Wochen liegen. Un¬
mittelbar nach Abnahme des Verbandes konstatierte der Arzt eine
Verkürzung des rechten Beines von 4 cm; es bestand Unfähigkeit
zu gehen. Die rechte Hüfte wölbte sich vor. Etwas später wurde
der Patientin in der Klinik ein Extensionsverband angelegt. Besse¬
rung trat nicht ein, das Bein wurde immer kürzer, die Vorwölbung
der Hüfte größer. Patientin ging zunächst mit Krücken, dann mit
einem Stocke. Mit 15 Jahren betrug die Verkürzung 10 cm. Sie
bekam einen hohen Schuh mit Außenschiene. Als auch jetzt kein
Erfolg eintrat, suchte Patientin die Klinik von Hoffa auf.
Das rechte Bein der Patientin steht in starker Adduktions¬
stellung und ist im ganzen verkürzt. Die Entfernung der Spina
ilei ant. sup. vom Malleolus ext. beträgt rechts 83 cm, links 86 cm.
Der Trochanter steht 6 cm über der Roser-Nölatonschen Linie.
Absolute Ankylose des Hüftgelenks. Starke Lordose und Skoliose.
Auf einem angefertigten Röntgenbilde erkennt man die Rudimente
des Kopfes in der Pfanne. Der Trochanter major ist mit eben
solchen Rudimenten des Schenkelhalses hoch am Darmbein in die
Höhe gehoben. Zwischen Femur und Becken sieht man deutlich
breitere Knochenspangen, welche das Femur am Becken fixieren.
Auf Grund des objektiven Befundes und des Röntgenbildes
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Die Coxa vara.
581
wurde die Diagnose auf Anyklose des Hüftgelenkes nach trauma¬
tischer Epiphysenlösung gestellt, die die Operation auch bestätigte.
Bei dieser wird die zwischen dem oberen Femurende und dem
Becken bestehende Knochenbrücke von einem Längsschnitt über dem
Trochanter aus durchgemeißelt. Extension auf dem Sehe de sehen
Tisch. Die Adduktoren spannen sich dabei stark an und werden teno-
tomiert. Leichte Gazetamponade, Gipsverband in Abduktion von 40°.
2. Februar: Nochmalige Extension, Gipsverband in Abduktion
von 50 °. Rasche Heilung. Massage, Gymnastik.
Die Nachuntersuchung l 1 /* Jahre später ergibt: Der Gang
der Patientin ist ausgezeichnet, sie hinkt kaum noch. Nach ihrer
Angabe hat sie keinerlei Beschwerden. Will Patientin etwas vom
Boden aufheben, so beugt sie das rechte Knie und läßt das linke
Bein nach hinten gleiten. Kniebeuge gut ausführbar. Bei einfacher
Rückenlage erscheint das rechte Bein um 1 */* Finger breit verkürzt,
d. h. das Becken wird auf der rechten Seite gesenkt. Die Entfer¬
nung der Spina ant. sup. vom Malleol. ext. beträgt links 92 cm,
rechts 85 V* cm. Bei Spreiz- und sonstigen Bewegungen geht das
Becken mit; nur Drehbewegungen leichter Art sind möglich. Knie-
und Fußgelenk sind vollkommen beweglich, das ganze rechte Bein
befindet sich in leichter Abduktionsstellung und steht etwas nach
außen rotiert. Die Narbe ist glatt und leicht verschieblich. Patien¬
tin kann ohne Unterstützung auf dem rechten Bein stehen. Das
Knie befindet sich in leichter Genu-valgum-Stellung, im übrigen ist
die frühere Deformität sehr gut ausgeglichen.
4 l j 2 Jahre nach der Operation schreibt Patientin, daß sie außer¬
ordentlich zufrieden ist mit dem Erfolg der Operation und daß ihr,
wenn sie sich in acht nimmt, beim Gehen niemand ihr früheres
Leiden ansieht. Sie habe keinerlei Beschwerden mehr.
Beobachtung 63. H. S., 3 Jahre alt, glitt vor l 1 /* Jahren
beim Spielen aus, fiel zu Boden und war nicht im stände, allein
wieder aufzustehen. Das Kind schrie sehr und zeigte immer nach
der rechten Hüfte. Man versuchte es aufzustellen, es wollte aber
durchaus nicht auf das rechte Bein treten. Der sofort herbei¬
gerufene Arzt konstatierte eine Schenkelhalsverletzung und legte für
mehrere Wochen einen Streckverband an. Nach Abnahme deseiben
zeigte das Kind dieselben Symptome. I 1 /* Jahr blieb das Leiden
stationär.
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582
Carl Helbing.
Grazil gebautes Kind mit schwächlicher Muskulatur und ge¬
ringem Fettpolster. Das rechte Bein ist stark nach außen rotiert*
leicht flektiert; der Unterschenkel wird gewöhnlich über den linken
gelagert. Die rechte Spina ilei ant. sup. steht 1 cm oberhalb der
Roser-N61atonschen Linie, aktive und passive Bewegungen sind
fast aufgehoben; bei jedem Versuch geht das Becken mit.
Das Röntgenbild ergibt folgenden Befund. In der Pfanne er¬
kennt man ein kleines Rudiment des Schenkelkopfes. Der Schenkel¬
hals ist mit dem Femur hoch in die Höhe gerückt am Becken. Der
Schenkelhals ist dabei mit dem Femur ganz nach außen gedreht, so
daß man auf die ursprüngliche Epiphysenfläche heraufzuschauen glaubt.
Operation am 16. Oktober 1899: Nach Durchschneidung der
Haut und der Fascie wird die Muskulatur nach oben gehebelt, die
Kapsel durchschnitten und der Trochanter aus der Wunde heraus¬
gehebelt. Der Kopf bleibt fest in der Pfanne und muß nach Durch-
meißelung des Schenkelhalses mit großer Gewaltanwendung aus der
Pfanne herausgehebelt werden. Er ist stark deformiert und bis zur
Größe einer kleinen Haselnuß atrophiert. Die Pfanne selbst zeigte
keine Besonderheiten, dagegen war der Schenkelhals fast ganz ver¬
schwunden, der Kopf saß unmittelbar dem Trochanter auf. Die
Trochanterspitze wird in die Pfanne gestellt, die Wunde tamponiert,
aseptisch verbunden und ein Gipsverband angelegt in abduzierter und
innenrotierter Stellung. Nach der Operation ist nur noch eine un¬
bedeutende Verkürzung vorhanden, die durch die Abduktion aus¬
geglichen wird. Das Kind wird mit einem Schienenhülsenapparat
entlassen, nachdem dem Beine eine leicht flektierte Stellung gegeben
ist, um für den Fall einer eintretenden Ankylose des Hüftgelenks dem
Kinde das Sitzen zu ermöglichen.
Bei einer Untersuchung nach V* Jahr stand das Bein stark
adduziert. Es wurde eine subtrochantere Osteotomie ausgeführt; reak¬
tionslose Heilung. Indessen zeigte das Bein immer wieder erneute
Neigung, sich in Adduktion zu stellen, so daß noch mehrfache un¬
blutige Redressements und Gipsverbände nötig waren, bis es gelang,
das Bein dauernd in guter Stellung zu erhalten.
Beobachtung 64. 0. P., 13 Jahre alt, ist bis auf Masern
und Scharlach stets gesund gewesen. Im August 1898 fiel Patient
zwölf Stufen einer steinernen Treppe hinab; er schlug mit der rechten
Hüfte auf und verspürte daselbst sofort Schmerzen, die ihn indessen
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Die Coxa vara.
583
nicht am Gehen hinderten. Allerdings hinkte er etwa 8 Tage, konnte
aber schon nach kurzer Zeit wieder größere Fußtouren unternehmen.
Am 5. November erlitt Patient einen neuen Unfall; er blieb bei dem
Versuch, über eine Hecke zu springen, mit dem Fuß in der Hecke
hängen und fiel wieder mit der rechten Hüfte auf den ziemlich harten
Erdboden. Patient verspürte diesmal heftigere Schmerzen, er konnte
sich noch aufrichten, aber keinen Schritt gehen. Der hinzugezogene
Arzt diagnostizierte eine einfache Kontusion und verordnete kalte
Waschungen und Bewegungen des Beines. Der Zustand besserte
sich wirklich so, daß Patient 3 Tage später die Schule wieder be¬
suchen konnte. Beim Uebersteigen einer Bank, wobei er den rechten
Oberschenkel stark beugen mußte, verspürte er indessen wieder starke
Schmerzen und mußte in sein Bett getragen werden. Man verordnete
wieder Bettruhe und Bewegungsübungen. Vom hinzugezogenen Arzte
wurde eine beginnende Hüftgelenksentzündung diagnostiziert.
Status: Das rechte Bein steht abduziert, nach außen rotiert.
Die ganze Hüftgegend erscheint deformiert. Der normale Vorsprung
des Trochanter fehlt. Die Leistenfalte rechts ist verstrichen. Das
rechte Bein mißt von der Spina ilei ant. sup. bis zum Malleolus ext.
85 cm, das linke 86. Der Trochanter ist nach hinten disloziert und
steht drei Finger breit vom Tuber ossis ischii entfernt. Die Innen¬
rotation ist sehr eingeschränkt, bei Flexions- und Abduktionsversuchen
geht das Becken mit.
Das Röntgenbild zeigt, daß der Schenkelkopf in der Pfanne
sitzt, er hat sich jedoch so gedreht, daß er mit seinem unteren
Rande die Pfanne weit überragt. Das Femur hat sich mit dem
Schenkelhals völlig nach außen gedreht, so daß es den Schenkel¬
kopf scheinbar nur mit einem kleinen Teil des vorderen Randes
berührt.
Operation: Resektion des Schenkelkopfes. Der Schenkelhals¬
stumpf wird in die Pfanne gestellt, die Wunde tamponiert, aseptisch
verbunden und das Bein mit dem Becken in leichter Innenrotation
und Abduktion eingegipst.
Der Erfolg der Operation war ein sehr guter. Das rechte Bein
steht in Mittelstellung. Pie Rotation ist beinahe in physiologischen
Grenzen möglich, die Abduktion bis zu einem Winkel von 35°, die
Flexion bis zur Hälfte der normalen Grenze. Der Gang ist, wenn
Patient auf sich achtet, nahezu normal.
Bei der Nachuntersuchung 4 Jahre später zeigt es sich, daß
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584
Carl Helbing.
Patient absolut beschwerdefrei ist. Er macht stundenlange Spazier¬
gänge, und fühlt sich vollkommen normal.
Beobachtung 65. W. J., 21 Jahre alt, war mit 16 Jahres
beim Schlittschuhlaufen zu Fall gekommen. Er mußte nach Hause
getragen werden und erhielt von einem sofort herbeigerufenen Arzt
einen Extensionsverband an das rechte Bein, der nach 14 Tagen
durch einen Stärkebindenverband ersetzt wurde. Nach weiteren
14 Tagen stand Patient auf; er konnte, wenn auch mit Schmerzen,
gehen. Das rechte Bein soll damals l 1 /* cm zu kurz gewesen sein.
Die Diagnose schwankte damals zwischen Hüftgelenksentzündung
und Muskelzerrung.
Das rechte Bein steht stark nach außen rotiert und ist um 7 cm
kürzer als das linke; der Trochanter steht über der Roser-Nelaton-
schen Linie, der normale Trochantervorsprung fehlt. Beim Gehen
und Stehen wird das Becken stark nach rechts geneigt, so daß eine
rechtskonvexe Lendenskoliose entsteht. Gang stark hinkend. Das
rechte Bein ist sehr atrophisch.
Das Röntgenbild ergibt einen sehr charakteristischen Befund.
Der Schenkelkopf steht in der Pfanne und überragt wie ein großer
Pilz den Schenkelhals. Es ist dabei so gedreht, daß sein unterer
Rand die Pfanne etwa um */s verlassen hat. Der Schenkelhals fehlt
fast völlig; die Distanz vom Trochanter major bis zum Pfannenboden
ist bedeutend kürzer wie auf der gesunden Seite. Es macht den Ein¬
druck, als sei der Schenkelhals gebrochen und darauf eine Einkeilung
des Schenkelhalses in den Schenkelkopf erfolgt.
Operation: Längsschnitt auf den Trochanter, Freilegung des
Schenkelhalsrestes nach Durchtrennung der Kapsel. Der dem Tro¬
chanter aufsitzende Rest des Schenkelhalses ist an seiner dem Becken
zugekehrten Seite mit einem Knorpelüberzug bekleidet. In der alten
Pfanne liegt der seinerzeit abgebrochene Schenkelkopf; er füllt nicht
allein die alte Pfanne aus, sondern überragt sogar nach oben die
Pfanne. Die freie Stelle des Kopfes, die mit dem oberen Teil des
Schenkelhalsrestes artikuliert hatte, ist glatt geschliffen und trägt
einen knorpligen Ueberzug. An dieser Stelle wird bei stärkster
Außenrotation und Bewegung des Beines der Kopf völlig losgetrennt
und nunmehr aus der Pfanne zu lösen versucht. Das gelingt nur
stückweise. Die alte Pfanne wird nun mit dem scharfen Löffel ver¬
tieft und der Schenkelhalsrest hineingestellt. Tamponade der Wunde,
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Die Coxa vara.
585
Gipsverband in Abduktionsstellung und mittlerer Rotation. Nach
3 Wochen Verbandabnahme. Das rechte Bein steht abduziert und hat
die Neigung zur Außenrotation. Die rechte Spina steht 2 1 /* cm tiefer
als die linke. Die Beweglichkeit des Hüftgelenkes ist eine ausgie¬
bige ; das Gelenk ist schmerzlos. Das Auftreten verursacht noch Be¬
schwerden, trotzdem macht der Patient Gehübungen, Beginn der
Massage.
Nachuntersuchung nach einem J /2 Jahr ergibt, daß die Ver¬
kürzung des rechten Beines noch 7 cm beträgt. Um diese auszu¬
gleichen, wird eine schräge Osteotomie des linken Femur handbreit
über dem Kniegelenk vorgenommen und das untere Fragment mög¬
lichst nach oben geschoben. Hierdurch wurde das linke Bein um
3 cm verkürzt.
Das Endresultat ist ein ausgezeichnetes geworden. Die operierte
rechte Hüfte ist nach allen Richtungen hin völlig frei beweglich und
das Bein steht völlig normal und wird beim Gehen und Stehen völlig
normal beansprucht. Auch die operierte linke Seite ist ohne jede
Beschwerde für den Patienten geheilt, der seinen schweren Beruf
als Kaufmann in jeder Weise tadellos und ohne Beschwerden ver¬
richtet.
Beobachtung 66. M. L., 15 Jahre alt, fiel vor */* Jahr
auf der Eisenbahn. Sie hatte sofort starke Schmerzen im rechten
Hüftgelenk und war nicht im stände, zu gehen oder zu stehen.
Das rechte Bein steht in leichter Beugestellung; es mißt von
der Spina bis zum Malleolus ext. 86 cm, das linke 89 x /*. Der Um¬
fang beträgt am oberen Patellarrande rechts 37, links 39 cm. Die
rechte Beckenhälfte erscheint gegen links abgeflacht, der Trochanter
markiert sich rechts weniger deutlich, er steht auf der rechten Seite
2 l jt cm über der Roser-Näla ton sehen Linie. Der entsprechende
Gelenkkopf ist mit Sicherheit an seiner normalen Stelle zu fühlen.
Die Glutäalfalte steht rechts bedeutend tiefer. Bei Bewegungs¬
versuchen im Hüftgelenk geht sofort das Becken mit. Nur eine
ganz geringe Flexion ist ausführbar. Der Gang ist hinkend unter
Drehbewegungen des Beckens.
Das Röntgenbild ergibt eine Fraktur in der Epiphysenlinie.
Der Schenkelkopf hat sich in der Pfanne gedreht, so daß sein oberer
Rand frei zu Tage tritt. An der Bruchstelle zeigt sich eine deutliche
Absetzung zwischen Schenkelkopf und Schenkelhals. Dieser letztere
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586
Carl Helbing.
erscheint stark nach außen gedreht, ebenso wie der ganze Ober¬
schenkel.
Operation am 9. Mai 1900: Längsschnitt über dem rechten Tro¬
chanter. Es gelingt nicht, den Kopf aus der Pfanne herauszuluxieren
da derselbe fest mit dem Pfannenrande verwachsen ist. Der Kopf
ist am Halsfragmente herabgerutscht und hat sich etwas nach innen
und hinten gedreht. Der Kopf wird nun an der Frakturstelle rese¬
ziert und stückweise entfernt. Die Pfanne wird mit scharfem Löffel
und Doyen sehen Bohrer ausgehöhlt, der Schenkelhals hineingestellt
Tamponade; teilweise Naht, aseptischer Verband. Extensionsverband
in leichter Abduktion und Innenrotation mit dorsaler Gipshanfschiene.
Nach 4 Wochen konnte Patientin aufstehen. Massage, Gymnastik.
Nach 6 Wochen wurde sie entlassen.
Auf eine Nachfrage nach ihrem jetzigen Befinden gibt Patientin
2 3 /i Jahre nach der Operation an, daß sie sehr zufrieden mit der
Leistungsfähigkeit ihres Beines ist. Anfangs war das Bein noch
schwach; mit der Zeit hat es sich aber so gekräftigt, daß es selbst
bei schweren Arbeiten nicht versagt.
Beobachtung 67. L. B., 13 Jahre alt, hat vor 1 1 /a Jahren
dadurch einen Unfall erlitten, daß sie mit einer sich lösenden Reck¬
stange zu Boden fiel, und zwar auf die linke Hüfte. Sie klagte so¬
fort über starke Schmerzen in der linken Hüfte und war nicht im
stände, das linke Bein auszustrecken.
Das linke Bein erscheint verkürzt, in der Hüfte flektiert und
dünner als das rechte; es ist nach außen rotiert. Bei Abduktions¬
versuchen geht die Spina mit, ebenso bewegt sich das Becken mit
bei Flexionsversuchen. Im Sinnt* der Rotation sind nur leichte Be¬
wegungen möglich. Das linke Bein mißt von der Spina bis zum
Malleolus ext. 84, das rechte 87 cm. Die Palpation ergibt wegen
des sehr starken Panniculus adiposus keine brauchbaren Resultate.
Beim Stehen fällt eine starke Lordose auf. Beim Gehen tritt die
Patientin nur mit der Fußspitze des linken Beines auf, einen Teil
seiner Verkürzung korrigiert sie durch Beckensenkung. Das Tren¬
del enburgsche Symptom ist vorhanden.
Das Röntgenbild des Beckens ergibt eine zweifellose trauma¬
tische Epiphysenlösung.
Es wird die subtrochuntere Osteotomie ausgeführt.
Das linke Bein zeigt bei der Entlassung noch eine Verkürzung
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Die Coxa vara.
587
von 1 cm; es steht in guter Position. Nach brieflicher Mitteilung
konnte Patientin in 3 /i Jahren nach der Operation 2—3stündige Spazier¬
gänge machen.
Beobachtung 68. CI. Sch., 10 Jahre alt, früher ganz ge¬
sund, fiel vor 1 Jahre beim Schlittschuhlaufen auf die rechte Hüfte,
ging unter lebhaften Schmerzen nach Hause, wurde dort zu Bett ge¬
legt und mit Auflegen einer Eisblase auf die Hüfte behandelt. Nach
8 Tagen verließ sie das Bett und fing an herumzugehen. Dabei be¬
merkten die Eltern ein gewisses Lahmen des linken Beines. Das
Hinken wurde mit der Zeit stärker; besondere Schmerzen bestanden
nur nach größeren Spaziergängen.
Wegen des Hinkens wurde das Kind in die Hof fasche Klinik
gebracht. Nun ergab sich folgender Befund.
Das linke Bein erscheint kürzer und magerer als das rechte,
ln der Tat ergibt die Messung von der Spina ilei ant. sup. bis zum
Malleol. ext. eine Verkürzung von l 1 /« cm. Der Dickenunterschied
beträgt für den Oberschenkel 2, für den Unterschenkel 1 cm. Der
Trochanter steht links 1 cm über der Ro s er-Nöla ton sehen Linie.
Bewegungen im Hüftgelenk frei bis auf die Abduktion, die ziemlich
stark beschränkt ist. Beim Stehen wird die Verkürzung durch Becken¬
senkung ausgeglichen; kein Trendelenburgsches Phänomen; Gang
hinkend.
Das Röntgenbild ergibt eine deutliche Infraktion des Schenkel¬
halses. Etwa an der Grenze des äußeren und mittleren Drittels des
Schenkelhalses sieht man einen deutlichen Schatten durch die obere
Hälfte des Schenkelhalses ziehen. Es macht den Eindruck, als ob
hier die Knochenpartien des äußeren und mittleren Drittels des
Schenkelhalses ineinander eingekeilt seien. Der Trochanter major
steht rechts höher als links. Das äußere Drittel des Schenkelhalses
ist mit dem Femur stark nach außen gedreht.
Die Behandlung mittels Massage und Gymnastik erzielte einen
vollen Erfolg, so daß Patientin jetzt, 3 Jahre nach Entlassung aus
der Behandlung, völlig geheilt ist. Die geringe noch bestehende
Verkürzung des Beines wird durch Beckensenkung ausgeglichen.
Beobachtung 69. C. L., 7 Jahre alt, zeigte schon seit
einigen Jahren ein gewisses Lahmen auf der rechten Seite. Vor
1 Jahre ist sie dann vom Sofa gefallen. Sie empfand sofort starke
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588
Carl Helbing.
Schmerzen in der rechten Hüfte, konnte aber allein aufstehen und
gehen. Eine Behandlung fand nicht statt. Da das Kind stark hinkt,
suchen die Eltern mit ihm die Poliklinik auf.
Das rechte Bein ist leicht verkürzt und erscheint schwächer
als das linke. Maße: Spina ilei ant. sup. bis Malleol. ext. rechts
52, links 53 cm. Spina bis oberer Patellarrand rechts 25, links
26 cm. Die Umfänge zeigen keine meßbaren Differenzen. Der
Schenkelkopf ist rechts an normaler Stelle fühlbar. Der Trochanter
steht 1 cm über der Roser-Nölatonsehen Linie. Alle Bewegungen
im Hüftgelenk sind eingeschränkt, besonders die Abduktion und Außen¬
rotation. Leichtes Hinken beim Gehen. Kein Trendelenburgsches
Phänomen.
Das Röntgenbild ergibt eine typische Coxa vara mit Verfcikal-
stellung der Epiphysenlinie. Dabei zeigt es sich aber deutlich, daß
der Schenkelhals sich am Schenkelkopf in die Höhe geschoben hat.
Es ist kein Zweifel, daß das Kind schon früher an einer Coxa vara
gelitten hat, daß durch den Fall auf die schon erkrankte Hüfte eine
Lockerung der Epiphyse eingetreten ist und daß sich nunmehr ent¬
weder direkt durch den Unfall oder erst allmählich durch die Be¬
lastung des Beines beim Gehen eine Verschiebung des Schenkelhalses
gegen den Schenkelkopf ausgebildet hat.
Die Behandlung bestand in Anlegung eines Gipsverbandes an
dem stark extendierten und abduzierten Bein. Der Verband blieb
6 Wochen liegen. Dann wurde für mehrere Wochen energische
Massage und Abduktionsgymnastik getrieben.
Der Erfolg war ein relativ guter. Das Hinken hat sich be¬
deutend gebessert; das Kind besucht jetzt wieder ohne Beschwerden
die Schule.
9 Monate später hat die Verkürzung um etwa 2 1 /* cm zuge¬
nommen, ebenso hat sich die Adduktion des Beines und die Außen¬
rotationsstellung vermehrt. Die Bewegungsfähigkeit des Hüftgelenks
ist bedeutend mehr vermindert als bei der ersten Untersuchung.
Als Grund der zunehmenden Deformität ergab sich eine Zu¬
nahme der Dislokation der Fragmente unter der Einwirkung der
Belastung des Beines. Der Trochanter major steht jetzt bedeutend
höher als im ersten Röntgenbild und der Schenkelhals ist vom
Schenkelkopf völlig abgerückt. Bestand bei der ersten Unter¬
suchung ein Schenkelhals winkel von einem Rechten, so ist jetzt der
Schenkelhalswinkel spitz geworden.
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Die Coxa vara.
589
Dieser Befund ist sehr interessant und beweist ujis deutlich,
daß trotz der Länge der Zeit nach dem Unfall noch keine feste
Verbindung zwischen den Bruchenden stattgefunden hat, daß diese
Verbindung vielmehr unter dem Einfluß der Belastung des Beines
nachgegeben hat, so daß die starke Dislokation der Fragmente ein¬
getreten ist.
Beobachtung 70. M. H., 14 Jahre alt, rutschte vor 11 Mo¬
naten mit einer Leiter auf einer Tenne aus und fiel mit der linken
Hüfte auf den hartgestampften Lehmboden. Sie empfand in der
Hüfte so starke Schmerzen, daß sie nicht aufstehen konnte.
Das linke Bein erscheint abgemagert und verkürzt. Die Maße
betragen um den Unterschenkel links 27, rechts 29 cm. Um die
Mitte des Oberschenkels links 37, rechts 41 cm; Länge von der Spina
ilei ant. sup. bis zum Malleolus ext. links 77, rechts 82 cm. Die
linke Beckengegend erscheint abgeflacht. Eine Messung der beiden
Beckenseiten ergibt links 41, rechts 43 cm Umfang. Der Schenkel¬
kopf ist an normaler Stelle zu fühlen. Der Trochanter steht links
4 cm über der Roser-Nälatonschen Linie. An der Stelle des
Schenkelhalses fühlt man eine diffuse Knochenverdickung. Die Be¬
wegungen im Hüftgelenk sind alle eingeschränkt, am meisten die
Auswärtsrotation und die Abduktion. Bei ausgiebigeren Bewegungen
geht das Becken mit. Beim Stehen wird die Verkürzung des linken
Beines durch Beckensenkung ausgeglichen. Läßt man im Stehen die
Beine spreizen, so fällt die Abduktionshemmung noch mehr auf, das
linke Bein bleibt völlig zurück. Der Gang ist stark hinkend, indem
das linke Bein fast steif gehalten wird. Beim Gehen und Stehen
sollen in der linken Hüfte Schmerzen auftreten.
Das Röntgenbild ergibt eine Fraktur an der Epiphysenlinie.
Der Schenkelkopf steht in der Pfanne, er hat sich jedoch so ge¬
dreht, daß sein unterer Rand frei aus der Pfanne zu Tage tritt.
Beobachtung 71. M. 0., 15 Jahre alt, fiel vor 1 Jahre
beim Schlittschuhlaufen auf die linke Hüftgegend. Er konnte nach
Hause gehen, litt aber 14 Tage lang an Schmerzen im linken Hüft¬
gelenk. Seit dieser Zeit hinkte er leicht.
Die linke Spina ilei steht tiefer als die rechte. Das linke Bein
ist 3 cm kürzer als das rechte. Es steht auswärts rotiert. Die Außen¬
seite der Beckengegend erscheint links abgeflacht, da der Trochanter
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590
Carl Helbing.
major weniger prominiert als rechts. Der linke Trochanter steht 3 cm
über der Roser-Nelatonschen Linie: Der Gelenkkopf ist an seiner
normalen Stelle deutlich zu fühlen. Beugung, Streckung und Adduk¬
tion im Hüftgelenk sind frei und schmerzlos, dagegen ist die Abduk¬
tion stark eingeschränkt, was besonders deutlich wird, wenn man den
stehenden Patienten auffordert, in Spreizstellung zu gehen. Der Gang
ist hinkend.
Die Röntgenaufnahme des Beckens zeigt eine Trennung des
Schenkelkopfes vom Halse. Es macht den Eindruck, als sei der
Schenkelhals tief in den Kopf hineingetrieben. Trochanter major
und minor stehen hoch. Die Spitze des Trochanter major überragt
den Schenkelkopf.
Die Therapie bestand in energischer Massage, gymnastischen
Uebungen und Uebungen an Pendelapparaten. Es wurde dadurch
ein so gutes funktionelles Resultat erzielt, daß von einer eingreifen¬
den operativen Therapie Abstand genommen werden konnte.
2. Schenkelhalsbrüche bei Erwachsenen, die zur Coxa vara geführt
haben.
Beobachtung 72. E. W., 57 Jahre, rechter Schenkelhals¬
bruch.
Am Röntgenbild (Fig. 70) erscheint der Kopf um eine vertikale
Achse gedreht, so daß die Bruchfläche des Kopfes nach vorn und
außen sieht, ferner hat er eine Drehung um eine sagittale Achse
erfahren, wodurch der untere Kopfteil nicht mehr mit der Gelenk¬
pfanne artikuliert. Der Schenkelhals scheint in den Kopf einge¬
trieben, ist stark verkürzt, die hintere Partie des Kopfes ruht dem
Schenkelschaft direkt auf. Letzterer hat ebenfalls eine Drehung
nach außen erfahren und steht in einer Adduktion von 15°. Tro¬
chanter major und obere Femurdiaphyse stark aufgehellt. Schenkel¬
halswinkel 85°.
Beobachtung 73. Frau Sch., 56 Jahre. Linkseitige Schenkel¬
halsfraktur pseudarthrotisch geheilt.
Im Röntgenbild (Fig. 71) sieht man durch eine vertikale breite
Bruchlinie den Kopf vom Schenkelhals getrennt, der Femurschaft ist
nach oben gerückt, so daß die Trochanterspitze 2 cm über dem Pfannen¬
dach steht. Der Oberschenkel zeigt außerdem eine starke Rotation
Digitized by v^oosLe
Die Coxa vara.
591
Fig. 70. Fig. 71.
nach außen und bei der starken Verkürzung des Schenkelhalses fallt
der Schatten des Trochanter minor zum Teil mit dem Kopfschatten
zusammen. Schenkelkopf, ebenso der oberste Teil des Femurschaftes,
wiederum stark atrophisch und für die Röntgenstrahlen fast vollkommen
durchlässig. Schenkelhalswinkel 75 °.
Beobachtung 74. K. P., 52 Jahre. Linkseitige Schenkel¬
halsfraktur.
Im Röntgenbild (Fig. 72) verläuft die Bruchlinie schräg nach
innen und unten und ist stark gezackt. Der untere Teil des Kopfes
zeigt ebenfalls noch eine Absprengung. Die Knochenatrophie im
Trochanter ist so hochgradig, daß er in der Größe einer Pflaume
vollkommen durchsichtig ist und cystisch erscheint. Der Schenkel¬
hals geht fast ganz in die breite Bruchlinie auf. Schenkelhals¬
winkel 85°.
Beobachtung 75. L. J., 46 Jahre. Linkseitige Schenkel¬
halsfraktur.
Die Bruchlinie verläuft im Röntgenbild (Fig. 73) in einem
Winkel von 75° zur Horizontalen nahe dem Schenkelkopf. Letz¬
terer hat eine Drehung um seine sagittale Achse im Sinne der Ab¬
duktion erfahren. Ein eigentlicher Schenkelhals fehlt vollkommen.
Der Trochanter minor liegt dem Schenkelkopf direkt an, der Schenkel¬
schaft wieder nach oben disloziert, leicht adduziert und nach außen
rotiert. Trochanterspitze 2 cm oberhalb des Pfannendachrandes.
Zeitschrift filr orthopädische Chirurgie. XV. Bd. 38
Digitized by Cjooole
592
Carl Helbing.
Während der Knochen im medialen Teil des Schenkelschaftes offen¬
bar durch die Einkeilung des Schenkelhalses verdichtet erscheint,
ist wiederum der Trochanter major und die laterale Partie des ober¬
sten Schenkelschaftes stark aufgehellt. Schenkelhalswinkel 85°.
i
Beobachtung 70. Frau Sch., 51 Jahre. Rechtseitige
Schenkelhalsfraktur.
Die Bruchlinie verläuft im Röntgenbild (Fig. 74) wiederum
vertikal, der Kopf grenzt sich von der Pfanne nicht mehr ab,
Schenkelhals anscheinend vollständig in die Bruchlinie aufgegangen,
Trochanter minor liegt wieder dem Schenkelkopf an, Trochanter
major und oberer Teil der Femurdiaphyse zeigt hochgradigste Auf¬
hellung des Knochens, Schenkelhalswinkel 90°.
Beobachtung 77. Frau Sp., 32 Jahre. Patientin ist mit
16 Jahren von einer Scheunentenne gefallen und zog sich eine link¬
seitige Schenkelhalsfraktur zu. Trotz längerer Behandlung mit Gips-
und Extensionsverbänden konnte die Patientin erst wieder nach 3 Jahren
mühsam an Krücken gehen. Die rechte Hüfte ist vollkommen ver¬
steift, das Bein steht stark nach außen adduziert und ist um 10 cm
verkürzt.
Am Röntgenbilde (Fig. 75) ist von der Bruchlinie nichts zu
sehen. Der Kopf grenzt sich von der Gelenkpfanne nicht ab. Ein
eigentlicher Schenkelhals existiert ebenfalls nicht mehr. Dagegen
gibt die mediale Partie des Schenkelschaftes einen besonders dichten
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Die Coxa vara.
593
Schatten. Trochanter wieder stark aufgehellt, seine Spitze steht 4 cm
über dem oberen Pfannendachrand.
Wegen der vollkommenen Hüftgelenksversteifung wird die Re¬
sektion des Kopfes in Aussicht genommen.
Bei der Operation zeigt sich, daß der Kopf mit dem medialen
Teil des Schenkelschaftes — ein eigentlicher Schenkelhals existiert
nicht mehr — nur pseudarthrotisch durch derbe Bindegewebsmassen
verbunden ist. Nach Durchtrennung der bindegewebigen Verwach¬
sungen, die sich nur an der Außenfläche der miteinander verbun-
Fig. 74.
denen Bruchenden finden, zeigt sich, daß die beiden Bruchflächen
einen samtartigen Ueberzug bezitzen, der aussieht wie eine stark
entzündete Synovialmembran. Nur mit Mühe gelingt es, den mit
der Gelenkpfanne bindegewebig verwachsenen Gelenkkopf aus seinem
Bette herauszuheben und zu entfernen. Die Trochanterspitze wird
angefrischt und unter kräftiger Extension und Abduktion in die leere
Gelenkpfanne eingestellt. Die Heilung geht per priraam intentionem
vor sich. Der Gang ist 3 Monate nach der Operation zwar noch
leicht hinkend, die Patientin ist aber im stände, ohne Stütze be¬
schwerdefrei zu gehen. Ein Röntgenbild zeigt, daß der Trochanter
in der Gelenkpfanne einen guten Halt gefunden hat.
Das resezierte Knochenstück (Fig. 76a) besteht aus dem stark
deformierten Gelenkkopf und dem Schenkelhalsrest. Der Kopf selbst
ist atrophisch, klein, im sagittalen Durchmesser platt gedrückt, hat
seine kugelige Form verloren und trägt nur an wenigen Stellen Reste
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594
Carl Helbing.
von einem Knorpelüberzug. So ist die ganze obere Fläche des Kopfes
vom Knorpel entblößt und zeigt hier tiefe Impressionen. Am Ansatz¬
punkt des Ligamentum teres ist die Spongiosa so rarifiziert, daß diese
Partie cystisch erweicht ist. Die Bruchfläche, welche die Pseudar-
throse mit dem Schenkelschaft gebildet hat, zeigt eine leicht kon¬
kave Wölbung, ist eiförmig gestaltet, glatt und trägt fast überal]
einen Knorpelüberzug, der im fixierten Präparat durchsichtig er¬
scheint. Auf einem frontalen Durchschnitte des Präparates siebt
man die starke Erweichung des medialen Kopfteils ganz besonders
Fig. 76 a. Fig. 76 b.
schön. Der Knorpelüberzug an dem Pseudogelenk ist ca. 2 mm dick
und an dem frontalen Schnitt an keiner Stelle unterbrochen. In dem
unteren lateralen Abschnitt finden sich zwei Cysten, von denen die
eine kirschkern-, die andere erbsengroß ist, und deren Wandung
von einem Gewebe umkleidet ist, das makroskopisch wie Knorpel
aussieht. Von einem frontalen Fournierschnitt durch den resezierten
Schenkelkopf wird ein Röntgenbild hergestellt. Dieses (Fig. 7Gb)
zeigt eine fast vollkommene Strukturlosigkeit und eine Aufhellung
der Kopfkappe. Das Knochengefüge des lateralen Kopfteils und
des medialen unteren Schenkelhalsrestes zeigt dagegen eine Verdich¬
tung, jedoch keine regelmäßige Struktur. Innerhalb dieser verdich¬
teten Zone finden sich den oben geschilderten Cysten entsprechend
mehrere erbsen- bis kirschkerngroße vollständig aufgehellte Partien.
Im mikroskopischen Bild zeigt die Pseudogelenkfläche eine mehr
oder weniger breite Lage von Knorpelgewebe. Die Knorpelgrund-
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Die Coxa vara.
595
Substanz zeigt eine senkrecht zur Bruchlinie stehende Faserung,
ebenso sind die Knorpelzellen in dieser Richtung geschichtet. Sie
liegen in größerer Zahl in kleineren Inseln zusammen. An einigen
Stellen ist die Knorpelgrundsubstanz fast vollkommen zellenfrei,
strukturlos und offenbar nekrotisch. Erst weiter entfernt von dieser
Knorpelzone tritt Knochengewebe in Gestalt plumper Knochenbalken
auf. Die von ihnen eingeschlossenen Markräume zeigen faseriges
Bindegewebe, sind reich vaskularisiert, stellenweise mit freien Blu¬
tungen durchsetzt und enthalten gar kein lymphoides und sehr wenig
Fettgewebe. Die im Präparat als Cysten imponierende Gebilde stellen
mikroskopisch keine eigentlichen Cysten dar, sondern sind ausgefüllt
mit einem lockeren faserigen kernarmen Gewebe, das an Schleim¬
gewebe erinnert. In kleineren von diesen Hohlräumen liegt nekro¬
tisches kernloses Knochengewebe. Es handelt sich in diesem Falle
um eine pseudarthrotisch geheilte Schenkelhalsfraktur, die zur Coxa
vara geführt hat. Einen ähnlich gelagerten Fall hat Kocher in
seinem Frakturenwerk beschrieben.
Mit Berücksichtigung der vorausgeschickten Krankengeschichten,
von denen 77 Fälle eigene Beobachtungen darstellen und 16 Fälle
aus der Literatur wiedergegeben sind, soll im zweiten Teil unserer
Arbeit zuerst eine Definition der Schenkelhalsverbiegung im Sinne
der Varitas gegeben werden; hierauf soll die Aetiologie, die Anatomie
und das klinische Bild der Coxa vara zur Sprache gelangen und schlie߬
lich die Therapie eine ausführliche Darstellung erfahren.
Begriff der Coxa vara.
Wir verstehen bekanntlich unter Varusstellung eines Gliedes die
Stellungsveränderung eines Knochens, bei welcher sein distaler Teil
eine pathologische Annäherung an die Medianlinie des Körpers erfährt,
gleichgültig, ob die Abweichung innerhalb eines Gelenkes vor sich
geht, oder ob durch Verbiegung eines Knochens jene Annäherung
entstanden ist. Während nun die Verhältnisse in den Gelenken,
welche der Hauptsache nach eine einachsige Bewegung zulassen,
einfach und klar liegen, und der Begriff des Genu varum und des
Cubitus varus kein Mißverständnis aufkommen läßt, da die Funktion
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596
Carl Helbing.
dieser Gelenke eine Adduktion in Strecksteilung nicht erlaubt, ist die
Begriffsbestimmung einer Varusstellung des Hüftgelenks mit viel grö¬
ßeren Schwierigkeiten verbunden. Das Hüftgelenk erlaubt ja Adduk¬
tionsstellung normalerweise, und die Adduktion als solche kann uns
deshalb nicht genügen, um von einer Coxa vara zu sprechen. Um¬
gekehrt braucht ein im Sinne der Annäherung des distalen Gliedes
an die Körpermediane verbogenes coxales Femurende gar nicht in
Adduktion zu stehen, da eine Abduktionsstellung des verbogenen
Femur die durch die Verbiegung hervorgerufene Adduktion wieder
kompensieren kann. Alle Autoren, die sich mit der Coxa vara ein¬
gehend beschäftigten, haben mit der Schwierigkeit einer passenden
Definition zu kämpfen gehabt.
So hat Kocher die Forderung gestellt, daß in Analogie mit
dem Pes varus nur dann von einer Coxa vara gesprochen werden
dürfe, wenn neben der Adduktion noch eine pathologische Streck¬
steilung und Außenrotation hinzukäme. Damit hat er aber gerade
die Schwierigkeit, daß eine Varusstellung durch die normale Funk¬
tion des Gelenkes wieder kompensiert werden kann, nicht aus der
Welt geschafft, und gerade die Einführung eines neuen Begriffs für
die reine Adduktionsstellung des Hüftgelenks, der Ausdruck „Coxa
adducta“, ist nur im stände, neue Verwirrung zu bringen.
Mit Recht betont Alsberg, daß man den Ausdruck Coxa
adducta für die pathologischen Stellungen des Hüftgelenks reser¬
vieren müsse, bei welchen durch irgendwelche Verwachsungen eine
dauernde Adduktionsstellung des Hüftgelenks eingetreten ist, ohne
daß die Gestalt der das Hüftgelenk bildenden Knochen dabei ver¬
ändert zu sein braucht. Albert [4], der sich auch eingehend mit
der Begriffsbestimmung der Coxa vara beschäftigt, bemerkt zu den
Ausführungen Kochers, daß jene Trias der Symptome, die Kocher
beim Pes varus berücksichtigt, um eine analoge Trias der Coxa vara
zu konstruieren, gar nicht für den reinen Pes varus zutriffk, sondern
nur für den Equinovarus gilt.
Die Adduktionsstellung in der Hüfte allein berechtigt aber
auch wieder nicht, um von einer Coxa vara zu sprechen, wie dies
z. B. Müller glaubt. Denn es kann sehr wohl durch eine fehler¬
hafte Stellung im Knie, z. B. durch ein Genu valgum, eine nur die
Kniedeformität kompensierende Adduktionsstellung des Oberschenkels
geschaffen werden, ohne daß man zur Annahme einer Coxa vara be¬
rechtigt wäre.
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Die Coxa vara.
597
Ich glaube, man muß die Versuche aufgeben, die Adduktions¬
stellungen der Hüfte, die nur durch Stellungsveränderungen inner¬
halb des Gelenks bedingt sind, in das Bild der Coxa vara einzu¬
reihen, und muß den Ausdruck „Coxa vara* nur für die Verände¬
rungen am coxalen Femurende im Sinne der Varität
reservieren.
Damit wird die Definierung der Coxa vara wesentlich leichter.
Es kann die Stellungsänderung bedingt sein:
1. durch eine Verschiebung der Achsen zwischen Kopf und
Schenkelhals,
2. durch eine Verbiegung des Schenkelhalses,
3. durch eine Stellungsänderung des Schenkelhalses gegen den
Schenkelscbaft und
4. durch eine Abknickung des Schenkelschaftes unterhalb des
Trochanter major, aber noch im Bereiche des coxalen
Femurendes.
Nur in seltenen Fällen handelt es sich nur um eine der ge¬
nannten Stellungsveränderungen, vielmehr treten diese meist kombi¬
niert auf. Das Charakteristische der Coxa vara liegt aber jedenfalls
meist in der Verbiegung des Schenkelhalses nach unten und in der
dadurch bedingten Verkleinerung des Schenkelhalswinkels. Nach
den Untersuchungen von Mikulicz beträgt dieser Winkel im Mittel
125—126°, doch unterliegt derselbe je nach Alter und Geschlecht
gewissen Schwankungen, die vom Mittelwerte im ganzen wenig ab¬
weichen. Ueber den Grad der durch die Schenkelhalsverbiegung be¬
dingten Adduktionsstellung wissen wir aber durch die Bestimmung
des Schenkelhalswinkels noch gar nichts. Es ist deshalb der Ge¬
danke Alsbergs [5], ein exaktes Maß für die Größe der Varus-
stellung einzuführen, ein recht glücklicher gewesen. Bei einer solchen
Bestimmung konnte aber nur die Varusstellung berücksichtigt werden,
soweit sie durch Gestaltsveränderung des proximalen Femurendes be¬
dingt ist. Ignoriert wird dabei die Größe der Varusstellung, die aus
einer veränderten Stellung des Femur zur Pfanne gegeben sein kann.
Alsberg geht von dem in Mittelstellung befindlichen Hüftgelenk
aus. „Denkt man sich durch ein solches normales Hüftgelenk eine
Frontalebene gelegt, so sieht man, daß das Ende des Knorpelüber¬
zugs am Kopfe vom knöchernen Pfannenrand resp. der Brücke des
Limbus cartalagineus proximal und distal ungefähr gleich weit ent-
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598
Carl Helbing.
fernt ist. Verbindet man nun diese beiden Knorpelendpunkte durch
eine Linie und verlängert man diese Linie bis zum Schnittpunkt m:r
der Oberschenkelachse, so gewinnt man einen Winkel, welcher das
von uns gewünschte Maß darstellt. Je kleiner der Winkel, desto
größer die Varusstellung.“ Der Mittelwert dieses von Alsberg ah
Richtungswinkel bezeichneten Winkels beträgt 41°, ist jedoch ziem¬
lich großen individuellen Schwankungen unterworfen, dürfte aber selbst
bei den Extremen des Normalen nicht unter 29° herabgehen und nicht
über 51° steigen. Ein vergrößerter Winkel zwischen der Gelenkflächen-
basis und Oberschenkeldiaphyse bedeutet Abduktions- oder YaJgus-
stellung des Oberschenkels, eine Verkleinerung eine Varusstellung
Hoffa [69] definiert den Alsbergschen Richtungswinkel insofern
etwas anders, als er eine durch die Basis der überknorpelten Schenkel¬
kopffläche gelegte Ebene bei der Konstruktion des Richtungswinkels
benützt. Für die Bestimmung im anatomischen Präparat spielt jedoch
diese unterschiedliche Auffassung keine Rolle.
Wenn Albert sagt, daß die Basis der überknorpelten Schenkel¬
kopffläche in einer unregelmäßigen Begrenzungslinie verläuft und man
nicht ohne weiteres einen Kopfäquator durch sie legen könne, so hat
er in mathematischem Sinne wohl recht. Albert wählt, um dieser
Ungenauigkeit zu entgehen, deshalb die Pfanne mit ihrem Limbus,
die nahezu eine Halbkugel bildet und deshalb eine Ebene durch den
freien Rand des Limbus zu legen gestattet, als Ausgangspunkt seiner
Ebene. Wenn er aber dann bei der weiteren Bestimmung der Ebene
den Kopf in ein solche Lage zur Pfanne bringt, daß der überknor-
pelte Teil des Kopfes in die Pfanne aufgenommen erscheint und nir¬
gends „erhebliche Segmente“ seiner überknorpelten Kugelfläche
frei sind, und dann durch beide (Halbkugel der Pfanne und des Kopfes)
eine Ebene legt, so hat er ja ebensowenig die unregelmäßige
Begrenzungslinie des Kopfes bei seiner Bestimmung
ausgeschaltet und seiner von ihm „Aequatorialebene 4
genannten Fläche haftet schließlich dieselbe Unge¬
nauigkeit au, wie der Hoffaschen Kopfbasisebene. Bei
der Adduktionsbestimmung benützt nun Albert nicht die mit der
Hoffa sehen Ebene identische Aequatorialebene, sondern eine auf
diese errichtete Senkrechte. Es ist ohne weiteres klar, daß diese
Senkrechte mit der Schenkelschaftachse einen Winkel einschließt, der
nur um 90° größer ist als der Alsbergsche Richtungswinkel. Es
ist deshalb wünschenswert, daß man bei der Einfachheit, mit welchem
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Die Coxa vara.
599
sich der Alsberg sehe Richtungswinkel am anatomischen Präparat
bestimmen läßt, diesen auch künftig bei der Untersuchung von anato¬
mischen Präparaten beibehält.
Ein so exaktes Maß der Alsberg sehe Richtungswinkel bei
der Bestimmung der Varität des proximalen Femurendes am Prä¬
parat darstellt, so läßt er doch, wie Alsberg selbst eingesteht, so¬
fort ganz im Stich, wenn es gilt, auf Grund eines Röntgenbildes die
Varität des coxalen Femurendes zu bestimmen. In den allermeisten
Fällen hat man aber bei der Beurteilung des Grades einer Coxa vara
nur das Röntgenbild und nicht ein anatomisches Präparat zur
Verfügung.
Aus diesem Grund habe ich Untersuchungen an normalen Ober¬
schenkelknochen von Individuen verschiedenen Alters angestellt, wie¬
weit es möglich ist, die Epiphysenlinien, die doch in fast allen hier in
Betracht kommenden Röntgenbildern noch sichtbar ist, zur Bestimmung
der Varusstellung des coxalen Femurendes heranzuziehen. Es war vor
allen Dingen festzustellen, um wie viel die Epiphysenlinie von der
Hoffaschen Ebene abweicht, und ob diese Abweichung eine relativ
konstante ist und in den verschiedenen Lebensaltern bis zur Pubertäts¬
zeit so genau bestimmt werden kann, um durch Abrechnung doch
den Alsberg sehen Richtungswinkel zu konstruieren oder den Als-
bergschen Richtungswinkel durch einen Winkel zu ersetzen, der ge¬
bildet wird aus einer durch die Knorpelfuge gelegte Gerade einerseits
und die Achse des Schenkelschaftes anderseits. Ich möchte für
diesen Winkel den Namen „Epiphysenwinkel“ vorschlagen.
Meine Untersuchungen habe ich an 11 Leichenpräparaten ange¬
stellt, deren Ueberlassung ich dem freundlichen Entgegenkommen des
Herrn Geheimrat Professor Orth verdanke, und dem ich an dieser
Stelle meinen ergebensten Dank ausdrücke. Das Alter der Leichen,
welchen die Präparate entnommen worden sind, schwankt zwischen
dem des Neugeborenen und dem 17. Lebensjahre. Durch das pro¬
ximale Femurende wurde ein frontaler Sägeschnitt gelegt, die Rich¬
tung der Hof faschen Ebene markiert und dann von der vorderen
Hälfte des Präparates ein Skiagramm hergestellt. Die Linie, welche
durch den Epiphysenknorpel gelegt wurde, wurde so konstruiert,
daß die proximalen Endpunkte des verknöcherten Schenkelhalses
durch eine Gerade verbunden wurden. Diese Gerade schneidet in
ihrer Verlängerung die Achse des Femurschaftes, und der so ent¬
stehende Winkel ist der gewünschte Epiphysenwinkel.
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600
Carl Helbing.
Präparat 1 vom Neugeborenen:
a) Schenkelhalswinkel 136°,
b) Alsberg scher Richtungswinkel 46°,
c) Epiphysen winkel 54°.
Präparat 2 ebenfalls vom Neugeborenen:
a) Schenkelhalswinkel 137°,
b) Alsberg scher Richtungswinkel 47°,
c) Epiphysenwinkel 54°.
Präparat 3, 3 Monate altes Individuum:
a) Schenkelhalswinkel 137°,
b) Alsbergscher Richtungswinkel 45°,
c) Epiphysen winkel 51°.
Präparat 4 von einem 1 Jahr 4 Monate alten Individuum:
a) Schenkelhalswinkel 137°,
b) Alsbergscher Richtungswinkel 42°,
c) Epiphysen winkel 61°.
Präparat 5 von einem 2 Jahre 5 Monate alten Kind:
a) Schenkelhals winkel 138°,
b) Alsbergscher Richtungswinkel 43°,
c) Epiphysen winkel 62°.
Präparat 6 von einem 5 Jahre alten Kinde:
a) 126°,
b) 39°,
c) 60°.
Präparat 7 von einem 6jährigen Kind; Oberschenkel durch
Rhachitis stark nach vorn konvex verkrümmt:
a) 124°,
b) 48°,
c) 67°.
Präparat 8 von einem 8 3 /4 Jahre alten Kind:
a) 123°,
b) 38°,
c) 54°.
Präparat 9 von einem 12 Jahre alten Kind:
a) 133°,
b) 45°,
c) 57°.
Präparat 10 von einem 14 Jahre alten Kind:
a) 135°,
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Die Coxa vara.
601
b) 42°,
c) 57°.
Präparat 11, 17 Jahre altes Individuum:
a) 127°,
b) 45°,
c) 61°.
Sehen wir von dem Präparate 7 ab, das von einem hochgradig
rhachitischen Individuum stammte und sehr stark nach vorn konvex
verbogene Oberschenkel aufwies, so sind die Schwankungen, inner¬
halb welcher die Größe des sogenannten Epiphysen winkeis sich be¬
wegt, nicht sehr groß. Der kleinste Winkel beträgt 51°, der größte
62°, der Mittelwert 57°. Die Schwankungen in der Größe des Rich¬
tungswinkels sind allerdings bei unseren Präparaten um 2° geringer,
der kleinste beträgt 39, der größte 47°, als Mittel erhielt ich 43°.
Es ist dabei aber auch zu berücksichtigen, daß die Schwankungen
in der Größe des Schenkelhals winkeis noch viel erheblicher
an unseren Präparaten sind.
Wir wissen aus den Untersuchungen von Luß [120], welcher
die Ergebnisse von Messungen an 155 Oberschenkeln niedergelegt
hat, daß normalerweise auch beim Richtungswinkel Schwankungen
von 25—54 0 Vorkommen können. Die Größe des Epiphysenwinkels
wird natürlich ebenso wie die des Richtungswinkels beeinflußt von
der Neigung, welche die seitliche Beckenwand und mit ihr die
Pfanne gegen die senkrechte Ebene besitzt. Hat die seitliche Becken¬
wand einen mehr vertikalen Verlauf, so wird auch die Pfanne
schräger gestellt sein und die steilere Stellung der Pfanne bei sonst
normalem Oberschenkel eine Verkleinerung beider Winkel bewirken.
Das Umgekehrte gilt natürlich für die mehr horizontal gestellte
Pfanne. Wenn wir den Richtungswinkel von 25 0 als den kleinsten
Winkel bezeichnen, welcher noch einem normalen coxalen Femur¬
ende entsprechen kann, so können wir als untersten Grenzwert für
den Epiphysenwinkel 39° annehmen, da sich letzterer als durch¬
schnittlich 14° größer erwiesen hat als ersterer. In allen Fällen
also, in welchen der Epiphysenwinkel kleiner als 39° ist,
sind wir berechtigt, von einer Coxa vara zu sprechen. Meist
handelt es sich aber dann schon um eine Coxa vara, wenn der Epi¬
physenwinkel wesentlich kleiner als 57° ist.
Der Wert einer derartig exakten Definition der Coxa
vara mit Hilfe des Epiphysen winkeis liegt darin, daß wir
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602 Carl Helbing.
aus dem Röntgenbilde schon mit Sicherheit die Diagnose stellen
können.
Bei den Untersuchungen Alsbergs und den meinigen an ana¬
tomischen Präparaten arthritisch deformierter Oberschenkel, die ganz
den Eindruck einer Coxa vara machen, findet sich die auffallende
Tatsache, daß trotz Verkleinerung des Schenkelhalswinkel der Rich¬
tungswinkel normal oder sogar größer ist. An solchen Präparaten
zeigt die meist abgeflachte Gelenkpfanne einen der Horizontalen sich
nähernden Verlauf; der dazu gehörige Oberschenkelkopf steht dann
nach der von uns gegebenen Definition der Varusstellung trotz der
Verkleinerung des Schenkelhalswinkels und trotz des hochstehenden
Trochanter nicht in Varusstellung. Wir müssen eben festhalten, daß
ein verkleinerter Schenkelhalswinkel kompensiert werden
kann durch eine Stellungsänderung der Artikulations¬
fläche an der Pfanne. Auch der umgekehrte Fall, daß durch
Steilstellung und eine mehr der Vertikalen sich nähernde Stellung der
Gelenkpfanne eine Varusstellung des Oberschenkels ohne Verkleinerung
des Schenkelhalswinkels resultieren kann, ist nach dem eben An¬
geführten ohne weiteres denkbar. Vergleichende Untersuchungen an
meinen Röntgenbildern bei Coxa vara rhach. zeigen ähnliche Ver¬
hältnisse wie bei der Arthritis deformans. In den allermeisten Fällen
ist der Epiphysenwinkel nicht besonders verkleinert, und trotzdem
besteht eine deutliche Verkleinerung des Schenkelhalswinkels. In
diesen Fällen ist trotz der Verkleinerung des Schenkelhals¬
winkels keine Varusstellung des Oberschenkels nach der obigen
Definition vorhanden, und wir sind eigentlich nicht ohne weiteres
berechtigt, in diesen Fällen von einer Coxa vara im anatomischen
Sinne zu sprechen.
Haben wir uns auch gewöhnt, die Verkleinerung des Schenkel¬
halswinkels als das wesentliche Charakteristikum der Coxa vara
anzusehen, so ist es durchaus notwendig, daß wir uns über die kom¬
pensierenden Momente, die durch Stellungsveränderungen der arti¬
kulierenden Kopffläche oder der Artikulationsfläche der Pfanne ent¬
stehen, immer durchaus klar sind. Denn auch klinisch sehen wir
z. B. bei der Arthritis deformans, die mit Verkleinerung des Schenkel¬
halswinkels einhergeht und bei der Coxa vara rhach. öfter keine
erhebliche Adduktionsstellung des Oberschenkels.
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Pie Coxa vara.
603
Die Aetiologie der Coxa vara.
Wir betrachten, wie schon aus dem ersten Teil der Arbeit
hervorgeht, die Coxa vara als ein Symptom, das bei den verschie¬
densten Krankheiten angeborenen und erworbenen Ursprungs in
Erscheinung treten kann«
Ueber die Genese der angeborenen Coxa vara, auf die Kredel
und ich zuerst hingewiesen haben (Helbing [61]), bei dem heutigen
Stande der Kenntnisse, die wir von diesem Leiden haben, etwas Be¬
stimmtes aussagen zu wollen, erscheint uns müßig. Ob der hypo¬
thetische Druck, den die Eihüllen auf den Fötus während der Ex-
tremitätenentwicklung ausüben können, zur Erklärung herangezogen
werden darf, erscheint mir recht fraglich. Gegen diese Auffassung
spricht bis zu einem gewissen Grade die häufig konstatierte Doppel-
seitigkeit des Leidens mit ganz symmetrischer Verbildung, ferner
die verwandten Beziehungen zur kongenitalen Hüftgelenkluxation
und zu dem Oberschenkeldefekt und endlich die mehrfach konsta¬
tierte hochinteressante Beobachtung (cf. Fall 7, 9 und 10), daß von
zwei Geschwistern das eine an kongenitaler Hüftgelenksluxation, das
andere an Coxa vara congenita leidet. Wir tun, wie ich glaube,
gut, auch hier ein Vitium primae formationes anzunehmen,
das in der postfötalen Lebensperiode seinen Ausdruck in einer gänz¬
lich mangelnden oder verzögerten Ossifikation des
coxalen Femurendes findet, durch die bei eintretender Belastung
des Beins die Möglichkeit einer Verbiegung des Schenkelhalses ge¬
geben wird.
Alle anderen Formen der Coxa vara lassen sich entweder auf
eine Einbuße der normalen Widerstandsfähigkeit des coxalen Femur¬
endes oder auf ein Mißverhältnis zwischen der Inanspruchnahme des
Knochens und der Belastung zurückführen.
Ganz einfach liegen die Verhältnisse bei den Erkrankungen,
welche durch eine pathologische Weichheit des ganzen Skelettsystems
ausgezeichnet sind: bei der Rhachitis und Osteomalacie. Hier ist
die Verbiegung des Schenkelhalses, der ja gerade bei der Belastung
durch seine schräge Verlaufsrichtung ganz besonders zu einer Ab¬
biegung nach unten disponiert sein muß, nur ein Analogon anderer
uns bekannter Verbiegungen des Skeletts.
Ebenso einleuchtend ist die Schenkelhalsverbiegung bei ent¬
zündlichen Erkrankungen im Schenkelhals und Schenkelkopf, die
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604
Carl Helbing.
mit einer lokalen Erweichung gerade dieses Skelettsystems einher¬
gehen. Hierher gehören die Tuberkulose, die Cystenbildung, die
Ostitis fibrosa und Arthritis deformans.
Auch die nach Traumen entstehenden Schenkelhalsverbiegungen,
gleichgültig ob die Verletzung eine Kontinuitätstrennung in der Epi¬
physenlinie oder im Schenkelhälse gesetzt hat, bieten in ihrer Genese
weiter keine besonderen Schwierigkeiten.
Erfahrungsgemäß genügen jedoch manchmal ganz leichte
Traumen, um eine Epiphyseolyse bei Individuen vor und im Puber¬
tätsalter zu erzeugen. Als Beispiele will ich die eigenen Beobach¬
tungen 58, 62, 63, 65, 66, 68, 71 anführen. In diesen Fällen ge¬
nügte ein einfacher Fall auf das Knie oder auf die Hüfte, um eine
Trennung des Kopfes in der Epiphysenlinie zu bewirken. Sehr
häufig wird der Verletzung anfangs gar keine Bedeutung beigelegt.
Die Verbiegung und mit ihr die Beschwerden entwickeln sich erst
im Lauf der nächsten Zeit; die Deformität ist also in ihrer Ent¬
stehung so zu denken, daß durch die zu früh wieder aufgenommene
Belastung der noch weiche Callus nachgibt. Solche Fälle haben ihr
Analogon an einem anderen Skelettabschnitt, der Wirbelsäule, an
welcher ebenfalls nach relativ geringem, Knochenfissuren setzenden
Traumen nach und nach bei weiterer Belastung eine Abknickung
der Wirbelsäule ein tritt (Kümmellsche Krankheit).
Eine Reihe von anderen Fällen ist dadurch charakterisiert, daß
schon vor dem Trauma eine Disposition zur Verbiegung durch
abnorme Knochenweichheit (wie in den von Leusser [116] und
Siebs [175] beschriebenen Fällen, die durch schwere Rhachitis
kompliziert waren) oder überhaupt schon eine Coxa vara bestand
(Sprengel, Hofmeister, Hoffa und Beobachtung 69).
Da, wo bereits eine Coxa vara vorhanden ist, stellt durch die
veränderte Richtung der Epiphysenlinie, die aus ihrer normalerweise
fast horizontalen Richtung in eine mehr oder weniger vertikale
übergeht, schon der normale Gehakt bis zu einem gewissen
Grade ein Trauma dar und kann bei der häufigen Wiederholung
der Schädigung schließlich zu einer Trennung in der Epiphysenlinie
führen. Whitman [192] und Sprengel [176] nehmen sogar an,
daß eine in der frühesten Jugend acquirierte traumatische Epiphysen¬
lösung noch im Pubertätsalter zu einer Schenkelhalsverbiegung führen
kann. Auch wir haben beobachtet, daß nach einer Epiphyseolyse
unter der Einwirkung der Belastung noch nach Monaten eine weitere
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Die Coxa vara.
605
Verschiebung der Kopf kappe gegen den Schenkelhals stattfindet,
und die Deformität so eine weitere Zunahme erfährt (Beobach¬
tung 69).
Natürlich kann auch unter dem Einfluß destruierender Prozesse
wie der Tuberkulose eine spontane Epiphyseolyse eintreten und so
zur Bildung einer Coxa vara führen (Siebs).
Weitaus größere Schwierigkeit bereitet die Deutung der sog.
Coxa vara adolescentium. Hier ist von einigen Autoren eine ab¬
norme Knochenweichheit durch Spätrhachitis oder juvenile Osteo-
malacie (Kocher) angenommen worden, auf deren Basis bei beson¬
derer Beanspruchung der unteren Extremitäten die Schenkelhalsver¬
biegung sich entwickelt. Doch ist bis jetzt diese Annahme einer
solchen Erkrankung nur eine hypothetische, und auch der von
Hädke [59] gegebene mikroskopische Befund eines durch Resektion
gewonnenen Präparates von einem 17jährigen an rechtseitiger Schenkel¬
halsverbiegung leidenden Mannes ist nicht im stände, Spätrhachitis
mit Sicherheit zu beweisen. Auffallend bleibt an diesem Falle, daß
sich auch hier eine Verschiebung des Kopfes in der Epiphysenlinie
vorfand, welche die Möglichkeit einer Epiphyseolyse nahelegt;
nimmt man aber eine Epiphysenlösung in dem Falle Hädke s an, so
lassen sich der am Knorpel konstatierte Befund, das Auftreten freier
Knorpelinseln und die Bildung osteoider Substanz ohne Zuhilfenahme
einer Rhachitis einfach aus der Heilung der Knochenwunde heraus
erklären. Ich verweise in dieser Hinsicht nur auf den ähnlich ge¬
lagerten mikroskopischen Befund unserer Beobachtung von einer
traumatischen Epiphysenlösung (Nr. 60).
So lange man deshalb nicht mit Sicherheit die typischen
rhachitischen Veränderungen nachweisen kann, tut man, wie ich
glaube, gut, die hypothetische Spätrhachitis als Ursache
der Coxa vara ganz aus dem Spiel zu lassen.
Die Coxa vara adolescentium stellt wohl überhaupt kein ein¬
heitliches Krankheitsbild dar, sondern ist nur ein Symptom,
das durch verschiedenartige Krankheitsprozesse bei gleichzeitiger Ein¬
wirkung derselben äußeren Schädlichkeiten bedingt sein kann. Die
Hauptschädlichkeit ist die auf dem Oberschenkel ruhende Körperlast.
Schon Kocher hat diesem Moment große Wichtigkeit beigelegt,
und er bezeichnet deshalb diese Form der Coxa vara bei jungen
Leuten, die durch ihren Beruf zu anhaltendem Stehen mit gespreiz¬
ten und auswärts rotierten Beinen gezwungen sind, geradezu als
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606
Carl Helbing.
eine Berufskrankheit des Wachstumsalters. Ebenso sehen Manz [124].
Bähr [9], Schanz [164] und Blum [12] die Coxa vara adolescentium
als eine rein statische Deformität an, letzterer glaubt sogar, daS
bei der Entstehung der Coxa vara die Belastung eine viel größere
Rolle spielt, als eine gleichzeitig bestehende Knochenaffektion. Dea
umgekehrten Standpunkt vertritt wieder Schlesinger [169], der
dem Trauma eine große Rolle auch bei der Entstehung der Coxa
vara adolescentium zuschreibt. Nach ihm ist der Sitz der Verbiegung
bei der Coxa vara adolescentium immer nur in der Epiphysenlinie
zu suchen. Die beiden von uns beobachteten Fälle (Nr. 44 und 45)
lassen allerdings auch die Möglichkeit der Deutung einer Epiphysen¬
lösung zu, da der obere mediale Rand des Schenkelhalses über die
obere Begrenzung der Kopfkappe hinausragt. Sud eck [182] ver¬
sucht, die Coxa vara durch eine hypothetische mangelhafte Aus¬
bildung eines ganz bestimmten Bälkchensystems, das dem Schenkel¬
hals seine besondere Festigkeit gegen Verbiegung nach hinten und
unten verleiht, zu erklären.
Meiner Ansicht nach ist man auf Grund unserer heutigen
Kenntnisse zu der Annahme berechtigt, daß die Coxa vara adoles¬
centium einfach durch eine unverhältnismäßig große Bean¬
spruchung des noch im Wachstum befindlichen Knochen¬
gewebes, welches den erhöhten Anforderungen sich nicht gewachsen
zeigt, ohne gleichzeitige Annahme einer Knochenerkran¬
kung entstehen, daß sie also als eine reine Belastungsdeformität
aufgefaßt werden kann. Daß aber auch Schenkelhalsverbiegungen
erst nach der Pubertätszeit bei älteren Patienten auf Grund stärkerer
Beanspruchung der unteren Extremitäten klinisch in Erscheinung
treten können, beweisen die Beobachtungen 47—49.
Der Vollständigkeit halber möchte ich hier nur noch erwähnen,
daß Fröhlich [51] in 2 von ihm bakteriologisch untersuchten
Fällen von Coxa vara adolescentium den Staphylococcus albus züchten
konnte, und er in Erwägung zieht, ob nicht überhaupt die Coxa
vara adolescentium durch eine langsam und ohne Fieberbewegung
verlaufende chronische Osteomyelitis oder Osteoarthritis osteomye-
litica bedingt sein könnte.
Was die Häufigkeit der verschiedenen Formen der Coxa vara
anlangt, so ist unser Beobachtungsmaterial insofern etwas einseitig,
als die meisten Patienten, welche in die Universitätspoliklinik für
orthopädische Chirurgie gebracht werden, Kinder sind, und gerade
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Die Coxa vara.
607
die sonst am häufigsten beobachtete Form, die Coxa vara adolescen-
tium, mit nur ganz wenigen Fällen vertreten ist.
Nach unserer Statistik kommen auf ca. 1Ö000 Kranke mit
orthopädischen Leiden 77 Fälle von Coxa vara, darunter befinden
sich 20 Fälle, deren kongenitale Natur sichergestellt ist. Von letz¬
teren waren 9 einseitig, 8 doppelseitig, 3 mal fand sich die Coxa
vara als Teilerscheinung der kongenitalen Hüftgelenksluxation und
von diesen war die Verbiegung 2 mal einseitig. Was das Geschlecht
betrifft, so kamen bei der kongenitalen Coxa vara auf 13 Mäd¬
chen nur 7 Knaben. Wie bei der kongenitalen Hüftgelenksluxa¬
tion ist also auch bei der kongenitalen Coxa vara das weibliche
Geschlecht stärker belastet.
Von 24 Fällen rhachitischer Coxa vara waren 3 mit kongeni¬
taler Coxa vara der anderen Seite kombiniert und weiblichen Ge¬
schlechts. Von den Testierenden 21 Fällen betrafen 10 das männ¬
liche und 11 das weibliche Geschlecht; nur 3mal war die Er¬
krankung einseitig.
ö Fälle gehören der Gruppe der Coxa vara adolescentium an,
je 2 Fälle sind durch Cystenbildung im coxalen Femurende und
durch Osteomyelitis und 4 Fälle durch Tuberkulose entstanden.
Weitere 20 Fälle sind zur Coxa vara traumatica zu rechnen, 14mal
waren Patienten vor und in der Pubertätszeit betroffen, die übrigen
6 Beobachtungen stellen Schenkelhalsfrakturen bei Erwachsenen dar.
Die Anatomie der Coxa vara.
Die bisher untersuchten Präparate von Coxa vara beschränkten
sich im wesentlichen auf die rhachitische, traumatische und statische
Form. Durch die Beobachtung 44 sind wir in der Lage gewesen,
durch Resektion des coxalen Femurendes auf beiden Seiten auch
die kongenitale Form in ihren anatomischen Eigentümlichkeiten zu
studieren. Indem auf die genaue Beschreibung im 1. Teil der Arbeit
verwiesen wird, möchte ich hier nur die charakteristischen anato¬
mischen Merkmale der angeborenen Schenkelhalsverbiegung anführen.
Der Sitz der Verbiegung findet sich am Uebergang des
Schenkelhalses in den Schenkelkopf. Der Schenkelhals ist außerdem
ganz wenig nach vorn konvex verbogen. Die nachweisbare Ver¬
kürzung des Schenkelhalses betrifft mehr seinen unteren Rand. Die
AÄikulationsfläche des Kopfes ist derart verschoben, daß der Kopf
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XV. Bd. 39
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608
Carl Helbing.
zu der Pfanne in extremster Abduktionsstellung steht. Diese Ver¬
änderung bedingt wiederum eine Ausschaltung des unteren Teils der
Kopfkappe von der Artikulation mit der Gelenkpfanne und eine
stärkere Atrophie dieses Kopfteils. Der Köpf ist walzenförmig ge¬
staltet, sein frontaler Durchmesser verlängert, der Schenkelhals in
zum großen Teil noch bei Kindern im 4.—5. Lebensjahre rein
knorplig, die Epiphysenlinie stellt also eine viele Millimeter breite,
fast den ganzen Schenkelhals ausmachende Zone dar, die einen verti¬
kalen Verlauf hat. Dementsprechend ist auch der normalerweise
51 0 betragende Epiphysenwinkel außerordentlich stark verkleinert
und schwankt zwischen — 22 0 und 20 °. Charakteristisch ist fast
durchwegs die Anlage mehrerer verknöcherter Zentren in der Kopf¬
epiphyse. Ob es sich hier immer um wirklich ausgebildeten Knochen
handelt, macht die mikroskopische Untersuchung unseres Resektions¬
präparates zweifelhaft. Es zeigte sich ja, daß der im Röntgenbild
als Knochenkern imponierende Schatten nichts anderes ist als krüm-
lich verkalkter Knorpel.
Eine Abrutschung des Kopfes auf dem Schenkelhals
ist nicht nachweisbar. Der Knorpelüberzug des Kopfes geht viel¬
mehr ganz gleichmäßig in den des Schenkelhalses über. Auch histo¬
logisch ist nirgends ein Befund vorhanden, der für eine Läsion des
Knochens innerhalb der verbogenen Partie spräche. Eine Verdickung
der Cortikalis des Schenkelschaftes findet sich an seinem unteren me¬
dialen Rande, da, wo er in den Schenkelhals übergeht. Endlich finden
sich fast konstant auch Veränderungen an der Gelenkpfanne. Diese
ist im ganzen abgeflacht, hat eine steilere Richtung und insbesondere
ist der äußere Teil des Pfannendachs, ähnlich wie bei den kongeni¬
talen Subluxationen der Hüfte, flacher gestaltet. Dieser hier ge¬
schilderte anatomische Befund läßt sich auch bei älteren Patienten
mit kongenitaler Coxa vara erheben, nur sind die anatomischen Ver¬
änderungen im ganzen noch stärker ausgesprochen.
Viel größeren Schwankungen unterliegt die Gestaltung des
coxalen Femurendes bei den übrigen Formen der Coxa vara.
Bei der rhachitischen Form ist das anatomische Bild noch
ein verhältnismäßig konstantes. Die Verbiegung sitzt auch hier meist
am Uebergang des Schenkelhalses zum Schenkelschaft, erreicht je¬
doch nie sehr hohe Grade. Der kleinste Schenkelhalswinkel, welcher
bei der rhachitischen Coxa vara bestimmt wurde, betrug 90°, die
durchschnittliche Größe 105°. Die Epiphysenlinie verläuft im
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Die Coxa vara.
609
Gegensatz zur senkrechten Stellung derselben bei der
kongenitalen Form immer schräg von oben außen nach
innen unten, so daß der Epiphysenwinkel meist nur um ein Ge¬
ringes verkleinert ist. Wir haben aber auch ganz normale Größen
des Epiphysenwinkels gar nicht selten bei der rhachitisclien Form
beobachtet. Es liegt dies daran, daß, wie schon erwähnt, auch hier,
ähnlich wie bei der Arthritis deformans, eine gewisse Kompensation
der Varusstellung des coxalen Femurendes durch Aenderung der
Stellung der Kopfkappe zum abgebogenen Schenkelhals eintritt. Der
Kopf nimmt eine stärkere Adduktionsstellung ein, die Epiphysenlinie
erhält dadurch einen mehr horizontalen Verlauf. Wenn ich auch
für diese stärkere Horizontalstellung der Knorpelfuge bei dem Mangel
einer anatomischen Untersuchung keine sichere Erklärung geben kann,
so scheint es mir doch am wahrscheinlichsten, daß sie bedingt ist
durch ein vermehrtes W r achstum am unteren medialen
Rande des Schenkelhalses, an der sog. Schenkelhals¬
spitze. Wir hätten hier ein Analogon zu dem stärkeren Wachs¬
tum, wie es beim Genu valgum au dem medialen Teil der unteren
Femurdiaphyse stattfindet. Ebenso wie dadurch die untere Femur¬
epiphyse der Diaphyse schief aufgesetzt erscheint, erhält auch die
Kopfepiphyse eine veränderte Stellung zum Schenkelhälse. Für ein
verstärktes Wachstum des Schenkelhalses an der Schenkelhalsspitze
spricht auch der Umstand, daß letztere auf den Röntgenbildern von
rhachitischer Coxa vara immer ganz besonders stark prominiert und
schnabelförmig vorsteht.
Ein weiteres Analogon zu dem rhachitischen Genu valgum
konnte ich dann noch an einigen Röntgenbildern von rhachitischer
Coxa vara wahrnehmen. Ebenso wie beim Genu valgum die Com-
pacta an der Außenseite der Femurdiaphyse verdickt ist, so sah
ich auch des öfteren am oberen medialen Teil des Schenkelhalses
gegenüber dem unteren Teil, der sog. Schenkelhalsspitze, eine
Verdichtung der Knochen Substanz als Ausdruck stärkerer Bean¬
spruchung gerade dieses Teils vom Schenkelhals.
Viel komplizierter sind die Gestaltsveränderungen bei der sog.
Coxa vara adolescentium. Sitz und Form der Verbiegung können ganz
verschieden sein. Bald ist die Deformität durch eine Abbiegung an
dem Ansatzpunkte des Schenkelhalses am Schaft, bald durch eine
Gestaltsveränderung an der Verbindung des Kopfes mit dem Schenkel¬
hals bedingt. Dazu kann eine Verbiegung des Schenkelhalses nach
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610
Carl Helbing.
vorn oder nach hinten oder eine Torsion um seine Längsachse treten.
Hieraus resultieren wieder eine Verlängerung des Schenkelhalses an
seinem oberen Rande und eine Verkürzung des unteren Randes, die
so hochgradig sein kann, daß der Schenkelkopf dem Trochanter minor
anliegt. Der Schenkelkopf weist meist einen ganz intakten Knorpel¬
überzug auf. Rückt derselbe stärker nach unten, so pflegt er pilz¬
förmig den unteren medialen Schenkelhalsrand zu überragen, und der
untere Schenkelhalsrand zeigt eine Einrollung und besonders starke
Verkürzung. Die Strukturverhältnisse verschieben sich natürlich
auch infolge der veränderten Inanspruchnahme des coxalen Femur¬
endes. Es kommt zu einer Verdickung der medialen Wand des
oberen Schenkelschaftes, der untere Teil des Kopfes, der statisch
nicht mehr in Anspruch genommen wird, erleidet eine Atrophie der
Knochenbälkchen, das Gefüge der Spongiosa wird lockerer. Umge¬
kehrt sklerosiert der obere Kopfteil unter der vermehrten Inanspruch¬
nahme. Das Sudecksche Trajektoriensystem ist, wie schon erwähnt,
schwächer entwickelt. Durch das Herabrutschen des Kopfes kommt
es ferner zu einer Verschiebung des Exkursionsgebiets im Hüftgelenk.
Bei der traumatischen Coxa vara im jugendlichen Alter liegt
die Gestaltsveränderung des coxalen Femurendes in den allermeisten
Fällen in einer Verschiebung der Kopfepiphyse gegen den
Schenkelhals. Von 14 Beobachtungen findet sich nur lmal eine
Fraktur innerhalb des Schenkelhalses. Es handelt sich also fast
immer um eine traumatische Epiphysenlösung.
Bei der Coxa vara auf der Basis der Arthritis deformans scheint
es, wie die Untersuchungen Alsbergs und auch die von mir er¬
hobenen Befunde zeigen, die Regel zu sein, daß durch eine mehr
oder weniger starke Horizontalstellung der Kopfgelenkfläche eine
Kompensation der durch die Abknickung des Schenkelhalses am
Schenkelschaft bewirkten Varusstellung eintritt. Hier müssen jedoch
immer die erheblichen Deformierungen an der Gelenkpfanne in Be¬
tracht gezogen werden, so daß die Bestimmung der Varusstellung
am oberen Femurende allein überhaupt keinen Maßstab für die
Varusstellung der Extremität abgibt.
Das klinische Bild der Coxa Tara« .
Das klinische Bild der kongenitalen Coxa vara ist dadurch vor
den anderen Formen charakterisiert, daß die Krankheit schon ganz
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Die Coxa vara.
611
frühzeitig in Erscheinung tritt, gewöhnlich bereits bei den ersten
Gehversuchen. Die meist kräftigen Kinder, in der Mehrzahl Mäd¬
chen, zeigen ohne je über Schmerzen zu klagen, auf der affizierten
Seite einen leicht hinkenden Gang, ähnlich wie bei der kongenitalen
Hüftluxation. Bei doppelseitiger Affektion ist der Gang noch mehr
charakteristisch und läßt sich von dem Gang bei der angeborenen Hüft¬
gelenksverrenkung überhaupt nicht unterscheiden. Daneben besteht
dann auch eine ausgesprochene Lendenlordose. Bei jedem Schritt
sinkt die freie Beckenhälfte herunter. Läßt man die Patienten auf
einem Beine stehen, so bildet eine Beckenhorizontale mit der Achse
des Beins, auf welchem die Patienten stehen, einen spitzen Winkel.
Dieses von Trendelenburg ursprünglich für die kongenitale Hüft¬
gelenksluxation angegebene Symptom haben wir in keinem einzigen
Falle vermißt. Es beruht bekanntlich darauf, daß die pelvitrochan-
teren Muskeln durch das Hochtreten des Trochanter major eine
veränderte Verlaufsrichtung erfahren und nicht mehr im stände sind,
das Becken im Horizontalstand zu erhalten. Abgesehen von einer
schnellen Ermüdbarkeit, welche die Kinder zwingt, sich noch lange
Zeit tragen zu lassen, bestehen gar keine Schmerzen. Auch eine
Druckempfindlichkeit der Hüftgegend ließ sich nie nachweisen. Bis
auf die Abduktion sind alle Bewegungen frei, insbesondere ist auch
die Innenrotation im Gegensatz zu den anderen Formen der Coxa
vara nur wenig behindert.
Objektiv findet sich dann noch ein Hochstand des Trochanter
über der Roser-Nelatonschen Linie um mehrere Zentimeter. Die
Hüftmuskulatur erscheint schwächer ausgebildet. Bei einseitiger
Affektion tritt auch die Schwäche der Oberschenkelmuskulatur gegen¬
über der gesunden Seite zu Tage. Das betroffene Bein steht addu-
ziert, eine erhebliche Außenrotation wird nur selten beobachtet. Auch
in letzterem Punkte sowie in dem Fehlen irgendwelcher Schmerzen
unterscheidet sich die kongenitale Form klinisch von der rhachitischen
Coxa vara. Bei kleinen Kindern läßt sich nur schwer die kongenitale
Coxa vara von der kongenitalen Hüftgelenksluxation unterscheiden,
meist gibt erst das Röntgenbild eine exakte Stütze der Diagnose.
Von Wichtigkeit ist auch der anamnestische Nachweis von an¬
deren kongenitalen Hüftgelenkserkrankungen in der Familie.
Bei älteren Kindern nehmen die Erscheinungen der Schenkel¬
halsverbiegung rasch zu und erreichen schon bei 8—9jährigen Kin¬
dern ganz exzessive Grade.
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612
Carl Helbing.
Bei dem Bilde der rhachitischen Coxa vara ist vor allem zu
betonen, daß die Krankheitserscheinungen alle keinen so bedeuten¬
den Grad annehmen, wie bei der kongenitalen Form. Der Hoch¬
stand des Trochanters überder Ros er-Nölaton sehen Linie beträgt nur
in den seltensten Fällen mehr wie 2 cm. Ausschlaggebend für die
Erkennung der durch Rhachitis bedingten Schenkelhalsverbiegungen
ist im klinischen Bilde die Kombination mit anderen rhachitischen
Deformitäten, insbesondere mit Genu valgum und Pes planus.
Die Symptome einer Coxa vara rhach. können vorgetäuscht
werden durch eine stärkere Verbiegung des Oberschenkelschaftes
nach außen und vorn. Auch hier finden wir eine leichte Abduk-
tionfcbehinderung, watschelnden Gang und sehr häufig auch das
Trendelenburgsche Phänomen. Die Affektion ist meist doppel¬
seitig, kann aber auf dem einen Beine höhere Grade annehmen wie
auf dem anderen. Unter 21 Fällen befanden sich nur 3 mit ein¬
seitiger Erkrankung. Die Hüftgelenke sind häufig druckempfindlich,
und auch spontan klagen die Kinder über Schmerzen in der Hüft-
gegend. Differentialdiagnostisch ist diese Druckempfind¬
lichkeit von ganz besonderer Wichtigkeit gegenüber der kongenitalen
Form. Ferner ist im Gegensatz zur kongenitalen Coxa vara gerade bei
der rhachitischen die Außenrotation der Oberschenkel fast immer
sehr stark ausgeprägt. Die Abduktionsbehinderung ist dagegen
geringer, da, wie dies schon in dem Abschnitt über Anatomie dargelegt
wurde, das Gelenk durch stärkere Adduktionsstellung des Kopfes die
Exkursion der Abduktion trotz der Schenkelhalsverbiegung gestattet.
Wichtig ist auch, daß die Coxa vara rhach. spontan einer
Besserung bezw. Heilung fähig ist, und mit der Zeit die Ver¬
biegung bei älteren Kindern ganz von selbst verschwinden kann,
während sich bei der kongenitalen Form das Leiden mit zunehmen¬
dem Alter verschlechtert.
Die Coxa vara rhach. wird selten vor dem ersten Lebensjahre
beobachtet und stellt bei Kindern über 6 Jahren ein recht seltenes
Vorkommnis dar.
Wenden wir uns zum klinischen Bilde der Coxa vara adoles-
centium, so setzt, wie schon der Name sagt, die Erkrankung erst
im Pubertätsalter ein. Meist bandelt es sich um Individuen mit
grobem Knochenbau, schlecht entwickelter Muskulatur, und häufig
zeigt sich auch eine mangelhafte Hauternährung durch das Auftreten
einer lividen Färbung der Hände und Füße.
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Die Coza vara.
613
Der Beginn der Affektion kann verschieden sein. Entweder
entsteht die Deformität so allmählich und langsam ohne subjektive
Beschwerden, daß die Kranken erst durch die Funktionsstörungen
der Hüfte auf ihr Leiden aufmerksam werden. Oder es geht der
eigentlichen Verbiegung ein akutes Stadium voraus, welches in
starker Schmerzhaftigkeit und hochgradiger Bewegungsbeschränkung
der befallenen Hüfte besteht und zunächst den Verdacht einer ent¬
zündlichen Hüftaffektion nahelegt. Manchmal werden die Schmerzen
und die Bewegungsbeschränkung ausgelöst durch ein ganz geringes
Trauma oder eine stärkere körperliche Anstrengung. Dieses schmerz*
hafte Stadium ist häufig verglichen worden mit dem Bilde des kon¬
trakten Plattfußes (Hofmeister [78], Kocher [96], Borchard [14],
Bayer [11] u. a.). So sind es nach Hofmeister „heftige Schmerzen,
verbunden mit absoluter Versteifung des Gelenks in pathologischer
Stellung, welche beträchtlich über die durch die anatomische Um¬
formung der Knochen vorgeschriebene Abweichung von der Norm
hinausgehen. Gemeinsam ist bei den Zuständen auch das zuweilen
ganz plötzliche Einsetzen des Kontrakturstadiums im Anschluß an
ein Trauma oder eine stärkere Anstrengung und umgekehrt, die oft
überraschend prompte Rückbildung unter dem Einfluß absoluter Bett¬
ruhe und anderer geeigneter therapeutischer Maßnahmen.“
Meist jedoch machen sich die Beschwerden nur dann geltend,
wenn der Patient sein coxales Femurende über dessen Leistungsfähig¬
keit hinaus beansprucht, und sie gehen auch in der Ruhe sofort wieder
zurück. Zuerst machen sie sich gewöhnlich durch leichte Ermüdbar¬
keit beim Gehen und mäßiges Hinken bemerkbar, können sich aber
bis zu den unerträglichsten Schmerzen steigern.
Am erkrankten Beine findet man jetzt schon eine meßbare
Verkürzung, die großen Schwankungen unterliegt und bis zu 7 cm
betragen kann. Die Spitze des Trochanter ist nach oben gerückt
und steht mehrere Zentimeter über der R oser- Nölatonsehen Linie.
Zugleich macht sich auch eine Verbreiterung der befallenen Hüftgegend
bemerkbar, die besonders bei der Betrachtung des Patienten von vorn
in die Augen springt. Außerdem kann die Spitze des Trochanter
noch eine Verbiegung nach hinten aufweisen. An Stelle der normaler¬
weise vorhandenen Einziehung über dem Trochanter findet sich ein
Vorsprung und medial und oberhalb dieses Vorsprungs meist eine senk¬
recht verlaufende Weichteilfurche. Die Muskulatur der Gesäßgegend
des ganzen befallenen Beines, besonders aber des Oberschenkels ist
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614
Carl Helbing.
schwächer als die der gesunden Seite. • Auch die vordere Gelenkgegend
kann Verdickt und die Inguinalfurche verstrichen erscheinen. ' Wir
finden dies besonders dann, wenn mit der Abknickung des Schenkel¬
halses noch eine Verbiegung mit der Konvexität nach vorn vorhanden
ist. Es tritt dann in der Inguinalgegend eine Vorwölbung auf, die sich
hart anfühlt und bei genauer Untersuchung durch ihre Lage außerhalb
des Gelenks als der deformierte Schenkelhals erkannt werden kann.
Von allen StellungsVeränderungen des Beines ist die konstan¬
teste die Adduktionsstellung. Die betroffene untere Extremität steht
entweder parallel zur Körperachse oder derselben noch genähert. Es
resultiert daraus immer eine Abduktionsbeschränkung, während alle
anderen Bewegungen frei sein können. Zur Varusstellung kommt
dann am häufigsten noch eine Auswärtsrotation des Beines hinzu,
welche die Einwärtsrotation in verschiedener Stärke beeinflußt, manch¬
mal noch eine Streckstellungdes Oberschenkels mit beschränkter Beuge¬
beweglichkeit. Diese Trias der Symptome hat bekanntlich Kocher
für die typische Coxa vara adolescent. aufgestellt. Durch die späteren
Untersuchungen von Hofmeister [78] und Nasse [140] wissen
wir jedoch, daß auch Einwärtsrotation und Flexion des Oberschenkels
sich mit der Schenkelhalsverbiegung kombinieren kann. Nie wird das
Trendelenburgsche Phänomen bei ausgesprochenen Fällen vermißt
Die Verkürzung des Beines ist nur durch das Höhertreten des Tro¬
chanters bewirkt; mißt man die Entfernung des Trochanter major
vom Malleol. ext. auf der kranken und gesunden Seite, so erhält
man keine Differenz in den Längenmaßen.
Drehmann [40] gibt bei der Coxa vara adolescent. als diffe¬
rentialdiagnostisches Symptom gegenüber der rhachitischen Form an,
daß bei spitzwinkliger Beugung im Hüftgelenk der Oberschenkel sich
von der medianen Ebene des Körpers entfernt und abduziert wird,
also aus der Adduktionsstellung in Streckstellung bei der Beugung
in eine Abduktionsstellung hineingebracht wird. Daß dieses Symptom
der rhachitischen Coxa vara fehlt, liegt nach Drehmanns Ansicht
daran, daß bei der statischen Coxa vara die Abknickung hauptsäch¬
lich in der Epiphysenlinie des Schenkelhalses und nicht wie bei jener
im Trochanter liegt. In den von uns beobachteten Fällen von stati¬
scher Coxa vara sind wir jedoch nicht im stände gewesen, diese Be¬
obachtung zu bestätigen.
Bei dem klinischen Bilde der durch Osteomalacie verursachten
Coxa vara stellt die Schenkelhalsverbiegung nur ein im Verhältnis
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Die Coxa vara.
615
zu den sonstigen Krankheitserscheinungeri in den Hintergrund tre-‘
tendes Symptom dar. Der Gang der osteomalacischen ist bekannt¬
lich aber auch, ohne daß eine Schenkelhalsverbiegung zu bestehen
braucht, ein mühsamer. Denn das Gehen ist durch die Kleeblatt¬
form des Beckens und die Annäherung und Stellungsveränderung der
beiden Hüftgelenkspfannen ohnehin erschwert, so daß die Kranken
mit kleinen und unsicheren Schritten das Becken vorwärts schieben.
Bei der Deformierung des coxalen Femurendes durch fibröse
Ostitis wird das klinische Bild, wie es scheint, regelmäßig noch
durch eine Abknickung des oberen Teils des Femurschaftes ver¬
ändert. Das obere Femurende ist dadurch hirtenstabförmig gekrümmt.
In der Anamnese geben uns die auf geringe Traumen eintretenden,
häufig sich wiederholenden Frakturen an der unteren Extremität
eventuell einen Fingerzeig, an diese seltene Krankheit zu denken.
Die osteomyelitische und tuberkulöse Coxa vara kann von den
anderen Formen meist nur auf Grund der Anamnese und unter Zu¬
hilfenahme des Röntgenbildes unterschieden werden. Die Deformität
erreicht hier selten einen hohen Grad. Manchmal wird die Diagnose
durch gleichzeitig bestehende Fisteln oder Abszesse erleichtert.
Bei dem durch Cystenbildung veranlaßten klinischen Bilde der
Coxa vara ist zu bemerken, daß die Verkürzung der befallenen Extre¬
mität gewöhnlich sehr schnell zuzunehmen pflegt und leicht Spontan¬
frakturen auftreten. Ob es sich um eine gutartige rein cystische Neu¬
bildung handelt, oder ob der im Röntgenbilde sichtbaren cystischen
Auftreibung ein maligner Tumor zu Grunde liegt, läßt sich in den
Anfangsstadien der Neubildung nicht entscheiden (cf. Beob. 51).
Auch ist ohne operative Autopsie wohl nicht immer eine sichere
Abgrenzung gegen die durch Tuberkulose oder Osteomyelitis verur¬
sachte Einschraelzung des Knochens am coxalen Femurende möglich
(cf. Beob. 52 u. 54).
Außerordentlich große Schwierigkeiten bereitet die Unterscheidung
der statischen Coxa vara von der traumatischen. Denn das klinische
Bild der traumatischen ist ganz dasselbe wie das der Coxa vara adoles-
cent. Wir können nur bei sorgfältigster Prüfung der Anamnese und
genauem Studium des Röntgenbildes eventuell eine Entscheidung treffen.
Da aber einerseits leichte Traumen häufig die ersten Erscheinungen
der statischen Coxa vara auslösen, dieselben Traumen aber auch ge¬
nügen, um Epiphysenlösungen bei jugendlichen Individuen zu veran¬
lassen, anderseits das Röntgenbild auch bei der typischen Coxa vara
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616
.Carl Helbing.
adolescent. Abrutschungen des Kopfes zeigt, so gelingt es im einzelnen
Falle nicht immer, mit Exaktheit eine sichere Diagnose zu stellen.
Die Therapie der Coxa vara.
Bei der Frage nach der Therapie der Coxa vara ist von ein¬
schneidender Bedeutung die Aetiologie des Leidens. Bei der kon¬
genitalen Form, bei der es sich um recht schwere Veränderungen
des coxalen Femurendes handelt, wird man natürlich mit einfachen
therapeutischen Maßnahmen im allgemeinen nicht auskommen. Um¬
gekehrt wissen wir aus unserem Beobachtungsmaterial, daß wohl die
größere Anzahl der Fälle von rhachitischer Coxa vara bei geeigneter
antirhachitischer Behandlung ohne lokales Vorgehen zur Ausheilung
gelangt. Bei der durch Tuberkulose verursachten Coxa vara wird ein
operativer Eingriff im ganzen zu verwerfen sein, und die Fälle von
Cystenbildung werden wiederum nur durch Beseitigung des Krankheits¬
herdes therapeutisch günstig beeinflußt werden können. Wir werden
also immer nur mit Berücksichtigung der Aetiologie des Leidens einen
Heilplan entwerfen können.
Klar ist auch, daß wir eine Coxa vara im entzündlichen Stadium
anders zu behandeln haben, als eine bereits ausgebildete Form mit
schwerer Verbiegung.
Prophylaktische Maßnahmen sind besonders in jenen Fällen an¬
gezeigt, in welchen das Grundleiden einen den Knochen erweichenden
Prozeß darstellt, also bei der Rhachitis, Osteomalacie, Arthritis de-
formans und Tuberkulose. Hier werden wir durch Bettruhe, even¬
tuell Streckverbände und möglichste Schonung der erkrankten Extre¬
mität einer Verbiegung entgegenarbeiten können.
Bei der Arthritis deformans muß uns besonders das Bestreben,
der sich entwickelnden Adduktionsstellung entgegenzuarbeiten, leiten,
und wir können den Zerstörungsprozeß durch passende Schienenhülsen¬
apparate mit Extensions- und Abduktionsvorrichtung aufhalten und
die Abduktionsbewegungen durch Massage, aktive und passive Be¬
wegungen im Sinne der Abduktion meist recht gut erhalten.
Das schmerzhafte Stadium des Leidens wird außerordentlich
günstig durch Bettruhe und Extension beeinflußt, so daß meist schon
nach mehreren Wochen die Patienten wieder schmerzfrei gehen können.
Auch in jenen Fällen, in welchen bereits eine erheblichere Deformie¬
rung des coxalen Femurendes mit Verkürzung der Extremität vor-
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Die Coxa vara.
617
handen ist, hat man anfangs noch den Versuch mit diesen Ma߬
nahmen zu machen. Fabricante [42] und Bayer [11] wollen
sogar durch die bloße, länger durchgeführte Extension eine bestehende
Verkürzung des Beins verringert oder beseitigt haben. Bei zwei von
den drei von Fabricante beobachteten Patienten handelte es sich
wohl um eine rhachitische Coxa vara, die — wie wir wissen — auch
ohne Extensionsbehandlung einer spontanen Heilung zugänglich ist.
Ist durch die Extension relative Schmerzfreiheit erzielt, so geht man
zur gymnastischen Behandlung und Massage über. Besonderer Wert
ist auf die Kräftigung der pelvitrochanteren Muskulatur zu legen.
Diese erreicht man am besten durch zweimal täglich vorzunehmende
Massage, durch Uebungen an Pendelapparaten, welche eine Abduktion
in der Hüfte anstreben, und durch passive und aktive Abduktions¬
bewegungen, eventuell kombiniert mit Widerstandsgymnastik. Die
Uebungen werden am besten in Rücken- und Seitenlage unter Fixa¬
tion des Beckens vorgenommen. Setzen wir diese Behandlung für
längere Zeit mit eiserner Konsequenz fort, so werden wir die Genug¬
tuung haben, unsere Patienten nicht nur schmerzfrei gemacht, sondern
ihnen auch die volle Gebrauchsfähigkeit des Gliedes wiedergegeben zu
haben.
Wenn wir mit diesen Maßnahmen nicht zum Ziel gelangen, so
rechtfertigt sich der Versuch, die Abduktionsstellung des Beines in
Narkose zu erzwingen und sie durch Gipsverband für einige Wochen
festzuhalten. Oft gelingt es durch die Narkose schon allein, die
Kontraktur der Adduktoren zu überwinden. Manchmal empfiehlt es
sich jedoch, sie durch die subkutane Tenotomie zu beseitigen. Wir
haben diese kleine Operation, die von Vulpius [186] zuerst vor¬
geschlagen wurde, in mehreren Fällen mit geradezu idealem Erfolg
ausgeführt.
Erst wenn die Deformierung des coxalen Femurendes so hoch¬
gradig ist, daß eine starke Beeinträchtigung des Gehvermögens auch
im stationären späten Stadium resultiert, besonders aber dann, wenn
die Affektion doppelseitig ist, kommen operative Eingriffe in Betracht.
Bei einseitiger Erkrankung wird man sich auch bei stärkerer Bewe¬
gungsbeschränkung nicht ohne weiteres zu einem blutigen Eingriff
entschließen, da die Funktion des Beins für den Gehakt immer noch
eine gute sein kann. Anders liegt es bei doppelseitigen Erkrankungen,
bei welchen, wie z. B. die Beobachtungen 9 u. 13 zeigen, das Gehen
überhaupt kaum mehr möglich sein kann.
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618
Carl Helbing.
Der erste, der bei der Coxa vara eine blutige Knochenoperation
ins Auge gefaßt hat, ist Fiorani [44] gewesen.: er macht den Vor¬
schlag, unter Umständen die Osteotomie des Schenkelhalses zu ver¬
suchen oder gar durch Osteoklase der gesunden Extremität die Ver¬
kürzung auszugleichen.
Dann empfahl Hofmeister [75] auf Grund theoretischer Er¬
wägungen, ohne selbst die Operation ausgeführt zu haben, «durch
die Osteotomia subtrochanterica mit nachheriger Fixation des Beins
in Abduktion und gleichzeitiger Innenrotation den Schenkelschaft zum
Gelenkende in eine Lage zu bringen, durch welche der mechanische
Effekt der Schenkelhalsverbiegung kompensiert wird“. Bevor diese
Operation zur Ausführung gelangte, wandte sich Kraske [104]
gegen diesen Vorschlag mit dem Argument, daß man durch die sub-
trochantere Osteotomie im besten Falle die fehlerhafte Stellung des
Beins eben nur kompensiert, aber nicht korrigiert. Das obere Ende
des Femur, also gerade der Teil, an welchem die pelvitrochanteren
Muskeln ihren Ansatzpunkt haben, bleibe nach wie vor in seiner
fehlerhaften Lage zum Becken. In dem Bestreben, die Verbiegung
des Schenkelhalses zu korrigieren, führte er die extraartikuläre keil¬
förmige Osteotomie am Schenkelhals aus und entfernte aus ihm einen
Knochenkeil mit der Basis nach vorn und oben.
Dieser Operationsmethode haftet der Nachteil an, daß durch
die Entfernung eines Keils aus dem Schenkelhals das schon ohne¬
hin verkürzte Bein noch kürzer werden muß.
Im Jahre 1896 führte dann Büdinger [26] die lineare Osteo¬
tomie am Schenkelhälse aus, wobei nach Abduktionsstellung des Beins
ein nach unten sich verbreiternder Spalt entsteht, der sich durch
Callusmasse ausfüllt. Zweck dieser Operation war der, „dem abdu-
zierten und auswärts rotierten Schenkelhälse den Schaft in eine Stel¬
lung gegenüber zu stellen, wie sie dieser Lagerung entsprechen würde,
wenn sich beide in ihrem richtigen Verhältnis befänden.“ Beide
Operationsmethoden haben die Gefahr der Gelenkeröffnung ebenso
wie die von Mikulicz (Henle [64]) empfohlene und ausgeführte.
Letzterer ging so vor, daß er den knöchernen Sporn, welcher am
oberen Rande des proximalen Teiles des Schenkelhalses sich fand
(wie wir ihn auch in Beobachtung 44 und 45 sehen) mit dem Meißel
resezierte und ebenso den vorn gelegenen, die Innenrotation hemmen¬
den Vorsprung entfernte.
Späterhin empfahl dann Hofmeister [77] die Osteotomia
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Die Coza vara.
619
intertrochanterica, indem er mit ihr die Außenrotation des Beins
besser zu bekämpfen glaubt. Seine Durchtrennungslinie liegt noch
oberhalb des Trochanter minor und verläuft schräg nach außen und
oben in den Trochanter major hinein.
Codivilla [31] hat, um die Deformität an ihrem Sitz anzu¬
greifen, keinen Substanzverlust dabei zu machen und die Eröffnung
des Hüftgelenks zu vermeiden, eine bogenförmige Osteotomie in der
Linea intertrochanterica ausgeführt, die er als Scharnierosteotomie be¬
zeichnet. Er glaubt, daß damit den beiden Knochenenden nur eine
scharnierartige Verschiebung gegeneinander gestattet wird. — In
Wirklichkeit sind diese theoretischen Ueberlegungen alle insofern
illusorisch, als das proximale Ende in seiner Stellung überhaupt
nicht beeinflußt werden kann. Ferner haben wir es heute gerade
bei den operativ anzugreifeuden schweren Fällen nicht mit einer
Deformität zu tun, die nur im Schenkelhals oder nur an dessen
Uebergang in den Schenkelschaft ihren Sitz hat, sondern mit einer
Kombination von Verbiegungen im ganzen coxalen Femurende, so
daß die Scharnierosteotomie auch nicht im stände ist, die betreffende
Deformität vollkommen auszugleichen.
Die beiden zuletzt geschilderten Verfahren werden ja bei einiger
Sorgfalt eine Gelenkverletzung vermeiden lassen, doch sind sie trotz
ihrer vielleicht theoretischen Vorzüge nicht allzusehr empfehlenswert
und wohl auch selten bisher angewendet worden, da sie, technisch
schwierig, ohne größere Weichteilverletzungen nicht auszuführen
sind und so einen verhältnismäßig großen Eingriff darstellen.
Viel einfacher gestalten sich die Operationsverfahren, welche
nicht am Schenkelhals, sondern am Schenkelschaft unterhalb des
Trochanter major eine Kontinuitätstrennung des Knochens bewirken.
Es können hier überhaupt nur zwei Operationsmethoden miteinander
konkurrieren. Bei der einen von Terrier-Hennequin angegebe¬
nen Methode wird der Oberschenkel innerhalb des Trochanter von
oben aus nach innen unten schräg durchmeißelt. Dieses als „schräge
subtrochantere Osteotomie nach innen“ bezeichnete Operationsverfahren
ist zwar technisch sehr einfach, hat aber den Nachteil, daß nach der
Korrektur des adduzierten Beines die Berührungsflächen der durch¬
trennten Knochen verhältnismäßig klein sind und deshalb die Gefahr
einer Pseudarthrosenbildung keine ganz geringe ist.
Aus diesem Grunde bevorzugen wir die von Hoffa [71] an¬
gegebene Osteotomia subtrochanterica obliqua nach außen,
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620
Carl Helbing.
bei der die schrägen Knochenflächen auch nach der Korrektion breitere
Berührungsflächen besitzen. Wir haben uns von der ganz gefahrlosen
Operation, die sogar subkutan von einem kleinen Hautschnitt aus ge¬
macht werden kann, in einer sehr großen Anzahl von Fällen über¬
zeugt. Speziell bei der Coxa vara sind wir im stände, mit ihr die
bestehende Adduktion und Außenrotation vollkommen auszugleieher.
besonders wenn wir sie mit der subkutanen Durchschneidung der
Adduktoren kombinieren. Der durch die Korrektion entstehende
Defekt in der Kontinuität des Knochens wird durch Callusmasse
ausgefüllt, die anfangs bajonettförmige Gestalt des coxalen Femur¬
endes gleicht sich nach kurzer Zeit vollkommen aus. Die schräge
subtrochantere Osteotomie nach Hoffa hat noch den besonderen
Vorzug, daß sie bestehende Verkürzungen durch entsprechende Ex¬
tension des Beines auszugleichen gestattet; wir haben dadurch eine
wirkliche Verlängerung des Beins um 3—4 cm erzielen können.
Wird das in Abduktion fixierte Bein später bei den Gehversuchen
adduziert, so rückt der Trochanter major tiefer, die pelvitrochantere
Muskulatur hat wieder eine annähernd normale Verlaufsrichtung und
die Folge ist, daß häufig auch das Trendelenbur gsche Phänomen
verschwindet.
Für uns ist deshalb die schräge subtrochantere Osteotomie nach
Hoffa die fast ausschließlich geübte blutige Methode zur Be¬
seitigung der schwereren, durch die Coxa vara gesetzten Deformitäten.
Bei der Wichtigkeit dieser Operationsmethode möchte ich die Technik
an dieser Stelle so beschreiben, wie sie in der Hof faschen Klinik
gehandhabt wird.
Der Patient wird auf die gesunde Seite gelagert, nach gründ¬
licher Desinfektion der kranken Beckenhälfte, des Oberschenkels und
besonders der Adduktorengegend führen wir 2 cm unterhalb der Spitze
des Trochanter beginnend einen Längsschnitt von ca. 10 cm durch
die Haut aus. Die freiliegende Fascie, die sich meist als stark ge¬
spannt erweist, wird nicht nur der Länge nach inzidiert, sondern auch
quer mit der Schere zur Entspannung eingekerbt. Nach stumpfer
Durchtrennung der Muskulatur wird das Periost mit dem Messer
durchtrennt und mit den Weichteilen durch gekrümmte Elevatorien
vom Knochen möglichst zirkulär abgehoben. Die Wahl der Breite
des Meißels richtet sich nach der Dicke des Knochens, die Richtung
der Meißelfläche nach dem Grade der Verkürzung. Bei stärkeren
Verkürzungen wird man der Meißelfläche einen möglichst steilen
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Die Coxa vara.
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Verlauf geben müssen und etwas weiter entfernt von der Spitze des
Trochanters den Meißel aufsetzen. Der Knochen wird dann in der
gewünschten schrägen Richtung bis auf die letzten inneren Corticalis-
1 ameilen durchmeißelt, der stehen gebliebene Rest durch Vermehrung
der Adduktionsstellung des Beins stumpf eingebrochen. Bei stärkerer
-A^dduktion wird jetzt meist noch die Tenotomie der Adduktoren not¬
wendig, die wir von einer kleinen Einstichöffnung aus subkutan von
außen nach innen am besten mit einem geknöpften Tenotom ausführen.
Damit die kleine Inzisionswunde möglichst entfernt von den Geschlechts¬
teilen sich befindet und vor Verunreinigung genügend geschützt bleibt,
empfiehlt es sich, die Einstichöffnung unter Verschiebung der Haut
nach oben auszuführen und die Weichteile an der gewünschten Stelle
zu durchschneiden. Läßt man dann mit dem Zug an der Haut nach,
so kommt die kleine Hautwunde 4—5 cm unterhalb der Inguinalfalte
zu liegen. Auch jetzt ist manchmal noch nicht der Weich teil wider¬
stand gebrochen und eine subkutane Durchtrennung der Fascia lata
und der an der Spina ant. sup. inserierenden Muskeln 2—3 cm unter¬
halb derselben notwendig. Durch manuelle oder maschinelle Trak¬
tionen an der zu verlängernden Extremität reißen wir die noch stehen
gebliebenen, widerstandleistenden Weichteilreste stumpf durch. Nach¬
dem wir uns überzeugt haben, daß nach Korrektion des Gliedes in
der gewünschten Stellung die beiden Knochenwunden einander gut
berühren, verschließen wir die Weich teil wunden mit einigen tief
greifenden Knopfnähten bis auf den unteren Wundwinkel, in welchen
ein kleiner Tampon eingeführt wird.
Ein aseptischer Verband sorgt dafür, daß bei der Lagerung
des Patienten vom Operationstisch auf den Extensionstisch die Wunde
gut abgedeckt bleibt. Während der Extension haben wir unsere Auf¬
merksamkeit darauf zu richten, daß das Bein, welches immer die Ten¬
denz hat, nach außen zu rollen, von einem Assistenten leicht nach
einwärts gedreht gehalten wird. Wir legen dann nach guter Polste¬
rung des Knies einen Gips verband an, der von den Extensionslaschen
ab das Bein, das Becken und den Rumpf bis zur unteren Thorax¬
apertur einbezieht und modellieren ihn gut den Oberschenkel-
kondylen, dem Tuber ischii und den Darmbeinkämmen an. Ist
der Verband hart geworden, so wird die Extensionslasche abge¬
nommen, und der Verband noch weiter durch Einbeziehung des
Fußes in den Gipsverband ergänzt.
Die Nachbehandlung gestaltet sich sehr einfach. Der Tampon
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Carl Helbing.
wird nach 24 Stunden durch ein Fenster im Gi'psverband entfernt,
die Nähte nach 8 Tagen; der Patient kann dann im Gips verband
herumgehen. Nimmt man nach 5—6 Wochen den Verband ab.
können die Patienten meist sofort gehen. Man darf sich aber jetzt
noch nicht mit der verbesserten Stellung des Beins zufrieden geben,
sondern muß durch energische Massage und gymnastische Uebungen
auch die Muskulatur so kräftigen, daß das funktionelle Resultat eben¬
falls ein vollkommenes wird. Bei hochgradigster Adduktionsstellung
wird die Stellungsverbesserung des Beines noch zweckmäßiger durch
die subtrochantere Keilosteotomie nach Hoffa erreicht.
Die nachfolgenden schematischen Zeichnungen (s. nächste Seite)
zeigen den Effekt der verschiedenen oben geschilderten Operations¬
methoden am besten.
Die Resektion des Schenkelkopfes und Schenkelhalses
kommt nur in den allerseltensten Fällen in Betracht. Wir werden
uns zu ihr nur dann entschließen, wenn in Fällen von hochgradig¬
ster Coxa vara die Gebrauchsfähigkeit des Beins vollkommen auf¬
gehoben ist. Die Operation pflegen wir so auszuftihren, daß wir,,
falls noch ein Teil des Schenkelhalses vorhanden ist, diesen Rest
nach Resektion des Kopfes mit seiner angefrischten Fläche in die
Pfanne einstellen. Ist so gut wie gar kein Schenkelhals vorhanden,
so pflegen wir die Spitze des Trochanter durch einige Meißelschläge
wund zu machen und abzurunden und sie dann in die Pfanne zu
bringen. Manchmal gelingt dies erst nach Resektion eines Teils
des Trochanters und nach ausgiebiger Durchschneidung der wider¬
standleistenden Weichteile.
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Höftneister
/ OsUotomia, intertrochanterica f
Büdinger
( Lineare Osteotomie)
Codioillxi
f Oiarnier osteotomie)
v. Mikulicz
(AbmeisseUmg des Schenkel-
halsspoms)
(Osteotomia, subtrochanLerica,.
obtiqiuL int.)
(Osteotomia subtrochanl
obäquxL eocl.)
^ 4 ?
EofTcb
iSubtrochontere Keilosteotomie )
I Loge des ejodüerten Äeüs.
H Stellung des Femur nach, der Operation,.
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182. Sud eck, Statische Schenkelhalsverbiegung nach Trauma (Coxa vara trau¬
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183. Derselbe, Zur Anatomie und Aetiologie der Coxa vara adolescentium.
Zugleich ein Beitrag zu der Lehre von dem architektonischen Bau des
koxalen Femurendes. Verhandlg. der Deutschen Ges. f. Chir. 1894, und
Arch. f. klin. Chir. Bd. 59.
184. Derselbe, Coxa vara. Deutsche med. Wochenschr. 1901, Nr. 12.
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Dio Coxa vara.
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199. Zehn der, Ueber Schenkelhalsverbiegung. Zentralbl. f. Chir. 1897, Nr. 9.
200. Zeiß, Beiträge zur pathologischen Anatomie und zur Pathologie des Hüft¬
gelenkes. Verhdlg. der kaiserl. Leopold-Akademie der Naturforscher.
Breslau 1851.
201. Zesas, Ueber Resektion des Hüftgelenkes bei Arthritis deformans. Deutsche
Zeitschr. f. Chirurgie Bd. 27.
202. Derselbe, Die Coxa vara und ihre Beziehungen zu inneren Krankheiten.
Zentralbl. f. d. Grenzgeb. d. Med. u. Chir. 1904, Bd. 7.
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XXXII.
Ueber Hüftgelenksverrenkimgen nach Coxitis im
Säuglingsalter.
Von
Dr. Fritz Wette-Berlin,
Assistent der Hof faschen Klinik.
Mit 3 in den Text gedruckten Abbildungen.
Auf den beiden letzten Kongressen der Deutschen Gesellschaft
für orthopädische Chirurgie 1904 und 1905 lenkte Dreh mann
wieder die Aufmerksamkeit auf jene Fälle von Hüftverrenkungen, die
im Anschluß an eine akute Gelenkentzündung im Säuglingsalter auf-
treten. Drehmann berichtete über eine Reihe von einschlägigen
Fällen aus seiner Praxis und hob besonders hervor, daß diese
sich in ihren klinischen Symptomen von angeborenen Hüftverren¬
kungen nicht unterscheiden ließen. Ich verfüge über 3 Fälle der
Hoffaschen Klinik aus den letzten Jahren, die wegen ihrer ein¬
wandsfreien Anamnese und wegen der sehr instruktiven Röntgen¬
bilder geeignet sind, zur Kasuistik dieser relativ seltenen Deformi¬
tät beizutragen und die Differentialdiagnose zwischen ihr und der
angeborenen Hüftverrenkung sicherzustellen.
Die fraglichen Gelenkentzündungen treten meist in den ersten
Lebenswochen auf und befallen mit Vorliebe das Hüft- und Knie¬
gelenk. Fast durchweg sind sie charakterisiert durch die gute ana¬
tomische und funktionelle Restitution des Gelenkapparates. Patho¬
logisch-anatomisch stellen sie sich dar als rein synoviale oder epi-
physäre Entzündungen mit sekundärer Beteiligung des Gelenks. Die
in ihrem Gefolge auftretenden Luxationen sind demnach nach der
Volkmann sehen Einteilung meist als Distensionsluxationen anzu¬
sehen; nur in seltenen Fällen kommt eine Destruktionsluxation zu
stände infolge hochgradiger Zerstörung der Gelenkenden.
In der Literatur sind diese merkwürdigen Gelenkentzündungen
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Ueber Hüftgelenksverrenkungen nach Coxitis im Säuglingsalter. 633
— merkwürdig vor allem wegen der häufig ganz unklaren Aetio-
logie — wohl bekannt. Im Handbuch der praktischen Chirurgie
schreibt Hoffa bei dem Kapitel über Coxitis des ersten Kindes¬
alters folgendes: »Häufig sehen wir eitrige Synovitiden des Hüft¬
gelenks ohne jede nachweisbare Veranlassung entstehen (ohne Scharlach,
Masern etc.), bei denen vor allem Tuberkulose und Lues mit Sicherheit
auszuschließen sind. Unter Fieber, Schmerzen, Anschwellung und meist
Rötung der umgebenden Weich teile vollzieht sich der Gelenkerguß,
der dann zur Inzision vom Arzte oder zur spontanen Perforation
führt. Der Eiter hat eine stark schleimige Beschaffenheit, die Syn¬
ovialmembran ist hochrot gefärbt, stark geschwollen. Der Verlauf
ist meist ein günstiger; die Heilung erfolgt gewöhnlich ohne oder
mit nur geringer Beweglichkeitsbeschränkung; doch kommen auch
Luxationen vor. Destruktion des Gelenks ist selten, die Beweg¬
lichkeit des Gelenks dann gewöhnlich noch leidlich gut erhalten.
Wir haben also auch hier im großen und ganzen das Bild der
katarrhalischen Gelenkeiterungen vor uns, nur daß hier die Schmerzen
mehr in den Vordergrund treten. Exitus letalis wurde nur bei bereits
vorher sehr heruntergekommenen Kindern beobachtet. Am häufigsten
sehen wir diese Coxitiden im ersten Lebensjahr, nur selten jenseits des
vierten Lebensjahrs auftreten. Von Krause wurden in 2Fällen im Eiter
Streptokokken vorgefunden, in den meisten Fällen stehen zuverlässige
bakteriologische Untersuchungen noch aus. An Eingangspforten für
Mikroorganismen fehlt es in dem frühesten Kindesalter wahrlich
nicht; beim Zustandekommen septischer Infektionen in dieser Periode
wird namentlich dem vom Darm aus in die Zirkulation gelangenden
Bacterium coli in jüngster Zeit eine große Rolle zugeschrieben. Am
wahrscheinlichsten ist es wohl, daß es sich in diesen Fällen um eine
primär osteomyelitische Erkrankung der Femurepiphyse handelt.“
Aehnlich schreibt König in seinem Lehrbuch der speziellen
Chirurgie: »Wir wollen hier noch darauf hinweisen, daß auch im
frühesten Kindesalter eitrige Coxitiden zur Beobachtung kommen.
Die Gefahr der eitrigen, zur Perforation kommenden Coxitis ist
übrigens bei kleinen Kindern aus dem ersten Lebensjahr offenbar
geringer als bei Erwachsenen. Sie heilen nicht selten selbst nach
Perforation des Eiters mit beweglichem Gelenk aus, ein Umstand,
der wohl dadurch erklärt werden muß, daß der Kopf noch knorpelig
ist. Ein anderer Teil führt aber auch zu Luxation und
kann in der Folge mit Kongenitalluxation verwechselt
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634
Fritz Wette.
werden, oder er führt zu Destruktion und Verkürzung, meist aber
auch zu beweglichem, leidlich gutem Gelenk.“
Bezüglich der Aetiologie dieser Gelenkentzündungen herrscht
noch vielfach völliges Dunkel. In den Fällen freilich, wo eine
Gonorrhoe der Mutter oder des Kindes nachgewiesen werden kann,
wird man geneigt sein, die Gelenkentzündung auf eine gonorrhoi¬
sche Infektion zurückzuführen. In einzelnen Fällen ist ja auch der
bakteriologische Nachweis hierfür erbracht worden. Anderseits gibt
es aber eine ganze Reihe von Fällen, wo weder von Gonorrhoe, noch
auch von Tuberkulose oder Lues die Rede sein kann. Man hat hier
an Infektion von seiten der Nabelschnur gedacht oder von seiten
der entzündeten mütterlichen Geburtswege oder auch an einen Ge¬
lenkrheumatismus, der ja nach neueren Beobachtungen (Schloßmannf
auch schon im frühesten Kindesalter Vorkommen soll. Drehmann
meint, daß vielfach eine Autoinfektion vom Darm aus auf dem Boden
einer Enteritis das ursächliche Moment abgebe. Nur erhebt sich
hier die Frage, warum denn diese Gelenkentzündungen relativ so
selten auftreten, da doch fast jeder Säugling einmal eine leichtere
oder schwerere Enteritis durchmacht. Derselbe Einwand gilt auch
für viele der auf Gonorrhoe zurückgeftihrten Gelenkentzündungen.
Warum führt die so häufige gonorrhoische Erkrankung, namentlich
im Vergleich zu dem Verlauf der gonorrhoischen Infektionen beim
Erwachsenen, wo eine Arthritis gonorrhoica sicher nicht zu den
Seltenheiten gehört, beim Säugling so selten zu Gelenkentzündung?
Sicher spielen hier eine Reihe von bisher unbekannten Momenten
mit, deren Erkenntnis einer genauen bakteriologischen und patho¬
logisch-anatomischen Untersuchung eines größeren Materials Vor¬
behalten bleibt.
Bezüglich der uns hier speziell interessierenden Hüftluxationen,
die im Anschluß an Coxitis im Säuglingsalter sich ausbilden, finden
wir bereits in der älteren Literatur vereinzelte Befunde beschrieben.
Der erste derartige Fall, den ich in der Literatur habe auffinden
können, ist 1842 bei v. Ammon erwähnt: »Für die Betrachtung des
Wesens dieses Uebels (= der angeborenen Hüftluxation) ist es nicht
ohne Einfluß, hieran sogleich noch eine Beobachtung Albers zu
reihen. Aus derselben geht nämlich hervor, daß wirklicher Ent¬
zündungszustand des Hüftgelenks nebst seinen Folgen diese Luxation
oder Ektopie des Kopfes bewirken kann. Albers beobachtete ein
Kind, welches sogleich nach der sonst natürlichen Geburt unruhig
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Ueber Hüftgelenksverrenkungen nach Coxitis im Säuglingsalter. 635
war, immer schrie und Konvulsionen bekam. Die Ursache dieser
Unruhe wurde nicht eher entdeckt, als bis am Hüftgelenk eine Ge¬
schwulst sichtbar wurde, welche wuchs und sich bis an die Weichen
ausdehnte. Hier entstand ein Abszeß, welcher bei der Eröffnung
eine Menge Eiter ergoß. Das Kind starb bald darauf an Abzehrung.
Als man es sezierte, fand man die Pfanne sowie den Kopf und Hals
des Schenkelbeines durch Karies zerstört.“ Einen zweiten Fall hat
1871 Mettenheimer beschrieben. Derselbe beobachtete eine Hüft¬
gelenksentzündung bei einem 8wöchentlichen Knaben. Es trat Exitus
ein und die Sektion ergab, daß der Kopf frei beweglich außerhalb
der Pfanne lag. Arbeiten aus der neueren Zeit sind bei Drehmann
aufgeführt.
Die 3 Fälle, über die ich berichten kann, sind kurz folgende:
Fall 1. L. Christa, 2 1 /* Jahre. 20. November 1905.
Eltern und Geschwister gesund. Der fünfte Bruder ist hier
wegen eines angeborenen Klumpfußes operiert worden. Geburt
normal. Wenige Tage nach der Geburt erkrankte das Kind mit
Fieber und Schmerzen in beiden Hüften und im rechten Kniegelenk.
Hier bildeten sich nacheinander mehrere große Abszesse aus, die
vom Arzt inzidiert wurden und eine große Menge Eiter entleerten.
Die Krankheit zog sich über 9 Wochen hin. Während der ganzen
Zeit hat das Kind mit hochangezogenen Knieen dagelegen. Erste
Laufversuche am Ende des zweiten Lebensjahres. Gang von Anfang
an hinkend.
Kräftig entwickeltes, sonst gesundes Kind. Beiderseits in der
Glutäalgegend sowie am rechten Knie mehrere kleine eingezogene
Narben, von Abszeßinzisionen herrührend. Hüftgegend beiderseits
verbreitert. Beine leicht flektiert und adduziert. Bewegungen frei
bis auf die Abduktion, die stark behindert ist. Starke Adduktoren¬
spannung. Rechtes Bein etwas länger wie das linke. Hochstand
der Trochanterspitze, rechts 2 1 ' l 2 cm, links 3 cm oberhalb der Roser-
Nälatonschen Linie. Kopf ist bei dem stark entwickelten Kind
nicht abzutasten. Trendelenburgsches Phänomen beiderseits vor¬
handen. Gang stark watschelnd.
Das Röntgenbild (Fig. 1) zeigt links eine etwas steile und ab¬
geflachte, rechts aber eine wohlausgebildete Pfanne. Beiderseits zeigt
der obere Pfannenrand leichte Osteophytbildung, der vordere Rand
der unteren Pfannenhälfte ist doppelt konturiert. Das obere Femur-
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636
Fritz Wette.
Fi g. 1.
ende ist nach außen gedreht und steht nach außen und oben von der
Pfanne. Von Schenkelhals und -köpf ist nur mehr ein Rudiment
vorhanden.
Fall 2. M. Elfriede, 2 1 /2 Jahre. Januar 1906.
Eltern und Geschwister gesund. Geburt leicht. Während der
Gravidität litt die Mutter an Nierenentzündung. 4 Wochen nach
der Geburt Erkrankung der rechten Hüfte mit Schwellung und
starken Schmerzen. Nach einigen Tagen bildete sich ein Abszeß
in der Glutäalgegend aus, der vom Arzte inzidiert wurde. Die Er¬
krankung zog sich über 4 Monate hin. Erste Laufversuche mit
l 1 ^ Jahren. Gang auf dem rechten Beine hinkend.
Zartes, schwächliches Kind. Rechterseits in der Glutäalgegend
und am Trochanter major mehrere kleine weiße Narben. Rechtes
Bein kürzer wie das linke; leichte Adduktionsstellung. Trochanter-
spitze steht ca. 2 cm oberhalb der Roser-N^latonschen Linie.
Gang leicht hinkend mit dem linken Bein. Bei starker Adduktion
des rechten Beines fühlt man den Kopf außerhalb der Pfanne.
Das Röntgenbild (Fig. 2) ist in dem Atlas der orthopädischen
Chirurgie v. Hoffa, Rauenbusch, Lieferung 4, Tafel XXIX Fig. 43,
bereits veröffentlicht und diesem mit gütiger Erlaubnis der Verfasser
entnommen. Die linke Hüfte ist normal. Die rechte Pfanne ist ab¬
geflacht und leer. Das Dach derselben wird durch die stark vor¬
springende Spina iliaca ant. inf. gebildet. Die Pfanne ist sonst wohl
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Ueber Hüftgelenksverrenkungen nach Coxitis im Säuglingsalter. 637
Fig. 2.
ausgebildet, der Pfannenboden nicht verdickt. Der Oberschenkel
ist nach außen gedreht. Der Kopf liegt hinter dem Trochanter major
und ist nach außen und oben verschoben.
Fall 3. N. Ernst, 1 l jt Jahre. Oktober 1905.
Eltern gesund. Normale, leichte Geburt. G Wochen nach der
Geburt traten am ganzen Körper „Geschwüre“ auf. Links hinten
oberhalb des Gesäßes trat ein großer Abszeß auf, der vom Arzt
punktiert wurde und Eiter entleerte. Nach 3 Wochen Heilung.
Mit 7 Monaten soll das Kind angeblich plötzlich die Beine hoch
gegen den Leib heraufgezogen haben. Das rechte Bein ging wieder
zurück, während das linke Bein in dieser gebeugten Haltung krampf¬
haft festgehalten wurde. Bei Bewegungsversuchen schrie das Kind.
Erste Steh- und Gehversuche Ende des ersten Jahres.
Schwächliches, mäßig entwickeltes Kind. Linkes Bein verkürzt,
steht in Flexion und Adduktion. Luxation der linken Hüfte.
Das Röntgenbild (Fig. 3) zeigt rechts ein normales Hüftgelenk.
Linkerseits ist die Pfanne leer, aber wohl ausgebildet. Zum Ver¬
gleich mit der gesunden Seite ist ein Unterschied kaum wahrzu¬
nehmen. Insbesondere ist keine Steilheit der Pfanne oder Verdickung
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638
Fritz Wette.
Fig. 3.
des Pfannenbodens vorhanden. Der linke Oberschenkel ist etwas
nach außen gedreht. Der Schenkelkopf steht nach außen und oben
von der Pfanne. Kopf und Epiphysenlinie sind wohl erhalten.
In sämtlichen 3 Fällen unterliegt es wohl keinem Zweifel,
daß es sich primär um eine Vereiterung des Hüftgelenks gehandelt
hat und daß die später bemerkte Luxation damit in Beziehung zu
bringen ist. In den ersten beiden Fällen ist die Coxitis ohne nach¬
weisbare Veranlassung entstanden. Sowohl die Eltern als auch der
erstbehandelnde Arzt stellen eine anderweitige Krankheit der Eltern
oder des Säuglings in Abrede. Im dritten Falle hat ursprünglich
anscheinend eine Furunkulose Vorgelegen. Narben waren nicht mehr
aufzufinden. Merkwürdig ist bei diesem Fall, daß die Mutter mit
Bestimmtheit angibt, daß die Verkürzung des linken Beines ganz
plötzlich im 7. Monat aufgetreten sei. Es liegt die Annahme nahe,
daß die Luxation nicht sofort im Anschluß an die Eiterung aufge¬
treten ist, sondern daß diese durch die Ausweitung, Distension der
Kapsel erst die Möglichkeit dazu geschaffen hat und daß die Luxation
dann eines Tages plötzlich durch eine brüske, für die Entstehung
einer Luxation günstige Bewegung (in Flexion und Adduktion) des
Oberschenkels erfolgt ist. Es muß hier noch erwähnt werden, daß
der kleine Patient, nachdem er in der Zwischenzeit vollkommen ge-
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Ueber Hüftgelenksverrenkungen nach Coxitis im Säuglingsalter. 639
sund war, jetzt wieder mit einem großen Abszeß in unsere Behand¬
lung kam. Die Inzision entleerte viel schmutziggrauen Eiter; die
Abszeßhöhle reichte bis auf den Knochen. Es ist nicht auszuschließen,
daß es sich hier doch einmal um eine Tuberkulose handelt, wenn
auch genaue Strukturbilder des Knochens keine Veränderung an dem¬
selben erkennen lassen. Leider wurde die bakteriologische Unter¬
suchung des Eiters versäumt. Interessant ist besonders der erste
Fall, weil hier die Deformität doppelseitig aufgetreten ist. Begünstigt
wurde hier die Luxation zweifellos dadurch, daß das Kind während
der Dauer der Erkrankung immer mit hoch an den Leib herange¬
zogenen Beinen dagelegen hat. Die Behandlung war in allen Fällen
dieselbe wie bei angeborenen Luxationen.
Was unsere Fälle nun besonders interessant macht, sind die
sehr instruktiven Röntgenbilder. Drehmann hebt hervor, daß die
beschriebenen Luxationen klinisch sich von den angeborenen nicht
unterscheiden lassen außer durch die Anamnese und eventuell vor¬
handene Residuen einer tiberstandenen Coxitis in Gestalt von Narben.
Ohne den Röntgenbefund wäre allerdings die Differentialdiagnose
aus den klinischen Symptomen nicht zu stellen. Die Annahme einer
kongenitalen Luxation liegt auch zu nahe, besonders wenn, wie in
unserem ersten Fall, die Deformität doppelseitig auftritt, oder wenn
die Coxitis im Säuglingsalter nicht richtig erkannt wurde, weil es
vielleicht gar nicht zur Eiterbildung kam oder der Eiter nicht
perforierte. Hier kann nur das Röntgenbild Aufklärung geben.
Das Stadium der kongenitalen Hüftluxation im Röntgenbild ist so
weit fortgeschritten, daß die Diagnose in den meisten Fällen keine
Schwierigkeiten macht. Betrachten wir unsere Röntgenbilder, so
finden wir überall eine wohl ausgebildete, in den beiden ersten Fällen
etwas flache Pfanne. Die für die kongenitale Luxation charakte¬
ristische Steilheit und Kleinheit der Pfanne, die starke Verdickung
des Pfannenbodens, die wenig scharfen, knöchernen Pfannenränder,
die Form des Y-Knorpels, die Form und Stellung der oberen Femur¬
enden sowie eventuell damit korrespondierende Erscheinungen auf
der gesunden Seite, alles das sind Kennzeichen, welche die ange¬
borene Hüftverrenkung streng von der pathologischen abgrenzen.
Einige Grenzfälle werden immer übrig bleiben, wo die Diagnose
zweifelhaft bleibt. Es wäre ja auch der Fall denkbar, daß einmal
in einem kongenital luxierten Gelenk eine Coxitis sich ausbildet. In
der Regel aber ist man meiner Ansicht nach in der Lage, in solchen
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XV. Bd. 41
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640
Fritz Wette. Ueber Hüftgelenksverrenkungen etc.
Fällen, wo Anamnese oder sonstige Zeichen einer stattgehabten Ent¬
zündung fehlen, aus dem Röntgenbilde die Differentialdia¬
gnose zwischen pathologischer, nach Coxitis im Säuglings¬
alter entstandener und kongenitaler Luxation mit ziem¬
licher Sicherheit zu stellen.
Literatur.
Dreh mann, Ueber Gelenkentzündungen im Säuglingsalter und ihre ätiologi¬
schen Beziehungen zu späteren Deformitäten. Zeitschr. f. orth. Chir.
Vortrag, gehalten auf dem III. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für
orthopädische Chirurgie 1904.
Derselbe, Deformitäten nach Gelenkentzündungen im frühesten Säuglingsalter.
Zeitschr. f. orth. Chir. 1905. Vortrag, gehalten auf dem IV. Kongreß der
Deutschen Gesellschaft für orthopädische Chirurgie 1905.
Bergmann, Bruns, Mikulicz, Handbuch der praktischen Chirurgie.
König, Lehrbuch der speziellen Chirurgie. 8. Aufl.
Schloßmann, Ueber akuten Gelenkrheumatismus und symptomatisch ähnliche
Erkrankungen im frühen Kindesalter. Monatsschr. f. Kinderheilkunde
1903, Bd. 1 Nr. 5.
v. Ammon, Die angeborenen chirurgischen Krankheiten des Menschen 1842
Mettenheimer, Hüftgelenksvereiterung im frühesten Kindesalter. Journ. f.
Kinderheilkunde 1871, LVII S. 250.
Hoffa und Rauenbusch, Atlas der orthopäd. Chir. in Röntgenbildern.
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XXXIII.
(Aus der chirurgisch-orthopädischen Abteilung der Universitäts-
Kinderklinik Graz.)
Aus den Grenzgebieten der Chirurgie und Neurologie.
Von
Dr. Hans Spitzy,
Oberarzt der Abteilung.
Mit 4 in den Text gedruckten Abbildungen.
II. und III.
Im Anschluß an die jüngst veröffentlichten Publikationen über
den Versuch einer Anastomosenbildung zwischen N. cruralis und
N. obturatorius *) sollen im folgenden die übrigen von mir und anderen
Autoren wie F. Peckham 2 ), Young 3 ), Hackenbruch 4 ) aus¬
geführten und für unser Fach besonders wichtigen Formen der Im¬
plantationen im Bereiche der peripheren Nerven zur Darstellung
kommen, wobei insbesondere auf die topographisch-anatomischen und
technischen Einzelheiten das Hauptgewicht gelegt werden soll. Der
klinische Verlauf während der Regenerationsperiode hat schon in einer
früheren Arbeit 5 ) sowie in einer diesbezüglichen neueren Beobach¬
tung Hackenbruchs eingehende Erörterung gefunden.
n. Die Peroneus-Tibialisplastik.
Die häufigste Indikation zu der Anastomosenbildung zwischen
diesen zwei Nerven ist in der isolierten Lähmung des N. peroneus
*) Spitzy, Aus den Grenzgebieten der Chirurgie und Neurologie I.
Zeitschr. f. orth. Chir. Bd. 14.
*) F. Peckham, Nerve grafting. The Providence med. journal 1900, 1.
3 ) J. Young, Transactions of the Americ. orthop. Association 1904.
4 ) Hackenbruch, Die Behandlung der spinalen Kinderlähmung durch
Nervenpfropfung. Deutsche med. Wochenschr. 1905, 26.
5 ) Spitzy, Weitere Erfahrungen auf dem Gebiete der Nervenplastik.
Zeitschr. f. orthopäd. Chir. Bd. 14.
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642
Hans Spitzy.
zu suchen, die wir doch unter allen Einzellähmungen am öftesten
zu beobachten Gelegenheit haben. Ungleich seltener haben wir es
ja mit einer isolierten Lähmung des N. tibialis zu tun, die eine
Anzeige für die gegengleiche Plastik abgeben würde. Der Grund
dieser größeren Vulnerabilität des N. peroneus wurde von den ein¬
schlägigen Autoren in verschiedenen Eigentümlichkeiten gesucht, die
dieser Nerv bezüglich seines Verlaufes, seiner Blutversorgung und
seiner Anheftung an die umgebenden Gewebe aufweist.
Nach Hof mann *) ist die Ernährung des N. peroneus eine be¬
deutend schlechtere, als die des N. tibialis, außerdem hat uns
v. Aberle 2 ) gezeigt, daß der N. peroneus durch seine bindegewebige
Anheftung größerer Ueberdehnungsgefahr ausgesetzt ist; beide Fak¬
toren zusammen sind wohl vereint im stände, die häufigere Verletzung
des Wadennerven bei Streckungen zu erklären.
Trotz dieser beiden anatomisch begründeten Erklärungen für
das leichtere Zustandekommen einer Peroneuslähmung peripherischen
Ursprungs, wie es z. B. bei einer gewaltsamen Streckung einer Knie¬
gelenkskontraktur der Fall sein kann, muß dieser Nerv auch, was
die Placierung seiner Kerne im Zentralorgan, im Rückenmark, an¬
langt, irgendwie benachteiligt sein.
Seine Wurzelkomplexe liegen vielleicht dichter gedrängt bei¬
sammen, sie sind nicht über so viele Segmente zerstreut, ein entzündlich
exsudativer mykotischer Prozeß kann viel eher dieses „arrondierte*
Gebiet völlig in seinen Zerstörungsrayon einbeziehen, als z. B. das
Quellengebiet eines anderen Nervenstammes, das ein größeres Areal um¬
faßt, das in mehreren Segmenten liegt, das von einer Reihe von zu¬
führenden Gefäßen genährt wird, so daß eine mykotische Thrombo¬
sierung und der mitverlaufende exsudative Zerstörungsprozeß keine
so durchgreifende Verheerung anrichten können.
Aehnlich wird es sich auch mit dem Ursprung des N. peroneus
im Rückenmark verhalten, sonst wäre es kaum zu erklären, warum
breit einsetzende poliomyelitische Lähmungen, die oft im Beginne
ganze Extremitäten total gelähmt erscheinen lassen, nach Abheilung
und Vernarbung sich nicht selten bis auf eine totale Peroneuslähmung
einschränken, die anderen Nervengebiete kommen mit leichten
*) M. H o f m a n n , Die Gefäßverhältnisse des N. ischiadicus und ihre Be¬
ziehung zur Dehnungslähmung. Arch. f. klin. Chir. Bd. 69.
2 ) R. v. Aberle, Die Peroneuslähmung bei Behandlung der Kniekon*
tracturen. Zeitschr. f. orthop. Chir. Bd. 13.
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Aus den Grenzgebieten der Chirurgie und Neurologie.
643
Paresen weg; ein andermal ist von allem Anfang an gerade dieser
Nervenbezirk vorzugsweise betroffen, die benachbarten nur gestreift,
höchstens der Quadriceps teilt mit dem Peroneus diese ungünstige
Eigenschaft.
Der Ursprung beider Nerven, des N. peroneus und des N. tibialis
liegt, trotzdem sie im N. ischiadicus zu einem gemeinsamen Stamme
vereinigt erscheinen, in verschiedenen Metameren des Rückenmarkes,
und zwar so, daß die Wurzelfelder des N. peroneus der Hauptsache
nach höher liegen als die des N. tibialis. Der N. peroneus bezieht
das Gros seiner Fasern aus dem 4. und 5. Lumbalsegment und zum
geringeren Teil aus dem 1. und 2. Sakralsegment, der N. tibialis
zum geringen Teil aus dem 5. Lumbalsegment und hauptsächlich
aus dem 1., 2. und 3. Sakralsegment. Es grenzen also die Quell¬
gebiete des N. peroneus nach oben an die des N. cruralis, während
den Wurzelfeldern des N. tibialis wieder jene der Beugergruppe seg¬
mentär näher angeordnet sind.
Aus diesem Verhalten erklärt sich auch teilweise die Vorliebe für
gewisse Kombinationen, die Vergesellschaftung der Cruralislähmung
mit der Peroneuslähmung u. s. w.
Bei nicht seltenen Anomalien — in fast einem Drittel der Fälle
— verlaufen beide Nerven schon von ihrem Ursprung an getrennt;
bezeichnenderweise entsendet da der N. tibialis die Muskeläste für
die Kniebeuger. Meist nun trennen sich beide Nerven erst oberhalb
der Kniekehle und erscheinen so als die Endäste des N. ischiadicus,
der schon vor ihrem Austritt die obenerwähnten Beuger und manchmal
auch Teile des M. adductor magnus innerviert hatte.
Die Gefäßversorgung gestaltet sich nach den Untersuchungen
von Hofmann folgendermaßen: Die zuführenden Arterien aus der
A. glutaea inf., der A. circumflexa fern. med. und den Aa. perforantes
bilden vor dem Eintritt in die Nerven Anastomosenketten, die den
Nervenstämmen folgen. Aus diesen erst entspringen die kleinen
Nervenästchen, die sich zwischen den Nervenfasern verzweigen.
Diese Anastomosenketten liegen im Mesoneurium und besorgen die
Ernährungszufuhr der Nerven.
Die Isolierung derselben vom Mesoneurium und dem umgeben¬
den zarten Bindegewebe ist bei Operationen dementsprechend auf das
Mindestmaß des Notwendigen zu beschränken.
Der N. peroneus ist,- was die Blutversorgung anbelangt, be¬
deutend schlechter daran als der N. tibialis. Bei getrenntem Ver-
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644
Hans Spitzy.
lauf bezieht der N. tibialis ungefähr doppelt so viel Zuflüsse als der ■
N. peroneus. Bei gemeinsamem Verlauf im N. ischiadicus durch¬
ziehen die ernährenden Arterien erst den N. tibialis und treten aus
diesem erst in den N. peroneus ein.
Nach der Teilung des N. ischiadicus zieht der äußere Endast,
der N. peroneus, der „external popliteal nerve“ der Engländer, an
der inneren Seite des M. biceps nach abwärts, schlägt sich um den
Hals der Fibula und ist gerade da straff an seine Unterlage ange¬
heftet, er erscheint dadurch wie eine Saite über einen Steg gespannt:
bei einer gewaltsamen Streckung kann er der Ueberdehnung nicht
so leicht ausweichen wie der N. tibialis, der da einfach tief in das
weiche Kniekehlengewebe ausweichen kann.
Hier beginnt auch die Aufsplitterung des Nervenstammes. Ein
Teil, der N. peroneus superficialis, bleibt in der Kapsel der Waden¬
beinmuskeln, versorgt diese im weiteren Verlaufe, und verläßt die
Muskelfaszie dann als Hautnerv des Fußrückens. Der zweite Ast
tritt eng angeschmiegt an das Wadenbein unter dem Extensor com¬
munis in das Interstitium zwischen diesem Muskel und dem M. tibialis
anticus. Gleichzeitig mit diesem Ast zweigt sich meist schon vom
Hauptstamm ein Muskelast für den M. tibialis anticus ab, der mit
dem N. peroneus profundus zusammenläuft und dann sofort in den
M. tibialis dringt. Weiter unten trennen sich die Aeste für den j
Extensor communis und den Extensor hallucis und auch noch ein
zweiter Ast.für den M. tibialis anticus, so daß dieser für die Fu߬
funktionen so wichtige mächtige Muskel zwei Nervenzuleitungen be¬
sitzt. Die eine von diesen ist am Wadenbeinköpfchen leicht zugäng- J
lieh, was bei isolierten Lähmungen dieses Muskels gelegentlich der
Vornahme eines Neuanschlusses von Wichtigkeit wäre.
Der Rest des N. peroneus profundus versorgt dann noch die
kleine Fußrückenmuskulatur und endigt dann ebenfalls mit sensiblen
Fasern in der Haut des Fußrückens.
Die Topographie der Ausbreitung des N. tibialis gestaltet sich
einfacher. Er zieht in der Mitte der Kniekehle abwärts, senkt sich j
immer tiefer in diese ein, erreicht die A. poplitea und verläuft *
nun eine Strecke mit dieser auf dem M. popliteus. Schon in der I
Kniekehle gibt er den N. saphenus ab, der dann mit der gleich- j
namigen Vene in der Mitte der Wade als Hautnerv nach abwärts
zieht. Außerdem spalten sich schon hier die Aeste des M. triceps
surae ab. Bei seinem späteren Verlaufe durch den Canalis popliteus 1
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Aus den Grenzgebieten der Chirurgie und Neurologie.
Fig. 1.
G45
X peron —
fibula \
N. per. super/\
M. peron lonp
M. ead. dipä
M.peron. /reu.
M. ejcl. ha/Zuc
i M. peron . Ionp.
Ast des M. üb. an/.
W. peron .profund
— M. üb. an/.
versorgt er noch die tiefen Wadenmuskeln und endet dann in zwei
Zweigen, den N. plantares, die die kleinen Muskeln und die Haut
der Fußsohle innervieren.
Die Stelle der Wahl für eine vorzunehmende Anastomosierung
wird nach dem vorangegangenen die Kniekehle und ihre nächste
Umgebung sein. Dort sind sowohl die Hauptstämme günstig nahe
gelegen, als auch die Einzelabzweigungen für die größeren wichtigen
Muskeln leicht zu erreichen.
Der Operationsplan ergibt sich aus dem Gesagten wie aus der
(Fig. 2) Anschauung der beigegebenen Bilder von selbst. Ein
medial verlaufender Schnitt etwas oberhalb der Kniekehle legt nach
vorsichtiger Präparierung die angezogenen Verhältnisse klar. Die
Nn. tibialis und peroneus werden nur so weit, als es unumgäng¬
lich nötig ist, vom umgebenden Gewebe isoliert und nun nach schon
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646
Hans Spitzy.
beschriebenen Schemen jene Plastik allsgeführt, die in dem jeweiligen
Falle indiziert ist, bezw. die besten Chancen bietet. Es ist in diesem
Falle sowohl eine zentrale partielle Implantation wie eine partielle
oder totale periphere Implantation ausführbar. Bei der ersteren
würde man, den Fall einer Peroneuslähmung angenommen, einen
zentralen Längslappen mit zentraler Basis vom N. tibialis abspalten,
diesen zum intakt bleibenden N. peroneus leiten, und in einen Längs¬
schlitz dieses Nerven mit peripher gerichtetem Querschnitt einnähen,
die diesbezügliche Technik, die zu beobachtenden Vorschriften, wie
sie sich im Gebrauche ausgebildet haben, habe ich bereits in einigen
ausführlichen Arbeiten niedergelegt r ).
J ) Spitzy, Die Bedeutung der Nervenplastik für die Orthopädie. Zeitschr.
f. orthopäd. Chir. Bd. 13. — Derselbe, Zur allgemeinen Technik der Nerveu-
plastik. Wiener klin. Wochenschr. 1905, 3. — Derselbe, The technique ot"
neuroplasty. The Americ. journ. of Orthop. surgery Vol. II, 1.
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Aus den Grenzgebieten der Chirurgie und Neurologie.
647
Bei der zweiten Art der Plastik, wieder den Fall einer Peroneus¬
lähmung supponiert, könnte man entweder den motorisch leitungs¬
unfähigen Peroneus ganz durchtrennen, und dessen peripheren Teil mit
zentralwärts gerichtetem Querschnitt in einen Längsschlitz des funk¬
tionstüchtigen Tibialis einnähen — totale periphere Implantation —
oder man läßt, um noch erhaltene sensible Bahnen zu schonen, noch
einen Teil des Peroneusstammes übrig und implantiert nur einen
Längslappen mit peripherer Basis in den N. tibialis. Einen wesent¬
lichen Unterschied zwischen diesen Methoden, was ihre prinzipielle
Verwendung anlangt, könnte ich nicht angeben. Ich habe bei
meinen Versuchen auch noch folgende Art der Anastomosierung
versucht: ein zentral festsitzender Lappen des N. tibialis wurde mit
einem peripher fest basierenden Lappen des peroneus vereinigt.
Sowohl diese peripher-zentrale partielle Anastomosierung wie die
früher beschriebenen beiden Implantationsweisen geben von Fall zu
Fall gute Resultate. Welche gewählt wird, hängt vielfach von den
Anschauungen ab, die der Operateur von dem Vorgang der Nerven-
regeneration sich zurecht gemacht hat; ist derselbe ein absoluter An¬
hänger der zentrifugalen Regeneration, erklärt sich derselbe die Re-
innervation nur durch Auswachsen vom Zentrum aus, so kommt für
ihn mehr die zentrale Implantation in Frage. So Hackenbruch *),
der im Vorjahre eine gelungene derartige zentrale Implantation
am Chirurgenkongresse vorstellte und diesen Fall auch näher be¬
schrieb. Aus Gründen, die ich ebenfalls schon früher auseinander¬
gesetzt, ist diese Lehre von der alleinig vom Zentrum ausgehenden
Regeneration jedoch schon durch Autoritäten ersten Ranges bedeutend
erschüttert, außerdem ist bei der peripheren Implantation ein Hin¬
einwachsen vom Zentrum aus auch in hohem Grade ermöglicht, so
daß theoretisch gegen diese Methode nichts einzuwenden ist. Daß
sie auch praktisch gute Resultate liefert, wurde auch schon anderen
Ortes berichtet 2 ).
Eventuelle Bedenken, ob ein Nervenquerschnitt wohl auf ein¬
mal für zwei Nervengebiete zu genügen vermöge, fanden auch schon
in ausgedehnter Weise sowohl durch den Tierversuch wie durch die
funktionelle und histologische Prüfung ihre Erledigung.
Nach meiner Erfahrung auf diesem Gebiete würde ich bei
einer totalen Peroneuslähmung z. B. zur peripheren totalen Implan-
’) 1. c. *) 1. c.
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648
Hans ßpitzy.
tation raten, bei nur teilweiser Lähmung zur zentralen partiellen
Implantation oder zur zentral-peripheren Anastomosierung 1 ).
Um das Ergriffenwerden der Nervennahtstelle von dem umgebenden
Narbengewebe zu verhüten, scheide ich die Implantationsstelle immer
mit heterogenem Material ein, am besten haben sich mir Hunde¬
arterien bewährt, die ich nach einer von Foramitti 2 ) gegebenen
Vorschrift präpariere. Foramitti versuchte zur Sicherung von
Nervennähten am Tierexperiment von Hunden gehärtete Kalbsarterien,
mit diesen umgab er die Nahtstelle und war in der Lage, nach längerer
Zeit am Schnitt zu zeigen, daß das Perineurium mit der Intima in
organische Verbindung getreten war.
Ich benützte nun die Arterien meiner Versuchshunde zu¬
erst bei anderen Tierversuchen und darauf auch bei den analog aus¬
geführten Operationen am Menschen. Die Umhüllungen heilten immer
tadellos ein.
Die Herstellungsweise ist folgende: Ich entnehme dem geöffneten
Hundekörper steril die größeren Arterienstämme wie Aorta, Iliaca, Ca¬
rotis, Subclavia, Femoralis. Diese werden auf sterile Glasstäbchen größt¬
möglichsten Kalibers geschoben, „darauf in 5— 10°oiger Formalin¬
lösung 48 Stunden gehärtet, 29 Stunden in fließendem Wasser ge¬
waschen, dann durch 20 Minuten gekocht und schließlich in Alkohol
(95°/o) aufbewahrt“.
Vor dem Gebrauch werden sie mit der Seide in physiologischer
Kochsalzlösung ausgekocht. Durch diese Umscheidung werden Lei¬
tungsunterbrechungen durchhinein- und dazwischenwachsendes Narben¬
gewebe verhindert. Daß bei einer isolierten Lähmung des M. tibialis
anticus eventuell eine periphere Implantation des diesen Muskel inner¬
vierenden Astes in den übrigen Stamm des N. peroneus ausführbar
wäre, geht aus dem beigegebenen Bild, das die schon früher er¬
örterten eigentümlichen Innervationsverhältnisse dieses Muskels illu¬
striert, ohne weiteres hervor. Ein Bogenschnitt längs des Peroneus-
verlaufes am Fibulaköpfchen kann diese Stelle einem eventuellen Ein¬
griff zugänglich machen. Einen ähnlichen Fall hatte Young auf dem
Kongresse für amerikanische Orthopädie (Atlantic City 1904) demon¬
striert.
') 1. c.
2 ) Foramitti, Zur Technik der Nervennaht. Arch. f. klin. Chir. Bd. 73.
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Aus den Grenzgebieten der Chirurgie und Neurologie.
649
III. Die Medianus-Radialisplastik. . .
Wie an der unteren Extremität, so sind auch an der oberen
die Strecker des Armes, der Hand und der Finger bei Lähmungen
gewöhnlich am meisten und in erster Linie betroffen. Sehr oft ist
es das Gebiet des N. radialis, das eine Einbuße in seiner motorischen
und meist auch in seiner sensiblen Sphäre erlitten hat. Lähmungen
im Gebiete des N. radialis gehören zu den am häufigsten an den
oberen Extremitäten vorkommenden (Bernhardt) *), sie sind nicht
nur öftere Teilerscheinungen von kombinierten Lähmungen zentralen
Ursprungs, wir begegnen ihnen bei den Plexuslähmungen, auch iso¬
lierte Radialislähmungen hat man ziemlich oft zu beobachten Ge¬
legenheit. Die exponierte Lage des Nerven, sein rätselhaft geringer
Widerstand gegen Giftstoffe, ich erinnere an die Giftlähmungen mit
Blei, Arsenik, Opium, sowie der Umstand, daß auch sonstige patho¬
logische Prozesse, wie Polyneuritiden mit Vorliebe und zuerst sich
im Radialisgebiet festsetzen, machten schon immerher die Radialis¬
lähmungen zu den bekanntesten und best studierten.
Wenn nun auch ein großer Teil dieser spontan wieder sich
rückbildet, ein anderer, wie die Giftlähmungen, nur Vorläufer und
Teilsymptome eines größeren destruktiven Prozesses sind, so bleibt
doch noch ein großer Prozentsatz übrig, bei welchen nur ein chirur¬
gisches Eingreifen Hilfe zu bringen im stände ist. Gerade bei Ra¬
dialislähmungen sind am häufigsten primäre und sekundäre Nerven¬
nähte ausgeführt worden. Frische Verletzungen, Knochenbrüche,
Kallusmassen, die den Nervdruck abquetschten, Geschwülste gaben
die bekannten Indikationen. Ist eine Naht, eine Narbenexzision,
eine Anfrischung der narbigen Enden und ihre darauffolgende Quer¬
schnittsvereinigung überhaupt möglich, so soll sie immer durchgeführt
werden; wie viel Wert darauf gelegt wurde, beweisen die Vorschläge
von v. Hacker 2 ) zur Mobilisierung, und in noch viel höherem Grade
die von Bergmann 3 ) zur Resektion eines Teiles der Humerusdiaphyse,
um die entfernten Enden wieder einander näher zu bringen.
] ) Bernhardt, Erkrankungen der peripheren Nerven. Nothnagels Hand¬
buch. Wien 1895.
2 ) v. Hacker, Ein Beitrag zur Nervennaht. Wiener klin. Wochen¬
schrift 1894.
*) Zit. nach Schede, Chirurgie der peripheren Nerven. Handbuch
Penzoldt-Stinzing.
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650
Hans Spitzy.
Falls die sekundäre Nervennaht unausführbar oder resultatlos
war, tritt erst die Frage in den Vordergrund, ob nicht durch Xeu-
anschluß des geschädigten Gebietes an ein intaktes Nervennetz eine
Besserung des Zustandes zu erzielen wäre. Am schwersten fällt immer
der Ausfall der Motilität des Unterarmes, der Hand und der Finger
in die Wagschale, und speziell Störungen des hervorragendsten Kultur¬
organs, der Hand, rufen, auch wenn sie nicht sehr hochgradig sind,
schon beträchtliche Berufsbehinderung hervor. In einer großen An¬
zahl der Fälle wird der Kranke die Motilitätsstörungen des Armes,
wenn sie nicht zu hochgradig sind, gern ertragen, wenn nur die
Beweglichkeit der Hand und der Finger und damit ihre berufliche
Gebrauchsfähigkeit wieder zu erlangen wäre. Gerade derartige Falle
sind es, die die Indikation zur Vornahme einer Nervenplastik bieten
und diese auch vollständig rechtfertigen. Die Bewegungen der Hand
werden zum allergrößten Teil von den drei Hauptmuskeln des Armes
beherrscht, dem N. medianus, radialis und ulnaris. Beugung, Streckung,
Drehung, sowie alle Fingerbewegungen stehen unter ihrer Herrschaft.
Am häufigsten ist es die Streckergruppe, die durch das Dazwischen¬
treten eines Lähmungsinsultes ins Mißverhältnis zu den Bewegungs¬
mechanismen gerät. Und da in der Ellenbeuge alle drei Nerven
in technisch leicht erreichbaren topographischen Verhältnissen sich
befinden, so ist damit auch der Ort der Wahl gegeben zur Vor¬
nahme einer Anastomosierung, wenn nicht ganz bestimmte Umstände
denselben zentral- oder peripherwärts verschieben.
Die Art der Plastik, die bei einer supponierten Radialislähmung
in Betracht käme, wäre die einer zentralen oder peripheren Implan¬
tation. Ein vom N. medianus abgespaltener Lappen mit zentraler
Basis in einen Schlitz des N. radialis implantiert, ist im stände,
diesen zu reinnervieren.
Diese sowohl durch den Tierversuch gestützte Tatsache, wie
auch schon durch Operationen am Menschen erreichten Erfolge
geben der im folgenden ausgeführten Methode den pathologisch¬
anatomischen, wie therapeutischen Rückhalt und damit eine unabweis-
liche Existenzberechtigung. Die Szenerie ist topographisch-anato¬
misch folgendermaßen gestellt: der N. radialis, dem 5., 6., 7. und 8.
Cervicalnerven entsprungen, begleitet die A. collateralis in das Fleisch
des M. triceps, in einer Spirale windet er sich um den Humerus¬
schaft, der musculo-spiral nerve der Engländer, und taucht dann
zwischen dem M. supinator longus und dem M. brachialis int. (Fig. 3)
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Aus den Grenzgebieten der Chirurgie und Neurologie.
651
Fig. 3.
X media/uis
M biccps
A . cuhUalis
M. brach. in/.
M. pronalos irres
tteuyenp'uppe
l supin . lonp
in unserem Operationsfeld auf. Die Tricepsfasern werden hoch oben
in der Nähe der Insertion versorgt, in der Ellenbeuge verlassen die
Zweige für den M. supinator longus und für die radio-dorsale Gruppe
der Vorderarmmuskulatur den Hauptstamm, die letzteren in einen Ast
vereinigt, dessen Abgangsstelle für die Operationstechnik von höch¬
ster Wichtigkeit ist, denn der noch übrig bleibende Teil des N. ra-
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652
Hans Spitzy.
dialis ist nur mehr sensibel, kommt also für uns nicht mehr in
Frage.
Der N. medianus aus dem 5., 6., 7. und 8. Cervical- und dem
1. Brustnerven gebildet, hat die A. brachialis begleitet und liegt in
der Ellenbeuge an ihrer ulnaren Seite, erst hier im Canalis cubitalis
gibt er seine ersten Muskeläste für die Beugergruppe der Hand und
der Finger ab.
Der erste Ast ist zur Versorgung des M. pronator teres, darauf
folgen die Abzweigungen für die radio-palmare Gruppe der Vorderarm¬
muskulatur. Das beigegebene Bild mag die Aufsplitterung der beiden
Nerven in der Ellenbeuge illustrieren.
Ueber dieser Stelle muß natürlich die Plastik vorgenommen
werden, um den gewünschten Effekt erreichen zu können. Nach
diesen vorausgeschickten Bemerkungen hat sich also der Operations¬
plan zu richten.
Ein Schnitt medial vom unteren Ende des M. biceps legt den
N. medianus (Fig. 4), der hier über und etwas ulnar von der Arterie
liegt, frei; über der Abgangsstelle der Muskeläste und unter sorg¬
fältiger Schonung derselben wird der Stamm des Nerven auf einige
Zentimeter isoliert.
Ein zweiter Schnitt radial von der Bicepssehne im Sulcus cubi-
talis externus führt nach einigem Präparieren in die Tiefe auf den
Stamm des N. radialis. Oberhalb des Abganges der Muskeläste
wird der Nerv ebenfalls auf einige Zentimeter isoliert und hier vor¬
sichtig mit einem kleinen Messerchen ein Schlitz x ) angelegt, der natür¬
lich streng längsverlaufend sein muß. Um den Schlitz auseinander¬
zuhalten, ohne den Stamm durch öfteres Anfassen einer größeren
Läsion auszusetzen, habe ich meinem bereits erwähnten Instrumen¬
tarium noch zwei Ringsperrpinzetten (Schieber) beigegeben, in deren
Ring jede Hälfte geschlossen werden kann, und die herabhängend
durch ihr Gewicht den Schlitz offenhalten. Vom N. medianus wird
nun ein Lappen mit zentraler Basis abgespalten, circa ein Drittel
des Querschnittes umfassend. Das periphere Ende des Lappens
wird vorsichtig mit einem Faden armiert, das Ende des Fadens an
das Ohr einer Ohrsonde befestigt. Mit einem Instrument, das ich
Tunnelleur genannt und das im wesentlichen aus einer Metallröhre
] ) Das Instrumentarium ist zu einem Besteck vereinigt bei der Firma
Jn8trumentenfabrik A. Broz in Graz käuflich. Publikation u. Bilder 1. c. S. 646.
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Aus den Grenzgebieten der Chirurgie und Neurologie.
653
Fig. 4.
jY. idnaris
M. bieeps *
A.acbital.
N. mediamcs
M. sup. lang.
Verui mediana
- JY. radia/is
Tricepsfascie
mit abnehmbarer stumpfer Kappe besteht, bohrt man sich subkutan
einen möglichst günstigen Weg zum früher angelegten Schlitz. Ist
die Kuppe des Tunnelleurs dort angelangt, so wird die Kappe ab¬
gezogen, die Ohrsonde durch die Röhre durchgeschoben, und mittels
der Fadenschlinge auch der Nervenast ohne weitere Gefährdung zum
Ort der Implantation gebracht. Nun zieht man die Röhre über den
Nervenast hinweg heraus, löst die Ohrsonde vom Faden, den man
gleich zur Fixation des Astes im Längsschlitz benützen kann, um
die Operationsschädigungen auf ein Minimum zu reduzieren. Eine
Längsnaht fixiert den Lappen mit peripher gerichtetem Querschnitt
in den Schlitz, die Ringschieber werden losgelassen, die Nahtstelle
zur Isolierung mit einer Arterie umnäht und darauf die Hautwunden
geschlossen, nachdem eventuelle durchschnittene Aeste der V. mediana
ligiert sind.
Der Arm wird, um jede Spannung zu vermeiden, in recht-
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654 Hans Spitzy. Aus den Grenzgebieten der Chirurgie und Neurologie.
winkliger Stellung fixiert durch einen leichten Gipsverband bezw.
Gipsschalen; nach 3 Wochen kann ein leichterer Apparat zur Be¬
kämpfung eventuell bestehender Kontrakturen zur Anwendung
kommen.
Diese beschriebene Operation wurde bereits mehrere Male von
mir in dieser Weise ausgeführt, die Erfolge, die binnen kurzem publi¬
ziert werden sollen, berechtigen und ermutigen zu weiteren Operations¬
versuchen in Fällen, wo die übrigen Methoden aussichtslos sind, oder
ein Erfolg nur durch vielfache und komplizierte Kraftübertragungen
mittels Sehnen- und Muskelplastiken zu erreichen wäre 1 ).
Eine eventuelle Verbindung zwischen dem N. ulnaris und X.
medianus unterliegt keinerlei technischen Schwierigkeiten.
Ein Längsschnitt entlang der straffen Tricepsfascie zum Con-
dylus internus hin legt den leicht durchzufühlenden N. ulnaris in
der Ellenbeuge frei, die Nervenzuleitung müßte durch eine zentrale
partielle Implantation entweder vom N. medianus auf analoge Weise
wie bei der Radialis-Medianusplastik oder auf der Rückseite des
Armes über oder unter dem M. triceps vom N. radialis her erfolgen
(siehe Fig. 4).
*) Ein durch eine Medianus-Radialisplastik geheilte Radialislähmung
wurde vom Autor auf dem 6. Kongresse der Deutschen Gesellschaft f. orthop.
Chir. vorgestellt.
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Referate
Jankau, Taschenbuch für Chirurgen und Orthopäden. II. Ausgabe. Jahrgang
1906 und 1907. Leipzig, Max Gelsdorf.
Das Taschenbuch, welches zahlreiche praktische Notizen und Tabellen
aus der Chirurgie, Orthopädie und Unfallheilkunde, daneben aber auch Daten
au9 dem Gebiete der internen Medizin (Nahrungsmittel, Nährpräparate, Arznei¬
verordnungslehre), Anatomie und Physiologie enthält, wird sich durch seine
Reichhaltigkeit und Brauchbarkeit viele Freunde erwerben.
Wollenberg - Berlin.
Wrndscheid, Der Arzt als Begutachter auf dem Gebiete der Unfall- und
Invalidenversicherung. Erste Abteilung: Innere Erkrankungen mit be¬
sonderer Berücksichtigung der Unfallnervenkrankheiten. Handbuch der
Sozialen Medizin Bd. VIII, Abt. 1. Gustav Fischer, Jena.
Der erste Teil behandelt die Stellung des Arztes zum Unfallversicherungs¬
gesetz. Er enthält neben den die Gesetzgebung des In- und Auslandes be¬
treffenden Kapiteln die Beziehungen der Erkrankungen innerer Organe zu einem
Unfall sowie besonders die Unfallnervenkrankheiten. Der zweite Teil beschäftigt
sich mit dem Invalidenversicherungsgesetz. Das Buch, welches sich die Aufgabe
setzt, für praktische Aerzte ein Wegweiser in der Methodik der Begutachtung
zu sein, erreicht diesen seinen Zweck. Die Darstellung ist klar und fesselnd.
Wollenberg- Berlin.
Sudeck, Der Arzt als Begutachter auf dem Gebiete der Unfall- und Invaliden¬
versicherung. Zweite Abteilung: Chirurgische Erkrankungen, besonders der
Bewegungsorgane. Handbuch der Sozialen Medizin Bd. VIII, Abt. 2. Gustav
Fischer, Jena 1906.
Das vorliegende Werk füllt in hervorragender Weise eine fühlbare Lücke
der Literatur aus. Der allgemeine Teil handelt von den Erkrankungen der
Haut und Unterhaut, den Erkrankungen der Muskulatur, des Knochensystems
und der Gelenke. Jeder Abschnitt beschäftigt sich 1. mit der zweifelhaften
traumatischen Aetiologie der betreffenden Krankheiten, 2. mit der Untersuchung
der in Betracht kommenden Organe und ihrer Funktion, und 3. mit dem Einfluß
der betreffenden Krankheiten auf die Erwerbsfähigkeit.
Der spezielle Teil bespricht unter Einhaltung derselben Einteilung die
Erkrankungen der Wirbelsäule (Lumbago, Spondylitis traumatica, Arthritis
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XV. Bd. 42
Digitized by C^oogle
656
Referate.
ankylopoetica) der oberen Extremität und der unteren Extremität (Coxa Tara
Genu valgum, traumatischer Plattfuß, Gewohnheitslähmung).
Besonders hervorheben möchten wir neben der klaren Darstellung de*
Stoffes die vorzüglichen Abbildungen, besonders die Röntgogramme. sowie er
läuternde, teilweise auseinandergelegte, höchst instruktive Konturzeichnunges
derselben, und bei den Extremitäten die schematischen Zeichnungen des bei der
Inspektion und Palpation zu erhebenden Befundes. Gerade die letzteren sin"
von größter Uebersichtlichkeit. Die Ausstattung ist eine musterhafte.
Wollenberg - Berlin.
Albert Mouchet (Paris), Notions de Chirurgie orthop(*dique. Verlag tod
Henry Paulin u. Cie. 1906.
In diesem 97 Seiten umfassenden Leitfaden hat Mouchet es in treff¬
licher Weise verstanden, die Grundzüge der orthopädischen Affektionen und
ihre Therapie klar zusammengefaßt und anziehend zu schildern. — MoucheU
Werk entsprach bei dem zunehmenden Studium der orthopädischen Chirurgit
einem wirklichen Bedürfnis, da die französische Literatur über kurz gefaLite
Lehrbücher der orthopädischen Chirurgie nicht verfügt. Das Buch ist reichlich
illustriert, vorzüglich ausgestattet und wird der gebührenden Anerkennung
nicht entbehren. Zesas- Lausanne.
Haudek, Simulation bei chirurgischen Erkrankungen. Wiener med. Wochen¬
schrift 1905, 22—27.
In der vorliegenden Arbeit befaßt sich Haudek in eingehendster Weise mit
der Simulation bei chirurgischen Erkrankungen, und zwar behandelt er im ersten
Teile die Simulation im allgemeinen und im zweiten Teile die Simulation an
den einzelnen Körperteilen. Es würde den Rahmen eines kurzen Referates weit
überschreiten, wollte ich auch nur einige Einzelheiten aus dieser sehr inter¬
essanten Arbeit, der wir nur die weiteste Verbreitung wünschen können,
anführen. Das Studium dieser Abhandlung kann nur jedem Anfänger in der
Begutachtung von Unfallkranken aufs angelegentlichste empfohlen werden, da
er alles Wissenswerte in dieser Beziehung in derselben finden wird, aber auch
für den Geübteren und für den, der sich schon länger mit dieser Materie
beschäftigt, dürfte sie noch mancherlei Interessantes bieten.
B1 e n c k e - Magdeburg.
Hoffa, Der Einfluß des Alters auf orthopädische Maßnahmen. Medizinische
Woche 1906, 8.
Hoffa tritt in diesem Aufsatz dafür ein, daß alle angeborenen Deformitäten
möglichst bald nach der Geburt in Angriff genommen werden sollen, wobei
natürlich immer als erster Grundsatz der berücksichtigt werden muß, daß die
Pflege des Kindes, die Sorge für Schonung und Reinlichkeit der Haut, des
ganzen Kindes sowohl wie des befallenen Teiles obenan steht. Je älter man
die Kinder ohne Behandlung werden läßt, umsomehr wachsen die deformen
Knochen und Gelenke in der falschen Wachstumsrichtung weiter und umso
größer sind dann die Schwierigkeiten, absolut normale Verhältnisse durch die
Behandlung zu erzielen, wenn auch zugegeben werden muß, daß sich selbst
noch in höherem Alter recht gute Erfolge erzielen lassen.
B1 e n c k e - Magdeburg.
Digitized by CjOOQle
Referate.
657
Oscar v. Hovorka (Wien), Die Grenzen und Wechselbeziehungen zwischen
der mechanischen Orthopädie und orthopädischen Chirurgie. Wiener
medizinische Wochenschr. 1905, Nr. 42—44.
Bezugnehmend auf die noch vielfach verbreitete falsche Auffassung über
die Grenzen, den Wirkungskreis und das Wesen der heutigen modernen Ortho¬
pädie, sucht Verfasser in längerer Auseinandersetzung dieselben festzustellen.
Nach einem geschichtlichen Rückblick auf das Alter der Orthopädie, welche
er hauptsächlich als eine Schöpfung der Neuzeit ansieht, teilt er die Gesamt¬
orthopädie in zwei Hauptrichtungen: 1. die mechanische Orthopädie, 2. die
orthopädische Chirurgie. Zu der ersten rechnet er 1. Massage, 2. Gymnastik,
3. orthopädische Mechanik. Die einzelnen Disziplinen der ersten Hauptgruppe
werden der Reihe nach hinsichtlich ihrer Entwicklung, ihres Wertes sowie der
Indikation zu ihrer heutigen Anwendung erörtert. Hierbei gedenkt er besonders
des hohen Aufschwungs der modernen orthopädischen Mechanik — einer Folge
des Zusammenarbeiten von Aerzten und Mechanikern. Immerhin darf nicht
vergessen werden, daß die orthopädische Mechanik nur ein Bruchteil der Ge¬
samtorthopädie bildet. Mithin hat kein auch noch so geschickter Mechaniker
das Recht, ßich Orthopäde zu nennen, eine Bezeichnung, die nur einem ent¬
sprechend ausgebildeten Arzte zukommt.
Für die zweite Hauptrichtung — die orthopädische Chirurgie —
will v. Hovorka lieber die Bezeichnung chirurgische Orthopädie einführen. Die¬
selbe ist aus der allgemeinen Chirurgie hervorgegangen und hat sich im Laufe der
Zeit von ihr losgetrennt: Sie umfaßt: 1. die orthopädische Verbandtechnik,
2. die unblutigen, 3. die blutigen orthopädischen Operationen. Die Anwendung
der einzelnen Mittel ist sehr zahlreich, auch sind ihre Beziehungen zueinander
sehr mannigfaltig, da sie sich zum Teil ergänzen und ineinander übergehen.
Als Grenzgebiete der Orthopädie bezeichnet er die Nervenheilkunde, die innere
Medizin und die allgemeine Chirurgie.
Die glänzenden therapeutischen Erfolge, welche die Orthopädie auf diesen
Gebieten zu verzeichnen hat, berechtigen sie dazu, sich hier noch ein größeres
Arbeitsfeld zugänglich zu machen. Kroll-Dresden.
Lange, Schule und Korsett. Münchener med. Wochenschr. 1906, 13 14.
Auf Grund seiner Untersuchungen und Beobachtungen ist Lange zu
derselben Ansicht wie Smith und andere gekommen, daß man den kostalen
Atmungstypus der Frau als Folge der bisherigen Tracht ansehen kann und
daß mit der Tatsache gerechnet werden muß, daß bei jedem auch lose an¬
liegenden Korsett eine gewisse Hinderung der Atmung stattfindet durch Ein¬
pressung der unteren Brustkorbhälfte. Daß diese dem Wachstum des Körpers
an dieser Stelle Hindernisse in den Weg legt, ist für den Verfasser klar. Das
Ergebnis dieser Wachstumshemmung, die im übrigen nicht nur durch ein
Korsett, sondern ebensogut auch durch in der Mitte festgebundene Rock¬
bänder oder einschnürende Gürtei hervorgerufen werden kann, ist die mo¬
derne Taille.
Mit dieser mangelhaften Entwicklung der unteren Brustkorbhälfte sind
natürlich auch gewisse Schädigungen für die Gesundheit des weiblichen Körpers
verknüpft. Die Atemzüge sind oberflächlicher und die Durchlüftung der Lungen
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658
Referate.
ist daher eine ungenügende, wofür die zahllosen Störungen in der Blutbildung
beim weiblichen Geschlecht sprechen, besonders die Chlorose.
Eine andere Folge de9 kostalen Atmungstypus ist die Einschränkung
der Zwerchfellsbewegung und die damit Hand in Hand gehenden Magen- uni
Darmstörungen der Mädchen und Frauen, die Gallenstauungen und die Bildung
von Gallensteinen. Endlich beeinflußt das Korsett die Lage der Bauchorgane,
die sich nach unten senken und Anlaß zu der beim weiblichen Geschlecht
häufig vorkommenden Enteroptose und zur Wanderniere geben.
Auch die Rückenmuskeln leiden teils durch den direkten Druck de?
Korsetts, teils infolge der durch das Korsett bedingten Inaktivität ganz außrr
ordentlich.
Wenn wir unsere Jugend von dem Korsett befreien wollen, dann müssen
wir dafür sorgen, daß die geistige Erziehung der weiblichen Jugend nicht wie
bisher auf Kosten des Körpers geschieht, dann müssen wir zu Hause gymnastische
Uebungen machen lassen, die den Zweck haben, die Rückenmuskeln zu kräftigen,
dann dürfen wir das Korsett nicht plötzlich weglassen, sondern immer allmählich,
dann müssen wir eine Tracht schaffen, durch die die Schultern allein nicht
belastet werden, sondern bei der das Gewicht derselben gleichmäßig auf
Schultern und Hüften verteilt ist.
Lange gibt nun am Schluß seiner Arbeit noch Ratschläge für eine derartige
Kleidung und beschreibt in erster Linie ein Mieder und Strumpfhalter, die sich
ihm als sehr praktisch erwiesen haben. Blencke- Magdeburg.
R e ic h a r d, Die operative Behandlung jugendlicher Krüppel. Jahrbuch f. Kinder¬
heilkunde N. F. LXIII, 3.
Verf. berichtet in einem auf der dritten Konferenz der deutschen An¬
stalten für Krüppelpflege gehaltenen Vortrage über seine operative Tätigkeit
bei jugendlichen Krüppeln zu Cracau bei Magdeburg, bei denen er mit Hilfe
der bekannten Operationsmethoden, vor allen Dingen der Arthrodesen, Sehnen¬
transplantationen etc. sehr gute Erfolge erzielte, lieber letztere hat er ja schon
in verschiedenen Arbeiten, die bereits in dieser Zeitschrift referiert sind, ein
gehender berichtet, so daß es sich wohl erübrigt, auf die einzelnen Fälle näher
einzugehen, ln der Hauptsache handelt es sich um Kinder mit spinaler, cere¬
braler Lähmung und Littlescher Krankheit. Reichard stellt an wirkliche
Krüppelanstalten zwei Bedingungen: erstens müssen sie über den ganzen Apparat
eines chirurgischen Krankenhauses verfügen, und zweitens muß bei der Auf¬
nahme von Kindern, bei denen ein operatives Heilverfahren durchgeführt
werden soll, Gewähr für genügend lange Unterbringung in der Anstalt geleistet
werden. Diese sogenannten * Krüppelanstalten“ sollen sich mehr der Durch¬
führung der Heilverfahren widmen, die „Krüppelheime* dagegen mehr der
Pflege, Erziehung und Ausbildung körperlich nicht besserungsfähiger Krüppel.
B1 e n c k e - Magdeburg.
Hoeftmann (Königsberg), Postoperativer Vorfall von Baucheingeweiden. Ver¬
handlungen der deutschen Gesellschaft für Chirurgie. XXXIV. Kongreb.
Bei Gelegenheit der von Madelung auf dem letzten diesjährigen Chirurgen¬
kongreß angeregten Diskussion über postoperativen Vorfall von Baucheingeweiden
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Referate.
659
gibt Hoeftmann ein Verfahren an, durch welches man — wie er meint— dem
Entstehen von Bauchbrüchen Vorbeugen kann. Er benutzt zwei breite Heft*
pflasterstreifen, die beiderseits parallel zum Wundrand aufgeklebt werden.
Dieselben sind mit einer doppelten Reihe von Schuhhaken versehen, so daß
die eine Reihe mehr am medialen, die andere am lateralen Rande des Streifens
sich befindet; ein Abgleiten der Streifen wird durch seitlich angebrachte Heft¬
pflasterstreifen, die nach hinten zu laufen, verhindert. Die mediale Reihe der
Schuhhaken wird nach Bedeckung der Bauchwunde mit nur wenig Gaze
mittels elastischer Gummischnur nach Art eines Schuhes geschlossen, wodurch
eine Entspannung der Wundränder und gutes Anliegen der Wundflächen er¬
reicht wird. Nach Anlegung des eigentlichen Wundverbandes wird nunmehr
über demselben die äußere Reihe der Haken vereinigt, wozu jedoch keine
elastische Schnur genommen wird. Durch diesen Schutz glaubt Hoeftmann
die Bauchnaht vor Zerrungen beim Husten u. s. w. zu schützen, auch gestattete
er bei eintretender Nahteiterung die frühzeitige Entfernung der Nähte. Ent¬
sprechende Abbildungen illustrieren die Methode. Kroll-Dresden.
Kenyeres, Angeborene Mißbildungen und erworbene Veränderungen in
Röntgenbildern. Fortschritte a. d. Gebiete der Röntgenstrahlen IX, 5.
Verf. hatte in seiner gerichtsärztlichen Praxis des öfteren Gelegenheit,
teils angeborene, teils erworbene Veränderungen zu beobachten, die er auch
aktinographisch aufnehmen konnte und die er in gedrängter Kürze mit den
dazu gehörigen Röntgenbildern veröffentlicht. Es handelt sich um Fälle von
überzähligen Daumen, um Bracbydaktylia, um Spaltbildungen der Finger und
Zehen, um auffallend schwache Entwicklung der Ulna, um Mißbildungen und
Defekte ähnlicher Art. B1 e n c k e - Magdeburg.
Seil heim, Die mechanische Begründung der Haltungsveränderungen und
Stellungsdrehungen des Kindes unter der Geburt. Zentralblatt f. Gynäko¬
logie, XXVIII Nr. 43.
Das Kind paßt sich beim Geburtsakt stets dem Geburtskanal an und
sucht stets den kleinsten Raum einzunehmen, das ist in diesem Falle die Zy¬
linderform etc. Die Schultern rücken dabei unter steiler Aufrichtung der
Schlüsselbeine und Schulterblätter kopfwärts. Wichtig für uns Orthopäden ist
folgendes. Sellmann schreibt: „Ich bin geneigt, den angeborenen Hochstand
der Schulterblätter, die sogenannte Sprengel sehe Deformität mit diesem Her¬
gang (Hochrücken der Schultern) in ätiologischen Zusammenhang zu bringen.
Wir sehen hier eine krankhafte Persitenz einer normalerweise bei der Geburt
zu durchlaufenden Körperhaltung. Die Gründe für das Bestehenbleiben liegen
wahrscheinlich in MuskelzerreißungeD, Verhakungen der Scapula etc.
V ü 11er s-Berlin.
R. Grünbaum, Weitere Beiträge zur Kasuistik der Myositis ossificans trau¬
matica. Wiener med. Presse 1905, Nr. 39 u. 40
Verf. teilt die Krankengeschichten von 8 Fällen von Myositis ossificans trau¬
matica mit, die er in den letzten 4 Jahren beobachten konnte. Der Knochen¬
tumor war in allen Fällen nach einem einmaligen heftigeren Trauma unter
starkem Bluterguß und in relativ kurzer Zeit entstanden. Bezüglich der Ent-
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660
Referate.
Stellung der Knochenneubildung in diesen Fällen steht Grünbaum au:*
dem auch allgemein angenommenen Standpunkte, daß es sich selten um
eine von abgerissenen Periostteilchen ausgehende Knochenneubildung han¬
delt, sondern daß die Osteome meist vom Muskelgewebe aus entstehen-
Auf Grund der von verschiedenen Seiten erhobenen mikroskopischen Befunde,
die allerdings meist von älteren Fällen herrühren, handelt es sich nicht um
einen entzündlichen Vorgang, sondern um die Entwicklung von Neoplasmen,
wobei eine starke Wucherung des Bindegewebes stattfindet. Von besonderer
Bedeutung für die Entstehung dieser Knochenneubildung ist auf Grund neuerer
Arbeiten das Vorhandensein eines stärkeren Blutergusses anzusehen.
Das traumatische intermuskuläre Osteom ist immer gutartig und nimmt
niemals exzessive Größe an. Als prophylaktische Maßnahme gegen die Ent
stehung der Osteome soll man für möglichst rasche und vollkommene Resorp¬
tion des Blutergusses sorgen. Warme Bäder, Heißluft, Massage werden in
frischen Fällen und auch noch nach Entwicklung der Osteome von besonderem
therapeutischem Werte. Verursacht das Osteom Schmerzen oder bedeutende
Funktionsstörungen, so wird die Exstirpation desselben nach den von Helfe-
rich aufgestellten Grundsätzen indiziert sein. Haudek-Wien.
Otto Heine, Ein Fall von Myositis ossificans traumatica. Monatsschr. für
Unfallheilkunde und Invalidenwesen 1905, Nr. 8.
Das Röntgenbild läßt an der Außenseite des rechten Femurs eine um¬
fangreiche Knochenbildung erkennen, die sich breit an den Knochen anlegt.
Diesen Fall reiht Heine in die Gruppe der Muskelveränderungen, die primär
vom Periost ausgehen und sekundär in die Muskulatur wuchern.
Fr än k el-Berlin.
Georg Müller, Zur Kasuistik der Myositis ossificans traumatica. Monatsschr.
für Unfallheilkunde und Invalidenwesen 1905, Nr. 5.
In dem von Müller beschriebenen Falle ließen sich zwischen dem
Femur und den verknöcherten Muskelfibrillen, die als palpabler Knochentumor
imponierten, keine Spuren einer knöchernen Verbindung entdecken.
Fränkel- Berlin.
Mahlcke, Beitrag zur Kasuistik der Lehre von den Sehnentransplantationen.
Diss. Kiel, 1905.
Nach einigen allgemeinen Bemerkungen über die Sehnentransplantationen
und ihre Anwendung gibt Mahlcke die Krankengeschichten von 30 Patienten
wieder, bei denen in den Jahren von 1899—1905 in der Kieler chirurgischen
Klinik derartige Operationen ausgeführt wurden. Von diesen Transplantationen
sind 2 an der oberen Extremität, 28 an der unteren ausgeführt, und zwar am
Knie die Ueberpflanzung von Biceps und Semitendinosus 5mal, von Seruiten-
dinosus allein 2mal, von Sartorius 2mal, vom Tensor fase. lat. lmal. Ara Fuß
wurde die Sehne des Tib. ant. 6mal, die des Ext. hall. long. 12mal, die des
Ext. dig. com. long. 5mal, des Tib. post. 2mal, des Flex. hall. long. 4mal,
des Flex. dig. com. 3mal, des Peroneus long. lmal, des Peroneus brevis 2mal
überpflanzt. 36mal wurden die Sehnen, z. T. durch Seidenzöpfe verlängert,
subperiostal eingebettet.
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Referate.
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Die Indikation war 3mal ein Trauma. In 13 Fällen waren es schlaffe
Lähmungen nach Pol. ant. acut. Angeborene Lähmungen gaben 4mal die
Ursache ab und lmal Lähmung nach Exstirpation eines Neurofibroms. 3mal
wurde wegen Lähmungen nach Gehirnentzündung, lmal nach entzündlichen
Vorgängen und lmal nach Gelenkrheumatismus operiert. Bei 4 Fällen ist die
Ursache der Lähmungen nicht klar. Von diesen 30 Fällen wurden 21 nach¬
untersucht. In allen Fällen war mindestens eine geringe Stellungsverbesserung
erzielt, in vielen Fällen geradezu glänzende Resultate. Von den verschiedenen
Operationsmethoden hat sich die Helfe richsche subperiostale Einpflanzung der
Sehnenenden stets aufs beste bewährt. B1 encke-Magdeburg.
Heusner, Beiträge zur Behandlung der Knochenbrüche. Deutsche Zeitschr.
f. Chir. Bd. 80.
Heusner, beschreibt eine ganze Reihe von Apparaten und Verbänden,
die sich ihm bei der Behandlung von Knochenbrüchen recht gut bewährt haben
und die leicht und schnell, wenn man das nötige Schienenmaterial zur Hand
hat, mit Hilfe eines Schlossers angefertigt werden können. Da sich diese Appa¬
rate und Verbände auch sehr gut für die Behandlung gewisser orthopädischer
Leiden eignen, kann die Arbeit zum Studium nur dringend empfohlen werden;
sie wird dem Leser manche gute Anregung geben, die ihm in der Praxis zum
Nutzen seiner Patienten nur dienlich sein kann. Blencke-Magdeburg.
J. Käst, Ein Fall von doppelter Spontanfraktur. Wiener med. Wochenschr.
1905, Nr. 46.
Ein 31 Jahre alter Mann erlitt beim Umdrehen im Bette ohne jede nach¬
weisbare Ursache doppelte Fraktur des linken Oberschenkels. Die Beine lagen
hierbei ganz parallel zueinander. Der Mann fühlte ein dreimaliges Krachen,
ohne nennenswerten Schmerz; von da an konnte er das Bein nicht mehr be¬
wegen Vorher hatten durch 2 Tage leichte Schmerzen im Knie bestanden.
Bei der Untersuchung des Patienten im Spital, wohin derselbe im Wagen
sitzend, und ohne daß er über Schmerzen klagte, gebracht wurde, wird eine
doppelte Fraktur des Oberschenkels und zwar knapp über dem Kniegelenk und
im oberen Drittel konstatiert. Es besteht eine sehr starke Schwellung be¬
sonders im oberen Drittel des Oberschenkels. Aktive Bewegungen sind un¬
möglich ; durch passive Bewegungen, die fast völlig schmerzlos sind, läßt sich
eine bogenförmige Knickung de9 Oberschenkels erzeugen. Keine Verbiegung
des Beines, keine Verschiebung der Bruchstücke. Die Behandlung erfolgt in
der üblichen Weise im Schienenverband, später im Elbogenschen Gipsver¬
band; die Heilung erfolgt unter mächtiger Ca 11 usbi 1 dung und nimmt
76 Tage in Anspruch.
Bezüglich der Aetiologie dieses Falles von Spontanfraktur vermag Ver¬
fasser kein sicheres Moment zu finden. Es besteht zwar eine gut kompensierte
Insuffizienz der Semilunarklappen der Aorta, doch dürften die durch eine
solche hervorgerufenen Ernährungsstörungen im Knochen nicht geeignet sein, die
Widerstandskraft des Knochens so bedeutend herabzusetzen. Unter den sonstigen
prädisponierenden Momenten konnten nur die Tabes in Betracht gezogen wer¬
den, da einige Symptome gefunden wurden, die den Verdacht einer Tabes
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662
Referate.
rechtfertigten, trotz des jugendlichen Alters des Patienten und des Fehlen?
einer vorausgegangenen Lues. Bei dem Patienten fanden sich abgeschwächte
Sehnenreflexe, andeutungsweise vorhandene reflektorische Pupillenstarre; für
Tabes sprach noch die Lokalisation der Fraktur im Oberschenkel, die auf¬
fallende Analgesie und die enorme Calluswucherung. Verfasser hat nun den
Patienten 5 Jahre nach der Fraktur wieder untersucht und konnte auch da
kein neues Symptom, das den Verdacht auf Tabes gerechtfertigt hätte, finden,
doch läßt er immerhin noch die Möglichkeit einer solchen offen, da in manchen
Fällen zwischen Erstsymptomen und dem Manifest werden der Tabes ein sehr
langer Zwischenraum verstreichen kann. Haudek-Wieo.
Kohl, Ueber eine besondere Form der Infraktion: die Faltung der Knochen-
corticalis. Deutsche Zeitschr. f. Chir. 1905.
Wenn auch Gurlt und Bruns bereits bei ihren experimentellen Unter¬
suchungen an Kinderleichen über das Zustandekommen von Infraktionen auf
eine quere Runzelung an der Corticalschicht des Knochens auf der konkaven
Seite der Infraktionsstelle aufmerksam gemacht haben, so hält sich Ver¬
fasser doch Für berechtigt, bei seinen Befunden bei 6 jugendlichen Indi¬
viduen im Alter von 10—16 Jahren von einer noch nicht beschriebenen typi¬
schen Verletzung zu sprechen. Es handelt sich dabei um eine Stauchung der
Corticalis an der dorsalen Seite des Radius ohne Kontinuitätstrennung der
volaren Seite des Radius, und stellt dieser Befund gleichsam eine Vorstufe der
wirklichen Infraktion dar. Auch wurde eine Dislocatio ad axin nur einmal
und zwar nur in geringem Grade beobachtet. Die Entstehungsweise der Ver¬
letzung ist dieselbe wie die einer wirklichen Infraktion. Beigegebene Röntgen¬
bilder erläutern den Befund. Vü 11 ers-Berlin.
Molina-Castilla, Knochenveränderungen bei Rhachitis. Dis8. Freiburg 1905.
Verfasser beschreibt eingehend 8 Fälle von Rhachitis und kommt auf
Grund seiner an diesen Fällen gemachten Untersuchungen zu dem Ergebnis,
daß nicht alle Knochen in jedem Falle gleich verändert sind. Am stärksten
sind es die Rippen und das Femur, insbesondere dessen unteres Ende. Das
Schädeldach zeigt meistens keine ausgeprägten rhachitischen Veränderungen.
Verfasser gibt sodann noch eine kurze Uebersicht der Ansichten der Autoren
der Neuzeit über die Aetiologie und pathologische Anatomie. Er kann auf
Grund seiner Untersuchungsergebnisse Heubner und Stölzner nicht bei¬
pflichten und schließt sich in der Beurteilung der Gewebsveränderung an rhachi¬
tischen Knochen der Beurteilung von Ziegler an, der ja das Wesen der Er¬
krankung in einer prolipherierenden, fibrösen, osteoplastischen Peri- und End¬
ostitis sucht, und die enchondrale Wachstumsstörung als eine Folge dieses
Prozesses betrachtet. Blencke-Magdeburg.
Grißlich, Ein Fall von Osteomalacie, 6 Jahre nach doppelseitiger Kastration
anatomisch untersucht. Diss. Freiburg 1905.
\ erfasser berichtet über den Ausfall der Sektion eines Falles von Osteo¬
malacie bei einer Frau, die an Ileus gestorben und bei der 6 Jahre vor ihrem
Tode die doppelseitige Kastration ausgefülirt war. Verfasser glaubt annehmen
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Heferate.
663
zu müssen, daß dieser Zeitraum von 6 Jahren gewiß hinreichend gewesen wäre,
um die Osteomalacie unter sonst günstigen Verhältnissen zur Heilung zu bringen.
Allein die klinischen osteomalacischen Beschwerden bis zum Tode der Patientin
einerseits, sowie die makroskopischen wie mikroskopischen Untersuchungen
anderseits bestätigen deutlich, daß keine Heilung stattgefunden hatte, sondern
daß zur Zeit des Todes der Patientin noch eine ausgebreitete osteomalacische
Knochenerkrankung vorhanden war. B1 e n c k e - Magdeburg.
Strauch, Ueber einen Fall von nichtpuerperaler Osteomalacie. Diss. München
1905.
Nach einigen allgemeinen Bemerkungen über die Osteomalacie überhaupt
berichtet Verfasser über einen Fall von schwerer, nicht puerperaler Osteomalacie,
der zur Sektion kam. Der darüber aufgenommene Sektionsbericht ist der Arbeit
beigegeben. Die Aetiologie dieses Falles ist vollkommen dunkel. Die Frau war
die Gattin eines Hauptraanns und gehörte somit den besseren Kreisen an. Ganz
besonders merkwürdig ist, daß der betreffende Fall von doch offenbar hoch¬
gradiger Osteomalacie klinisch nicht diagnostiziert wurde. Die klinische Diagnose
lautete auf hysterische Psychose. B1 e n c k e - Magdeburg.
Spieler, Osteoperiostitis luetica und exzessives Längenwachstum der rechten
Tibia. Gesellschaft f. innere Med. u. Kinderheilkunde zu Wien. Münch,
med. Wochenschr. 1906, 3.
Bei einem 12jährigen hereditär syphilitischen Kinde ist der rechte Unter¬
schenkel 5 cm länger und in seinem größten Umfange 3 cm dicker als der
linke. Die rechte Tibia zeigt Säbelscheidenform und zugleich höckerige, un¬
regelmäßige Verdickungen und Auftreibungen. Diese deformierende luetische
Ostitis hat große Aehnlichkeit mit der deformierenden Ostitis Pagets.
B1 e n c k e - Magdeburg.
Hohlfeld, Fall von Osteogenesis imperfecta. Med. Gesellschaft zu Leipzig,
15. Dez. 1905. Münch, med. Wochenschr. 1906, 7.
Hohlfeld hat das Kind bereits 1 Jahr vorher vorgestellt. Damals war
eine Fraktur der 7., 8. und 9. Rippe rechts dicht neben der Wirbelsäule nach¬
zuweisen. Hinzugekommen ist noch seit dieser Zeit eine Fraktur der rechten
und linken Fibula. Die Entwicklung der Knochenkerne bewegte sich im
Rahmen des Normalen; desgleichen ließ sich auch ein gleichmäßiges Längen¬
wachstum feststellen. Verfasser glaubt demnach annehmen zu dürfen, daß sich
im Knochen andere pathologische Prozesse, als sie in der mangelhaften Tätig¬
keit der Osteoblasten zum Ausdruck kommen, nicht abspielen.
B1 e n c k e - Magdeburg.
G äugele, Ueber Ostitis fibrosa seu deformans. Fortschritte a. d. Gebiete der
Röntgenstrahlen IX, 5.
Gäugele gibt in kurzen Auszügen die Krankengeschichten der bisher
veröffentlichten Fälle von Recklinghausenscher Knochenkrankheit wieder.
Es sind 11 an der Zahl, denen er noch einen 12. in der Köh 1 ersehen chirur¬
gisch-orthopädischen Privatklinik behandelten hinzufügt, von dem 7 Röntgen¬
bilder beigegeben sind. Nach einer eingehenden Beschreibung dieses seltenen
Krankheitabildes kommt er auf Grund seiner Untersuchungen, Studien und
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664
Referate.
Beobachtungen zu der Ansicht, daß die Osteomalacia deform ans eine Knochen-
erkrankung ist, die sowohl einen einzelnen Skelettteil als auch das gesamte
Skelett befallen kann und mit einem Umbau der betroffenen Knochen einher¬
geht, insofern an die Stelle des Fettmarkes Fasermark tritt, die Knochensubstanz
durch halisterischen Knochenschwund zur Resorption kommt und durch Osteoid¬
gewebe ersetzt wird. Als ständige Begleiterscheinungen sind zu nennen Cysten¬
bildung und riesenzellensarkomartige Tumoren, die aber keine echten Riesen¬
zellensarkome sind. Der Charakter der Krankheit ist ein verhältnismäßig
gutartiger; das Leiden führt zwar allmählich dem Tode zu, kann jedoch viele
Jahre lang dauern. Unsere Hauptaufgabe ist es, den Kranken das Dasein
möglichst zu erleichtern und zu verhüten, daß sie allzu hilflos werden. Durch
diese Forderungen wird die orthopädische Behandlung in den Vordergrund ge¬
rückt. Blencke-Magdeburg.
Lissauer, Ein Fall von Ostitis fibrosa. Monatsschr. f. Unfallheilkunde und
Invalidenwesen 1905, Nr. 2.
In dem beschriebenen Falle traten neben heftigen Schmerzen hochgradige
Knochenverdickungen und -Verbiegungen auf, von denen das ganze Skelettsystem
außer den kleinen Fuß- und Handknochen, den Schädel- und Beckenknochen
betroffen war. Der Verlauf der Krankheit erstreckte sich über 10 Jahre. Die
mikroskopische Untersuchung ergab starken Knochenschwund mit gleichzeitiger
Umwandlung des Knochenmarkes in faseriges Gewebe. Die Knochen waren
außerordentlich brüchig. Im Beginne der Krankheit machte die Unterscheidung
von der Osteomalacie Schwierigkeiten. Fränkel - Berlin.
Millner, Multiple kartilaginäre Exostosen. Berliner med. Gesellschaft, Sitzung
vom 21. März 1906. Münch, med. Wochenschr. 1906, 13.
Demonstration eines Mannes mit multiplen kartilaginären Exostosen,
dessen Extremitäten verkürzt, verkrümmt und auch teilweise stark verdickt
waren. Die Ursache dieses hereditären Leidens ist dem Verfasser unbekannt,
das seiner Meinung nach aber sicherlich nichts mit Rhachitis zu tun hat.
Blencke- Magdeburg.
Oettinger, Ueber kartilaginäre Exostosen. Diss. München 1905.
Verfasser berichtet über 2 Fälle von kartilaginären Exostosen aus der
Münchener chirurgischen Poliklinik und gibt im Anschluß hieran einen kurzen
Ueberblick über dieses Krankheitsbild. Es handelte sich in beiden Fällen um
eine langsam wachsende, knochenharte Geschwulst an dem oberen resp. unteren
Epiphysenende der Tibia, welche in früher Jugend ohne klare Ursache ent¬
standen, niemals erhebliche Störungen gemacht hatte, wenigstens in dem einen
Falle nicht, so daß auch jeder operative Eingriff unterbleiben konnte. Weniger
harmlos stellte sich der zweite Fall dar, in welchem die von dem unteren Epi-
physenende der rechten Tibia ausgehende Geschwulst die benachbarte Fibula
bauchig ausgehöhlt und krummgebogen hatte, ja dieselbe zu verkleinern drohte.
Hier war natürlich ein operativer Eingriff nötig, durch den die Exostose ent¬
fernt werden konnte. Die Röntgenbilder sind der Arbeit beigegeben.
Blencke- Magdeburg.
Digitized by v^oosLe
Referate.
665
Gelinsky, Zur Behandlung der Pseudarthrosen. Beiträge zur klin. Chir.
Bd. 48, Heft 1.
Verfasser empfiehlt warm die von Prof. Müller-Rostock angegebene
Methode der osteoplastischen Pseudarthrosenoperation. Die Technik ist folgende:
Es wird ein ca. 2—3 cm breiter, 7—9 cm langer, zungenförmiger Lappen in
der Längsachse des Gliedes geschnitten, so daß die Basis auf dem proximalen
Ende liegt, während die Spitze des Lappens etwa 2—3 cm auf dem distalen
Ende verläuft. Der Schnitt durchtrennt Haut und Periost bis auf den Knochen.
Dann wird von der Spitze des Lappens her mit einem scharfen Meißel eine
ca. 2—3 mm dünne Knochenlamelle bis zur Frakturstelle hin abgemeißelt, von
hier bis zur Lappenbasis nur Haut und Periost von der Unterlage abgetrennt.
Die Brucbenden werden angefrischt bezw. interponierte Teile entfernt und die
Fragmente adaptiert. Dann wird der Hautperiostlappen durch Faltung der
häutigen Basis nach oben verschoben, so daß der Periostknochenlappen direkt
auf die Bruchstelle zu liegen kommt und hier fixiert.
Die Methode ist natürlich nur anwendbar, wenn der Knochen direkt
unter der Haut liegt, kommt also vorwiegend für Pseudarthrosen des Unter¬
schenkels in Frage. Von 13 so behandelten Fällen sind 12 geheilt, ein Mi߬
erfolg bei sehr schlechten Ernährungsverhältnissen der Haut. Verfasser berichtet
außerdem noch über 71 verschiedenartige Fälle von Pseudarthrosen, die nach
anderen Methoden behandelt wurden, mit Naht, Nagelung, Blutinjektion etc.
Wette-Berlin.
Jottkowitz, Zur Heilung der Pseudarthrosen. Deutsche med. Wochenschr.
1905, 43.
Jottkowitz hat mit der Anwendung der Jodtinktur bei 2 Pseudarthrosen-
fällen die gleich günstigen Erfahrungen gemacht wie Tachard und gibt die
diesbezüglichen Krankengeschichten wieder. Er hält diese der Bi er sehen Blut¬
einspritzung für überlegen, da manche Patienten zunächst von einer Blutentnahme
nichts wissen wollen. Ferner unterliegt es keinem Zweifel, daß die Einspritzung
von Jodtinktur technisch ungleich einfacher ist. Man braucht nichts weiter als
eine aseptische Spritze. Der Eingriff kann überall ohne Assistenz, ohne sach¬
kundige Hilfe ausgeführt werden. Wenn man sogleich bei der ersten Ein¬
spritzung genügend Jodtinktur einspritzt — in den vorliegenden Fällen nahm
Jottkowitz 2 bezw. 4 ccm —, so genügt schon eine einmalige Einspritzung.
Es ist deshalb in jedem Falle zuerst als das einfachste und dabei doch außer¬
ordentlich wirksame Verfahren die Einspritzung von Jodtinktur zu versuchen.
B1 e n c k e - Magdeburg.
Micka, Ueber die Behandlung von Pseudarthrosen. Diss. Erlangen 1905.
Verfasser berichtet über 12 Pseudarthrosenfälle aus der Erlanger Klinik.
Befallen waren lmal der Oberarm, je 3mal der Vorderarm, der Oberschenkel
und Unterschenkel und 2mal die Tibia allein. lOmal ging eine einfache
Fraktur und 2mal eine komplizierte voraus. Die Pseudarthrose bestand seit
2 Monaten bis zu 4 Jahren. Die Behandlung gestaltete sich für die ersten
5 Fälle unblutig, während 7 operiert wurden. Bei der unblutigen Behandlung
wurde in 2 Fällen die subkutane Zerreißung der bindegewebigen Vereinigung
angewandt, in 1 Falle eine Korrektion der falschen Stellung und bei 2 anderen
genügte die Friktion der Bruchenden resp. Massage und Stauungshyperämie,
Digitized by
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666
Referate.
um den Callus zum Wachstum anzuregen. Die Operation bestand in allen 7
operierten Fällen in der Resektion der Knochenenden mit darauffolgender Naht.
Die Heilungsdauer schwankte zwischen 7 Wochen und 8 Monaten. Von den
12 Fällen konsolidierten 11, d. h. 92°/o. Ein Fall, der 8mal operiert werden
mußte, ist noch nicht zum Abschluß gekommen. Der funktionelle Erfolg war
bei 9 Fällen ein vollständiger. Es ergibt sich auch aus dieser kleinen Zu
sammenstellung wieder, daß bei allen hartnäckigen Pseudarthrosen die Op*e
ration als das am meisten Aussicht auf Erfolg bietende Verfahren anzusehen
ist, wenn die vorher stets anzuwendenden konservativen Verfahren nicht zum
Ziele führen. B1 e n c k e• Magdeburg.
Voigtländer, Ueber Pseudarthrosen. Diss. Leipzig 1905.
Verfasser gibt einen kurzen Ueberblick über die Pseudarthrosen, ihre
Entstehung, über das Vorkommen derselben und ihre Behandlung und berichtet
im Anschluß hieran über einen Fall von Pseudarthrose des Humerus aus der
chirurgischen Klinik zu Leipzig, bei der der Grund zur Entstehung eine Inter¬
position von Muskeln war. Dieselben wurden entfernt; die Knochenenden
wurden angefrischt und mit Draht vernäht. Es trat feste Konsolidation der
Fraktur ein. Blencke-Magdeburg.
Pfennigsdorf, Ueber den Zusammenhang von akuter Osteomyelitis und
Trauma. Diss. Halle 1906.
Von 160 Fällen von Osteomyelitis, die in der Hallenser Klinik zur Be¬
handlung kamen, wurde bei 66, d. h. bei 41°/o, ein Trauma als Gelegenheits¬
ursache erwähnt. Wenn darunter sich auch verschiedene Fälle befinden, bei
denen die Angaben unklar oder wenig wahrscheinlich waren, so müssen nach
des Verfassers Ansicht immerhin auch bei strenger Auslese ein Viertel der Palle
als sicher durch Trauma ausgelöst angesehen werden. Die 66 Krankengeschichten
werden in Kürze wiedergegeben und an der Hand dieser kommt Pfennigs¬
dorf zu dem Schluß, daß wohl nicht daran gezweifelt werden darf, daß das
Trauma in vielen Fällen die akute Osteomyelitis oder das Rezidiv derselben
auslöst bezw. die Entstehung derselben begünstigt und einleitet. Der Zusammen¬
hang zwischen Trauma und Erkrankung ist nur dann zuzugeben, wenn ersteres
die erkrankten Knochen wirklich getroffen hat und der Erkrankung nicht
länger als 2—8 Wochen voraufgegaugen ist. Blencke-Magdeburg.
Garrd, Ueber die Indikationen zur konservativen und operativen Behandlung
der Gelenktuberkulose. Deutsche med. Wochenschr. 1905, Nr. 47 u. 48.
Die Verhandlungen des internationalen Chirurgenkongresses zu Brüssel
gaben Gar re die Veranlassung seine Ansichten und Erfahrungen über die Be¬
handlung der Gelenktuberkulose mitzuteilen. Er übt sowohl konservative wie
operative Methoden. Bei den konservativ behandelten Fällen wird die lokale
Behandlung beherrscht durch Gipsverbände und Jodoforminjektionen.
Die konservativen Behandlungen werden besonders im Kindesalter, dann
aber auch nach dem 50. Lebensjahr zur Anwendung gezogen. Bei letzteren
führt Gar re nicht gerne größere Resektionen aus; er amputiert, wenn die
konservative Behandlung nicht zum Ziele führt. Der Allgemeinzustand des
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Referate.
667
Patienten hat auf die Indikationsstellung insofern Einfluß, als wichtige Ver¬
schlechterungen desselben die konservative Methode, auch wenn dieselbe sonst
auch indiziert wäre, ausschließen. Ebenso sind die sozialen Verhältnisse von
Bedeutung. Schlechte soziale Verhältnisse lassen zu operativen Eingriffen
schreiten, wo unter günstigen die konservative Behandlung noch indiziert bleibt.
Der Lokalbefund bestimmt die Therapie insofern als schwere eitrige und
fistulöse Tuberkulose von vornherein zur Resektion kommen, ebenso Fälle mit
hohen Schmerzen und Fieber. Tuberkulöse Abszesse geben an sich keine Re¬
sektionsindikation.
Ausdrücklich wird vor der Inzision derselben gewarnt.
Bei Fisteln ist zu individualisieren. Wenig sezernierende sind durch
Auskratzung oder sonstige konservative Behandlung meist zum Schließen zu
bringen. Bei starker Sekretion ist besonders auch in Rücksicht auf die Um¬
gebung des Patienten sofort gründlich zu operieren.
Das Röntgenbild läßt sich für Indikations- und Prognose¬
stellung nur mit großer Vorsicht verwerten. Extraartikuläre Herde
sind vor Einbruch ins Gelenk zu entfernen und mit Jodoformplombe zu versehen.
Die Mortalität wechselt bei Garres Material je nach dem Gelenk
zwischen 10 und 25 °o.
Was die einzelnen Gelenke anbetrifft, so gibt Gar re bei dem Schulter¬
gelenk der konservativen Methode weiten Raum, ebenso beim Hand- und beim
Hüftgelenk, während er beim Ellbogen-, Knie- und Fußgelenk dem operativen
Eingriff mehr Platz gibt.
Die von ihm berichteten Resultate sind durchgehend sehr günstige.
Ich möchte mein Referat nicht schließen, ohne auch den Herren, welche
wie ich die konservative Methode, wenigstens für das Kindesalter, noch höher
als Garre bewerten, die Originalarbeit zum genauen Studium zu empfehlen.
A. Schanz-Dresden.
Geb eie und Ebermayer, Ueber Behandlung der Gelenktuberkulose. Münchener
med. Wochenschr. 1906, Nr. 13.
Die Münchner chirurgische Klinik, aus der die vorliegende Arbeit stammt,
nimmt bei der Behandlung der Gelenktuberkulose den Standpunkt ein, daß die
zum Teil heute vertretene ultrakonservative Richtung gerade so verkehrt ist,
wie die ultraoperative zu Anfang der 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts, wie
die Periode der Frühresektion. Sie stellt sich damit auf einen Standpunkt, auf
dem wohl zur Zeit die allermeisten Autoren, die auf diesem Gebiete tätig sind,
stehen. Auch in der Art der Behandlung weicht sie nicht von den allgemein
üblichen Verfahren ab. Da die aus der Klinik stammende Statistik gezeigt hat,
daß die Chancen der Dauerheilung bei operativer Behandlung bezw. bei der
Resektion unzweifelhaft schlechter sind bei älteren Personen wie bei jugend¬
lichen, so raten die Verf. zur primären Amputation bei vorgeschrittenen Fällen,
um so eine möglichst rasche und radikale Fortschaffung der tuberkulösen Herde
zu bewirken. Blencke-Magdeburg.
Zesas, Ueber Gelenkerkrankungen bei Blutern. Fortschr. d. Mediz. 1905, Nr. 11.
Nach einer kurzen geschichtlichen Einleitung beschreibt Verfasser kurz die
wesentlichen Merkmale der Gelenkerkrankungen bei Blutern und die pathologisch-
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668
Referate.
anatomischen Befunde bei Bluterknieen, wie sie hauptsächlich von Könij?
erhoben worden sind. Differentialdiagnostisch komme besonders die Gelenk-
tuberkulöse in Betracht und zwar speziell die von König sogenannte Form
des Hydrops tuberculosus fibrinosus. Von Bedeutung sei hier der Umstand,
daß Bluterarthropathien sich erfahrungsgemäß häufig gleichzeitig an verschie¬
denen Gelenken manifestieren, bezw. daß verschiedene Gelenke Zeichen einrr
abgelaufenen Erkrankung aufweisen. Ferner sei von Belang, daß die Bluter¬
gelenkerkrankung in ihrem Beginn akut, oft ohne nennenswerte Veranlassen^
auftrete, daß die Funktion anfangs intakt bleibe und Verschlimmerungen schub¬
weise aufträten. Die Prognose sei ernst. Die Therapie soll sich möglichst
passiv verhalten. Bei eventuellen Deformationen könne eine schonende ortho¬
pädische Behandlung eingeleitet werden. Wette-Berlin.
Buchwald, Ueber Arthropathie und trophische Störungen bei Syringomyelie.
Diss. Leipzig 1905.
Verfasser bespricht zunächst die Syringomyelie im allgemeinen, um dann
sich etwas eingehender mit den bei dieser Erkrankung öfter auftretenden Arthro¬
pathien zu beschäftigen, und zwar tut er das letztere im Anschluß an zwei der¬
artige Fälle von Syringomyelie. In dem einen war das Ellenbogengelenk er¬
griffen, in dem anderen das Schultergelenk und die Phalangen. Bei jenem war
trotz starker Verdickung des Gelenks die Funktionsstörung nur gering, bei
diesem dagegen etwas mehr beeinträchtigt. Den ersten Fall rechnet Buch¬
wald der hypertrophischen Form zu, den zweiten der atrophischen. Der
zweite Fall war insofern noch interessant, als man auf dem Röntgenbilde deut¬
lich eine Aufhellung des Knochenschattens erkennen konnte, daß es sich also
offenbar um eine äußerlich nicht erkennbare Knochenatrophie handelte, die
die beginnende Resorption andeutete. In beiden Fällen bestand die für die
Syringomyelie charakteristische Skoliose. Auf die Ausführungen Buchwalds
über die Arthropathie näher einzugehen, halte ich nicht für nötig, da sie ja
an sich nichts Neues bringen. Zwei Abbildungen und ein 30 Arbeiten enthaltendes
Literaturverzeichnis sind der Arbeit beigegeben. Blencke-Magdeburg.
Feh res, Ueber einige Fälle von Gelenkerkrankungen bei Syringomyelie unter
besonderer Berücksichtigung der Unfallfrage. Diss. Rostock 1905.
Verfasser gibt die Krankengeschichten von 6 Fällen von Knochen- und Ge¬
lenkerkrankungen bei Syringomyelie wieder, von denen zwei mit Rücksicht gerade
auf die Unfall frage einiges Interesse beanspruchen dürften. Sie illustrieren in
prägnanter Weise die Schwierigkeiten, welche solche Fälle in praxi für die
Beurteilung und Auslegung der sozialen Gesetzgebung bieten. Es handelt sich
bei dieser Erkrankung wie bei so manchen anderen eben darum, daß man auf
Grund der Kenntnis derselben gegebenenfalls an die Möglichkeit ihres Vorliegens
denkt. Schließlich ist noch bemerkenswert, daß von den 6 vorliegenden Fällen
4 Deformitäten der Wirbelsäule aufweisen. Blenck e-Magdeburg.
Horn, Rheumatismus nodosus. Gesellschaft für innere Medizin und Kinder¬
heilkunde zu Wien. Münchner med. Wochenschr. 1906, 2.
Im Anschluß an eine Chorea und Endokarditis hatte sich ein Rheumatis¬
mus nodosus entwickelt, eine äußerst seltene Erkrankung. An der Beugeseite
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Referate.
G69
beider Handgelenke, an der Streckseite der Metacarpophaiangealgelenke, stets
entlang den Sehnen, saßen zahlreiche erbsengroße, druckempfindliche, subkutane
Knötchen diesen auf, Über welchen die Haut normal und verschieblich war.
Ebensolche Knötchen saßen symmetrisch angeordnet an beiden Ellbogen-, Knie-,
und Sprunggelenken, an der Hinterhauptsschuppe, über den Processus spinosi
der Wirbelsäule etc. Einzelne Knötchen schwanden, andere frische bildeten
sich. Sie schwinden meist spontan nach 4—Öwöchentlichem Bestände, unsere
Therapie ist dagegen machtlos. Biencke-Magdeburg.
Wegner, Ueber die Entstehung der freien Gelenkkörper mit besonderer Berück¬
sichtigung der Osteochondritis dissecans König. Diss. Leipzig 1906.
Verfasser bringt zunächst eine Literaturzusammenstellung, wobei es ihm
besonders darauf ankommt, klar zu legen, wie sich die verschiedenen Autoren
die freien Gelenkkörper entstanden denken, und geht dann zu einem Fall über,
den er zu beobachten und zu untersuchen Gelegenheit hatte. Es handelte sich
in dem betreffenden Falle um einen flächenhaften Gelenkkörper des Kniegelenks,
bei dem nach seiner Gestalt, seiner Konfiguration, seiner Demarkationslinie,
sowie nach der Anamnese die Entstehung durch ein Trauma höchst unwahr¬
scheinlich ist. Da eine Arthritis deformans des Gelenks ebenfalls nicht vor¬
handen war, bleibt nach des Verfassers Ansicht nichts weiter übrig, als die
Entstehung derselben auf die von König sogenannte Osteochondritis dissecans
z urückzuführen. B1 e n c k e - Magdeburg.
Kahn, Ueber intermittierendes Hinken, Diss. Leipzig 1905.
Unter Berücksichtigung der einschlägigen Literatur gibt Kahn ein ge¬
naues Bild dieser Erkrankung und vermehrt dann im Anschluß hieran die
Kasuistik um zwei weitere Fälle, die in der Poliklinik von Oppenheim beob
achtet wurden. In dem ersten Fall ist neben der Erkrankung in beiden Unter¬
extremitäten auch das „intermittierende Hinken des rechten Armes“ vorhanden.
Dazu kam als weiterer Befund eine beiderseitige Dupuytrensche Fingerkontrak¬
tur. In dem zweiten bestand noch eine Hemiparese. Nach Kahn ist es an¬
zunehmen, daß beide Krankheitserscheinungen koordinierte Symptomenkomplexe
darstellen, also für beide eine und dieselbe Grundursache zu finden ist in einer
obliterierenden Gefäßerkrankung. Blencke-Magdeburg,
Neubert, Ein Fall von diffuser Sklerodermie mit Raynaudschem Sym-
ptomenkomplex und Muskelatrophien nebst Beobachtungen über Gelenk-
und Knochenveränderungen mit Hilfe der Röntgenstrahlen. Diss. Kiel. 1905.
Verfasser gibt zunächst einen Ueberblick über die Geschichte, Aetiologie
und Symptomatologie der Sklerodermie, wobei er in erster Linie nur die
neueren Autoren berücksichtigt hat, um dann den von ihm selbst beobachteten
Fall zu beschreiben, bei dem vor allen Dingen den Orthopäden die vorhan¬
denen Muskelatrophien und die Gelenk- und Knochenveränderungen interessieren
dürften. Die Befunde der letzteren, die die vorgenommenen Röntgenaufnahmen
ergaben, sind in der ausführlichsten Weise wiedergegeben. Aus ihnen geht
hervor, daß die Knochen in schwerster und gleichförmiger Weise verändert
sind, daß schwere Gelenkveränderungen in beiden Handgelenken bestehen und
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670
Referate.
daß daneben auch noch Verkalkungen in fibrösen Ligamenten und Muskeln
vorhanden sind. Auf Einzelheiten kann ich hier nicht näher eingehen, sie
müssen schon im Original nachgelesen werden, wie denn überhaupt die Lek¬
türe dieser Arbeit, die sich weit über die gewöhnlichen Dissertationen erhebt,
aufs angelegentlichste empfohlen werden kann. Eine Beurteilung der er¬
wähnten Veränderungen läßt dann Ne übert folgen und bespricht dann noch
in den Schlußabschnitten der Arbeit, der fünf Röntgenbilder und ein 84 Num¬
mern enthaltendes Literaturverzeichnis beigegeben sind, die Pathogenese und
die Therapie dieses Leidens. Blencke-Magdeburg.
Henrich, Ein Fall von beginnender Akromegalie. Diss. Bonn 1906.
Unter genauer Berücksichtigung der diesbezüglichen Literatur gibt Ver¬
fasser zunächst den Standpunkt der einzelnen Autoren über dieses Krankheits¬
bild wieder, um im Anschluß hieran auf einen Fall von beginnender Akro¬
megalie näher einzugehen, den er zu beobachten Gelegenheit hatte. Es war
keine Akromegalie, die sofort als solche auf den ersten Blick erkannt werden
konnte und die doch bei genauerer Berücksichtigung der vorhandenen Sym¬
ptome die Diagnose kaum zweifelhaft erscheinen ließ.
B1 e n c k e - Magdeburg.
Keller mann, Behandlungsmethode der Ischias mit Injektionen von ß-Eukain.
Med. Gesellschaft zu Kiel, 6. Mai 1901. Münch, med. Wochenschr. 1006.
Nr. 7.
Im ganzen wurden 15 Fälle nach dieser Methode behandelt. Es wurden
60—100 ccm einer 0,l° oigen ß-Eukainlösung, der 0,8 ° o Kochsalz beigefügt war,
in den Nervenstamm des Ischiadicus eingespritzt an dessen Austrittsstelle aus
dem Foramen ischiadicum majus. In 7 Fällen genügte eine Einspritzung, in
weiteren 7 zwei und in einem Falle mußten vier Injektionen ausgeführt werden.
Der Erfolg war ein durchaus befriedigender. Vor allem bewährte sich diese
Behandlungsmethode auch in chronischen Fällen. Von den drei als Mißerfolg
aufgezeichneten Fällen war einer durch eine Coxitis und Skoliose kompliziert.
B1 e n c k e - Magdeburg.
Wolff, Beitrag zur Therapie der Ischias. Diss. Leipzig 1906.
Verfasser berichtet über 14 Fälle von Ischias, von denen im Altonaer
Krankenhause nach der Lang eschen Empfehlung mit Eukaininjektionen zehn
behandelt wurden, vier mit physiologischen Kochsalzlösunginjektionen. Durch
die Injektion wurden von den zehn Patienten sieben von ihrer Ischias geheilt
und diese Heilungen vollzogen sich ganz akut. Die übrigen vier wurden alle
nach 2—3 Tagen geheilt. Dem Verfasser erscheint der Eukainzusatz für die
Wirkung der Injektion bedeutungslos zu sein; es kommt vor allem darauf an.
größere Flüssigkeitsmengen zu in jizieren. Er riet, 100—150 ccm physiologischer
Kochsalzlösung unter möglichst großem Druck einzuspritzen und zwar an der
Nervenaustrittsstelle perineural, damit der Nerv selbst nicht durch die Nadel¬
spitze verletzt wird. Bien cke-Magdeburg.
A. H. Tubby, The Hunterian Oration on recent surgical Methods in the treat-
ment of certain forms of Paralysis. British Medical journal, March 3, 1906.
Nach kurzer geschichtlicher Einleitung bespricht Tubby die neueren
operativen Eingriffe bei gewissen paralytischen Zuständen, speziell bei Polio-
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Referate.
671
myelitis anterior, spastischer Spinatparalyse, ischämischer Paralyse und Verletzung
der Nerven, und berichtet nach Beschreibung der einzelnen Methoden und der
Technik über seine Operationen und deren Erfolge. 1. Verpflanzung des Extensor
hallucis proprius in den Tibialis anticus und eines Teils des Extensor longus
digitorum an das Cuneiforme internum bei einem Fall von Pes equinovalgus
paralyt. mit Paralyse des Tibialis anticus. 2. Einpflanzung der Außensehne des
Extensor communis digit. in den Tibialis anticus bei paralytischem Talipes valgus.
8. Einpflanzung des Semimembranosus in den Extensor cruris bei Lähmung der
Extensoren inklusive des Sartorius. 4. Bei teil weiser Paralyse des Extensor cruris
Insertion der Fascia lata an die Patella. 5. Verkürzung des Sartorius bei Paralyse
der Extensoren des Knies, der an die Patella angenäht wird. 6. Verlagerung
des Biceps und Sartorius an die Patella bei infantiler Quadricepslähmung. Bei
allen Fällen sehr gute Resultate.
Dann erwähnt er 3 Fälle von wiederkehrender Luxation der Patella nach
Parese der Extensoren, die er durch Faltung der Extensoren in ihrer ganzen
Breite nach einem Querschnitt 1 Zoll über der Patella zur Heilung brachte und
kommt dann zur oberen Extremität. Hier hebt er speziell die Eingriffe bei
Erb-Duchenne scher Lähmung hervor. Er verlagerte mit gutem Erfolg beim
Ausfall der Beugesehnen des Ellbogengelenks einen langen Streifen des Triceps
in den Biceps, weniger Erfolg hatten die Fälle von Deltoideuslähmung, wo er
die Clavicuiarpartie des Pectoralis major verwandte, dagegen pflanzte er mit
gutem Erfolg bei einem Fall von Polyomyelitis ant. mit Serratuslähmung die
untere Hälfte des Pectoralis major in diesen.
Von seinen Nervenanastomosen und Transplantationen hebt er nach
kurzer geschichtlicher Einleitung folgende hervor. 1. Einpflanzung des distalen
Endes des Facialis in den Hypoglossus bei traumatischer Facialisparalyse.
2. Bei zwei Fällen von Talipes calcaneus pflanzt er einen Teil des Nervus popli-
teus internus in den äußeren. 3. Und umgekehrt bei Talipes equino-varus
inseriert er den äußeren Teil des Popliteus in den inneren. Schließlich noch ein
Fall von Lähmung der 5. und 6. Wurzel des Brachialplexus, wo er jedoch ohne
besonderen Erfolg das äußere Nervenbündel in das mittlere pflanzt. Nach
einigen kritischen Bemerkungen über die Erfolge dieser Methoden kommt er
zu dem Schluß, daß bei paralytischen Affektionen, nach Fehlschlagen anderer
Maßnahmen, Muskel- und Sehnentransplantationen und Nervenplastiken nach
sorgfältiger Prüfung des zu entnehmenden Materials gerechtfertigt sind.
Mosenthal -Berlin.
\V. Voltz, Beitrag zur chirurgischen Therapie und Nachbehandlung praktisch
wichtiger traumatischer Lähmungen. Wiener med. Presse 1905, Nr. 46.
Voltz berichtet über 2 Fälle von Nervenverletzungen, in denen dieNerven-
naht ausgeführt wurde. In dem einen Falle handelt es sich um eine Durch¬
trennung des Nervus radialis oberhalb des Condyl. extern, humeri. Operation
2 Monate nach der Verletzung. Nach Exstirpation des Narbengewebes, in das
die Nervenstümpfe eingebettet sind, werden diese durch die paraneurotische
Naht vereinigt.
Im zweiten Falle waren die Beugesehnen der Hand samt dem Nervus
medianus und ulnaris oberhalb des Handgelenkes durchtrennt. Sehnen- und
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XV. Bd. 43
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672
Referate.
Nervennaht 6 Tage nach der Verletzung; die Nerven wurden vernäht und nach
der Methode von Lotheißen in Gelatine eingebettet.
Durch die Operation konnte in beiden Fällen ein teilweiser Erfolg erzielt
werden; eine weitere Besserung soll die Nachbehandlung mittels Massage, Gyrn
nastik und elektrischer Behandlung anstreben. Für die Gymnastik empfiehlt
Voltz Uebungen mit einem leichten Holzstab, die durch die Art ihrer Aus¬
führung eine Funktionsbesserung herbeiführen sollen. Um in dem ersten Fai.e
(Radialislähmung) der passiven Dehnung der Streckmuskeln beim Herunter
hängen der Hand zu begegnen, läßt Voltz in der behandlungsfreien Zeit einr
über Unterarm und Handrücken gelegte Gipsschiene tragen, durch welche Lei
gestreckten Fingern die Hand in starker Dorsalflexion gehalten wird.
Hau d ek-AVien.
Moritz, Duchenne-Erbsche Lähmung. Med. Gesellschaft zu Chenmitz.
20. Dezember 1901. Münch, med. Wochenschr. 1906, 14.
Die Lähmung entstand bei einem 16jährigen Patienten durch einen
Pferdebiß in den Hals. Außer der Lähmung der Schulter- und Armmuskeln
fand sich eine halbseitige Zwerchfelllähmung auf der Seite der Verletzung.
Blencke-Magdeburg.
Balakian, Beitrag zu dem Kapitel der Narkosen!ähraungen. Diss. Leipzig 1905.
Verfasser bespricht zunächst die Aetiologie der peripheren Narkosen-
lähmungen, speziell der Plexuslähmungen, die am häufigsten von allen anderen
Narkosenlähmungen beobachtet werden. Auf seiner statistischen Tabelle, die
nicht weniger als 90 derartige Fälle umfaßt, ist es ihm aufgefallen, daß fa^t alle
weibliche erwachsene Individuen waren. Er will deshalb an die Möglichkeit
denken, daß durch anatomische Verhältnisse weibliche Personen viel mehr
solchen Lähmungen ausgesetzt sind als männliche. Leider fehlt ihm jegliche Mög¬
lichkeit, derartige Untersuchungen bezw. Experimente anzustellen. Auch den
Narkoticis will er eine nicht zu unterschätzende Rolle bei der Entstehung zuge¬
messen wissen. Er geht sodann zur Betrachtung der zentralen Narkosen¬
lähmungen über, von denen er nur 15 Fälle zusammenstellen konnte, und
erwähnt dann noch kurz die Aetiologie der hysterischen Narkosenlähmungen
(7 Fälle), um dann im Anschluß hieran einen Fall mitzuteilen, den er zn
beobachten Gelegenheit hatte, und der umso interessanter ist, als die Lähmung
des Plexus brachialis beiderseits bestand, eine Erscheinung, die zu den gTöfiten
Seltenheiten gehört. Am Schluß seiner sehr lesenswerten Arbeit bespricht dann
Balakian noch die Prophylaxe, die Prognose und Therapie dieser Lähmungen.
Blencke - Magdeburg.
Lewandowski, Bemerkungen über die hemiplegische Kontraktur. Deutsche
Zeitschr. f. Nervenheilkunde; 29. Bd., 18. September 1905. — Derselbe.
Ueber die Bewegungsstörungen der infantilen cerebralen Hemiplegie und
über die Athetose double. Ebendaselbst Bd. 29, 23. November 1905.
Die erste Arbeit ist gleichsam die Einleitung zur zweiten; dieselbe be¬
schäftigt sich mit Untersuchungen bei der Hemiplegie der Erwachsenen. Le¬
wandowski unterzieht die von W er n i ck e und Mann bekanntgemachte Disso¬
ziation der hemiplegischen Lähmung und der hemiplegischen Kontraktur einer
Prüfung. In der zweiten Arbeit sucht er die der sogenannten Athetose double
zu Grunde liegende Bewegungsstörung zu untersuchen und zu definieren. Um
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Referate.
673
iliese abgrenzen zu können, hat er 35 Fälle von anderweitigen, im Kindes¬
alter entstandenen cerebralen Bewegungsstörungen genauer untersucht und
bespricht zunächst einige Punkte in der Klassifikation und in der Symptomato¬
logie der cerebralen infantilen Hemiplegie kurz, um dann zur Ath6tose double
überzugehen. Von den vier Kranken, die er genauer beobachten konnte, gibt
er die Krankengeschichten wieder und bespricht im Anschluß hieran dies Krank¬
heitsbild in kurzen Umrissen. B1 e n c k e - Magdeburg.
Beintker, Zur Kasuistik der Poliomyelitis anterior acuta. Bericht über die
vom 1. November 1898 bis zum 31. Juli 1905 in der med. Poliklinik zu
Leipzig behandelten Fälle. Diss. Leipzig 1905.
Im ersten Teil seiner Arbeit gibt Verfasser eine genaue Beschreibung dieses
Krankheitsbildes sowohl in klinischer wie auch pathologisch-anatomischer Hin¬
sicht, bespricht die Folgen, Prognose, Aetiologie und Therapie in gesonderten
Abschnitten, um dann im zweiten Teile 71 Krankengeschichten wiederzugeben
von den Fällen, die in dem bezeichneten Zeitraum in der Leipziger Poliklinik
zur Behandlung kamen. Die Ergebnisse seiner Untersuchung faßt er in folgenden
Schlußsätzen zusammen:
1. Die Poliomyelitis acuta scheint in gewissem Zusammenhang mit den
Krankheiten des Verdauungstractus zu stehen.
2. Die Knaben scheinen in dem Alter bis zu 4 Jahren weit mehr gefährdet
zu sein als die Mädchen, welche im 5.-7. Lebensjahre das größere Kon¬
tingent stellen.
3. Ist ein Bein offensichtlich befallen, so pflegt auch das andere ein Mit¬
befallensein zu zeigen, das sich besonders durch eine Herabsetzung der elek¬
trischen Erregbarkeit kennzeichnet.
4. Für die Stellung der Prognose in Bezug auf die Wiederherstellung
der einzelnen Muskeln gibt uns die Untersuchung mit dem konstanten Strom
keine absolut sicheren Anhaltspunkte.
5. Auch in den Fällen, wo der Prozeß abgelaufen zu sein scheint, ist
manchmal durch konsequente elektrische Behandlung ein günstiges Resultat zu
erzielen. Blencke-Magdeburg.
Schlesinger, Pseudohypertrophia muscularis und Myxödem. Gesellschaft f.
innere Med. u. Kinderheilkunde Wien. Münch, med. Wochenschr. 1906, 2.
Es handelt sich um einen 10jährigen Knaben, der spät gehen lernte und
seit einem Jahr wieder zu gehen aufgehört hat. Er zeigt eine typische Pseudo¬
hypertrophia muscularis mit sehr starker Entwicklung der Wadenmuskulatur.
Auch einzelne Muskeln der Schultergürtelmuskulatur sind im Sinne einer
Hypertrophie verändert. Dabei wies er Symptome eines nicht völlig entwickelten
Myxödems auf, das durch eine eingeleitete Schilddrüsentherapie sehr günstig
beeinflußt wurde, die aber auf die Muskeldystrophie einflußlos war. Auch in
einem 2. Falle versagte diese Medizin. Es ist nach Schlesinger nicht wahr¬
scheinlich, daß dieselbe Ursache beide Krankheiten hervorgerufen habe.
Blencke-Magdeburg.
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674
Referate.
Kahlert, Beitrag zur Lehre von der progressiven neurotischen Muskelatrophie.
Diss. Jena 1906.
Verfasser gibt auf Grund diesbezüglicher literarischer Studien und einer
eigenen Beobachtung eine genaue Schilderung des Krankheitsbildes, das sieb
weder unter dem Schema der progressiven spinalen Muskelatrophie noch unter
dem der Dystrophia muscularis progressiva unterbringen läßt, und das mit dem
Namen progressive neurotische oder neurale Muskelatrophie benannt wird. In
allen typischen Fällen wird zuerst die Muskulatur der Füße oder Hunde und
das Peroneusgebiet befallen; die Wadenmuskulatur erkrankt meist später
Wenn die Krankheit bis zu den Oberschenkeln fortschreitet, ergreift sie zuerst
die Mu8culi vasti; an den Vorderarmen werden die Extensoren stärker und
häufiger betroffen. Verfasser gibt dann die Krankengeschichte eines Falles
wieder, den er zu beobachten Gelegenheit hatte. Es handelte sich in diesem
Falle um ein Leiden, das schon mindestens 17 Jahre lang bestand und äußerst
langsam fortgeschritten war. Angaben und Befund stimmten sehr gut mit dem
klinischen Bild der progressiven neurotischen Muskelatrophie überein. Typisch
war auch hier der Beginn in der Peronealmuskulatur der unteren Extremitäten,
die langsame Entwicklung, das endliche Uebergreifen auf die Hände. Es war
ein reiner Fall: keine Pupillenerseheinungen, keine Bulbäraffektion.
B1 e n c k e - Magdeburg.
G. A. Wollenberg, Der Gehverband bei Frakturen der unteren Extremität ec.
Zeitschr. f. ärztl. Fortbildung 1905, II. Jahrg., Nr. 24 und 1906, III. Jahrg., Nr. 1.
Die Arbeit enthält nach kurzer Darstellung der Prinzipien des Geh*
Verbundes im wesentlichen eine Schilderung der Technik des D ol 1 in ge rseber.
Verfahrens. Autoreferat.
J. Lamberger, Neue elektrische Heißluftapparate. Wien.med. Presse 1905, Nr. 41.
Den vielfachen Mängeln, die den üblichen mittels Spiritus- oder Ga>-
heizung betriebenen Heißluftapparaten anhaften, sucht Lamberger durch dir
Konstruktion eines Systems von Apparaten abzuhelfen, bei denen die Erwär¬
mung der Luft in gleichmäßiger Weise und ohne Erzeugung schädlicher Ver¬
brennungsgase mittels elektrischer Heizkörper erfolgt. Diese Heizkörper können
am Boden oder seitlich unten auf Schienen in den Apparat eingeschoben und
ausgewechselt werden, so daß man nur 1—2 Heizkörper für sämtliche Modelle
benötigt. Die Heizkörper können mittels Steckkontakt an jede elektrische
Leitung angeschlossen werden. Die Regulierung der Stromstärke des Heiz¬
körpers und der damit verbundenen stärkeren oder schwächeren Wärmeentwick¬
lung erfolgt durch den Umschalter, eventuell durch einen Rheostaten. Die
Apparate, die hauptsächlich in der Form des „Sturzes“ konstruiert sind, können
auch durch Anbringung von blauen oder weißen Glühlampen im Innern für dir
Lichttherapie ausgenützt werden. Die Apparate werden von der Firma Jur-
schitzka u. Schmidt in Wien angefertigt. Haudek-Wien.
Machol, Die Anwendung der strömenden Wasserkraft in der Chirurgie und
Orthopädie. (Ein neues System orthopädischer und mediko-mechanischer
Apparate.) Zentralbl. f. Chir. 1906, 6.
Das System der von Machol angegebenen Apparate ist in seinen Grund¬
zügen folgendes: Als Kraftquelle dient die Kraft des fließenden Wassers. Zu
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Referate.
675
ihrer Dienstbarmachung wird ihre Uebertragung auf den Kolben einer Pumpe
benutzt, und zwar bei passiven Apparaten (Redressionsapparaten) der Druck¬
pumpe allein, bei aktiven (mediko-mechanischen Apparaten) der Saug- und
Druckpumpe. Er beschreibt die Wirkung an der Hand von zwei Beispielen,
eines Skoliosen- und Ellbogengelenkapparates. Als Vorzüge seines Systems be¬
trachtet er zunächst die Einfachheit des Apparates, der sich überall anbringen
und verwerten läßt, die trotzdem gegebene große und geschickte Kraftwirkung,
die genaue Regulier- und Dosierbarkeit und die Möglichkeit, den Patienten
auch ohne dauernde Aufsicht genau über seine Leistungen kontrollieren zu
können, Fortschritte oder Stillstand der Funktion zahlenmäßig vor Augen zu
haben. Verfasser wird noch des Näheren in einer ausführlichen Arbeit auf diese
seine Apparate zu sprechen kommen. B1 e n c k e - Magdeburg.
Hahn, Das Stangenlager. Ein einfaches Hilfsmittel zur bequemen Anlegung
von größeren Verbänden am Hals, Rumpf, Becken und Oberschenkel.
Münch, med. Wochenschr. 1906, 13.
Verfasser nimmt vier eiserne mit Löchern versehene Stangen als Ständer,
auf die man in beliebiger Höhe zwei abgerundete, glatte, womöglich vernickelte
Stahlstangen legen kann, von denen die eine die Kreuzbeingegend, die andere
die Schultergegend des Patienten unterstützt. Die letztere kann unter Um¬
ständen durch ein hohes Polsterkissen und dergl. mehr ersetzt werden. Der
Verband kann nun bei dem frei in der Luft liegenden Patienten ohne Rück¬
sicht auf die unterliegenden Stangen nach Belieben angelegt werden, die nach
Fertigstellung desselben einfach seitlich herausgezogen werden.
B1 e n c k e - Magdeburg.
Hof mann, Umsetzung der Längsrichtung bei Extensions verbänden in queren
Zug. Münch, med. Wochenschr. 1906, 6.
Zweck dieser Extensionsart, die ohne Zeichnungen nicht leicht verständ¬
lich ist, soll die Vermeidung des Rollenträgers sowie sämtlicher Rollen sein.
Die Reibungswiderstände mit eingerechnet, wird ungefähr mit der halben
Kraft der angehängten Gewichte in der Längsrichtung extendiert Diese Im¬
provisation stellt nach des Verfassers Erfahrungen in der Armenpraxis eine
Ersparnis dar, in der besseren Praxis bedeutet sie eine Schonung kostbarer
Bettstätten. B1 en ck e-Magdeburg.
G. A. Wollenberg, Apparat zur Einblasung chemisch reinen Sauerstoffes in
das Körpergewebe und in Körperhöhlen. Med. Klin. 1906, Nr. 20.
Schilderung eines neuen, in der Hof faschen Klinik verwendeten, von
Dr. Wo 11 enb e rg-Berlin und D rager-Lübeck construierten Apparates, welcher
die Einblasung chemisch reinen Sauerstoffes unter beliebigem Drucke gestattet.
Der Sauerstoff wird durch Katalyse chemisch reinen Wasserstoffsuperoxyds ge¬
wonnen. Näheres ist aus dem Originalartikel zu ersehen. Autoreferat.
Knapp, Funktionelle Kontraktur der Halsmuskeln. Archiv f. Psychiatrie
Bd. 39, Heft 3.
Verfasser schlägt vor, den tonischen Torticollis mit dem Namen Beuge¬
kontrakturen des Halses zu bezeichnen. Diese Beugekontrakturen sind häufig
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Referate.
genug beobachtet und beschrieben worden; aber auch die funktionellen Streck¬
kontrakturen der Halsmuskeln scheinen keine Seltenheit zu sein. Sie fallen nur
weniger ins Auge und machen auch größere differentialdiagnostische Schwierig¬
keiten als jene, die sich auf den ersten Blick und schon aus der Entfernung
diagnostizieren lassen. Verfasser hat im letzten Jahre eine größere Anzahl der¬
artiger Fälle beobachtet und gibt vier Krankengeschichten wieder. Anamnestisehe
Angaben und ein zufälliges Zusammentreffen einer Reihe auch für organische
Erkrankungen charakteristischer Symptome konnten in allen Fällen dazu ver¬
führen, eine organische Gehirn- bezw. Wirbelerkrankung zu diagnostizieren. E>
ist deshalb von großer Wichtigkeit, zu wissen, daß die Nackensteifigkeit auch
funktioneller Natur sein kann. Wir müssen sorgfältig nach weiteren Symptomen
eines funktionellen Nervenleidens suchen, insbesondere nach neurast konischen
und hysterischen Stigmata. Eine sichere Entscheidung läßt sich treffen, wenn
es gelingt, bei abgelenkter Aufmerksamkeit die Kontraktur vorübergehend zu
beseitigen oder sie durch Suggestion zum Schwinden zu bringen. Als ätiologi¬
sches Moment kommt am häufigsten der hysterische Genickschmerz in Betracht.
Gelegentlich ist die Störung traumatischen Ursprungs. Psychische Ursachen
oder neuropathische Veranlagung spielen auch gelegentlich eine Rolle. Thera¬
peutisch kommt ausschließlich eine suggestive Behandlung in Betracht.
B1 e n c k e - Magdeburg.
Moritz, Hysterische doppelseitige Nackenmuskelkontraktur. Med. Gesellschaft
zu Chemnitz. Sitzung vom 20. Dezember 1905. Münch, med. Wochenschr.
1906, 14.
Die Krankheit begann 8 Jahre vorher ohne bekannte Ursache mit anfalls¬
weise auftretenden Krämpfen der Nackenmuskeln, die allmählich in eine tonische
Kontraktion der gesamten Nackenmuskulatur übergingen, durch die der Kopf seit
Mai 1904 dauernd in Opisthotonusstellung fixiert ist. Wenn sich die 20jährige
Patientin beobachtet weiß, nimmt die Kontraktion zu, im Schlaf verschwindet
sie. Alle therapeutischen Maßnahmen waren völlig wirkungslos. Im übrigen
fehlten jegliche sonstigen hysterischen Symptome. Blencke-Magdeburg.
Nickol, Klinik der Halsrippen. Diss. Leipzig 1906.
Verfasser hat die in der ihm zugänglichen Literatur beschriebenen Fälle
von Halsrippen zusammengestellt, die sich durch klinische Symptome ausge¬
zeichnet hatten, und reiht diesen noch vier weitere Fälle an, die er in der
medizinischen Poliklinik von Prof. Senator zu beobachten Gelegenheit hatte.
Im Anschluß an alle diese Fälle bespricht er sodann die Symptome, die die
Halsrippen machen können. Auffallend ist in den von ihm mitgeteilten Fällen
vor allen Dingen der Umstand, daß immer auf derjenigen Seite, auf welcher
die Halsrippe nachgewiesen werden konnte, eine tuberkulöse Spitzenaffektion
sich fand, und bei doppelseitigem Bestehen derselben auch über jeden Apex
sich katarrhalische Erscheinungen nachweisen ließen. Ob ein kausaler Zu¬
sammenhang besteht oder ob ein zufälliges Zusammentreffen vorliegt, was bei
der Häufigkeit der Tuberkulose an und für sich nicht wunderbar wäre, vermag
Verfasser nicht zu entscheiden. Bl encke-Magdeburg.
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Referate.
677
Henry 0. Feiß, „School“ Lateral Curvature. Cleveland Medical Journal 1901.
Von allen Ursachen der Skoliosenbildung steht die Schule an erster
Stelle. Es sind von allen untersuchten Kindern etwa 24°/o mehr oder weniger
skoliotisch. Verfasser beschäftigt sich weiter mit der Frage der Schulbänke
und der Lage des Heftes beim Schreiben. Etwas Neues bringt er nicht.
Vti Ilers-Berlin.
Kuh, Ueber moderne Skoliosenbehandlung. Verein deutscher Aerzte in Prag.
Sitzung vom 15. Dezember 1905. Münch, med. Wochenschr. 1906, Nr. 12.
Kuh demonstriert die alten Streckapparate und dann die in seiner An¬
stalt zur Anwendung kommenden sogenannten Nachtlagerungsapparate für die
Gipsbettenbehandlung. B1 e n c k e - Magdeburg.
Nieny, Zur Mobilisierungsmethode der Skoliosen nach Klapp. Münch, med.
Wochenschr. 1906, Nr. 3.
Ausgehend von der Klapp sehen Arbeit, in der bei der Skoliosentherapie
warm die sogenannte Kriechmethode empfohlen wird, beschreibt Nieny eine
Uebung, die jener sehr ähnlich ist in ihrer Wirkung und die er schon sehr
lange anwendet. Er läßt die Kinder mit einer Hand in einen von der Decke
herabhängenden, gerade noch erreichbaren Ring greifen und mit dem anderen
Arm in die Kniebeuge des maximal gehobenen Beins derselben Seite; außerdem
wurde der Kopf nach dieser Seite geneigt. Dadurch wird eine sehr ausgiebige
seitliche Krümmung der Wirbelsäule und eine hervorragende Entfaltung der
konkaven Thoraxseite erzielt.
Nieny geht aber nicht so weit wie Klapp, der mit Kriechen allein
eine Skoliosenbehandlung durchführen will; er verlangt, daß schwerere Fälle
nach erreichter möglichster Mobilisierung einer mehr individualisierenden und
mehr direkt gegen die schon ausgebildete DifFormität gerichteten Behandlung
bedürfen. Für diese genügt die aktive funktionelle Therapie allein nicht, da
wird man auch die mannigfachen Apparate und Methoden zur passiven resp.
forcierten Redression heranziehen müssen. B1 e n c k e - Magdeburg.
Vulpius, Die Behandlung der Skoliose. Deutsche med. Wochenschr. 1905,
Nr. 50.
Kurze, allgemeine Uebersicht über die Skoliosenbehandlung, wie sie vom
Verfasser geübt wird. Wette-Berlin.
Rudolf Deschmann, Zur Behandlung der chronischen ankylosierenden
Wirbelentzündung. Wiener med. Presse 1905, Nr. 39.
Verfasser berichtet über einen Fall von ankylosierender Wirbelentzündung,
bei dem von Lorenz der Versuch einer Mobilisierung unternommen worden
war. Es handelte sich um einen 35jährigen Mann, bei dem sich eine immer
mehr zunehmende Steifigkeit der Wirbelsäule eingestellt hatte. Es wurden
keinerlei nervöse Symptome gefunden, der Patellarreflex war etwas gesteigert,
der Atmungstypus normal. Alle Körpergelenke waren vollkommen frei, aktiv
und passiv beweglich, in den Hüftgelenken keine Bewegungseinschränkung.
Die Lendenwirbelsäule zeigt einen geradlinigen Verlauf, Brust- und Halswirbel¬
säule bilden einen gleichmäßig nach hinten konvexen starren Bogen (Total¬
kyphosen), so daß der Kopf nach vorn geneigt war; um gerade nach vom zu
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678
Referate.
sehen, maßte er Hüft- und Kniegelenke beugen. Der Rumpf war im Verlaufe
der Jahre immer mehr zusammengesunken. Anamnestisch waren weder Infek¬
tionskrankheiten, noch Rheumatismus, Gicht oder Lues angegeben.
Der Kranke zeigte den Bechterewschen Typus; die Wirbelsäule war
vollkommen bewegungslos, nirgends druckempfindlich, die Kopfgelenke etwas
in ihrer Beweglichkeit beschränkt; nervöse Symptome fehlten.
Lorenz beabsichtigte die Lumbalwirbelsäule etwas zu lordosieren, um
eine aufrechtere Haltung des Patienten zu ermöglichen; diese Möglichkeit schien
vorhanden, da Patient bei passiven Bewegungsversuchen Schmerzen äußerte, so
daß möglicherweise die Lendenwirbelsäule noch nicht total ankvlosiert war.
Nach erfolgter Narkose und in Bauchlage des Patienten unterfuhr Lorenz
die Beckengegend mit dem linken Oberarm und führte mit größter Vorsicht,
unter Kontrolle der Lendenwirbelsäule, Hebungen und Senkungen des Beckens
aus. Es ließ sich hierbei ein leises Knirschen vernehmen. Da die Lenden¬
wirbelsäule mit geringer Mühe beweglich erschien, so wurde kein weiterer
Eingriff im Streckapparat vorgenommen, wie ursprünglich beabsichtigt war.
Es wurde hierauf in Bauchlage des Patienten und bei leicht lordosierter Lende
ein Gipsbett appliziert. Beim Erwachen des Patienten aus der Narkose zeigte
sich eine totale Paraplegie der unteren Extremitäten mit Blasenlähmung, die
auch nach der sofort vorgenommenen Auflassung der Lordosierung bestehen blieb.
Weder die Untersuchung noch das Röntgenbild ergaben Anhaltspunkte
für eine stattgehabte Fraktur. Das Röntgenbild zeigte hochgradige Porose
(abnorme Durchsichtigkeit) der Wirbelsäule mit ankylosierenden Knochenbrücken.
Im Laufe von 3 Jahren ging die Lähmung soweit zurück, daß der Patient jetzt
wieder seinem Berufe (er ist Rechtsanwalt) nachgehen kann. Gegenwärtig be¬
steht kein Gibbus, keine Schmerzen, keine Parästhesien; Patient kann mit
Stöcken herumgehen.
Deschmann nimmt nun an, in Zusammenhalt mit einem ähnlich
verlaufenen von Orhan Ardi publizierten Falle, daß bei der chronischen
ankylosierenden Wirbelentzündung eine ganz hochgradige Osteoporose
und infolge dieser eine filigranglasartige Fragilität der Wirbelknochen bestehen
müsse, so daß es schon durch minimale Gewalteinwirkung zu partieller Fraktur
eines Wirbelkörpers oder eines Gelenkfortsatzes kommen kann; das epidurale
Hämatom bedingt dann die Drucklähmung des Rückenmarkes. Diese Erfah¬
rungen sollen davor warnen, Fälle von chronischer ankylosierender Wirbel¬
entzündung operativ anzugehen. Es ist einzig und allein die Behandlung mit
Stütz- oder Lagerungsapparaten indiziert. Hau de k-Wien.
Krause, Die chronische Steifigkeit der Wirbelsäule. Inaug.-Diss. Berlin 1 V K)5.
Krause beweist an der Hand von 77 Fällen, von denen 31 dem v. Bech¬
terewschen Typus und 46 dem Strümpell-Marieschen Typus angehören,
daß die Symptome, welche beide Autoren für ihre Krankheitsformen aufstellten,
sich nicht scharf voneinander trennen lassen, und steht auf dem Standpunkt,
daß beide Erkrankungen, die v. Bechterewsche wie die Strümpell-Marie¬
sche nur verschiedene Variationen ein und derselben Krankheit in verschiedenen
Stadien darstellen und möchte für dieselbe die einheitliche Bezeichnung: ,Chro¬
nische Steifigkeit der Wirbelsäule* eingeführt haben. Vüllers-Berlin.
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Referate.
079
Helbing, Die moderne Behandlung der tuberkulösen Spondylitis. Berliner
klin. Wochenschr. 1905, Nr. 46.
Schilderung der Spondylitisbehandlung, wie sie in der Hoffasehen Klinik
geübt wird. Während des floriden Stadiums Ruhelage im Gipsbett. Später
zur Verringerung bezw. Aufhaltung der Buckelbildung adressierendes Gips¬
korsett im Wullsteinschen Rahmen mit Einbeziehung des Kopfes. Nach
der Ausheilung der Tuberkulose und bei beginnender Konsolidierung portative
Apparate: Abnehmbare Gips- und Celluloidkorsetts mit Schnürvorrichtung oder
Hessingkorsett mit Kopfring. Wette-Berlin.
Ewald, Zur Aetiologie der angeborenen Hüftgelenksverrenkung. Deutsche Zeit¬
schrift f. Chirurgie Bd. 80.
An der Hand von 2 Fällen von angeborener Hüftluxation, die in der Vul-
piusschen Klinik zur Beobachtung kamen und die durch ihre Vergesellschaftung
mit anderen, während des uterinen Lebens entstandenen Mißbildungen —
Torticollis und Klumpfußbildung — bemerkenswert waren, bespricht Verfasser
die bisher in der Aetiologie aufgestellten wichtigsten Theorien und kommt am
Schluß seiner Arbeit zu folgenden Ansichten:
Die Fälle, die bei sonst durchaus normalem Körperbau neben der Lux.
cox. cong. eine zweite Anomalie auf weisen, die einstimmig als meist durch eine
abnorme intrauterine Belastung entstanden angesehen werden, sprechen dafür,
daß es sich auch bei dieser in der größten Mehrzahl der Fälle um eine Be¬
lastungsdeformität handelt, eine Annahme, die noch wahrscheinlicher gemacht
wird durch pathologisch anatomische Untersuchungen, durch Tierversuche und
durch klinische Beobachtung. Es läßt sich die abnorme Belastung nicht allein
aus dem Fruchtwassermangel, der oft gar nicht da war, sondern aus der Form
und Lage des Uterus im Abdomen, und anderseits aus der Lage und Haltung
des Kindes im Uterus erklären. Gegen die Theorie eines Bildungsfehlers
sprechen nach des Verfassers Ansicht entwicklungsgeschichtliche Erwägungen.
Zunächst ist die Tatsache beachtenswert, daß Vk —3 Jahre nach erfolgter
Reposition die Pfanne und der Kopf völlig normal geworden sind, was nie
der Fall sein würde, wenn es sich um ein Vitium primae formationis handeln
würde. Die Beweise, die die Anhänger der Bildungstheorie gegeben haben,
beruhen nach Ewalds Ansicht auf Irrtümern, sind teils zu sehr verall¬
gemeinert, teils in keiner Weise zwingend, sondern lassen sich auch durch
die Tatsachen erklären, welche die Deformität auf abnorme BelastungsVerhält¬
nisse zurückführen. Schließlich sind Doppelseitigkeit, Erblichkeit und das
häufige Vorkommen beim weiblichen Geschlecht keine Beweise gegen das Zu¬
standekommen der Hüftluxation durch abnorme Belastung.
B1 e n c k e - Magdeburg.
Frederik Mueller (Chicago),BloodlessReposition of the congenitally dislocated
hip joint versus Arthrotomy. Journal of the American medical Asso¬
ciation, June 1905.
Müller berichtet über 34 von Lorenz bei seinem Aufenthalt in Amerika
im Jahre 1902 unblutig reponierte Hüften und deren Dauerresultate: 21 anato¬
mische Heilungen, 11 Transpositionen mit ausgezeichneten funktionellen Resultaten,
zwei Patienten konnten zur Nachuntersuchung nicht herangezogen werden. Müller
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680
Referate.
bespricht dann weiter die, wie er meint, wenigen Fälle der Unmöglichkeit eintr
unblutigen Reposition und wendet sich heftig gegen die Vertreter der blutigen
Repositionsmethode, da dieselbe zu große Gefahren sowohl für die spater?
Funktion wie auch für das Leben der Patienten mit sich bringe. Er ist der
Ansicht, daß die blutige Methode in Zukunft gänzlich fallen gelassen wird,
besonders da durch dieselbe oft mehr geschadet als genutzt wird und der
erste Grundsatz des Arztes „Primum non nocere“ sein soll. VüIlers-Berlin.
Muskat, Die angeborene Verrenkung im Hüftgelenk. Die ärztliche Praxis
1905, 24.
Die Arbeit ist für den praktischen Arzt bestimmt. Sie bringt alles, was
dieser über diese angeborene Deformität wissen muß, wenn er seine Patienten
vor dauerndem Schaden bewahren will. Blencke-Magdeburg.
Hesse, Ueber eine Beobachtung von bilateraler, idiopathischer juveniler Osteo¬
arthritis deformans des Hüftgelenks. Mitteilungen aus den Grenzgebieten
der Med. u. Chir. XV. Bd., 3 4. Heft, 1905.
Es handelte sich im vorliegenden Fall um einen in früher Jugend ohne
äußere Ursache beginnenden, eminent chronischen, schleichenden, vom 10. bis
fast zum 30. Jahre schmerzfreien, stets fieberlosen Krankheitsprozeß symme¬
trischer Natur, der ausschließlich auf die beiden Hüftgelenke beschränkt blieb
und Stellungsanomalien und Motilitätsstörungen zeigte, um einen Prozeß , der
in den letzten 2—3 Jahren zu schmerzhaften Exazerbationen neigte, das Symptom
des Krepitierens zeigte und nie Eiterbildung im Gelenk oder Infiltration und
Schwartenbildung in den umgebenden Weichteilen hervorgebracht hat. Er
führte im Laufe der Zeit anatomisch nach dem Röntgenbilde zu schweren,
beiderseits gleichartigen, destruierenden Veränderungen im Hüftgelenk, wobei
es zur Pfannenwanderung und Subluxation des Schenkelkopfes nach oben und
hinten einerseits und osteochondritiseben Wucherungen der Pfanne anderseits
gekommen ist.
Nach Ausschluß und Durchsprechung aller differentialdiagnostisch in
Frage kommenden Erkrankungen glaubt Verfasser mit aller Bestimmtheit an¬
nehmen zu müssen, daß es sich um eine juvenile Osteoarthritis deformans
handelt. Zwei sehr deutliche Röntgenaufnahmen sind der Arbeit beigegeben.
Blencke- Magdeburg.
Hoffa, Die Behandlung des Malum coxae senile (Arthritis deformans des Hüft¬
gelenks). Die Therapie der Gegenwart 1906, 1 Heft
Hoffa bespricht zunächst die Symptome der beginnenden Arthritis defot-
mans, um dann auf die Behandlung näher einzugehen, die nur erfolgreich sein
kann , wenn man die Diagnose möglichst frühzeitig stellt. Man muß zunächst
das Gelenk entlasten, da man nur so der fortschreitenden Deformierung des
Gelenkes entgegenarbeiten kann, und dies geschieht am besten durch einen
gut sitzenden Schienenhülsenapparat. Je frühzeitiger der Patient sich zum
Tragen eines derartigen Apparates entschließt, umso eher kann er die Hoffnung
haben, daß sein Leiden zum Stillstand kommen wird. Der Apparat muß etwa
ein Jahr lang ständig getragen werden. Daneben kommt zur Anwendung
Massage, Gymnastik, Ileißluftbehandlung, Fangoumschläge und dergl. mehr. Die
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Referate.
681
Fälle, die jeder Behandlung trotzen, müssen operiert werden. Hoffa hat in
den letzten Jahren die Resektion des Schenkelkopfes fünfmal ausgeführt. Er
läßt die Krankengeschichten folgen. Die Erfolge waren bei allen als sehr
günstig zu bezeichnen, so daß Hoffa für schwere Fälle von Arthritis deformans
nur diese Operation anraten kann. B1 e n c k e - Magdeburg.
Karl Ewald, Ueber die Behandlung des Schenkelhalsbruches. Wiener klin.
Rundschau 1905, Nr. 40.
Beim hohen Oberschenkelbruch stellt sich gleich wie bei hoher Ober¬
schenkelamputation das obere Bruchstück, resp. der Stumpf in Beugung, Ab¬
duktion und Auswärtsrollung. Die Ursache hierfür ist der Zug des lleopsoas
resp. der Glutäalmuskeln, für die die Wirkung der sich unterhalb der Bruch-
resp. Amputationsstelle ansetzenden Antagonisten verloren gegangen ist. Man
bringt daher, um eine richtige Vereinigung der beiden Bruchstücke zu er¬
möglichen, das distale Fragment in die Richtung des proximalen; man erreicht
das bei Kindern in der Weise, daß man sie im Bette liegend am Fuße des
gebrochenen Beines auf hängt, bei Erwachsenen so, daß man den Oberkörper
dureh eine Sitzlehne aufrichtet und das Bein in Abduktion extendiert.
Ewald findet nun, daß speziell bei den Schenkelhalsbrüchen diese Ver¬
hältnisse zu wenig Berücksichtigung finden. Hier kommt nach von ihm vor¬
genommenen Untersuchungen entsprechender Präparate der größte Teil der
Verkürzung auf Rechnung einer Dislocatio ad axin, indem das proximale Bruch¬
stück sich horizontal stellt, der Schenkelhals des gebrochenen Beines steht in
der Richtung der queren Beckenachse. Gewöhnlich erfolgt immer die Heilung,
besonders bei den sogenannten eingekeilten Brüchen, in der Art, daß das proxi¬
male Fragment horizontal, das Bein aber in Parallelstellung zum anderen steht.
Es resultiert daraus nun nicht bloß eine Verkürzung, sondern auch noch eine Ein¬
schränkung der Abduktion, da der Schenkelhals schon in normaler Abduktion
angeheilt ist. Man müßte also das frakturierte Bein in stärkere Abduktion
bringen (Morisani).
Dieses Verfahren befolgt auch Ewald und bewerkstelligt die Einrichtung
der Fraktur durch starke Abduktion, eventuell durch Spreizung beider Beine.
Bei Infraktion gelingt die Korrektur in Narkose noch bis zur fünften Woche.
Die Stellung des Beines wird bei Kindern und mageren Erwachsenen im Gips¬
verband festgehalten. Da die starke Spreizstellung das Gehen unmöglich macht,
so erreicht E wald die Abduktion bei Parallelstellung der Beine dadurch, daß er die
gesunde Beckenhälfte hebt, also in Adduktion bringt; zur ständigen Erhaltung
dieser Abduktion wird unter das gesunde Bein eine entsprechend erhöhte Sohle
gegeben. Um den Ausgleich der so erzielten Verlängerung durch Einknicken
im Knie des gesunden Beines zu verhindern, muß dieses durch eine Schiene
oder einen steifen Verband in Strecksteilung erhalten werden.
Ewald geht nun folgendermaßen vor: Der Patient wird auf eine Becken¬
stütze gelegt, das gesunde Kniegelenk durch Schienen oder Extension in Ueber-
streckung erhalten. Die Sohle des gesunden Beines stützt sich gegen die Brust
des Gehilfen oder gegen ein unverschiebliches Wirbelstück ; infolge dieser Unter¬
stützung kann das gesunde Bein, wenn nun am gebrochenen Bein gezogen wird,
nicht ausweichen. Es wird dann die Beckenhälfte des gebrochenen Beines
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(582
Referate.
nachgeben, herunterrücken und so die Beckenachse zur Körperachse einen stumpfen
Winkel bilden, das Hüftgelenk ist in Abduktion. In dieser Stellung wird unter
Fortdauer der Extension ein Gipsverband angelegt, der nach oben bis an dir
Rippenbogen und auf der gesunden Seite bis über die Crista ossis ilei, auf
dem kranken Bein bis zur Mitte des Unterschenkels herabreicht. Das kranke
Bein besitzt jetzt eine scheinbare Verlängerung von 1—8 cm, zu deren Ausgleich
man auf der gesunden Seite eine Sohle von 1—3 cm Höhe gibt. Der Gipsverhand
bleibt 6 Wochen, die erhöhte Sohle läßt man noch 3—6 Monate tragen. Da
bei dicken Leuten sich ein Gipsverband schlecht an wenden läßt, so extendiert
man bei Spreizstellung der Beine; ein Gewicht von 5 kg genügt meist. Da*
Bett muß verbreitert werden, eventuell durch angeschobene Sessel, über deren
Lehne die Extensionsschnüre geleitet werden. Nach 4 —8 Wochen läßt man
die Patienten mit erhöhter Sohle auf der gesunden Seite gehen; die Patienten
dürfen ohne diese gar nicht gehen, weil der noch weiche Callus nachgibt, wenn
die Belastung nicht in äußerster Abduktion einwirkt. Haudek-Wien.
Hesse, Ueber Schenkelhalsbrüche im jugendlichen Alter. Beiträge zur patholog.
Anatomie und zur allgemeinen Pathologie 1905, 7. Suppl.
Verfasser teilt 5 Krankengeschichten von Schenkelhalsbrüchen im jugend¬
lichen Alter mit, die mit einer Ausnahme erst in ausgeheiltem Zustande zur
Behandlung bezw. Beobachtung kamen. Sämtliche Fälle waren auf ein mittel¬
schweres bis leichtes Trauma zurückzuführen und boten in geheiltem Zustande
das typische Bild der Coxa vara dar, Verkürzung der Extremität mit ent¬
sprechendem Trochanterhochstand, Beschränkung der Abduktion und Innen¬
rotation. Verfasser sucht dann den Begriff der Coxa vara traumatica genauer
zu präzisieren und weist darauf hin, daß dieselbe durchaus nicht immer auf
eine reine Epiphysenlösung zurückzuführen sei, daß vielmehr in vielen Fällen
die Bruchlinie von der Epiphysenlinie in den eigentlichen Schenkelhals über¬
springe oder überhaupt innerhalb des Schenkelhalses verlaufe. Bei der Be¬
urteilung des ätiologischen Moments bei der Coxa vara, traumatica könne des¬
halb nur das Röntgenbild oder der eventuelle Operationsbefund Aufschluß
geben. Für das Zustandekommen der Schenkelhalsbrüche ira jugendlichen
Alter glaubt Verfasser außer der Prädisposition, die durch das Vorhandensein
der Epiphysenlinie bezw. des dicht neben derselben neugebildeten jungen
Knochens gegeben ist, noch eine besondere für die Fraktur prädisponierende
lokale oder allgemeine Schädigung des Organismus annehmen zu sollen, die
in manchen Fällen durch die kindliche Rhachitis erklärt werden mag, in anderen
Fällen noch unbekannt ist. Bestärkt werde er in dieser seiner Annahme durch
gewisse klinische Symptome, wie die auffallende persistierende Atrophie der Hüft-
und Oberschenkelmuskulutur des kranken Beines auch nach jahrelangem Ge¬
brauch desselben, ferner das oft beobachtete, beträchtliche Zurückbleiben des
Fußes der kranken Seite im Wachstum, sowie die Beobachtung, daß unter
seinen Fällen der eine ein auffallend kleiner Mensch mit schwach entwickelter
Muskulatur, aber äußerlich grobem Knochenbau war, während ein anderer den
als typisch für Coxa vara beschriebenen Allgemeinstatus aufwies. Zum Schluß
gibt Verfasser eine Tabelle von 46 aus der Literatur zusammengestellten Fällen
von Schenkelhalsbrüchen jugendlicher Individuen im Alter von 1 —18 Jahren,
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Referate.
683
bei denen die Diagnose durch Röntgen- oder operativen Befund sichergestellt
ist. Einem jeden Fall sind kurze Bemerkungen über Ursache, Befund, Behand¬
lung etc. beigefügt. Wette-Berlin.
Wiesinger, Ueber Coxa vara. Aerztlicher Verein in Hamburg, 23. Jan. 1906.
Münch, med. Wochenschr. 1906, 5.
Wiesinger bespricht an der Hand einer großen Anzahl von Röntgen¬
lichtbildern den augenblicklichen Stand der Lehre von der Coxa vara. Vor¬
tragender demonstriert Fälle von kongenitaler und erworbener Coxa vara und
vergleicht die echten Fälle mit den vorgetäuschten, wie man sie bei Schenkel¬
halsfrakturen findet. Seiner Meinung nach sind es gerade die Fortschritte in
der Röntgentechnik gewesen, die diese Deformität immer mehr als eine echte
Belastungsdeformität erkennen ließen. Blencke-Magdeburg.
E. F. Gordon Tucker, Deformity of lower limbs. The British medical Journal
Nr. 2358. March 10, 1906.
32jähriger Hindu, mit in kurze Stümpfe verwandelten Oberschenkeln, die
unbeweglich im Hüftgelenk festsitzen. Die Genitalfalte sitzt links über dem
kürzeren Femur am oberen Rand der Fossa poplitea. Rechter Unterschenkel und
Fuß ganz normal. Links fehlte das Kuboid, der 4. und 5. Metatarsus mit den
dazu gehörigen Phalangen. Calcaneus und Talus klein aber normal. Cunei-
forme und Metatarsus fest verschmolzen. Achillessehne ein dünner kurzer Strang,
kaum vorhandene Wade. Bewegung im Talocruralgelenk sehr beschränkt.
Sonst fehlt noch der linke Testikel. Mosenthal-Berlin.
Helbing, Ueber angeborene Kniegelcnkskontrakturen. Berliner med. Gesell¬
schaft, 22. Febr. 1905. Berliner klin. Wochenschr. 1905, 10.
Verfasser stellt ein l’/Vjähriges Kind vor, das in Steißlage geboren wurde,
mit einem mit Luxation des Unterschenkels nach vorn kombinierten Genu
recurvatum duplex, ferner ein 8 Monate altes, auch in Steißlage geborenes
Kind mit einer Streckkontraktur beider Kniee; daneben bestanden bei diesem
noch doppelseitiger hochgradiger Klumpfuß, ferner angeborene Hüftgelenks¬
luxation, ein Kreuzbeindefekt undKloakenbildung. Im dritten Falle handelte es
sich um ein l 1 ^jähriges Kind, bei dem neben Beuge- und Adduktionskontrakturen
in der Hüfte das linke Knie rechtwinklig gebeugt, zugleich in starker Valgus-
stellung steht. Bei dem vierten 1‘ 2 jährigen Kinde bestanden hochgradige
Schlottergelenke in beiden Hüften; die Kniescheiben fehlen vollkommen und
es bestand angeborener hochgradiger Plattfuß. Es handelte sich bei diesem
Kinde um eine bisher noch nicht beobachtete Rotationsluxation beider Kniee
nach außen, verbunden mit Beugekontraktur. Tn allen vier Fällen konnte durch
verschiedenes Anlegen der Beine an den Rumpf eine Stellung geschatfen werden,
aus der bei dauernder Fixation während des intrauterinen Lebens die schlie߬
lich resultierende Stellungsanomalie leicht Zurückbleiben konnte.
B1 e n c k e - Magdeburg.
Magnus, Ueber totale kongenitale Luxation der Kniegelenke bei drei Ge¬
schwistern. Deutsche Zeitschr. f. Chirurgie XXIV.
Es handelt sich um drei Kinder aus einer Familie mit totaler Knie¬
luxation, bei denen sich auch noch verschiedene Komplikationen zeigten, die
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684
Referate.
in ätiologischer Hinsicht von Bedeutung sind. In dem dritten Falle bestand,
trotzdem das Kind noch gar keine Gehversuche gemacht hatte, dennoch eine
totale Luxation. Verfasser will deshalb die Luxation als Folge einer primären
Kapsel- und Bänderschlaffheit betrachtet wissen. Es fanden sich auch nocii
Luxationen im Hüftgelenk bei gleichzeitig bestehender Kapselschlaffheit in der.
übrigen Gelenken. Daß in diesen Fällen mechanische Momente ebenfalls bei
der Entstehung eine Rolle gespielt haben, ist für Magnus klar. Was nun
die pathologischen Veränderungen anlangt, so boten diese in den vorliegenden
Fällen nichts wesentlich Neues und deckten sich zum größten Teil mit den
auch von anderer Seite gemachten Befunden. In dem einen Falle wurde
blutig operiert. Es wurde nicht nur der Quadriceps verlängert , sondern e?
wurde auch das Lig. cruciatum anterius verkürzt. Verfasser rät nach blutigen
Eingriffen noch längere Zeit hindurch fixiererde Verbände, am besten Schienen¬
hülsenapparate zu verwenden. Blencke-Magdeburg.
Ewald, Ueber kongenitale Luxation sowie angeborenen Defekt der Patella,
kombiniert mit Pes varus congenitus. Archiv f. klin. Chir., Bd. 78, Heft 4.
In der Vulpiusschen Klinik kamen zwei Geschwister zur Beobachtung und
Behandlung, die neben doppelseitigen Klumpfüßen auch noch kongenitale Luxa¬
tionen der Patella zeigten. Nach des Verfassers Ansicht sind kongenitale Luxationen
auch in den meisten Fällen intermittierend, so daß also „habituell“ und „kongenital*
gar keine Gegensätze sind, wie es Hoffa haben will. Verfasser will deshalb
nur zwei Gruppen von Patellaluxationen anerkennen, deren Krankheitsbild je¬
weilig scharf charakterisiert ist, die intra vitam erworbene Luxation und die
kongenitale Luxation der Kniescheibe. Was die Aetiologie anlangt, so erscheint
ihm für seine beiden Fälle jedenfalls die Annahme, daß es sich wirklich um
mechanische Ursachen handelt, nach Lage der Dinge am plausibelsten zu sein.
Sodann kommt Ewald auf den Defekt der Patellen zu sprechen und führt
2 Fälle mit angeborener Kleinheit der Kniescheibe an, die im zweiten Falle
direkt als Defekt imponierte; erst ganz allmählich, nachdem der Quadriceps
zu funktionieren begonnen hatte, holten sie ihr Wachstum nach. Nach des
Verfassers Ansicht sind viele Fälle von Klumpfuß von Abwesenheit der Patella
begleitet; das Vorhandensein dieser Mißbildung kann leicht übersehen werden.
Mit der Besserung der Funktion der Beine sieht man dann die Kniescheiben
entstehen, während man bei der ersten Untersuchung nichts fand. Das Fehlen
der Patella beim Erwachsenen ist nach zwei Ausführungen sicher einwandsfrei
nachgewiesen, wenn auch ganz ungeheuer selten. Blencke-Magdeburg.
Strauß, Zur Behandlung der Patellarfrakturen. Diss. Halle 1905.
Verfasser bespricht die unblutigen und blutigen Behandlungsmethoden
bei der Kniescheibenfraktur und rühmt von jenen vor allen Dingen den in der
Hallenser Klinik vielfach angewandten, sogenannten Schmetterlingsverband. Als
Beweis der vortrefflichen Wirksamkeit dieses und der damit erzielten Resultate
führt er 49 Fälle von Patellarfraktur in Tabellen form kurz und übersichtlich
an. Von diesen 49 Fällen wurden 41 mit dem erwähnten Verband behandelt;
die Dauer erstreckte sich mit Nachbehandlung auf durchschnittlich 4—7 Wochen.
Acht wurden mit Knochennaht behandelt, je einer mit Periostnaht, Massage und
Streckverband. Was nun die Funktion des Knies anbetrifft, so war sie 33mal
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Referate.
G85
(davon 29 mit Schmetterlingsverbänden) eine gute zu nennen. Leidlich gut
waren 11 Fälle, dreimal erfolgte nach der Naht völlige Ankylose, einmal nach
Naht Exitus, doch handelt es sich hier um eine komplizierte Fraktur, die schon
primäre Eiterung aufwies. Beide Methoden sollen sich keineswegs ausschließen.
Es muß von Fall zu Fall individuell verfahren werden.
B1 e n c k e * Magdeburg,
Bark er, Ueber ungewöhnliche Ursachen des „internal derangement“ des Knie¬
gelenks. Brit. med. Journ. 1905, 9. Dez.
Verfasser fand in 3 Fällen von „internal derangement“ bei völligem
Intaktsein der Semilunarknorpel als Ursache hinter der Patella längere, lose,
aus dichtem Bindegewebe bestehende Fortsätze, die in die Gelenkhöhle hinein¬
wucherten und sich leicht einklemmten. Entfernung dieser Wucherungen, deren
Ursache Bark er in einer durch Unfall entstandenen lokalen Synovitis suchen
zu müssen glaubt, brachten stets Heilung. B1 e n c k e - Magdeburg.
Hoffa, Ueber die traumatische Entzündung des Kniegelenks. Berliner klin.
Wochenschr. 1906, Nr. 1.
Anknüpfend an das von ihm im vorigen Jahre beschriebene Krankheits¬
bild der fibrösen Hyperplasie des subpatellaren Fettgewebes gibt Verfasser einen
Ueberblick über das Bild der traumatischen Arthritis genu im allgemeinen. Spe¬
ziell verweist Hoffa auf die leichten Fälle von traumatischer Gelenkerkrankung,
die meist nach kleinen, wiederholten, subkutanen Traumen auftreten und vom
Patienten wegen der geringen Beschwerden verschleppt werden. Schilderung
des pathologisch-anatomischen Befundes. Die Diagnose im Röntgenbild wird
unterstützt durch vorherige Sauerstoffeinblasung ins Gelenk. Therapie: Partielle
Athrektomie mit besonderer Berücksichtigung der Zotten und Umschlagsfalten.
Erfolg bei 43 operierten Fällen gut bis auf 2, von denen der eine in Ankylose,
der andere mit beschränkter Beweglichkeit ausheilte. W e 11 e - Berlin.
Carl ton P. Flint, Contusion and laceration of the Ligamenta mucosa and
alaria and the synovial fringe of the knee-joint.
Nach anatomischer Beschreibung der Ligamenta alaria und mucosa des
Kniegelenks berichtet er über 4 einschlägige Fälle und deren Behandlung.
Nach Traumen, die 5 Wochen bis 7 Monate zurücklagen und ohne Erfolg kon¬
servativ behandelt wurden, die die gemeinsamen Symptome von Schwellung,
Schmerzattacken, Flüssigkeitsansammlung und Bewegungsbeschränkung auf¬
wiesen, schreitet er zur Operation. Der Befund war bei allen eine Veränderung der
Ligamenta alaria und mucosa, die exzidiert wurden, teilweise mit den entzünd¬
lich geröteten Partien der Synovialmembrane. 3mal Diagnose Kontusion und
Lazeration, lmal mikroskopisch Tuberkulose, die makroskopisch nicht feststell¬
bar war. Heilung.
Er kommt nach diesen Erfolgen zu dem Schluß: 1. Jedes traumatische
Knie, das nach Stägiger Behandlung noch Erguß und Schmerzen aufweist, soll
aspiriert, bei blutigem Inhalt inzidiert werden, da die Flüssigkeit teils zu Deh¬
nungen und Schwächung der Ligamenta führt, teils zur Bildung von Fremd¬
körpern und chronischen Veränderungen Veranlassung gibt. 2. Alle Fälle von
Trauma des Kniegelenks, die nach 4—Swöchentlicher konservativer Behandlung
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686
Referate.
nicht zu definitiver Heilung führen, sollen operiert werden, und zwar sollen die
erkrankten Partien exzidiert werden, da sonst chronische Beschwerden daraus
entstehen. Mosenthal-Berlin.
0 b 1 a d e n, Stauungsbehandlung bei Kniegelenkstuberkulose. Nürnberger med.
Gesellschaft 15. Febr. 1906. Münch, med. Wochenschr. 1906, 14.
Obladen stellt einen Patienten mit doppelseitiger Kniegelenkstuber¬
kulose vor, die durch eine eingeleitete Stauungsbehandlung günstig beeinflußt
wurde. Bl encke- Magdeburg.
Kachler, Doppelseitiger, teilweiser, kongenitaler Tibiadefekt. Fortschritte auf
dem Gebiete der Röntgenstrahlen IX, 4.
Verfasser vermehrt die diesbezügliche Kasuistik um einen weiteren Fall.
Es handelte sich um ein 6 Monate altes Mädchen mit doppelseitigem teilweisen
Tibiadefekt. B1 e n ck e - Magdeburg.
Mouchet, Abscence congenitale du peron£. Revue mens, des Maladies de
l’enfance 1906, Januar.
Verfasser hatte Gelegenheit, 2 derartige Fälle zu beobachten, von denen
der eine noch umso mehr Interesse bieten dürfte, als ihn Mouchet 5 Jahre
hindurch beobachten konnte. Es handelte sich um einen vollständigen Defekt
der Fibula. Die in bestimmten Intervallen vorgenomraenen Messungen ergaben,
daß das Wachstum der deformierten Extremität zurückblieb hinter dem der
gesunden. Während der Unterschied im Jahre 1900 zwischen beiden Seiten
4 cm betrug, bestand im Jahre 1905 bereits ein solcher von 10 cm. Im An¬
schluß an diesen Fall bespricht dann Verfasser noch eingehender diese schon
so oft beobachtete Deformität. Biencke-Magdeburg.
Schanz, Eine typische Erkrankung der Achillessehne. Zentralbl. f. Chir.
1905, 48.
Schanz macht auf eine Affektion der Achillessehne aufmerksam, die er
schon wiederholt beobachtet hat, auf eine schmerzhafte Anschwellung, um eine
spindelförmige Verdickung der Sehne, welche sich im Anschluß an eine über¬
mäßige Inanspruchnahme dieser Sehne zu entwickeln pflegt. Diese Erkrankung
ist nicht mit der Achillodynie zu verwechseln, da die Ansatzstelle der Sehne
vollständig schmerzfrei und die Bursa vollkommen gesund ist. Erst oberhalb
des Endstückes der Sehne beginnt die Verdickung; sie verschwindet, wo sich
die Sehne zum Uebergang in den Muskel verbreitert. Mit einem zweckmäßig
angelegten Heftpflasterverband kann der Patient sofort ohne Schmerzen geben.
Verfasser schlägt für diese Affektion den Namen Tendinitis achillea trau¬
matica vor. Bl encke-Magdeburg.
Drehmann, Ph'ne typische Erkrankung der Achillessehne. Zentralbl. f. Chir.
1906. 1.
v. Baracz, Tendinitis achillea arthritica alseine besondere Form der Achilles¬
sehnenerkrankung. Zentralbl. f. Chir. 1906, 1.
Beide Verfasser nehmen Bezug auf die bereits referierte Schanz sehe
Arbeit. Drehmann sah die von Schanz beschriebene Affektion des öfteren
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Referate,
687
bei Gelenkrheumatismus, nach Influenza und am häufigsten bei Gonorrhoe, Sie
bat ihren Sitz genau an der Stelle, wo der moderne Schuh auf hört und sie
sehr häufig doppelseitig auftritt. Letzterer Umstand gab Drehmann Grund
zu der Annahme, daß es sich um eine akute Tendinitis handelt, die durch einen
äußeren Reiz bedingt ist. Die Schanz sehe Erklärung einer stärkeren Bean¬
spruchung der Sehne auf Dehnung scheint ihm weniger plausibel, besonders
für die beiderseitigen Erkrankungen.
Bei der Baraczsehen Affektion der Achillessehne, die gewöhnlich an
Rheumatismus und Gicht leidende Männer betrifft, findet man eine mehr oder
weniger ausgeprägte spindelförmige Verdickung der Achillessehne; die Haut
über derselben ist gerötet und heiß anzufühlen. Oft findet man nebst der Ver¬
dickung mehrere flache, harte, sehr schmerzhafte Knoten. Viele der Patienten
leiden jeden Winter an Rückfällen. Baracz betrachtet diese schmerzhafte
Verdickung und Knotenbildung in der Sehne als eine durch Einlagerung yon
hamsauren Salzen in der Substanz der Sehne bedingte Entzündung. Bei leichten
Schmerzen empfiehlt Baracz Massage und Einreibungen, bei heftigerer Ent¬
zündung ist die Ruhigstellung der Sehne mittels Heftpflasterverband angezeigt.
Noch stärkere Entzündung der Sehne erheischt Bettruhe mit Applikation von
Eisbeutel oder Umschlägen und innerlichem Gebrauch von Aspirin. Verfasser
benennt diese Achillessehnenerkrankung Tendinitis achillea arthritica.
B1 e n c k e - Magdeburg.
Schultze (Duisburg), Zur Behandlung des „rebellischen“ Klumpfußes. Arch. f.
Orthop., Mechanoth. u. Unfallchir. Bd. III, H. 2.
Verfasser warnt vor der blutigen Operation des Klumpfußes, da dieselbe
stets mehr oder weniger Knochendefekte setzt und empfiehlt aufs wärmste den
von ihm konstruierten einfachen Osteoklasten. Derselbe besteht aus zwei mit
Charnier verbundenen Brettern, die wie ein Buch auf- und zugeklappt werden
können. Das längere Brett, durch eine Gummiplatte gepolstert, ruht auf dem
Tisch, das kürzere, mit einem Quergriff versehen, wird wippend und drückend
hin und her bewegt, bis der dazwischen eingeklemmte Fuß vollkommen mobili¬
siert ist. Beigegebene Photographien erläutern die Technik, Ein mehrere
Wochen getragener Gips verband erhält die durch das Redressement erzielte
Korrektur. Zur Nachbehandlung empfiehlt Verfasser einen Schienenhülsenapparat,
der nur des Nachts angelegt wird. Bei Tage tragen die Patienten einen festen
Schuh mit erhöhter Außenseite. Vü 11 ers-Berlin.
Helbing, Ueber Wesen und Behandlung des Plattfußes. Berl. klin, Wochen¬
schrift 1905, 13.
Die Arbeit ist für den praktischen Arzt bestimmt und will ihn bekannt
machen mit den Symptomen, mit deren Hilfe man auch einen nicht ausgeprägten
Plattfuß erkennen kann, was unbedingt von großer Wichtigkeit ist, da es ja
gerade diese Fälle in erster Linie sein können, die ganz erhebliche Beschwerden
verursachen. Die Abduktionsstellung der Ferse bei belastetem Fuße ist das erste
und sicherste Zeichen eines beginnenden Plattfußes. Die beim Plattfuß im Knie
und in der Hüfte auftretenden Schmerzen haben nach Helbing ihre Ursache
in der von den Plattfußleidenden eingenommenen sogen, „habituellen Stellung“,
bei der die Last des Körpers nicht durch Muskelaktion, sondern durch Hemmung
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XV. Bd. 44
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688
Referate.
von Seiten des Bandapparates und der Knochen getragen wird. Eine ausführ¬
liche Darstellung der Technik der Herstellung der Plattfußeinlagen nach Lange
beschließt die sehr lesenswerte Arbeit, an deren Schluß auch noch mit kurzen
Worten der in Frage kommenden Operationen gedacht wird.
Biencke - Magdeburg.
Schümann, Zur Methodik der Plattfußdiagnose. Münchener med. Wochenschr.
1906, 2.
Schümann empfiehlt zur Herstellung von Fußabdrücken die Anwendung
der Berlinerblaureaktion. Glattes Schreibpapier wird mit zur Hälfte ver¬
dünntem Liquor fern bestrichen. Die mit ca. 6 0 oiger Ferrocyankaliumlösung
dünn bestrichene Fußsohle wird auf den Bogen aufgesetzt und man bekommt
ein sehr scharfes dunkelblaues Bild auf gelbem Untergrund, auf dem der
Verlauf der Papillarlinien deutlich erkennbar ist: häufig lassen sich selbst die
Schweißdrüsenporen als punktförmige Unterbrechungen der Cristae cutis
erkennen. Bien cke-Magdeburg.
Herhold, Frakturen der Mittelfußknochen. Aerztl. Verein in Hamburg. Sitzung
vom 20. März 1906. — Münch, med. Wochenschr. 1906, 13.
Verfasser hat mit einem zu diesem Zwecke besonders konstruierten Apparat
Versuche am Fußskelett angestellt, das zunehmend belastet wurde, bis eine
Fraktur eintrat. Dieselbe erfolgte beim 2., 3. und 4. Mittelfußknochen ungefähr
bei gleicher Belastung. Der häufigste Sitz der Fraktur befand sich bei den
Versuchen an der Grenze zwischen äußerem und mittleren Drittel am distalen
Ende, genau also an der Stelle, wo wir ihn auch gewöhnlich beim Lebenden
finden. Bei Einwirkung der Gewalt in vertikaler Richtung brach der Knochen
dicht unter dem Köpfchen. Bien cke-Magdeburg.
Lilienfeld, Die Brüche der Tuberositas ossis metatarsi V und des Processus
posticus tali und ihre Beziehungen zum Os vesalianum und Trigonum.
Archiv f. klin. Cliir. 78, 4.
Lilienfeld konnte in einem Zeitraum von 47* Jahren unter 600
Knochenbrüchen 5mal den isolierten Bruch der Tuberositas ossis metatarsi V
nachweisen, sieben isolierte Brüche des Processus posticus tali und fünf solche
mit dem Bruch des Calcaneus verbundene. Verfasser bespricht die Entstehung
dieser Brüche, ihre Symptome und Behandlung und glaubt, daß eine nicht
genügende Berücksichtigung der Tatsache, daß die erwähnten Brüche als typische
Verletzungen Vorkommen, die Anatomen und besonders Gruberund Pfitzner
verleitet haben, das „Trigonum“ beim Talus und die „persistierende Epiphyse*
beim Os metatarsi V viel häufiger anzunehmen, als sie wirklich Vorkommen.
Die Röntgenaufnahmen, das klinische Bild lassen in den meisten Fällen die
Differentialdiagnose, ob es sich um eine Fraktur oder um ein inkonstantes
Skelettstück handelt, sicherstellen. Verfasser ist der Ansicht, daß von den
Pfitznersehen Fällen diejenigen, welche sogenannte „Entartungserscheinungen*
aufweisen, als pathologische Produkte nach stattgehabter Fraktur entscheiden,
und daß die von Gruber veröffentlichten Fälle von inkonstanten persistierenden
Epiphysen jenseits der Pubertät als Produkte von Frakturen anzusehen sind.
Eine Reihe Röntgenaufnahmen sind der Arbeit beigegeben.
Blencke - Magdeburg.
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Referate.
G89
Ebbinghaus, Ein Beitrag zur Kenntnis der traumatischen Fußleiden. Die
Verletzung des Tuberculum maius calcanei. Centralbl. f. Chirurgie 1906,15.
Verfasser gibt die Krankengeschichten zweier Patienten wieder, die über
heftige Schmerzen im Hacken zu klagen hatten, ohne daß auch nur eine Spur
von Platt- oder X-Fuß vorhanden war. Der Röntgenbefund und der Verlauf
der Fälle machten es ihm zur Sicherheit, daß die Beschwerden in dem unge¬
wöhnlich groß veranlagten Tuberculum maius des Calcaneus zu suchen waren,
und weiter, daß es sich beide Male um ein und dieselbe Affektion handelte,
um eine Fraktur desselben. Den absoluten Beweis dafür liefert nach Ebbinghaus*
Ansicht die genaue Lokalisation des Schmerzpunktes, die röntgenographische
Aufnahme und der Erfolg der eingeschlagenen Therapie, die in dem einen Falle
in der operativen Entfernung, in dem anderen darin bestand, daß die in Frage
kommende schmerzhafte Stelle hohl gelegt würde. Die betr. Fraktur wird bei
der Entstehung niemals die Gehfähigkeit sofort aufheben; die Hauptschmerzen
werden wohl in der Regel erst sekundär auftreten und neuritischer Natur sein,
da die Nerven, die in unmittelbarer Nähe des Tuberculum liegen, außerordentlich
leicht durch schwielige oder kallöse Einbettungen in Mitleidenschaft gezogen
werden. Bl encke-Magdeburg.
König, Apparat zur Behandlung der Fractura calcanei. — Aerztl. Verein in
Hamburg. Sitzung vom 20. März 1906. — Münchener med. Wochenschr.
1906, 13.
Der Apparat gestattet die Extensionsbehandlung in Verbindung mit
Schraubenkompression zur Verhütung des Plattfußes. B1 e n c k e - Magdeburg.
Lauenstein, Demonstration von Röntgenbildern eines pathologisch veränderten
Calcaneus. Biologische Abteilung des ärztl. Vereins Hamburg. Münch,
med. Wochenschr. 1906, 7.
Ein 22jähriger Mann war vor 3—4 Jahren beim Turnen auf die linke
Hacke gesprungen und seitdem bestanden an dieser Stelle immer mehr zu¬
nehmende Schmerzen. Aeußere Veränderungen außer einer leichten Verdickung
an Proc. post, calcanei w T aren nicht nachzuweisen. Das Röntgenbild ließ die
normale Architektur der Spongiosa verwaschen erscheinen und wolkenartige
Konturen erkennen, die an eine Vakuolenbildung denken ließen, eine Annahme,
die durch die Exstirpation des Knochens bestätigt wurde, ln den Lakunen
fanden sich kleine Blutgerinnsel, keine Spuren einer Neubildung. Histologisch
konnte das Präparat leider nicht untersucht werden, da es durch einen unglück¬
lichen Zufall zu Grunde ging. B l e n c k e - Magdeburg.
Zesas, Ueber syringomyelitische Schultergelenkverrenkungen. Deutsche Zeit¬
schrift f. Chirurgie.
Während bei Tabes die Gelenkerkrankungen sich häufiger an den unteren
Extremitäten lokalisieren, betrifft die Syringomyelie meist die Gelenke der
oberen Extremität. Am häufigsten erkrankt das Schultergelenk, in 35 %• Die
Veränderungen bestehen vorerst in Erweiterung und Erschlaffung der Kapsel,
Erweiterung der Pfanne, Verkleinerung resp. Abschleifung des erweichten
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690
Referate.
Kopfes, Luxation. Wichtig ist die Kenntnis dieser Erkrankung für da3 Unfall¬
wesen, da häufig habituelle Schulterluxation als erste Erscheinung der Syringo¬
myelie auftritt. Vü 11 ers-Berlin.
Braun, Beiträge zur Behandlung der tuberkulösen Schultergelenksentzündung
aus der Chirurg. Universitätsklinik in Göttingen. Diss. Göttingen 1905.
Aus der Göttinger chirurg. Klinik ist schon eine ganze Reihe von Ar¬
beiten erschienen, die die Tuberkulose der einzelnen Gelenke behandeln. Die
vorstehende befaßt sich mit dem Schultergelenk. Verfasser gibt zunächst ein
ausführliches Bild dieser Erkrankung, bespricht die Therapie und berichtet dann
im Anschluß hieran über 23 Fälle von Schultergelenkstuberkulose, die in der
Göttinger Klinik behandelt wurden. Das Kindesalter war stark bevorzugt und
dabei speziell das weibliche Geschlecht. Reine Caries sicca fand sich in 9 Fällen.
Schwellung, verbunden mit deutlicher Fluktuation und Eiter, bestand in 10 Fällen.
Fistelbildung war in 3 Fällen vorhanden; in 1 Falle nur Schwellung ohne
Fluktuation und ohne Eiter. Die Resektion des Humeruskopfes ist 3mal aus¬
geführt worden. Bei 20 Patienten sind teils mehr, teils weniger zahlreiche
Jodoformglyzerininjektionen mit wechselndem Erfolge ausgeführt worden. Die
23 Krankengeschichten sind der Arbeit beigegeben. Blencke-Magdeburg.
Catterina, Die Resektion des Schultergelenkes. Zentralbl. für Chirurgie
1906, 2.
Die vom Verfasser erdachte Methode der Resektion des Schultergelenkes
entspricht nach seiner Meinung allen Bedingungen, die an eine Resektion über¬
haupt zu stellen sind. Es handelt sich dabei darum, eine temporäre Resektion
des äußeren Drittels des Schlüsselbeines zu machen, somit den Deltoideus und
den Nervus circumflexus vollständig zu schonen und gleichzeitig einen großen
Raum zu gewinnen. Die von Catterina angegebene Methode, die genau be¬
schrieben wird, ist sehr leicht, ungefährlich und in allen Fällen anwendbar,
besonders bei der Reduktion resp. Resektion veralteter vorderer Luxationen
des Humerus. Die Blutung ist eine minimale. Blencke - Magdeburg.
Hoffmann, Ueber isolierte Frakturen des Tuberculum majus humeri. Diss.
Leipzig 1906.
Verfasser erörtert zunächst die Aetiologie, die klinischen Symptome, die
Prognose und die Therapie der Tuberculumfrakturen und berichtet dann über
die im Kölner Bürgerhospital in einem Zeitraum von 2 Jahren beobachteten
Fälle. Von diesen waren 8 mit anderweitigen Frakturen am oberen Humerus¬
ende kompliziert, während die übrigen 27 isoliert auftraten, und zwar teils
mit, teils ohne Luxation des Humerus. Bei den erwähnten 8 Frakturen handelte
es sich in 7 Fällen um eingekeilte Brüche. 2 Frakturen waren pertuberkulär,
die übrigen 6 betrafen den chirurgischen Hals. Eine Uebersicht über die Fälle
ist mit kurzer Angabe der Krankengeschichten in Tabellenform beigegeben.
Am Schlüsse der Arbeit hebt dann Hoffmann die Vorzüge der von Barden¬
heuer angewandten Streckbehandlung hervor. Blencke-Magdeburg.
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Referate.
691
Piper, Fractura hum er i mit Verletzung des N. radialis. Diss. Kiel 190S.
Nach einigen allgemeinen Bemerkungen über die Radialislähmungen nach
Humerusfraktur und nach Aufzählung einiger in der Literatur beschriebenen
Fälle bringt Verfasser die Krankengeschichten von 4 Fällen von Humerusfraktur
mit Verletzung des N. radialis. In dem ersten Falle handelte es sich wohl um
eine weniger durch die Fraktur als durch die gleichzeitig bestehende Luxation
bedingte Schädigung des ganzen Plexus brachialis, die durch Massage und
Elektrizität gebessert wurde. Im zweiten Falle handelte es sich um eine direkte
Verletzung des N. radialis, im dritten um eine Interposition des sonst unver¬
letzten Nerven zwischen die Knochenfragmente. Der Nerv wurde befreit, in
Stümpfe des Triceps eingenäht, so daß er überall von Muskel umgeben war
und nirgends dem Knochen auflag. Die Radialislähmung schwand vollkommen.
Bei dem vierten Fall brachte die Operation nicht den gewünschten Erfolg, da
man den N. radialis vollkommen intakt fand. B1 en ck e ♦ Magdeburg.
Rowlands, Die Behandlung der Volkmannschen Kontraktur durch Resektion
des Vorderarms. Lancet 1905, 21. Okt.
Verfasser machte in einem Fall ischämischer Muskelkontraktur 4 Monate
nach der Verletzung die Resektion beider Vorderarmknochen an verschiedenen
Stellen, um einen sogen. Brückencallus zu erzielen. Der Erfolg der Operation
war ein ausgezeichneter. Im Anschluß an diesen Fall gibt er eine ausführliche
Beschreibung dieser Erkrankung, deren Ursache ja meist in zu eng angelegten
Verbänden zu suchen ist. Bl encke-Magdeburg.
Strohe, Verletzung des Nervus radialis mit nachfolgender Naht desselben.
Allgem. ärztl. Verein zu Köln. 20. Nov. 1905. Münch, med. Wochenschr.
1906, 15.
Nach Bruch des Oberarms oberhalb des Ellbogengelenks Lähmung des
N. radialis nach ungefähr 14 Tagen, die Radialisenden wurden genäht und die
Knochenenden nach Resektion einer Platte des zentralen Bruchendes reponiert.
Der Radialis war jedenfalls über einer vorspringenden Knochenkante allmählich
durchgescheuert worden. Vollständige Wiederherstellung der Funktion.
B1 e n c k e - Magdeburg.
Edmund C. Bevers, Compression of the median nerve. Brit. med. journ.
1906, 17. Febr., 2355.
Bei einem 18jährigen Mädchen, das vor 8 Jahren nach einem Fall von
der Schaukel ein steiles Ellbogengelenk behielt, wurde damals schon eine Ope¬
ration (angeblich Cyste entfernt) ohne Erfolg gemacht. Jetzt besteht Beschrän¬
kung der Bewegung im Ellbogengelenk und seit 1 Jahre Schmerzen im Ver¬
breiterungsgebiet des Medianus; an der Stelle der alten Narbe über dem
Condylus internus fühlt man eine auf Druck schmerzhafte Geschwulst. Bei
der Operation findet man ein knackmandelgroßes Knochenstück frei zwischen
der Bicepssehne und dem Pronator teres, darüber hinwegziehend der ab¬
geplattete, stark verbreitete Medianus direkt vor der Arteria brachialis anstatt
an ihrer Innenseite locker mit dem Knochenstück verklebt, einige Nervenfasern
von den Kanten des Fremdkörpers zerrissen. Exstirpation desselben, Heilung.
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692
Referate.
Röntgenbild ergibt eine alte Fraktur mit Dislokation des unteren Fragmentes;
der Fremdkörper wird als ein vollständig abgesprengtes Epiphysenstück an¬
gesehen. Mosenth al-Berlin.
Gräfenberg, Die Entwicklung der Knochen, Muskeln und Nerven der Hand
und der für die Bewegungen der Hand bestimmten Muskeln des Unterarms.
Diss. Göttingen 1905. Anatomische Hefte von Merkel u. Bonnet, Heft 90.
Aus der Ueberschrift geht wohl schon zur Genüge hervor, daß auf
Einzelheiten des behandelten Themas nicht näher in einem Referat eingegangen
werden kann. Ich muß mich lediglich darauf beschränken, das Studium dieser
Arbeit, die die gewöhnlichen Dissertationen weit überragt und des Interessanten
genug bietet, aufs angelegentlichste zu empfehlen. 19 Abbildungen im Text
und ein 79 Nummern umfassendes Literaturverzeichnis sind dieser Abhandlung
beigegeben. B1 e n c k e - Magdeburg.
Krome, Ueber die Muskelinsertionen an der Handwurzel und die Beziehungen
zwischen den Sehnen und dem Bandapparat des Handgelenks. Diss.
Göttingen 1905.
Verfasser sucht einen Teil zur Lösung der Fragen, die hier in Betracht
kommen, beizutragen, indem er eine Anzahl von 15 Armen präparierte. Das
Ergebnis dieser Untersuchungen hat er in /1er vorliegenden Arbeit zusammen¬
gestellt. Blencke-Magdeburg.
Sauer, Die Madelungsche Deformität des Handgelenks. Beiträge zur klin.
Chir. Bd. 48, Heft 1.
Verfasser berichtet über 3 neue Fälle der obengenannten Deformität und
bespricht an der Hand von Röntgenbildern eingehend das Wesen und die Ent¬
stehung derselben. Seine Ansichten darüber faßt er in folgenden Sätzen zu¬
sammen: „Die Madelungsche Deformität des Handgelenks besteht in den
ausgesprochenen Fällen in einer vollkommenen Luxation des Carpus im Ulno¬
carpalgelenk und des Radius im Radioulnargelenk. Diese Luxation ist bedingt
durch eine volare Krümmung des Radius teils an seinem distalen Ende, teils
in der Mitte. Das Radiocarpalgelenk ist in der überwiegenden Mehrzahl der
Fälle intakt, nur ausnahmsweise besteht in demselben eine volare Subluxations¬
stellung der Hand. Der letzte Grund der Erkrankung ist mit Wahrscheinlich¬
keit in einer rhachitischen Knochenaffektion zu suchen, die sowohl im Kindes¬
alter als auch zur Zeit der Pubertät zur Entwicklung der Deformität
führen kann.“
Sauer empfiehlt nach einem bereits von Madelung gemachten Vor¬
schlag, die Deformität als Manus valga zu bezeichnen. We 11 e - Berlin.
M. Hirsch, Beitrag zur Lehre von der isolierten, subkutanen Fraktur einzelner
Handwurzelknochen. Wiener med. Wochenschr. 1905, Nr. 34.
Verfasser bespricht an der Hand von 2 Fällen des Naviculare und eines
Falles von Fraktur des Os lunatum den Entstehungsmechanismus dieser Frak¬
turen. Bei der Fraktur des Os naviculare, der häufigsten Verletzung der
Carpalknochen, handelt es sich meist um eine Kompressionsfraktur. Der grazil
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Referate.
693
gebaute Knochen bildet bei der Radialreflexion der Hand eine Art Puffer zwi¬
schen dem Radius und dem massigen Os capitatum; hierbei entsteht die Fraktur
in der Mitte des Knochens am Halse des Os naviculare durch eine in der Rich¬
tung der Vorderarmachse einwirkenden Gewalt.
Die beiden Fälle von Hirsch lassen nun einen anderen Entstehungs¬
mechanismus erkennen. Die Patienten waren mit der in Ulnarflexion be¬
findlichen Hand auf den Boden aufgefallen; in dem einen Falle war ein
Biegungsbruch entstanden, indem das Naviculare bei fixierten Polen über
dem Proc. styloid. radii wie ein Rohrstab übers Knie gebrochen war. Im
zweiten Falle handelte es sich um eine Rißfraktur an der Tuberositas ossis
navicularis, wo sich das vom Proc. styloid. radii kommende Ligam. lateral,
radiale ansetzt.
Nach Hirsch hat man daher drei Entstehungsmechanismen bei der
Fraktur des Os naviculare zu unterscheiden: 1. Kompressionsfraktur bei Radial¬
stellungen der Hand, 2. Biegungsfraktur und 3. Rißfraktur; die beiden letzten
entstehen bei Ulnarflexion. Die Volar- und Dorsalflexion ist ohne besonderen
Einfluß. Die Symptome der Fraktur des Naviculare sind ganz charakteristische.
Schwellung des Handgelenkes, starke Behinderung der Dorsalflexion, heftiger
streng auf die Tabati&re beschränkter Druckschmerz, Ausfüllung der Tabatiere,
Annäherung des unteren Radiusendes an die Mittelhand. Völlige Sicherheit
bezüglich der Diagnose ergibt das Radiogramm.
Die Fraktur ist selten extrakapsulär, meist intrakapsulär; in diesen
letzteren Fällen kommt es meist nur zu Pseudarthrosenbildung. Als Folgen
derselben sehen wir Versteifung der Hand, in mehr oder weniger starker
Radialflexion der Hand, andauernden Druckschmerz in der Tabatiöre, große
Schmerzhaftigkeit. Führt eine frühzeitig eingeleitete Behandlung mittels per¬
manenter Extension, späterhin mit aktiven und passiven Bewegungen, Massage,
Bädern und Gymnastik nicht zum Ziele, so wird die operative Entfernung des
frakturierten Knochens oder seines distalen Fragmentes durch Längsschnitt in
der Tabatiere notwendig werden. Bei der extrakapsulären Fraktur kommt es
zur völligen Konsolidierung mit Wiederherstellung der Funktion.
Der 3. Fall von Hirsch betraf die seltene Fraktur des Os lunatum;
es handelte sich hierbei um die für diese Fraktur typische keilförmige Knochen¬
auslösung an der proximo-ulnaren Ecke des Knochens. Die Fraktur entsteht
bei Ulnarflexion der Hand als Kompressionsfraktur, indem dann das Lunatum
den Puffer zwischen Radius und Handwurzel bildet. Meist kommt es aber zu
Kapselriß und Luxation des Os lunatum. Die Diagnose ermöglicht nur das
Radiogramm. Haudek-Wien.
Testi, Die' Dupuytrensche Palmarfascienkontraktur und die Syringomyelie.
Riform. med. 1905. 30.
Testi macht auf den Zusammenhang zwischen dieser Fingerkontraktur
und der Syringomyelie aufmerksam und erwähnt die Geschichte von drei an
dieser Affektion leidenden Brüdern. Von dem dritten Bruder bringt er den
Obduktionsbefund. Die Sektion ergab multiple syringomyelitische Höhlen so¬
wohl in der vorderen als hinteren Kommissur und gliomatöse Infiltrationen.
Testi ist der Ansicht, daß mit dem Wachstum unserer anatomischen und
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694
Referate.
physeopathologischen Kenntnisse in Bezug auf Erkrankungen des Nervensystems
verschiedene Krankheiten, die als autochthone Formen galten, verschwinden
und in Zukunft als Symptome ein und derselben Krankheit angesehen werden
müssen. Blencke-Magdeburg.
Aderholdt, Ein seltener Fall von angeborener Ankylose der Fingergelenke.
Münch, med. Wochenschr. 1906, 8.
Es handelte sich um einen 85jährigen Engländer, bei dem eine ange¬
borene Ankylose zwischen der Grund- und Mittelphalanx des 3., 4. und 5. Fingers
an beiden Händen bestand. Wie das Röntgenbild ergab, war es eine reine
Ankylosis ossea. Irgendwelche Störung bedingt die Ankylose für ihren Träger
nicht. Die Entstehung ist zweifellos eine intrauterine und nach des Verfassers
Ansicht handelt eR sich um Störungen im Keime des Embryos selbst. Ader¬
holdt konnte in der Literatur trotz genauer Durchforschung derselben nur
noch einen einzigen derartigen Fall finden. Blencke-Magdeburg,
Görl, Hand mit drei Fingern. Nürnberger med. Gesellschaft. Sitzung vom
4. Jan. 1906. Münch, med. Wochenschr. 1906, 12.
Görl demonstriert das Röntgenbild einer Hand mit nur drei Fingern;
die andere Hand ist normal. Der Daumen der rechten Hand ist normal, der
Zeige- und Mittelfinger mit den beiden dazu gehörigen Mittelhandknochen sind
verdickt, während der 4. und 5. Finger ganz fehlen. Auch von den Hand¬
wurzelknochen fehlen zwei; die vorhandenen zeigen veränderte Konfiguration.
B1 e n c k e - Magdeburg.
Hadelich, Angeborener doppelter Daumen, Aerztl. Verein in Nürnberg.
Sitzung vom 21. Dez. 1905. Münch, med. Wochenschr. 1906, 13.
Demonstration eines Mannes mit angeborenem doppelten rechten Daumen.
B1 e n c k e - Magdeburg.
Leitner, Ueber überzählige Finger an Hand und Fuß. Diss. München 1905.
Nach einigen Erörterungen über die Mißbildungen und ihre Entstehung
im allgemeinen, bespricht Verfasser die an Hand und Fuß vorkommenden
Anomalien im speziellen, um sich dann am eingehendsten mit der Polydak¬
tylie zu beschäftigen. Er führt die vier bekannten Grade derselbeu an mit
Aufzählung einer ganzen Reihe in der Literatur veröffentlichter Fälle, bespricht
die Aetiologie und die Behandlung dieser Deformität und unterzieht dann am
Schlüsse seiner Arbeit zwei in der jüngsten Zeit in der Erlanger chirurgischen
Klinik beobachtete Fälle von Polydaktylie, welche die Anregung zu der vorliegen¬
den Arbeit gaben, einer genauen Beschreibung. In beiden Fällen waren an beiden
Händen und beiden Füßen je 6 Finger bezw, Zehen vorhanden, die durch
Operation abgetragen wurden. Blencke-Magdeburg.
Groedel, Linksseitige Trommelschlegelfinger bei Aneurysma arcus aortae.
Münch, med, Wochenschr, 1906, 6.
Nach des Verfassers Ansicht handelte es sich bei der Entstehung der
Trommel schlegelfinger in diesem Falle um ein mechanisches Moment {venöse
Stauung) und gleichzeitig toxisches (verlangsamte Abfuhr der Zellstoffwechsel-
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Referate.
695
Produkte)» und zwar bei einem durch verminderte arterielle Durchblutung
unterernährten, d. h. in seiner Widerstandsfähigkeit geschwächten Gewebe»
Ob auch dem Sympathicus ein Einfluß auf das Entstehen zuzuschreiben ist,
läßt Verfasser dahingestellt; jedenfalls ist er der Ansicht, daß für die Bildung
der Abnormität stets mehrere Umstände Zusammentreffen müssen, von denen
die wichtigsten die vorher angeführten sind, B1 e n c k e * Magdeburg.
Merkel, Adduktionskontraktur des rechten Daumens und gleichzeitige Flexiona-
kpntraktur der vier anderen Finger der rechten Hand. Nürnberger med,
Gesellschaft, 2. Nov. 1905. Münch, med. Wochenschr, 1906, 2.
Es handelte sich um ein 13jähriges Mädchen, bei dem mit aller Wahr¬
scheinlichkeit eine bestehende Osteochondritis als Ursache dieser Reflexkontraktur
angesehen werden muß. Merkel entschloß sich zur Entfernung der Hälfte
des Metacarpus pollicis und Exartikulation aus dem Handgelenk. Der Befund
des Knochens war der der Ostitis hyperplastica. J)er Erfolg war glänzend.
Die Hand war nach dem Erwachen aus der Narkose von normaler Beweglich¬
keit und ist es geblieben. Merkel ist geneigt, aus verschiedenen Gründen
den Prozeß als Lues tarda anzusehen. Blencke-Magdeburg.
Bertram Watson (London), A case of atrophie of the phalanges of the
hands with joint lesions, sequential to multiple tumours of the skin.
British medical Journal Nr. 2358.
47jähriger Mann. Anamnese bis auf überstandene Gonorrhöe belanglos.
Nach einer Attacke von akutem Rheumatismus entwickeln sich massenhaft
Tumoren von verschiedener Größe und myelogener Struktur in der Haut. Zu¬
erst über dem Hüft-, dann dem Ellbogengelenk und allmählich auf dem übrigen
Körper, manchmal ganz plötzlich entstehend. Das Röntgenbild zeigt die
Phalangen der Hand vollständig resorbiert, die Finger infolgedessen sehr ver¬
kürzt, und die unbeschädigte Haut teleskopförmig in Falten überein anderge¬
schoben; über beiden Handgelenken eine feste kompakte Geschwulst, Haut
annähernd bronzefarben, die Kniee in halbgebeugter Stellung fixiert, ohne nach¬
weisbare Knochenveränderung, sonst ebenfalls normale Knochen und Gelenke,
Kopfhaut verdickt und mit Warzen bedeckt. Diagnose und Erklärung wird
schuldig geblieben. Mosenthal-Berlin.
Reben tisch, Zur Kenntnis der Rissfrakturen der Fingerendglieder. Monatsschr.
für Unfallheilkunde und Invalidenwesen 1905, Nr. 5.
So wie durch plötzliche passive Beugung des Fingerendgliedes die Streck¬
sehne mitsamt dem als Ansatz dienenden Knochenstück abreißen kann, so kann
auch bei starker aktiver Beugung durch plötzliche passive Streckung oder
Ueberstreckung des Fingerendgliedes ein Abriß der Beugesehne erfolgen. In dem
mitgeteilten Falle entsprach das abgerissene Knochenstückchen genau der An¬
heftungsstelle des Flexor digitorum profundus. Die Verletzung ist äußerst
selten. Fränkel-Berlin.
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696
Referate.
Selb erg, Ueber den Abriß der Streckaponeurose der Finger. Münch, med.
Wochenschr. 1906, 15.
Verfasser stellte die in der Literatur veröffentlichten Fälle dieser Ver¬
letzung zusammen und reiht diesen sechs weitere Fälle an, die er in der
Hoffaschen Klinik zu beobachten Gelegenheit hatte. Alle Kranken waren
mit der Endphalanx heftig auf einen Widerstand gestoßen, während sie die
Finger kräftig extendiert hielten. Was die Behandlung anlangt, so ist Selb erg
stets ohne Operation ausgekommen. Ein Schienchen, das in zweckmäßiger
Weise angebracht wurde, dazu tägliche Massage ließen eine schnelle Wieder¬
herstellung der Funktion und Nachlassen der Schmerzen bald erkennen. Die
Röntgenaufnahmen ließen nur in dem einen Falle eine Abrißfraktur an der
dorsalen Basis der Endphalanx erkennen, nach Selbergs Ansicht ein Beweis
dafür, daß diese nur in der Minderheit vorkommt. Blencke-Magdeburg.
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Autorenverzeichnis.
Originalarbeiten sind mit * versehen.
A.
Aderholdt 694.
Assinger 160.
B.
Bäärnhielm 185.
Backe 201.
Balakian 672.
v. Baracz 686.
Bardescu 182.
Barker 685.
Bauer 157.
Beintker 673.
Bettmann 206.
Bevers 691.
Bleibtreu 166.
Blencke 194. 310*.
Boye (u. Reimers) 163.
Braatz 158.
Brandenberg 114*.
Braun 690.
Brodnitz 157.
van der Brugh 177.
Brüning 202.
v. Brunn 190.
Buchwald 668.
Budzynski 187.
Bum 171.
Burn 162.
C-
Cassierer (u. Joachims¬
thal) 203.
Catterina 690.
Chlumsky 294*. 299*.
Curschmann 153.
D.
Daser 167.
Deschmann 677.
Dessauer (u. Wiesner) 152.
Determann 169.
Deutschländer 195.
Deycke Pascha 153.
Drehmann 686.
E.
Ebbinghaus 689.
Ebermayer (u. Gebele) 667.
Ehrhardt 180.
Eichmann 164.
Ewald 276*. 482*. 679.
681. 684.
F.
Facompie 181.
Fehres 668.
Feiß 677.
Fels 198.
Finck 161.
Flatau 170. 176.
Flint 685.
Francke 288*.
Frankel 207*.
Fürst 163.
6 *
Garr£ 666.
Gaugele 200. 302*. 663.
Gebele 161.
Gebele (und Ebermayer)
667.
Gelinsky 665.
Gerson 159.
Ghillini 77*.
Ghiulamila 152.
Görl 694.
Gottschalk 169.
Grabmeister 165.
Gräfenberg 692.
Grißlich 662.
Groedel 694.
Grünbaum 659.
Grunert 154.
Gundermann 168.
H.
Hack 184.
Hadelich 694.
Haglund 112*.
Hahn 176. 675.
Hakenbruch 155.
Harting 189. 191.
Haudek 156.175.175.656.
Heine 660.
Helbing 203. 502*. 679.
683. 687.
Helferich 193.
Henderson 158.
Henrick 670.
Herhold 688.
Hermes 179.
Hesse 191. 680. 682.
Heusner 661.
Hirsch 159. 203. 692.
Hoeftmann 658.
Hoffa 160. 170. 190. 656.
680. 685.
Hoffa u. Rauenbusch 151.
Hoffmann 690.
Hofmann 201. 675.
Hohlfeld 663.
Horn 668.
v. Hovorka 40*. 166. 657.
Hübener 177. 202.
Hübscher 86*.
I. J.
Immelmann 171.
Jankau 655.
Joachimsthal 186.
Joachimsthal u. Cassierer
203.
Jottkowitz 665.
K.
Kachler 686.
Kahlert 674.
Kahn 669.
Käst 661.
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098
Eatzenstein 195.
Kellermann 670.
Kenyeres 659.
Kersten 159. •
Klapp 178. 186.
Klar 424*.
Klengel 205.
Knapp 675.
Kohl 662.
Kölliker 191.
König 689.
Kopits 89*. 391*.
Krause 678.
Krome 692.
Krüger 167.
Kuh 677.
L«
van Laak 158.
Lagiewski 180.
Lamberger 171. 674.
Lange 657.
Laqueur 159.
Laub 163.
Lauenstein 689.
Lilienfeld 688.
Liniger 206.
Lissauer 206. 664.
Leitner 694.
v. Lesser 199. 205.
Lewandowski 672.
Löbus 168.
Lorenz 160. 179.
Lorenz u. Reiner 187.
Loser 165.
Lübbers 184.
M.
Machol 674.
Magnus 683.
Mahlcke 660.
Mainzer 185.
Mayer 100*.
Merkel 695.
Meyerowitz 178.
Micka 665.
Micke 176.
Milatz 417*.
Millner 664.
Molina-Castilla 662.
Moritz 672. 676.
Moser 153.
Mosetig-Moorhof 155.196.
Mouchet 194. 656. 686.
Mueller 679.
Müller 660.
Muskat 204. 680.
Autorenverzeichnis.
N.
Nettei 174.
Neubert 669.
Nickol 676.
Nieny 677.
Nobe 204.
O*
Obladen 686.
Oehlecker 195.
Oettinger 664.
Otto 193.
P.
Perrone 353*.
Pfennigsdorf 666.
PhilippBon 181.
Piper 183. 691.
Pollatschek 192.
Poulsen 185.
R.
Ranzi 160.
Rauenbusch (u. Hoffa) 151.
Rebentisch 695.
Reichard 658.
Reiche 193.
Reimers (u. Boye) 163.
Reiner 188.
Reiner (u. Lorenz) 187.
Reiß 162.
Richter 204.
Rosenhaupt 177.
Roskoschny 200.
Rowlands 691.
v. Rüdiger-Rydygier 197.
S.
Salvendi 157.
Sauer 692.
Schanz 468*. 476*. 686.
Schilling 181.
Schlesinger 190. 673.
Schoenborn 167.
Schulze 186. 687.
Schümann 688.
Schuster 184.
Schwellenbach 183.
Seeligmüller 169.
Selberg 696.
Seilheim 659.
Silberstein, Adolf 24*. 60*.
Silberstein, Simon 402*.
Sonntag 201.
Spieler 157. 663.
Spitzy 172. 641*.
Stegmann 198.
Stich 202.
Stieda 154.
Strauch 663.
Strohe 691.
Sudeck 655.
T.
Taendler 175.
Teissier (u. Verhoogenl
164.
Testi 693.
Thomas 104*. 153.
Tubby 180. 670.
Tucker 683.
Turner 195.
U.
Unverricht 162.
Y.
Veit 168.
Verhoogen (u. Teissier)
164.
zur Verth 161. 161. 186.
Voigtländer 666.
Voltz 671.
Vulpius 677.
W*
Walterhöfer 182.
Watson 695.
Weber 177. 183.
Wegner 669.
Weidenhaupt 177.
Wette 632*.
Wiesinger 201. 683.
Wiesner (u. Dessauer) 152.
Wilms 182.
Windscheid 655.
Wittek 196. 200.
Wolff 205. 670.
Wollenberg 118*. 494*.
674. 675.
Z.
Zesas 1*. 36*. 166. 330*.
667. 689.
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Sachregister.
Originalarbeiten sind mit * versehen.
A.
Achillessehne, Erkrankung der (Dreh¬
mann) 686.
--(Schanz) 686.
Achillofcotnie, plastische (Hübscher)
86 *.
Akromegalie (Henrich) 670.
— (Bleibtreu) 166.
— (Curschmann) 153.
— (Schönborn) 167.
Amputationsstümpfe, Bungesche
(Ranzi) 160.
Apparat, Gymnastik (Flatau) 170.
Arthritis gonorrhoica (Hirsch) 159.
Arthropathie bei Syringomyelie (Buch¬
wald) 668.
— luetische (Zesas) 166.
Atlas der orthopäd. Chir. in Röntgen-
bildern (Hoffa u. Rauenbusch)
151.
B.
Beckenstütze (Fink) 161.
Behandlung, orthopäd. (Immelmann)
m.
Blutergelenkerkrankung (B r o d n i t z)
157.
Bruchband (Thomas) 104*.
C.
Calcaneus- u. Talustuberkulose (Hübe¬
ne r) 202.
— pathologisch veränderter (Lauen¬
stein) 689.
Celluloidapparate (Ghiulamila) 152.
Chirurgie, mechanische u. operative
(Thomas) 153.
Coxa valga (K öl liker) 191.
Coxa vara (v. Brunn) 190.
— (Francke) 288*.
— (Härting) 191.
Coxa vara (Helbing) 502*.
— (Hoffa) 190.
— (Schlesinger) 190.
— (Wie sing er) 683.
Coxitis, Nachbehandlung (Schanz)
468*.
— Radikaioperation (Mosetig-Moor-
hof) 196.
D.
Daumen, Abduktionskontraktur des
(Merkel) 695.
— doppelter (Hadelich) 694.
Daumenpendel (Taendler) 175.
Drucklähmung der Unterarmmuskeln
(zur Verth) 186.
Dupuytrensche Fingerkontraktur
(Bäärnhielm) 185.
-(Mainzer) 185.
-u. Syringomyelie (Testi) 693.
E.
Elephantiasis des Beines (Helferich)
193.
Exostosen (Milner) 664.
— (Oettinger) 664.
Extensionskopfträger (Hahn) 176.
Extensionsstuhl (Schanz) 478*.
Extensionsverbände (Hofmann) 675.
F.
F ascienapparat d. Kniegelenks (Katzen¬
stein) 195.
Fersenbein, Absplitterung (Bettraann)
206.
Fibuladefekt (Wiesinger) 201.
— (Mouchet) 686.
Fibulafraktur (Wittek) 200.
Finger, Abriß der Streckaponeurose
der (Selberg) 696.
— Atrophie der (Watson) 695.
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700
Sachregister.
Finger, überzähliger (Leitner) 694.
Fingerendglieder, Rißfrakturen der
(Rebentisch) 695.
Fingergelenke, Ankylose der (Ader-
holdt) 694.
Fractura calcanei (König) 689.
— humeri, Verletzung des N. radialis
(Piper) 183.
Fraktur einzelner Handwurzelknochen
(Hirsch) 692.
Frakturenbehandlung (Gebeie) 161.
Frakturen der Tuberos. metatarsi V
und des Process. postic. tali (Lilien¬
feld) 688.
— pathologische (Grünert) 154.
Fußgelenkstuberkulose (Stich) 202.
Fußleiden, traumatische (Ebbinghaus)
689.
Fußresektionen, Resultate (Brüning)
202 .
Fußsohlenreflex (Klengel) 205.
Fußverkrüramungen, Aetiologie
(Hirsch) 203.
Fußwurzelkaries, Behandlung (Backe)
201 .
G.
Gehverband bei Frakturen (Wollen¬
berg) 674.
Gelenkerkrankungen, Behandlung durch
Stauung (Bum) 171.
— bei Blutern (Zesas) 667.
— bei Syringomyelie (Fehres) 668.
— gonorrhoische (Laqueur) 159.
Gelenkkörper, Entstehung (Braatz)
158.
— freie (Wegner) 669.
Gelenkrheumatismus, chronischer
(Teissier u. Verhoogen) 164.
Gelenktuberkulose (M o s e t i g - M o o r-
hof) 155.
— Behandlung (Garr£) 666.
-(Gebele und Ebermayer) 667.
Genurecurvatum, Behandlg. (Deutsch-
1 and er) 195.
-(Mouchet) 194.
— valgum (Ghillini) 77*.
Geschwülste der Knochen u. Knorpel
(Gottschalk) 169.
Gicht u. Rheumatismus, Behandlung
(Moser) 153.
Gipsbett, Technik (Haudek) 175.
Gipshanfschiene (Nettei) 174.
Gipskorsett, abnehmbares (Gerson)
159.
Gonitis luetica (Fels) 198.
Gymnastikapparat (Flatau) 176.
H.
Halbseitenlähmung, spastische (zur
Verth) 161.
Hallux valgus, angeborener (Zesas)
36*.
Halsmuskelkrämpfe, Pathogenese
(Seeligmüller) 169.
Halsrippen (Nickol) 676.
— doppelseitige (Hübener) 177.
— einseitige, mit Plexuslähmung
(Weber) 177.
— und Skoliose (Meyerowitz) 178.
— zur Klinik der (Rosenhaupt)
177.
Hand mit drei Fingern (Görl) 694.
Handwurzelfraktur (Wolff) 205.
Hemiplegie, cerebrale (Frankel) 207*.
— intra partum (Löbus) 168.
Heißluftapparate, elektrische (Lam-
berger) 674.
Heißluftbehandlung (L amberge r)
171.
Hinken, intermittierendes (D e t e r-
mann) 169.
-(Kahn) 669.
Hüftgelenkserkrankungen, puerperale
(Silberstein) 60*.
Hüftgelenkskontrakturen, Behandlung
(Silberstein) 402*.
Hüftgelenksresektion (Lorenz und
Reiner) 187.
Hüftkrücke, federnde (Schanz) 476*.
Hüftverrenkung, angeborene (Harting)
189.
-(Muskat) 680.
— — (Blencke) 310*.
-Aetiologie (Ewald) 679.
— — Behandlung (Budzynski) 187.
-(Müller) 679.
— — Kombination mit anderen De¬
formitäten (Wollenberg) 118*.
— — Dauerresultate d. unblut. Repo¬
sition (Joachimsthal) 186.
— — Kontrolle der Reposition (Klapp)
186.
— nach Coxitis (Wette) 632*.
I.
Iliosakralgelenk, Tuberkulose (Zesas)
330*.
Infraktion, besondere Form der (Kohl)
662.
Ischias, Behandlung (Kellermann)
670.
-(Wolff) 670.
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Sachregister.
701
E.
Keimfehler od. Druckwirkung? (Ewald)
482*.
— -(Wollenberg) 494*.
Kellgreensche Behandlungsmethode
(Haglund) 112*.
Kinderlähmung, spinale, Behandlung
mit Nervenpfropfung (Hacken¬
bruch) 155.
Klumpfuß, amniogene Entstehung
(K wald) 270*.
— Behandlung (Nobe) 204.
— — (Schulze) 687.
— hysterischer (Liniger) 200.
— u. amniot. Furchen (Joachimsthal
und Cassierer) 203.
Kniegelenksarthrodese, Technik (Tur¬
ner) 195.
Kniegelenksentzündung, traumatische
(Hoffa) 685.
Kniegelenk, internal derangement(Bar¬
ke r) 685.
Kniegelenkskontrakturen, angeborene
(Helbing) 683.
Kniegelenkskontusion (Flint) 685.
Kniegelenksluxation, angeborene (Mag¬
nus) 683.
Kniegelenkstuberkulose, Behandlung
(Steg mann) 198.
— Stauung bei (Obladen) 686.
Kniegelenksverkrümmungen, Behand¬
lung (Wittek) 196.
Knie- und Ellbogengelenk, Deformität
des (Ro8koschny) 200.
— — Fußgelenk, Fettgeschwulst (Gau¬
gele) 200.
Knochenbrüche, Behandlg. der (Heus-
ner) 661.
Knochen, Muskeln, Nerven der Hand
(Grafenberg) 692.
Kompressionsmyelitis (Fürst) 163.
Kontraktur der Halsmuskeln (Knapp)
675.
— des Kniegelenks (Blencke) 194.
— der Nackenmuskeln (Moritz) 676.
— des Beines, paralytische (Reiche)
193.
— hemiplegische (Lewandowsky)
672.
— Volkmannsche (Rowlands) 691.
Krüppelbehandlung, operative (Rei-
chard) 658.
L.
Lähmung, Duchenne-Erbsche (Moritz)
672.
Lähmungen, Behandlung (T u b by) 670.
Lähmungen, Behandlung (V o 11 z) 671.
-(Hoffa) 160.
— transitorische postepileptische
(Eiehmann) 164.
Lepra nervorum, Knochenveränderun¬
gen (Deyke Pascha) 153.
Littlesche Krankheit (Salvendi) 157.
Luxatio atlanto-occipitalis (Weiden¬
haupt) 177.
Luxation des Ellbogengelenks (Hack)
184.
-(Schuster) 184.
— der Schulter (Weber) 183.
— des Kniegelenks (Otto) 193.
Luxatio scapulohumeralis (Bardescu)
182.
M.
Madelungsche Deformität (PouIsen)
185.
-(Sauer) 692.
Malum coxae senile (Hoffa) 680.
Mechanische Orthopädie und orthopäd.
Chirurgie (v. Hovorka) 657.
Messung mittels Photographie (Milatz)
417*.
Metatarsus varus (Helbing) 203.
Mißbildungen, angeborene und erwor¬
bene (Kenyeres) 659.
— der Beine (Tucker) 683.
Mittelfußknochen, Frakturen der (Her-
hold) 688.
Modellierstuhl (Schanz) 479*.
Muskelatrophie nach Gelenksverletzun¬
gen und -Erkrankungen (Bum) 162.
— progressive (Kahlert) 674.
-(Bauer) 157.
— — (zur Verth) 161.
Muskelinsertionen an der Handwurzel
(Krome) 692.
Muskelzerreißung des M. adductor long.
(Pollatscheck) 192.
Myositis ossificans traumatica (Grün¬
baum) 659.
— -(Heine) 660.
-(Müller) 660.
X.
Nabelbruchband (Chlumsky) 299*.
Narkosenlähmungen (Balakian) 672.
Naviculare, Luxation (Gäugele) 302*.
Nervenplastik. allgemeine Technik
(Spitzy) 172.
Nervensystemerkrankungen, orthopäd.
Behandlung (Haudek) 175.
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702
Sachregister.
Nervae medianus, Kompression des
(Beyers) 691.
— radialis, Naht des (Strohe) 691.
Neurologie u. Chirurgie, Grenzgebiete
(Spitzy) 641*.
0 .
Orthopädische Behandlung, Einfluß des
Alters auf die (Hoffa) 656.
— Chirurgie, Leitfad en (M o u c h e t) 656.
Osteitis deformans (Daser) 167.
Osteoarthritis deformans coxae (Hesse)
680.
Osteodysplasie, kongenitale (Klar)
424*.
Osteogenesis imperfecta (H o h 1 f e 1 d)
663.
-(L 0 08 er) 165.
Osteomalacie (Grißlich) 662.
— (Strauch) 663.
— (Grabmeister) 165.
— (v. Laak) 158.
Osteom der Wirbelsäule (Hermes)
179.
Osteomyelitis d. Wirbelsäule (Tubby)
180.
— und Trauma (Pfennigsdorp 666.
Osteopathie, im Kindesalter (Spieler)
157.
Osteoperiostitis luetica (Spieler) 663.
Ostitis fibrosa (Gaugele) 663.
-(Lissauer) 664.
P.
Patellarfrakturen, Behandlung (Oehl-
ecker) 195.
Patellarluxation, angeborene (Ewald)
684.
— Behandlg. (v. Rüdiger-Rydigier)
19 7.
Paraplegie, spondylitische, Heilung
(Schilling) 181.
Plattfuß (Muskat) 204,
— Diagnose (Schümann) 688.
— Wesen und Behandlung (Helbing)
687.
Poliomyelitis anter. (Beintker) 673.
Polydaktylie und Gehirnmißbildungen
(V eit) 168.
Pseudarthrosen (Voigtländer) 666,
— Behandlung (Gelinsky) 665.
-(Jottkowitz) 665.
-(Micka) 665.
Pseudohypertrophia musc. u. Myxödem
(Schlesinger) 673.
q.
Querschnittsläsionen d. Rückenmarkes
(Gundermann) 168.
Et.
Rhachiti8 (Reimers u. Boye) 163.
— Knochenveränderungen bei (Mo
lina-Caatilla) 662.
— Stellungs- u. Haltungsanomalie bei
(Brandenburg) 114*.
Rheumatismus, akuter tuberkulöser
(Laub) 163.
— nodosus (Horn) 668.
Röntgenographie, Kompendium (Des¬
sauer u. Wiesner) 152.
S.
Sauerstoffeinblasung, Apparat zur
(Wollenberg) 675.
Schenkelhalsbruch, Behandlg. (Ewald)
681.
— im jugendl. Alter (Hesse) 191.
Schiebeapparat, orthopäd. (M a y e r)
100 *.
Schuhwerk (v. Lesser) 205.
Schule und Korsett (Lange) 657.
Schulterblatt, angeborener Hochstand
(Zesas) 1*.
Schultergelenk, Resektion (Catterina)
690.
Schultergelenksentzündung, tuberku¬
löse (Braun) 690.
Schultergelenks Verrenkung (W i 1 ms)
182.
— syringomyelitische (Zesas) 689.
Sehnenplastik (Micke) 176.
Sehnen transplantationen (Mahlke) 660.
— Indikation (Lorenz) 160.
Simulation bei Chirurg. Erkrankungen
(Haudek) 656.
Sklerodermie, diffuse (Neubert) 669.
Skoliose, Behandlung (Kuh) 677.
-(Vulpius) 677.
— ischiadische (Lorenz) 179.
— kongenitale (Perrone) 353*.
— Mobilisierung (Klapp) 178.
-(Nieny) 677.
— Messung (Kopits) 89*.
— Ursache (Feiß) 677.
— traumatische, nach Blitzschlag
(Chlumsky) 294*.
— Stützkorsett zur Maskierung bei
(Kopits) 390*.
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Sachregister.
703
Spina bifida (Walterhöfer) 182.
-occulta (Philippson) 181.
Spondylitis, Behandlung (Helbing)
679.
Spontanamputationen (v. Hovorka)
40*.
Spontanfraktur d. Oberschenkels (Käst)
061.
Sprunggelenkstuberkulose (H o fm a n n)
201 .
Stangenlager (Hahn) 675.
Subluxation der Hand (Schulze) 186.
Syringomyelie nach Trauma (Kersten)
159.
— (Un verricht) 162.
T.
Tabes dorsalis, Gelenkaffektionen (Hen-
derson) 158.
Talocruralgelenk, Luxation (Richter)
204.
Taschenbuch f. Chirurgen u. Ortho¬
päden (Jankau) 655.
Thoraxdefekte, angeborene (Silber¬
stein) 24*.
Tibiadefekt, angeborener (K ac h 1 e r)
686 .
Torticollis ocularis (van d. Brugh) 177.
Trommelschlegelfinger (Groedel) 694.
Tuberculum majus humeri, Frakturen
des (Hoffmann) 690.
Tuberkulose d. Ellbogengelenks (Lüb-
ber9) 184.
— Einfluß d. Seeklimas auf Aushei¬
lung (Haudek) 156.
Tuberositas tibiae, Abknickung (v. Les¬
se r) 199.
ü.
Unterschenkelbröche (Sonntag) 201.
Unterschenkelverbiegung nach Fraktur
(Lissauer) 206.
Unfall- u. Invalidenversicherungskunde
(Sudeck) 655.
—-(W i n d 8 c h e i d) 655.
T.
Verdichtungen d. Substantia spongiosa
(Stieda) 154.
Vibrationsmassage, Apparat (A s s i n-
ger) 160.
Vorfall der Baucheingeweide (Hoeft¬
mann) 658.
W.
Wasserkraft, Anwendung der strömen¬
den (Machol) 674.
Wirbelentzündung, ankylosierende
(Krau8e) 678.
-(Deschmann) 677.
-(Ehrhardt) 180.
-(Lagiewski) 180.
Wirbelerkrankung, tuberkulöse (Fa-
compre) 181.
Wirbelsarkom, primäres (Reiß) 162.
Z.
Zerrungsschmerz am Epicondyl. ext.
humeri (Schwellenbach) 183.
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XV. Bd.
45
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