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ÜNIVERSITY OF CALIFORNIA
SAN FR.\NCISCO MEDICAL CENTER
LIBRARY
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^ZEITSCHRIFT
FÜR
ORTHOPÄDISCHE CHIRURGIE
EINSCHLIESSLICH DER
HEILGYMNASTIK UND MASSAGE.^
UNTER MITWIRKUNG
r
VON
Prof. J. WOLFP in Berlin, Dr. BEELY in Berlin, Prof. Dr. LORENZ in Wien,
Privatdocent Dr. W. SCHXJLTHESS in Zürich und Dr. NEBEL in Frankfurt a.M.
HERAUSGEGEBEN
VON
DR. ALBERT HOFFA,
PRIVATDOCENTEN DER CHIRURGIE AN DER UNIVERSITÄT WÜRZBURG.
11. BAND.
MIT 120 IM DEN TEXT GEDRUCKTEN ABBILDUNGEN.
STUTTGART. ■ ■ '• .'' , . . .
VERLAG VON FERDINAND ENKE.
1893.
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Dnick der Union Deutsche Verlagsgesellschaft in Stuttgart.
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Inhalt
Seite
1. Mittheilung aus der chirurgisch-orthopädischen Privatklinik des Privat-
docenten Dr. Hoffa zu Würzburg. Zur Frage der Schräg- oder
Steilschrift. Von Georg Burckhard. 1
II. Ueber einen Fall von ^willkürlicher'* angeborener präfemoraler Knie¬
gelenksluxation nebst anderweitigen angeborenen Anomalieen fast
sämmtlicher Gelenke des Körpers. Von Prof. Dr. Julius Wolff in
Berlin. Mit 3 in den Text gedruckten Abbildungen.23
III. Skoliosis capitis — Caput obliquum. Von F. Beely-Berlin. Mit
einer in den Text gedruckten Abbildung.39
IV. Mittheilungen aus dein orthopädischen Institute von Dr. A. Lüning
und Dr. W. Schulthess, Privatdocenten in Zürich.
V. Ueber eine bisher nicht beobachtete Form von partiellem Radius-
defect. Von Oskar Schmid, prakt. Arzt. Mit 9 in den Text
gedruckten Abbildungen.59
V. Eine einfache Methode, die laterale Deviation und die anteroposteriore
Krümmung der Dornfortsatzlinie zu messen. Aus der Anstalt für
mechanische Chirurgie von Dr. F. Beely in Berlin. Von Dr. E. Kirch¬
hof f. Mit 8 in den Text gedruckten Abbildungen.95
VI. Ueber Entstehung und Behandlung der seitlichen Rückgratsverkrüm¬
mung. Von Dr. Hermann Wolfermann, Strassburg i. E. Mit
13 in den Text gedruckten Abbildungen.103
VII. Mittheilungen aus dem orthopädischen Institute von Dr. A. Lüning
und Dr. W. Schulthess, Privatdocenten in Zürich.
IV. Aerztlicher Bericht über den Zeitraum von der Gründung des
Instituts im September 1883 bis Ende des Jahres 1890. Er¬
stattet von den Anstaltsärzten. Mit 4 in den Text gedruckten
Abbildungen.120
VIII. Photographische Messung der Skoliose. Kurze Mittheilung von
Dr. Rud. Oehler, Frankfurt a. M. Mit 3 Abbildungen im Text 1()9
IX. Die Ursachen der orthopädischen Knochenmissbildung. Von Prof.
Dr. J. A. Korteweg-Amsterdam.174
X. Bemerkungen zu der vorstehenden Korteweg'schen Arbeit über „Die
Ui-sachen der orthopädi.schen Knochenmissbildung“. Von Prof. Dr.
Julius Wolff in Berlin. 180
Referate. Mit einer in den Text gedruckten Abbildung.183
Hermann v. Meyer f. Von Egbert Braatz.203
XI. Ueber die Behandlung von Contracturen des Ellenbogengelenks mit
dem „Pendelapparate“. Von Dr. med. August Westhoff, Special¬
arzt für Chirurgie in Münster i. Westf., ehemaliger erster Assistenz¬
arzt der chirurgischen Universitätsklinik in Greifswald. Mit 3 in
den Text gedruckten Abbildungen.206
XII. Das Gewicht des Körpers in seiner Beziehung zur Pathologie und
Therapie des Klumpfusses. Von A. B. Judson, M. D., Orthopaedic
Surgeon to the Out-Pationt Department of the New York Hospital.
Mit 20 in den Text gedruckten Abbildungen.219
Digitiz'*.i,b^ ’.O'iJgle
IV
Inhalt.
Seite
XIII. Mittheilungen aus dem orthopädischen Institute von Dr. A. Lüning
und Dr. W. Schulthess, Privatdocenten in Zürich.
VI. Einige Bemerkungen über Messungs verfahren und Messapparate
für Skoliose. Von Dr. Wilh. Schulthess.229
XIV. lieber eine Modification in der Anwendung der BarweH’schen
Schlinge. Von Dr. F. Jessen in Hamburg. Mit 2 in den Text
gedruckten Abbildungen.235
XV. Ein Fall von mangelhafter Entwickelung des grossen Brustmuskels
bei einem 11jährigen Knaben. Von Dr. N. Haymann, Privat-
docent, Director der orthopädischen und heilgymnastischen Anstalt
zu Moskau. Mit einer in den Text gedruckten Abbildung . . . 238
XVI. Die Zander’sche Behandlung der Skoliosen. Von Dr. F. Bähr,
Karlsruhe.246
XVII. Erwiderung der WolfiTschen Bemerkungen zu meiner Arbeit über ^
,die Ursachen der orthopädischen !^ochenmissbildung“. Von
Prof. Dr. J. A. Körte weg in Amsterdam. Mit 4 in den Text
gedruckten Abbildungen.251
XVIII. Entgegnung. Von J. Wolff.260
XIX. Aus der Königl. Universitätspoliklinik für orthopädische Chirurgie
zu Berlin.
Ueber angeborene seitliche Deviationen der Fingerphalangen.
Von Dr. G. Joachirasthal, Assistenzarzt der Poliklinik. Mit
2 in den Text gedruckten Abbildungen.265
Referate. Mit 4 in den Text gedruckten Abbildungen.272
XX. Mittheilungen über die Zander sehe Mechanotherapie. Eingeleitet
von Dr. HermannNebel .335
Ueber die Behandlung der habituellen Skoliose mittelst mecha¬
nischer Gymnastik. Von Dr. Gustav Zander-Stockholm. Mit
20 in den Text gedruckten Abbildungen.338
XXI. Zur Klumpfussbehandlung. (Vorgetragen auf der VI. Jahresver¬
sammlung der amerikanisch-orthopädischen Association New York.
September 1892.) Von Sigfred Levy-Kopenhagen. Mit 2 in
den Text gedruckten Abbildungen.370
XXII. Mittheilungen aus der chirurgisch-orthopädischen Privatklinik des
Privatdocenten Dr. H o f f a zu Würzburg.
I. Die Lnxatio caj)ituli radii congenita (angeborene Verrenkung
des Radiusköpfchens). Von Dr. Theod. Bonnenberg,
Volontär assi.^tent der Klinik. Mit 2 in den Text gedruckten
Abbildungen.376
II. Ein einfacher Apparat zur Mobilisirung des Schultergelenkes.
Von Dr. Albert Hoffa, Privatdocent für Chirurgie. Mit
2 in den Text gedruckten Abbildungen.410
III. Zur orthopädischen Behandlung des Pes calcaneus paralyticus.
Von Dr. Albert Hoffa, Privatdocent der Chirurgie. Mit
4 in den Text gedruckten Abbildungen.415
XXIII. Hes.sing’s Hülsen-Schienenverband. Von Dr. W. Kuby, Medicinal-
rath und Generalarzt.419
XXIV. Ein Ruderapparat für Skoliotische. Von F. Beely, Berlin. Mit
6 in den Text gedruckten Abbildungen.428
XXV. Aus der Königl. Universitätspoliklinik für oidhopädische Chirurgie
zu Berlin.
Ueber congenitale Fingeranomalien. Von Dr. G. Joachims¬
thal, Assistenzarzt der Poliklinik. Mit 4 in den Text gedruckten
Abbildungen.441
Referate. Mit 2 in den Text gedruckten Abbildungen.448
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1 .
Mittheilimg ans der cMmrgiscli-ortliopädisclien
Privatklinik des Privatdocenten Dr. Hoffa zn
Wnrzbnrg.
Zur Frage der Schräg- oder Steilschrift.
Von
Georg Burckhard.
In der letzten Zeit ist die Frage, ob Schrägschrift oder Steil-
schrift für die Entwickelung resp. Haltung der Schulkinder günstiger
sei, vom ophthalmologischen wie auch vom orthopädischen Standpunkt
aus Gegenstand zahlreicher Abhandlungen gewesen.
Alle einschlägigen Fragen können nur durch Messungen
entschieden werden, die an d en Kin dern mittelst absolut
zuverlässiger Apparate angestellt werden.
Solcher Apparate besitzen wir zur Zeit nicht viele. Dr. Schuit¬
hess in Zürich vermag den Anforderungen mit seinem Skoliographen
zu entsprechen, auch Dr. Schubert in Nürnberg scheint eine zu¬
verlässige Methode gefunden zu haben.
Den besten und relativ einfachsten Apparat zur Messung der
Schreibhaltung an Schulkindern hat Dr. Schenk in Bern angegeben.
Er beschreibt ihn in seiner Schrift: „Zur Aetiologie der Skoliose“
(Berlin, Heinecke, 1885) folgendermassen:
„Ein Untersuchungstisch, der in allen Dimensionen verstellbar
ist, wird in die nämlichen Grössenverhältnisse gebracht, wie die
Schulbank, an der der betreffende Schüler zu sitzen pflegt, dann
wird der Oberkörper des Schülers entkleidet und die überall leicht
Zeitschrift für orthopiidiscbe Chirurgie. II. Band. J
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2
Georg Burckhard.
fühlbaren Endpunkte von Kopf-, Schulter- und Beckenlinie (siehe
später, S. 3) durch kleine, über entsprechende Fixationsbänder ver¬
schiebbare Ringe bezeichnet. So vorbereitet setzt er sich an den
Untersuchungstisch zum Schreiben.
„Das Schreibheft hat als Unterlage einen grossen Bogen Papier,
der vorn um die Tischkante herumgefalzt noch ca. 30 cm weit
zwischen Tischplatte und ein darunter liegendes Klappstück ge¬
schoben wird.
„Auf diese Unterlage legt der Schüler sein Papier, wie er es
gewohnt ist, und schreibt eine Zeile von Anfang bis zu Ende, dann
bleibt er ruhig in der eingenommenen Haltung. Jetzt wird ein Zirkel^
der so construirt ist, dass er, ob geöfihet oder geschlossen, immer
die gleiche Länge von 50 cm beibehält, mit seinen vorn an beiden
Schenkeln angebrachten Schnäbeln in die Kopfringe eingehängt, dann
hinten am Stiel gehoben und nun ein Stativ so untergeschoben und
der daran befindliche Schieber mit Transporteur so eingestellt, dass
das hintere Ende des Zirkelstieles gerade in die beiden Hohlrinnen
des Schiebers zu liegen kommt.
„Auf diese Weise wird ein Rechteck gebildet, dessen Länge
gleich ist der Länge des Zirkels, also 50 cm, und dessen Höhe an
der Scala des Stativs abgelesen werden kann. Dabei zeigt ein am
Ende des Zirkelstieles quer angebrachter Zeiger am Transporteur
den Winkel, den die Kopflinie mit der Schreibfläche bildet. Will
man nun die Horizontalprojection der Kopflinie auf die Unterlage
zeichnen, so braucht man nur den Zirkel wegzunehmen, das Stativ,
dessen ganze Höhe gleich ist der Zirkellänge, herunterzuklappen; so
hat man, indem man einem angebrachten Querlineal nachzeichnet,
den gewünschten Grundriss, dessen Mitte durch den Nullpunkt des
Querlineals markirt ist, zu Papier gebracht.
„In genau gleicher Weise wird auch Schulter und Beckenlinie
auf die Unterlage projicirt; die Beckenlinie nur mit dem Unter¬
schied, dass dabei das Stativ hinter dem Körper aufgestellt wird.
„So lang der Schüler am Untersuchungstisch sitzt, kann natür¬
lich das Stativ nicht heruntergelegt werden; es wird deshalb jeweilen
nur dessen Standort auf der Unterlage markirt und die Horizontal¬
projection durch Umklappen des Stativs erst dann gezeichnet, wenn
der Schüler den Tisch verlassen hat.
„Da die Projection der Beckenlinie immer und die der Schulter¬
linie öfters hinter die Tischkante fällt, so muss zur Verlängerung
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Zur Frage der Schräg- oder Steilschrift.
3
der Zeichnungsfläche nach dieser Richtung hin das erwähnte Klapp¬
stück aufgeschlagen und das dazwischen geschobene Stück der Unter¬
lage herrorgezogen und darauf gelegt werden.*^
Mittelst dieses Apparates kann man also bei den schreibenden
Kindern folgende drei Linien genau feststellen:
1. die Kopflinie, d. h. die Verbindungslinie beider Augen,
2. die Schulterlinie, d. h. die Verbindungslinie der Acromial-
enden der Claviculae,
3. die Beckenlinie, d. h. die Verbindungslinie beider Spinae
anteriores superiores ossis ilii.
Diese drei Linien werden am Anfang und am Ende der Zeile
aufgezeichnet. Aus einer solchen Zeichnung kann man, wie Schenk
angibt, ersehen:
1. ob das Kind parallel zur Tischkante sitzt oder nicht,
2. ob es den Oberkörper gegenüber dem Becken nach links
oder rechts verschiebt oder dreht,
3. ob es den Kopf gegenüber dem Becken verschiebt oder
dreht,
4. die Grösse des Winkels zwischen rechtem, schreibendem
Vorderarm und Beckenlinie,
5. Drehung und Verschiebung des Schreibheftes gegenüber der
Beckenlinie, und endlich
6. den Winkel zwischen den Grundstrichen der Schrift und der
Schriftzeile.
Mit diesem Apparat hat Schenk neuerdings wieder Messungen
an 156 Schulkindern gemacht und die dabei erhaltenen Resultate in
der „Festschrift zu Ehren des Professor Kocher in Bern“ (Wies¬
baden, Bergmann, 1891) publicirt.
Herr Dr. Hoffa hat mich veranlasst, zum Zweck der Con-
trolle der Schenk’schen Untersuchungen die entsprechenden Mes¬
sungen an Würzburger Schulkindern vorzunehmen und mir zu
diesem Behuf den Schenk’schen Apparat gütigst zur Verfügung
gestellt.
Unter seiner Assistenz habe ich mit zuvorkommend ertheilter
Erlaubniss des Stadtmagistrats und der betreftenden Schulvorstände
in fünf Schulen Messungen an Kindern im Alter von 12—14 Jahren
vorgenoramen: 185 von diesen schrieben Schrägschrift, 60 Steil-
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Georg Burckhard.
Schrift (letztere in einer der Würzburger Volksschulen von Herrn
Lehrer Ruck er t eingeführt).
Die von den betreffenden Kindern benutzten Schulbänke waren
älteren Systems, grösstentheils noch mit Plusdistanz und Kreuz¬
lendenlehne.
Die bei meiner Untersuchung gewonnenen Resultate sind
folgende:
L Schrägschrift
Die nachstehende Tabelle enthält zunächst die Zahlen, die sich
direct bei der Messung ergaben, sodann die, welche ich bei der
späteren Berechnung erhielt; dabei bedeutet das Zeichen Minus
eine Drehung oder Verschiebung rechts, das Zeichen Plus eine Dre¬
hung oder Verschiebung nach links.
Die einzelnen Rubriken dieser Tabelle enthalten Folgendes:
Erste Rubrik: Augenlinie, und zwar in der ersten Spalte
die Höhe der Augenlinie über der Schreibfläche in Centimetern aus¬
gedrückt (H), in der zweiten Spalte den Winkel zwischen Augen¬
linie und Schreibfläche (cj) und in der dritten den Winkel zwischen
der Augenlinie und der Horizontalen, also die Neigung des Kopfes (N);
die drei ersten Spalten beziehen sich auf den Anfang, die dann fol¬
genden drei auf das Ende der Zeile.
Zweite Rubrik: Schulterlinie. Die sechs Spalten dieser Rubrik
geben das gleiche für die Schulter an, was oben in der Rubrik
Augenlinie für die Augen angegeben wurde, ebenso wie die
Dritte Rubrik: Beckenlinie, für das Becken am Ende der Zeile.
Vierte Rubrik: Verschiebung des Schreibheftes, ausgedrückt
in der Grösse des Winkels, den eine Verbindungslinie zwischen Mitte
der Beckenlinie und Mitte der Schriftzeile mit der auf die Becken¬
linie gezogenen Senkrechten bildet.
Fünfte Rubrik: Drehung des Heftes, d. h. die Grösse des
Winkels zwischen Schriftzeile und Beckenlinie.
Sechste Rubrik: Verschiebung des Oberkörpers, d. h. die
Grösse des Winkels, den die Verbindungslinie zwischen den Mittel¬
punkten von Schulter- und Beckenlinie mit der auf letztere ge¬
zogenen Senkrechten bildet.
Siebente Rubrik: Drehung des Oberkörpers, d. h. die Grösse
des Winkels zwischen Schulter- und Beckenlinie.
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Zur Frage der Schräg- oder Steilschrift.
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Achte Rubrik: Beckendrehung; d. h. Winkel zwischen Becken¬
linie und Tischkante.
Neunte Rubrik: Winkel zwischen dem rechten Vorderarm und
der Beckenlinie.
Zehnte Rubrik: Winkel zwischen den Grundstrichen der Buch¬
staben und der Zeile.
Die Zahlen, die in Rubrik 4—10 stehen, beziehen sich alle auf
die Verhältnisse am Ende der Zeile.
Bemerkt muss werden, dass bei Nr. 1—54 der Winkel zwischen
Augen- resp. Schulter- und Beckenlinie und der Horizontalen (N)
nicht gemessen wurde, weshalb die betreflFenden Spalten frei blieben.
Die einzelnen Messungen sind nach der Verschiebung des Schreib¬
heftes (Rubrik 4) angeordnet und zwar so, dass die stärkste Rechts¬
verschiebung (— 33 den Anfang macht, während die Tabelle mit
der grössten Linksverschiebung (-f- 12 endet.
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Georg Burckhard.
Tabelle 1.
Augenlinie
Schulterlinie
Nr.
Anfang
Ende
Anfang
j Ende
H
<
N
H
<
N
H
<
N
m
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Zur Frage der Schräg- oder Steilschrift.
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Tabelle 1.
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Georg Burckhard.
Zur Frage der Schräg- oder Steilschrift.
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Beckenlinie
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SAN FRANCISCO MEDICAL CENTER
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8
Georg Burckhard.
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Schulterlinie
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79 30
83 35.5
95 28,5
97 32
118 37
178 38,5
8 39
16 36,5
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49 42
75 39
102 34
133 37.5
172 43
24 31
28 26,5
63 45,5
77 25,5
82 24
89 37
123 28.5
2 31
73 18
135 26
140 36
159 35,5
17 34
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41 34
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137 30.5
173 40
174 41,5
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14" - 2"
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12 " —
13" +10"
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14" —
13" +23"
13" +24"
14" + 2"
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14" —
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13" + 5"
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13" +27"
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14" -
28 27"
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25.5 27"
30 31"
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0" 27
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+ 2 " 30 32
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Zur Frage der Schräg- oder Steilschrift.
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Verschiebung
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+ 150
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—1.30
+ 160
600
510
-3,5
250
—
- 80
+ 380
— 40
+ 2«
430
58«
-3
220
—
— 80
+ 150
+ 50
— 60
— 120
550
570
-6
20«
—
— 80
+ 280
+ 250
- 20
+ 30
570
590
-4
240
- 50
— 80
+ .50
+ 19«
-150
- 40
750
440
-5
240
00
— 80
+ 11«
— 90
- 130
450
60«
-2
26«
— 70
— 80
+ 7«
+ 8«
-130
+ 2«
540
69"
-4
270
— 30
— 80
+ 280
+ 250
-12«
0«
65«
53"
— 5
22«
~ 20
— 80
+11«
+ 40
— 28«
+ 70
440
66«
-7
240
- 50
— 80
+100
+ 340
— 120
— 80
570
50«
— 3
250
+ 20
— 80
+ 150
+ 30«
+ 11«
690
56»
— 0,5
30«
- 40
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+ 70
— 22«
- 60
00
65«
55«
— 4
21«
- 20
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+ 150
- 110
— 10«
610
550
-2,5
250
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+ 200
+ 50
— 60
- 6«
66«
580
— 2
230
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+ 120
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- 50
410
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— 5
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-65«
— 100
+ 70
460
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2.30
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+ 170
— 170
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46«
70«
-1,5
260
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— 70
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+ 40
— 40
— 2«
540
530
-2
240
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+ 300
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- 1«
46«
440
-5,5
16«
—
— 60
+ 16«
— 24«
— 16"
- 40
450
570
-2
21«
— 70
— 60
+ 40
+ 8«
— 90
+ 2«
740
59»
-2
21«
— 60
+ 340
+ 16«
— 70
— 50
590
51»
-4
220
— 60
+ 340
+ 50
-10«
370
55»
-5
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+ 18«
+ 8«
- 50
61«
60»
— 5
230
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+ 90
— 10«
680
69«
-3
250
—
— 50
+ 270
+ 470
— 20
590
60«
2.50
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+ 31«
— 120
— 90
670
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0
- 20
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+ 200
- 110
—110
48«
770
— 2
230
00
— 50
+ 6«
+ 300
—240
— 20
880
63»
-2
230
— 50
— 50
+ 12«
+200
—140
77«
450
250
— 70
— 50
+170
-150
- 50
590
61«
240
—130
- 50
+ 40
+ 40
-150
56«
570
Digitized by i^ooQle
12
Georg Burckhard.
Nr.
Augenlinie
Schulterlinie
Anfang
Ende
Ende
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H
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N
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25,5
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+ 7"
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30
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25
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—
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_
25
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19
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—
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-
—
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+ 5"
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27
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132
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+ 5"
39
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30,5
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142
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14"
+ 13"
41.5
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82
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32
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149
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+ 7"
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45
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177
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Zur Frage der Schräg- oder Steüschrift.
13
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25«
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+ 30«
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14
Georg Burckhard.
Kurz zusammengefasst ist der Inhalt der Tabelle 1 folgender:
Vierte Rubrik — Verschiebung des Heftes:
nach rechts (—).168 Fälle = 90,8^-«
nach links (-f-).16 „ = 8,6^
Mittellage. 1 * =0,6 o
Grenzen der Verschiebung:
nach rechts (—).
33»
nach links (-[-).
12 ^
mithin grösste Differenz ....
46»
Fünfte Rubrik — Drehung des Heftes:
nach rechts.
19 Fälle = 10,2 »;o
nach links . . ‘.
162 , = 87,7 »0
keine Drehung.
4 , = 2,1 >
Grenzen der Drehung:
nach rechts.
12»
nach links.
52»
mithin grösste Differenz ....
64»
Sechste Rubrik — Verschiebung des Oberkörpers:
nach rechts.
66 Fälle = 35,6 V
nach links.
117 , = 63,3 »;o
keine Verschiebung.
2 , = 1,1 »/o
Grenzen der Verschiebung:
nach rechts.
83»
nach links.
76»
mithin grösste Differenz ....
159»
Siebente Rubrik — Drehung des Oberkörp
ers:
nach rechts.
154 Fälle = 83,2 »0
nach links.
27 , = 14,6 >
keine Drehung.
4 , = 2,2 »;o
Grenzen der Drehung:
nach rechts.
36 »
nach links.
15»
mithin grösste Differenz ....
51»
Achte Rubrik — Drehung des Beckens:
nach rechts.
75 Fälle = 40,6 »0
nach links.
102 , = 55,2 »0
keine Drehung.
8 , = 4,2 »,>
Digitized by <^ooQle
Zur Frage der Schräg- oder Steilschrifb.
15
Grenzen der Drehung:
nach rechts.16 ®
nach links.25 ®
mithin grösste Differenz .... 41®
Neunte Rubrik — Vorderarmbeckenliniewinkel:
kleinster Winkel.30 ®
grösster Winkel.93 ®
mithin grösste Differenz .... 63®
Zehnte Rubrik — Grundstrichzeilenwinkel:
kleinster Winkel.40 ®
grösster Winkel.83 ®
mithin grösste Differenz .... 43®
Die grössten Unterschiede der in den einzelnen Rubriken an¬
gegebenen Winkel sind also folgende:
bei der Heftverschiebung ... 45 ®
Heftdrehung .... 64 ®
Oberkörperverschiebung 159 ®
Oberkörperdrehung . . 51 ®
Beckendrehung ... 41 ®
Vorderarmbeckenwinkel . 63 ®
Grundstrichzeilenwinkel . 43 ®
Schenk hat nun, da sich zwischen den einzelnen Rubriken
ein deutlicher Zusammenhang erkennen lässt, die Zahl der gemessenen
Schüler in drei gleich grosse Gruppen getheilt und dann die Durch-
schnittszifiFern der einzelnen Gruppen und Rubriken mit einander
verghchen, um den Zusammenhang zwischen den einzelnen Rubriken
noch deutlicher zu machen.
Ich bin auch hierin seinem Vorgang gefolgt. Die bei dieser
Zusammenstellung erhaltenen Resultate sind in Tab. 2 niedergelegt.
Tabelle 2.
Gruppe
Verschie¬
bung des
Heftes
Drehuni^
des Heftes
Verschie¬
bung des
Oberkörpers
Drehung
des Ober- |
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Drehung
des
Beckens
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Becken-
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1 links.
19,7®
links.
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rechts.
3,5«
rechts.
39,6®
5.5,8®
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16
Georg Burckhard.
Das Resultat dieser Tabelle ist folgendes:
1. Je weniger das Heft nach rechts verschoben ist,
desto mehr wird es nach links gedreht.
2. Je weniger das Heft nach rechts verschoben ist,
desto weniger wird der Oberkörper nach rechts ge¬
dreht.
3. Je weniger das Heft nach rechts verschoben ist,
desto kleiner wird der Ellenbogenbeckenwinkel.
4. Je weniger das Heft nach rechts verschoben ist,
desto mehr wird das Becken, das anfangs nach
links gedreht war, nach rechts gedreht.
5. Je weniger das Heft nach rechts verschoben ist,
desto mehr wird der Oberkörper nach links ver¬
schoben.
Ferner ist aus dieser Tabelle bezüglich der Drehung des Heftes
zu ersehen:
1. Je mehr das Heft nach links gedreht ist, desto
mehr wird auch der Oberkörper nach links ver¬
schoben.
2. Je mehr das Heft nach links gedreht ist, desto
weniger wird der Oberkörper nach rechts ge¬
dreht.
3. Je mehr das Heft nach links gedreht ist, desto
weniger wird das Becken nach links gedreht.
4. Je mehr das Heft nach links gedreht ist, desto
kleiner wird der Ellenbogenbeckenwinkel.
Meine Messungen ergeben also ein von dem Schenk’schen
abweichendes Resultat insofern als nach Schenk die Körperhaltung
bei gerader Rechtslage des Heftes besser ist als bei schräger Mittel¬
lage, während mein Schluss dahin geht: soll Schrägschrift ge¬
schrieben werden, so darf das Heft nicht genau vor der
Mitte des Körpers liegen, sondern muss etwas nach
rechts verschoben sein (etwa 10und es darf nicht
genau parallel der Tischkante liegen, sondern nach
links gedreht (etwa 15^), da bei dieser Heftlage die Körper¬
haltung die beste ist.
Auf Messungen fussend, die ähnlich den meinigen ausgeführt
wurden, hat Herr Dr. Schubert die von ihm untersuchten Fälle
nach ihrer Gesammthaltung rubricirt; er bezeichnet die Kinder
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Zur Frage der Schräg- oder Steilschrift.
17
mit horizontaler und mit ganz gering geneigter Augen- und Schulter¬
linie (bis zu ± ^ als solche mit guter und fast guter Haltung,
während er alles, was ±6^ und darüber geneigt ist, schlechte Hal¬
tung nennt.
Eine gleiche Zusammenstellung aus meinen Messungen (131 Fälle)
ergibt die Tabelle 3.
Tabelle 3.
Fälle
von 131
%
1. Augen- und Schulterlinie horizontal.
19
14,5
2. Augenlinie horizontal, Schulterlinie 5*^ geneigt.
4
3,0
3. Schulterlinie horizontal, Augenlinie 5® geneigt.
7
5,4
4. Augen- und Schulterlinie 5® geneigt.
5
3,8
Gute und fast gute Haltung.
35
26,2
Folglich schlechte Haltung.
96
00
Also sassen von den Schrägschrift schreibenden
Kindern nur 26,2 gut, während 73,8ungenügende,
d. h. schlechte Haltung hatten.
II. Steilschrift.
Für die Messungen an den Kindern, die Steilsclirift schrieben,
und für die aus den Resultaten dieser Messungen zusammengestellten
Tabellen gilt das Gleiche, was bei der Schrägschrift gesagt wurde.
AuffaUend ist bei diesen Messungen die relativ bedeutende
Grösse des Winkels, der die Verschiebung des Oberkörpers angibt.
Dies ist dadurch bedingt, dass die Kinder mit aufrechter Körper¬
haltung sehr nahe am Tisch sassen, so dass die Projection der Schulter¬
linie nicht zwischen Tischkante und Beckenlinie zu liegen kam (cf.
Schenk, A^tiologie der Skoliose, p. 6), sondern noch über die
Beckenlinie hinausfiel.
Die Kinder schrieben alle in der Weise, dass der Theil des Heftes,
der gerade beschrieben wurde, genau vor der Mitte der Brust lag, was
zur Folge hatte, dass das Heft ungefähr nach jedem dritten Wort
verschoben wurde.
Auch bei Tabelle 4 sind die Fälle nach der Verschiebung des
Schreibheftes (Rubrik 4) angeordnet, und zwar beginnt sie wieder
mit der stärksten Rechtsverschiebung.
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. II. Band. 2
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Tabelle
18
Georg Burckhard
Zur Frage der Schräg- oder SteiLschrift. 19
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20
Georg Burckhard.
Der Inhalt der Tabelle 5 ist kurz folgender:
Vierte Rubrik — Verschiebung des Heftes:
nach rechts.20 Fälle = 33,3 V
nach links.33 „ = 55,0 o
Mittellage. 7 „ = ll,7^o
Grenzen der Verschiebung:
nach rechts.14 ^
nach links.18
mithin grösste Differenz .... 32®
Fünfte Rubrik — Drehung des Heftes:
nach rechts.28 Fälle = 46,7 ® o
nach links.28 „ = 46,7 ® o
keine Drehung. 4 „ = 6,6 ® o
Grenzen der Drehung:
nach rechts.10 ®
nach links. 8 ®
mithin grösste Differenz .... 18®
Sechste Rubrik — Verschiebung des Oberkörpers:
nach rechts. 7 Fälle = 11,7® !
nach links.49 „ = 81,7 ®;o
keine Verschiebung. 4 „ = 6,6 ®;o
Grenzen der Verschiebung:
nach rechts.83®
nach links.90 ®
mithin grösste Differenz .... 173®
Siebente Rubrik — Drehung des Oberkörpers:
nach rechts.41 Fälle = 68,4 ®o
nach links.15 „ = 25,0
keine Drehung. 4 „ = 6,6®'^
Grenzen der Drehung:
nach rechts.20 ®
nach links.14 ®
mithin grösste Differenz .... 34®
Achte Rubrik — Beckendrehung:
nach rechts.14 Fälle = 23,4 ®o
nach links.40 „ = 66,6 ®
keine Drehung. 6 „ = 10,0 ®
Digitized by CjOOQle
Zur Frage der Schräg- oder Steilschrift.
21
Grenzen der Drehung:
nach rechts. 7 ^
nach links.11 ^
mithin grösste Differenz .... 18
Neunte Rubrik — Vorderarmbeckenwinkel:
kleinster Winkel.45 ®
grösster Winkel.76 ®
mithin grösste Differenz .... 31®
Zehnte Rubrik — Grundstrichzeilen winkel:
kleinster Winkel.84 ®
grösster Winkel.93 ®
mithin grösste Differenz .... 9®
Die grössten Differenzen der Winkel in den einzelnen Rubriken
sind also folgende:
bei der Heftverschiebung ... 32 ®
Heftdrehung . . . . 18 ®
Oberkörperverschiebung 173 ®
Oberkörperdrehung . . 34 ®
Beckendrehung . . . 18 ®
Vorderarmbeckenwinkel . 31 ®
Grundstrichzeilenwinkel . 9 ®
Theilt man nun, wie dies in Tabelle 2 für die Schrägschrift
geschehen, auch die Fälle von Steilschrift in drei Gruppen und ver¬
gleicht deren Durchschnittswerthe, so ergibt sich Tabelle 5.
Tabelle 5.
22
Georg Burckhard. Zur Frage der Schräg- oder Steilschrift.
Aus dieser Tabelle lassen sich folgende Schlüsse ziehen:
1. Je mehr das Heft nach links verschoben ist, desto
weniger wird es nach rechts gedreht.
2. Je mehr das Heft nach links verschoben ist, desto
mehr wird der Oberkörper nach links verschoben.
3. Je mehr das Heft nach links verschoben ist, desto
weniger wird der Oberkörper nach rechts gedreht.
4. Je mehr das Heft nach links verschoben ist, desto
weniger wird das Becken nach rechts gedreht.
5. Auf Ellenbogenwinkel und Grundstrichzeilenwinkel
hat die Heftlage hier scheinbar keinen Einfluss.
Genau gleich liegen die Verhältnisse, je mehr das
Heft nach links gedreht wird.
Es geht also aus diesen Messungen hervor, dass die beste
Körperhaltung bei Steilschrift dann erreicht ist, wenn
das Heft annähernd vor der Mitte der Brust (1,0und
parallel z^ur Tischkante resp. Beckenlinie liegt.
Bezüglich der Gesammthaltung bei der Steilschrift ergeben sich
folgende Zahlen:
Tabelle 6.
Fälle
von 30
1. Augen- und Scbulterlinie horizontal.
43
71,7
2- Augenlinie horizontal. Schulterlinie 5® geneigt.
3
5.0
3. Schulterlinie horizontal, Augenlinie 5® geneigt.
2
3.3
4. Augen- und Schulterlinie 5® geneigt.
1
1,6
Gute und fast gute Haltung.
49
81,6
Folglich schlechte Haltung.
11
18.4
Demnach hatten von den Steilschrift schreibenden
Kindern 81,0 *^0 gute, 18,4 ^;o schlechte Haltung.
Der Vergleich mit der Haltung der Schrägschrift schreibenden
Kinder (S. 0) lässt klar erkennen, dass die Steilschrift die bei weitem
empfehlenswerthere ist.
Digitized by CjOOQle
II.
lieber einen Fall von „willkürlicher“ angeborener
präfemoraler Kniegelenkslnxation nebst anderwei¬
tigen angeborenen Anomalieen fast sämmtlicher
G-elenke des Körpers.
(Zum Theil vorffetragen auf dem 20. deutschen Cbirurffenconirre.s.s
am 3. Aprü 1891.)
Von
Prof. Dr. Julius Wollf in Berlin.
Mit 3 in den Text gedruckten Abbildungen.
Meine Herren! Bei der O^ejährigen Patientin, die ich die Ehre
habe, Ihnen hier vorzustellen (Frieda S. aus Draheim bei Marien¬
burg), handelte es sich um angeborene, unter einander selir ver¬
schiedenartige Anomalieen fast sämmtlicher Gelenke des Körpers.
Durch das gleichzeitige Vorhandensein dieser verschiedenen zum Theil
schon an sich selbst überaus merkwürdigen und seltenen Anomalieen
bei einem und demselben Individuum steht der Fall, wie die Durch¬
musterung der bezüglichen Literatur ergibt, als ein Unicum da.
Die meisten Gelenke zeigen einen abnorm weiten und nach¬
giebigen Kapsel- und Bandapparat, derart, dass alle Bewegungs-
excursionen in diesen Gelenken grösser sind, als im normalen Zu¬
stande, und dass es möglich ist, sowohl durch Zug Distractionen in
diesen Gelenken, als auch durch passive Bewegungen allerhand
Luxations- und Subluxationsstellungen nach den verschiedensten Rich¬
tungen hin zu bewirken.
In drei Gelenken, den beiden Hüftgelenken und dem linken
Kniegelenke, handelt es sich um fixirte angeborene Luxationen, in
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Julius Wolff.
den beiden oberen Radiusgelenken um bewegliche angeborene Luxa¬
tionen, im rechten Kniegelenke um eine willkürliche Luxation.
Die linksseitige Kniegelenksluxation ist durch die von mir 1887
vorgenommene blutige Reposition beseitigt worden.
Die einzelnen Gelenke sind folgendermassen beschaffen.
Rechtes Kniegelenk.
Hier findet sich der Zustand der „willkürlichen Luxation“
der Tibia nach vorn und oben.
Die kleine Patientin ist im Stande, in jedem Moment activ
eine Luxatio praefemoralis der Tibia zu erzeugen; sie
vermag diese Luxation ebenso in jedem Moment activ wie¬
der zu reponiren.
Passiv kann man mit derselben Leichtigkeit die Luxation so¬
wohl hervorbringen, als auch reponiren.
Alles dies ist ebenso wohl möglich, wenn die Patientin steht,
als auch, wenn sie liegt.
Eine Functionsstörung wird durch diese willkürliche Luxation
nicht bedingt, weil die Luxation beim Stehen und Gehen niemals
spontan eintritt.
Beim ruhigen Liegen tritt zuweilen, wenn die Patientin gar
nicht daran denkt, die Luxation spontan ein. Patientin ist aber im
Stande, wenn sie die Luxation nicht haben will, dies spontane Ein¬
treten durchaus zu verhüten.
Wenn der Unterschenkel luxirt ist, während die Patientin liegt,
so kann man ihn bis nahe zum rechten Winkel (bis ca. 95 dorsal-
wärts flectiren. Auch kann man alsdann seitliche Inflexionen desselben
ausüben, und zwar nach innen bis zu einem Winkel von ca. 110^
nach aussen dagegen nur bis ca. 170®.
Auch bei nicht luxirtem Unterschenkel ist eine Hyperexten¬
sion, aber von viel geringerer Excursion, nur bis ca. 170®, und
eine ebenfalls geringere seitliche Flexion (nach aussen bis ca. 175®,
nach innen bis ca. 165®) möglich.
Beim Auftreten mit nicht luxirtem Gelenk setzt das Kind den
rechten Fuss etwas nach einwärts.
Die anatomischen Verhältnisse der das Gelenk constituirenden
Knochenenden des Femur und der Tibia sind durchaus normal;
ebenso zeigt die Patella ein normales Verhalten.
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Ueber einen Fall von „willkürl.“ angeb. präfem. Kniegelenksluxation etc. 25
Fig. 1 zeigt den Zustand des Knies, wenn Patientin dasselbe
willkürlich luxirt hat, von aussen gesehen; Fig. 2 (S. 26) von vorn
gesehen; Fig. 3 zeigt den Zustand desselben Knies, nachdem die
Patientin die Luxation willkürlich reponirt hat.
Fig. 1.
Linkes Kniegelenk.
Im linken Kniegelenk bestand von der Geburt ab bis zum
Sommer 1887 eine fixirte präfemorale Luxation. Genau also der¬
selbe Zustand, der rechterseits besteht, wenn die Patientin die Luxa¬
tion willkürlich erzeugt hat, dessen Eintreten aber hier durch den
Willen der Patientin verhütet werden kann, bestand an der linken
Seite andauernd und war hier vollkommen irreponibel.
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Julius WolfF.
Die Beine Wciren mithin damals nur dann gleich lang, wenn
das Kind an der rechten Seite die Luxation willkürlich erzeugt hatte.
Für gewöhnlich aber, d. h. wenn die rechtsseitige Luxation reponirt
war, bot das linke Bein eine V erlängerung von 5—6 cm dar.
Es war dadurch eine sehr bedeutende Functionsstörung erzeugt worden.
Da das Kind mit luxirtem rechtem Knie weder gehen wollte, noch
auch gehörig konnte, so war ein einigermassen gleichmässiges Auf¬
treten nur durch Erhöhung der Stiefelsohle der verkürzten linken
Seite um 5 ^2 cm möglich. Die Patientin half sich damals in kümmer¬
licher Weise nur mit Hilfe einer Krücke fort.
Ich stellte im Mai 1887 in der Narkose fest, dass eine unblutige
Reposition ganz unmöglich war, und dass auch
irgend eine langsame orthopädische Behandlung der
linksseitigen Kniegelenksaflfection nicht die geringste
Aussicht auf Erfolg dargeboten hätte. Bei sehr
starkem Zug rückte die Tibia, da die Weichtheile der
Kniegelenksgegend enorm verkürzt waren, und die
hintere Kapsel wand offenbar fest an der Vorder¬
fläche der Femur adhärirte, kaum um 1 cm weiter
nach unten.
Ich entschloss mich deshalb, behufs Beseitigung
der durch die linksseitige Verkürzung bedingten
schweren Gehstörung die Luxation der Tibia auf
operativem Wege zu reponiren.
Nachdem ich (am 17. Mai 1887) durch den
gewöhnlichen nach unten convexen Bogenschnitt das
Gelenk freigelegt und die Gelenkenden des Femur und der Tibia so weit
als nöthig frei präparirt, namentlich auch die Adhärenzen der hinteren
Kapsel wand an der vorderen Fläche des Femur abgetrennt hatte, handelte
es sich zunächst noch darum, das durch den Quadriceps bedingte Re-
positionshinderniss zu beseitigen. Der Quadriceps, in welchem die durch
die Haut hindurch fast gar nicht palpabel gewesene Patella sich als ein
ganz rudimentäres Knöchelchen vorfand, war natürlich um ebensoviel,
als die ganze Extremität verkürzt. Um ihn nicht quer durchschneiden
zu müssen, und doch zugleich seine Verlängerung zu erzielen, schnitt
ich ihn in Abständen von je 1 cm abwechselnd von rechts und von
links her zickzackförmig ein. Nachdem dies geschehen war, gelang
es zwar, mittelst starken Zuges die Tibia unter den Femur herab¬
zubringen : die durch die functionelle Anpassung an die Verhältnisse
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Ueber einen Fall von ^willkürl.“ angeb. präfem. Kniegelenksluxation etc. 27
der Luxation bedingt gewesene Retraction der Haut und der ge-
sammten Weichtheile der Kniegelenksgegend war aber so stark, dass
die Tibia mit den wohl erhaltenen, aber natürlich sehr verlängerten
Ligamenta cruciata immer noch wieder nach oben zurückfederte. Erst
nachdem ich auch noch die Tuberositas tibiae abgemeisselt, und an
einer etwas höheren Stelle mittelst eines Elfenbeinstiftes wieder be¬
festigt hatte, gelang endlich die Retention der Tibia. Mittelst zweier
an den äusseren bezw. inneren Condylen applicirter Silberdrähte be¬
wirkte ich schliesslich noch eine weitere Sicherung des Verbleibens
des Femur und der Tibia in ihrer richtigen Lage.
Ich bemerke noch, dass die Gelenkflächen des Femur und der
Tibia in normaler Weise überknorpelt waren; nur waren die Tibia¬
facetten viel weniger deutlich ausgeprägt, als im normalen Zustande.
In der vierten Woche (am 10. Juni) wurden der Elfenbeinstift
und die Drähte entfernt. Nach 5 Wochen war die Heilung vollendet,
und wurde die Patientin (am 22. Juni) aus der Klinik entlassen.
Das Resultat der Operation war, wie ich es damals der Berliner
Chirurgen-Vereinigung zu deraonstriren vermochte, sofort, und ist,
wie Sie sehen, auch heute noch, nachdem beinahe vier Jahre seit der
Operation verflossen sind, ein durchaus befriedigendes.
Die Beine sind vollkommen gleich lang. Das Kind geht
ohne Stock oder irgend welchen Stützapparat, und vermag ziemlich
weite Strecken hintereinander zu gehen, ohne müde zu werden. Es
rennt mit den anderen Kindern umher, ohne dabei allzusehr auf¬
zufallen. Der Entengang, den Sie bei ihr bemerken, ist nicht durch
den Zustand des operirten Kniegelenks bedingt, sondern durch die
nachher zu besprechende angeborene beiderseitige Hüftgelenks¬
luxation.
Sehr erfreulich ist es, dass das Unke Kniegelenk beweglich
geblieben ist. Es lässt sich activ und passiv bis zu ca. 75^ beugen
und überdies hyperextendiren, letzteres bis zu ca. 165^.
Entsprechend dieser Möglichkeit der Hyperextension ist auch
für gewöhnlich, d. i. beim ruhigen Stehen und beim Gehen ein ge¬
ringer Grad von Genu recurvatum, wodurch aber keine Functions-
stöning bedingt wird, vorhanden. Die Recurvation ist nicht bloss
durch die Stellung der Gelenkenden des Femur und der Tibia zu ein¬
ander bewirkt; vielmehr ist auch noch die Tibia selbst in der Gegend
der Tuberositas etwas recurvirt, insofern sie hier eine leichte, nach
vorn sehende Concavität zeigt.
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Julius Wolff.
Die rudimentäre Patella lässt sich durch die Haut hindurch
nicht deutlich palpiren.
Rechtes EUenhogengelenk.
In diesem Gelenke ist eine Hyperextension bis zu ca. 160®, eine
seitliche Inflexion nach der Radialseite bis zu ca. 160® xmd eine seit¬
liche Inflexion nach der Ulnarseite bis zu ca. 170® möglich.
Das Radiusköpfchen ist luxirt, und zwar springt es bei ruhiger
Armhaltung stark nach der Volarseite und zugleich etwas nach aussen
vor. Wenn man den Vorderarm hyperextendirt, so wird die Prominenz
des Radiusköpfchens an der Volarseite noch viel erheblicher. Auch
durch Pronation des Vorderarms wird die betr. Prominenz vermehrt.
Die Luxation des Radiusköpfchens ist eine zwar permanente,
aber doch nicht fixirte. Der Radius ist vielmehr gegen Humerus
und Ulna derart beweglich, dass man passiv die bestehende Luxation
noch auffälliger machen kann, als sie es von Natur ist, dass man
aber auch den Radius aus dieser Stellung heraus- und in die Luxations¬
stellung nach hinten bringen kann.
Die Excursion der Pronation und Supination des Vorderarms
überschreitet ebenfalls erheblich das normale Maass. Beim Maximum
der Supination sieht die Vola der vorgestreckten Hand nicht nach
oben, sondern nach aussen; beim Maximum der Pronation nicht nach
aussen, sondern nach oben und innen.
Linkes Ellenbogengelenk.
Die Hyperextension, die seitlichen Inflexionen, die vermehrte
Pronation und Supination des Vorderarms sind in gleicher Weise
vorhanden, und zeigen ziemlich genau dieselben Excursionsweiten,
wie rechts.
Das Radiusköpfchen ist dagegen hier mehr nach aussen, als
nach vorn luxirt. Bei seitlicher Inflexion des Vorderarms nach der
Ulnarseite wird die Prominenz des Radiusköpfchens noch erheblich
vermehrt. Passiv lässt sich die Luxationsstellung des Radius be¬
seitigen, und an ihrer Stelle eine vollständige Luxation nach vorn,
oder auch eine Luxation nach hinten erzeugen.
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Ueber einen Fall von ,willkürl.‘ angeb. präfem. Kniegelenksluxation etc. 29
Hüftgelenke.
In beiden Hüftgelenken findet sich eine hochgradige fixirte
Luxation, die sich in nichts von der gewöhnlichen congenitalen Hüft-
luxation unterscheidet. Der Trochanter major steht rechts ca. 5,
links ca. 4 cra hinter der Roser-N^laton*schen Linie. Ein Herab¬
ziehen des Femurkopfes bis zum Niveau der Pfanne ist unmöglich.
Die Lendenwirbelsäule ist hochgradig lordoti.sch.
Schultergelenke.
Beide Oberarme lassen sich von der Cavitas glenoidea etwas
nach abwärts distrahiren und in eine Subluxationsstellung sowohl
nach vorn, als auch nach hinten bringen.
Handgelenke.
Die erste Handwurzelreihe lässt sich vom Radius um reichlich
^/2 cm distrahiren, nach dem Dorsura subluxiren, nach der Vola aber
vollständig luxiren. Auch nach der Ulnar- und Radialseite hin ist
eine erhebliche Subluxation möglich, derart, dass der Unterschied
der Subluxationsstellung nach der Radial- und derjenigen nach der
Ulnarseite ca. 2^2 cm beträgt.
Auch die untere Reihe der Carpalknochen lässt sich, obwohl
in viel geringerem Grade, gegen die Metacarpalknochen subluxiren.
Am stärksten ist die Möglichkeit der passiven Verschiebung in den Ge¬
lenken zwischen den Metacarpi pollicis und den Ossa multangula maj.
Fingergelenke.
Alle Metacarpophalangealgelenke und Interphalangealgelenke
gestatten Distractionen bis zu V 2 complete oder fast complete
seitliche Verschiebungen, sowohl nach der Radialseite als auch nach
der Ulnarseite, Subluxationen nach der Volarseite und vollständige
Luxationen nach der Dorsalseite. Bei der Subluxation der Phalangen
nach dem Doi*sum hin lässt sich fast die ganze obere Gelenkfläche
der Phalangen deutlich durch die Haut palpiren.
Der Zeigefinger lässt sich derart hyperextendiren, dass man
ihn platt auf das Dorsum manus legen kann. Nicht ganz, aber
nahezu ebensoweit lassen sich die übrigen Finger hyperextendiren.
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Julius Wolff.
Pussgelenke.
In beiden Fussgelenken ist eine Subluxationsstellung sowohl
nach vorn als nach hinten möglich.
Zehengelenke.
Die Zehen lassen sich in ähnlicher Weise wie die Finger dis-
trahiren und subluxiren, bezw. vollständig luxiren. Die 2—5. Zehe
kann man ganz platt auf das Dorsum pedis legen; an der 1. Zehe
gelingt dies etwas weniger leicht.
Schlüsselbeingelenk.
Sowohl in den Sterno-, als auch in den Acromio-Clavicular-
gelenken sind geringe Subluxationen nach den verschiedenen Rich¬
tungen hin möglich.
Kiefergelenke.
Die Kiefergelenke lassen sich nicht luxiren oder subluxiren.
Beim Versuche, eine Subluxation zu erzeugen, klagt das Kind über
lebhaften Schmerz.
Meine Herren! Der vorgestellte Krankheitsfall gibt mir zu
einer Reihe besonderer Bemerkungen Anlass. Dieselben betreffen
zunächst die rechterseits vorhandene „willkürliche“ Kniegelenks¬
luxation, alsdann die linksseitige angeborene präfemorale Knie¬
gelenksluxation , ferner die hier geschehene operative Beseitigung
der letzterwähnten Luxation, weiterhin den Zustand der abnorm
grossen Beweglichkeit der meisten übrigen Gelenke des Körpers und
endlich die Frage der Aetiologie der angeborenen fixirten Luxationen
des Hilft- und Kniegelenkes.
1. Die willkürliche Kniegelenksluxation.
^ Der Zustand der willkürlichen Luxation (Luxation volontaire)
ist zuerst von Perrin beschrieben worden.
Es sind bisher in der Literatur von dieser Affection nur 8 Fälle
mitgetheilt worden^). 4 Fälle — die von Portal, Huinbert et
') Vergl. Perrin, Gaz. des H<3pit. 1859, 92. — Krön lein, Die Lehre
von den Luxationen inBillroth-Lüeke’s Deutscher Chirurgie; Lief. 26 S. 112 Ü-
— The Glasgow med. Journal 1882, Mai; ibid. October.
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Ueber einen Fall von „willkürl.“ angeb. prilfem. Kniegeleuksluxution etc. 31
Jacquier, Karpinsky und Deininger — betrafen das Hüft¬
gelenk der einen Seite; 2 Fälle — die von Stanley und Adams —
beide Hüftgelenke. Ein Fall — der von A. Cooper — betraf eine
Tänzerin, welche ihre beiden Patellae jederzeit nach Belieben nach
aussen zu luxiren vermochte. Endlich berichtet noch Adams von
einem Amerikaner, welcher „fast alle Gelenke“ seines Körpers will¬
kürlich luxiren und wieder einrenken konnte. Möglicherweise hat
in dem letzteren Falle eine ähnliche willkürliche Kniegelenksluxation
Vorgelegen, wie in dem unsrigen. Da aber nichts Genaueres über
die Kniegelenke gesagt ist, so stellt die willkürliche rechtsseitige Knie¬
gelenksluxation unseres Falles bis jetzt in der Literatur ein ünicum dar.
2. Die angeborene fixirte präfemorale Kniegelenksluxation.
Die angeborenen Kniegelenksluxationen sind bekanntlich sehr
seltene AfiFectionen ^), wenn sie auch bei weitem nicht derart grosse
Raritäten sind, wie die willkürliche Luxation, namentlich diejenige
des Kniegelenkes.
Carl Müller hat einschliesslich der beiden von ihm aus der
Benno Schmidt’schen Leipziger Universitäts-Poliklinik mitgetheilten
Fälle bis zum Jahr 1888 23 angeborene Kniegelenksverrenkungen
aus der Literatur zusammengestellt. Hiezu kommen noch ein von
meinem Assistenten Herrn Dr. Joachimsthal aus meiner Klinik mit-
getheilter Fall, ein Fall von Nissen (aus Heineke’s Beobachtung),
ein Fall von Myers, ein Fall von Sayre und ein Fall von Phocas,
sowie der uns hier beschäftigende Fall, zusammen 29 Fälle; von diesen
waren 15 doppelseitig, 14 dagegen betrafen nur das Kniegelenk
einer Seite.
Nach Abzug eines der beiden Müller'sehen Fälle, in welchem
es sich — bei einem todtgeborenen Mädchen — um eine Luxation
nach hinten gehandelt hat, lag 20 Mal eine Luxatio praefemo-
ralis vor.
Der hier vorliegende Fall bietet noch ein besonderes Interesse
9 Vergl. Carl Müller, Ueber congenitale Luxation im Knie. Arbeiten
aus der chirurgischen Poliklinik zu Leipzig 1888- — J o ach i m s t h a 1, Berl.
kiin. Wochen.schrift 1889, Nr. 42 8. 924. — Brunner, Ueber Genese, congeni¬
talen Mangel und rudimentäre Bildung der Patella; Virchow’s Archiv 1891,
Bd. 124. — Hoffa, Lehrbuch der orthopädischen Chirurgie 8. .‘)b8. — Revue
d’orthopedie 1891, Nr. 1.
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32
Julius Wolff.
dar bezüglich der häufig discutirten Frage von dem Verhalten der
Patella bei angeborener Kniegelenksluxation.
Der Fall zeigt aufs Neue, dass, wie schon in der Joachims-
thal’schen Mittheilung hervorgehoben wurde, der vollständige Mangel
der Patella bei angeborener Kniegelenksluxation viel seltener sein
dürfte, als gewöhnlich angenommen wird.
Nur ein einziges Mal, in einem Falle, den Carl Müller mit-
getheilt hat, konnte der vollständige Mangel der Patella thatsächlich
anatomisch nachgewiesen werden.
In 3 Fällen, die von Barwell, Krönlein und (aus meiner
Beobachtung) von Joachimsthal mitgetheilt wurden, konnte nach
der Geburt eine Patella nicht gefunden werden, während es später
gelang, dieselbe als kleines Körperchen zu entdecken. In 4 Fällen
(v. Ammon, Heinecke, Maas, B. Schmidt) konnte in vivo das
Vorhandensein einer Patella nicht constatirt werden. Es handelte
sich aber jedes Mal um sehr junge Kinder (ein neugeborenes, ein
5 Wochen, ein 14 Wochen und ein 1Jahre altes), und es ist da¬
her sehr wohl möglich, dass in diesen Fällen die Patella vorhanden
war und nur wegen ihrer sehr rudimentären Entwickelung nicht
wahrgenommen wurde. In einem von Tarnier mitgetheilten
Falle wurde die rudimentäre Bildung der Patella anatomisch fest¬
gestellt.
Dem Tarnier sehen Falle von anatomisch nachgewiesener rudi¬
mentärer Entwickelung der Patella reiht sich der hier vorliegende an.
Die operative Behandlung der angeborenen präfemoraleu
Tibialuxation.
Die angeborene Tibialuxation, an sich schon, wie wir gesehen
haben, selten genug, ist noch sehr viel seltener bisher bei Leben¬
den zur Beobachtung gekommen. Schon allein unter den 12 Fällen
doppelseitiger Luxation, die Müller zusammengestellt hat, handelte
es sich (3 Mal um todte Früchte. Da überdies auch die bei Leben¬
den bisher beobachteten Fälle meistens sehr junge Kinder be¬
trafen, bei welchen man die Behandlung vorläufig weiter hinaus
schieben zu müssen geglaubt hat, so ist die Frage, wie die con¬
genitale Kniegelenksluxation behandelt werden soll, bisher noch
äusserst wenig zur Erörterung gekommen.
In 4 der mitgetheilten Fälle (Richardson und Porter, Gha-
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Ueber einen Fall von ^willkürl.“ angeb. präfem. Kniegelenksluxation etc. 33
telain, du Bord und Benno Schmidt) soll durch orthopädische
Behandlung die Beseitigung der Luxation gelungen sein.
In dem von mir beobachteten Falle ") ist spontan im Laufe
des 1. Lebensjahrs eine nicht unwesentliche Besserung eingetreten.
Hoffa^) empfiehlt in seinem Lehrbuche, bei der congenitalen
Knieluxation unblutige Repositionsversuche vorzunehmen, und im Falle
des Misslingens derselben möglichst stark redressirende Gypsverbände
und nachfolgend Schienenhülsenapparate zu verwenden.
Eine eventuell operative Behandlung der Luxation ist bisher
überhaupt von keiner Seite in Erwägung gezogen worden.
Unter solchen Umständen gewinnen die für unsern Fall
durch die Untersuchung in der Narkose und durch den Befund bei
der Operation festgestellte Aussichtslosigkeit einer rein orthopädischen
Behandlung, ferner der Umstand, dass hier zuerst, und bis jetzt hier
allein unter den Fällen angeborener Knieluxation eine operative Be¬
handlung eingeschlagen worden ist, und endlich auch der in diesem
Falle erzielte vortreffliche Erfolg der operativen Behandlung ein
besonderes Interesse.
Die in diesem Falle gewonnenen Erfahrungen sind aber nicht
bloss von Belang für zukünftig zur Beobachtung kommende analoge
Fälle von angeborener Knieluxation, sondern auch für die viel dis-
cutirte Frage der Behandlung der im geraden Gegensatz zu der
Seltenheit ,der angeborenen Knieluxation so ausserordentlich häufig
vorkommenden angeborenen Hüftluxation.
Da mein Fall bereits 1887 operirt worden ist, so darf ich auf
Grund desselben den Anspruch erheben, hier zum ersten Male bei
der angeborenen Luxation eines der grossen Körpergelenke genau
nach denselben Principien vorgegangen zu sein, welche später A. Hoffa
für die angeborene Hüftluxation mit Recht als massgebend fest¬
gestellt hat.
Wie es Hoffa für die Hüftluxation nachgewiesen hat, so war
auch in meinem Falle bei der Knieluxation die durch die functioneile
Anpassung an die Luxationsstellung bedingte Verkürzung der
Weichtheile das Haupthinderniss der Reposition. Hier, wie dort
aber ergab es sich, dass durch Ueberwündung dieses Hindernisses,
namentlich mittelst weit ausgedehnter Befreiung der Gelenkenden
*) Vergl. Müller, 1. c.
*) Vergl. Joachimsthal, 1. c.
Vergl. Hoffa, 1. c. S. 512.
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. II. Baud 3
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Julius Wolff.
von allen adhärirenden Weichtheilen und durch Fixation der Gelenk¬
enden in ihrer richtigen Lage ein vorzüglicher Erfolg erzielt werden
kann, insofern wir auf solche Weise nahezu den normalen Zustand
wieder herzustellen vermögen.
Es darf somit zur Bestätigung der Richtigkeit der Hoffa'schen
Principien für die Operation der angeborenen Hüftluxation auch auf
unsem Fall von Knieluxation verwiesen, und demgemäss auf s Neue
ausgesprochen werden, dass bei der angeborenen Hüftluxation das
Hoffa’sche Verfahren das einzig rationelle ist, und dass weder die
Resection des Schenkelkopfs, noch die Aufrichtung eines Knochen¬
firstes als Barriere gegen das Aufsteigen des Schenkelkopfes nach
König, jemals mit dem Hoffa’schen Verfahren werden concurriren
können.
4. Die angeborene abnorme Weite des Kapsel- und Band¬
apparates der Gelenke.
Die Literatur kennt bisher nur eine durch krankhafte Zu¬
stände, und zwar durch Zustände zwiefacher Art erzeugte Erweiterung
des Kapsel- und Bandapparates der Gelenke. Entweder handelt es
sich um Erschlaffungen und Atoiiieen des betreffenden Apparates bei
paralytischen Zuständen der Extremität, welcher die betreffenden
Gelenke angehören. Eine solche Gelenksschlaffheit kommt nament¬
lich unter Mitwirkung der Schwere der herabhängenden oberen Ex¬
tremität bei Paralyse dieser Extremität am Schultergelenk zur Be¬
obachtung, und führt hier bekanntlich zu der dauernden, aber nicht
fixirten Subluxationsstellung des Humerus nach unten, die man als
„perpendiculäre Schulterluxation nach unten“ beschrieben hat.
Zweitens kommt die Erweiterung des Kapsel- und Bandapparats
der Gelenke als Folge von hydropischen Ansammlungen, die lange
Zeit hindurch in einem Gelenke bestanden haben, vor, und wird hier
als Gelenksdistention bezw. Distentionsluxation im Sinne v. V o 1 k-
mann’s bezeichnet.
’) Vergl. meine Arbeit über einen Fall von Schultergelenksarthrodese.
wosell)st ich auf die Unrichtigkeit der Bezeichnung der paralytischen Gelenks-
schlaftheit als ^perpendicuUirer Luxation nach unten“ hingewiesen habe, indem
ich betonte, dass es zur Veiwirrung führt, wenn man die nicht fixirten und
zugleich paralytischen Luxalionsstellungen als „Luxationen“ bezeichnet. Berl.
klinische Wochenschrift 18s6, Nr. 52.
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Ueber einen Fall von «willkürl.“ angeb. präfem. Kniegelenksluxation etc. 35
Was die letztere Art der Gelenkserweiterung betrifft, so haben
mir meine Erfahrungen über die Folgen hydropischer Ansammlungen
im Kniegelenke Folgendes gezeigt. Der Hydarthros genu führt nur
bei gleichzeitigen Lähmungszuständen, also wenn es sich um Arthro-
pathia tabidorum oder sonstige neuropathische Gelenkserkrankung
handelt, zur dauernden Gelenksdistention, während hydropische Er¬
güsse in das Kniegelenk, wenn sie selbst sehr bedeutend sind und
lange bestanden haben, bei nicht zugleich paralytischer Extremität
nach ihrer Beseitigung jedesmal die Möglichkeit der Restitution eines
straffen Gelenkes gewähren.
Von der bis hierher erörterten pathologischen Erweiterung des
Kapsel- und Bandapparats muss die angeborene Erweiterung des¬
selben, wie wir sie in unserem Falle beobachten, durchaus unterschieden
werden. Diese angeborene Erweiterung führt im Unterschiede zu der
durch Paralyse oder hydropische Ansammlungen bedingten zu gar
keinen oder wenigstens zu keinen wesentlichen Functionsstörungen der
Gelenke; ja, sie scheint im Gegentheil bei gehöriger Uebung Kraft¬
leistungen der Gelenke zu ermöglichen, die unser Staunen erregen.
Denn vermuthlich handelt es sich bei den sogenannten „Schlangen¬
menschen“, welche ihre Gelenke in verschiedenster Art zu subluxiren
vermögen, um nichts anderes, als um das, was sich uns in unserem
Falle an der grossen Mehrzahl der Gelenke darbietet.
Es wäre zu wünschen, dass der vorliegende Fall zu weiterer
und genauerer Erörterung der hier nur angedeuteten Verhältnisse,
also namentlich zur Erörterung der Verschiedenheiten der pathologi¬
schen und der einfach angeborenen Gelenkserweiterung, und dass er
weiterhin auch Anlass gibt zu einer überhaupt eingehenderen Er¬
forschung der angeborenen Gelenkanomalieen, als eine solche bisher
in der Literatur vorliegt. Selbst die grossen bisher vorliegenden
Werke über angeborene Missbildungen behandeln durchweg die an¬
geborenen Gelenkanomalieen in einer überaus stiefmütterlichen Art^).
*) Ich möchte im Anschluss an das oben Gesagte hier beiläufig erwähnen,
dass ich in den letztvergangenen Jahren zwei das Gegenstück des vorliegenden
Falles darstellende Fälle angeborener Gelenkanomalieen zu beobachten Gelegen¬
heit hatte, deren Publication ich mir für später Vorbehalte. Es handelte sich
um angeborene Ankylosen sämmtlicher grossen Gelenke. Den einen der
beiden Fälle habe ich ebenfalls im Jahre 1887 der Freien Vereinigung der
Chirurgen Berlins vorgestellt.
In der Literatur habe ich bisher vergeblich nach analogen Fällen an-
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3G
Julius Wolff.
5. Die Aetiologie der angeborenen Luxation des Hüft- und
des Kniegelenkes.
Unser Krankheitsfall ist in hervorragender Weise dazu geeignet,
bei Erörterung der viel discutirten Frage nach den Ursachen der
angeborenen Hüftluxation in Betracht gezogen zu werden.
Unter den zahlreichen bisher aufgestellten Theorieen der Ent¬
stehung der congenitalen Hüftluxation finden heutigen Tages fast
ausschliesslich nur noch entweder diejenigen bei den Chirurgen An¬
klang, welche das Leiden von einer gepressten Lage des Fötus im
Mutterleib bei geringer Menge des Fruchtwassers und Adductions-
stellung des Schenkels herleiten, oder diejenigen, welche dasselbe auf
abnorme Kleinheit der Pfanne infolge einer frühzeitigen Verknöche¬
rung des y-förmigen Knorpels in der Pfanne oder infolge ungenügen¬
der Production knochenbildender Substanz von Seiten dieses Knorpels
zurückführen. Für unsem Fall dürfen wir wohl mit Bestimmtheit
sagen, dass diese heutigen Tages allein geläufigen Anschauungen
über die Entstehung des Leidens hier nicht zutreffend sind.
Es hiesse oflTenbar den thatsächlichen Verhältnissen Zwang an-
thun, wollte man in unserem Falle die congenitale Hüftluxation nicht
mit der in den meisten anderen Gelenken des Körpers vorhandenen
abnormen Erweiterung des Kapsel- und Bandapparats in Zusammen¬
hang bringen.
Es ist für unsern Fall kaum eine andere Erklärung denkbar,
als dass die Kapselerweiterung das Primäre gewesen ist, und dass
sie es war, die zu der nachträglich fixirt gewordenen Luxation ge¬
führt hat.
Wir müssen also für unsern Fall auf eine Erklärung zurück¬
greifen, die der alten und heutigen Tages gänzlich vergessenen An¬
schauung von Sedillot und Ernst Stromeyer nahe kommt, nach
welcher die angeborene Hüftluxation durch eine Erweichung und Er-
schlaflung des ligamentösen Gelenkapparats hervorgerufen sein sollte.
Wenn wir uns auch der Stromeyer’schen Auffassung von der „Atonie,
Erschlaffung und Erweichung“ des betr. Apparates nicht anschliessen
geborener Ankylosen der deutlichen grossen Körpergelenke gesucht. Möglicher¬
weise hat dies seinen Grund darin, dass thatsächlich solclie Fälle nicht zur Be¬
obachtung gelangt sind. Für wahrscheinlicher aber halte ich es, dass man die
wirklich vorgekommenen Fälle bisher zu wenig beachtet und besprochen hat.
b Vergl. Krnst Stromeyer, Ueber Atonie fibröser Gewebe und deren
Rückbildung. Inaug.-Dissert. Würzburg ls40.
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Ueber einen Fall von „willkürl.“ angeb. präfem. Kniegelenksluxation etc. 37
können, so ist es doch zweifellos, dass in unserem Falle die hier vor¬
handen gewesene angeborene abnorme Erweiterung dieses Appa¬
rats die AfFection hervorgerufen hat.
Es geht also unter allen Umständen aus den Verhältnissen
unseres Falles hervor, dass man in der Kleinheit der Pfanne nicht
unter allen Umständen die Ursache des Leidens zu suchen hat, dass
vielmehr die Kleinheit der Pfanne, mag dieselbe nach Dollinger
mit frühzeitiger Verknöcherung des y-förmigen Knorpels einhergehen,
oder nach Grawitz mit ungenügender Knochenproduction seitens
dieses Knorpels, ebenso gut auch die blosse Folge der Luxation,
die Folge des Functionsmangels der unausgefüllt bleibenden Pfanne
sein kann.
Ebenso geht aus den klaren Verhältnissen unseres lediglich durch
die Erweiterung des Kapselapparats bedingten Falles hervor, dass
die Annahme einer gepressten Lage des Fötus im Uterus als Ursache
der congenitalen Luxation keineswegs die allgemeine Bedeutung
beanspruchen kann, die ihr von vielen ihrer Vertreter zugeschrieben
worden ist.
Für die Entstehung der angeborenen Knieluxation unseres
Falles gelten nun aber genau dieselben Gesichtspunkte, wie für die
Hüftluxation.
Noch mehr als am Hüftgelenk ist es am Kniegelenk in die
Augen springend, dass, wenn das eine Kniegelenk die Erscheinungen
der willkürlichen, das andere die der fixirten Luxation darbietet, die
die willkürliche Luxation erzeugende Kapselerweiterung auch das
Primäre bei der fixirten Luxation gewesen sein muss.
Man hat auch für die congenitale Knieluxation die Theorie
geltend zu machen gesucht^), dass bei hochgradigem Mangel des
Fruchtwassers der Uterusdruck die Dislocation bewerkstelligt. Es
wurde für diese Theorie der Umstand betont, dass in fast allen zur
Beobachtung kommenden Fällen die betr. Kinder mit über die Schulter
geschlagenen, an den Leib gedrückten gestreckten Beinen zur Welt
kamen, und dass diese Stellung längere Zeit nach der Geburt, so
lange die Extremitäten sich selbst überlassen blieben, beibehalten
wurde.
Unser Fall, in dem so offenkundig eine ganz andere Ursache
der Knieluxation vorliegt, nämlich die abnorme Kapselerweiterung,
') Vergl. Brunner, 1. c. S. 364.
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38 J- Wolff. üeb. einen Fall v. „willkürl.“ angeb. präfem. Kniegelenksluxation etc.
zeigt, dass man wohl auch hier wieder Ursache und Wirkung mit ein¬
ander verwechselt hat, und dass demnach die Lage, in welcher Kinder
mit angeborener Knieluxation im Uterus und unmittelbar nach der
Geburt sich befinden, vielmehr lediglich als die Folge der Luxation
zu betrachten ist.
Wie weit die aus unserem Falle zu ziehende Lehre, dass eine
angeborene abnorme Weite des Kapsel- und Band¬
apparates eines Gelenkes unter Umständen das ursächliche
Moment einer angeborenen Luxation sein kann, für die Fälle
von angeborener Luxation einer Verallgemeinerung fähig ist,
dies festzustellen, wird weiteren Beobachtungen und Untersuchungen
Vorbehalten bleiben müssen.
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III.
Skoliosis capitis — Caput obliquum.
Von
F. Beely-Berliii.
Mit einer in den Text gedruckten Abbildung.
Bereits seit einer Reihe von Jahren ist mir bei manchen Patienten,
die wegen anderer Deformitäten in meine Behandlung kamen, eine
eigenthümliche typische Asymmetrie des Kopfes aufgefallen, so dass
ich mich veranlasst fühlte, hin und wieder Aufzeichnungen darüber
zu machen. Geringe Grade dieser Asymmetrie sind nicht immer
leicht zu erkennen oder Anderen, z. B. den Eltern der Patienten zu
demonstriren, besonders dann nicht, wenn dichtes Haar den Kopf
bedeckt. Am sichersten kann man sich von ihrem Vorhandensein
überzeugen, wenn man den Patienten so vor sich hinstellt oder legt,
dass man den Kopf direct von oben her, ohne zunächst vom Gesicht
mehr als die Stirn zu sehen, betrachtet und ihn dann so einstellt, dass
die Pfeilnaht in die Verlängerung der Medianebene des Beschauers
fällt. Man erhält dann den Eindruck, als ob die eine Hälfte des
Himschädels gegen die andere in antero-posteriorer Richtung ver¬
schoben sei oder vielleicht besser gesagt, als ob der Kopf in
der Richtung des einen schrägen Durchmessers zusammengedrückt
wäre. Das eine Tuber frontale tritt gegen das andere mehr
oder weniger zurück, die Hinterhauptgegend derselben Seite weiter
nach hinten vor. Die beiden schrägen Durchmesser — von dem
am meisten vorspringenden Punkt des einen Stirnhöckers bis zu
dem am meisten vorspringenden Punkt der entgegengesetzten Hinter¬
hauptgegend und zwischen entsprechenden Punkten der anderen
Seite gemessen — können erhebliche Differenzen, bis zu 3,5 cm
zeigen. Die höchste Convexität des Kopfes verläuft nicht mehr in
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40
F. Beely.
sagittaler Richtung, sondeni in der des grösseren schrägen Durch¬
messers. Die beiden Ohren befinden sich nicht in derselben Frontal¬
ebene, sondern das eine weiter nach vorne, das andere weiter nach
hinten. Verfolgt man die Medianlinie des Kopfes weiter nach vom,
so dass man zunächst die Nase, dann auch die Wangen zu Gesicht
bekommt, so erkennt man, dass sich die Asymmetrie auch auf das
Gesicht erstreckt, dass auch der dem zurücktretenden Tuber frontale
entsprechende Backenknochen weiter zurücktritt. Betrachtet man
das Gesicht von vorn, so lassen sich auch hier Differenzen auf beiden
Seiten erkennen, es handelt sich aber meistens um Unterschiede, die
durch einfache Messungen — wenigstens bei Kindern — nicht nach¬
zuweisen sind. Die Asymmetrie des Gesichts ist fast immer relativ
geringer als die des Schädels, so dass man sich mit dem Nachweis
des Vorhandenseins der Schädelasymmetrie begnügen kann.
Den Geburtshelfern ist diese Asymmetrie des Kopfes wohl be¬
kannt, wir finden sie z. B. in dem Lehrbuch der Geburtshülfe von
0. Spiegelberg (1878) erwähnt.
Nachdem derselbe die verschiedenen Formveränderungen beschrieben,
die der Schädel während der Geburt erleidet, fährt er (S. 150) fort: „Diese
Form Veränderungen des Schädels gleichen sich aber bald nach der Geburt
wieder aus, und nur höchst selten persistirt die eine oder andere noch nach
acht Tagen und darüber. Dagegen existirt eine wirklich angeborene, bleibende
Schiefheit des Schädels, indem die linke Seite nach hinten und oben verschoben
ist und besonders die linke Hälfte des Hinterhauptes stärker hervortritt und
stärker gewölbt erscheint, so dass die Entfernung der Hinterhauptshöcker vom
Scheitelhöcker links kleiner ist als rechts; Stadfeldt, der diese Asymmetrie
zuerst beschrieben, führt sie auf den physiologischen und congenitalen wellen¬
förmigen Verlauf der Schädelachse zurück. Durch die oben erwähnten Ein¬
wirkungen des Geburtsdruckes (die erste Schädellage schiebt ja das linke
Scheitelbein häufig nach vorn) wird diese Asymmetrie meist aufgehoben, bildet
sich aber in kurzer Zeit nach der Geburt wieder aus.“
Auch in den chirurgischen Handbüchern und Zeitschriften
(Witzei, „Beiträge zur Kenntniss der secundären Veränderungen
beim musculären Schief halse.“ Deutsche Zeitschr. f. Chir. XVUI)
finden wir dieselbe erwähnt und zum Theil eingehend gewürdigt-,
aber nur in Verbindung mit Torticollis, und hier wird die Schädel-
und Gesichtsasyinmetrie als Folge der schiefen Stellung des Kopfes
aufgefasst. Sie wird als Skoliosis capitis bezeichnet. Es lässt sich
gegen diese Bezeichnung nichts einwenden, nur muss man sich klar
darüber sein, dass die Skoliosis capitis weder mit einer schiefen
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Skoliosis capitis — Caput obliquum.
41
Haltung des Kopfes noch mit der Skoliose der Wirbelsäule etwas zu
thun zu haben braucht, sonst würde man besser thun, diese Asym¬
metrie des Kopfes als Caput obliquum, Schrägkopf, zu bezeichnen
und den Ausdruck Skoliosis capitis nur für diejenigen Veränderungen
zu reserviren, von denen nachgewiesen ist, dass sie wirklich Folge
und nicht nur zufällige Complicationen der schiefen Kopfstellung bei
Torticollis sind.
Ebenso verhält es sich mit den orthopädischen Lehrbüchern,
und es ist dies leicht erklärlich, da die Skoliosis capitis oder das
Caput obliquum an sich nie Gegenstand der Behandlung wird.
So sagt Schreiber in seiner ,Allgemeinen und speciellen orthopädischen
Chirurgie“ (IXXX): Ob die Ursachen des Torticollis fötale oder partuale sind
etc., stet^ setzt derselbe mit der Zeit Veränderungen der Gewebe, Verkürzungen
der Fascien und Bänder, und bei länger bestehendem Caput obstipum fehlt
selten eine gewisse Asymmetrie der Gesichtshälften, die Nelaton,
Eulenburg und Andere auf eine geringere Entwickelung von Gefässen und
Nerven auf der Seite der Concavität bezogen, während sie z. B. Dieffenbach
durch den Zug des verkürzten Muskels erklären wollte und W i t z e 1 dieselbe
auf die Spannung der Weichtheile, besonders des Muskels, der gesunden Seite
und dessen fonnbestimmenden Einfluss auf den wachsenden Schädel zurückführt.
Hoffa, der in seinem „Lehrbuch der orthopädischen Chirurgie“ (1891)
das Caput obstipum sehr ausführlich behandelt, sucht die Theorien verschiedener
Autoren wie Witzei, Falkenberg, Nicoladoni und Bouvier zu ver¬
einigen, soweit dieselben sich gegenseitig nicht ausschliessen. Er gibt zunächst
den Erklärungsversuch Witze Fs in folgender Weise wieder: „Beim Caput
obstipum findet im Gleichgewicht der Muskelgruppen am Hals eine Störung in
der Weise statt, dass die Muskeln der concaven Seite weniger gespannt sind
als an der convexen und als Folge davon die Musculatur der convexen Seite
den wachsenden Hirnschädel stärker gegen die Wirbelsäule andrückt, wodurch
sein Breitenwachsthum gehemmt wird. Zugleich zieht sie die entsprechende
Gesichtshälfte nach der anderen Seite hinüber. Ist dann, wie meist, noch eine
Röckwärtsbeugung des Kopfes vorhanden, so erfolgt gleichzeitig ein vom Kinn
aus wirkender Zug, der den Gesichtsschädel nach unten und hinten gegen die
Wirbelsäule andrängt.“
Hiermit, meint Hoffa, lassen sich alle Verhältnisse genügend erklären,
wenn man mit Falkenberg annimmt, dass der stärkere Muskelzug auf der
convexen Seite dadurch zu Stande kommen kann, dass der Schiefhalsige die
Muskeln der gesunden Seite fortwährend anstrengen muss, um den Kopf im
Gleichgewicht zu halten, der sich in Folge seiner Schwere immer zu senken
strebt. Gleichzeitig lässt er aber noch die Ansicht N i c o 1 a d o n i’s gelten, wo¬
nach die Last des Schädels selbst eine Rolle spielt. Nicoladoni nimmt an,
dass die Ursache der Gesichtsasymmetrie an die Epiphysenfugen des Os basilare
zu verlegen sei. Indem die Last des Schädels an der kranken Seite vorzüglich
auf den Keilbeinkörper, die Pars basilaris und den Gelenktheil des Hinter-
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F. Beely.
hauptbeins ein wirkt, sollen diese Theile sich weniger entwickeln und mehr
gegen das Schädelinnere hingedrängt werden. An der gesunden Seit^ aber
soll der Keilbeinköi-per und das Os basilare zugleich mit dem Processus ptery-
goideus, dem Hammerbein und dem Oberkiefer einen prävalirenden Wachs-
thumsschub von hinten nach vom empfangen, und dadurch soll es zur Gesichts¬
asymmetrie und der Verschiebung des Unterkiefers kommen.
Mit Hilfe der B o u v i e r’schen Theorie, wonach die Ursache der Schädel¬
asymmetrie die Folge einer schlechten Ernährung der kranken Seite und diese
wiederum die Folge der Compression oder mangelhaften Entwickelung der grossen
Gefässe, namentlich der Carotis der kranken Seite sei, glaubt er die Atrophie
der asymmetrischen Theile erklären zu können.
Er fügt dann aber hinzu, „dass er diejenigen Schädelasymmetrien, die
bei dem angeborenen Torticollis alsbald nach der Geburt beobachtet werden,
für entstanden hält durch den Druck der Beckenwand gegen die weichen
Schädelknochen bei längerem Verweilen dieser letzteren im Becken während
der letzten Monate der Schwangerschaft. Dieselbe Ursache, die die Verkürzung
des Kopfnickers herbeiführt, führt dann auch zur As 3 rmmetrie des Schädels.
Es dürften hierher namentlich die Fälle gehören, bei denen die Asymmetrie
des Himschädels ausgesprochener ist, als die des Gesichts. Krummacher
hat kürzlich ein solches Caput obstipum congenitum beschrieben, bei dem die
Veränderung am Hiraschädel unmittelbar nach der Geburt bedeutend stärker
ausgeprägt war als am Gesichtsschädel, und ist also die oben ausgesprochene
Ansicht auch anatomisch gestützt.“
Da bisher wenig nach dieser Richtung hin genau beobachtetes
Material vorliegt — H'offa gibt leider die Zahl seiner diesbezüg¬
lichen Fälle nicht an — dürfte es vielleicht nicht überflüssig er¬
scheinen, zunächst die von mir gesammelten Beobachtungen kurz
anzuführen. Ich schliesse dabei auch diejenigen Fälle nicht aus,
die Herr Dr. Krummacher in seiner Arbeit „Zur Aetiologie
der Schädelasymmetrie beim angeborenen Schiefhalse“
(Inaug.-Diss. Berlin 1889) verwerthet hat.
1. Rudolph P—. 6. Juni 1887 — geboren 7. März 1887; erstes Kind:
Entbindung schwer und langdauernd; 27 Stunden, Beckenendlage, wahrschein¬
lich durch Extraction beendet. (Drei später geborene Mädchen sollen nach An¬
gabe der Mutter ganz wohlgebildet sein.) Sofort nach der Geburt fiel den
Eltern auf, dass Gesicht und Kopf asymmetrisch seien, später wurde auch eine
schiefe Haltung des Kopfes bemerkt. Die linke Schulter war stets hochgezogen,
der Kopf und die linke Schulter lagen immer zusammen, die linke Achselhöhle
erschien tiefer als die rechte.
Befund: Gesicht asymmetrisch, die linke Gesichtshälfte anscheinend
kleiner, die linke Kopfhälfte anscheinend nach hinten verschoben, linke Stim-
hälfte flacher, linke Hinterhauptshälfte stärker hervortretend. Der linke
Stemocleidomastoideus so stark gespannt, dass eine Myotomie anscheinend nicht
zu vermeiden, dieselbe wird jedoch für spätere Zeit in Aussicht genommen.
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Skoliosis capitis — Caput obliquum.
43
Einstweilen wird eine Pappcravatte angelegt und den Eltern gezeigt,
in welcher Weise täglich Dehnungen des Kopfnickers durch gleichzeitiges
Ziehen an Kopf und Schultern versucht werden sollen.
6. August 1887. Bedeutende Besserung, so dass die Myotomie nicht
mehr nothwendig erscheint; es ist kaum noch ein Untei-schied in der Spannung
der Stemocleidomastoidei nachzuweisen.
Linker schräger Durchmesser des Kopfs (rechts vorn nach links hinten) 14,5 cm.
Rechter „ « (links „ „ rechts „ ) 12,8 cm.
27. Januar 1888. Die Asymmetrie des Gesichts soll nach Angabe der
Eltern geringer geworden sein.
Befund am 31. August 1888. (Von Herrn Dr. Krumm ach er in meiner
Gegenwart aufgenommen). Gesunder, munterer Knabe, für sein Alter gut ent¬
wickelt. Nach Angabe der Mutter haben die Deformitäten abgenommen.
Bei aufrechter Stellung leichte, linksconvexe Abweichung im oberen
Theil der Wirbelsäule. Die rechte Scapula steht etwas tiefer als die linke
(circa 1,5 cm), ebenso steht das rechte Acromion etwas tiefer.
Rotation des Kopfes nach rechts noch etwas behindert; der Kopf wird
meist nach links geneigt getragen und so rotirt, dass das rechte Ohr etwms
nach vom steht. Differenz hinsichtlich der Kopfnicker nicht nachweisbar.
Schädel im Ganzen brachycephal. Der Kopf im Verhältniss zum frontalen wie
sagittalen Durchmesser auffallend hoch, im rechten schrägen Durchmesser auf¬
fallend abgeflacht, dagegen springen das rechte Tuber frontale und die linke
Hinterhauptgegend stark her\"or; in dem sie verbindenden linken schrägen
Durchmesser verläuft die höchste Convexität des Schädels.
Die Verbindungslinien der beiden Augen- und Mundwinkel treffen sich in
der linken Verlängerung. Es macht den Eindmck, als sei die linke Gesichts¬
hälfte etwas kleiner als die rechte, flach und nach hinten gedrängt. So steht
die Unke Backe etw'as zurück; das Unke Ohr ist kleiner und liegt dem Kopf
mehr an. Die Medianlinie des Gesichts bildet einen nach rechts convexen
Bogen.
M a a 8 s e (mit dem Tasterzirkel genommen).
Linker schräger Durchmesser.16,25 cm.
Rechter , „ .14,00 ,
Längsdurchmesser des Unken Ohrs.5,00 „
„ , rechten „ .5,30 «
Linker äusserer Augenwinkel zum Unken Mundwinkel \ ^ ^
Rechter „ „ „ rechten , I ' ^
Sagittaler Durchmesser:
a) in der Horizontalen.15,5 (15,0) „
b) bis zur Protuberanz.16,0 „
Querer Durchmesser.14.0 „
Vom Kinn bis zum entferntesten Punkte des Hinter¬
haupts: links.17,5 „
rechts.17,0 ,
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F. Beely.
Die Schneidezilhne des Oberkiefers stehen etwa 0,5 cm vor denen des
Unterkiefers.
Differenz zwischen der Entfernung von der Mitte der Schneidezähne bis
zum äusseren Augenwinkel nicht nachweisbar.
Mitte der Schneidezähne zum Ohr links . . . 9,75 cm.
„ « « , « rechts . . . 9,00 „
Linker äusserer Augenwinkel zum linken Ohr \ ^
, „ » « rechten „ J ’
Befund am 21. März 1892. Das linke Schulterblatt von der Mittel¬
linie weiter entfernt als das rechte, letzteres zugleich etwas tiefer stehend. Die
Schulterblatthaltung scheint nicht abhängig von der Wirbelsäule zu sein, letztere
ist beweglich und zeigt unbestimmte leichte Abweichungen, aber keine fixirte
Skoliose, die Rippenwinkel sind beiderseits gleich, für kurze Zeit kann Patieot
eine bessere Haltung annehmen, kehrt aber bald wieder in die schlechtere zu¬
rück, wobei sich der Kopf nach rechts dreht. Kopf und Gesicht noch asym¬
metrisch.
Maass e.
Linker schräger Durchmesser.17,5 cm.
Rechter „ „ .15,5 „
Längsdurchmesser des linken Ohrs.5,25 „
, » rechten „ .6,00 ,
Linker äusserer Augenwinkel zum linken Mundwinkel \ ^ ^
Rechter „ » rechten „ I ’ "
Sagittaler Durchmesser:
a) in der Horizontalen.16,0 „
b) bis zur Protuberanz.17,0 „
Querer Durchmesser ..15,0 „
Vom Kinn bis zum weitesten Punkte des Hinterhaupts:
links .20,0 „
rechts.18,0 „
Die Schneidezähne des Oberkiefers stehen etwa 0,5 cm. vor denen des
Unterkiefers.
Mitte der Schneidezähne zum Ohr links . . . . . 10,75 cm.
« ^ « rechts.10,00 ,
2. Franz A—. 7. Nov. 1887. IV 2 Jahr. Schwangerschaft normal, Ent¬
bindung 14 Tage vor dem berechneten Termin, nach einer Anstrengung von
Seiten der Mutter; ohne Kunsthilfe. Der in seiner Form unregelmässige Kopf
wurde stets links geneigt gehalten.
Befund: Beide Kopfliälften wie an einander verschoben, vorbeigedrückt,
das Gesicht entsprechend verändert, die rechte Stirnhälfte und rechte Gesichts¬
hälfte treten Aveiter vor. Der linke Kopfnicker ist bei keiner Bewegung des
Kopfes stärker vorspringend oder gespannt zu fühlen. Am Skelet Zeichen von
Rhachitis. Im linken Kniegelenk mitunter ein eigenthümliches Knacken wahr¬
zunehmen. Patient führt den rechten Fuss nach dem Mund, den linken nicht.
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Skoliosis capitis — Caput obliquum.
45
Die Wirbelsäule ' scheint sich in der Regio lunibalis leichter nach rechts als
nach links zu biegen.
3. Alfred L.—, geboren 5. Februar 1888. Der Vater mit Pes varus
cong. dext. behaftet. Sofort nach der Geburt — ohne Kunsthilfe — linksseitiger
Klurapfuss constatirt. Die Deformität, die recht hochgradig ist, liegt haupt¬
sächlich in den Fusswurzelgelenken. Der Metatarsus relativ lang und schmal.
Knabe sehr zart.
8. Februar 1888. Einfache Filzstahlschiene an der Aussenseito des Fusses.
13. Februar 1888. Klumpfussschiene: eiserne Sandale mit Aussenschiene,
die bis zum Hüftgelenk reicht, Ober- und Unterschenkeltheil winklig verbunden.
Täglich manuelles Redressement und Massage, zuerst von der AVärterin, dann
vom Vater ausgeführt.
23. Juni 1888. Es wird Asymmetrie des Kopfes constatirt. Die Kopf¬
hälften erscheinen seitlich aneinander verschoben wie bei Caput obstii)uni cong.
die rechte Hälfte nach hinten, die linke nach vom.
Befund am 4. Februar 1889 (mit Herrn Dr. Krummacher zusammen
aufgenommen); Gesicht ohne messbare Asymmetrie. Bei Rückenlage erscheint
die rechte Schläfengegend breiter. Hals auffallend kurz; um denselben eine
ziemlich tiefe Falte, die besonders an der vorderen Seite früher Intertrigo und
Ekzem veranlasste. Kopf im Ganzen hoch und kurz, brachycephal.
Die rechte Kopfhälfte ist anscheinend bei Betrachtung von oben nach
hinten verschoben, die linke nach vorn. Der grösste Umfang des Kopfes be¬
trägt 47,5 cm.
Linker schräger Durchmesser.14,5 cm.
Rechter „ „ .15,5 „
Vom Kinn bis zum entferntesten Punkte
des Hinterhaupts.18,0 „
Gerader Durchmesser.14,75 „
4. Alice J. — 25. Juni 1888. 1 Jahr. Zangengeburt zu normaler Zeit.
Seit November 1887, als Patientin etwa 4 Monat alt, wurde bemerkt, dass der
Rücken nicht normal, den Kopf hat Patientin immer etwas schief gehalten.
Befund: Kopf asymmetrisch, linke Kopf- und Gesichtshälfte nach hinten
verschoben, der rechte schräge Durchmesser kürzer. Linke Gesichtshälfte ab¬
geplattet. Kopf nach links geneigt , keine Contractur des Kopfnickei*s nach¬
weisbar. Linksconvexe Dorsal-, rechtsconvexe Cervical-Skoliose, Rotation bei
ersterer erheblich.
5. Robert W.— 7. August 1888. 4 Jahre. Als Patient ein halbes Jahr
alt war, w'urde Schieflialtung des Kopfes bemerkt, derselbe wmr nach rechts
geneigt, die rechte Schulter stand höher. Patient ist linkshändig.
Befund: Kopf asymmetrisch. Ungleiche Spannung der Sternocleido-
mastoidei nicht nachzuweisen. Rechtsconvexe Ceiwical-Skoliose, unterhalb
compensatorische Abweichungen, die aber nicht fixirt sind und bei der sehr be¬
weglichen Wirbelsäule wechseln.
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F. Beely.
6. Walther Sch. — 8. September 1888. 4 Jahre. Entbindung schwer
aber ohne Zange. Starke Blutung. Patient lernte spät laufen, 14 Monate alt,
war stets stark.
Befund: Rechte Hälfte des Thorax vorn stärker vortretend (halbseitige
Hühnerbrust). Kopf asymmetrisch, rechtes Tuber frontale stärker vortretend.
Rechter schräger Durchmesser 15,75 cm, linker schräger Durchmesser 17,*25 cm.
7. Robert R. — 28. November 1889. 3 Jahre. Mutter des Patienten
an Tuberculose gestorben. Der Vater glaubt, dass der Knabe den Kopf stets
etwas schief gehalten hat. Patient litt öfter an Abscessen an verschiedenen
Stellen des Körpers; seit mehr als 1 Jahr Abscesse an der rechten Seite des
Halses; kleine Knochenstückchen sind mit dem Eiter entleert worden.
Befund: Kopf stark nach links geneigt, linksconvexe Dorsal-Skoliose
ohne Gegenkrümmung in der Reg. lumbalis, Contractur des linken Sternocleido-
mastoideus. Kopf asymmetrisch, der linke schräge Durchmesser 18,75 cm, der
rechte 10,50 cm.
Diagnose: Spondylitis cervicalis.
8. Karl B. — 17. Dezember 1800. Geboren 14. November 1890. Mutter
29 Jahre. Drittes Kind, die beiden anderen gesund. Entbindung ohne Kunst¬
hilfe; Kopflage.
Befund: Kopf asymmetrisch, anscheinend in der Richtung des linken
schrägen Durchmessers zusammengedrückt. Lähmung des linken Facialis, das
linke Auge offen, die linke Naso-iabialfalte weniger stark ausgeprägt. Ober¬
arme fest am Thorax anliegend, iin Ellenbogengelenk spitzwinklig flectirt,
Hände fest geschlossen, beide Daumen eingeschlagen, senkrecht zur Längsachse
der Hand: Finger und besonders die Daumen nicht vollständig zu strecken.
Beine in den Kniegelenken h} 7 )erextendirt, in gestreckter Stellung Brust und
Bauch anliegend, mit Mühe im Hüftgelenk bis zum rechten Winkel zu extendiren.
Bei stärkeren Extensionsversuchen bemerkt man, dass die Oberschenkel
stark nach aussen rotirt sind, die Kniekehlen nach der Medianebene hinsehen.
Patellae nicht zu fühlen, können aber trotzdem vorhanden sein, da die Sehne
des Quadriceps stark gespannt und hierdurch die Untei-suchung ei-schweid ist.
Werden die Kniekehlen nach hinten gedreht, so sehen die Mall. ext. direct
nach vom, der Unterschenkel ist also nach innen gedreht. Beiderseits Klump-
fussbildung, links stärker als rechts. Die medianen Fussränder liegen direct
den Tibiae an, deren untere Enden nur undeutlich zu fühlen sind. Bei normaler
Stellung derKniee sind die Füsse direct nach hinten gerichtet. Hernia inguinalis
externa dextra (scrotalis). (S. die Abbildung.)
9. Max W. — 5. Januar 1891. 14 Wochen alt; achtes Kind, Zangengeburt:
asphyktisch, erholte sich nur langsam. Der linke Arm soll auf dem Rücken
gelegen haben, die linke Schulter gegen die linke Unterkieferhälfte angedrückt
gewiesen sein. Hier soll man eine etwas eingedrückte Stelle bemerkt haben.
Befund: Der linke Arm hängt schlaff herab, der ganze Arm ist im
Sinne der Pronation gedreht. Die Hand wird activ bewegt, der Vorderarm
aber im Ellenbogengelenk nicht flectirt, der Oberarm im Schultergelenk gar
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Skoliosis capitis — Caput obliquum.
47
nicht bewegt. Passiv alle Bewegungen ausführbar, nur etwas behindert, z. B.
Flexion im Ellenbogengelenk nicht vollständig möglich.
Kopf asymmetrisch, im Sinne des rechten schrägen Durchmessers zu¬
sammengedrückt.
10. Hermann L. — 24. April 1891. 5 Monat. Entbindung leicht.
Patient wog 8V« Pfund; viel Fruchtwasser. Während der Gravidität konnte
die Mutter immer nur auf einer Seite liegen.
Befund: Caput obstipum, linker Kopfhicker massig contrahirt; Hals
auffallend kurz, Gesichtshälften ungleich, Kopf auffallend asymmetrisch, linker
schräger Durchmesser 15,5 cm, rechter schräger Durchmesser 12,0 cm. Rechts¬
convexe Cervical-, linksconvexe Dorsal-Skoliose mit deutlich ausgesprochener
Rotation. Patient legt den linken Arm gewöhnlich an den Kopf, hält den Arm
dabei gebeugt.
Therapie: Pappcravatte, manuelles Redressement, Rückenlage mit
niedrig liegendem Kopf.
28. Juni 1891. Patient stirbt an Erschöpfung durch Darmkatarrh, Kopf¬
haltung nach Angabe der Mutter bereits gebessert.
11. Else P. — 22. Mai 1891. \U Jahr alt. Zweites Kind, das erste gesund.
In der ersten Hälfte der Schwangerschaft war der Mutter ihr starker Leib auf¬
gefallen. Geburt in Beckenendlage, aber ohne Kunsthilfe.
Befund: In der Mitte der Stirn ein c. 1,5 cm breites rothes Mal, von
den Augenbrauen bis zur Haargrenze reichend, ein ähnliches Mal über dem
Os occipitis, am oberen Rande desselben, ein drittes an der hinteren Grenze
des Haarwuchses, über dem Atlanto-occipitalgelenk.
Contractur des rechten Kopfnickers (das rechte Ohrläppchen soll zuerst
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F. Beely.
umgeschlagen gewesen sein, die rechte Schulter lag stets dicht am Kopf); Kopf
und Gesicht as>Tnmetrisch, zusammengedrückt im Sinne des linken schrägen
Durchmessers.
Grosser Querdurchmesser 11,50 cm, Längsdurchmesser (Stirn-Hinterhaupt)
13,0 cm, rechter schräger Durchmesser 14,0 cm, linker schräger Durchmesser,
12,75 cm. Umfang 41 cm.
Therapie: Pappcravatte, manuelles Redressement, Rückenlage mit tief¬
liegendem Kopf.
18. Juni 1891. Hals gebessert, dagegen ist der Mutter aufgefallen, dass
beim Sitzen der Rücken des Kindes asymmetrisch ist. Es w'ird linksconvexe
Cervical-, rechtsconvexe Dorsolumbal-Skoliose constatirt.
12. Gertrud M. — 21. Juli 1891. 7 Wochen. Erstes Kind. Geburt
langdauernd, aber ohne Kunsthilfe.
B e f u n d: Contractur des linken Stemocleidomastoideus; Skoliosis dorsalis
dextro-convexa. Gesicht und Kopf asymmetrisch.
Schräger linker Durchmesser .... 14,40 cm.
„ rechter „ .... 12.80 „
Gerader Durchmesser .14,00
Umfang . 43,00 „
Therapie: Pappcravatte, Rückenlage mit tiefliegendem Kopf.
13. Otto E. — geboren 22. Dezember 1888. Sechstes Kind, Entbindung
leicht. Als Patient etwa Jahr alt war, bemerkte die Mutter, dass der Rücken
des Kindes asymmetrisch sei. Bei der von mir vorgenommenen Untersuchung
fand ich eine linksconvexe Dorsolumbal-Skoliose mässigen Grades und nicht
unbeträchtliche Asymmetrie des Gesichts und Koj^fs. Durch täglich wieder¬
holtes manuelles Redressement wurde die Skoliose bis auf kaum bemerkbare
Spuren beseitigt, auch die Asymmetrie des Kopfes sollte nach der Ansicht der
Mutter abgenomraen haben, eine am 8. April 1892 vorgenommene Messung
constatirte jedoch noch eine bedeutende Differenz der schrägen Durchmesser.
Rechter schräger Durchmesser 15,5 cm, linker schräger Durchmesser 17,25 cm.
Weitere Nachfragen ergaben, das.s von 8 Kindern, deren Geburt stets
leicht erfolgt war, fünf normale Kopfformen hatten, drei (darunter der Patient)
asjrmm et rische Köi^fe. Bei allen drei w^ar stets der rechte schräge Durchmesser
der kürzere. Die beiden anderen waren:
14. Heinrich E. — 10 Wochen alt, achtes Kind; Kopf und Gesichts¬
asymmetrie. Rechter schräger Durchmesser 11,5 cm, linker schräger Durch¬
messer 18.5 cm, Längsdurchmesser der rechten Ohrmuschel 4,75 cm, der
linken 4,5 cm.
15. Fritz E. — 6 Jahre. Viertes Kind, Kopf-und Gesichts-Asymmetrie:
rechter schräger Durchmesser 16,5 cm, linker 17,25 cm. (Der Vater glaubte
die eigenthümliche Kopfform dadurch erklären zu können, dass die Kinder in
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Skoliosis capitis — caput obliquum.
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der ersten Zeit nach der Geburt den Kopf im Bett stets so drehten, dass
derselbe auf der flachen Hinterhauptshälfte lag.
16. Günther G. — 24. Oktober 1890. 1 Jahr. Zangengeburt. Als
Patient % Jahr alt war und zu sitzen anfing, bemerkte die Mutter, dass der
Rücken des Kindes asymmetrisch sei.
Befund: Rechtsconvexe Dorsal-Skoliose, Rotation erheblich, durch
Händedruck nicht mehr auszugleichen.
Therapie: Filz-Stahl-Corset.
8. April 1892. Es wird Kopf- und Gesichtsasymmetrie constatirt. Rechter
schräger Durchmesser 16,0 cm, linker schräger Durchmesser 16,75 cm.
17. Leopold A. — 13. April 1892. Geboren am 17. April 1890,
drittes Kind, Entbindung leicht. Als Patient zu laufen anfing, bemerkten die
Eltern eine abnorme Stellung des linken Beins.
Befund: Kopf- und Gesichtsasymmetrie, letztere jedoch sehr gering;
rechter schräger Durchmesser 15,0 cm, linker schräger Durchmesser 16,0 cm.
— Hemia umbilicalis. Das reclite Bein lässt sich im Kniegelenk nicht voll¬
ständig strecken, nicht durchdrücken, links Genu valgum. Längsachse des
Ober- und Unterschenkels bilden einen Winkel von ungefiihr 1.50 Es fehlt
jedoch die bei Genu valgum sonst gewöhnliche Hyperextensionsstellung. Zeichen
von Rhachitis an den Extremitäten in der Nähe der Gelenke und an den
Rippen.
Diesen Krankengeschichten mögen noch einige hinzugefügt
werden, die zwar streng genommen nicht hierher gehören, die aber
doch einiges Interesse beanspruchen mit Rücksicht auf die Frage
nach dem Zusammenhang zwischen Scoliosis capitis und Torticollis.
18. Elisabeth S. — 29. Juni 1887. 11 Wochen. Geburt langdauemd,
Abend bis Nachmittag, aber ohne Kunsthilfe. Das eine Auge soll etwas gedrückt
gewesen sein, da Kopf und Hand zusammenlagen. Seit Patientin aufgerichtet
wird, wird Schiefhaltung des Kopfes bemerkt.
Befund: Caput obstipum; Contractur des rechten Sternocleido-
mastoideus.
Therapie. Täglich mehrmals wiederholte Dehnung des verkürzten
Kopfnickers durch Zug am Kopf.
10. März 1892. Patientin trägt den Kopf gern noch etwas nach rechts
geneigt. Keine messbare Asymmetrie des Kopfes, an dem die Tubera parietalia
stark vorapringen. Gesicht in kaum bemerkbarem Grade asymmetrisch; die
Verbindungslinien der Augen- und Mundwinkel convergiren nach rechts, eine
messbare Differenz der Entfernungen zwischen Mundwinkel und äusserem
Augenwinkel ist jedoch nicht vorhanden. Die Medianlinie des Gesichts er¬
scheint in kaum bemerkbarem Grade nach links convex.
19. Margarethe W. — 31. August 1888. 12 Jahre. Als Patientin
2 V 4 Jahre alt war, fiel sie auf ebener Erde hin ohne sich erhebliche Ver-
Zeitechrift für orthopädische Ghirargie. II. Band. 4
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F. Beely.
letzungen zuzuziehen. Nach dem Fall waren die rechten Extremitäten gelähmt;
ob Facialialähmung bestanden, ist nicht zu ermitteln. Unter entsprechender
Behandlung verlor sich die Lähmung an der unteren Extremität bald, an der
oberen bestand sie längere Zeit.
Befund: An den Extremitäten lassen sich nur noch geringe Unterschiede
nachweisen. Kopf etwas nach rechts geneigt, das rechte Ohr steht etwas
weiter nach hinten, als das linke. Der rechte Stemocleidomastoideus, und
zwar die Stemalportion, ist contrahirt; Carotidenpuls beiderseits fühlbar; rechts¬
convexe hohe Dorsal-, geringe linksconvexe corapensatorische Lumbal-SkoUose.
Unterkiefer auffallend klein; seine Schneidezähne 1,0 cm hinter denen
des Oberkiefers. Der harte Gaumen vorn hoch gewölbt; Oberkiefer schmal,
Nasenlöcher etwas klein. Septum narium etwas unregelmässig; der untere
Rand des knoi-peligen Theils überschreitet die Mittellinie nach links.
Der Raum zwischen den beiden mittleren oberen Schneidezähnen ent¬
spricht demjenigen zwischen dem 1 . und 2. linken unteren, so dass der Unter¬
kiefer nach rechts verzogen erscheint. Die Mittellinie des Gesichts bildet einen
nach rechts convexen Bogen, jedoch nur im unteren Drittheil; somit scheint
dieser Eindruck hauptsächlich durch die Verschiebung des Unterkiefers bedingt
zu sein. Verdeckt man die untere Hälfte des Gesichts incl. Nasenspitze, so
überschreitet — auch für das Augenmaass — die Asymmetrie des Gesichts nicht
die physiologischen Grenzen. Der Schädel zeigt keine für das Gefühl nach¬
weisbare Asymmetrie, noch weniger ist eine solche durch Messungen zu er¬
mitteln.
Entfernung vom Kinn zum Angulus niandibulae links: 7,25 rechts 7,0 cm.
, von der Incisur zum äusseren Augen¬
winkel .„ 7,20 , 7,20 ,
, vom Antitragus zum äusseren Augen¬
winkel .„ 7,00 , 7,00 ,
(Aus Dr. Krummachers Dissertation.)
20. Bertha Th. — 12. Februar 1889. 15 Jahre. Zangengeburt, Caput
obstipum, einige Wochen nach der Geburt bemerkt. Contractur des linken
Stemocleidomastoideus; im sechsten Jahr wmrde Patientin operirt.
Befund: Keine messbare Asymmetrie des Gesichts, kaum bemerkbare
Asymmetrie des Schädels. Hinterkopf etwas stark vortretend. Linker Steraocleido-
mastoideus verkürzt, das Gesicht steht noch schief. Rumpf auf dem Becken
nach links verschoben, linksconvexe Total-Skoliose, massige Rotation. Linke
untere Extremität c. 2,0 cm. kürzer.
Therapie: Subcutane Durchtrennung des linken Kopfnickers, Papp-
cravatte, Corset, Suspension.
Die hier angeführten Krankengeschichten sind zwar sehr lücken¬
haft, trotzdem ich sie, so weit es mir möglich war, noch nachträglich
ergänzt habe, sie können keinen Anspruch auf Vollständigkeit machen,
es sind Bemerkungen, wie man sie in der Eile während der Sprech¬
stunden hinwirft, nicht mit der Absicht einer späteren wissenschaft-
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Skoliosis capitis — caput obliquum.
51
liehen Verwerthung oder Veröffentlichung, sondern nur, um für den
Fall, dass der Patient wieder einmal vorgestellt werden sollte, sich
das hauptsächlichste Ergebniss der ersten Untersuchung in das Ge-
dächtniss zurückrufen zu können. Trotzdem, glaube ich, genügen
sie, um etwas Licht auf einige bisher noch nicht aufgeklärte Punkte
zu werfen und vielleicht auch, um in mancher Hinsicht zu weiterer
Forschung anzuregen.
Man wird wohl kaum einem Widerspruch begegnen, wenn
man die oben angeführten Fälle von Skoliosis capitis (Caput obliquum,
Schiefkopf) — Fall 1 bis 17 — zu den secundär angeborenen
Deformitäten zählt, die man auch als intrauterine Belastungs¬
deformitäten bezeichnet hat. Wie gerade die Skoliosis capitis
zu Stande kommen mag, darüber lassen sich einstweilen nur Hypo¬
thesen aufstellen, einen Fingerzeig gibt vielleicht der Umstand, dass
die Eltern der Kinder mitunter ohne besondere Nachfrage darauf
aufmerksam machten, dass die eine Schulter hochgezogen erschien,
Schulter und Kopf oder Arm und Kopf in der ersten Zeit nach der
Geburt immer zusammenlagen, der Kopf des Kindes im Bett stets
Neigung hatte sich zu drehen — Fall 1, 10, 11 und 12 — so dass
man darauf hingeführt wird, anzunehmen, es sei die Deformität so
entstanden, dass der nach einer Seite gedrehte Kopf zwischen Schulter
(oder Arm) einerseits und Uteruswand andererseits im Sinne des
einen schrägen Durchmessers zusammengedrückt wurde. Vielleicht
kann der Druck der Uteruswand noch unterstützt und beeinflusst
worden sein durch die Becken Wandung, wie Hoffa annimmt, oder
durch die Leber , wie Schmidt (Centralbl. f. Chir. Nr. 30 S. 570.
1890) glaubt, der im Uebrigen die von ihm beschriebene Deformität
in dieser Weise erklärt.
Auch Petersen („Ueber den angeborenen musculären Schief¬
hals.“ Zeitschr. f. orthop. Chir. Heft I, S. 113) erwähnt ausdrücklich
bei der Beschreibung eines Falles: „Vor dem rechten Ohr in der
Speicheldrüsengegend eine Vertiefung, die sich über den Kieferwinkel
nach dem Halse zu erstreckte. In diese Vertiefung passte die
rechte Schulter genau hinein. Durch die Schulter waren die Weich-
theile etwas nach vorn gedrängt, so dass die rechte Backe etwas
hervortrat, dicker war als die hnke.“
Mit dieser Annahme steht auch der Umstand in Einklang, dass
das Caput obhquum sich so oft zusammenfindet mit anderen intra¬
uterinen Belastungsdeformitäten: Unter 17 Fällen
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52
F. Beely.
mit Torticollis siebenmal, und zwar mit nachweisbarer
Contractur des Sternocleidomastoideus 4 mal (Fall 1, 10, 11, 12;
in Fall 11 ausserdem mit Teleangiektasien);
ohne (zur Zeit der Untersuchung) nachweisbare Contractur des
Kopfnickers dreimal (Fall 2, 4, 5); — Fall 7 muss ausgeschieden
werden, da es nicht sicher ist, wie weit das Caput obstipum von der
Spondylitis und den Abscedirungen beeinflusst wurde —;
mit Pes-varo-equinus zweimal (Fall 3 und 8); — in Fall 8
ausserdem mit Facialisparese und Extensions- oder Flexionscontrac-
turen fast sämmtlicher Gelenke der Extremitäten sowie Hemia scro-
talis —;
mit Genu valgum sin. und geringer Flexionscontractur des
rechten Kniegelenks einmal (Fall 17);
mit geringer Bewegungsstörung der linken unteren Ex¬
tremität, besonders des Kniegelenks einmal (Fall 2);
mit PronationsStellung des linken Arms und Lähmung der
Oberarm- und Schultermusculatur einmal (Fall 9);
mit ungleicher Grösse der Ohren zweimal (Fall 1 und 14);
mit halbseitiger Deformität des Thorax einmal (Fall 6, wo¬
bei es aber zweifelhaft ist, ob diese Deformität angeboren);
mit Skoliose siebenmal (Fall 1, Pat. 1^2 Jahr, Fall 4, Pat.
1 Jahr, Fall 5, Pat. 4 Jahr, Fall 10, Pat. 5 Monate, Fall 11, Pat.
^4 Jahr, Fall 13, Pat. Jahr, Fall 16, Pat. ^/4 Jahr; Fall 7, bei
dem auch Skoliose vorhanden ist, kann der Spondylitis wegen nicht
mitgezählt werden).
Hier wird man einwenden können, dass es sich um extrauterine,
im Anschluss an das Caput obstipum entstandene Skoliosen handeln
kann, und ich muss dies für einzelne Fälle, z. B. 5, wo Patient
4 Jahre alt war, als er zur Untersuchung kam, ohne weiteres zu¬
geben, bei den übrigen möchte ich aber die intrauterine Entstehung
der Skoliose für sehr wahrscheinlich, bei einigen, z. B. Fall 13
und 16, für ziemlich sicher halten, da hier die Skoliosen sehr früh
bemerkt wurden, z. B. sobald die Kinder anfingen zu sitzen und
ausserdem in Fall 13 und 16 gar kein Torticollis vorhanden war.
Ganz ohne Complication ist eigentlich nur ein Fall (15), bei
6 und 7 ist es ungewiss, ob es sich um angeborene Complicationen
handelt, ebenso, wie bereits erwähnt, bei einigen Fällen von
Skoliose.
Hieraus aber ein procentualisches Verhältniss berechnen zu
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Skoliosis capitis — caput obliquum.
53
wollen, wäre sicher falsch, ganz abgesehen davon, dass die geringe
Anzahl der Fälle dieses schon verbietet, denn es wurden mir die
Patienten von ihren Eltern fast immer nur anderer Leiden wegen
zugeführt, die Skoliosis capitis war denselben entweder überhaupt
entgangen oder hatte doch nicht den Wunsch in ihnen rege gemacht,
therapeutisch dagegen Vorgehen zu lassen. Man wird aber anderer¬
seits kaum fehlgehen, wenn man annimmt, dass sie eine relativ
häufige, vielleicht die häufigste Complication anderer intrauteriner
Belastungsdeformitäten ist und vielleicht die häufigste intrauterine
Belastungsdeformität überhaupt.
Es erscheint dies auch leicht erklärlich, da der Kopf, der umfang¬
reichste und am wenigsten elastisch nachgiebige Theil des kindlichen
Körpers, am leichtesten und ehesten die Spuren intrauteriner, durch
Raummangel bedingter Belastung zeigen muss, es werden aber wahr¬
scheinlich die Folgen der intrauterinen Belastung sich nicht immer
in der oben beschriebenen Form des Caput obliquum äussern, sie
können wohl ebenso gut auch als vollkommen symmetrische Kopfbil¬
dungen auftreten, z. B. als stark ausgeprägte brachycephale oder
dolichocephale Formen.
Von den 17 oben angeführten Fällen betrafen 14 Kinder männ¬
lichen, 3 Kinder weiblichen Geschlechts; das männliche Geschlecht
scheint also bedeutend zu überwiegen, ein Resultat, das bei einer
durch Raummangel bedingten Belastungsdeformität von vornherein
zu erwarten ist.
Zweimal ist bemerkt, dass die Mutter Erstgebärende war, in
8 Fällen war sie Mehrgebärende (Fall 14 das 8. Kind), keine dies¬
bezügliche Bemerkung findet sich in 7 Fällen. Bei 8 Kindern der¬
selben Mutter hatten 3 (Knaben) Caput obliquum, die übrigen 5
(2 Knaben und 3 Mädchen) normale Kopfform.
Die Entbindungen wurden als schwer, langdauemd oder in
irgend einer Beziehung abnorm angegeben in 8 Fällen, darunter sind
zwei Beckenendlagen (Fall 1 und 11), drei Zangengeburten (Fall 4, 9
und 16), als leicht und normal in 7 Fällen, in 3 fehlen bezüg¬
liche Angaben.
Eine gegen die Skoliosis capitis gerichtete Therapie ist in
keinem Falle eingeleitet worden, was die Prognose anbelangt, so
findet man hierüber bei den verschiedenen Autoren direct wider¬
sprechende Angaben. Bei den meisten und auch bei Hoffa können
wir lesen, „dass nach Wiederherstellung des Gleichgewichts des Schädels
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F. Beely.
durch unsere Therapie die Schädelasymmetrie wieder rückgängig ge¬
macht werden kann.“ Dagegen nennt Spiegelberg (a. a. 0.) die
Asymmetrie eine „bleibende“, wenn er auch über seine Beobachtungszeit
keine näheren Angaben macht, und nach Golding-Bird’s Erfah¬
rungen (Congenital Wry Neck. Guy’s Hosp. Rep. 1890. XLVII.
Centralbl. für Chir. Nr. 47 S. 915. 1891) wird trotz erfolgreicher
Operation die Gesichtsatrophie selbst nach vielen Jahren nicht rück¬
gängig. Ich selbst habe in keinem Fall ein völliges Verschwinden
oder auch nur eine erhebliche messbare Abnahme der Deformität
nachweisen können, und selbst wo die Eltern glaubten, dass der
Kopf vollkommen symmetrisch geworden sei oder die Deformität
erheblich geringer, habe ich mich leicht von dem Irrthum der Eltern
überzeugen können. Nun erstrecken sich meine Beobachtungen
allerdings nicht über eine sehr lange Reihe von Jahren und über
eine grosse Zahl von Fällen, und ich will keineswegs behaupten, dass
eine Abnahme unmöglich sei; in Bezug auf die Weichtheile des
Gesichts ist sie mir sogar wahrscheinlich, und eine relative Ab¬
nahme, auch in Bezug auf das Kopfskelet, aber zum mindesten glaube
ich behaupten zu dürfen, dass sie so schnell, wie man allgemein
annimmt, nicht erfolgt. — Um hierüber Klarheit zu erlangen, bedarf
es jedenfalls noch genauer langandauernder Beobachtungen. Wer
die Skoliosis capitis als Folgeerscheinung der Contractur des Kopf¬
nickers auffasst, mag er das Zustandekommen derselben erklären wie
er will, wird leicht dazu verführt, eine allmähliche Abnahme oder
ein vollständiges Verschwinden dieser secundären Symptome anzu¬
nehmen, sobald die primäre Ursache gehoben wird.
Auffallend ist die Beobachtung von M. Schmid (Centralbl. f.
Chir. Nr. 30 S. 570. 1890), bei dessen Patientin nach 7 Monaten
nicht nur die schiefe Stellung des Kopfes ganz verschwunden, sondern
auch von der erheblichen Vertiefung im Kopfskelet keine Spur mehr
zu bemerken war.
Unter allen Complicationen der Skoliosis capitis interessirt am
meisten die mit Torticollis. Ich will hier vorweg bemerken, dass ich
die Ansicht Petersen's über die intrauterine Entstehung der Ver¬
kürzung des Sternocleidomastoideus wenigstens für die meisten
Fälle für die wahrscheinlichste halte, und ich glaube, dass auch die
von mir angeführten Fälle Material zur Unterstützung dieser Ansicht
enthalten, ich beabsichtige jedoch, nicht auf diesen Punkt hier näher
einzugehen. Unter 10 Fällen (Fall 7 als unsicher ausgeschieden)
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Skoliosis capitis — caput obliquum.
55
ist TorticoUis siebenmal vorhanden; viermal, und zwar dreimal links,
einmal rechts, mit Contractur des Kopfnickers, dreimal ohne (zur
Zeit der Untersuchung) nachweisbare Contractur.
Ich hebe hervor, zur Zeit der Untersuchung nicht nachweis¬
baren Contractur, denn es wäre ja möglich, dass ein geringer Grad
von Verkürzung bei der Geburt vorhanden gewesen ist, sich nachher
aber wieder ausgeglichen hat. Dagegen ist bei 9 Fällen keine Spur
von TorticoUis trotz ausgesprochener Skoliosis capitis vorhanden.
Ich glaube, dass diese Fälle, unter denen sich 15 neu hinzu¬
gekommene befinden, zur Unterstützung der Ansicht dienen können,
zu der Krummacher in seiner Dissertation gekommen ist: „dass
ein Theil der bis jetzt als ,secundär‘ betrachteten Symptome des
Caput obstipum cong. in Wirklichkeit primär, d. h. durch dieselbe
Ursache wie das Caput obstipum selber, bedingt sind; hierzu würden in
erster Linie zu rechnen sein die Asymmetrie am Himschädel, während
für die Verhältnisse am Gesichtsschädel eingehendere Untersuchungen
abgewartet werden müssen.“ Hierfür spricht u. A. auch der Umstand,
dass das Caput obliquum fast unverändert bestehen bleibt, wenn
auch das Caput obstipum schon Jahre lang beseitigt ist. Es ist
dies übrigens eine Ansicht, zu der auch M. Schmidt auf Grund
seiner Beobachtung ganz unabhängig von Krummacher ge¬
kommen.
Umgekehrt aber darf man nun nicht etwa schliessen, dass bei
congenitaler Contractur des Sternocleidomastoideus jedesmal auch
Skoliosis capitis vorhanden sein muss. Fall 18 spricht dagegen.
Ich habe diesen Fall jetzt wieder untersucht, weil ich glaubte, ich
könnte vielleicht bei der ersten Untersuchung etwas übersehen haben,
und habe mich wieder vergewissert, dass keine messbare Asymmetrie
des Kopfes vorhanden ist, nur eine leichte Asymmetrie des Gesichts.
Hoffa scheint mir daher zu weit zu gehen, wenn er als Criterium
des congenitalen TorticoUis unbedingt Skoliosis capitis verlangt,
d. h. Asymmetrie des Hirnschädels.
Dass man selbst nach Jahre lang bestehendem Caput obstipum
einen voUständig symmetrischen Hirnschädel finden kann, beweisen
FaU 19 und 20, von denen der erste ein 12jähriges Mädchen mit para¬
lytischem, der zweite ein 15jähriges' mit congenitalem TorticoUis
betrifft.
HinsichtUcb der Therapie und Prognose des congenitalen Torti-
collis scheint es mir nicht unwesentlich, darauf hinzuweisen, dass
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F. Beely.
mit Ausnahme von einem Fall (Fall 19, 15jähriges Mädchen) nie zur
Myotomie geschritten zu werden brauchte. Die Behandlung bestand
in sanftem Streichen und Dehnen des verkürzten Kopfnickers durch
Zug am Kopf und Gegenzug an der Schulter der kranken Seite,
täglich einigemal von den Eltern wiederholt, entweder allein oder in
Verbindung mit einer Pappcravatte und in einzelnen Fällen mit
Rückenlage bei tief liegendem Kopf, so dass das Gewicht des Kopfes
andauernd etwas extendirt. In allen Fällen, die ich wiedergesehen
habe, konnte Heilung oder wenigstens bedeutende Besserung mit
Aussicht auf sichere Heilung festgestellt werden. Nun ist es ja be¬
kannt, dass leichte Fälle von Torticollis spontan heilen können,
andere wieder der Therapie sehr hartnäckigen Widerstand leisten,
in den von mir beobachteten Fällen schien der Grad der Verkürzung
nur insofern einen Einfluss auf die Therapie auszuüben als die Deh¬
nung bei stärkerer Verkürzung etwas mehr Zeit in Anspruch nahm.
Auch M. Schmidt war überrascht, als er nach 7 Monaten
seine Patientin wiedersah und die versprochene Myotomie überflüssig
fand. Mir war es zuerst ebenso ergangen. Ich würde dies nicht
besonders hervorheben, da wahrscheinlich auch andere dieselbe Er¬
fahrung gemacht haben, wenn nicht Hoffa in seinem Lehrbuch
S. 212 sagte: „Bekommen wir die Kinder mit musculärem Schief hals
bald nach der Geburt in Behandlung, so massiren wir die kranke
Halsseite vorsichtig und redressiren die Deformität täglich mehrere
Male. Die Eltern werden in diesen Maassnahmen instruirt und führen
sie später selbst aus. Wir lagern dabei das Kind in einem Phelps-
schen Stehbett, indem wir den Kopf mit einer Glisson’schen Schlinge
in der Weise extendiren, dass wir durch seitliches Einhängen des
Bügels den Kopf in seiner richtigen oder auch wohl etwas über-
corrigirten Haltung fixiren und gleichzeitig die Schulter der kranken
Seite durch einen Bindestreifen nach abwärts ziehen. Eine 4 bis
6 Wochen lang in dieser Weise fortgesetzte Behandlung hat uns
ausnahmslos jede Deformität beseitigen lassen.“ Das ist gewiss richtig,
aber das Phelps*sche Stehbett scheint doch in vielen Fällen nicht
absolut nothwendig zu sein, eine Pappcravatte ist einfacher, und selbst
diese ist, wie M. Schmidts Fall zeigt, mitunter zu entbehren. Den
einfachsten Weg für jeden Fall zu bestimmen, darin besteht die
Kunst des Arztes.
Woher mag es aber kommen, dass in manchen Fällen so wenig
zur Heilung erforderlich ist, während in anderen ausgedehnte Durch-
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Skoliosia capitis — Caput obliquum.
57
trennung der Muskeln absolut nothwendig erscheint? Der Zeitpunkt
allein, in dem die Kinder zur Behandlung kommen, kann doch kaum
der Grund sein. Ich glaube folgende Annahme ist vielleicht nicht
ohne innere Wahrscheinlichkeit: In den meisten der von mir be¬
obachteten Fälle war die Entbindung ohne Kunsthilfe erfolgt, in
keinem habe ich ein Hämatom des Kopfnickers nachweisen können,
auch M. Schmidt nicht in seinem Fall, der in dieser Hinsicht viel
einwandfreier ist als meine Fälle. Ein Hämatom setzt immer eine
sehr starke Dehnung des Muskels voraus, und in vielen Fällen wird
diese starke Dehnung zugleich auch eine langdauemde, mitunter
vielleicht Stunden lang anhaltende sein. Nun ist der Kopfnicker,
wie sonst kaum ein anderer Muskel, in seinem ganzen Verlauf von
einer festen, fibrösen Scheide umgeben, und seine Dehnung wird
daher eine starke Compression der Muskelsubstanz und diese Com-
pression Ischämie zur Folge haben. Er befindet sich also unter
ähnlichen Verhältnissen wie die Muskeln einer Extremität bei einem
zu fest angelegten circularen Verband. Zwar nicht für sehr lange
Zeit, aber vielleicht doch hinreichend lange, um degenerative secundäre
Processe zur Folge zu haben, die einen grösseren oder geringeren
Theil der Muskelfibrillen zu vernichten im Stande sind. Es würde
sich also in einer Anzahl von Fällen, und dieses würden die schwer
zu heilenden sein, nicht nur um eine angeborene Verkürzung des
Kopfnickers sondern auch um eine ischämische Contractur (Leser)
handeln, während in einem anderen Theil, der, wie wir gesehen, bei
sehr einfachen Mitteln oder auch spontan zur Heilung kommt, nur
die angeborene Verkürzung des sonst normalen Muskels vorliegt.
Je schwerer und langsamer die Entbindung erfolgt, und be¬
sonders wenn Kunsthilfe dabei nothwendig ist, desto eher wird man
eine Complication durch ischämische Contractur erwarten dürfen, je
leichter die Entbindung, je weniger der verkürzte Kopfnicker dabei
andauernder Dehnung ausgesetzt ist, desto leichter wird später der
Torticollis zu beseitigen sein.
Fassen wir zum Schluss das Ergebniss dieser Betrachtung noch
einmal kurz zusammen, so haben wir in dem Caput obliquum eine
wohl charakterisirte secundär angeborene Belastungsdeformität des
Gehirn- und Gesichtsschädels, die sich häufig vereinigt findet mit
anderen Deformitäten derselben Gattung, mit Torticollis, Skoliose,
Pes varo-equinus, Genu valgum etc., die aber auch allein vorkommt,
die häufiger bei Kindern männlichen als weiblichen Geschlecht« be-
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58
F. Beely. Skoliosis capitis — Caput obliquum.
obachtet wird, die an sich wohl nie Gegenstand ärztlicher Behand¬
lung werden dürfte und insofern für den Arzt nur geringes Interesse
hat, die nur wenig Neigung zu spontaner Heilung zeigt, deren Kennt-
niss aber nicht ganz ohne Werth ist, da ihr Vorhandensein unter
Umständen bei der Entscheidung ins Gewicht fallen kann, ob eine
Deformität als secundär angeborene Belastungsdeformität aufzufassen
ist oder nicht.
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IV.
Mittheilnngen aus dem orthopädischen Institute von
Dt. A. Lüning und Dr. W. Schulthess, Privat-
docenten in Zürich.
V.
Ueber eine bisher nicht beobachtete Form von partieilem
Radiusdefect.
Von
Oskar Schmid, prakt. Arzt.
Mit 9 in den Text gedruckten Abbildungen.
Unter den congenitalen Defecten und Missbildungen der Knochen
sind eine Anzahl Radiusdefecte beschrieben. Alle diese Beschreibungen
lehren, dass der totale Radiusdefect ein mehr oder weniger typisches
Bild zeigt. Abgesehen von angeborenen Missbildungen anderer Theile
des Körpers, welche in den meisten Fällen den Radiusdefect begleiten,
finden wir immer den Humerus, die Ulna, das Handgelenk, die Hand
der betreffenden oberen Extremität von der Norm abweichend. Der
Humerus ist gewöhnlich verkürzt, ebenso die Ulna, welche in der
Regel noch verkrümmt ist. Die Handwurzelknochen sind nicht voll¬
zählig vorhanden, oder sind auch unter sich verwachsen. Die Hand
steht in sogen. Kluraphandstellung. Gew’öhnlich fehlen ein oder
mehrere Finger, fast regelmässig der Daumen. — Die Flexion im
Ellenbogengelenk ist meistens beschränkt, ebenso die Bewegungen
im Handgelenk.
Bis jetzt sind in der Literatur, wie ich in der hiesigen Biblio¬
thek gefunden habe, nur 6 Fälle mit partiellem Radiusdefect be-
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60
Oskar Schmid.
schrieben. In 5 derselben war auf der einen Seite totaler, auf der
anderen partieller Defect. Und in allen 6 Fällen handelt es sich um
das Fehlen des unteren Theiles des Radius.
Mit totalem Defect habe ich 45 Fälle finden können.
Nur 3 Fälle (Gruber, Ehrlich und Geissendörfer) in
der ganzen Literatur zeigen neben Radiusdefect 5 wohlgebildete
Finger. Kein einziger wurde mir bekannt, bei dem die Hand nicht
mehr oder weniger in Klumphandstellung steht.
Durch die Güte des Herrn Dr. W. Schulthess bin ich in
der Lage, über 2 Fälle \) von partiellem Radiusdefect referiren zu
können, zu denen ich in der Literatur kein Analogon gefunden habe.
Der Defect in unseren beiden Fällen sitzt nämlich im oberen
Theile des Radius, während das vorhandene Stück eine Strecke weit
mit der Ulna verwachsen, trotzdem aber deutlich von dieser zu unter¬
scheiden ist. Beide haben 5 wohlausgebildete Finger und bei einem
wie beim andern kann die Hand in Ausbildung und Stellung als
normal bezeichnet werden.
Die eben genannten Eigenschaften finden sich nicht bei den
schon beschriebenen Fällen von partiellem Radiusdefect, wir glauben
deshalb, dass die nähere Beschreibung derselben für die Kenntniss
der in Frage stehenden Missbildung ein Interesse habe. Der Be¬
schreibung schicken wir eine kurze Uebersicht der Literatur voraus.
Ein gutes Literaturverzeichnis bis 1865 hat Wenzel Gruber,
bis 1878 Herschel und bis 1890 Geissendörfer gegeben-).
Ferner citirt Burckhardt 5 in den obigen Verzeichnissen nicht
angegebene Fälle.
Da aber jedem dieser Autoren einige Fälle entgangen zu sein
scheinen, so sehe ich mich veranlasst, die Casuistik noch einmal
aufzuführen:
1. Petit (Memoires de Tacademie royale des Sciences 1733. Ausg.
1737, S. 137).
Beidseitiger Defect. Neugeborenes Kind. Sonst wohl¬
gebildet.
9 Der erste wurde von Schulthess selbst entdeckt, auf den zweiten
wurde er durch Herrn Dr. Fritz, Assistenten der medicinischen Universitäts-
Poliklinik aufmerksam gemacht.
') Siehe das folgende Literaturverzeichniss.
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üeber eine bisher nicht beobachtete Fonn von partiellem Radiusdefect. 61
2. Friderici (Monstrum humanum rarissimum Lipsiae 1737).
Beidseitiger Defect. Todter höchst monströser Fötus.
3. Wiede mann (lieber ein missgestaltetes Kind. Beiträge für die
Zergliederungskunst vonlsenflamm und Rosenmüller, 1800, B. I).
Rechtsseitiger Defect. Todtgeborenes Kind.
4. Fleischmann (Leichenöffnungen, Erlangen 1815, S. 259).
Beidseitiger Defect. 8monatiger Fötus. Mit noch ander¬
weitigen Missbildungen.
5. Meckel (Meckels Archiv für Anatomie und Philosophie. Be¬
schreibung einer merkwürdigen Missgeburt, 1826, S. 36).
Rechtsseitiger Defect mit Rudiment links. Reife weib¬
liche Früchte. Mit noch anderen Missbildungen.
6. Cruveilhier, resp. Monod et Cruveilhier (Bulletins de la soci^te
anatomique de Paris, ann. 3. 1828 und Anatomie pathologique
du corps humain, 1829 35, Tome I, Livraison 2).
Referirt in Guolt, Beiträge zur vergleichenden Anatomie der
Gelenkkrankheiten 1853, S. 353.
Linksseitiger Defect mit rechtsseitigem Rudiment.
Männlicher Fötus. Noch andere Missbildungen.
7. Manec (Bulletins de la societe anatomique de Paris, ann. 3. 1828).
Defect.
8. Ledibeider (Bulletins de la socit^te anatomique de Paris, ann.
10. 1835, S. 2, Nr. 6).
Rechtsseitiger Defect. Todtes, 60 Tage altes Kind. Fehlen
der linken Clavicula, Scapula und der linken Oberextremität.
9. Pustet et Giraldös (Bulletins de la soci^tä anatomique de Paris,
ann. 12. 1837, S. 167).
Beidseitiger Defect. Fötus von 6^2 Monaten. Klumphände.
Fehlen der Daumen und noch andere Missbildungen.
10. V. Wiebers (Nonnulla de prima formatione cohibita. Diss.-inaug.
Berlin 1838).
Rechtsseitiger Defect. Reife Frucht. Klumpfüsse.
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62
Oskar Schmid.
11—17. Otto (Monstrorum sescentorum descriptio anatomica, 1841^
Nr. 234—240).
1. (Nr. 234, Taf. XVI, Fig. 8 und 9).
Doppelseitiger Defect. Weiblicher Fötus; ungefähr aus
dem 7. Schwangerschaftsmonate. Noch anderweitige Missbildungen.
2. (Nr. 235, Taf. XVII, Fig. 1 und 2).
Doppelseitiger Defect. 8 Monate alter Knabe. Noch
andere Missbildungen.
3. (Nr. 236, Taf. XVI, Fig. 11 und 12).
Doppelseitiger Defect. Fast ausgetragener Knabe. Noch
andere Missbildungen.
4. (Nr. 237).
Linksseitiger Defect. Männlicher Fötus von 8 Monaten.
Contractur der rechten Hand und noch andere Missbildungen.
5. (Nr. 238).
Doppelseitiger Defect. Ausgetragener Knabe. Noch andere
Missbildungen.
6. (Nr. 239).
Doppelseitiger Defect. 8monatlicher männlicher Fötus.
Linker Daumen rudimentär. Noch andere Missbildungen.
7. (Nr. 240, Taf. XVII, Fig. 3).
Linksseitiger Defect. Männlicher Fötus von 7 Monaten.
Verkürzung der rechten oberen Extremität. Klumphand. Rudi¬
mentärer Daumen.
18—19. Davaine (Comptes rendus de la societe de biologie, 1850,
p. 39, Tome II).
1. Linksseitiger Defect. Fötus von 7 Monaten. Klumphand.
Fehlen des Daumens. Linker Humerus länger als der rechte. Linke
Ulna kürzer und voluminöser als die rechte. Noch anderweitige
Missbildungen.
2. Doppelseitiger Defect. Fötus von 7 Monaten. Klump¬
hände. Fehlen der Daumen. Die Ulna verdickt. Noch anderweitige
Missbildungen.
20. Roger et Honel (L’Union medicale, 1851, Nr. 140, referirt in
Gurlt, Beiträge zur vergleichenden Anatomie der Gelenkkrank¬
heiten, 1853, S. 351).
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Ueber eine bisher nicht beobachtete Form von partiellem Radiusdefect. 63
Doppelseitiger Defect. Reifes Kind. Klumphände, beider¬
seits fehlte der Daumen. Im übrigen fast ganz wohlgebildet.
21. Silvester (A contribution to the Science of teratology. Med.
Times and Gazette, 1857, S. 648).
Radiusmangel rechts. Links oben ist ein Rudiment des
Radius unter der Gestalt eines kleinen knorpeligen Knötchens vor¬
handen.
22. Förster (Die Missbildungen des Menschen nebst Atlas, Taf. XII,
Fig. 24 und 25).
Doppelseitiger Defect. Fötus von 8 Monaten. Noch andere
Missbildungen.
23. Wagner (Anatomische Untersuchung eines Monstrum pero-
brachium. Würzburger medic. Zeitschrift, B. III, 1862; referirt
von Burckhardt, Inaug.-Dissertation, Zürich 1890).
Doppelseitiger Defect. 7monatiger Fötus. Klumphand¬
stellung, rechts 2 Finger, links 1 Finger. Die Ulna unter der Mitte
wie infracturirt, etwa wie ein rhachitischer Knochen. Contractur in
beiden Ellenbogengelenken.
24. Voigt (Beitrag zur Casuistik des congenitalen Radiusdefectes.
WagneFs Archiv für Heilkunde, Jahrg. IV, 1863, B. 4, S. 26).
Linksseitiger Defect. Ausgetragener, bald nach der Geburt
gestorbener Knabe. Klumphände und Klumpfüsse. An der rechten
Hand nur verkümmerter, links ganz fehlender Daumen. Rechts
Luxation des Radius nach hinten, oben und aussen. Die Beweglich¬
keit im Elleubogengelenk beträgt nur etwa 50
Asymmetrische Bildung des Schädels und Gehirns. Rechte
Thoraxhälfte gewölbter als die linke. Die Ulna ist besonders in
ihrer oberen Hälfte stark verdickt. Dem Defect des Radius ent¬
sprechend fehlt die Cavitas sigmoidea. Cartilago triangularis fehlt
ganz. Links wie rechts fehlten Os naviculare und Os multangulum
majus, links der Metacarpus und die Phalangen des Daumens, wäh¬
rend diese rechts rudimentär vorhanden waren.
An den Seitensträngen des Rückenmarks fand sich rechts zellige
Erweichung. Beiderseits waren Art. radialis und N. radialis nur
mangelhaft entwickelt.
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64
Oskar Schmid.
25. Stricker (Virchow*s Archiv, B. 31, 1864).
Doppelseitiger Defect. 16 Wochen altes Mädchen. Obere
Extremitäten verkürzt. Hände in Klumphandstellung. Daumen fehlt
beiderseits. Die übrigen Finger verhältnissmässig lang.
26. Gruber (lieber congenitalen Radiusmangel. Virchow's Archiv,
1865, B. 32, S. 211).
Beidseitiger Defect. 35 Tage altes Mädchen. Klumphände,
sonst keine Missbildungen, ausgenommen Hufeisenniere. 5 wohl¬
gebildete Finger. Extension, besonders aber die Flexion im EUen-
bogengelenk beschränkt. Die Ulna ist in ihrem oberen Ende
unverhältnissmässig dick, verjüngt sich nach unten. Das untere Ende
ist stumpf, kegelförmig und articulirt mit dem Os lunatum und tri-
quetrura. Meniscus vorhanden, welcher sich anheftet an den Proc.
styloides und an dem Knorpel für das Os lunatum. Nur Os naviculare
fehlt. Alle Metacarpusknochen vorhanden.
27. Swaagmann (Virchow*s Archiv, B. 33, 1865).
Totaler rechtsseitiger Defect, links Radiusrudiment.
E^umphände. Der Daumen fehlt auf beiden Seiten. Neugeborenes
Kind.
28—29. Dornseiff (Zur Aetiologie der congenitalen Luxationen des
Hand- und Fussgelenkes. Diss. inaug.. Giessen 1866).
1. Rechtsseitiger Defect und linksseitiges Rudiment.
Fast ausgetragener Fötus. Keine Abnormität angegeben. Rechts
fehlt der Daumen, links ist derselbe rudimentär.
2. Doppelseitiger Defect. Mit angeborener Luxation fast
aller grösseren Gelenke.
30. Larrey (Phocom^lie thoracique unilaterale gauche. Gazette des
Hopitaux, 1870, Nr. 92; referirt in Canstatt's Jahresbericht für
1870, B. I, S. 297).
Beidseitiger Defect. 25 Jahre alter Mann. Wirbelsäule und
linker Thorax verschoben. Linke Mandibula in der Entwickelung
zurückgeblieben. Fehlen des Daumens.
31. Cal es (Transactions of the pathologic Society of London, XX,
S. 417).
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üeber eine bisher nicht beobachtete Form von partiellem Radiusdefect. 65
Rechtsseitiger Defect. 20 Jahre altes Individuum. Linke
Scapula rudimentär. Fehlen des rechten und linken Daumens, linker
Vorderam stark verkürzt. Contractur der Finger.
32—33. Schnelle (üeber angeborenen Defect von Radius und Ulna.
Diss. inaug., Göttingen 1875).
1. Rechtsseitiger Defect. 21jähriges Mädchen. Die Hand
steht in Radialflexion und der Daumen fehlt. Keine Abnormitäten.
2. Linksseitiger Defect. Smonatlicher weiblicher Fötus.
Winkelstellung der Hand und Fehlen des Daumens. Daneben doppel¬
seitige Hasenscharte und Wolfsrachen.
34. Kaczander (üeber angeborenen Radiusmangel. Virchow’s
Archiv, B. 71, J. 1877, S. 409).
Linksseitiger Defect. Fast reifer, todtgeborener Knabe.
Hand in Winkelstellung und Fehlen des Daumens. Verkürzung des
Vorderarms. Mangelhafte Beweglichkeit im Ellenbogengelenk. Hasen¬
scharte und Defect im Septum ventriculorum. Fehlen des rechten
Daumens.
35. Herschel (Beitrag zur Casuistik und Theorie des congenitalen
Radiusdefectes. Diss. inaug., Kiel 1878).
Rechtsseitiger Radiusdefect. 12 Jahre altes Kind. Torsions¬
krümmung der Hand, so dass die dorsale Fläche radialwärts, die
volare ulnarwärts schaut. Klumphand. Daumen fehlt. Active Flexion
und Extension im Ellenbogengelenk möglich, im Handgelenk be¬
schränkt, besonders die Extension. Bewegungen der Finger treten
nur in beschränktem Maasse ein. Die Gebrauchsfähigkeit der Hand
beschränkt sich auf das Halten von Gegenständen. Die rechte Ober¬
extremität ist weniger entwickelt als die linke. Ulna rechts stark
verkürzt. Art. radialis nicht deutlich nachweisbar.
Rechtsseitige Hasenscharte. Caput obstipum sinistrum. Ueber-
greifen der Sclera auf die Cornea des linken Auges. Kleine Haut-
excrescenzen vor dem linken Tragus.
36. Nicolaysen (Schmidt's Jahrbücher, p. 122, 1882, B. 196. —
Norsk. Mag., 3. R., XII, 4, 1879; referirt von Burkhardt).
Beidseitiger Defect. 11 Wochen altes Kind. Klumphand.
Fehlen der Daumen c und der dazu gehörigen Metacarpalknochen. Der
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. II. Band. 5
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66
Oskar Schmid.
Metacarpus II stark verlängert. Ulnae verkrümmt. Die rechte Ulna
subluxirt. Vorderarm kürzer als normal.
37. Parker (Transactions of the pathologic. Society of London^
XXXUI, 1882; referirt in der Diss. inaug. von Geissendörfer.
München 1890).
Doppelseitiger Defect. Fötus. Links Fehlen des Daumens
und Zeigefingers mit ihren Carpal- und Metacarpalknochen, rechts
nur des Daumens.
38—41. Shattok (Transactions of the pathol. society of London«
XXXIII, 1882; referirt von Geissendörfer).
1. Rechtsseitiger Defect. Beinahe vollkommen ausgetragener
Fötus. Daumen fehlt, ausserdem das Os naviculare und Os multangulum
majus. Links ist der Radius vorhanden aber ungewöhnlich kurz.
2. Linksseitiger Defect. Nicht ausgetragene Frucht. Auf
beiden Seiten dieselben Missbildungen der Hand wie im ersten Falle.
3. Beidseitiger Defect. Fötus von etwa 6 Monaten. Es
fehlen Daumen und Zeigefinger auf beiden Seiten.
4. Beidseitiger Defect. Ausgetragener Fötus. Daumen und
Zeigefinger ganz unentwickelt.
42. Hilde mann (Beitrag zur Casuistik der angeborenen Hemmungs¬
bildungen der Extremitäten. Inaug.-Diss., Kiel 1882; referirt
von Burckhard’t).
Rechtsseitiger Defect. 12 Wochen alter Knabe. Der Arm
verkürzt. Klumphandstellung. An Stelle des Daumens nur ein
bohnengrosser Fleisch willst. Das Metacarpale I und die dazugehörigen
Phalangen fehlen. Ulna am obern Ende verdickt.
43—44. Ehrlich (Untersuchungen über die congenitalen Defecte
und Hemmungsbildungen der Extremitäten. Virchow’s Archiv,
1885, B. 100, S. 107).
1. Linksseitiger Radiusdefect. Weiblicher Fötus. Links
Klumphandstellung. Die Hand hat nur 2 Finger, den kleinen und
den Ringfinger. Der Carpus besteht aus einem einzigen Knorpel¬
stück. Das linke Os Humeri ist nur 2 cm lang, während das rechte
Gern misst. Clavicula beiderseits verdoppelt.
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Ueber eine bisher nicht beobachtete Form von partiellem Radiusdefect. 67
2. Rechtsseitiger partieller Radiusdefect. 6 Monate alter,
weiblicher Fötus. Der rechte Vorderarm ist um die Hälfte kürzer
als der linke, steht in Flexionsstellung, die Hand in Kluniphand-
stellung. Die Finger sind vollzählig. Vom Radius ist das obere
Ende circa 2 cm lang vorhanden.
Partieller Defect der rechten Tibia und Klumpfuss rechts.
45. V. Muralt (beschrieben in der Inaug.-Diss. von Burckhardt,
Zürich 1890).
Linksseitiger Defect bei einem lV-2 Jahre alten gut ent¬
wickelten Knaben. Beide oberen Extremitäten weisen DiflFormi-
täten auf.
Der rechte Vorderam zeigt zwischen den Handwurzelknochen
und dem Ende des Vorderarmknochens eine verdickte Zone von 2 cm
Länge. Die Hand ist parallel mit ihrer Längsaxe radialwärts ver¬
schoben. Der Metacarpus des Daumens ist verdickt und verkümmert
und hat keine Gelenkverbindung mit dem Carpalknochen, sondern
ist nur ligamentös mit dem Rand der Hand verbunden. Der Radius
ist vollständig, aber dünner und schmächtiger als normal. Die Hand¬
wurzelknochen stehen auf der radialen Seite höher als auf der
ulnaren.
Die linke obere Extremität zeigt einen total verkümmerten
Vorderarm, derselbe ist 3cm kürzer als der rechte. Radius fehlt
ganz. Die Hand sitzt dem Vorderarm im rechten Winkel radial¬
wärts auf. Bandapparat im Ellenbogengelenk straff. Daselbst Flexion
und Extension normal. Die Ulna ist im unteren Drittel radialwärts
abgeknickt und torquirt. Eine Folge dieser Torsion ist, das die Vola
manus nach oben und innen gerichtet ist.
Die Vola manus zeigt weder eine Vertiefung noch Falten¬
bildung. Der Daumen besitzt keinen Metacarpus, ist klein und an
der Hand nur durch eine dünne Hautverbindung befestigt.
Keine Zeichen überstandener Rhachitis.
4G. Geissendörfer (Zur Casuistik des congenitalen Radiusdefectes.
Inaug.-Diss., München 1890).
Beidseitiger Radiusdefect. 10 Wochen altes Kind weib¬
lichen Geschlechtes, gestorben an allgemeiner Ernährungsstörung.
Beide Arme sind stark adducirt und flectirt. Die Hände in Klump¬
handstellung, zeigen beiderseits 5 gut entwickelte Finger. Links ist
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68
Oskar Schmid.
der Arm länger und die Hand grösser als rechts. Flexion und Ex¬
tension in allen Gelenken beider Extremitäten beschränkt. Die
Gelenksflächen sind flach, und im Ellenbogengelenk ist die Kapsel
klein und straflf. Beiderseits ist das untere Humerusende verdickt
und nur die Trochlea vorhanden. Die Ulnae sind kurz und verdickt
und im unteren Dritttheil nach hinten gekrümmt. Die Köpfchen sind
viel stärker als in der Regel und besitzen auf der radialen Seite
eine Gelenkfläche, welche links mit dem Os triquetrum und einem
Theil des Os lunatum articulirt, rechts nur mit dem Os triquetrum.
Meniscus beiderseits vorhanden. Handwurzelknochen, Metacarpal¬
knochen und Phalangen sind vollzählig und normal.
Beiderseits anomale Muskellagerung. Die Art. radialis fehlt
rechts ganz und links ist sie rudimentär. Der N. radialis ist
beiderseits dünner und endigt früher als normal.
Andere Abnormitäten und Missbildungen: Zwischen dem Knorpel
und dem knöchernen Theil der 2. und 3. Rippe fehlt rechts und
links ein Stück. Pes planus sinister. Grosse Hufeisenniere im kleinen
Becken.
Diesen Fällen reihen sich nun die unserigen an, von welchen
der erste durch Dr. W. Schulthess in der ärztlichen Gesellschaft
in Zürich vorgestellt wurde, und der bei Burckhardt bereits
citirt ist.
47. M. F. (Taf. I).
Anamnese. Die Mutter, eine kräftige, gesunde Frau, hatte
an der rechten Hand einen doppelten Daumen, sonst keine Difformi-
täten. Von ihren 5 Geschwistern waren alle normal gebaut. Sie hat
zweimal geboren. Vor 10 Jahren einen gesunden Knaben, welcher
an jeder Hand 6 Finger und zwar beiderseits den kleinen Finger
doppelt zur Welt brachte. Andere Diflbrmitäten oder Defecte hatte
er nicht. Ferner vor 14 Jahren unsere Patientin. Diese wurde zur
normalen Zeit geboren. An dem Neugeborenen fiel den Eltern so¬
fort ein überzähliger Daumen an der rechten Hand auf. Derselbe
wurde in den ersten Wochen des Lebens von einem Arzte ab¬
getragen. Der jetzt vorhandene Defect des Radius wurde hingegen
erst später der Functionsstörungen wegen wahrgenommen. Die
Schwangerschaft war normal verlaufen. Von mechanischen Ver¬
letzungen während derselben durch Stoss, Schlag, Fall gibt die Mutter
nichts an.
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üeber eine bisher nicht beobachtete Form von partiellem Radiusdefect. 69
Status. Ein gracil gebautes, etwas anämisches, für sein Alter
ziemlich grosses Kind (Fig. 1). Ausser der zu beschreibenden Dif-
formität ist das Kind vollkommen gesund. Wenn das Mädchen (wie
in Fig. 1) beide Arme schlaflF herunter hängen lässt, dann ist die
Fig. 1.
Volarseite der linken Hand direct nach innen und* der Daumen nach
vom gerichtet, während die Volarfläche der rechten Hand direct nach
hinten und der Daumen nach innen gewendet ist. Ferner ist der
rechte Unterarm stark abducirt, so dass er in dieser Stellung einen
deutlich nach aussen offenen Winkel mit dem Oberarm bildet. Der
rechte Arm erscheint in seiner Gesammtheit magerer als der linke.
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70
Oskar Sclimid.
Auch die Musculatur des rechten Schultergürtels ist von einer ge¬
ringeren Entwickelung. Der rechte Pectoralis ist unbedingt dünner
als der linke (s. die nachfolgenden Maasse). Auch die Gegend des
Deltoides zeigt rechts eine schwächere Entwickelung. Der rechte
Proc. coracoides ist leichter zu sehen als der linke. Zwischen jenem
und dem Humerus besteht rechts eine deutliche Furche, links nicht.
Die rechte Clavicula erscheint länger als die linke, zeigt aber nicht
etwa eine geringere Biegung, im Gegentheil ist der äussere Theil
derselben etwas stärker nach oben gewölbt als links. Die rechte
Schulter erscheint länger und ist etwas zurückgestellt.
Am Unterarm fällt neben der schon erwähnten Abduction noch
auf, dass über dem oberen Dritttheil die Musculatur weniger vor¬
springt als auf der anderen Seite, wodurch im Verein mit einer
Abbiegung nach der Radialseite eine Einziehung an der Grenze des
oberen und mittleren Dritttheils zu Stande kommt (s. Fig. 1). Beide
Ei*scheinungen deuten auf den in der Tiefe vorhandenen Defect.
Bei näherem Zusehen bemerkt man, dass das oberste Dritttheil
des Radius fehlt. Es lässt sich dieser Knochen nur bis etwas über
die Mitte seiner Länge längs der Ulna durchfühlen. Unten ist der¬
selbe mit der Ulna verwachsen. Der Radius zeigt unten normale
Dicke, verjüngt sich aber nach oben. Das obere Ende ist spitz und
leicht abzutasten. Die rechte Ulna ist kürzer als die linke und
ist im oberen Dritttheil deutlich verdickt. Sie scheint zu verlaufen,
wie sie unter normalen Verhältnissen bei Pronationsstellung ver¬
laufen würde, nur lässt die Stellung des Handgelenks eine leichte
Torsion derselben nach innen vermuthen. Etwa 1 ^/2 cm unterhalb
des Condyl. humeri ext. fühlt man, besonders leicht bei flectirtem
Unterarm, auf der äusseren Fläche der Ulna eine stark erbsen¬
grosse Prominenz. Diese liegt ungefähr an der Stelle, wo das
Radiusköpfchen liegen sollte. Das Olecranon ist beiderseits gleich
entwickelt. Die Eminentia capitata humeri springt vor und ist ver-
grössert.
Bei activer Dorsalflexion der Hand fühlt man deutlich, dass
von diesem Punkte Muskeln entspringen. Bei leichter Flexion im
Ellenbogengelenk fällt auf, dass der Supinator longus nicht soweit
emporsteigt wie linkerseits, ferner, dass bei Flexion unter Wider¬
stand der Biceps abgeflacht erscheint, während er links stark nach
innen vorspringt. Die Sehne dieses Muskels senkt sich mit ihrem
kräftigeren Theile vor dem Ellenbogengelenk in die Tiefe und setzt
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Ueber eine bisher nicht beobachtete Form von partiellem Radiusdefect. 71
sich an der äusseren Seite der ülna, nahe der Stelle wo der Radius
aufhört, an. Der schwächere Theil der Sehne umfasst die auf der
Ulna liegende Musculatur. Im ganzen ist der Biceps unverhältniss-
raässig schwach entwickelt, während die Brachialis gut ausgebildet ist.
Die Flexion ist am rechten Arm vollständiger möglich als am
linken, dabei ist selbstverständlich die Volarseite der Hand nach vom
und in einem Winkel von 45® nach innen gestellt (s. Fig. 2). Es
Fig. 2.
sind in dieser Stellung geringe Rotationen (Pronation und Supination)
möglich (vergl. Fig 2 u. 3). Die Extension ist etwas beschränkt.
Die Hand muss bei völliger Normalität des Handgelenks in Pronations¬
ankylose gehalten werden. Es sind zwar geringe Seitwärtsbewegungen
(Rotationen) der Ulna auf dem Humerus möglich, dieselben verlaufen
aber selbstverständlich mit einer leichten Seitwärtsbewegung der
Ulna, welche sich nach Art der Sattelgelenke auf der Rolle des
Humerus bewegt. Es macht aber den Eindruck, als ob dieselben
theilweise durch Abhebung der Ulna vom Humerus entstünden.
Die Pronationsbewegung wird durch eine Rotation des ganzen Arms
im Schultergelenk unterstützt. Um die mangelhaften Supinations-
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72
Oskar Schmid.
bewegungen zu unterstützen, existirt eine ausserordentliche Beweglich¬
keit in den Carpo-Metacarpalgelenken.
Die rechte Hand ist bedeutend schlanker als die linke (s. Fig. 1
bis 3). Die Finger sind kürzer und das Handgelenk schmächtiger,
nur fällt auf, dass die radiale Seite verhältnissmässig starker aus¬
gebildet ist.
Auffallend ist auch, dass der Metacarpus des Daumens sich
mehr von der Hand entfernen kann als auf der gesunden Seite
Fig. 3.
(s. Fig. 3). Die deutlichste Veränderung findet sich an dem Metacarpal¬
gelenk. Dieses ist stark verdickt, während die davorliegende erste
Phalanx des Daumens sehr schmächtig ist. An der inneren Seite
des Gelenks ist eine deutliche längs gestellte Narbe und Schwiele
vorhanden. Unter dieser Stelle scheint ein Schleimbeutel zu liegen,
und ein kleiner, harter, kaum apfelkerngrosser Körper (Knorpel),
wahrscheinlich ein Ueberrest der ersten Phalanx des amputirten
Daumens. Dieser Körper lässt sich an der Innenseite des Gelenks her¬
umschieben. Betrachtet man den Daumen von seiner Dorsalseite her,
so weicht er in gestreckter Stellung nach dem Dorsum und gegen
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üeber eine bisher nicht beobachtete Form von partiellem Radiusdefect.
73
den Zeigefinger hin ab. In der Ruhe ist die Abweichung ge¬
ringer.
Wird die Hand flach auf den Tisch gelegt, so geht die Ab¬
weichung nach oben, während die vordere Phalanx wieder seitwärts
und volarwärts abgebogen ist. Die vordere Phalanx ist zudem etwas
gedreht und zwar in dem Sinne, als ob sie an der Fingerspitze ge¬
fasst und volarwärts gedreht worden wäre (s. Fig. 4). Die Gelenke
des Daumens besitzen so wenig Festigkeit, dass die Spitze des Daumens
Fig. 4.
bei unveränderter Handstellung bequem um mindestens 180 ^ gedreht
werden kann.
Der rechte Handteller ist normal und zeigt den gewöhnlichen
Typus der Hautfaltung. Eine gewisse Abweichung davon weist nur
die Gegend hinter dem Gelenkkopf des Metacarpus des Daumens
auf, woselbst eine starke quer hinter dem Kopf herumgehende Falte
zu sehen ist (s. Fig. 4). Eine weitere Abweichung findet sich auf
der Volarseite in der Faltung der Finger (s. Fig. 4, 5, 6 u. 7).
Die Falte, die dem Metacarpophalangealgelenk entspricht, immer ab¬
gerechnet, hat der kleine Finger statt 2, 3 Hautfalten, wovon die
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74
Oskar Sclimid.
mittlere auf der mittleren Phalanx liegt. Am 4. Finger ist die 1. und
2. Falte normal vorhanden, die letztere etwas stark eingeschnitten.
Fast auf der Mitte der 3. Phalanx findet sich aber noch eine 3. Falte.
Auf dem Mittelfinger sind neben den normalen Gelenksfalten eine
schwach angedeutete 3. Falte auf der mittleren und eine etwas
deutlichere 4. auf der 3. Phalanx vorhanden. Am Zeigefinger ist
ausser den normalen Falten noch eine 3. tief eingeschnittene auf
der Mitte der mittleren Phalanx. Der geringen Ausbildung des
Fig. 5.
Daumens entspricht eine mangelhafte Faltung, es findet sich nur eine
dem Fingergelenk entsprechende Falte.
Auch an der linken Hand ist die Faltung der Finger nicht
ganz normal. Der 4. Finger zeigt neben den 2 normalen Falten
eine 3. auf der mittleren Phalanx, während die einzelnen Furchen
der vorderen Falte etwas verzogen sind. Auch der Mittelfinger hat
eine dritte, allerdings schwache Falte auf dem Mittelgliede. Der
kleine Finger, der Zeigefinger und der Daumen zeigen normale
Faltung.
Die Kraft des rechten Arms und der rechten Hand ist viel
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Ueber eine bisher nicht beobachtete Form von partiellem Radiusdefect. 75
geringer als links. Im Schreiben und beim Ausüben der häuslichen
Arbeiten ist das Mädchen durch den Defect nicht sonderlich ge¬
hindert.
Zur genaueren Beurtheilung der Dimensionsverhältnisse zwischen
der rechten und linken Schulter und Oberextremität wurden folgende
vergleichende Maasse genommen:
Fig. 6.
Linke Hand. Schematische Darstellnng der Hantfaltung an der Volarseite der Finger.
Proc. Spinös, des 2. Brustwirbels bis zur äussersten Schulter¬
peripherie:
r. 16,8, 1. 16,6 cm.
Durchmesser vom Proc. coracoides bis zum prominentesten
Punkt der Spina scapulae:
r. 8, 1. 8,4 cm.
Angulus scapulae bis Acromialende:
r. 15,2, 1. 15,6 cm.
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76
Oskar Schmid.
Acromialende bis Ausgangspunkt der Spina an der Basis:
r. 10, 1. 10,6 cm.
Länge der Clavicula:
r. 12,5, 1. 12 cm.
Mit dem Tasterzirkel gemessen hat der Rand des Pectoralis
einen Durchmesser:
r. 0,7, 1. 1,1 cm.
Fig. 7.
Rechte Hand. Schematische Darstellung der Hautfaltung in der Volarseite der Finger.
Circuraferenz der Mitte des Oberarms:
r. 18 Vg, 1. 19 Vs cm.
Länge des Humerus, gemessen bei hängendem Arm und Flexion
im Ellenbogengelenk.
Acromion bis Condyl. ext.:
r. 25,4, 1. 26,2 cm.
Acromion bis Olecranon:
r. 28,3, 1. 29,3 cm.
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lieber eine bisher nicht beobachtete Form von partiellem Radiusdefect. 77
Durchmesser vom Condyl. humeri ext. bis Condyl. humer. int.:
r. 4,9, 1. 5,2 cm.
Circumferenz des Vorderarms über die Plica cubitalis:
r. 17, 1. 18,2 cm.
Circumferenz 3 cm oberhalb des Handgelenks an der dünnsten
Stelle des Vorderarms:
r. 12,7, 1. 14 cm.
Länge der Ulna vom oberen Rande des Olecranon bis zur
Spitze des Proc. styloides:
Maassbandmessung:
r. 19,4, 1. 21,5 cm.
Zirkelmessung:
r. 19,9, 1. 21,5 cm.
Länge des Radius, rechts Messung von der Stelle unterhalb
des Condyl. ext. humeri bis zum vorderen Radiusende unter Ausser-
achtlassung des Defectes:
r. 18,1, 1. 19,8 cm.
Querdurchmesser von Radius plus Ulna direct oberhalb des
Handgelenks:
r. 4,0, 1. 4,5 cm.
Querdurchmesser der flach aufgelegten Hand in der Höhe der
Metacarpophalangealgelenke:
r. 5,7, 1. 6,0 cm.
Länge der Phalangen bei vollständiger Flexion derselben:
I. Phalanx
II. Phalanx
III. Phalanx
Fingerlange
r.
1.
r.
1.
r.
1.
r.
1.
Kleine Finger
4 cm
4,1 cm
2,3 cm
2,5 cm
2 cm
2,1 cm
8,3 cm
8,7 cm
Ringfinger ....
4,9 .
4,9 ,
3,1 ,
3,1 .
2,3 .
2,3 ,
10,3 ,
10,3 .
Mittelfinger . . .
5,2 .
5,3 ,
3,3 .
3,4 ,
2,6 .
2,3 .
11,0 ,
11,0 ,
Zeigefinger . . .
4,8 .
4,9 .
2,8 ,
o
CO
2,1 .
2,3 .
9,7 ,
10,2 .
Daumen ....
4,1 ,
3,7 .
2,8 .
3,0 .
“* H
6,9 ,
6,7 .
48. Th. B. 1).
5 Jahre alt. Der Knabe ist das zweitjüngste von 4 Kindern.
Die Eltern imd Geschwister sind gesund. In der ganzen Familie
*) Da uns der Knabe nicht die zur Untersuchung erforderliche Zeit zur
^Disposition stand, so sind wir nicht in der Lage, die Beschreibung in der er-
^nschten Ausführlichkeit wieder zu geben wie bei der M. F.
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78
Oskar Schmicl.
sind ausser bei dem Kleinen keine Diflformitäten bekannt. Während
die Mutter mit dem Knaben schwanger ging, fiel sie ungefähr in
der Mitte der Schwangerschaftszeit eine Treppe hinunter. Sie gibt
aber an, dass ihr Wohlbefinden durch diesen Fall absolut nicht gestört
worden sei. Der Knabe wurde 6 Wochen zu früh geboren. Die
Geburt verlief normal. Der Knabe leidet seit der Geburt sehr oft an
Diarrhoe. Der Defect fiel erst dann auf, als er 4 Jahre alt beim
Fig. 8.
Ballspiel den Ball mit der Rückenfiäche der Hand auffing und an¬
gab, er könne nicht anders.
Status. Ein magerer, für sein Alter sehr kleiner Knabe
(s. Fig. 8 u. 9). Zeigt geringen Grad von Pectus carinatum und massige
Verdickung der Rippenenden. Die Schädelform ist etwas rhachitisch.
Die verknöcherte Kranznaht ist gut zu fühlen. An beiden Seiten
des Halses hat er harte, geschwollene Lymphdrüsen. Die rechte
Schulter erscheint von vom gesehen von gleicher Configuration wie
die linke. Die Musculatur auf dem Schulterblatt ist rechts gleich
kräftig wie links. Auf beiden Seiten ist der Deltoides gut ent¬
wickelt. Der Pectoralis ist links etwas kräftiger als rechts. Bei
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Ueber eine bisher nicht beobachtete Form von partiellem Radiusdefect. 79
hängenden Armen erscheint der rechte etwas dünner, besonders aber
kürzer als der linke; ferner fällt auf, dass der rechte Unterarm
im Ellenbogengelenk eine Abknickung nach aussen zeigt und dass
die Innenfläche der rechten Hand stets nach hinten gewendet ist
(s. Fig. 8). In die Augen springend ist auch, dass der Muskelwulst
direct unter dem Condyl. ext. humeri, den ein normaler Arm an dieser
Stelle aufweist, rechts fehlt, während er am linken Arm stark aus-
Fig. 9.
gesprochen ist. Betastet man die Stelle, wo der Muskelwulst fehlt,
so sucht man daselbst umsonst das Radiusköpfchen. Verfolgt man
den Radius des rechten Arms von unten nach oben, so kann man
denselben leicht durchfühlen bis ca. 2 cm unterhalb des Ellenbogen¬
gelenks, hier sinkt der Finger bei Druck ein. Das unterste Ende
des Radius ist normal configurirt, 2^2 cm über dem Handgelenk
zeigt er eine schwache, aber immerhin deutliche Biegung mit der
Convexität nach dem Dorsum. Das obere Ende ist stumpf und etwas
dünner als der Radius des anderen Armes auf derselben Höhe. Von
diesem Ende scheint an der inneren Seite eine Kante oder Sehne
auszugehen, die gegen den äusseren Theil des Ellenbogengelenks hin
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Oskar Schmid.
verläuft. Die rechte Ulna springt mit ihrem unteren Ende vor,
wenn sich die Hand in extremer Supinationsstellung befindet. Oben
fühlt man besonders leicht bei flectirtem Arm direct unter dem
Condyl. ext. humeri, in der Höhe, in der sich sonst das RÄdiusköpfchen
befindet, eine knopfförmige Prominenz auf der Ulna sitzen.
Die Eminentia capitala humeri scheint etwas verdickt zu sein
und direct in Musculatur überzugehen; ob eine zapfenförmige Ver¬
längerung derselben vorhanden ist, kann nicht mit Sicherheit con-
statirt werden.
Die Flexion im Ellenbogengelenk ist möglich bis zu einem
Winkel von ca. 33^, die Extension bis zu ca. 180®. Von einer
Ueberstreckung, wie sie sonst normal vorzukommen pflegt, ist keine
Spur vorhanden.
Bei Flexion des Arms, bei welcher selbstverständlich die Hand
nach oben gewendet bleibt, findet ein starkes Abweichen des Unter¬
arms aus der im Anfang der Bewegung innegehaltenen Drehebene
statt. Zu gleicher Zeit wird gegen den Schluss dieser Bewegung
eine Rotation des Unterarms im Sinne der Supination bemerkbar
(s. Fig. 9).
Das rechte Handgelenk ist schmächtiger als das linke. Die
rechte Hand steht in vollständiger Pronationsankylose. Drehungen
sind nur insoweit möglich, als sich die Ulna im Humerusgelenk seit¬
wärts bewegen kann. Flexion und Extension der Hand sind in
normaler Ausdehnung da.
Die rechte Hand ist nur wenig schwächer gebaut als die linke.
Die Handwurzelknochen sind scheinbar vollzählig vorhanden. Die
Mittelhandknochen und die Finger sind vollzählig und gut entwickelt.
Der Daumen und der Daumenballen sind normal, ebenso die Faltung
der Handteller.
Der linke Arm ist äusserlich vollkommen normal configurirt.
An den Bewegungen des Unterarms fällt auf, dass die Supination
nicht vollständig möglich ist. Dieselbe lässt sich auch mit Gewalt
nicht in dem Umfange erzielen wie bei einem normalen Arm, während
die Pronation vollständig zu Stande kommt. Ferner lässt sich der
Arm flectiren, aber nur bis zu einem Winkel von ca. 40®. Die
Hyperextension ist möglich bis zu einem Winkel von 191 ®. Die
Ursache der mangelhaften Supination des Unterarms finden wir in
einer Subluxation des oberen Radiusendes, welches bei der Extension
die Eminentia capitata humeri nach vom überspringt. Das Gelenk
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Ueber eine bisher nicht beobachtete Form von partiellem Radiusdefect. 81
muss als Schlottergelenk taxirt werden. Die Rotationen des Vorder¬
arms geschehen nicht nur durch Rotationen des Radius im Radio-
Cubitalgelenk, sondern auch durch ein Heraustreten des oberen
Radiusendes aus diesem Gelenke. Wird das obere Ende des Radius
festgehalten, so ist auch die Pronation nur halb möglich. Der Schluss
der Bewegung, im Umfang von mindestens 45®, erfolgt erst dann,
wenn der Radius losgelassen wird.
Das Handgelenk und die Hand sind vollständig normal.
An der rechten und linken Oberextremität wurden folgende
vergleichende Maasse genommen:
Circumferenz der Mitte des Oberarms:
r. 12,5, 1. 13 cm.
Länge des Humerus. Acromion bis Olecranon:
r. 18, 1. 19 cm.
Querdurchmesser vom Condyl. humeri ext. bis int.
r. 3,7, 1. 3,8 cm.
Circumferenz des Vorderarms über der Plica cubitalis:
r. 12,2, 1. 13,5 cm.
Circumferenz oberhalb des Handgelenks an der dünnsten Stelle
des Vorderarms:
r. 9,5, 1. 10 cm.
Länge der Ulna vom oberen Rande des Olecranon bis zur
Spitze des Proc. styloides:
r. 12,6, 1. 13,5 cm.
Breite des Handgelenks:
r. 2,9, 1. 3,2 cm.
Breite der Hand in der Höhe der Metacarpophalangealgelenke:
r. 4,1, 1. 4,3 cm.
Umfang der Hand über den Metacarpophalangealgelenken des
2.—5. Fingers:
r. 10,3, 1. 10,8 cm.
Länge der Hand von der Handgelenksfalte bis zur Spitze des
Mittelfingers:
r. 10,8, 1. 10,8 cm.
Wie unsre Casuistik ergibt, so ist die Gesammtzahl der bis
jetzt beobachteten Fälle von Radiusdefect und Rudiment 48, die
unseren mitgerechnet. — Der nachfolgenden Aufzählung der ver¬
schiedenen Formen müssen wir vorausschicken, dass beim selben
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. II, Baud. 0
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Oekar Schtnid.
Individuum links und rechts hie und da verschiedene Formen unserer
Missbildung vorgekommen sind. Dasselbe Individuum erscheint des¬
halb öfters zweimal in der Aufzählung. Die 48 Fälle würden
96 Arme repräsentiren; da jedoch beim Fall Man ec nichts Bestimmtes
angegeben ist, so haben wir nur mit 94 Armen zu rechnen. Unsere
47 in Rechnung kommenden Fälle weisen nur 65 Arme mit totalem
Radiusdefect auf, 8 mit partiellem und 21 normale. Die Totaldefecte
vertheilen sich wiederum derart, dass 42 auf 21 Individuen mit
doppelseitigem Defect kommen, 18 auf ebenso viele Individuen, bei
denen einer der Arme normal ist, und 5 auf Individuen, bei welchen
auf der anderen Seite ein partieller Defect gefunden wurde. Die
8 Fälle von partiellem Defect vertheilen sich auf 5 Individuen, welche
am anderen Arm einen Totaldefect hatten, und auf 3, bei denen
der 2. Arm normal war. Demnach kam ein normaler Arm bei den
in Frage stehenden Individuen 21mal vor, und zwar 18mal neben
Totaldefect und 3mal neben partiellem.
Von den betroffenen Individuen waren die meisten und zwar
21 noch nicht ausgetragene Früchte; ausgetragene Kinder 12, in 6Fällen
(Lediberder, Stricker, Gruber, Nicolaysen, Hildemann und
Geissendörfer) erreichten die Kinder nur ein Alter von 5 — 16 Wochen,
ohne dass die Todesursache angegeben ist, und in 8 Fällen (Manec,
Larroy, Colles, Schnelle, Herschel, von Muralt und die unse-
rigen) befanden sich dieselben zur Zeit der Publication in einem Alter
von 1—25 Jahren. Bei einem Fall, demjenigen von Silvester, ist das
Alter nicht angegeben. Leider finden wir nur bei 28 Fällen das
Geschlecht angeführt, von diesen gehören 15 dem männlichen und
13 dem weiblichen Geschlechte an.
Totaler Mangel des Radius wurde beschrieben 21 mal beid¬
seitig und 23mal einseitig, und zwar fallen von den letzteren 12 Fälle
auf die rechte und 11 auf die linke Extremität. Auf welcher Seite
im Fall Man ec der Defect war, ist nicht erwähnt.
Ungefähr in der Hälfte der Fälle fand sich also die Abnormität
auf beiden Seiten, während die andere Hälfte sich gleichmässig auf
die rechte und linke Extremität vertheilt.
Während schon 45 Fälle mit totalem Radiusdefect, ich zähle
denjenigen von Man ec mit, bekannt sind, kennt man bis heute nur
8 Fälle mit Radius-Rudiment.
Und zwar bei:
1. Meckel. Am linken Arm, in Gestalt eines 2^2 Linien
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Ueber eine bisher nicht beobachtete Form von partiellem Radiusdefect. 83
langen, stumpf zugespitzten, das obere Radiusende repräsentirenden
Stückes, bei dem Monstrum mit Etadiusmangel rechts.
2. Cruveilhier. Am rechten Arm, in Gestalt eines das
oberste Sechstel des Radius repräsentirenden Stückes, bei einem
monströsen Fötus mit Radiusmangel links.
3. Silvester. Am linken Arm, in der Gestalt eines kleinen
knorpeligen Knötchens, das neben dem oberen Ende der Ulna sitzt,
bei einem Individuum mit Radiusmangel rechts.
4. Swaagmann. Am linken Arm, als ein kleines Knorpel¬
stückchen, das die Stelle des Radiusköpfchens einnimmt, bei einem
Individuum mit Radiusmangel rechts.
5. Dornseiff. Am linken Arm, neben dem oberen Ende
der Ulna als ein erbsengrosses Knorpelstück, bei dem Fall mit
Radiusdefect rechts.
6. Ehrlich. Am rechten Arm, in Gestalt eines 2 cm langen
Stückes, das obere Ende des Radius darstellend, bei einem sechs¬
monatigen Fötus.
7. und 8. Unsere beiden Fälle: 1. M. F. Am rechten Arm,
in Gestalt eines die unteren zwei Dritttheile des Radius repräsen¬
tirenden Stückes, welches sich nach oben succesive verjüngt. 2. Th. B.
Am rechten Arm. Auch da ist der untere Theil des Radius vor¬
handen, und es fehlt das oberste Ende, ungefähr ein Viertel des
Ganzen.
Von diesen 8 Fällen fehlt in 6 das untere Stück des Radius,
und nur in den unserigen ist gerade das untere vorhanden, während
das obere fehlt In 5 Fällen finden wir auf der anderen Seite totalen
Radiusdefect und nur in 3 (Ehrlich und dem unserigen) ist der
Radius der anderen Seite vollständig vorhanden.
Bei totalem Radiusmangel fehlt in 45 Fällen 35mal der Daumen,
d. h. beide Phalangen sammt zugehörigem Os metacarpi; in 5 Fällen
wurde der Daumen rudimentär beobachtet (Otto Nr. 16 und 17,
Hildemann, wo er nur in einem Muskelwulst angedeutet ist, von
Muralt und Shallok 41). Auch hier fehlt meist der Metacarpal¬
knochen. Nur in 2 Fällen (Gruber und Geissendörfer) war
ein gut entwickelter Daumen vorhanden.
In den 8 Fällen mit Radiusrudiment fehlt der Daumen 4mal;
bei Dornseiff ist er rudimentär; bei Ehrlich und den unsrigen
beiden Fällen ist derselbe in vollkommener Ausbildung nachweisbar.
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Oskar Schmid.
bei dem einen von den unsrigen besteht neben dem Daumen noch
ein zweiter rudimentärer.
Das Gewöhnliche war demnach, dass die Hände keinen Daumen
hatten; aber auch noch weniger als 4 Finger sind beobachtet worden.
Fälle mit nur 3 Fingern haben beschrieben: Lediberder
(welche?), Presl at (welche?), Parker (links^ Mittel-, Ring- und Ohr¬
finger), Shattok Nr. 40 (beiderseits, Mittel-, Ring- und Ohr¬
finger).
Fälle mit nur 2 Fingern haben beschrieben: Wiebers (Ring-
und Ohrfinger), Wagner rechts (welche?) und Ehrlich Nr. 43
(Ring- und Ohrfinger).
Fälle mit nur 1 Finger haben beschrieben: Otto Nr. 11 (beider¬
seits der Ohrfinger) und Wagner links (welcher?).
Bei den Fällen mit Radiusrudiment hatte nur der von Silvester
weniger als 4 Finger; es waren nur der Mittel- und Ohrfinger vor¬
handen.
Fälle mit 5 gut entwickelten Fingern haben beschrieben:
Gruber, Geissendörfer. Ehrlich, und dazu gehört auch unser
Th. B. Es sind im Ganzen 4 Fälle.
Mit Polydaktylie glänzt unsere M. F. allein. Und zwar
hatte sie gerade den Finger doppelt, der bei Radiusdefect und Rudi¬
ment gewöhnlich fehlt, den Daumen.
Durchweg treflFen wir Klumphandstellung an, eine Aus¬
nahme machen nur unsere beiden Fälle.
Die Ulna war in der Regel verkürzt und fast durchweg bald
nach aussen, bald nach innen verkrümmt und bei Roger und Honel,
Herschel und Geissendörfer war sie in der Gesammtheit, bei
Wiedemann, Davain Nr. 18 und 19, Voigt, Gruber und
Hildemann und in den unseren am oberen Ende verdickt.
Von allen secirten Fällen waren nur in 2 (Ehrlich und Geissen¬
dörfer) die Handwurzelknochen vollzählig vorhanden (im ersteren
waren dieselben unter sich verwachsen). Bei Gruber fehlte nur
das Os naviculare, in allen übrigen Fällen dagegen mindestens das
Os naviculare und das Os multangulum majus.
Einen Meniscus im Handgelenk haben nur Gruber, Herschel
und Geissendörfer gefunden.
Sämmtliche Gelenke, besonders das Hand- und Ellenbogen¬
gelenk der betreffenden Extremität, waren meist derart beschaflFen,
dass sie fast durchweg eine verminderte Beweglichkeit bedingten.
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Heber eine bisher nicht beobachtete Form von partiellem Radiusdefect. 85
Gewöhnlich war die mit Radiusdefect oder Rudiment behaftete
Extremität auch weniger entwickelt. Die Muskeln waren schwächer,
oft fehlten welche, besonders am Vorderarm. Dem anomalen Skelette
entsprechend sah man immer eine anomale Anordnung der Mus-
culatur, indem die sich sonst an den Radius ansetzenden Muskeln
hier einen anderen Insertionspunkt wählen mussten, gewöhnlich an
der Ulna, andererseits die vom Radius entspringenden zum Theil
fehlten (Petit, Prestat, Wiebers, Roger und Honel, Voigt,
Gruher, Kaczander, Ehrlich und Geissendörfer).
Schwächer als normal wurde die Art. radialis gefunden von
Otto, Voigt, Gruber, Kaczander, Herschel, Ehrlich und
Geissendörfer (links), gänzlich fehlte sie in den Fällen Otto
Nr. 239, Schnelle und G eissendörfer (rechts).
Mit wenigen Ausnahmen (Petit, Roger und Honel, Gruber
und Schnelle Nr. 32) weisen die Fälle mit Radiusdefect noch sonstige
Abnormitäten auf, weichein einigen einseitigen Fällen (Voigt,Coles,
Kaczander, Shattok und von Muralt) Vorderarm und Hand der
anderen Seite betreffen und sich als Anomalieen derselben zeigen, wie
wir dieselben als den Radiusdefect begleitende bereits oben ge¬
schildert haben. Wir sehen nämlich bei den oben angegebenen
Fällen mit einseitigem Radiusdefect Imal (Voigt) Klumphand, 3 Mal
(Coles, Kaczander und Shattok Nr. 39), Fehlen des Daumens,
2mal (Voigt und von Muralt) Rudiment des Daumens der anderen
Seite, ohne dass daselbst der Radius gefehlt hätte oder rudimentär
gewesen wäre.
In 2 Fällen (Voigt und unserem Th. B.) fand sich indessen
auf der dem Defect entgegengesetzten Seite eine Anomalie, die das
Radiusrudiment nirgends begleitet. Hier war das Köpfchen des
sonst scheinbar intacten Radius subluxirt. Dabei war im Fall Voigt
die Anordnung der Vorderarramuskeln fast ebenso anomal wie auf
der anderen mit dem totalen Defect behafteten Seite.
In der Mehrzahl der Fälle handelte es sich dagegen um Bil¬
dungsfehler ausser dem Gebiet der oberen Extremitäten, deren Zahl
eine erhebliche, deren Art eine sehr mannigfaltige ist; als da sind:
Wolfsrachen, Hasenscharte, Perforation des Septum ventriculorum
cordis, Atresien bes. des Anus, Difformitäten der unteren Extremi¬
täten, Difformitäten des Knochensystems u. s. w.
Eine gute Zusammenstellung der den Radiusdefect begleitenden
Missbildungen findet man bei Herschel S. 33.
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Oskar Schmid.
Demnach ergibt sich als typisches Bild unserer Anomalie ge¬
mäss der soeben durchgeführten Analyse der Casuistik etwa folgendes:
1. Todtgeborenes, oder doch bald nach der Geburt gestorbenes
Kind.
2. Totaler Mangel des Radius.
3. Geringe Entwickelung der betreffenden Extremität.
4. Klumphandstellung.
5. Fehlen des Daumens.
6. Fehlen einiger Handwurzelknochen (Os naviculare und Os
multangulum majus).
7. Verkürzung, Verkrümmung und Verdickung der Ulna.
8. Verminderte Beweglichkeit in den Gelenken der betreffenden
Extremität.
9. Missbildungen verschiedener anderer analoger Naturkörper-
theile.
Wir bezeichnen dieses anatomische Bild als typisch, insofern
als die dasselbe zusammensetzenden Erscheinungen der grossen Mehr¬
zahl der 48 Fälle unserer Casuistik zukommen. Nun ist aber eine Minder¬
zahl von Fällen da, die in Einzelheiten von diesem typischen Bilde ab¬
weichen. Mit Bezug hierauf lassen sich folgende Variationen aufstellen:
I. Rudiment des Radius, a) Repr'äsentirend den oberen Ab¬
schnitt des Radius mit den oben angegebenen Begleiterscheinungen,
b) Repräsentirend den unteren Abschnitt des Radius mit normaler
Handstellung und Fingerzahl, im übrigen dieselben Begleiterschei¬
nungen wie oben.
II. Der Daumen, welcher wie erwähnt bei den typischen FäUen
mangelt, ist vollkommen gut ausgebildet (Gruber, Geissendörfer,
Ehrlich Nr. 44 und Th. B.), oder wenigstens rudimentär vor¬
handen (Otto Nr. 16, 17, Dornseiff, Shattok 41, Hildemann
und V. Mur alt), dabei kann der Defect des Radius ein totaler oder
ein partieller sein.
lU. Polydaktylie mit partiellem Defect (M. F. Nr. 47).
IV. Fehlen mehrerer Finger. Es fehlt nicht nur der Daumen,
sondern ausserdem noch der Zeigefinger (Parker, Shattok, Ledi-
berder (?) und Prestat (?); Zeigefinger und Mittelfinger (Silvester,
Wiebers, Ehrlich und Wagner (?); Zeigefinger, Mittelfinger und
Ringfinger, so dass nur noch der kleine Finger (Ohrfinger) vorhanden
ist (Otto Nr. 11 beiderseitig und Wagner links).
V. Während wir die typischen Fälle mit noch anderweitigen
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Ueber eine bisher nicht beobachtete Form von partiellem Radiusdefect. 87
Bildungsanomalieen behaftet fanden, sind in der Literatur 4 Fälle
{Petit, Rogerund Honel, Gruber und Schnelle) niedergelegt, deren
sonstige körperliche Entwickelung absolut keinen weiteren Mangel,
abgesehen von Radiusdefect, entdecken Hess.
Nachdem wir im Vorhergehenden eine allgemeine Uebersicht
und Classification unserer Bildungsanomalie nach der in der Literatur
vorhandenen Casuistik gegeben haben, betrachten wir es nunmehr
als Aufgabe, unsere beiden Fälle, als noch nicht beschriebene, einem
Vergleiche mit den bereits publicirten zu unterwerfen, einem Ver¬
gleiche, welcher uns Gelegenheit bieten wird, auch der ätiologischen
Seite der Defectbildung näher zu treten. Es wird daraus hervorgehen,
dass unsere beiden Fälle einige wichtige Abweichungen von den bis
jetzt beschriebenen zeigen, welche auf manche bis jetzt dunkel ge¬
bliebenen und der Erklärung harrenden Punkte des anatomischen
Bildes unserer Anomalie nicht unwillkommene Streiflichter werfen
dürften.
Unsere beiden Fälle gehören in die Kategorie der Radiusrudi-
mente und zwar in die Abtheilung, in welcher das Rudiment den
unteren Abschnitt des Radius repräsentirt und die Hand sich in
normaler Stellung befindet. Diese Form ist bis jetzt noch nicht
beschrieben worden.
Ferner zeichnen sich unsere Fälle noch aus: durch das Alter
der Individuen, durch das Verwachsensein des Radiusrudimentes mit
der Ulna, durch 5 wohlgebildete Finger; die M. F. durch Polydaktylie
und durch eine längere rechte Clavicula; Th. B. durch Subluxation
des 1. Radiusköpfchens.
Auffallend muss es erscheinen, dass eine so überwiegende Mehr¬
zahl der Fälle theils todt zur Welt kam und davon nur 12 ausge¬
tragen, theils das Alter von wenigen Wochen nicht überlebte. Nach
der Ansicht von Voigt können coraplicatorisch sich vorfindende
anderweitige DifFormitäten für diese Thatsache nicht verantwortlich
gemacht werden, weil sie an sich gänzliche Lebensunfähigkeit nicht
bedingen. In dieser absoluten Form freilich möchte ich die Ansicht
von Voigt nicht unterstützen, da sich denn doch nach Her sch eTs
Zusammenstellung DiflFormitäten finden, Atresia ani, Defectus septi
ventriculorum cordis, Palatum fissum, welche das Leben der Neu¬
geborenen ausserordentlich in Frage stellen. Wo aber solche com-
plicatorische Diffbrmitäten als Todesursache in keiner Weise herbei-
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Oskar Schmid.
gezogen werden können, dürfte wohl einzig in der Annahme einer
gleichzeitig vorhandenen allgemeinen Lebensschwäche für diese Kurz¬
lebigkeit eine Erklärung zu finden sein, mag nun diese Lebens¬
schwäche, wie von anderer Seite hervorgehoben wurde, in einer
mangelhaften Entwickelung der nervösen Centralorgane ihrerseits be¬
gründet sein oder nicht.
Wie bei den meisten früher beschriebenen Fällen mit Radius-
defect oder Rudiment, so ergibt auch die Anamnese der unsrigen
absolut keinen Anhaltspunkt, der die Entstehungsursache ihrer
Anomalie vermuthen liesse.
Weder bei dem einen noch bei dem andern Fall sind ähnliche
Missbildungen in der Familie vorgekommen; bei beiden ist der Ge¬
sundheitszustand der Eltern gut; beide Mütter waren zur Zeit, als
sie mit unseren Patienten schwanger gingen, nicht mehr sehr jung.
Mechanische Verletzungen der Schwangeren durch Stoss, Schlag,
Fall, sowie psychische AflFecte waren nicht zu eruiren. Dem jetzigen
Zustande nach lässt sich bei keinem der beiden Patienten annehmen,
dass schwere fötale Rhachitis vorhanden war.
Sind demnach unsere Forschungen nach den primären Ur¬
sachen des Radiusdefectes als einer Entwickelungsstörung, soweit
es die sonst bei Entwickelungsstörungen nachgewiesenen oder auch
nur angenommenen Ursachen anbetrifft, so gut als resultatlos, so
finden wir dagegen, dass Herschel in Bezug auf die Erklärung der
speciellen Form des Defectes einen sehr guten Wurf gethan habe,
indem er zuerst die Gesetzmässigkeit dieser Form auf die Archi-
pterygealtheorie von Gegenbaur zurückführte, die Archipterygeal-
theorie (Urflossentheorie), welche das Skelett der oberen Extremität
aller Wirbelthierklassen über den Fischen, als eine fortlaufende Ent¬
wickelungsreihe aus den Vorderflossen auffasst. Nach dieser Theorie
zerfällt die obere Extremität in eine Stammreihe und in 4 Strahlen.
Zu der Stammreihe gehören:
1. Humerus.
2. Ulna.
3. 2 Carpalstücke, der Metacarpus und die Phalangen des
V. Fingers.
Dem ersten Strahl entsprechen:
1. Radius.
2. Os naviculare und Os multangulum majus.
3. Der Metacarpus und die Phalangen des Daumens.
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Ueber eine bisher nicht beobachtete Form von partiellem Radiusdefect. 89
Den übrigen Strahlen entsprechen:
1. Zeigefinger
2 .
3.
Mittelfinger
Ringfinger
mit den dazu gehörigen Metacarpal- und Carpal¬
knochen.
Der Meniscus im Handgelenk ist als untergeordneter Theil des
I. Strahles und dem Radius zugehörig zu betrachten.
Herschel stellt folgende zwei Sätze auf:
1. Alle bisher beobachteten Fälle von congenitalem Radius¬
defect sind bei Anwendung der 6egenbauer’schen Archipterygeal-
theorie als Reduction des ersten Strahles aufzufassen und als solche
in ihren typischen Grundeigenschaften verständlich.
2. Alle bisher beschriebenen Fälle mit Existenz der distalen
Abschnitte des ersten Strahles sind mit einiger Wahrscheinlichkeit
nicht als Fälle von reinem Radiusdefect anzusehen, sondern lassen
die Deutung einer Coalescenz (Verschmelzung) des Radius mit der
Ulna zu.
Diese Theorie macht leicht verständlich, einmal, warum in der
grossen Mehrzahl der Fälle von Radiusdefect zugleich der Daumen,
das Os naviculare und das Os multangulum majus fehlt, sie gehören
nämlich als integrirende Skelettbestandtheile zum ersten Strahl, ferner
erklärt sie in den Fällen (Gruber, Hildemann, von Muralt,
Geissendörfer und in den unsrigen) durch ihren zweiten Satz die
Verdickung der Ulna und macht das Vorhandensein eines mehr oder
weniger vollkommenen Daumens begreiflich.
Mit dieser Coalescenztheorie würden sich auch unsere Fälle am
ungezwungensten erklären lassen. Wir nehmen an, dass in der
Embryonalzeit neben den Phalangen, dem Metacarpal- und den Carpal¬
knochen ein vollständiger Radius bestanden hat, dass aber später
durch irgend welche Umstände, wahrscheinlich nervöse, eine im
oberen Theil vollständige, im unteren unvollständige Verschmelzung
mit der Ulna eingetreten ist. Dafür spricht auch sehr deutlich die
knopfförmige Prominenz der Ulna an ihrem oberen Ende, auf der
radialen Seite, gerade wo das Radiusköpfchen liegen sollte.
Nach unserer Ansicht Hesse sich noch eine bei anderweitigen
[Missbildungen schon wiederholt verwerthete Theorie geltend machen:
Der obere Diaphysenkem des Radius ist durch irgend eine örtliche
Erkrankung, vielleicht durch eine Entzündung, fortgepflanzt von den
Eihäuten, in seinem Wachsthum beschränkt worden, oder es hat diese
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Oskar Schmid.
im oberen Abschnitt zu einer Verschmelzung des Radius mit der
Ulna, im untern zu Ankylosenbildung geführt.
Wir glauben nicht, dass diese Theorie für unsere Fälle zutrifft.
Einmal müsste, wenn die Entzündung von den Eihäuten fortgepflanzt
worden wäre, auf dem betreffenden Arme eine Narbe zu sehen sein;
ferner spricht im Fall Th. B. die Subluxation des Radiusköpfchens
der anderen Seite dagegen. Diese ist nach Voigt eine Folge der
anomalen Anordnung der Musculatur. Der Radius entbehrte näm¬
lich im Falle Voigt an seinem oberen Ende sämmtlicher Muskel¬
ansätze, der Extensor carpi ulnaris fehlte ganz, die Gelenkfläche
war abgeflacht, und die Bänder waren erschlafft.
Das Alles ist nur durch eine correlate Entwickelungsstörung
im Centralnervensystem (Hirn- und Rückenmark) erklärlich, welche
Entwickelungsstörung von der der andern Seite nur gradweise ver¬
schieden ist.
Abgesehen von der Entstehungsursache liefern unsere Fälle
noch eine Reihe von interessanten Beobachtungen in Bezug auf den
Einfluss der Function und Bewegung, auf die Entwickelung und
Stellung der Skeletttheile, insbesondere der Gelenke.
In beiden Fällen, besonders aber im Fall M. F., sehen wir als
eclatanten Unterschied gegenüber links die Verkürzung und schmächtige
Entwickelung der ganzen rechten Extremität; mitbetroffen ist sogar
die Musculatur des Schultergürtels. Von den Knochentheilen haben
wir mit Bestimmtheit festgestellt, dass bei der M. F. die Clavicula
der kranken Seite länger ist, während sämmtliche Knochen der Ex¬
tremität verkürzt und verschmächtigt sind. Die geringere Entwicke¬
lung der Musculatur lässt sich wenigstens zum Theil durch die ge¬
ringere Gebrauchsfähigkeit der rechten Hand erklären, besonders gilt
das für die Pectoralmuskeln. Da die Hand sich in einer Stellung
befindet, in welcher das Heranziehen von Gegenständen an den Körper
erschwert ist, so Hesse sich bei den genannten Muskeln in erster
Linie eine geringe Entwickelung infolge geringerer Arbeit annehmen.
Aehnliches gilt vom Biceps, dessen Function als Supinator wegfallt,
während allerdings die flectirende und hebende Wirkung zur Ver¬
wendung kommt. Nicht in demselben Maasse kann das Gesagte von
der Flexorenmusculatur gelten, welche ebenfalls geringer entwickelt
ist als am normalen Arm. Auffallend ist auch die äusserst geringe
Entwickelung des Daumenballens (s. Fig. 4 und 6). Wir sind natür¬
lich nicht im Stande zu entscheiden, ob hier einzelne Muskeln fehlen.
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Ueber eine bisher nicht beobachtete Form von partiellem Radiusdefect. 91
oder ob nur geringe Entwickelung im allgemeinen die Ursache
dieser Erscheinung ist. Wird schon bei Betrachtung der Musculatur
in uns der Verdacht rege, es möchten noch andere Einflüsse als nur
geringere Gebrauchsfähigkeit der einzelnen Theile das richtige Wachs¬
thum der Extremität aufgehalten haben, so drängt sich uns derselbe
noch mehr auf bei Betrachtung der starken Längendifferenzen der
Knochen. Es ist das um so auffälliger, als wir an der rechten Clavi-
cula eine Verlängerung entdeckt haben. Auf diesen Punkt werden
wir später zurückkommen. Wir möchten nun die Ansicht aussprechen,
dass die geringere Entwickelung sowohl der Knochen als der Muskeln
an der difformen Extremität Ernährungsstörungen zuzuschreiben sei,
deren Ursache nicht mechanischer Natur, sondern im nervösen Central¬
organ zu suchen ist.
Die Verlängerung der Clavicula wäre schwieriger zu erklären,
wenn wir nicht eine analoge Beobachtung kennen würden. Bei einem
Falle von Defect des Pectoralis major, demonstrirt 1888, in der Ge¬
sellschaft der Aerzte in Zürich durch Dr. W. Schulthess, con-
statirte dieser ebenfalls eine Verlängerung der Clavicula auf der Seite
des Defectes. Die Clavicula verlief in jenem Falle allerdings mehr
gestreckt als auf der nicht afficirten Seite, auf welcher sie die S-Form
deutlicher aufwies. Schulthess hat die Erklärung für die Ver¬
längerung und Streckung in dem geringen Muskeldruck auf der
Defectseite gesucht. Uns dieser Annahme anschliessend, möchten wir
auch in unserem Fall den geringen Muskeldruck der geschwächten
Extremität für die angegebene Thatsache verantwortlich machen, ob¬
wohl uns hier die Verminderung der Biegung fehlt.
Wie auf unseren Bildern deutlich zu sehen ist, so steht in
beiden Fällen der Unterarm in abducirter Stellung. Diese schreiben
wir dem Muskelzuge zu. Der Stützpunkt, welchen der Unterarm
vermittelst des Radiusköpfchens am Humerus gewinnt, fehlt, und da¬
durch wird die Abductionsstellung, in der sich die Ulna normaler
Weise schon befindet, noch etwas vermehrt.
Eine der auffallendsten Erscheinungen in unseren beiden Fällen
ist die Stellung der Hand. Diese unterscheidet sich von vornherein
von derjenigen der früher beschriebenen Fälle, weil sie mehr oder
weniger der Norm entspricht; es fehlt die sogenannte Klumphand¬
stellung. Diese lässt sich allerdings nur insofern mit der Klump-
fussstellung vergleichen, als die Hand eine derartige Stellungsverände-
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Oskar Schmid.
rung erlitten hat, dass ihre Volarfläche nach innen gewendet wird und
ihre Finger ebenfalls eine Richtung nach innen erhalten analog der
Richtung der Zehen bei hochgradigem Klumpfuss. Eine Vergleichung
ist aber deshalb nicht gut zulässig, weil für eine analoge Verändenmg
am Fuss, wie wir sie beim Radiusdefect an der Hand finden, die
Tibia fehlen müsste. Zudem lässt die anatomische Verschiedenheit
der beiden Gelenke einen Vergleich ebenfalls nicht zu.
Die so bezeichnete Stellung kann natürlich nur dann Vorkommen,
wenn das untere Radiusende entweder fehlt, oder in seiner Queraxe
schief zur Längsaxe des Vorderarms gestellt ist. In diesen beiden
Fällen wird sich die Hand dem Muskelzuge folgend schief nach innen
stellen. Dass der Muskelzug dabei eine wesentliche Rolle spielt,
scheint uns selbstverständlich. Auch nach der Casuistik sind ja nur
dann Kluraphände beobachtet, wenn dem Muskelzuge Gelegenheit
gegeben wurde, seine Thätigkeit in dieser pathologischen Richtung
geltend zu machen. Schiefstellung der unteren Gelenkfläche des
Radius findet sich bei dem Falle Voigt. Da ist offenbar der an
seinem oberen Ende subluxirte Radius durch den Muskelzug nach
oben dislocirt worden, die Folge davon war Schiefstellung des Carpo-
Radialgelenkes und dann Kluraphandstellung. Die Dislocation des
Radius konnte im Falle Voigt um so eher geschehen, als die Muskeln,
welche von seinem oberen Ende ausgehen, fehlten.
Kommen wir auf das Verhalten des Vorderarms zurück, so
müssen wir hier unentschieden lassen, wieweit die uns als Pronations¬
stellung imponirende Haltung der rechten Hand von der Torsion der
Ulna abhängt, und wieweit dieselbe durch die Stellung des mit
der Ulna knöchern vereinigten Radius zu erklären sei.
Ein weiterer interessanter Punkt liegt in der eigenthümlichen
Beweglichkeit der Ulna auf dem Humerus. Während jener sonst
nur eine Charnierbewegung mit leichter Seitenverschiebung (Schraube)
im Verlaufe der Flexion und eine kaum nennenswerthe Rotation zu¬
kommt, so finden wir hier, dass die Ulna schon bei geringer Flexions¬
stellung sich ziemlich ergiebig rotirt, gewissermassen Supination und
Pronation auszuführen im Stande ist, indem sie sich am Humerus
in einer Ebene bewegt, welche auf ihrer normalen Bewegungsebene
ungefähr senkrecht steht. Es ist das für die mangelnde Supination
und Pronation, ein Ersatz, welchen der tägliche Gebrauch mit seinem
Zwang durch das Mittel der Muskelbewegung geschaffen hat. Einem
ähnlichen Zweck dient die eigenthümliche Fähigkeit der Hand, die
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üeber eine bisher nicht beobachtete Form von partiellem Radiusdefect. 93
Metacarpusköpfchen ausserordentlich stark aneinander zu verschieben.
Die Hand gewinnt dadurch die Möglichkeit, sich in eine Ebene zu
stellen, welche einer stärkeren Supination entspricht als diejenige
darstellt, welche ihr durch die Stellung des Unterarms zukommt.
Sie gestattet also dem Kinde, den Kleinfingerballen auf einer hori¬
zontalen Fläche aufzulegen, während die Radialseite sich über diese
Ebene erhebt, eine Bewegung, welcher die normale Hand gesunder
Menschen in weit geringerem Grade fähig ist.
Daumen. Die im Status beschriebene eigenthümliche Stellung
des rechten Daumens beim Fall M. F. bedarf ebenfalls noch einer
Erklärung. Bei platt aufgelegter Hand und platt aufgelegtem Daumen¬
ballen steigt die hintere Phalanx des Daumens in die Höhe. Sie
verhält sich demnach zu dem zugehörigen Metacarpus ähnlich wie
der Unterschenkel zum Oberschenkel bei bestehendem Genu valgum.
Die vordere Phalanx kehrt wieder auf die Verlängerung der Axe
des Metacarpus zurück und ist wie schon oben gesagt, nach der
Vola hin gedreht, mit anderen Worten, der Daumen sieht so aus,
als hätte er dem überzähligen Platz machen wollen.
Es ist uns unmöglich, hier die Betheiligung der Anlage des
Gelenks von derjenigen der Muskelaction zu trennen. Allerdings
unterliegt es keinem Zweifel, dass das Metacarpo-phalangeal-Gelenk
nicht normal gebaut ist; besonders scheinen an der Innenfläche die
sonst vorhandenen Hemmungen zu fehlen. Wie die Torsion der
vorderen Phalanx zu Stande gekommen ist, können wir ebenfalls
nicht mit Sicherheit bestimmen.
Aus dem Status geht endlich noch heiwor, dass die Hautfaltung
der Finger auf der Volarseite eine abnorme ist, und zwar ira Sinne
der Vermehrung der Falten (s. Fig. 4, 5, 6 und 7). Dieselbe hat
rechts 3 Finger, links hauptsächlich 2 Finger betroffen. Da bei dem
Fall Th. B. die Faltung aber normal ist, so sind wir versucht, die¬
selbe eher mit der Polydaktylie, als mit unserer Defectbildung in
Zusammenhang zu bringen, umsomehr als uns in den bisherigen Ver¬
öffentlichungen absolut kein casuistisches Material zur Disposition steht.
Ob und wie weit das Handgelenk von Defecten betroffen ist,
entzieht sich unserer Beurtheilung, und es fällt damit ein wesent¬
liches Moment für die entwickelungsgeschichtliche Würdigung unserer
Fälle weg.
Eine der auffallendsten Erscheinungen an einem
unserer Fälle ist die Polydaktylie. Der überzählige Daumen,
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94 0. Schmid. Ueber eine bisher nicht beobachtete Form v. part. Radiusdefect.
glauben wir, steht in durchaus keinem Zusammenhang mit der Miss¬
bildung. Er ist mehrfach in der Familie beobachtet und es kommt
uns nur als ein allerdings merkwürdiger Zufall vor, dass dasselbe
Individuum einerseits einen Defect, andererseits eine Verdoppelung
und zudem noch innerhalb ein und desselben entwickelungsgeschichtlich
zusammengehörigen Theiles aufweist. Jedenfalls deutet die Poly¬
daktylie in unserem Falle darauf hin, dass man diesen Fall nicht als
aus einer Reduction des ersten Strahles nach der Archipterygeal-
theorie von Gegenbaur hervorgegangen auffassen darf.
Zum Schlüsse erübrigt mir noch, Herrn Dr. W. Schulthess,
Privatdozent an der Universität Zürich, für die Anregung zu meiner
Arbeit und für die Unterstützung bei ihrer Ausführung meinen
innigsten Dank auszusprechen. Ebenso danke ich Herrn Docent
Dr. H. Müller, Director der hiesigen medicinischen Poliklinik, für
die Ueberlassung des zweiten Falles zur Publication bestens.
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V.
Eine einfache Methode, die laterale Deviation nnd
die anteroposteriore Erünimnng der Domfortsatz¬
linie zn messen.
Aus der Anstalt für mechanische Chirurgie von Dr. F. Beely
in Berlin.
Von
Dr. E. Kirchhoff.
Mit 8 in den Text gedruckten Abbildungen.
Während wir hei allen Messungen von schwereren Skoliosen
neben der Messung der lateralen Deviation und der anteroposterioren
(kypho-lordotischen) Krümmung der Domfortsatzlinie unbedingt auch
die jedesmalige Rotation der Wirbelsäule bestimmen müssen, da diese
die Richtung der Dorafortsatzlinie sehr wesentlich beeinflusst, so
zwar, dass diese Linie von einer im Anfangsstadium der Skoliose
stark seitlich abgewichenen durch die zunehmende Rotation wieder
zu einer mehr oder weniger geraden werden kann (scheinbare Besse¬
rungen, in der That aber Verschlimmerungen der Skoliosen), kommen
wir bei den leichteren Skoliosenformen mit den beiden ersten Messungen
vollkommen aus. Bei ihnen überschreitet die Rotation das physio¬
logische Maass nicht allzusehr, und die erhaltenen Werthe geben
uns daher fast genau die thatsächlichen Veränderungen an. Dass
wir aber andererseits diese beiden Messungen gebrauchen, ist ohne
weiteres ersichtlich, da ja jede Wirbelsäule sowohl in frontaler als
auch in sagittaler Richtung Verbiegungen aufweist; wie wichtig
ausserdem gerade die Bestimmung der anteroposterioren Krümmung
für die Prognose ist, geht aus den Beobachtungen S taffe Ts her-
*) Dr. F. Staffel, Die menschlichen Haltungstypen und ihre Beziehungen
zu den Rückgratsverkrümmungen. Wiesbaden, Bergmann 1889.
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96
E. Kirchhoff.
vor, der darauf aufmerksam gemacht hat, dass die C-förmigen
Skoliosen, welche sich auf der Basis des „rundenRückens bilden,
eine günstige, die S-förmigen, auf der Basis des „flachen“ Rückens
entstehenden, dagegen eine ungünstige Prognose haben.
Die Messung der anteroposterioren Krümmung ist daher bei
jedem Patienten, der an einer Rumpfdeformität leidet, von grosser
Wichtigkeit.
Nun können wir selbstverständlich nur Messungen gebrauchen,
welche uns richtige Werthe geben, und solche zu erhalten ist bei
der Messung der Domfortsatzlinie immer mit gewissen Schwierig¬
keiten verknüpft, handelt es sich doch um eine sehr bewegliche Linie,
welche willkürlich verändert werden kann und dadurch innerhalb
weniger Minuten erheblichen Schwankungen unterworfen ist.
Für genaue Messungen können also nur solche Methoden in
Betracht kommen, welche möglichst einfach sind und schnell zum
Ziele führen. Jede Methode, bei welcher der Patient lange still
stehen muss, ist ungenau. Der zweite Vortheil, den eine einfache
Messmethode naturgemäss mit sich bringt, dass sie es auch dem viel¬
beschäftigten praktischen Arzt ermöglicht, regelmässige Messungen
vorzunehmen, ist daneben selbstverständlich von grosser Bedeutung.
Kommen doch gerade die leichteren Skoliosen in der grossen Mehr¬
zahl der Fälle in die Hände des praktischen Arztes! Hat derselbe
nun eine einfache Messmethode zur Hand, die es ihm gestattet, jede
Veränderung im Laufe der Beobachtungszeit durch Messen nachzu¬
weisen, so wird er viel eher im Stande sein, seine Maassnahmen zu
treffen. Hat er eine in den ersten Anfangsstadien befindliche Skoliose
in Behandlung genommen und sieht er, dass dieselbe trotz Massirens,
Turnens, Elektrisirens, oder was sonst vorgenommen wird, sich zu¬
sehends verschlechtert, so wird er, bevor es zu spät ist, den ganzen
Apparat, der den schwereren Formen gegenüber angezeigt erscheint,
in Anwendung ziehen oder bei Zeiten seinen Patienten specialistischer
Obhut anvertrauen können.
Nun giebt es freilich schon eine ganze Menge Vorrichtungen und
Methoden, um Skoliosen, und insbesondere um die laterale Deviation
und die anteroposteriore Krümmung zu messen, aber der Umstand,
dass keine einzige allgemeine Verbreitung gefunden hat, spricht wohl
dafür, dass keine so recht den allgemeinen praktischen Ansprüchen
genügte. Und in der That sind die einen zu umfangreich und viel
zu theuer, die anderen zu ungenau oder doch noch zu complicirt.
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Einf. Meth., d. lat. Deviat. u. d. anterop. Krümmung d. Domfortsatzl. z. messen. 9 7
Fig. 2.
10
So dürfte es denn vielleicht manchem willkommen sein, wenn
er mit einem sehr einfachen und relativ recht genauen Verfahren,
welches von Beely'seit längerer Zeit angewendet wird, und welches
jeder praktische Arzt in seiner auch noch
so sehr besuchten Sprechstunde an wenden
kann, bekannt gemacht wird.
Der ganze Apparat, der zum Messen
nöthig ist, besteht aus einem an einem
Halsband befestigten und mit einem ver¬
schiebbaren und an jeder beliebigen Stelle
feststellbaren Loth versehenen Centi-
metermaass, aus einem kleinen Winkel¬
eisen (s. Fig. 1), einem kurzen Maassstab und einem Gummistempel
zur Anfertigung eines Liniensystems zum Einzeichnen der Kurven.
In welcher Weise letzteres angeordnet ist, zeigt uns Figur 2, welche
einen Abdruck des Gummistempels wiedergibt. Die
Entfernungen von 0—10—20—30—40—50—60 be¬
tragen je 1 cm, und ebenso sind die Abschnitte der
Querlinien, welche durch die Mittellinie halbirt wer¬
den, je 1 cm lang. Das Halsband wird am Halse
des bis zu den Hüften entkleideten und mit dem
Rücken dem Untersuchenden zugewandten Patienten
mittelst einer Schnalle (s. Fig. 3 u. 4) in der Weise
befestigt, dass die kleine Messingplatte^ welche zum
Einklemmen des Maassbandes dient, in der Höhe
des 7. Halswirbels liegt. Die Dicke des Halsbandes
beträgt an dieser Stelle genau 1 cm, und das Centi-
metermaass ist so befestigt, dass es, vermittelst des
kleinen Winkeleisens senkrecht zur Messingplatte gehalten fs. Fig. 5),
durch seine Zahlen 2, 3, 4, 5 etc. jedesmal die entsprechende Ent¬
fernung vom 7. Halswirbel in Centimetern angibt.
Bevor wir mit dem Messen selbst beginnen, lassen wir das
Kind eine kleine Weile stehen, bis wir sehen, dass es sich nicht
mehr unter Anspannung der verschiedenen Muskeln gerade zu halten
versucht, sondern in Folge von Ermüdung die Schultern fallen lässt
und der Wirbelsäule die Haltung gibt, welche sie gewöhnlich hat,
und die sich, wenn wir schnell messen, nicht mehr wesentlich ver¬
ändert.
Sehen wir uns jetzt das von der Höhe des 7. Halswirbels herab-
ZeiUcbrift für orthopädlscbe Cbirurgie. II. Band. 7
20 -
50 -
30 -
60 .
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98
E. Kirchhoff.
fallende Gentimetermaass an, so werden wir in der Mehrzahl der
Fälle finden, dass es in der oberen Regio dorsalis dem Rücken an-
Fig. 3. Fig. 4. Fig. 5.
liegt, dann aber frei hängt (vergl. Fig. 3). Ist das der Fall, so ver¬
schieben wir das Lothgewicht in der Weise, dass seine Spitze in der
Fig. 6.
Höhe des Anfangs der Crena clunium steht. Mei¬
stens wird es dabei mehr oder weniger nach der
einen Seite abweichen. Beide Werthe, also die Ent¬
fernung des Anfangs der Crena clunium vom 7. Hals¬
wirbel und ihre laterale Abweichung von der Loth-
linie, notiren wir uns. Zum besseren Verständniss
nehmen wir gleich einen bestimmten Fall an; die
Lothspitze zeigt auf 48,5 und weicht um 2 cm
(mit dem kleinen Messstab gemessen) nach rechts
von der Crena clunium ab, wir markiren demnach
den Punkt a (s. Fig. 6) und schreiben der besseren
Controlle halber 48,5/2,0 daneben. Nun sehen wir,
wie weit von oben ab Loth- und Domfortsatzlinie
sich decken; den ersten Punkt, wo die Dorafortsatzlinie nach rechts
abweicht, hier 13 cm von oben entfernt, notiren wir mit 13 (Punkt 6).
Der zweite Interferenzpunkt, wo beide Linien sich wieder schneiden,
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Einf. Meth., d. lat.Deviai u. d. anterop. Krümmung d.Domfortsatzl. z. messen. 99
liegt in unserem Fall 30 cm von oben entfernt und wird dement¬
sprechend vermerkt (Punkt c). Nun haben wir nur noch die grösste
Entfernung der Domfortsatzlinie von der Lothlinie in dem Abschnitt bc
zu messen, wofür wir hier im Punkte d, 20 cm von oben entfernt,
2 cm finden, und können dann die Curve xbdca ziehen, welche un¬
gefähr dem Verlauf der Dornfortsatzlinie entspricht.
Stösst das Lothgewicht, bevor es bis zur Crena clunium hinunter¬
geschoben ist, an den Körper, wir nehmen an in der Höhe der letzten
Lumbalwirbel, so schieben wir es nur so weit hinabi dass seine Spitze
den Körper eben leicht berührt und legen das Ende des Centimeter-
maasses so 'dem Körper an, dass es genau in der Richtung des oberen
Abschnittes, also in der sagitalen Lothebene liegt, worauf die ein¬
zelnen Punkte wie vorhin bestimmt werden. Würden wir das Loth¬
gewicht, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, ob das Centimetermaass
dem unteren Körperabschnitt anliegt, wie vorhin der Höhe der Crena
clunium entsprechend verschieben und dann die Werthe bestimmen,
so könnten wir nie sicher sein, ob das oben in der Regio dorsalis
und unten in der Regio lumbalis dem Körper anliegende Centimeter¬
maass wirklich der Lothlinie entspricht und erhielten dadurch eventuell
ungenaue Messungen. Haben wir es mit Patienten zu thun, die
sehr unruhig stehen, so dass das frei herabhängende Loth fortwährend
etwas hin- und herpendelt, so empfiehlt es sich, den der Höhe des
Anfangs der Crena clunium entsprechenden Punkt der Lothlinie zu
fixiren. Bei sehr hohlem Rücken kann man den Patienten sich
etwas nach vom beugen lassen, um die richtige Lage des Centimeter-
maasses bestimmen zu können.
Die Werthe, welche wir bei diesen Messungen erhalten, sind
für alle Bedürfnisse vollkommen ausreichend, wenn auch bei jeder
Messung ein durch das bis jetzt beschriebene Verfahren begründeter
kleiner Fehler gemacht wurde. Die Bestimmung der Punkte a, b,
c und d wäre nämlich nur dann richtig, wenn sie alle sowohl wie
der als Aufhängungspunkt des Lothes gedachte 7. Halswirbel in ein
und derselben Lothebene lägen. Das ist aber nicht der Fall, da
der Rücken gekrümmt ist. Der Abschnitt bx der Lothlinie ist z. B.
kürzer als der von uns gemessene Abschnitt des auf dem Rücken
aufliegenden Centimetermaasses zwischen b und dem hinter x liegen¬
den 7. Halswirbel, der Werth 13 ist etwas zu hoch. Wir haben
also für alle die Punkte cf, b, c und d bezüglich ihrer Entfernung
vom Aufhängungspunkt des Lothes etwas zu hohe Werthe erhalten.
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100
E. Kirchhoff.
Einmal wird dieser Fehler aber zum grossen Theil durch die Be¬
festigungsart des Centimetermaasses ausgeglichen, indem dasselbe
so eingeklemmt ist, dass erst der zweite Theilstrich der Höhe des
7. Halswirbels entspricht, wodurch die scheinbar zu hohen Zahlen
je um 1 cm an Werth verlieren, und zweitens wird ein und derselbe
Fehler bei allen Messungen in gleicher Weise gemacht und ist in
Folge dessen weniger bedeutungsvoll. Wer ihn indessen vermeiden
will, kann ohne weitere Schwierigkeit absolut genaue Werthe er¬
halten; er hat nur vermittelst des kleinen Winkeleisens den Auf¬
hängungspunkt des Lothes so weit vom Körper weg zu verlegen,
dass das Centimetermaass in seiner ganzen in Betracht kommenden
Länge frei herabhängt. Zu diesem Zweck wird es über das Winkel¬
eisen gelegt und vermittelst desselben in der entsprechenden Ent¬
fernung vom Körper gehalten (s. Fig. 5). Da der Winkel des Eisens
ein rechter ist, muss man nur darauf achten, dass das Bandmaass
überall den beiden Eisenplättchen anliegt, dass der kurze horizontale
Schenkel des Centimetermaasses senkrecht zur Lothlinie steht, um
einen genau in der Höhe des 7. Halswirbels befindlichen neuen Aus¬
gangspunkt zu erhalten. Die nothwendigen Werthe für die einzelnen
Punkte 0/ c und d erhält man nun dadurch, dass man von der
in der Höhe des betreffenden Punktes befindlichen Zahl des Centi¬
metermaasses die die Länge des kurzen horizontalen Schenkels an¬
gebende Zahl abzieht.
In ganz analoger Weise wie die laterale wird die anteroposteriore
Krümmung gemessen. Wir nehmen auch hier wieder ein bestimmtes
Beispiel. Das herabhängende Loth steht bei 48 dem Anfang der Crena
clunium gegenüber und zwar in sagittaler Richtung 3 cm von ihr
entfernt, was wir mit dem Punkt a (48/3) in Figur 7 notiren. Das
Centimetermaass liegt von oben bis zum Theilstrich 15 dem Rücken
an und hängt erst von hier ab frei herab; wir vermerken demnach
den Punkt b mit 15. Um das Loth in seiner ganzen Länge frei
herabhängen zu lassen, müssen wir den Aufhängungspunkt von der
Messingplatte fort, nach uns zu, verlegen, was in der vorhin ge¬
schilderten Weise vermittelst des kleinen Winkeleisens geschieht;
4 cm genügen in unserem Fall, um das Loth so weit vom Körper
711 entfernen, dass es den Rücken in b nur noch eben tangirt. Der
Punkt c wird also mit 4 notirt. Jetzt bestimmen wir noch den am
weitesten von der Lothlinie entfernten Punkt der Domfortsatzlinie,
den wir in d (34/7) finden, und zeichnen dann wieder die durch die
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Einf. Meth., d.lat.Deviat. u. d. anterop. Krümmung d.Domfortsatzl. z. messen. 101
Punkte ebda bestimmte Curve, welche nun dieses Mal der antero-
posterioren E^rümmung der Wirbelsäule entspricht.
Wie bei der Bestimmung der lateralen Deviation müssen wir
auch bei der Bestimmung der anteroposterioren Krümmung die Mög¬
lichkeit vorsehen, dass das Loth den Körper berührt, bevor es bis
zur Höhe der Crena clunium verschoben ist. Wir nehmen an, dieses
geschehe im Punkte e (53) der Figur 8. Die Punkte c, b und d
können wir ebenso wie vorhin bestimmen, nur beim Punkt a (Anfang
der Crena clunium) gestaltet sich die Messung anders, weil dieses
Fig. 7.
0
10
20
30
40
50
c ♦
00
Fig. 8.
Mal das von b aus frei herabhängende Loth vor den Anfang der
Crena clunium fällt; wir müssen das Winkeleisen zu Hülfe nehmen
und den Aufhängungspunkt des Lothes so weit vom Körper weg
verlegen, dass die Lothspitze in der Höhe des Anfangs der Crena
clunium eben den Körper berührt (s. Fig. 5). Der neue Aufhängungs¬
punkt ist D, und nun können wir die Lage des Punktes a leicht
aus den Werthe aD (= der durch die Lothspitze bezeichneten Zahl
weniger De = 57) und DA (= DC — AC — 2) bestimmen. Der
Punkt a wird also mit 57/2 bezeichnet. Für die Praxis dürfte es
indessen vollkommen genügen, wenn man die Linie de so weit über
e hinaus verlängert, bis sie eine durch y (die Entfernung Ay ist
leicht vom Centimetermaass abzulesen) zu den Querlinien parallel ge¬
zogene Linie triffib.
Auch bei allen Messungen der anteroposterioren Krümmungen
haben wir wieder den bereits oben besprochenen kleinen Fehler ge¬
macht; selbstverständlich gilt auch hier alles dort Gesagte. Nun
kommt aber eventuell noch eine andere kleine Ungenauigkeit hin-
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102
E. Kirchhoff. Einfache Methode etc.
zu, auf welche wir aufmerksam machen müssen. Wir haben den
Punkt d (s. Fig. 7 u. 8) stets vom Bandmaass aus bestimmt, ohne
darauf Rücksicht zu nehmen, ob er überhaupt in der durch das
Bandmaass gelegten sagittalen Ebene liegt, haben also, wenn das
nicht der Fall ist, einen etwas zu hohen Werth erhalten. Aber
auch dieser Fehler ist so unerheblich, dass man ihn imberücksichtigt
lassen kann, im übrigen ist er für jeden, der ihn vermeiden will,
leicht zu umgehen.
Das ganze Verfahren ist sehr viel einfacher als seine umständliche
Beschreibung; jeder^ der es einmal praktisch versucht, wird ohne
Schwierigkeiten damit fertig werden, wenn er auch naturgemäss die
genügende Gewandtheit, um schnelle Messungen herzustellen, erst durch
eine gewisse Uebung erhält. Wem zum Zeichnen der Curven die
von uns angegebenen Punkte nicht genügen, der kann ohne grosse
Umstände noch jeden beliebigen anderen Punkt bestimmen und wird
dadurch eine um so grössere Genauigkeit erzielen.
Schliesslich sei noch als weiterer Vortheil der Methode der
Umstand erwähnt, dass die Aufzeichnungen so wenig Raum fort¬
nehmen, dass man sie bequem bei jedem Krankenjoumal am Rande
beifügen kann.
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VI.
Ueber Entstebmig und Behandlung der seitlichen
Rückgratsverkrünunnng.
Im Aoschluss an die gleichbetitelte im Jahre 1890 im Verlage von
Ferdinand Enke in Stuttgart erschienene Broschüre.
Von
Dr. Hermann Wolfermann, Strassburg i. E.
Mit 13 in den Text gedruckten Abbildungen.
Unter Hinsicht auf die Resultate, die ich mittelst des von mir
construirten und in die Praxis eingeführten portativen Detorsions-
apparates erzielt habe, hat sich meine Auffassung über die die De¬
formität bedingenden mechanischen Vorgänge gefestigt und in weiter¬
schreitendem Sinne vertieft. Wenn ich auch zugeben muss, dass die
von mir empfohlene Behandlungsmethode nicht allen Anforderungen
gerecht wurde, so hatte ich doch die Ueberzeugung gewonnen, durch
dieses Verfahren die bisher üblichen auf schwachen Grundlagen
fassenden Behandlungsarten der habituellen Skoliose beseitigen und
durch eine rationelle ersetzen zu können. Es sei mir gestattet, in
Folgendem den Standpunkt, den ich heute in dieser wichtigen, das
Interesse der Fachleute immer noch in hohem Grade beanspruchenden
Frage einnehme, zu veröffentlichen.
Dass sich nur bei richtiger Würdigung der in Frage kommenden
mechanischen Vorgänge eine Therapie mit Aussicht auf Erfolg ein¬
leiten lässt, liegt auf der Hand. Mit Skoliosenbehandlung sollte sich
überhaupt Niemand befassen, der die nöthige Schulung nicht besitzt,
denn es werden da oft Fehler gemacht, die später nicht mehr zu
verbessern sind, wie dies die tägliche Erfahrung lehrt. Ich wähle
den Ausdruck Behandlung absichtlich, weil das oft gebräuchliche
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104
Hermann Wolfermann.
Wort Heilung mir zum mindesten gewagt erscheint. In prophy¬
laktischer Hinsicht nichts versäumen, die ersten Anzeichen einer be¬
ginnenden Deviation rechtzeitig aus der sogen, schlechten Haltung
erkennen und mit geeigneten Mitteln bekämpfen, dahin sei unser
ganzes Streben gerichtet.
In vorgeschrittenen Stadien befindliche Verkrümmungen
können wir wohl verbessern, da die Dehnung im Zustande der Con-
tractur sich befindender Muskeln und Bänder eine Aufrichtung bis zu
einem gewissen Grade zulässt, heilen jedoch können wir sie nicht
Wenn auch ich die habituelle Skoliose als eine theilweise Be¬
lastungsdeformität auffasse, so bleiben doch die in oben erwähnter
Arbeit enthaltenen Auslassungen, was die Torsion der skoliotischen
Wirbelsäule betrifft, in ihrem ganzen Umfange aufrecht erhalten,
denn ich könnte mir nicht vorstellen, wie die Schwerkraft allein eine
Drehung um die Längsachse der Säule bewirken sollte, wenn nicht
zu dieser Kraft sich noch eine direct horizontal wirkende hinzugesellte.
Es ist also eine Kräftecombination, welche die seitliche Aus¬
biegung der Säule, mitsammt deren Drehung um die Längsachse,
mit consecutiver Thoraxdeformirung, den Rippenbuckel, die Ver¬
schiebung des Brustbeines etc. zuwege bringt.
Ich muss bei dieser Gelegenheit bemerken, dass das Experiment
der Compression einer künstlichen Wirbelsäule in der Richtung der
Längsachse, wobei nebst der entstehenden seitlichen Ausbiegung der
Vorgang der Drehung um die Längsachse demonstrirt werden soll,
falsch ist, wie wir aus dem Folgenden ersehen werden, wo es sich
um die Gesetze der Statik handelt, die wir nach der graphischen
Methode wiedergeben möchten.
Denn, dass wir der letzteren zur Erklärung der Vorgänge der
seitlichen Ausbiegung und der damit zusammenhängenden patho¬
logischen Veränderungen der in Mitleidenschaft gezogenen Theile un¬
fehlbar bedürfen, wird nicht zu bestreiten sein, da es heute wohl kaum
noch Jemand geben dürfte, der einen anderen Standpunkt als den, dass
der Erscheinung der seitlichen Rückgratsverkrümmung rein mechanische
Momente zu Grunde lägen, vertreten möchte.
Wie schon in früheren Abhandlungen betont, ist als feststehend
anzunehmen, dass nur ein weiches Knochengerüste in Verbindung
mit schlaffer Musculatur unter der andauernden abnormen Belastung
sich biegen und seine ursprüngliche Form einbüssen, resp. die nor¬
male Weiterbildung verhindern wird.
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lieber Entstehung u. Behandl. der seitl. Rückgrateverkrümmungen. 105
Was die sonstigen ätiologischen Momente anbelangt, verweise
ich auf die vorzüglichen Erklärungen in Hoffa's Lehrbuch der ortho¬
pädischen Chirurgie.
Die zum Verständniss der mechanischen Vorgänge nothwendige
Beweisführung lässt sich in Kurzem etwa in folgenden allgemein ver¬
ständlichen Sätzen der graphischen Statik zusammenfassen.
Wird z. B. ein prismatischer Körper in der Richtung seiner
Achse belastet, d. h. gezogen oder gedrückt, so vertheilt sich die
Spannung gleichmässig über den ganzen Querschnitt des Prismas,
und man könnte sich denselben als aus einem
Bündel paralleler Fäden bestehend vorstellen. Fig. 1.
Hieraus geht klar hervor, dass ausser dieser
Spannung in der Richtung der Achse keine
andere Beanspruchung des Materials existiren
kann.
Wird hingegen ein prismatischer Körper
durch zwei in gleicher Richtung, aber in ent¬
gegengesetztem Sinne wirkende Kräfte bean¬
sprucht, so entstehen in der Trennungsfläche
sogen. Schubspannungen; auch diese Schubspan¬
nungen vertheilen sich gleichmässig auf die ganze
Trennungsfläche. Wirkt nun in einem bestimmten
Querschnitt des oben erwähnten prismatischen
Körpers auch eine solche Schubspannung, so kann
die Maximalspannung nicht mehr parallel zur Achse gerichtet sein,
wird vielmehr abgelenkt werden in die Diagonale des Parallelo¬
gramms, das wir aus der Zug- und Druckspannung einerseits, aus der
hinzutretenden Schubspannung andererseits herstellen können.
Fig. 2.
Wird nun irgend ein prismatischer Körper an einem Ende fest¬
gehalten und am anderen Ende durch eine Kraft senkrecht zur Rich¬
tung der Achse des Körpers angegriflfen, so wird er sich biegen. Dieses
Biegen kann aber nur dadurch entstehen, dass jeder der Querschnitte
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Hermann Wolfermann.
des Körpers, welche Querschnitte früher alle parallel waren, sich um
einen sehr kleinen Winkel dreht. Zwischen zwei solchen benach¬
barten Querschnitten aa und bb sind daher die Fasern des Körpers
einestheils verlängert, anderntheils verkürzt worden. Diese Ver¬
längerungen und Verkürzungen der Fasern entsprechen natürlicher¬
weise Zug- und Druckspannungen, welche der gekrümmten Achse BA
parallel wirken.
Diese Spannungen sind aber nicht die einzigen, welche in einem
in besprochener Weise angegriffenen Körper auftreten, denn die
Kraft 4> sucht noch jeden Querschnitt über den nächstliegenden weg-
Fig. 4. Fig. 5.
zuschieben; hierdurch entstehen Schubspannungen, welche sich mit
den oben erwähnten Biegungsspannungen zusammensetzen und da¬
durch die Richtimg der Maximalspannungen bedingen, und zwar wird
die Richtung dieser Maximalspannungen da, wo die Biegungs¬
spannungen vorwiegen, sehr wenig von der Richtung der Achse ab¬
weichen, also z. B. bei der Befestigungsstelle des Körpers; am anderen
Ende hingegen sind die Biegungsspannungen schwächer; die Schub¬
spannungen, welche bei dieser Belastungsweise, wenn alle Quer¬
schnitte gleich gross, constant sind, haben das Uebergewicht, daher
nehmen die Maximalspannungen eine Richtung von ungefähr 45 ^
gegen die Achse des Körpers an.
Bestimmt man nun in verschiedenen Querschnitten eines solchen
Körpers die Richtung der Maximalspannungen und zeichnet die ein-
hüUende Curve dieser Richtungen, so entstehen Linien, wie sie neben-
skizzirte Figur zeigt. In diesen Linien wird daher das Material des
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Leber Entstehung u. Behandl. der seitl. Rückgratsverkrümmungen. 107
Körpers am meisten beansprucht, und man könnte sich das Material
als in diesen Linien concentrirt denken; alsdann würde man einen
gitterformigen Körper erhalten, welcher denselben Widerstand bietet,
wie ein voller Körper.
Wirkt nun die Kraft 4> statt senkrecht nach einer beliebigen
Richtung zur Achse des Körpers, so ist sofort klar, dass der Verlauf
oben erwähnter Linien ein anderer sein muss.
Wirkt sie z. B. vorwiegend ziehend, wie in nebenstehender
Figur, so werden die Curven der Maximalinanspruchnahme steiler
sein, d. h. keine so grosse Abweichung von der Richtung der Achse
Fig. 6. Fig. 7.
zeigen, weil hier die Schubspannungen, welche durch die horizontale
Componente H der E^raft 4> entstehen, verschwinden gegen die
Längenspannungen der verticalen Componente V und der gleich¬
gerichteten Biegungsspannungen ersterer.
Denkt man sich daher der Reihe nach die Kraft 4> nach ver¬
schiedenen Richtungen wirkend, so wird man jedesmal einen anderen
Verlauf der Linien erhalten.
Ist der Körper nicht prismatisch, sondern nach einer beliebigen
Form gebogen, so ändert sich an der Sache nichts; es werden nur
die verschiedenen Spannungen je nach der Stelle verschieden hervor¬
treten; z. B. bei nebenskizzirtem Körper werden die Schubspannungen
in der Partie abc vorwiegen und daher die Richtung der Maximal¬
spannung stark von der Richtung der Achse ab weichen, während
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108
Hermann Wolfermann.
im senkrechten Theile ab de die Schubspannungen gegen die Druck-
und Biegungsspannungen verschwinden, die Richtung der Maximal¬
inanspruchnahme daher vorwiegend eine zur Achse parallele Richtung
nehmen.
Aus diesen Darstellungen haben wir für die gröberen Er¬
scheinungen einer seitlichen Krümmung eine einigermassen deut¬
liche Erklärung, so dass es überflüssig erscheint, nach einer anderen
für diese Vorgänge suchen zu müssen.
Es bleibt uns nur noch übrig die Erscheinung der Torsion
oder der Drehung um die Längsachse der Säule.
Dass die Wirbelkörper nicht einfach zur Seite geschoben sind,
ersieht man daraus, dass die zur Sagittalebene senkrecht stehende
vordere Berührungsebene eine Drehung erfahren hat. Diese Drehung
ist nur auf ein horizontal wirkendes Kräftesystem zurückzuführen,
das sich aus folgenden Componenten zusammensetzt:
a) in der Horizontalebene: senkrecht zur Frontalebene und senk¬
recht zur Sagittalebene, diese letztere jedenfalls drehend;
b) in der Verticalebene die Schwerkraft.
Wer sich für erschöpfende mathematische Beweisführung, so¬
weit dieselbe möglich, interessirt, findet diese in der eingangs citirten
Arbeit; jedoch muss ich mich in Kürze noch mit der Thoraxdefor-
mirung befassen, da unser Augenmerk in therapeutischer Beziehung
ja hauptsächlich auf letztere gerichtet ist, weil sich dem Redresse¬
ment in vorgeschrittenen Fällen oft genug unüberwindliche Hinder¬
nisse entgegenstellen.
Wie bereits gesagt, ist die Missstaltung eine derartige, dass
dieselbe nicht lediglich als Folge einseitiger Belastung aufgefasst
werden darf. Es müssen hier direct horizontale Kräfte wirken, die
mit der Schwerkraft zusammen eine Resultante liefern, die obige
Deformität bewirkt.
Die Querfortsätze der Wirbelkörper bilden gewissermassen die
Strebebalken der Rippen, oder umgekehrt, die Rippen sind die Strebe¬
balken der Wirbelkörper, welche die Säule in einer gewissen Krüm¬
mung erhalten, aber auch ein Ausweichen aus der Sagittalebene ver¬
hindern sollen. Sobald nun der Druck der Rippen zu beiden Seiten
gleich stark ist, kann der Einfluss der Schwerkraft nur dahin gehen,
die Krümmung in der Sagittalebene umzugestalten. Anders ist es,
wenn zu einer Seite ein Ueberschuss von Druck vorhanden ist.
Wenn der Druck längs der Rippen zu beiden Seiten gleich ist.
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lieber Entstehung u. Behandl. der seitl. Rückgrats Verkrümmungen. 109
SO kann ein solcher Ueberschuss nur von ungleicher Neigung der
Ansatzenden gegen den Horizont herrühren. Denn ist die eine
Neigung a, die andere ß, so ist die horizontale Componente das eine
Mal A, das andere Mal A' nach dem Parallelogramm der Kräfte.
Fig. 8.
Wie wir aus der Fig. 1 ersehen, ist, wenn a <C ß
h > //'.
Es wirkt dann also links die Kraft h — h! mehr als rechts.
Nehmen wir an, AMÄ' sei der Winkel der Querfortsätze (Fig. 9),
und bezeichnen wir A—A' mit w, so können wir u zerlegen in eine
Kraft senkrecht MA und eine in der Richtung J/iV, also in r und s.
Die Kraft r sucht den Wirbelkörper um M zu drehen, mit
einem Momente A M r.
Da aber der Wirbelkörper wohl drehbar, zu gleicher Zeit je¬
doch nicht fixirt ist, so bewirkt die Kraft r nicht nur eine Drehung,
sondern auch eine Verschiebung aus der Sagittalebene.
Fig. 9.
M
Die Kraft s, deren AngriflPspunkt wir nach dem bekannten
mechanischen Gesetze: Man darf den AngriflFspunkt einer Kraft in
der Richtung verschieben, nach M verlegen können, wirkt in M senk¬
recht zur Sagittalebene und in horizontaler Richtung in derselben.
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110
Hermann Wolfermann.
Dieser Ueberschuss u hat also im Gefolge:
1. eine Drehung um M und eine Verschiebung des Wirbel¬
körpers nach rechts;
2. eine Verschiebung von M nach rechts und nach vom.
Wirkt der Ueberschuss u nicht senkrecht zur Sagittalebene, so
gibt es immerhin eine Componente derselben in dieser Richtung.
Die andere Componente wirkt dann in der Richtung der
Sagittalebene.
Durch diese Kräftewirkung wird die rechtsseitige Rippe ge¬
drückt und zwar in einem Maasse, dass die Krümmung derselben
zu-, die Rippensehne (Gerade, welche die Endpunkte verbindet) also
abnimmt.
Dieser Druck wird aber auch seine Rückwirkung auf den
Wirbelkörper selbst haben, der wie die Rippe ebenfalls noch im
Wachsthum begriffen ist. Es wird eine unausbleibliche Folge sein,
dass, wenn wir uns die verticale Medianebene des Wirbels in ihrer
gedrehten und verschobenen Stellung denken, der rechte Querfort¬
satz mit ihr einen kleineren Winkel bilden wird, als der linke, so
dass der erstere eine mehr sagittale Richtung besitzen muss.
Bei dieser Darstellung habe ich das Bild einer rechtsseitigen
Dorsal- und linksseitigen Lumbalskoliose vor Augen gehabt.
Die wirklichen Verhältnisse entsprechen obigen Darstellungen
in der That.
Ich musste auch diese mechanischen Vorgänge ins Gedächtniss
zurückrufen, weil bei der Construction einer Vorrichtung, die den
Zweck erfüllen soll, diesen abnormen Druckverhältnissen entgegen¬
zuwirken, hauptsächlich mit den zuletzt angeführten Kräften gerechnet
werden musste.
Wenn man unter der Dislocirung der Wirbelsäule, die wir
Skoliose nennen, es nur mit einer rein seitlichen Ausbiegung der
Säule mit der entsprechenden Thoraxverschiebung zu thun hätte, so
würde sich die Behandlung zu einer höchst einfachen gestalten in
dem Falle einer rechts- oder einer linksseitigen Totalskoliose. In
solchem Falle würde ein entsprechender Seitendruck die Asymmetrie
aufheben.
Dies ist aber der seltenere Fall, dass eine einfache Curve be¬
seitigt werden soll, und würde, wie gesagt, diese Erscheinung der
Behandlung keinerlei Schwierigkeiten bereiten.
Die Mehrzahl der Fälle jedoch weicht von dieser einfachsten
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üeber Entstehung u. Behandl. der seitl. Rückgratsverkiümmungen. lU
Form ab und bietet das Bild einer doppelten oder auch dreifachen
Abweichung der Rückencurve aus der Sagittalebene. Dazu gesellt
sich gleich von Anfang an die Erscheinung des sogen. Rippen¬
buckels, eines grösseren hinteren und eines kleineren vorderen der
entgegengesetzten Thoraxseite, als Folge der Drehung um die Längs¬
achse der Säule, wie dies vorhin beschrieben wurde.
Um auf die gebogene und gedrehte Wirbelsäule wirken zu
können, ist vor allen Dingen dahin zu streben, den in einer Rich¬
tung constant vergrösserten Diagonaldurchmesser des Thorax zu ver¬
kleinern, und auf diese Weise die Störung der Symmetrie zu verringern,
oder ganz zu beseitigen. Dass man zu diesem Resultate nicht durch
Anwendung von Seitendruck gelangt, ist unschwer zu erkennen, ja
man würde auf diese Weise die Deformität noch vergrössem, weil
durch solchen Druck der Rippenwinkel ein noch kleinerer würde, da
die Querfortsätze der convexen Seite noch mehr in die sagittale Stellung,
d. h. nach rückwärts gedrängt würden. Dies wäre falsch. Ich be¬
finde mich in dieser Hinsicht mit anderen Forschem vollständig im
Einklang. Folgerichtig wird es sich also darum handeln, der seit¬
lichen Ausbiegung, sowohl als der Drehung, gleichzeitig zu begeg¬
nen, und dies geschieht im Grunde genommen auf höchst einfache
Art, indem man durch Druck auf die höchste Wölbung des
hinteren Rippenbuckels eine Drehung der Rippen nach vornen be¬
werkstelligt, welche Drehung naturgemäss einen Druck auf die ent¬
sprechenden Wirbelkörper zur Folge hat (durch die Vereinigung
der Rippenköpfe mit den Wirbelkörpera in den Articulationes costo-
vertobrales), wodurch die dislocirten Wirbel der Medianebene wieder
genähert, oder in dieselbe eingeschoben werden sollen.
Um diesen Vorgang zu erzeugen, bedarf es natürlicherweise
einer lebendigen Kraft, welche eine möglichst constante sein muss,
weil es nicht anders denkbar ist, als einer durch ein combinirtes
Kräftesystem entstehenden oder entstandenen Deformität mit eben¬
solchen und zwar constant wirkenden Kräften zu begegnen.
Wie der Druck auf den vorderen Rippenbuckel, am sogen.
Rippenbogen ausgeführt wird, werde ich nachher bei der Beschrei¬
bung des Apparates, dessen ich mich seit längerer Zeit bereits be¬
diene, zeigen.
Wenn auch zugegeben werden kann, dass periodische Bear¬
beitung des Thorax, geschehe solche nun im Detorsionsrahmen, oder
im sogen. Skoliosebarren oder sonstwie, mit der Zeit eine Besserung
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112
Hermann Wolfermann.
durch die früher erwähnte Dehnung von Muskeln und Bändern, die
im Zustande der Contractur waren, erreicht werden kann (ich ver¬
zichte wiederholt auf den Ausdruck Heilung), die Neigung aber, in
perverser Stellung zu verharren, beim Patienten eine anhaltende ist
und diese Neigung, besonders während mehrstündigen Sitzens in der
Schule nur durch in unserem Sinne thätige Gegenkräfte bekämpft
werden kann, dann ist entschieden einer Vorrichtung der Vorzug
einzuräumen, welche die Wirbelsäule in gewissem Sinne
fixirt, beständig der Torsion entgegenarbeitet und die
Compression auf der concaven Seite aufhebt. Gleich¬
zeitig wird jede freie, ungünstig wirkende Rotation des
Oberkörpers gegenüber dem Becken unausführbar.
Einzelne dieser nothwendigsten Bedingungen wurden durch den
von mir im Jahre 1887 angegebenen Detorsions-Apparat,
welcher mit einer einzigen Drehachse in der Medianebene gelegen,
versehen war, erfüllt.
Zwei Uebelstände jedoch veranlassten mich, den Apparat dahin
umzugestalten, dass 1. die Schultern derart fixirt werden, dass sie
mit dem Becken (dieses als Basis betrachtet) in frontaler Richtung
stehen, was mit einer Drehachse nicht auszuführen gewesen. 2. Die
Brustseite des Thorax von jeder circulären Einschnürung
oder ümgürtung zu befreien.
Diese Umgestaltung ist also nicht als eine Verbesserung in
dem Sinne aufzufassen, als ob der ursprünglichen Construction grobe
Fehler anhafteten, sondern ist zu betrachten als ein Ergebniss weiter¬
schreitender Erkenntniss des äusserst complicirten Vorganges bei der
Skoliosenentwickelung.
Dass es möglich ist, auch ohne Einschliessung der vorderen
Thoraxhälfte mit der nöthigen Kraftentwickelung auf die Abnormi¬
täten des Thorax corrigirend einzuwirken, wird die nun folgende
Beschreibung meines reconstruirten Apparates darthun.
Ich bediene mich zur Entfaltung der nothwendigen Kräfte, wie
bei dem ersten Apparate, spiralförmig gewundener Federn, welche
zu beiden Seiten der das Becken umfassenden imprägnirten Filzcein-
ture verlaufend, auf zwei Drehachsen, welche die gedachte Me¬
dianebene zwischen sich fassen, einwirken. Die in jede der beiden
Drehachsen eingefügten Pelotten, die in beliebiger Höhe, immer an
der Stelle der grössten Ausbiegung fixirt werden können, wirken
dabei mit einer Kraft, die von der Stärke der angewandten Spiral-
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üeber Entstehung u. Behandl. der seitl. Rückgratsverkrümmungen. 113
Fig. 11.
federn abhängig ist, auf die zu bearbeitenden Theile, und zwar
greifen sie, wie aus der Abbildung ersichtlich und wie dies bei der
Construction des Apparates nicht anders gedacht werden kann, zu¬
erst an der prominentesten Stelle an, drängen die entsprechenden
Theile nach vorwärts, zu gleicher Zeit die Seiten Verschiebung des
Thorax beseitigend.
Das vordere Ende der Pelotten
reicht gerade bis in die Axillar¬
linie. Wie aus Fig. 1 und 2 er¬
sichtlich, sind diese Pelotten ver¬
stellbar. Unsere Figur zeigt die
Pelotten in einer Einstellung, wie
sie bei rechtsseitiger Dorsal- und
linksseitiger Lumbalskoliose ge¬
braucht wird.
Bei linksseitiger Dorsal- und
rechtsseitiger Lumbalskoliose müsste
die obere Pelotte zur linken, die
untere zur rechten Seite gesetzt
werden; 4 n diesen Fällen sind ge¬
wöhnlich beide Federn in Thätig-
keit. Bei rechts- oder linksseitiger
Dorsalskoliose, mit noch geradem
Lendenabschnitt, ist nur die obere
Pelotte in Thätigkeit, während die
untere fixirt wird, aber auch in
gleiche Höhe mit der wirkenden gebracht werden kann. Ebenso
würde man verfahren im Falle einer rechts- oder linksseitigen Total¬
skoliose, wo nur eine Pelotte in Thätigkeit wäre.
Bei primärer Lendenskoliose, wo das eine Taillendreieck ein
stumpferes geworden, oder ganz verstrichen ist, würde die Pelotte
auf der Seite der Convexität wirken, während die andere in die
Concavität zu liegen käme, Raum genug zwischen dieser und der
Pelotte lassend.
Dies sind die Fälle, in welchen der Apparat mit Erfolg An¬
wendung finden kann.
Die Benützung von nur einer Federkraft, oder von beiden zu¬
gleich, hängt somit ganz vom gegebenen Fall ab und muss deren
Zeitflcbrift für orthopädische Chirurgie. II. Baud. g
Deutsches Reichs-Patent: a.
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114
Hermann Wolfermann.
Anwendung dem behandelnden Arzte überlassen werden. Zurecht¬
kommen wird mit dieser Anordnung ein Jeder.
Zum richtigen Verständniss der Construktion meines Apparates
sei es mir gestattet, diese in ihren Einzelheiten zu erklären.
Als Grundlage für den wirksamen Theil des Apparates dient
eine das Becken allseitig exact umschliessende, aus imprägnirtem Filz
geformte Ceinture a, zur Festigung von einem Metallstreifen m eingefasst.
Der Mitte der Rückseite der Ceinture entsprechend, ist eine
Führung i befestigt, in welche ein Rückengestänge b eingefügt ist,
in der Medianebene verlaufend.
Das obere Ende dieses Gestänges trägt zwei Schulterhalter r,
die in Chamieren sich bewegend, durch eine horizontal (von einem
Schulterhalter zum anderen in frontaler Richtung) ausgespannte Spiral¬
feder l' beständig in die Höhe gedrängt werden, p' ist ein Fixirungs-
klämmerchen, durch welches diese Feder ausser Thätigkeit gesetzt
werden kann, wie dies beim Anlegen des Apparates wünschenswerth
ist. Ein leichter Druck auf einen der Schulterhalter lässt diese
Fixirungseinrichtung von selbst nach abwärts gleiten und es beginnt
sofort durch Zusammenziehung der Feder die erwähnte Hebung, um
eine in sagittaler Richtung verlaufende Drehachse.
Was soll mit dieser Vorrichtung erreicht werden?
Wenn man sich vorstellt, dass mittelst der Pelotten h ein con-
stanter Druck auf die höchsten Rippen Wölbungen ausgeübt wird,
welcher Druck die Wirbelsäule, die im Zustande der Aufwickelung,
oder der Torsion sich befindet, wiederum abwickeln soll, so ist klar,
dass bei einer eintretenden Verlängerung der Säule deren Endpunkte
sich von einander entfernen werden; oder mit anderen Worten, beim
Kürzerwerden der Linie der grössten Krümmung ist es geboten, dass
die Schulterhalter der eintretenden Verlängerung sich anpassen, auf
der Seite der Concavität als Stütze dienend. Man könnte vermuthen.
die Schwerkraft würde die Spannung der Feder aufheben. Es werden
allerdings die Schulterhalter infolge der Belastung wieder nach ab¬
wärts gedrückt, doch nur bis zu gewissem Grade, so dass die an¬
haltende Thätigkeit der Feder gesichert ist.
Es stehen hinteres Beckentheil und Schulterhalter in frontaler
Richtung parallel.
Die Wirbelsäule wird vermöge dieser Einrichtung gewisser-
massen fixirt, kann also nicht nach der einen oder der anderen Seite
ab weichen.
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Ueber Entstehung u. Bebandl. der seitl. Rückgrats Verkrümmungen. 115
Dieser Zwang für die Säule, in deren oberem Abschnitt in der
Sagittalebene verharren zu müssen, ist erforderlich, um auf die da¬
runterliegenden skoliotisch ausgebogenen Theile einwirken zu können.
Man erhöht hierdurch die Stabilität und hat gesorgt, dass der
Schwerpunkt in seiner Lage möglichst nahe der Verticalen durch
den Unterstützungspunkt liegt, e sind die Fühnmgshülsen für die
Drehachsen d.
Mit seinem unteren Ende gleitet das Rückengestänge b in der
Führung i, in welcher Führung eine Drehung um die Längsachse
wegen des Vierkants s nicht stattfinden kann, n ist eine Verschluss-
schraubenmutter.
h eine spiralförmig gewundene Druckfeder, welche das Rücken¬
gestänge in die Höhe drängt.
Bei der Zusammenstellung des Apparates hat man darauf Be¬
dacht zu nehmen, dass die Distanz von der Achselhöhle zum Becken¬
kamme gerade so gross bemessen werde, als diese der Wirklichkeit
bei aufrechter Haltung des Patienten entspricht (nicht in Streckung).
Würde diese Distanz zu lange bemessen, so könnten beim in die
Höhedrängen der Schulterhalter durch Druck auf den Plexus axillaris
die bekannten Störungen auftreten, die aber bei exacter Arbeit nie¬
mals in die Erscheinung treten werden.
f sind Drehhebel, in welche die Spiralfedern l mit dem einen
freien Ende eingehängt werden, während das andere Ende seinen
Stützpunkt in den Knöpfen o findet.
q ist ein mit Löchern r versehenes Metallplättchen, gegen
welches die Drehhebel durch die Klammern p fixirt werden können.
Bei eingesteckten Klammem sind die Federn l ausser Thätig-
keit und die Pelotten h stehen nach rückwärts, ohne zu drücken,
was bei der An- und Ablegung des Apparates zu beachten ist.
A sind die Pelotten, die an die Drehachsen d in beliebiger Höhe
angeschraubt werden können.
u stellt Metallrippen dar, x Schlaufen am hinteren Pelottenende
zur Vereinigung mit der Rippe, z ist eine Fixirungsschraube am
vorderen Pelottenende.
w sind Löcher in den Führungshülsen e mit dem Zweck, die
au den Drehachsen angebrachten Pelotten nach Bedürfniss in be¬
liebiger Stellung mittelst kleinen Schrauben zu fixiren, also ausser
Thätigkeit zu setzen.
Mit Ausnahme des Rückengestänges, der Drehachsen und der
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116
Hermann Wolfermann.
Führungshülsen letzterer, die aus Stahl gefertigt sind, sind sämmt-
liebe Metallbestandtheile aus Aluminium gearbeitet; die Beckenceinture
aus imprägnirtem Filz, so dass das Gewicht eines derartigen Appa¬
rates je nach der Grösse desselben zwischen 600—1500 g variirt.
Fig. 12.
Fig. 12 zeigt uns den Apparat am Patienten angelegt mit aus¬
gehobenen, an Fäden herabhängenden Klammem; die horizontal auf
der Ceinture verlaufenden Federn, deren Spannung nach Bedürfniss
geregelt werden kann auf eine Drehkraft, die dem Gewichte von
2—8 kg entspricht, sind jetzt in Thätigkeit, und wirken in be¬
schriebener Weise langsam aber stetig auf die entsprechenden
Stellen.
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üeber Entstehung u. Behandl. der seitl. Rückgrats Verkrümmungen. 117
Der Tropfen höhlt den Stein aus; warum sollte man nicht einer
langsam gelinden, dafür aber continuirlich wirkenden Kraftentfaltung,
einem Redressement forcö gegenüber den Vorzug einräumen? ja, ich
nehme keinen Anstand, das letztere geradezu zu verwerfen, weil mit
unseren Auffassungen, die die Entstehung der seitlichen Rückgrats-
Verkrümmung betreffen, nicht im Einklang stehend und den mecha¬
nischen Principien zuwider laufend.
So wie ich bemüht war, eine Kräftecombination zu finden, die
im Stande wäre, Rückgrats-Verkrümmungen mit Erfolg zu behandeln,
lag es auch in meiner Absicht, dies in einer den Patienten schonen¬
den, wenig belästigenden Weise auszuführen, und habe ich dies er¬
reicht
1. durch möglichst geringe nicht in Frage kommende Gewichts¬
verhältnisse, und
2. durch vollständige Freigabe der vorderen Thoraxhälfte.
Es werden somit auch die bisherigen Gegner portativer Appa¬
rate, die eine Besserung oder Beseitigung des Leidens ausschliesslich
in der Heilgymnastik suchten, zu der Ueberzeugung gelangen, dass
die Mechanik auch für den Mediciner ein wissenswerthes Fach bilden
kann, dessen Studium uns befähigt, mit Erfolg zu arbeiten und uns
die Genugthuung verschafft, manchen sonst gesunden Menschen, der
langsam aber sicher gänzlicher Verkrüppelung anheim fiele, von
dieser Missstaltung und den damit zusammenhängenden Beschwerden
errettet zu haben.
Fig. 13 zeigt uns die Vorderseite des mit dem Apparate ver¬
sehenen Patienten. Was da zu sehen ist, ist eigentlich wenig. Mit
Ausnahme der Vorderseite der Beckenceinture, an welcher man die
Verschluss Vorrichtung erkennt, und der unter den Achselhöhlen her¬
vortretenden Schulterhalter, bemerken wir nur einen elastischen, 5 cm
breiten Bandstreifen f, der von einer Vorderkante der Pelotte zur
anderen hinzieht; die Befestigung dieses Bandes geschieht in den
Knöpfchen o.
In diesen elastischen Bandstreifen ist eine runde, 6—7 cm
breite, mässig convex gepolsterte, verschiebbare Pelotte eingeschaltet.
Diese Pelotte nun hat den Zweck, auf den vorderen Rippen¬
buckel, wenn ein solcher vorhanden ist, zu drücken. Wie stark
dieser Druck sein darf, hängt natürlicherweise vom betreffenden Fall
ab; z. B. bei stark entwickelter, rechtsseitiger Dorsal- und links¬
seitiger Lumbalskoliose, mit stark vergrössertem rechten, von rechts
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118
Hermann Wolfermann.
und hinten nach links und vomen verlaufendem Diagonaldurchmesser,
darf die Anspannung schon eine etwas beträchtliche sein, auch wenn
beide Pelotten in Thätigkeit sind.
Ist die eine der Pelotten fixirt, dann kann die Spannung um
Fig. 13.
weniges erhöht werden, weil ja die Federwirkung dadurch noch
unterstützt wird. In den Fällen, wo der vordere Rippenbuckel noch
nicht bemerkbar, kann auch diese eingeschaltete Pelotte wegfallen
und einfach der Bandstreifen vornüber von einem Pelottenknopfe
zum anderen hinziehen.
Eine Norm für den Gebrauch oder Nichtgebrauch dieser vor-
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Ueber Entstehung u. Behandl. der seitl. Rückgratsverkrümmungen. 119
deren Druckpelotte gibt es nicht; hier entscheidet die Eigenartigkeit
des Falles.
Wo aber die ersten Anzeichen eines vorderen Rippenbuckels
in die Erscheinung treten, ist die Einschaltung dieser Pelotte indicirt,
mögen nun beide hinteren Pelotten in Thätigkeit, oder eine derselben
fixirt sein.
Zum Schlüsse noch einige Worte über die die Behandlung
unterstützenden, uns zu Gebote stehenden Hilfsmittel.
Gymnastische Uebungen sollten täglich ausgeführt werden, da
es sich in der Mehrzahl der Fälle um Kräftigung und stärkere Ent¬
wickelung einer ohnehin schlaffen Musculatur handelt.
Diese Uebungen sind so einzurichten, dass die Muskeln zu beiden
Seiten der Symmetrieebene gleichmässig zur Arbeit herangezogen
werden.
Man erreicht dies durch die sogen. Freiübungen, Stabübungen
oder den Gebrauch zweckdienlicher Geräthe. Als solches möchte ich
nach meinen Erfahrungen den sogen. Ruderapparat, den ich in meinen
Tumcursen regelmässig anwende, besonders hervorheben.
Es wird damit den sich sonst einstellenden Muskelcontracturen
und Bänderverkürzungen entgegengearbeitet. Zur zeitweiligen Ent¬
lastung bediene ich mich der Suspension am Kopfe mit Unterstützung
unter den Schultern, sowie der schiefen Ebene.
Indem wir aber bei der Behandlung nicht allein eine mangel¬
haft entwickelte schlaffe Musculatur, sondern was weit schwerwiegen¬
der ist, ein weiches Knochengerüste zu berücksichtigen haben, so ist
die Benützung eines portativen Apparates, der in statischer
Hinsicht den gestellten Anforderungen gerecht wird, un¬
erlässlich, und jeder bleibende Erfolg ohne Zuhilfenahme eines
solchen absolut undenkbar.
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VII.
Mittheilungen aus dem orthopädisclien Institute von
Dr. A. Lüning und Dr. W. Schultliess, Privat-
docenten in Zürich.
IV.
Aerztlicher Bericht Ober den Zeitraum von der Gründung des
Instituts im September 1883 bis Ende des Jahres 1890.
Erstattet
Ton den Anstaltsärzten.
Mit 4 in den Text gedruckten Abbildungen.
(Schluss.)
II. Spondylitis.
75 Fälle.
Die im Zeitraum des Berichtes zur Beobachtung und theilweise
zur Behandlung gelangten Fälle betrafen 40mal das weibliche und
35mal das männliche Geschlecht.
Das 1. Altersdecennium ist mit 31 (16 männlichen, 15 weib¬
lichen), das 2. mit 24 (10 männlichen, 14 weiblichen), das 3. mit 12
(6 männlichen, 6 weiblichen), das 4. mit 5 (3 männlichen, 2 weib¬
lichen), das 5. mit 1 (weiblich) Fällen vertreten. Dazu kommen
noch 2 Frauen von 67 und 74 Jahren.
Dem Wohnorte nach recrutiren sich 46 Fälle aus dem Canton
Zürich, 2 aus Zug, 6 aus St. Gallen, 4 aus Graubündten, 4 aus
dem Aargau, 7 aus dem Thurgau, l jeweilen aus Appenzell, Luzern,
Tessin, Unterwalden und 1 aus Italien.
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Aerztl. Bericht über den Zeitraum von der Gründung des Instituts etc. 121
Von der Gesammtzahl traten nur 48 Fälle für kürzere oder
längere Zeit resp. wiederholt in unsere Behandlung. Während das
Skoliosenmaterial unseres Institutes grösstentheils den besser situirten
Kreisen entstammte, gehörten die Spondylitiden, wenigstens was die
frischeren und einer methodischen Behandlung bedürftigen Fälle
betrifft, meist der ärmeren und ungebildeten Klasse an. Es erklärt
sich dieses Verhältniss einmal aus der wenigstens scheinbaren Leich¬
tigkeit, die Behandlung nicht allzuschwerer Fälle von Spondylitis,
wenn sie einmal instituirt ist, in guten häuslichen Verhältnissen
durchzuführen, der Abneigung, für eine zum Voraus nicht wohl be¬
stimmbare Zeit sich in fremde Pflege zu begeben, der Langwierig¬
keit des Leidens, die einer consequenten und gleichmässigen Behand¬
lung immer gefährlich sein wird und zu anderweitigen Experimenten
verleitet, der Concurrenz anderer Heilanstalten u. s. w.
Andererseits ist es gerade bei der bedürftigeren Patientenklasse
schwer und oft unmöglich, eine auch nur den dringendsten An¬
forderungen gerechte Behandlung lange genug durchzuführen. Zu
Hause geht dies meist gar nicht an, und einen längern Aufenthalt
im Institute verbieten die in einer Privatanstalt unausweichlichen
grösseren Kosten.
Unter diesen Umständen gestaltet sich die Sayre’sche Me¬
thode zu einer wichtigen Errungenschaft, insofern sie eine viel
grössere Ausdehnung der ambulanten Praxis gestattet; allerdings
sahen wir uns mehrfach aus socialen Gründen zu ihrer Anwendung
gezwungen, wo wir unter andern Verhältnissen zunächst von ihr
abgesehen hätten.
Die Stadien der Erkrankung, in denen sich unsere Pa¬
tienten präsentirten, waren in der weitaus überwiegenden Mehrheit
der Fälle schon fortgeschrittenere. Nur in 6 Fällen war keine Spur
eines Gibbus zu entdecken, in allen übrigen war derselbe schon
andeutungsweise oder mehr oder weniger ausgebildet vorhanden. In
einem Falle von Spondylitis der untern Halswirbel (Nr. 95) bestand
eine hochgradige Lordose der Halswirbelsäule, die zu Erstickungs¬
anfällen geführt hatte (ohne Abscess), in einem andern eine Total¬
kyphose nach abgelaufener Spondylitis der Lendenwirbelsäule (Nr. 399),
Als abgelaufene Fälle, d. h. ohne Spur von Druck- oder Belastungs¬
empfindlichkeit der gibbösen Wirbel erwiesen sich 19, während 47
mehr oder weniger ausgeprägte Symptome von Schmerzhaftigkeit
der betroffenen Wirbel zeigten. Unter diesen befanden sich nur
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122
A. Lüning und W. Schulthess.
wenige Fälle ganz frischer Erkrankung, meist Kinder in den ersten
Lebensjahren betreffend.
Abgesehen von 4 Fällen, von denen genauere Notizen hierüber
fehlen, localisirte sich der tuberculöse Process
lOmal in der Halswirbelsäule,
1 „ „ „ Hals- und Brustwirbelsäule,
34 „ „ „ Brustwirbelsäule,
4 „ „ „ Brust- und Lendenwirbelsäule,
21 „ „ „ Lendenwirbelsäule,
1 „ „ den untersten Lenden- und obersten Kreuzbein¬
wirbeln.
Die Häufigkeitsscala würde also mit der von Billroth und Mohr
gefundenen übereinstimmen. In einer Anzahl von Fällen, die wegen
der verhältnissmässigen Unsicherheit der Diagnose nicht näher pra-
cisirt werden kann, schien mehr als ein Wirbel an der Erkrankung
betheiligt zu sein; in einem Falle (Nr. 081), der jetzt der Ausheilung
entgegengeht, war ein älterer, nicht mehr empfindlicher Gibbus der
mittleren Brustwirbelsäule durch einige normale Wirbel von einem
neueren, noch schmerzhaften der obersten Brustwirbel getrennt.
Ueber das Verhältniss der Altersscala zur Locali-
sation gibt folgende Tabelle Aufschluss:
Alter
1
Hals-
Wirbel
Brust¬
wirbel
Lenden¬
wirbel
Summa
2— 5 Jahre
5
6
5
16
5-10 „
2
9
4
15
10-20 ,
2
12
7
21
20—30 .
1
5
4
10
30—80 ,
1
4
3
8
Total 1
11
36
23
70
In der vorstehenden Tabelle sind die Mischfälle (z. B. Brust-
und Lendenwirbel) je weilen zu dem höher gelegenen Wirbelabschnitt
gezogen. Es ergibt sich aus derselben ein ziemlich gleichmässiges
Verhalten der Localisation auf allen Altersstufen mit deutlichem
Vorwiegen der Spond. dorsalis. Eine Ausnahme macht die Cervical-
Spondylitis, von der die Hälfte aller Fälle im ersten halben Decen-
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Aerztl. Bericht über den Zeitraum von der Gründung des Institute etc. 123
nium und */S in den ersten 10 Lebensjahren zur Beobachtung kamen.
Der einzige beobachtete Fall von Spond. cerv. von über 30 Jahren
war traumatischen Ursprungs. Diese Thatsache ist eine längst beob¬
achtete und feststehende; ein gegentheiliges Verhalten der Lenden¬
wirbelsäule im kindlichen Alter geht dagegen aus unserer Zusammen¬
stellung nicht hervor. — Weitergehende Schlüsse aus einer so
zufällig zusammengekommenen und relativ kleinen Statistik zu ziehen,
dürfte wohl nicht am Platze sein.
Unter den ätiologischen Momenten, soweit wir die¬
selben eruiren konnten, spielt natürlich die Heredität der Tuber-
culose eine Hauptrolle, die sich bei einer bedeutenden Anzahl unserer
Patienten nachweisen Hess. Da unser Material wegen seiner topo¬
graphischen Ausdehnung eine persönliche Anschauung der ein¬
schlägigen Verhältnisse meist nicht gestattete, unterlassen wir die
Aufstellung einer Procentziffer, die sich jedenfalls ziemlich hoch be¬
laufen würde. Zu bemerken wäre noch, dass wir einige Fälle aus
für die Lungentuberculose ziemlich immunen Berggegenden (z. B.
Davos, Engadin, Bergell) erhielten. Ferner schliesst sich die Wirbel¬
erkrankung bei zwei erwachsenen Männern unmittelbar an schwere
Verletzungen der Wirbelsäule an. Der eine davon (Nr. 92),
ein herculisch gebauter 36jähriger Mann, war bei der Probe¬
belastung einer Brücke mit dieser zugleich eingestürzt und hatte
ausser einer Beckenfractur eine Verletzung (Fissur?) des 2. Lenden¬
wirbels erlitten, der andere (Nr. 346), ein 28jähriger Eisenbahn¬
angestellter, war zwischen zwei Puffer gerathen und bot zunächst
alle Symptome einer Eingeweide-Ruptur, nach deren Rückgang sich
erst eine Läsion des 1. Lendenwirbels deutlicher erkennen Hess. Ob
diese Erkrankungen, die beide in Heilung ausgingen — im erstem
Falle erst nach mehr als Jahresfrist und unter leichter Gibbus-
Bildung — unter das Bild der tuberculösen Spondylitis sich ein¬
reihen lassen, ist zu bezweifeln, immerhin aber nicht mit Sicherheit
auszuschliessen.
Wenn wir auch nicht der Ansicht der bekannten amerikanischen
Autoren beipflichten, dass der Ausgang von Verletzungen ein sehr
häufiger sei (nach Taylor in über der Hälfte der Fälle), so ver¬
fügen wir andererseits über einige Beobachtungen, in denen die un¬
zweifelhaft tuberculöse Erkrankung der Wirbel direct an schwerere
Traumen anschloss. Dies Verhalten hat ja nach unseren Kennt¬
nissen über experimentelle Erzeugung von Gelenktuberculose nichts
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A. Lüning und W. Schulthess.
Auffälliges mehr. So war z. B. bei Nr. 44 Sturz von einem Wagen
aufs Pflaster mit schwerer Kopfwunde, bei Nr. 88 Sturz von ca.
10 Fuss Höbe auf die Füsse mit Belastung der Ausgangspunkt
des Leidens. In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle ist dagegen
ein schwereres Trauma mit Sicherheit nicht vorausgegangen.
Von Complicationen haben wir verhältnissmässig wenig zu
berichten, da Fälle mit anderweitigen tuberculösen Organerkrankungen
naturgemäss weniger in orthopädische Behandlung treten, resp. sich
für letztere nicht eignen; einige solcher Fälle mussten bei späterem
Auftreten solcher Complicationen in Spital- resp. Privatbehandlung
übernommen werden. So bestand in einem Falle (Nr. 11) neben
der bereits abgelaufenen Spondylitis, die ausnahmsweise mit leichter
Gymnastik behandelt wurde, eine latente Ostitis des Caput tibiae und
eines Capit. radii. Nach 3monatlicher Kur, welche die vorher auf¬
fallend schlechte und mühselige Haltung wesentlich verbessert hatte,
zwang das Auftreten einer tuberculösen Gonitis zum Aussetzen der
orthopädischen Behandlung. Patient starb 8 Jahre später.
Für die Gestaltung der Therapie sind natürlich Complicationen
von Seiten der Brustorgane von Wichtigkeit. Unsere beiden
ältesten Patienten, Frauen von 74 und 67 Jahren litten an chroni¬
scher Bronchitis, und es konnte deshalb weder an eine Behandlung
in Horizontallage, noch mit Sayre'schem Corset gedacht werden.
Beide erhielten einfache Stützapparate, die ihnen das Verlassen de^
Bettes ermöglichten und ihre Beschwerden wesentlich erleichterten;
beide sind indessen nach 1 resp. \2 Jahr ihren Lungenleiden erlegen.
— Bei einem 11jährigen Knaben (Nr. 54) mit schwerer noch frischer
Spondylitis des 8. Brustwirbels bestand ebenfalls eine hartnäckige
Bronchitis. Hier trat nach ömonatlicher Gypscorsetbehandlung voll¬
ständige Ausheilung beider Affectionen ein. — Ein 20jähriges, sehr
abgemagertes Mädchen mit linksseitigem Spitzenkatarrh (Nr. 316) er¬
holte sich ausgezeichnet im inamovibeln Gypscorset bei gleichzeitigem
mehrmonatlichem Bergaufenthalt; leider entstand aber nach 5monat-
lichem Tragen des Corsets ein Iliacalabscess und musste Patientin
aus äusseren Gründen in ihr heimatliches Spital versetzt werden. —
Bei einem Fall, der in dauernde Heilung ausging (Nr. 78), wurde
eine intercurrente Nephritis beobachtet, ebenso Imal Chorea (Nr. 155).
Von directen Folgeerscheinungen des Kranklieitsprocesses wur¬
den Abscesse 7mal notirt und zwar Imal in der seitlichen Hals¬
gegend bei Cervicalspondylitis (Nr. 263), 6mal als liliacal- resp.
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Aerztl. Bericht über den Zeitraum von der Gründung des Instituts etc. 125
Psoasabscesse bei AfFection der Brust- oder Lendenwirbel. Noch
secemirende Fisteln am Halse zeigte ferner ein Fall von alter Hals-
wirbelcaries (Nr. 139). Bei der schon betonten Zusammensetzung
unseres Materials ist eine Procentberechnung natürlich nicht zulässig;
ohne Zweifel müsste sich die Procentzahl bedeutend höher stellen,
wenn die Beobachtungen sich über die ganze Krankheitsdauer er¬
streckten. — Bei den abgelaufenen Fällen wurden mehrfach geheilte
Fisteln constatirt. Nur ein Fall (3jUhriges Mädchen, Nr. 89) bot
schon bei der ersten Untersuchung Abscess und Psoascontractur,
bei den übrigen 6 entwickelte sich die Eiterung erst im Verlaufe
der Behandlung resp. Beobachtung. Das ersterwähnte Kind, das in
ärmlichen Verhältnissen und entfernt von Zürich auf dem Lande bloss
mit Horizontallage behandelt wurde, konnte erst nach beinahe Jahres¬
frist, gelegentlich einer Consultationsreise, wieder gesehen werden;
es hatte sich ein massig starker, nicht mehr empfindlicher Lenden-
gibbus entwickelt, der grosse Abscess aber war spurlos und ohne
Perforation nach aussen verschwunden. — Die Resorption resp. Ein¬
kapselung mit Schrumpfung der Senkungsabscesse wird zwar neuer¬
dings in Abrede gestellt und vorstehende Beobachtung ist als zu
discontinuirlich nicht einwandsfrei; indessen erlaubte ein analoger
Fall, der in der Privatpraxis über 3 Jahre lang ständig und genau
verfolgt wurde, das Entstehen und langsame Wiederverschwinden
eines mächtigen Iliacalabscesses ohne Perforation nach innen oder
aussen bis zur völligen und seit 2 Jahren andauernden Ausheilung
zu verfolgen. Die Perforation in ein inneres Organ entgeht der
klinischen Beobachtung wohl kaum; so konnte in einem unten zu
besprechenden Falle (Nr. 682) von Pfannencaries nach Resectio coxae
die Perforation des subiliacalen Beckenabscesses in den Darm an den
periodischen Eiterabgängen mit evidenter Verkleinerung des Abscesses
mit Sicherheit, in einem anderen Falle von dorsaler Spondylitis
(Privatpraxis) der Durchbruch ins Nierenbecken klinisch und mikro¬
skopisch mit grösster Wahrscheinlichkeit festgestellt werden.
Abgesehen von den häufig notirten neuralgischen Erscheinungen
am Rumpfe und in den Extremitäten, die in einem Falle sogar draussen
zur Verwechslung mit Ischias geführt hatten, sind schwerere Erschei¬
nungen von Seite der Medulla in unserem Beobachtungsmaterial
wenig vertreten. Ein Fall (3jähriges Mädchen Nr. 117) mit schwerer
Spondylitis der untersten Halswirbel und consecutiver completer Para¬
lyse der Beine, vorübergehend auch der Sphinkteren und Parese der
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A. Lüning und W. Schulthess.
Arme wurde durch Extension, Massage und Elektricität während
3monatlichem Aufenthalt in der Anstalt so weit hergestellt, dass zu
Hause dann völliger Rückgang der Paralysen erfolgte; die bereits
bestandene ungewöhnlich starke Lordose blieb dagegen unverändert.
2 grössere Mädchen (Nr. 192 und 474) von je 14 Jahren mit meh¬
rere Jahre altem dorsalem Gibbus und früher bestandener Paralyse
kamen wegen Spasmen und Contracturen der Unterextremitäten, die
im ersten Falle zur Spitzfussstellung geführt hatten, vorübergehend
in unsere Behandlung. Endlich musste ein während 6 Monaten
poliklinisch mit Gypscorsets behandelter Sjähriger Knabe (Nr. 271)
wegen auftretendem Psoasabscess und beginnender Paralyse ins
heimathliche Cantonsspital instradirt werden, da die Aufnahme ins
Institut aus äusseren Gründen nicht möglich war.
Von weiteren concomitirenden Erscheinungen ist noch zu be¬
richten, dass ein 4jähriges Mädchen (Nr. 95) aus dem Canton Grau-
bündten mit starker spondylitischer Lordose der untersten Halswirbel
zu Hause Erstickungsanfälle zeigte, nachdem bis dahin die
abnorme Kopfhaltung (auch vom Arzte!) als Unart taxirt und dis-
ciplinarisch behandelt worden war. Wir konnten als Ursache der
Dyspnöe keinen Abscess auffinden, mussten vielmehr dieselbe in der
starken Lordose, eventuell auch einer vorübergehenden Schwellung
der prävertebralen Weichtheile erblicken. Während der sofort ein¬
geleiteten Extensionsbehandlung im Institut verschwand die Dyspnöe
gänzlich und traten auch keine Anfälle mehr auf. Die Extension
wurde zu Hause fortgesetzt, später ein Minervaapparat getragen und
vollständige Heilung erzielt, von der wir uns später selbst überzeugen
konnten. Ein uns nur in der Sprechstunde vorgestellter 7jähriger
Junge (Nr. 647), dessen Spondylitis dors. seit 3^2 Jahren bestand
und im wesentlichen abgelaufen war, klagte hauptsächlich über Be¬
schwerden beim Essen und Dyspnöe, die sichtlich durch Zunahme
des Gibbus bedingt waren.
Die Diagnose bot uns in keinem unserer Fälle nennenswerthe
Schwierigkeiten; Täuschungen und Irrthümem ist man dagegen auch
bei wachsender Erfahrung in der Bestimmung des jeweiligen Stadiums
der Erkrankung ausgesetzt. Leider ist die doch relativ häufige Af-
fection bei manchen Aerzten noch nicht genügend bekannt und in
ihrer Tragweite von anderweitigen Verkrümmungen des Körpers
unterschieden. So erklärt es sich, dass uns ab und zu solche Kinder
zum „Turnen“ zugeschickt werden, deren unsicherer Gang und
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Aerztl. Bericht über den Zeitraum von der Gründung des Instituts etc. 127
schmerzhaft fixirte Wirbelsäule auch ohne den selten fehlenden Gibbus
die Spondylitis verrathen würden. Gänzliches Fehlen des Gibbus
wurde nur in 6 Fällen gesehen; 2 davon betrafen die Halswirbel¬
säule, die auch im Verlaufe der in beiden Fällen (Nr. 237 und 263)
länger anhaltenden Erkrankung sich nicht weiter deformirte; viel¬
leicht war die Localisation mehr eine articuläre, immerhin führte
aber der erstere zu einem Senkungsabscess. Die übrigen 4 Fälle
betreflFen erwachsene weibliche Individuen (Nr. 267, 554, 643 und
649), von denen nur der erste (Lendenwirbel) bis zu Ende beobachtet
ist. — In einem zuerst nicht ganz klaren Falle (Nr. 18), dem von
ärztlicher Seite, als vermeintlichem „Rheumatismus“, heisse Bäder
verordnet waren, welche die Schmerzen aber jeweilen auf das hef¬
tigste steigerten, konnte das bekannte Experiment mit dem heissen
Schwamm zur prompten Localisation der Diagnose verwerthet werden.
Die von uns angewandte Behandlung weicht in keiner Weise
von der für dieses Leiden jetzt allgemein adoptirten und üblichen
ab, und wir sind an Hand unserer Erfahrungen keineswegs im Falle,
hiefür neue Gesichtspunkte aufzustellen. Leider waren wir aus den
schon oben erwähnten Gründen mehrfach gezwungen, die Behand¬
lung poliklinisch und oft auf weite Distanzen in Fällen durchzu¬
führen, für die nach unserer Ansicht der Eintritt in die Anstalt ge¬
boten war, wenn es die Verhältnisse gestattet hätten.
Von den 10 Halswirbelspondylitiden (s. Tabelle oben)
wurden nur 5 Fälle von uns behandelt; 4 davon in der Anstalt,
1 poliklinisch. Von den übrigen wurden 2 in dürftigen Verhält¬
nissen lebende Kinder mit Paraplegie (Nr. 47) und zahlreichen Fisteln
am Halse, profuser Eiterung und Allgeraeintuberculose (Nr. 139) bei
der ersten Consultation in Spitalbehandlung verwiesen. Ein 2jähriges
Kind (Nr. 641) wurde nach unseren Anweisungen vom Hausarzt be¬
handelt, ebenso ein ca. 25jähriger Mann (Nr. 468), 2 weitere in der
Hauptsache abgelaufene Fälle mit starker Deformität bloss consultativ
gesehen.
Die 5 von uns persönlich behandelten Fälle sind sämmtlich ge¬
heilt, 3 davon, die wir von Anfang an behandelten, ohne (Nr. 237)
oder mit ganz unbedeutender (Nr. 142, 263) Deformität. 2 ältere
Fälle, die schon mit bedeutender lordotischer Verbiegung eintraten,
wurden wenigstens von der compliehrenden Paralyse (Nr. 117) und
bis zur SuflFocation sich steigernden Dyspnöe (Nr. 95) befreit. Das
souveräne Mittel bestand in allen Fällen in der Gewichtsextension,
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A. Lüning und W. Schulthess.
die immer zuerst in der seit Volkmann üblichen Weise im Bette
applicirt wurde. Erst nachdem die Kopfbewegungen freier und
schmerzlos geworden, wird Aufstehen gestattet und tags über ein
Minervaapparat (Rückenkopfstange mit Beckengurt, Achsel trägem
und Kinnhinterhauptsgurt) getragen, Nachis die Gewichtsextension
fortgesetzt. In noch späterem Stadium und bei erwachsenen Pa¬
tienten haben wir uns bei Tage mit dem Tragen einer von uns ge¬
nau modellirten, nach oben und unten stark ausladenden Cravatte
aus poroplastischem Filz oder Gyps begnügt. Bei einem 2 V^jährigen
Mädchen (Nr. 263) entstand in diesem späten Stadium bei schon
fast völlig wieder beweglicher Wirbelsäule ein Senkungsabscess vor
dem M. sternocl., der auf antiseptische Incision und Auslöffelung in
kurzer Zeit ausheilte.
Von den 64 übrigen Fällen dorsaler und lumbaler Wirbel¬
erkrankung sind 43 in Behandlung getreten, 26 poliklinisch, 17
wurden für kürzere oder längere Zeit, viele davon wiederholt, in die
Anstalt aufgenommen, meist zur Anfertigung von Corsets oder ander¬
weitiger Stützapparate.
Unter den nicht in Behandlung getretenen Fällen befinden sich
eine grössere Anzahl veralteter, abgelaufener Fälle, an denen
nichts mehr zu ändern war, mit den bekannten Buckelbildungen und
secundären Deformationen des Rumpfes. Verschiedene davon waren
während der ganzen, zum Theil vieljährigen Dauer des Leidens nie
zu Bette gelegen! Wiederum andere, meist entfernter Wohnende,
die sich nicht zu einem Aufenthalte im Institute entschliessen konnten,
wurden mit Rathschlägen zu eigenen oder zu Händen der Hausärzte
entlassen und haben sich, der Weisung entgegen, nicht mehr vor-
gestelit. Einige stellten sich bloss zur Vornahme von Controll-
messungen vor; einigen wenigen mit schweren Complicationen, die
voraussichtlich einem längeren Krankenlager entgegengingen, wurde
Aufnahme ins Spital angerathen, hauptsächlich der geringeren Kosten
wegen.
Wo immer möglich, suchten wir in frischen Fällen mit
noch vorhandener stärkerer Schmerzhaftigkeit mindestens 1—2 Mo¬
nate zuerst die Horizontallage auf gut gepolsterter Matratze inne¬
halten zu lassen; dies geschah namentlich ausnahmslos bei den ins
Institut aufgenommenen derartigen Patienten. Als schmerzstillendes
Mittel von prompter Wirkung wurde daneben in einigen FäUen für
kürzere Zeit der Chapman’sche Eisbeutel angewandt, der
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Aerztl. Bericht über den Zeitraum von der Gründung des Instituts etc. 129
eine sorgfältige Lagerung und gute Beaufsichtigung verlangt, bei
Erwachsenen und grosseren Kindern sich aber ausnahmslos gut durch¬
führen liess. Bei Erkrankungen der höher gelegenen Wirbelsäulen¬
abschnitte wurde Gewichtsextension am Kopfe hinzugefügt, wo
die letztere keine Wirkung mehr versprach, mehr auf constantes
Innehalten der Horizontallage als gerade auf energische Reclination
Werth gelegt. Stärkerem Hervortreten des Gibbus wurde durch
local applicirte Kissen, bei unruhigen oder kleineren Kindern durch
an einer Bandage befestigte Rolle, seltener durch die Rauchfuss-
sche Schwebelage entgegengearbeitet. Die in neuerer Zeit von
Phelps, Nönchen, Lorenz u. A. empfohlenen Steh- resp.
Reclinationsbetten anzuwenden, fanden wir während des Zeit¬
raumes des Berichtes keine Gelegenheit; immerhin wurde dem zu
Grunde liegenden Princip der Verbringung an frische Luft durch
Benützung der zur Verfügung stehenden grossen Balkons (im Bette
oder auf Matratze) möglichste Rechnung getragen, sowie die Er¬
nährung durch Kephircuren u. dergl. unterstützt. In demselben
Rahmen bewegten sich unsere Rathschläge für die zu Hause behan¬
delten Kranken; leider fehlte es dort häufig an Verständniss und
consequenter Durchführung dieser scheinbar einfachen Massnahmen.
In einigen wenigen Fällen (Nr. 267, 673) genügten die letz¬
teren zur Herbeiführung der Heilung. Bei einigen kleinen (bis zu
2 Jahren Nr. 13) und schwer zu fixirenden Kindern, oder wo nur
polikhnische Behandlung möglich war, schon früher, sonst aber prin-
cipiell erst nach Nachlass der localen Schmerzhaftigkeit, wurde zur
Anlegung portativer Apparate übergegangen. Die Hauptrolle
spielte dabei das so einfach und leicht anzufertigende Sayre'sche
Gypscorset. Auf 31 damit behandelte Patienten kommen zu¬
sammen ca. 90 solche Corsets; die höchste auf einen einzelnen ent¬
fallende Zahl beträgt 10 (Nr. 44). Bei der Anlegung haben wir
uns von jeher von den jetzt allgemein adoptirten Grundsätzen leiten
lassen: Mässige Suspension, niemals über das subjective Wohlbe¬
finden hinaus, bei fixirtem Becken; allgemeine leichte Wattepolste¬
rung über Tricotschlauch bei inamoviblem, Filzpolsterung (angenäht)
nur des Gibbus und der Spinae ant. sup. bei abnehmbarem Corset;
geräumiges Magenpolster; Kopfstange für die Erkrankungen ober¬
halb der mittleren Brustwirbel; möglichst leichte Verbände, Ver¬
stärkung bei grösseren Individuen mit Schusterspahn oder gelochten
Blechstreifen. Nach dem Trocknen werden die Ränder ausgeschnitten,
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. II. Band. 9
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A. Lüning und W. Schulthess.
der Tricotschlauch über dieselben gezogen und mit einer Wasserglas¬
binde fixirt. Die Patienten befanden sich ausnahmslos sehr wohl in
diesen Verbänden und erholten sich zum Theil prächtig; nur in
einem Falle (Nr. 87) wurde das Corset in den ersten Tagen von den
allzu ängstlichen Eltern entfernt, denen der veränderte Respirations¬
modus Besorgniss einflösste. Decubitus von nennenswerther Bedeu¬
tung trat nur einmal bei einer sehr mageren, der Phthise verdächtigen
Person (Nr. 816) über dem Gibbus ein, da Patient unserer Controlle
entzogen war, was eine kurze Unterbrechung dieser Behandlung be¬
dingte. 2mal wurde das Corset aus Wasserglas hergestellt: bei
einem 2jährigen Kinde (Nr. 18), um der Durchnässung besser zu
begegnen, und bei einem 15jährigen Mädchen (Nr. 317), wo ein
möglichst leichter Verband erwünscht war. Sonst eignet sich das
Material weniger für diese Technik, da es bei seinem langsameren
Erstarren (trotz übergelegtem Gypsverband) leicht Falten bildet und
nicht über Tricot applicirt werden kann. Den poroplastischen
Filz haben wir bei Spondylitis niemals verwendet; die Anlegung
gestaltet sich complicirter, weniger schonend, und die fertigen Corset«
deformiren sich leichter, sind dicker, heisser und unangenehmer zu
tragen, als die von uns ebenfalls abnehmbar gestalteten Gypscorsets.
In frischeren Fällen haben wir grundsätzlich auf die Ab nehm¬
bar k eit der Corsets verzichtet. Wenn auch darunter die Haut¬
pflege vorübergehend leidet, so sind wir der Ansicht, dass die häu¬
figen Manipulationen mit der Wirbelsäule, die vielfache Wiederholung
der Suspension beim An- und Ausziehen des Corsets, einen schäd¬
lichen Reiz für die kranke Knochenpartie bilden. Ausserdem ist
man in der ambulanten Praxis nicht sicher, dass die Corsets an¬
haltend und consequent getragen werden, wenn sie beliebig entfernt
werden können. Nur ausnahmsweise (Nr. 222), wenn wir den Pa¬
tienten dauernd in der Anstalt behalten konnten und z. B. die Con-
trolle eines Abscesses ein häufigeres Nachsehen erheischt, haben wir
das Corset abnehmbar gemacht, alsdann aber ohne Suspension an¬
gefertigt und in Horizontallage entfernt und angelegt. Der all¬
fällige Nothmast dagegen wurde abnehmbar gemacht, da er im
Bette zu sehr genirt und für die Nacht durch Gevfichtsextension
ersetzt wurde.
Die Corsets wurden alle 2—3 Monate erneuert und bei dieser
Gelegenheit die Patienten einige Tage gebadet und im Bette liegen
gelassen, hie und da auch für längere Zeit dazwischen wieder Bett-
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Aerztl. Bericht über den Zeitraum von der Gründung des Instituts etc. 131
läge angeordnet, wenn der Gibbus sich zu vergrössern drohte, oder
die Patienten den Oberkörper zu sehr reclinirten, was das Sayre-
sche Corset, auch wenn man es hinten weit hinunter reichen lässt,
nicht immer verhindert; andere Apparate allerdings noch weniger,
z. B. der Taylor’sche.
Mit dem Aufhören des schmerzhaften Stadiums beginnt für den
Orthopäden die Aufgabe, ein Fortschreiten der Deformität
unter dem Einflüsse der Belastung zu verhindern und
die Wiederausbildung einer möglichst fehlerfreien und aufrechten
Haltung während der nun sich einstellenden oder bereits ihrem Ab¬
schlüsse nahen coinpensirenden Krümmungen zu begünstigen. Hiezu
haben wir meistens das abnehmbare Gypscorset verwendet,
das bei einiger üebung und Erfahrung so leicht und elegant direct
auf dem Körper gefertigt werden kann, dass es den in neuester Zeit
empfohlenen Holzcorsets kaum nachsteht, welch letztere in ihrer
Herstellung für den Arzt viel zeitraubender sind und eines eigenen
Arbeiters bedürfen. Allerdings sind letztere dauerhafter und eignen
sich somit eher für Erwachsene; unsere abnehmbaren Gypscorsets
von der Dicke eines starken Pappdeckels halten bei einiger Schonung
3—4 Monate und werden bei den meist noch im Wachsthum be¬
findlichen Individuen, um die es sich hier handelt, ohnehin zweck¬
mässiger Weise nach dieser Frist erneuert.
Aber nicht bloss der übermässigen Buckelbildung und ihren
Consequenzen für die Haltung gilt es in dieser Periode zu steuern.
In nicht seltenen Fällen gesellte sich zu der ersteren eine Inflexion
der Wirbelsäule nach der Seite, die zum Theil sehr auffällig
war; bei einem Patienten (Nr. 92) war die seitliche Abknickung so
bedeutend, dass derselbe, ein kräftiger Mann, ohne die untergestützte
Krücke nicht stehen konnte. In 9 Fällen (Nr. 11, 87, 92, 114,
128, 130, 157, 275, 633) bestand diese Complication. Sie mag zum
Theil auf ungleichmässiger Zerstörung der Wirbelkörper beruhen,
ist aber in der Mehrzahl der Fälle nur eine Folge der Muskel¬
schwäche und der unsicheren Haltung vor Consolidation der compen-
sirenden Krümmungen. Mitunter entwickelt sie sich auch erst nach
vollständigem Ablauf der Krankheit (Nr. 11, 130, 275). — Die Be¬
handlung dieser Complication ist eine verhältnissmässig dankbare.
Mit Ausnahme von 3 Fällen, die nicht in Behandlung getreten sind,
haben wir in allen übrigen Beseitigung der Seitenkrümmung bei
Ausheilung der Spondylitis zu verzeichnen. In 2 Fällen (Nr. 11
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A. Lüning und W. Schulthess.
und 130), die längst abgelaufen waren, wurde leichte Gymnastik
verordnet, bei den anderen je nach dem Stadium des Processes in-
amovible oder abnehmbare Gypsverbände, resp. Stoflfcorsets und andere
Portativapparate zur Wiederaufrichtung der Wirbelsäule benutzt.
Grössere technische Schwierigkeiten bot letztere nur bei Nr. 92, wo
die Deformität eine so hochgradige und die Contractur eine so starre
war, dass sie sich anfangs auch in der Suspension nicht beseitigen
Hess und nach Nachlass derselben die stärksten Verbände zerbrach
(Patient war ein herculisch gebauter Mann). Erst die Verstärkung
der Gypscorsets mit Zinkschienen und eine mehr allmähliche Correction
führte dann zum Ziele, das nach Anlegung von 4 Verbänden nach
ca. 8 Monaten gänzlich erreicht wurde.
Einmal (Nr. 399) wurde eine Totalkyphose nach Spondylitis
lumb. bei einem 9jährigen Jungen Gegenstand der Behandlung (eben¬
falls Sayre).
Seltener (7mal) haben wir den Taylor’schen Apparat ge¬
braucht. Mit Ausnahme von Nr. 299, einer 74jährigen Frau mit
Bronchitis, die ein circuläres Corset nicht ertragen hätte und nicht
im Bette gehalten werden durfte, geschah dies immer erst in der
späteren Periode der Behandlung. Die Gründe waren 2mal (Nr. 18
und 67) rein äussere, ebenso in einem dritten (Nr. 222), weil Patient
in seine weitentfernte Heimat entlassen werden musste; bei 2 Kindern
(Nr. 44 und 114), die eine lange Zeit Gypscorsets getragen, wurde
damit abgewechselt, um die Brust nicht allzulange circulär zu beengen.
Bei einem ferneren, im Tessin wohnenden Kinde wurde (Nr. 633),
nachdem die Seitenbiegung durch ein abnehmbares Gypscorset ge¬
hoben war, ein Taylor'scher Apparat mit Kopfmast angelegt, um
die zur Zunahme neigende Buckelbildung energischer bekämpfen zu
können. Bei einem unbemittelten, ebenfalls sehr entfernt wohnenden
Jungen endlich (Nr. 370) wurde ein einfacher Tutor ohne Gelenk
mitgegeben. —
8 Fälle, und zwar mit einer Ausnahme nur solche, bei denen
das Wirbelleiden unserer Ansicht nach gänzlich abgelaufen war, er¬
hielten sogen. Stoffcorsets, ähnlich den von uns sehr vielfach zur
Nachbehandlung bei Skoliosecuren verwendeten. Solche Corsets aus
starkem Drillich werden unter unserer Controlle und nach rationellem
Schnitt (System Dr. W. Schulthess) exact auf den Körper ge¬
arbeitet und seitlich und hinten mit einer Anzahl (4—6) Stahlstreifen
versteift, die von uns selbst in ungehärtetem Zustande am leicht
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suspendirten Körper dressirt und nach erfolgter genauer Anpassung
gehärtet und aufgenäht werden. Das Corset wird hinten, bei stärkerer
Deformität auch vorn geschnürt; es besitzt vorn die von SchuIt¬
hess angegebenen Athmungsschlitze behufs Ermöglichung costaler
Respiration, drückt nicht auf den Magen wie die gewöhnlichen
Damencorsets und stützt dabei den Rücken in ausreichender Weise;
man kann mit ihm (bei Skoliosen!) Verlängerungen des Körpers
um einige Centimeter fixiren, ohne Hüftbügel und Achselkrücken.
Die oben erwähnte Ausnahme betrifft eine (Nr. 602) 67jährige
Dame mit ausgebildetem, aber noch empfindlichem Gibbus, der wegen
Bronchitis kein starres Corset angelegt werden durfte und doch das
Aufstehen ermöglicht werden musste. Alle übrigen waren abge¬
laufene Spondylitiden schwerster Art und zwar 3 Knaben von 8 bis
10 Jahren (Nr. 44, 155, 612), 2 Mädchen von 12 bis 15 Jahren
(Nr. 275 und 474) und eine 28jährige Frau (Nr. 681), alle mit
starker Gibbusbildung und ausgebildeten compensirenden Krümmungen,
die, nachdem sie Jahre lang (1 Fall 6 Jahre!) Portativapparate ge¬
tragen, nicht auf einmal ohne Stütze gelassen werden konnten. Das
gilt namentlich bei den noch schulpflichtigen Kindern. Bei diesen,
wenigstens den Knaben, wird nach einiger Zeit das Corset nur noch
für die Schulstunden angelegt. Bei einzelnen Fällen, die diese Art
von Unterstützung von früher getragenen Apparaten her gewohnt
waren und nicht glaubten entbehren zu können, wurden Achsel¬
krücken hinzugefügt; wo immer möglich vermeiden wir diese, den
unschönen Hochstand der Schultern befördernde Beigabe. Nur in
einem Falle (Nr. 155), einem äusserst elenden und muskelschwachen
Knaben mit hochgradigster Deformation des Rumpfes nach Spondy¬
litis des 8. Brustwirbels wurden behufs Erzielung einer stärkeren
Extension die Längsschienen auf gleichfalls ins Corset eingenähte
Hüftbügel und Beckengurte aufgestützt. — In einem letzten Falle
(Nr. 345) hatte die Patientin, eine 35jährige Dame, mit vor vielen
Jahren durchgemachter Spondylitis der unteren Brustwirbelsäule,
nachdem sie schon lange gewöhnliche Corsets getragen, das Bedürf-
niss nach stärkerer Unterstützung ihres Rückens und wurde ihr durch
ein nach diesen Principien gefertigtes Corset entsprochen. —
Ueber die Behandlung der bei unseren Fällen beobachteten
Complicationen ist schon oben kurz berichtet; es erübrigt nur
noch eine Bemerkung über diejenige der Senkungsabscesse.
Von den 7 vorgekommenen Fällen (1 am Halse, 6 Psoasabscesse)
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A. Lüning und W. Schulthess.
wurden 2 bloss bei Consultationen entdeckt, aber nicht behandelt;
die 5 übrigen sind während unserer Behandlung aufgetreten. In
einem Falle der 1. Categorie wurde 1 Jahr später spontane Rück¬
bildung des Abscesses (vielleicht durch Perforation in den Dann?
s. o.) constatirt. Von den letzteren waren 4 in poliklinischer Be¬
handlung mit inamovibeln Gypscorsets, 1 stationärer Insasse unserer
Anstalt. Bei letzterem (Nr. 222), einem 7jährigen Knaben aus Grau-
bündten, der fast 2 Jahre bei uns zubrachte, entwickelte sich der
Abscess erst, als der kleine Gibbus (letzter Brust- und 1. Lenden¬
wirbel) schon unempfindlich geworden, Patient mit amovibeln Corsets
behandelt wurde und seine Entlassung bevorstand. Da der Abscess
sehr langsam herunterrückte, aber Schmerzen und leichtes Fieber
verursachte und das Allgemeinbefinden zu leiden anfing, wurde aus¬
nahmsweise zu einer activeren Therapie gegriffen, der Abscess in
Narkose von einem Querschnitt oberhalb des Lig. Poup. aufgesucht,
so weit als möglich aufwärts ausgeschabt, ohne Ausspülung drainirt
und antiseptisch verbunden. Die Secretion wurde bald gering und
nach einer nochmaligen Ausschabung der fungös gewordenen Fistel
einige Wochen später konnte der Kleine, 2 ^2 Monate nach der Ope¬
ration, mit minimal eiternder Fistel in seine Heimat entlassen werden,
wo sich letztere bald schloss und Patient sich vollends erholte.
Mehrere Monate später öfihete sich die Fistel nochmals und stiess
einen bohnengrossen tuberculösen Sequester aus; seither ist die Hei¬
lung perfect geblieben, wie wir uns wiederholt überzeugen konnten.
— Ausserdem hatten wir nur bei einem Senkungsabscesse am Halse
(Nr. 263 s. o.) Veranlassung zu operativem Eingreifen, das von
rascher Heilung gefolgt war. 2 weitere Fälle von Psoasabscess, der
eine mit beginnender Paraplegie (Nr. 271), der andere mit beginnen¬
der Lungentuberculose (Nr. 316) complicirt, konnten aus äusseren
Gründen nicht für längere Zeit sich bei uns aufnehmen lassen und
mussten deshalb an ihre heimatlichen Cantonsspitäler gewiesen wer¬
den. Bei einem 7jährigen Mädchen (Nr. 381), bei dem nach halb¬
jähriger poliklinischer Behandlung mit inamovibeln Gypscorsets ein
Ueolurabalabscess entstanden war und die mittlerweile (anfangs 1889)
in Aufnahme gekommene und in der Privatpraxis mehrfach erprobte
Injection mit Jodoformemulsion proponirt wurde, gelang es leider
nicht, die Mutter von der Nothwendigkeit dieses Eingriffes zu über¬
zeugen und sie zur Aufnahme des Kindes in die Anstalt zu bewegen;
dasselbe wurde vielmehr ganz der Behandlung entzogen. —
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Was die Behandlungsresultate betrifft, so kommt natür¬
lich zunächst dasjenige quoad vitam in Betracht. Von unseren
75 Fällen haben wir nur 5 Todesfälle nachträglich in Erfahrung
gebracht. 2 davon betreffen alte Frauen von 67 und 74 Jahren mit
chronischer Bronchitis, 2 weitere Knaben, deren Spondylitis ausge¬
heilt war, die aber, mehrere Jahre später, anderen tuberculösen
Leiden erlagen ^). Einzelne weitere Todesfälle mögen uns bei der
räumlichen Zerstreutheit unseres Materials nicht bekannt geworden
sein; wir haben die für die Aufstellung einer procentualischen Mor¬
talitätsziffer nöthig gewesene Rundfrage schon deshalb unter¬
lassen, weil unser Material ein einseitiges und für diesen Zweck nicht
geeignet ist. Während die vorhandenen Hospitalstatistiken, wenn sie
nicht gleichzeitig ein grosses poliklinisches Material umfassen, eine
zu hohe Mortalitätsziffer ergeben, leiden die Statistiken der Ortho¬
päden am entgegengesetzten Fehler, da ihnen die schweren Spital¬
fälle abgehen. Nicht so leicht irgendwo wie gerade bei dieser oft
so langwierigen Affection spielen ferner die socialen Verhältnisse eine
Rolle; in denen sich die Patienten befinden.
Um dennoch über unser Material eine ziffermässige Rechen¬
schaft abzulegen, gruppirt sich dieses folgendermassen:
Gestorben.5
Längst abgelaufene, nicht mehr behandelte Fälle . 8
Geheilt entlassen.25
Gebessert entlassen.13
Ungeheilt entlassen (Abscesse).3
Gar nicht oder vorübergehend behandelte Fälle, von
denen weitere Nachricht ausbheb.21
Total 75
Davon im Ganzen behandelt: 48.
Abgesehen von dem für den Arzt in erster Linie massgebenden
Gesichtspunkte der Erhaltung des Lebens und der Wiederherstellung
der Gesundheit und Arbeitsfähigkeit verlangt nun aber das Laien¬
publikum, jedoch auch noch einzelne Aerzte, und zwar namentlich
vom Orthopäden, eine weitere Leistung, die^ Erhaltung der natür-
hchen Form der Wirbelsäule, wo nicht gar eine Correction
*) Dazu kommt noch ein von uns wegen Paraplegie ins Kantonsspital
Zürich gewiesener ISjähriger Knabe, den wir nicht behandelt haben.
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136
A. Lüning und W. Schulthess.
der bereits eingetretenen Krümmung derselben. Unsere Erfahrungen
hierüber decken sich durchaus mit der jetzt glücklicherweise wenig¬
stens unter den Fachleuten verbreiteten Anschauung, dass eine Ver¬
hütung hochgradigerer Verkrümmung allerdings bei frühzeitiger und
sehr lange fortgesetzter Behandlung und Controlle möglich und zu
erstreben ist, nicht aber eine Correctur des bereits eingetretenen
Gibbus. Neuere Untersuchungen und auch unsere, in den ersten
Jahren des Berichtzeitraumes mit dem Bleidraht abgenommenen
Curvenzeichnungen, später an einer grösseren Anzahl von Patienten
längere Zeit durchgeführten Masszeichnungen mit dem Schulthess-
schen Apparate ergaben unzweifelhaft, dass es uns in diesem Stadium,
abgesehen von der Schaffung günstigerer Ausheilungsbedingungen
durch Entlastung, nur noch gelingt, die Ausbildung der compensiren-
den Krümmungen in functionell und kosmetisch günstiger Weise zu
beeinflussen (das gilt in erster Linie von der Lateralflexion s. o.),
dass aber der Winkel des Gibbus dadurch in keiner Weise beein¬
flusst wird, ja, dass es uns in einzelnen Fällen trotz langer und
consequenter Behandlung nicht einmal gelingt, die Zunahme des
Gibbus aufzuhalten.
Eine frühzeitige und nicht zu früh ambulante Behandlung der
Spondylitis leistet nach unserer Erfahrung auch in kosmetischer Be¬
ziehung das meiste, und es ist nur zu wünschen, dass dieser Grund¬
satz bei Collegen und Publicum noch allgemeineren Eingang finden
möge, als dies bisher geschehen. —
m. Capat obstipnm.
6 FäUe.
Hiervon fällt zunächst ein Fall (Nr. 385, 12jähriger Junge)
ausser Betracht, bei dem sich die schiefe Haltung des Kopfes als
ein Residuum einer kürzlich durchgemachten Polyarthritis heraus¬
stellte und auf Verabreichung von Natr. salicyl. ohne weitere ortho¬
pädische Massnahmen verschwand.
Die übrigen 5 Fälle betreffen sämmtlich angeborenen muscu-
lären Schiefhals, 2mal linker-, 3mal rechterseits. Das Alter der
Patienten variirte von 5 Wochen bis zu 20 Jahren; 3 waren männ¬
lichen, 2 weiblichen Geschlechts.
In 3 Fällen wurde die Tenotomie des verkürzten Muskels aus¬
geführt und zwar sowohl des sternalen als cleidalen Ansatzes; immer
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Aerztl. Bericht über den Zeitraum von der Gründung des Instituts etc. 137
die subcutane, bei Kindern in Narkose. Seit der Empfehlung des
offenen Sehnenschnittes durch Volkmann u. A. sind uns nur
2 raittelschwere Fälle bei Mädchen (Nr. 444 und 617) von 7 und
12 Jahren zur Operation zugekommen, bei denen ohnehin die ein¬
fache Tenotomie ein genügend befriedigendes Resultat versprach und
auch erzielte; ausserdem wurde Seitens der Eltern das grösste Ge¬
wicht auf Vermeidung einer grösseren Narbe gelegt. Nach reactions-
losem Wundverlauf wurde vom 3.—4. Tage an Extension am Kopfe
(im Bette) mit schiefgestelltem Bügel für ca. 14 Tage angewandt,
hierauf zu activen und passiven redressirenden Bewegungen des
Kopfes, später auch allgemeiner Rückengjmnastik übergegangen, da
die Haltung bei diesem Leiden ja immer eine schlechte ist und bei
älteren Kindern Hals- und Dorsalskoliosen nicht fehlen. Dazwischen
Lagerung auf der schiefen Ebene mit Gewichtszug an der Hand
(Esmarch-Petersen). Extension während der Nacht und Gym¬
nastik wurde auch zu Hause noch mindestens ^2 Jahr fortgesetzt.
Im einen der beiden Fälle wurde in der ersten Zeit auch noch eine
Ledercravatte getragen. Das Resultat war bei beiden Mädchen ein
sehr erfreuliches und nach Ablauf der Behandlungszeit die DifFor-
mität bis auf die in diesem Alter schon recht deutliche Asymmetrie
des Gesichtes, die ja oft nach der Correction der Haltung mehr auf¬
fallt, beseitigt.
Sehr ausgesprochen war diese Asymmetrie bei unserem 3. Ope-
rirten, einem schon 20 Jahre alten kräftigen Burschen aus Tirol
mit starker Nacken- und Brustskoliose, der leider nur kurze Zeit
sich bei uns aufhalten konnte. Bei der ohne Narkose (Nr. 20, im
Jahre 1883) vorgenommenen Tenotomie spannten sich nach Trennung
der beiden Insertionen weitere Stränge nach aussen (Platysma, Fascie),
die ebenfalls vorsichtig von demselben Einstichspunkte aus mit dem
Tenotom umgangen und durchschnitten wurden. In solchem Falle
würde heutzutage wohl die offene Aufsuchung vorzuziehen und auch
von radicalerem Erfolge sein. Immerhin wurde ein erheblicher Theil
der sehr auffälligen (linksseitigen) Deformität corrigirt; während vor
der Operation die Distanz vom
linken Proc. mast, bis Insert, stem. m. sternocl. 12,0 cm
und rechten „ „ „ „ « n « 15,5 „
betrug, ergab die Messung nach der Operation
vom linken Proc. mast, bis Insert, stern. m. sternocl. 12,5 cm
„ rechten , „ „ , , „ „ 14,0 „
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138
A. Lüning und W. Schulthess.
Sehr ausgesprochen war bei diesem Patienten, entsprechend
seinem Alter von 20 Jahren, die Asymmetrie des Gesichtes, wofür
folgende vergleichende Maasse angeführt sein mögen:
Es betrug die Distanz von
Spitze des Tragus bis Nasenspitze .... links 14,3 cm
rechts 16,0 „
„ „ äusseren Augenwinkel links 8,5 „
rechts 9,0 „
„ „ „ „ Mundwinkel .... links 11,0 ,,
rechts 12,0 „
Mitte der Augenbraue bis Spina ment. ext. links 13,5 „
rechts 14,0 „
Eine regelrechte Nachbehandlung konnte leider nur kurze Zeit
durchgeführt werden, da Patient in seine entfernte Heimath abreisen
musste; bei der Starrheit seiner Nackenskoliose wären jedenfalls
Jahre erforderlich gewesen, um eine ordentliche Correction zu er¬
reichen; Patient begnügte sich von vornherein mit der durch die
Operation erreichten und wurde mit einer links etwas höheren Cra-
vatte aus poroplastischem Filz entlassen.
In einem weiteren Falle (Nr. 235, 5 Wochen alter Knabe) be¬
stand das bekannte Kopfnickerhämatom, das wir, nebenbei bemerkt,
ausserdem wiederholt poliklinisch und in der Privatpraxis zu beob¬
achten Gelegenheit hatten, ohne dass es im Verlaufe zur Contractur
des Muskels führte. Bei dem betreffenden Kleinen, der mittelst Zange
entbunden worden, bestand schon bei der ersten Untersuchung,
5 Wochen p. part., neben dem spindelförmigen harten Hämatom ini
rechten Kopfnicker bereits eine deutliche Contractur des Muskels,
ebenso in einem zweiten (Privatpraxis, ebenfalls Zangengeburt). Die
Behandlung bestand in Massage des Hämatoms und fleissigen pas¬
siven Bewegungen durch die Mutter; während unserer Beobachtung
nahm die Contractur nicht zu; leider ist uns der Fall später aus den
Augen gekommen.
Ein letzter Fall (Nr. 129) stammt aus der Privatpraxis von
Dr. W. Schulthess und wurde sodann poliklinisch vom Institute
behandelt resp. controUirt. Da derselbe klinisch durchaus den vor¬
stehend erwähnten gleich war und durch einen Zufall zur Section
führte, so war es uns möglich, den heute wieder lebhaft discutirten
und von Petersen mit Erfolg verfochtenen congenitalen Ursprung
des musculären Schiefhalses wenigstens in unserem Falle über allen
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Aerztl. Bericht über den Zeitraum von der Gründung des Instituts etc. 139
Zweifel sicher zu stellen. Eine kurze Notiz ohne Abbildung des in
unseren Händen befindlichen Präparates wurde von uns bereits publi-
cirt (Lüning, Corresp.-Bl. f. Schweizer Aerzte 1888 Nr. 1); die
wichtigsten Daten daraus mögen hier nochmals folgen.
Emil Schn. (Nr. 129) wurde im August 1885 durch einen re-
nommirten Geburtshelfer mit der Zange entbunden. Congenitale
AflFectionen oder Defecte in der Familie nicht vorhanden, Geschwister
scrophulös, ein älterer Bruder wird wegen Genu valg. rhachit. gleich¬
zeitig von uns behandelt. — 5 Wochen p. part. constatirte der da¬
mals consultirte Dr. W. Schulthess einen taubeneigrossen knorpel¬
harten Tumor in der Mitte des rechten M. sternocleidomastoideus,
Gesichtsasymmetrie und deutliche Contracturstellung. Während der
später von uns eingeleiteten Behandlung, die in Manipulationen und
Massage seitens der Mutter bestand, bildeten sich scrophulöse Drüsen¬
tumoren zu beiden Seiten des Halses, die links zur Abscedirung
führten. Von der fistulös gewordenen Incisionswunde aus acquirirte
der Knabe im 5. Lebensmonate, wahrscheinlich von seinem gleich¬
zeitig an habituellem Gesichtserysipel leidenden Vater, ein Wander¬
erysipel, dem er erlag.
Bei der am 22. December 1885, 24 Stunden p. m. vorge¬
nommenen Section ergab sich uns nun ein sehr auffallender und un¬
erwarteter Befund. Nach Blosslegung der Mm. sternocleidom. fällt
zunächst auf, dass die rechte Clavicularportion stark nach hinten und
innen gerichtet ist. Bei Drehung des Kopfes nach links spannt sich
besonders die Clavicularportion, während die Sternalportion sich ent¬
spannt. Bei Beugung des Kopfes nach der linken Seite spannen
sich beide Portionen gleichmässig. Der spindelförmige Tumor im
Muskel, welch letzterer nirgends Verwachsungen mit der Nachbar¬
schaft oder entzündliche Veränderungen zeigt, ist verschwunden, da¬
gegen zeigt sich der rechte Kopfnicker um reichlich 2 cm kürzer
als der linke; ausserdem ist der rechte Cleidomastoideus total
sehnig, kreuzt sich mit dem Sternomastoideus und hat einen distinc-
ten Ansatz am Process. mast., der viel deutlicher von der anderen
Portion separirt ist, als links, wo die gewöhnlichen Verhältnisse
vorliegen.
Die Abbildungen (Fig. 1 u. 2) stellen die Ansicht von vom und
von hinten dar und sind nach dem frischen Präparate gezeichnet.
Dasselbe wurde, um die Differenz möglichst exact zu illustriren, so
gewonnen, dass die unteren Insertionen im Zusammenhang mit dem
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140
A. Lüning und W. Schulthess.
oberen Ende des Manubr. stemi und den Stemalenden der Schlüssel¬
beine herausgenommen und die oberen Insertionen subperiostal mit
dem Raspatorium von den Process. mastoid. gelöst wurden.
Eine mikroskopische Untersuchung des sehnigen M. cleidomastoi-
deus ist bis jetzt nicht gemacht worden, um das instructive und
seltene Präparat nicht zu zerstören. Er mag in seinem Innern ein¬
zelne Muskelbündel bergen; makroskopisch sieht er völhg wie eine
Sehne aus, allerdings ohne deren Glanz; schwiehge oder narbige
Fig. 1.
Ansicht von vorn.
Stellen, Inscriptionen oder irgend welche Andeutungen einer früheren
Rupturstelle sind nicht aufzufinden.
Der Umstand, dass im vorliegenden Falle der klinische Befund
am Lebenden sich auch nicht im Geringsten von dem bei anderen
Torticollisfällen mit Hämatom im ersten Kindesalter unterscheiden
Hess, während das Sectionsresultat zweifellos für intrauterine Ent¬
stehung der Contractur spricht, lässt mit Recht vermuthen, dass der¬
gleichen Befunde noch häufiger wären, wenn die Gelegenheit zu
Sectionen nicht so äusserst selten sich böte; die in neuester Zeit
auch aus anatomischen Gründen empfohlenen offenen Durchschnei¬
dungen lassen natürlich nicht entfernt so genaue Ver¬
gleiche zu. Der dem unseren ähnlichste Fall in der Literatur
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Aerztl. Bericht über den Zeitraum von der Gründung des Instituts etc. 141
ist der ebenfalls durch die Section im ersten Lebensalter constatirte
von Heusinger.
Was die Verallgemeinerung der nach solchen Befunden unbe¬
streitbaren Thatsache einer congenitalen Herkunft des Schiefhalses
durch Petersen betrifft, so bietet unser Material ausser dem ja
auch sonst genugsam bekannten Vorkommen von Hämatomen ohne
Contractur keine weiteren Anhaltspunkte für diese Anschauung^).
Fig. 2.
Ansicht von hinten.
Jedenfalls widerspricht es ihr nicht und kann nicht einseitig zu
Gunsten der Sromeye raschen Theorie verwerthet werden, wenn wir
zum Schlüsse noch recapituliren, dass von unseren 5 Fällen 3 durch
Zange und 1 durch Wendung entbunden wurden, während nur 1 ohne
Kunsthilfe blieb. —
*) In der Privatpraxis hatten wir Gelegenheit, bei 2 Kindern, einem
Knaben und einem Mädchen, ein Hämatom im Sternocleidom. zu beobachten,
und zwar während der ersten Lebenswochen, ohne dass sich später ein Caput
obstip. ausgebildet hätte. In einem weiteren Falle wurde im Kinderspital
ebenfalls in den ersten Wochen des Lebens bei einem Knaben ein Hämatom
festgestellt. Derselbe Knabe hat jetzt (im Alter von 10 Jahren) auf der Seite
des Hämatoms nicht nur keinen verkürzten, sondern einen geringer entwickelten
Muskel. Dr. W. Schulthess.
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142
A. Lüning und W. Scbulthess.
IT. Nicht arthrogene Contractnren nnd Paralysen.
38 Fälle.
Von diesen entfallen 17 auf das weibliche, 21 auf das männ¬
liche Geschlecht. 12 Patienten standen im Alter von 1—5 Jahren,
12 in demjenigen von 5—10 Jahren, 9 in dem von 10—20 Jahren,
5 darüber.
Das Haupteontingent zu dieser Rubrik stellte die essentielle
Kinderlähmung, 21 Fälle. Von diesen suchten 15 wegen para¬
lytischer Fussdeformitäten, meist Pes equinus, unseren Rath.
Die übrigen G Fälle sind
Nr. 9. Sjähriges Mädchen. Paralyse und Atrophie des rechten
Muse, deltoides, Residuum einer ausgedehnteren Lähmung. Nicht
in Behandlung getreten.
Nr. 76. Sjähriger Knabe. Totale Paralyse beider Unterschenkel.
Die Oberschenkelmusculatur functionirt zum Theil. Neuer Stütz¬
apparat.
Nr. 134. Sjähriger Knabe. Paralys. ess. und Atrophie des
linken Beins mit Genu valgum. Apparat angerathen.
Nr. 171. lOjähriges Mädchen. Ess. Paralyse des rechten Beines.
Beginnende Skoliose. Nicht in Behandlung getreten.
Nr. 575. P/.'jähriges Mädchen. Paral. ess. des rechten Beines,
vor ^2 Jahr eingetreten. Seither leichte Besserung, keine Contrac-
turen. Rathschläge an den Hausarzt (Electricität und Massage).
Nr. 679. Sjähriges Mädchen. Isolirte essent. Paralyse der Mm.
quadric. femor. beiderseits. Wurde durch Electricität und Massage
in der Anstalt bedeutend gebessert.
Unter den 15 paralytischen Fussdeformitäten waren 2mal beide
Füsse betroffen (Nr. 481, 516), 3 Fälle wurden bloss consultativ gesehen.
Bei allen bestand entweder Pes equinus oder equino-varus mit Vor¬
wiegen der Spitzfussstellung; bloss bei einem einzigen war der Be¬
fund ein wesentlich verschiedener.
Nr. 485. 12jäliriger Knabe. Pes equino-var. paralyt. excavatus.
Der Fuss steht in leichter, passiv bis zum rechten Winkel redressir-
barer Plantarflexion und mit leichter Andeutung von Supination.
Starke Hohlfussbildung durch Abknickung im Tarsus, ähnlich wie
bei Pes calcaneus paralyt. Beim Versuch, diese Deformität zu be¬
seitigen, starke Anspannung der Fascia plantaris. Dieselbe wird
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Aerztl. Bericht über den Zeitraum von der Gründung des Instituts etc. 143
tenotomirt und unter bestmöglichem Redressement ein Wasserglas¬
schuh angelegt, mit dem Patient herumgeht. Der Plan, durch succesiv
gesteigertes Redressement und langes Tragen von Qehverbänden, das
Fussskelett für die spätere Anlegung einer Ledersandale umzuformen,
wurde leider durch die Ungeduld der unverständigen Mutter vereitelt,
die den Knaben zu früh der Behandlung entzog.
Ausser dieser Tenotomie der Fascia plantaris wurde in 4 wei¬
teren Fällen (Nr. 56, 140, 538, 586) die Tenotomie der Achilles¬
sehne ausgeführt. Wir suchen im allgemeinen die Sehnendurch¬
schneidung wenigstens bei jüngeren Kindern beim paralytischen
Spitzfuss zu umgehen, da dem Redressement durch Verbände und
Manipulationen meist keine bedeutenden Widerstände entgegenstehen,
nehmen sie aber in solchen Fällen vor, wo dadurch eine entschiedene
Abkürzung der Behandlung und namentlich eine frühere Ermög¬
lichung des Gehactes erzielt werden kann. Auch wenn schon üeber-
streckung des Kniegelenkes besteht oder in Folge des Redressements
im Fussgelenke droht, halten wir die Tenotomie für angezeigt.
Sowohl nach vorausgegangener Tenotomie, als ohne solche,
wurde in der Regel ein erster redressirender Verband aus Gyps an¬
gelegt, bei der zweiten Categorie in Narkose. Nach ca. 14tägigem Liegen
desselben ist es fast ausnahmslos leicht, den gewünschten Grad von
Correction zu erreichen und zu fixiren. Dies geschieht in besonders
widerspenstigen Fällen nochmals durch Gyps; gewöhnlich wird ein
bis über die Wade reichender Wasserglasstiefel angelegt und der¬
selbe bis zum Festwerden durch übergelegte Gypsbinden garantirt.
Ein darüber gefertigter leichter Schuh ermöglicht sodann das Herum¬
gehen im Freien. Ist auf diese Weise eine leichte passive Dorsal¬
flexion ohne erheblichen Widerstand erreicht, so erhalten die Patienten
entweder in leichteren Fällen einen einfachen Schienenstiefel oder
einen Lederhülsenverband mit Stahlsohle für den Fuss, und Seiten¬
schienen, die bei der häufigen Neigung zu Ueberstreckung im Knie
über dasselbe hinauf geleitet werden. Dazu nach Bedürfniss ent¬
weder elastischen Zug an der Fussspitze zur Dorsalflexion oder einen
Anschlag am Fussgelenk, der die Plantarflexion verhindert.
Selbstverständlich wurde, namentlich in frischeren Fällen und
wo dies bisher noch nicht geschehen war, Massage und Electricität
mit herangezogen und methodische Dehnung der verkürzten Muskeln
durch Manipulationen vorgenommen. Ein Fall (Nr. 46) leichterer
Natur wurde einzig auf diese Weise für die Anlegung des Hülsen-
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144
A. Lüning und W. Schulthess.
Schienenapparates vorbereitet, ein anderer (Nr. 7) mit leichter Atro¬
phie und unbedeutendem Spitzfuss besuchte ausserdem die ortho¬
pädische Turnstunde behufs methodischer Gehübungen, ein dritter
(Nr. 390) erhielt nach Absolvirung einer Cur mit Massage und
Electricität einen Schienenschuh und eine Fussbewegungsmaschine
zur Uebung der activen Dorsalflexion mit nach Hause. Im Ganzen
erhielten 6 Patienten (Nr. 41, 29, 46, 140, 390, 538) Scarpa’sche
Schuhe mit Seitenschienen, 3 (56, 586, 703) Lederhülsenschienen¬
apparate, 1 (Nr. 481) mit doppelseitigem Spitzfuss rechts Schienen¬
schuh und links Hülsenapparat. Immer wurde im Princip festge¬
halten, dass die Correction vor der Anlegung dieser Bandagen ge¬
sichert und durch dieselben nur erhalten werden musste. —
Ein Fall von allgemeiner leichter Atrophie des rechten Beines
bei einem 2jährigen Mädchen (Nr. 519) gehört vielleicht eher zu
Luxat. fern. cong. Das Bein ist um 1 cm verkürzt, der rechte Ober¬
schenkel um 7 mm, die Wade um 5 mm dünner. Hie und da leichtes
Hinken, keine Coxitis, keine sicheren Zeichen von Luxat. cong.
Massage und Electricität, zu Hause angewendet, ohne sichtlichen
Erfolg. Status 2^/2 Jahre später derselbe.
Zu den Spitzfüssen gehört endlich noch ein solcher (Nr. 71)
infolge 6 Jahre alter apoplektischer Paralyse bei einem älteren
Herrn. Es wurde Schienstiefel mit elastischem Zug empfohlen. —
Eine abgeschlossene weitere Gruppe bilden 9 Fälle von con¬
genitaler spastischer Paralyse (Nr. 101, 116, 149, 184, 193,
294, 448, 599, 614), sämmtlich Kinder im Alter von 1V 2 —IO Jahren.
4 Mädchen und 5 Knaben. Mit einer Ausnahme (Nr. 599) handelte
es sich immer um das typische Bild, meist der rein spinalen und
auf die unteren Extremitäten beschränkten spastischen Gliederstarre
mit Adductionsstarre und Einwärtsrotation der Oberschenkel, leichter
Flexionsstarre der Kniegelenke und Plantarflexionsstarre der Fuss-
gelenke, die in den Fällen, wo das Gehen überhaupt erlernt wurde,
was nur bei zweien nicht der Fall war, zu dem bekannten steifen
Zehengang mit emporgezogenen Fersen, gekreuzten und sich reiben¬
den Knieen geführt hatte. Als wichtigstes ätiologisches Moment
wurde bei 7 Fällen mit Bestimmtheit Frühgeburt (einmal künstliche)
angegeben. Die Intelligenz war in 2 Fällen bedeutend, in 3 anderen
weniger stark reducirt, bei den übrigen vollkommen intact. 2 Fälle
zeigten Strabismus, 3 Betheiligung der oberen Extremitäten, wenn
auch immer in weit geringerem Masse, als der unteren. Bei
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Aerztl. Bericht über den Zeitraum von der Gründung des Instituts etc. 145
3 Patienten war die AflFection auf eine ünterextremität beschränkt
(Nr. 149, 294, 599).
Bei der Unheilbarkeit der zu Grunde liegenden spinalen resp.
cerebralen Läsionen kann es sich nur darum handeln, den Kindern
einen selbständigen, wenn auch immer unsicher und tappig bleiben¬
den Gehact zu verschaflPen, resp. denselben zu bessern und den Schul¬
besuch zu ermöglichen. Soweit wir die Kleinen nicht für längere
Zeit bei uns aufnehmen und selbst behandeln konnten, wurden die
Mütter in der Vornahme der nöthigen Manipulationen und der Mas¬
sage unterrichtet und dieselben angewiesen, diese Massnahmen Jahre
lang fortzusetzen, um wenigstens einer Zunahme der Contracturen
entgegenzuarbeiten. Einige dieser Kinder haben wir, zum Theil lange
Zeit, in der Anstalt gehabt und mit constantem Strom, Faradisation
der nicht contrahirten Muskeln, Massage, systematischer Dehnung
der spastischen Muskelgruppen durch passive Bewegungen, active
Bewegungen, Gehübungen behandelt. Trotz aller Ausdauer waren
die Resultate bescheidene, immerhin waren entschiedene Besserungen
zu constatiren. Ein Gjähriges Mädchen (Nr. 101), das unsicher ging
und sehr viel hinstürzte, lernte wenigstens soviel gehen, dass es
regelmässig die Schule besuchen konnte, ein 1 Vs jähriger Junge
(Nr. 184), der nur stehen konnte und auch starke Spasmen der
Fingerflexoren und Ellbogenbeuger aufwies, wurde in letzterer Be¬
ziehung erheblich gebessert, lernte Gegenstände ergreifen und fest-
halten und wurde auch im Gehen soweit gefördert, dass er jetzt
selbständig und ohne zu kreuzen geht. Leider zeigten gerade diese
beiden Fälle gleichzeitig schwere rhachitische Skoliosen, die von der
Behandlung unbeeinflusst blieben und sich später zu Hause ver¬
schlimmerten. — Auch bei 2 poliklinisch behandelten Fällen (116,
614) wurde eine leichte Besserung des Ganges erzielt. —
Bei den ausgebildeten, doppelseitigen Fällen haben wir auf
Schienenapparate, elastische Züge etc. von vornherein verzichtet, da
dieselben die Spasmen geradezu hervorrufen. Ein Sjähriger Knabe
(Nr. 149), schon in früher Jugend ohne Erfolg tenotomirt und noch
im 8. Jahre mit deutlich spastischem Gang, musste 6 Jahre später
(1891) wegen Pes equino-varus von uns tenotomirt werden; der
spastische Charakter der Paralyse hatte sich im Laufe der Jahre
wesentlich verringert, nur im Knie bestand noch etwas Flexionsstarre
und im Hüftgelenk Beschränkung der Aussenrotation, die durch
Massage und passive Bewegungen fast völlig behoben wurden. Patient
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. II. Band. JQ
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A. Lüning und W. Schulthess.
geht jetzt sehr gut mit Hülsenschienenapparat, ebenso ein 2j*ähriger
Junge mit ebenfalls bloss einseitiger AflFection (Nr. 599), bei dem
der spastische Charakter weniger ausgesprochen war und das erste
Redressement durch Gypsverband geschah. In beiden Fällen wird
im Apparate die Ferse durch das Hessing*sehe Bändchen nach unten
extendirt.
2 Fälle (193, 448), Knaben von 8 und 10 Jahren, mit vermin¬
derter Intelligenz imd ausser Stande zu gehen, treten nicht in Be¬
handlung.
Von auf die obere Extremität beschränkten Contracturen kamen
zur Beobachtung:
Nr. 98. 3jähriges Mädchen. Traumatische Biceps-Contractur
nach Fract. cond. int. hum. Durch passive Bewegung geheilt.
Nr. 99. 62jährige Frau. Schlecht geheilte Radius-Fractur,
10 Wochen alt. Contractur der Fingerflexoren. Massage, Elektricität
Manipulationen, Schiene. Erheblich gebessert.
Nr. 120. 13jähriges Mädchen. Contractur des rechten Schulter¬
gelenks (Caries sicca?). Besserung durch Gymnastik.
Endlich wurden noch ein Spasmus des N. accessor. und eine
Parese des rechten Muse, serrat. beobachtet, die beide nicht in Be¬
handlung traten.
y. Congenitale Luxationen und Defecte.
7 FäUe.
Sämmtliche Fälle betreffen Luxat. femor. congenita und aus¬
schliesslich weibliche Patienten. Das Alter war in 4 Fällen 2—3
Jahre, in 2 7 und 10, in 1 30 Jahre. Das Leiden bestand 3mal
rechts (Nr. 63, 159, 327), Imal links (Nr. 244) und war in 3 Fällen
doppelseitig (Nr. 332, 563, 578).
Unter diesen letztem waren zunächst 2 Kinder, die zur Dia¬
gnose vorgestellt wurden, da der watschelnde Gang auffiel. Zu thera¬
peutischen Massregeln gaben sie keinen Anlass, da das Leiden auf
beiden Seiten gleichmässig entwickelt und die Schenkelköpfe nicht
erheblich abnorm beweglich waren. Wir empfehlen in solchen Fällen
nur Schonung und Controlle.
Bei einer erwachsenen, gleichzeitig mit hochgradiger Skoliose
behafteten Dame, deren Gang sich verschlechtert hatte und mühsam
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Aerztl. Bericht über den Zeitraum von der Gründung des Instituts etc. 147
geworden war, da die Schenkelköpfe sich stark nach oben verschoben,
haben wir versucht, durch ein Corset mit Hüftpelotten Erleichterung
zu verschaflFen, was aber nicht gelang.
Von den 4 einseitigen Fällen traten 3 in Behandlung, und er¬
hielt ein lOjähriges Mädchen mit 6 cm betragender Verkürzung
(Nr. 63) einen Tutor mit Pelotte über dem Trochanter, die sich
gegen eine Achselkrücke stützte. Sie ging damit besser und zeigte
nach 1 jährigem Tragen geringere Verschiebung des Trochanters beim
Gehen und Reduction der Verkürzung auf 5 cm.
Ein 2jähriges Mädchen (Nr. 244) mit 2 cm Verkürzung, wurde
zunächst 2 Monate mit Gewichtsextension behandelt, bis sich die
Differenz durch leichten Zug ausgleichen liess, dann erhielt es eine
Taylor *sche Extensionsschiene, mit der es bald zu gehen lernte, und
nach Gmonatlichem Aufenthalte im Institut entlassen wurde; Nachts
wurde die Gewichtsextension fortgesetzt. Ein Jahr später zeigte es
2 cm Verkürzung ohne, 1 cm mit Extension, keine merkliche Atro¬
phie. Da die Kleine auch ohne Apparat gut ging, wurde derselbe
alsdann, wohl zu früh und gegen unsern Rath, weggelassen.
Ein 3jähriges Mädchen (Nr. 159) endlich mit 2 cm Verkürzung,
das bereits ein von anderer Seite verordnetes Corset mit Hüftpelotte
und Achselkrücke trug, bei dem eine übermässige compensirende
Skoliose sich zu entwickeln drohte, erhielt zuerst von uns ein ab¬
nehmbares Wasserglascorset, das auch den Trochanter pelottenartig
fixirte. Trotzdem war 4 Jahre später die Verkürzung auf 3,5 cm
fortgeschritten. Da wir mittlprweile in Stand gesetzt waren, die
Hessing’schen Schienenhülsenapparate hier anfertigen zu lassen, er¬
hielt Pat. nun einen solchen Apparat, den sie seither trägt und
der vollkommen befriedigt. Auch in einigen andern Fällen, die nicht
mehr in den Zeitraum des Berichtes fallen, haben wir seither den
Hessing'sehen Apparat verwendet, und können ihn als den weitaus
leistungsfähigsten für dieses Leiden aufs Beste empfehlen.
VI. Hüftgelenke.
10 Fälle.
Mit Ausnahme einer Erwachsenen sämmtlich Kinder unter
10 Jahren, darunter 2 Knaben.
In allen Fällen handelte es sich um tuberculöse Coxitis,
meist der Anfangsstadien, bloss bei 2 um Destructions-Luxation, die
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A. Lüning und W. Schulthess.
beide resecirt wurden. 6 Fälle wurden consultativ behandelt, davon
1 ins Cantonsspital empfohlen, bei den übrigen meist Gewichtsexten¬
sion zu Hause angerathen.
3mal wurde die Resection des Hüftgelenks ausgeführt:
Nr. 88. Gjähriges Mädchen. Seit 2 Jahren abgelaufene Coxitis
mit vernarbter Fistel. Schmerzlose Ankylose in Luxationsstellung,
rechtwinkliger Flexion des Hüftgelenks, starker Adduction und Ein¬
wärtsrotation. Geht stark hinkend mit Stock. Die Trochanterspitze
überragt um 3,5 cm die Roser-N^laton’sche Linie. Verkürzung (von
Spina ant. sup. — mall. ext. gern.) 6,5 cm, starke Atrophie. Resectio
coxae. Der stark destruirte Schenkelkopf findet sich mit dem hintern
Pfannenrande fibrös ankylosirt, das Gelenk verödet. Decapitation
mit Erhaltung des grossen Trochanters. Heilung p. pr. bis auf die
einige Wochen leicht secemirende Drainfistel (Secretstauung durch
den Trochanter). Gewichtsextension mit starker Abduction, zu Hause
noch fortgesetzt. Definitive Verkürzung 2,5 cm, geht und läuft
flink ohne Stock.
Nr. 135. lOjähriges Mädchen, Coxitis tuberculosa, einige Monate
in der Anstalt mit Extension behandelt. Wegen Abscedirung, Fieber
und zunehmender Schmerzhaftigkeit Resectio coxae mit Entfernung
des grossen Trochanters, Auslöffelung der erkrankten Pfanne und
der bis zur Mitte der Diaphyse erkrankten Markhöhle. Heilung (zu
Hause) erst nach langwieriger, jahrelanger Eiterung (Perforation ins
Rectum) und wiederholten Auslöffelungen. Dank der sorgfältigen
Nachbehandlung durch die Eltern mit Gewichtsextension bloss 1V* cm
Verkürzung. Hat sich jetzt vollkommen erholt und geht kaum
hinkend.
Nr. 682. 4jähriger Knabe. Spitzwinklige schmerzhafte Anky¬
lose im Hüftgelenk, Trochanter die R. N.*sche Linie überragend.
Kein Fieber, keine Abscesse nachweisbar. Der Kleine ist ausser
Stande, zu gehen, und liegt seit Jahren mit flectirten Knien und
Hüftgelenken. Bei der Resection findet sich der zu einem pilzförmigen
Stummel destruirte Kopf in der Pfanne, letztere perforirt; es entleert
sich ein grosser Abscess von der Innenseite der Pfanne, der nach
Entfernung eines grossen Theils der letztem und Absägung des
grossen Trochanters durch die Wunde drainirt wird. Rascher reactions-
loser Heilung der Wunde folgt später eine nochmalige Ansammlung
des Abscesses in der Fossa iliaca int., der sich dann durch Perforation
in den Darm entleert, und (zu Hause) unter Perforation in der
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Aerztl. Bericht über den Zeitraum von der Gründung des Institute etc. 149
Lumbalgegend nach aussen schliesslich völlig ausheilt Der bis da¬
hin in Gewichtsextension gehaltene Kleine erholt sich dann rasch
und erhält eine Taylor’sche Schiene, mit der er bald flink läuft
und die er zur Zeit (1 Jahr später) noch trägt. Verkürzung 1 cm.
Endlich bleibt noch ein 7jähriges Mädchen zu erwähnen, dessen
Coxitis peracut im unmittelbaren Anschluss an Morbilli auftrat, später
aber ganz den Verlauf einer chronisch-tuberculösen erhielt. Sie
wurde mit Extension, Gypsverbänden, zuletzt ambulant mit Hessing*s
(von ihm selbst angefertigtem) Schienenhülsenapparat behandelt. Die
R^section ist umgangen, das Resultat Ankylose in vollständig correcter
Stellung ohne Verkürzung.
Yn. Kniegelenk.
21 Fälle.
15 Patienten dieser Kategorie litten an Genu valg. rhachit.
und zwar mit einer Ausnahme (Nr. 264) an doppelseitigem; ihr
Alter schwankte zwischen 1^2 und 5 Jahren. Die Behandlung ge¬
schah meistens poliklinisch, mehrere der Fälle waren sehr leichter
Natur imd wurden, wenn es sich um ganz kleine Kinder handelte,
lediglich durch gegen die Rhachitis gerichtete Therapie (Soolbäder,
Phosphoremulsion etc.), verbunden mit leichter Massage der Beine
geheilt. Einige wurden überhaupt nur zur Abnahme von Controll-
zeichnungen vorgestellt.
Bei grossem Kindern und in schwerem Fällen wurde Redresse¬
ment in Narkose und Gypsverband angewandt und die Verbände bis
zur Erreichung genügender Correction erneuert; das Gehen mit den¬
selben gestatten wir nicht; nach Wegfall der Verbände wurden für
’ die ersten Gehversuche und die Nacht noch einige Zeit leichte
Gypsschienen mit Flanellbinden angewickelt.
Einmal (Nr. 136) geschah die Behandlung mittelst des elasti¬
schen Heftpflasterzuges an der Innenseite (Länderer), der Verband
erfordert aber viel mehr üeberwachung und eignet sich somit weniger
für die poliklinische Praxis.
Ein schon 6jähriges, mit starken rhachitischen Verkrümmungen
(darunter Skoliose) behaftetes Mädchen (Nr. 546) erhielt eine (doppel¬
seitige) Genu valg. — Maschine mit durch Schraube regulirbaren
Kniegelenken.
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150
A. Lüning und W. Schulthess.
In einem sehr widerspenstigen Falle (Nr. 55. 8 ^/ 2 jähriger Knabe)
wurde beiderseits das Brisement forc^ nach Delore ausgeführt.
Leider musste die Nachbehandlung poliklinisch geschehen, wurde
von den in dürftigen Verhältnissen lebenden Eltern nicht richtig ge-
handhabt und konnte von uns nicht genügend controllirt werden, so
dass das Resultat nicht den Bemühungen entsprach.
Ein eigenthümlicher und nicht ganz aufgeklärter Befund er¬
gab sich bei einem 2jährigen rhachitischen Knaben (Nr. 264), näm¬
lich ein (einseitiges) hochgradiges Genu valgum, das durch seitliches
Schlottern nach aussen einer bedeutenden Steigerung fähig war, so
dass Ober- und Unterschenkel mit ihren Aussenflächen nahezu recht¬
winklig gegen einander standen. Bei genauerer Abtastung des
Gelenkes in stark flectirter Stellung fiel eine im Vergleich zur ge¬
sunden Seite sehr zurückgebliebene Entwickelung des Condyl. ext.
femoris, sowie abnorme Kleinheit der Patella auf. Es dürfte sich,
da die Anamnese negativ ist, um einen congenitalen Defect handeln.
Durch lineare supracondyläre Osteotomie wurde Correction erzielt,
jedoch muss der Knabe wegen des seitlichen Schlottems einen Tutor
mit Kniekappe tragen.
Bei dem einzigen statischen Genu valgum unserer Beobachtung,
einem beginnenden rechtsseitigen bei einem 18jährigen Lehrling,
genügte redressirender Gypsverband und nachherige Massage zur
Beseitigung (Nr. 374).
Die restirenden 5 Fälle betreffen Flexionscontracturen, resp.
-ankylosen des Kniegelenkes.
Nr. 463. Ojähriges Mädchen. Gonitis chron. tuberc. Nach ver¬
geblicher Application von Massage, Jod, Gypsverbänden ungeheilt
aus der Behandlung weggenommen (poliklinisch).
Nr. 507. Contractur nach acutem Gelenkrheumatismus zurück¬
geblieben. Ziemliche Atrophie des Ober- und Unterschenkels. Durch
Elektricität, Massage und Bewegung gebessert.
In 2 Fällen von rechtwinkliger Flexionsankylose des Knies
nach abgelaufener tuberculöser Gonitis haben wir die Resection des
Kniegelenkes ausgeführt.
Nr. 297. 20jähriger Mann, hat in der Kindheit Gonitis durch¬
gemacht. Rechtwinklige Ankyl. genu spuria mit sehr starker
Atrophie und Verkürzung des Beines. Kann nur mit Sitzstelze müh¬
sam gehen. Ty})ische Resection mit vorderem Querschnitte, Erhal¬
tung der Patella, Abtragung möglichst flacher Scheiben von den
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Aerztl. Bericht über den Zeitraum von der Gründung des Instituts etc. 151
Gelenkenden, oflFene Tenotomie der Flexorensehnen, bis die Streckung
gelingt. Knochennaht, Naht des Lig. patell. Heilung per prim.
Trägt dann 1 Jahr Gyps-, resp. Wasserglashülsen bis zur Erzielung
knöcherner Ankylose. Verkürzung 8 cm (wurde vor der Operation
auf 10 cm veranschlagt), geht jetzt sehr gut mit hoher Sohle ohne
Stock.
Nr. 561. 12jähriger Knabe. Rechtwinklige knöcherne Anky¬
lose nach ausgeheilter Caries genu mit Fistelbildung in der Wade.
Geht mit Krücken. Bei der Kesection erweist sich die Ankylose als
durch knöcherne Verwachsung der Patella bedingt; nach Absprengung
derselben, die erhalten wird, gelingt indessen die Streckung der stark
nach hinten abgewichenen Tibia erst nach Anfrischung der Gelenk¬
enden ziemlich schwer. Heilung der Operationswunde p. pr., da¬
gegen bricht die Wadenfistel nochmals auf und entleert nach längerer
Eiterung einen kleinen (alten) Sequester. Resultat: Verkürzung 3 cm,
leichte Valgusstellung, knöcherne Ankylose noch nicht völlig er¬
reicht. Patient geht zur Zeit noch sehi: gut und ohne Stock, mit
einer abnehmbaren Wasserglashülse.
Bei einer älteren Dame endlich, mit Ankyl. angul. genu und
hochgradigster Verkürzung des ganz atrophischen und unbrauchbaren
Beines wurde, da nur die Amp. fern, in Frage kommen konnte, aber
nicht acceptirt wurde, eine Sitzstelze beschafft. —
VIII, Bhachitis. Bhachitisehe Curvaturen.
23 Fälle.
Bei 2 Kindern von 1 Jahr bestand allgemeine Rhachitis ohne
Curvaturen, ebenso bei einem 4^2jährigen Knaben zurückgebliebene
Entwickelung nach Rhachitis. Es wurden dem entsprechend bloss
Rathschläge für die Allgemeinbehandlung ertheilt (Phosphor, Sool-
bäder, Diät etc.). 15mal (9 Mädchen, 6 Knaben) waren die unteren
Extremitäten Sitz der Verkrümmung und zwar immer doppelseitig;
13mal hauptsächlich die Unterschenkel, 2mal Unter- und Ober¬
schenkel, fast alle waren Kinder von IV 2 —3^2 Jahren.
Bei 5 der letzteren waren die Verkrümmungen nicht der Art
und nicht so erheblich, um orthopädisches Eingreifen erforderlich
zu machen. Wir begnügten uns hier mit Behandlung des Allgemein¬
zustandes und periodischen ControUzeichnungen der Profile, die in
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A. Lüning und W. Schulthess.
lange genug verfolgten Fällen die bekannte spontane Streckung der
Curvaturen harmloserer Art ergaben. In keinem der Fälle musste
im Verlaufe zu Schienen oder Verbänden gegriffen werden, ein fer¬
nerer, der bereits eine nicht mehr passende Schiene trug, wurde
ebenfalls davon dispensirt und bloss controllirt.
Ein 2jähriges Mädchen (Nr. 21) mit noch florider Rhachitis
und leicht federnder Curvatur der Unterschenkel wurde in Narkose
manuell redressirt und eingegypst. Unter gleichzeitiger Allgemein¬
behandlung waren nach 10 Wochen die Beine soweit gerade, dass
die Kleine ohne Schiene entlassen werden konnte, bei fortgesetzter
Controlle. Sonst wurden nachgiebige Curvaturen der Unterschenkel
namentlich bei Kindern, die noch nicht gehen konnten, mit Gyps-
tricotschienen behandelt. Bei gleichzeitiger stärkerer Verkrümmung
auch der Oberschenkel wurde ein Doppelapparat mit Beckengurt und
gegliederter Aussenschiene angewandt, gegen welche die Scheitel der
Curvaturen mit Bändern angezogen werden (Nr. 567 2jährige8 Mäd¬
chen, noch in Behandlung),
In denjenigen Fällen, wo es sich um die bekannte säbelscheiden¬
förmige Abplattung der Tibia mit Knickung über die vordere Kante
und starker Torsion des unteren Drittheils handelte, haben wir,
wenigstens bei älteren Kindern mit schon festen Knochen ausnahms¬
los, aber auch bei solchen unter 2 Jahren, wenn die Abknickung
sehr ausgesprochen war, die Osteotomie angerathen, als das schonend-
ste, wirksamste und kürzeste Verfahren. Einigemal wurde vorher
das (manuelle) Brisement versucht; zufällig gelang dasselbe in keinem
der Fälle.
Es wurden im Ganzen 6 Osteotomien an 3 Patienten verrichtet
(Nr. 27, 61, 137), von denen der erstere grösseres Interesse bietet.
Nr. 27. lljähriges Mädchen, bis vor kurzem in Australien lebend,
und dort ohne Behandlung gewesen. Die rhachitisch verkrümmten
Ober- und Unterschenkel bilden zusammen ein enormes Genu varum
mit so starker Torsion, dass die beiden Füsse vollständig nach innen
gegen einander sehen. Gang infolge dessen sehr mühselig, da Beine
und Füsse sich kreuzen. Besonders schlecht geht Treppensteigen.
Lineare Osteotomie des Caput tibiae als des Hauptsitzes der
Torsion erst links, dann rechts mit 3wöchentlichem Intervall und so¬
fort angelegtem Gypsverband. Heilung unter Jodoformschorf. Nach
8 Wochen Gehübungen. Die Eltern sind mit dem Resultat so zu¬
frieden, dass sie auf die für später in Aussicht genommene Osteo-
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Aerztl. Bericht Über den Zeitraum von der Gründung des Instituts etc. 153
tomie der Oberschenkel verzichten. Einige Schwierigkeiten bereitet
dem Kinde das Erlernen des ungewohnten Gehactes mit nach vom
sehenden Füssen. Circa 2 Jahre später gelegentlich einer Consul-
tationsreise in seiner Heimat gesehen, zeigt das Mädchen einen
sicheren imd ausdauernden, wenn auch infolge der noch bestehenden
Curvatur der Oberschenkel unschönen Gang und läuft flink treppauf
und treppab.
Die übrigen beiden doppelseitigen Osteotomien (Nr. 61, 137)
betreffen 2- und 3jährige Mädchen und wurden beide an der oberen
Grenze des unteren Drittels der Unterschenkel lineär ausgeführt.
Das erreichte kosmetische und functioneile Resultat war bei beiden
sehr ^t und weitere Behandlung mit Schienen oder Apparaten nicht
mehr erforderlich.
In 2 weiteren Fällen (Nr. 73 und 709), wo nur die Osteotomie
in Frage kommen konnte und angerathen wurde, konnten sich die
allzu ängstlichen Eltern nicht dazu entschliessen. Es ist merkwürdig,
wie bereitwillig manche Leute sind, ihre Lieblinge den Plagen und
Martern einer langwierigen und im Resultate mindestens unvoll¬
kommeneren Maschinenbehandlung auszusetzen und wie zaghaft sie
vor dem schmerzlosen und prompt wirkenden, heutzutage total un¬
gefährlichen operativen Eingriffe zurückschrecken. — Auch in einem
3. Falle (Nr. 608 1V«jähriger Knabe), bei dem die (manuelle) Osteo-
clase versucht worden, aber sich als unausführbar erwiesen hatte,
wurde die schon ertheilte Einwilligung zur Osteotomie wieder zurück¬
gezogen. —
Die 5 restirenden Fälle dieser Gruppe betreffen rhachitische
Deformitäten des Thorax. 2mal rhachitische Hühnerbrust (Nr. 153,
391), 2mal rhachitische Rippen Verkrümmungen (Nr. 291, 205), Imal
asymmetrische Trichterbrust (Nr. 208). Von der Behandlung mit
Apparaten wurde hier vollständig abgesehen, gewöhnlich eine ge¬
eignete Gymnastik empfohlen und zum Theil auch in der Anstalt
durchgeführt, leider gewöhnlich nicht lange genug. Bei dem (9jäh-
ligen) Mädchen mit Trichterbrust, das gegen 4 Jahre die orthopädische
Turnstunde besuchte, ist die erreichte Besserung bei Vergleichung
der genommenen Abgüsse evident.
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A. Lüning und W. Schulthess.
IX. Klumpfuss und Plattfass.
21 FäUe.
Davon entfallen 11 auf die Kategorie des Klumpfusses und
zwar ausschliesslich des congenitalen; die paralytischen Spitz-
und Klumpfüsse sind sub IV. besprochen. Dem Alter nach mit
einer Ausnahme (Nr. 708. 14jähriger Knabe) zwischen 14 Tagen
und 6 Jahren sich haltend, dem Geschlechte nach 9mal männhch
und 2mal weiblich, waren unsere Fälle 3mal einseitig, alle übrigen
doppelseitig.
5 Fälle kamen schon in den ersten Lebensmonaten zur Behand¬
lung, welche wir, was heute kaum mehr ausdrücklich gesagt zu
werden brauchte, wenn nicht immer noch gelegentlich dagegen ver-
stossen würde, so früh als möglich, schon in den ersten Lebens¬
wochen beginnen.
Ein Fall (Nr. 78) war so unbedeutend, dass die zu Hause be¬
reits eingeleitete Schienenbehandlung durch Manipulationen ersetzt
werden konnte; ein zweiter (14 Tage alter Knabe), der dadurch
interessant war, dass die Aussenseite des rechtsseitigen Pes varus
eine congenitale geheilte Drucknarbe aufwies, im übrigen ebenfalls
ein leichterer Fall, wurde mit Guttaperchaschienchen und Heftpflaster
zur Heilung gebracht. In allen übrigen Fällen bei ganz kleinen
Kindern wurde die von Dr. Schulthess angegebene Schiene zur
Anwendung gebracht.
Bei der Construction waren folgende Gesichtspunkte mass¬
gebend :
Zurückführung des Klumpfusses von der fehlerhaften in eine der
normalen möglichst naheliegende Stellung und ein mechanischer
Zwang, diese Stellung möglichst lange beizubehalten oder möglichst
oft einzunehmen, das sind in kurzen Worten die heute geltenden
Principien der unblutigen Klumpfussbehandlung; also Redressement
und Fixation.
Sämmtliche Methoden sind Modificationen dieser Principien.
Entweder redressirt man einmal und fixirt die Stellung für längere
Zeit, schliesst somit die Function gänzlich aus. Oder man redressirt
in Etappen und verfährt in gleicher Weise mit der Fixation. Oder
endlich man redressirt öfter, z. B. täglich und fixirt jeweilen nach
der Manipulation. So verfährt die Schienenbehandlung, als deren
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Aerztl. Bericht über den Zeitraum von der Gründung des Instituts etc, 155
bester Repräsentant für den Klumpfuss des Neugeborenen unstreitig
diejenige aus plastischem Filz genannt werden muss, welche aller¬
dings eben so gut aus massig starkem Draht hergestellt werden kann,
der hernach mit Flanell umwickelt werden muss. Eine ähnliche
Schiene hat Beely angegeben.
Alle die beim Neugeborenen anzuwendenden Schienen sind aber
nur zur Fixation des Fusses in einer Stellung bestimmt, einer Stel¬
lung, in welche er durch die Hand gebracht worden ist. Nur die
bei älteren Klumpfüssigen angewendeten Maschinen ahmen dem
Fig. 3.
d a c
Mechanismus theilweise des Redressements, theilweise der normalen
Chamierbewegung im Fussgelenk bis zu einem gewissen Grade nach.
Ersteres geschieht durch verstellbare Sohlen, letzteres durch die ge¬
wöhnlichen Chamiergelenke der Seitenschienen.
Die Schulthess’sche Schiene für Neugeborene hat den dop¬
pelten Zweck, selbst zu redressiren und die redressirte Stellung bis
zu einem gewissen Grade zu fixiren. Soll aber eine Schiene redres¬
siren, so ist das erste Erfordemiss, welches sie zu erfüllen hat, das,
dass sie sich der ursprünglichen Stellung des deformirten Theiles
möglichst genau anpasse. Sie muss also selbst „klumpfüssig“ sein.
In zweiter Linie muss verlangt werden, dass sie sich dem Gang des
Fusses während des Redressements anzuschmiegen im Stande sei
(s. Fig. 3 und 4).
Beistehende Abbildungen zeigen, in welcher Weise die Schiene
diese beiden Forderungen erfüllt. Sie besteht aus einem Schuh,
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A. Lüning und W. Schulthess.
besser gesagt geränderter Sohle aus Blech, mit weichem Leder über¬
zogen und einer Unterschenkelinnenschiene, die ebenfalls aus Blech
hergestellt und innen etwas gepolstert und mit Leder überzogen ist.
Die Sohle trägt auf ihrer unteren Fläche 2 Haken zur Be¬
festigung der Binden, mit welchen das Füsschen auf der Sohle fixirt
wird (s. Fig. 4 h und Aj).
Die nothwendige Verbindung von Sohle und Schiene wird
durch 2 Oesen vermittelt (s. Fig. 3 und 4 a und 6), welche am
unteren Ende der vorderen, bezw. hinteren Kante der Schiene so an-
Fig. 4.
e b
gebracht sind, dass ihre Verbindungslinie nach Anlegung des Appa¬
rates das Fussgelenk schief von hinten unten nach oben und vom
durchschneidet. Beide Oesen sind quer zur Richtung des Unter¬
schenkels gestellt. In diesen Oesen bewegen sich 2 Drähte, deren
einer von der Ferse (s. Fig. 3 und 4 e), der andere von einer dem
Ballen der grossen Zehe entsprechenden Stelle der Blechsohle aus¬
geht (s. Fig. 3 und 4 c). Die beiden Oeseü (a und b) werden so
die Dreh- und Stützpunkte für die Bewegungen der Sohle. Der
vordere der genannten Drähte (c) muss selbstverständlich länger sein
wie der hintere (e), weil der vordere Theil des Fussrandes bei der
Drehung auch einen weiteren Weg zu beschreiben hat. Diese eben
angegebene Construction der Verbindung der beiden Schienenstücke
bringt es mit sich, dass die Sohle in 2 Hauptpositionen zur Schiene
gestellt werden kann, welche in den beistehenden Bildern dargestellt
sind. In der ersten (s. Fig. 3) steht die Fläche der Sohle annähernd
parallel zur Unterschenkelaxe, sie ist fast vollständig nach innen
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Aerztl. Bericht über den Zeitraum von der Gründung des Instituts etc. 157
gewendet, dabei auch nach innen gesenkt, entsprechend der Stellung,
welche die Sohle eines schweren Klumpfusses zum Unterschenkel
einnimmt. In der 2. Position (s. Fig. 4) ist die Sohle, wie bei einem
normalen Fuss, rechtwinklig zur ünterschenkelaxe gestellt. Die
UeberfÜhrung von der 1. in die 2. Position geschieht einfach da¬
durch, dass die Kleinzehenecke der Sohle, woselbst die Oese g an¬
gebracht ist, der oberen Ecke an der Schiene, woselbst ebenfalls
eine Oese (/*) angebracht ist, genähert wird. Das kann in praxi
durch einen leichten Gummizug geschehen (s. Fig. 4 ?'). Zwischen
diesen beiden Hauptpositionen durchläuft die Sohle eine Reihe von
Stellungen, welche man als eine Reihe verschiedener, stets leichter
werdender Klumpfussstellungen bezeichnen möchte.
Zur Erleichterung der Anpassung an verschiedene Formen sind
überdies die Verbindungsdrähte c und e besonders gestaltet. Der
vordere Draht c articulirt mit der Oese a ebenfalls vermittelst einer
ovalen länglichen Oese (s. Fig. 3 und 4 rf). Durch Einschieben und
Ausziehen kann die Stellung der Sohle entsprechend geändert, d. h.
der letzteren mehr oder weniger Einwärtsneigung mitgetheilt werden.
Der hintere Draht {e) hat eine gewisse Länge (ca. 2 cm) und ist
an seinem Ende etwas umgebogen, so dass er nicht ohne Anwendung
einer gewissen Gewalt oder nur in bestimmter Stellung aus der
Oese (6) herausgezogen werden kann.
Die Schiene ist demnach im Stande, sich an den Klumpfuss
anzupassen, sowohl in seiner ursprünglichen, als in jeder in beliebigem
Grade redressirten Stellung, mit anderen Worten, der Redressements¬
bewegung zu folgen.
Die Schiene wird nun in folgender Weise angewendet: Zuerst
muss das Füsschen mit Flanellbindentouren auf die Blechsohle fixirt
werden. Dadurch soll schon ein Redressement des Fusses in sich
selbst stattfinden, soll die Sohle abgeplattet und der Fuss gestreckt
werden, woraus von selbst die Abduction des Vorderfusses resultirt.
Alsdann folgt die Fixation der in erwähnter Weise mit der Blech¬
sohle verbundenen Unterschenkelschiene, ebenfalls vermittelst Um¬
wickeln des Beinchens mit schmaler Flanellbinde. Im Beginn der
Behandlung genügt dieses Vorgehen für einen hochgradigen Klump¬
fuss vollständig. Ist er noch einer geringen Dorsalflexion fähig, so
wirkt diese vermittelst der Schiene als Redressement. Ist die Be¬
handlung dagegen etwas vorgerückt, oder der Fall ein mittlerer
oder leichter, so wird gleich noch die Oese an der Kleinzehenecke
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A. Lüning und W. Schulthess.
(^) mit derjenigen am oberen Ende der Unterschenkelschiene {f)
vermittelst eines Gummizuges verbunden. Dadurch wird die Stellung
der Schiene und des Fusses, wie sie in Fig. 2 dargestellt ist, herbei¬
geführt oder wenigstens angestrebt, so dass eine Kraft beständig
redressirend wirkt. Man thut aber gut, nur einen geringen Zug an¬
zuwenden und überhaupt mit der Anwendung des Guramizuges so
lange zu warten, bis sich der Fuss selbst mit Leichtigkeit redressiren
lässt, denn selbstverständlich besteht zwischen dem Redressement
des Fusses in sich selbst und in der Stellungsverbesserung des
letzteren gegen den Unterschenkel eine Art Wechselwirkung. Forcirt
man die erstgenannte Phase, so wird die letztgenannte weniger ge¬
lingen, und umgekehrt. In der Trennung dieser beiden Phasen im
Redressement scheint übrigens ein Vortlieil für den Patienten zu
liegen. Die mit dieser Schiene behandelten Klumpfüsschen bekommen
rasch eine schöne breite, relativ lange Sohle, welche nicht, wie das
bei vielen anderen Behandlungsmethoden der Fall ist, den Behand¬
lungscharakter an sich tragen. Wir legen zudem Werth darauf,
dass die Schiene täglich 1—2mal gewechselt wird, wobei 10—15 Mi¬
nuten lang manuelle Redressementsbewegungen gemacht und Unter¬
schenkel und Fuss massirt werden müssen.
Die Schiene hat den Vortheil, dass sie die Bewegung im Fuss-
gelenk zulässt, dieselbe jedoch in eine corrigirte Bahn lenkt, sie
lässt sich leicht appliciren und abnehmen. Sie ist auch sehr einfach
herziistellen. Jeder Spengler kann sie machen, wenn man ihm die
nothwendigen Muster in Papier ausschneidet.
Selbstverständlich umgeht man mittelst dieser Schiene bei
schwereren Klumpfüssen einen Gehapparat nicht, der von dem
Patienten, wenn er zu gehen anfängt, eine Zeitlang getragen wer¬
den muss.
Wenn die FLxirung des Füsschens Schwierigkeiten macht, haben
wir die Schiene noch nach Beely’s Vorgang mit einer Oberschenkel¬
platte versehen, welche sich bei flectirtera Knie oberhalb desselben
anpasst und nun für eine sichere Befestigung des Füsschens einen
Gegendruck liefert. Fenier haben wir beim Fortschreiten der Heilung,
um die Dorsalflexion des Fusses ausgiebig zu Stande zu bringen,
die oben beschriebene Schiene mit einer einfachen Flexionsschiene
aus Blech vertauscht. Letztere wurde ebenfalls mit Oberschenkel¬
platte versehen. Der Fuss wird dabei ebenfalls vermittelst Gummi¬
zug redressirt.
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Aerztl. Bericht über den Zeitraum von der Gründung des Instituts etc. 15(>
Wo wir nicht in der Lage waren, wie in der Privatpraxis, die
Anlegung und Wirkung dieser kleinen Apparate selbst zu controlliren^
haben wir die Mutter oder Pflegerin sammt dem Kinde für einige
Zeit in die Anstalt aufgenommen und dort die Application der Schiene
eingeübt; nach erfolgter Entlassung müssen die Kinder natürlich von
Zeit zu Zeit wieder gebracht und dem Wachsthum der Füsse ent¬
sprechend mit grösseren Schienen versehen werden, was bei der
Einfachheit des Apparates nicht mit wesentlichen Unkosten ver¬
bunden ist.
Wir sind mit der Wirkung und dem Erfolge dieser Klumpfuss-
behandlung Neugeborener so zufrieden, dass wir sie seither aus¬
nahmslos anwenden. Bei gehöriger und consequenter Durchführung
können die Kinder soweit gebracht werden, dass ein einfacher
Schienenschuh genügt, wenn sie das Gehen erlernt haben. Ist noch
eine Tendenz zur Adduction des Vorderfusses, Plantarflexion oder
Einwärtsrotation des Beines vorhanden, so erhalten die Patienten
einen Schienenhülsenverband, in welchem so behandelte Füsschen
leicht redressirt erhalten werden können. Verstärkung der Leder¬
sandale über der Aussenseite des Taluskopfes in der unten zu er¬
wähnenden Weise, Anschlag am Fussgelenk, Fersenzug, Hüftgelenk
und Beckengurt besorgen dann noch jeweilen die im einzelnen Falle
gewünschten Correctionen, resp. die Erhaltung derselben.
Bei älteren, schon gehenden Kindern haben wir ebenfalls stets
das Princip beobachtet, den zuletzt erwähnten und in diesem Stadium
vorzüglich wirkenden Hülsenapparat erst dann zu verordnen, wenn
die betreffenden Füsse sich leicht passiv in völlig corrigirte Stellung
bringen Hessen. Dies war nur bei einem Patienten der Fall (Nr. 708
14jähriger Knabe), der früher schon anderwärts behandelt worden
war und Neigung zu Recidiv zeigte, das denn auch durch Tragen
eines Schienenhülsenapparates abgewendet wurde.
Die übrigen 5 Fälle standen im Alter von 1 V 2 —8 Jahren und
hatten alle schon anderwärts Curversuche durchgemacht, bestehend
in Tenotomien, Gypsverbänden, Schienenstiefeln etc.
Davon scheidet zunächst ein öjähriger, auswärts wohnender
Knabe (Nr. 512) aus, der nicht in Behandlung trat.
Was die allgemeinen Gesichtspunkte sind, die unser Handeln
leiteten, so sind wir ebensowenig Gegner der Tenotomie, als beim
paralytischen Klumpfuss (s. o.). Zufällig waren 3 von unseren 4 zu
besprechenden Fällen schon früher von anderen Aerzten tenotomirt
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A. Lüning und W. Schulthess.
worden (Nr. 357, 466, 664), und obschon sich wieder Plantarfleiion
eingestellt hatte, so gelang die Beseitigung derselben ebenso wie bei
dem nicht tenotomirten (Nr. 375) im Verlaufe der Behandlung mit
redressirenden Contentivverbänden ohne Wiederholung des Eingriffes.
Da wir es meist vorziehen, das Redressement des Fusses in sich
selbst, d. h. der Adduction und Supination, zuerst vorzunehmen, da
dies bekanntlich bei noch bestehender Spannung der Achillessehne
besser gelingt, so haben wir in allen Fällen die alte Erfahrung be¬
stätigen können, dass, wenn auch nicht primär, so doch nach 2- bis
Swöchentlichem Liegen der Extremität im Gypsverbande die Besei¬
tigung der Plantarflexion in nicht zu schweren Fällen beim 2. resp.
3. Verbandwechsel in befriedigendem Maasse ohne Tenotomie gelingt.
Das Gleiche gilt natürlich auch von den anderen dem Redressement
entgegenstehenden Widerständen, soweit sie nicht knöcherner Natur
sind; es spielt diese Thatsache jedenfalls auch beim Etappenverbande
eine wichtige Rolle, den wir, beiläufig bemerkt, nur versuchsweise
verwendet haben; in der Regel zogen wir völlige Erneuerung der
Verbände in kurzen Intervallen vor.
Der erste Verband war durchgehends ein Gypsverband über
dünner Flanellbindenpolsterung in Narkose in bekannter Weise unter
Mitwirkung von 2 Assistenten angelegt, von denen der eine der
Auswärtsdrehung des Fusses widersteht, während der andere den
Fuss aufrichtet, abducirt und pronirt und dem der Operateur nach
rascher Anlegung des Verbandes mit kräftigem Händedruck nach¬
hilft. Ohne gerade absichtlich Infractionen und Bänderzerreissungen
zu intendiren, wird doch das Redressement so weit als möglich ge¬
trieben und in I4tägigen Intervallen wiederholt. Sobald es gelingt,
die Sohle gehörig zu entfalten und in rechtwinklige Stellung zum
Unterschenkel zu bringen, wird bei den folgenden Redressements,
jetzt ohne Narkose, ein dünner Wasserglasverband angelegt, der
unter provisorisch übergelegtem Gypsverband erstarrt. Nach Ab¬
nahme des letzteren werden allfällig noch nöthige Correcturen durch
Keilausschnitte angebracht, der Fusstheil des Verbandes durch Schuster¬
spahn und Magnesit verstärkt, darüber ein leichter Schuh gefertigt
und die Kleinen nun laufen gelassen. Alle 6—8 Wochen wird der
Verband nun erneuert, und wenn nöthig, noch mehr redressirt. Nach
^/ 2 —1 jähriger Fortsetzung dieser Behandlung sind auch schwere
Fälle soweit gefördert, dass die Deformität ohne besonderen Zwang
sich ausgleichen lässt und nunmehr ein Hülsenschienenverband an-
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Aerztl. Bericht über den Zeitraum von der Gründung des Instituts etc. 161
gelegt werden kann. Derselbe besteht aus einer Sandale aus ge¬
walktem Leder mit starker Metallsohle und einem in eine Coulisse
der Aussenschiene einzuschiebenden zungenförmigen flachen Bolzen,
der die Sandale nach ihrer Schnürung gegen die sonst gerne auf¬
tretende Ausbiegung und Deformation in der Gegend über der Aussen-
seite des Caput tali sichert und den Fuss auf die Sohle niederdrückt.
Dazu kommt der bekannte Fersenzug nach Hessing’s Muster, an
dem mit den beiden ünterschenkelschienen articulirenden Fussgelenk
nach Umständen eine Hemmung für die Plantarflexion, seltener ela¬
stischer Zug zur Dorsalflexion. Wo keine Einwärtsrotation zu be¬
kämpfen ist, endigt der Apparat unter dem Knie; sonst, also in den
meisten Fällen, besorgt eine zu einem Hüftcharniergelenk mit Becken¬
gurt hinaufgeleitete und entsprechend gedrehte Aussenschiene die
Bekämpfung der Rotation nach innen, die ja mit den Contentivver¬
bänden nur unvollkommen gelingt, wenn diese wenigstens zum Gehen
benutzt und nicht bei flectirtem Knie angelegt werden können. Die
Beseitigung dieser Einwärtsrotation ist meist die Hauptaufgabe des
zuletzt zur Anwendung kommenden Apparates. Hieran mögen sich
einige kiuze Notizen über die behandelten Fälle dieser Categorie
anschliessen.
Nr. 375. 2 ^2 jähriger Knabe, mittelschwerer doppelseitiger Klump-
fuss, links stärker ausgesprochen, geht vollständig auf den Aussen-
rändem der stark einwärts gestellten Füsse. Nach wiederholter Ap¬
plication von Gjpsverbänden in Narkose mit Wasserglasstiefeln ent¬
lassen, erkrankt derselbe leider zu Hause an Masern und stirbt.
Nr. 466. 1^2 jähriger Knabe, vor 1 Jahre vom Hausarzte beid¬
seitig an der Achillessehne tenotomirt, Behandlung mit Verbänden
nicht geglückt. Doppelseitiger schwerer Klumpfuss, kann ohne Unter¬
stützung nicht gehen, tritt lediglich mit dem Aussenrande der Füsse
auf; besonders der rechte Fuss ist stark adducirt, supinirt und plan-
tarflectirt. Sehr derbe Knochen. Wird über 1 Jahr in oben ge¬
schilderter Weise mit Verbänden behandelt und erhält dann, da noch
Einwärtsrotation besteht, den besprochenen Schienenapparat, den er
jetzt noch trägt, obschon er auch ohne denselben gut und flink, mit
voller Sohle auftretend, gehen kann, da rechts noch etwas Einwärts¬
rotation besteht.
Nr. 664. 4jähriger Knabe. Angeborener mittelschwerer rechts¬
seitiger Klumpfuss, im 1. Lebensjahre zu Hause mit Gypsverbänden,
später mit Tenotomie der Achillessehne und Schienenschuh behandelt.
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. II. Band.
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162
A, Lüning und W. Schulthess.
Recidiv. Adduction und Rotation nach innen besonders ausgesprochen^
weniger die Plantarflexion. Erhält von vornherein Gehverbände,
später Schienenapparat mit Beckengurt, in dem der Fuss völlig re-
dressirt steht; Patient ist noch in Behandlung.
Bei einem Falle endlich war die Deformität auf einer Seite
wenigstens so schwer, dass dort, um die Curzeit des in Italien
wohnenden Knaben nicht allzusehr zu verlängern, operativ einge¬
schritten wurde, während die gleichzeitige Behandlung des anderen,
weniger schwer deformirten Fusses mit Verbänden wie bei den obigen
Fällen durchgeführt wurde.
Nr. 357. 7jähriger Knabe von rhachitischem Knochenbau, vor
Jahren in Italien tenotomirt und mit Schienenapparaten behandelt,
die längst nicht mehr passen. Sehr schwerer rechtsseitiger Klump-
fuss mit scharfer Abknickung des Vorderfusses in der Chop ari¬
schen Gelenklinie und starker Prominenz der Aussenseite des Talus¬
kopfes, der dem Redressementsversuch einen knöchernen Widerstand
entgegensetzt. Links ist die Klumpfussstellung etwas weniger aus¬
gesprochen und leichter redressirbar. Der Kleine kann ohne Unter¬
stützung nur wenige Schritte gehen und benutzt die Aussenseiten
der nach innen gestellten Füsse als Gehfläche.
6. Juni 1888. Resection des Taluskopfes rechts und Tenotomie
der Achillessehne, Naht der Wunde, Gypsverband, in dem die Wunde
ohne Verbandwechsel reactionslos heilt. Der linkerseits ebenfalls
beabsichtigt gewesene operative Eingriff unterbleibt, da sich bei der
1. Operation eine so beängstigende Pulsfrequenz (200 pro Minute:
früherer Hjdrocephalus?) während der Chloroformnarkose eingestellt
hatte, dass die Operation schnellstens zu Ende geführt werden musste,
und wir eine Wiederholung der Narkose gerne vermieden, zumal
die alleinige Behandlung mit Verbänden links auf weniger grosse
Hindernisse stiess. Während rechts durch die Operation der Fuss
sofort nach Heilung der Wunde normale Stellung erhielt und in
derselben durch einen Wasserglasstiefel erhalten wurde, hatte die
Correction des linken Fusses ohne Operation erst mit Ende des
Jahres und auch da noch nicht vollständig dasselbe Resultat gezeitigt.
Im Januar 1889 wurde ein doppelter Schienenhülsenapparat angelegt
und Patient im Februar damit entlassen. Er geht und läuft damit
gewandt und sicher und ist namentlich die Stellung des operirten
Fusses eine sehr befriedigende geworden. —
Die 10 zur Beobachtung gekommenen Plattfüsse repräsentiren
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Aerztl. Bericht über den Zeitraum von der Gründung des Instituts etc. 1(33
allerdings nicht die Summe unserer Erfahrungen, da mehrere unserer
skoliotischen Patientinnen mit Plattfüssen behaftet waren und natür¬
lich auch gleichzeitig in dieser Hinsicht behandelt wurden. Diese
Fälle sind hier nicht besonders erwähnt, da sie kein eigenes Interesse
bieten; auch unter den lediglich wegen Plattfuss Behandelten finden
sich keine sehr schweren Fälle.
Ein ISjähriger Knabe mit Pes valg. träum, nach Fibulafractur
erhielt einen S«hienenstiefel (Aussenschiene mit elastischem Quer¬
zug über den Malleolen), den er nach 1 ^( 2 jährigem Tragen geheilt
ablegen konnte.
Eine ältere Frau (Nr. 613) mit chronischem Rheumatismus
beider Hand-, Finger- und Fusswurzelgelenke mit hochgradiger Platt-
fussstellung wurde einige Wochen in der Anstalt massirt und hydro-
pathisch behandelt und dann mit Schienenschuhen versehen. Unter
Fortsetzung der Massage zu Hause trat bedeutende Besserung ein.
Von den 8 übrig bleibenden Fällen waren 2 Kinder mit Pes
plan, rhachit. (Nr. 479 und 183), von denen das erstere zu Hause
massirt wurde und Plattfussschuhe erhielt. Das 2., ein 2jähriges
Mädchen, wurde längere Zeit in der Anstalt massirt, electrisirt und
ebenfalls mit Plattfussschuh bedeutend gebessert entlassen.
Bei den 6 anderen Fällen handelte es sich immer um den
statischen Plattfuss (doppelseitig), 3mal bei Knaben, alle leichterer
Natur, 2mal bei Jünglingen mit spastischem Charakter (Pes valg.
infl ) und Imal bei einem älteren Herrn, der ebenfalls bedeutendere
Beschwerden hatte.
Wir sind bei den schmerzhaften Plattfüssen ohne redressirende
Verbände ausgekommen, da unsere Fälle keine sehr schweren Con-
tracturen zeigten. Nach 14tägiger Ruhe, hydropathischen Ein Wicke¬
lungen, täglich 2maliger Massage, war die Schmerzhaftigkeit soweit
beseitigt, dass die Füsse passiv supinirt werden konnten. Dann
wurde der Plattfussschuh angelegt, noch einige Wochen Schonung
empfohlen und die Massage ebensolange fortgesetzt. Wir sind bis¬
her in allen so behandelten Fällen binnen Monatsfrist im Stande
gewesen, die Patienten wieder ohne Beschwerden und ohne Recidive
derselben ihrem Berufe nachgehen zu lassen; Curversuche im Sinne
einer Wiederherstellung der normalen Fussform haben wir keine zu
machen Gelegenheit gehabt, soweit dies nicht in allmählicher Weise
durch das Tragen unseres Schuhes geschieht.
Der von uns verwendete Plattfussschuh lehnt sich an die Idee
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164
A. Lüning und W. Schulthess.
H. V. Meyer's an und hat sich aus dessen Schuh mit excentrischer
Fersenvertiefung, den wir ebenfalls versucht haben, entwickelt. Die
mit starkem, unnachgiebigem Gelenk versehene Sohle theilt dem
Fusse durch Erhöhung des Innenrandes um ca. ^/2 cm eine Supina¬
tionsstellung im ChoparFschen Gelenke mit, die sich so sicherer
erzielen lässt, als mit der excentrischen Fersenstellung. An Stelle
der letzteren wird der Absatz mit der die Ferse gut umfassenden
starken Fersenkappe etwas nach innen gerückt; der Absatz ist massig
hoch, breit und lang, so dass er nach vorne bis gegen das Chopart-
sche Gelenk hinreicht, wie v. Meyer dies empfohlen hat; durch
diese Construction wird dem Calcaneus ein Impuls zur Verlagerung
nach innen gegeben und gleichzeitig der Plaiitarflexion des Tarsus
entgegengewirkt.
Nach unseren Erfahrungen gehen Plattfüssige mit diesen Schuhen
nach kurzer Angewöhnung, einzelne sofort, besser als mit den ge¬
bräuchlichen Einlagen und Schienenstiefeln, und haben wir die Be¬
schwerden sowohl bei spastischen als veralteten Fällen darin dauernd
schwinden sehen ^).
X. Chirurgica.
92 Fälle.
Ausser den in den vorstehenden Abschnitten aufgeführten Fällen
orthopädischer Natur, welche zu operativen Eingriffen Veranlassung
boten, haben eine Anzahl chirurgisch Kranker in unserer Anstalt Be¬
handlung und Pflege gefunden, soweit sich dies mit dem vorwiegend
orthopädischen Charakter derselben vereinbaren liess. Zum Theil
waren es (25) Patienten, welche sich behufs Operationen oder Be¬
handlungsmethoden, die sich zu Hause nicht gut durchführen Hessen
(Massage, Electricität, Bäder etc.), direct an die Anstalt wandten,
zum grösseren Theil (67) Privatpatienten von Dr. Lüning, die dort,
meist zur Vornahme kleinerer Operationen, Aufnahme fanden.
Selbstverständlich verfügt die Anstalt über alle zur Durch¬
führung einer regelrechten Antisepsis erforderlichen Hilfsmittel;
neuerdings, seit Erweiterung des Institutes, auch über ein eigenes,
ausschliesslich diesem Zwecke reservirtes Operationszimmer; ausser-
Diese Schuhe werden stets von Herrn Schulthess, Schuhmacher,
Rennweg, Zürich angefertigt.
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Aerztl. Bericht über den Zeitraum von der Gründung des Instituts etc. 165
dem ist eine etagenweise Trennung der chirurgischen oder vorüber¬
gehend sich auf haltenden Patienten von den Wohnräumen der ortho¬
pädischen Pensionäre durchgeführt, um den letzteren ein ungestörtes
familiäres Zusammenleben zu sichern.
Dank der, seit 1884 ausschliesslich zur Anwendung gekommenen
Sublimatantisepsis ist in der Anstalt seit ihrem Bestehen kein einziger
Fall von Wundinfection vorgekommen.
Von den 92 Patienten waren 38 männlichen, 54 weiblichen
Geschlechtes; 17 waren Kinder unter 14 Jahren.
Hievon waren 26 Fälle nicht operativer Natur. Darunter be¬
finden sich zunächst eine Anzahl Fracturen (humeri, olecrani, 2 radii,
tibiae), Fissuren (2 capit. humeri) und Gelenkentzündungen (Hand-,
Ellbogengelenk, Sacrocoxitis), die mit Verbänden, Massage etc. be¬
handelt wurden. Einige Bruchleidende und Amputirte wurden mit
Bruchbändern und Prothesen versehen. Von den übrigen, meist ge¬
ringfügigeren chirurgischen Leiden, welche Wundnähte, Incisionen,
Verbände, Massage u. dergl. erforderten, seien nur noch 2 trauma¬
tische Lähmungen erwähnt, von denen die eine, eine bereits im Rück¬
gang begrüBFene Parese des rechten Armes infolge Halswirbelfractur,
nicht in dauernde Behandlung trat, während die zweite eine inter¬
essante Illustration der langen Heilungszeit traumatischer Paralysen
bildet.
Nr. 540. 15jähriger Knabe. Erlitt durch Ergreifen einer Leiter¬
sprosse während eines Sturzes eine heftige Zerrung des rechten
Plexus brachialis; ausserdem Fract. metacarp. Complete Lähmung
aller Muskeln des Schultergelenkes und Oberarmes nach ca. 3 Mo¬
naten, als Patient in unsere Behandlung kommt, unverändert. Starke
Atrophie des M. deltoides, beginnendes Schlottergelenk. Um der
Ausbildung desselben zu wehren, wird ein Stützapparat verordnet,
hierauf 2mal, jeweilen 8 Wochen mit 2monatlichem Intervall, con-
stanter Strom auf die Nerven, faradischer auf die Muskeln und Mas¬
sage applicirt. Bei Entlassung aus der Behandlung, ca. ^/4 Jahre
nach der Verletzung, etwelche, aber geringe Besserung, M. triceps
und biceps reagiren auf den faradischen Strom, der M. deltoides
spurweise. Trotzdem unsererseits die Prognose nicht absolut un¬
günstig gestellt wird, erhält Patient als invalide eine grosse Ver¬
sicherungssumme ausbezahlt. Ein Jahr später, während dessen wir
den Patienten nicht mehr gesehen, stellt Patient sich uns wieder vor
mit fast völliger Wiederherstellung der ausgefallenen Muskelfunctionen;
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166
A. Lüning und W. Schulthess.
am meisten benachtheiligt ist noch die Auswärtsrotation im Schulter¬
gelenk, auch die active Streckung im Ellbogengelenk gelingt nicht
vollständig. Patient, der links schreiben gelernt hat, und Zeichner
geworden ist, schreibt und zeichnet wieder rechts. Schlottergelenk
verschwunden. —
Von kleinen unblutigen Eingriffen sind noch zu erwähnen 2 Ex¬
tractionen von Fremdkörpern aus dem Gehörgang bei Kindern, 2 Re¬
positionen von Schulterluxationen, 1 unblutige Dehnung des N. ischia-
dicus wegen Ischias, letztere ohne Erfolg. Ferner wurden eine
Anzahl tuberculöser Localaffectionen (Ulcera, kalte Abscesse, Lymph-
drüsenfistein, Spina ventosa etc.) mit dem scharfen Löffel oder Jodo-
forminjectionen behandelt, Ganglien subcutan discidirt, eingewachsene
Nägel extrahirt etc.
Von erheblicheren operativen Eingriffen sind folgende
vorgekommen:
1. Multiple Atherome der Kopfschwarte. Exstirpation. Geheilt.
2. Ulcerirtes Lipom der Kopfhaut. Exstirpation. Geheilt.
3. Riesenzellensarkom der Squama oss. petrosi. Trepanation.
Ungeheilt mit Recidiv entlassen.
4. Epithelialcarcinom des Gesichtes. Exstirpation. Geheilt.
5. Naevus hyperplast. der Nasenspitze bei einem 9 Monate
alten Knaben. Rhinoplastik aus der Stirnhaut. Geheilt ^).
6. Traumatisches Ectropium der Unterlippe. Cheiloplastik.
Geheilt.
7. Carcinom der Apertur des Gehörganges und des knorpeligen
Gehörganges. Exstirpation. Geheilt ^).
8. Carcinoma recid. der Ohrmuschel und Halsdrüsen nach Am¬
putation der ersteren (nicht Nr. 7). Exstirpation. Ungeheilt mit
Recidiv entlassen.
9. Naev. pigment. der Wange. Exstirpation. Geheilt.
10. —11. Tonsillotomien. Geheilt.
12.—14. Exstirpation von Lymphomen des Halses. Geheilt.
15. 16. Struma cystica. Enucleation. Geheilt.
17. Actinomycose des Halszellengewebes (Recidivoperation).
Geheilt.
18. Caries sterni et costae 1. Resectio. Geheilt.
0 S. Correspondenzblatt für Schweizer Aerzte 1884, Nr. 9.
2) S. ibidem 1888, Nr. 1.
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Aerztl. Bericht über den Zeitraum von der Gründung des Instituts etc. 167
19. Empyem nach Pneumonie. Resectio costae. Geheilt.
20. Carcinom der Mamma. Amputation. Geheilt.
21. Carcinom der Mamma und Achseldrüsen. Exstirpation.
Geheilt.
22. Carcin. recid. (Nr. 21). Exstirpation. Geheilt.
23. Ascites (causa?). Punction. Gebessert.
24. Irreponible Schenkelhernie. Radicaloperation. Geheilt.
25. Fissura ani. Paquelin. Geheilt.
26. Conglutinatio lab. minor. cong. Lösung. Geheilt.
27. —29. Kolpoperineorhaphien wegen veralteten Dammrissen
und Prolaps. Geheilt.
30. Freilegung und Dehnung des N. medianus wegen ver-
mutheten Fremdkörpers (Nadel nicht gefunden). Geheilt.
31. —32. Amputation des Zeigefingers wegen Trauma. Geheilt.
33. Exarticulation des Zeigefingers wegen Caries. Geheilt.
34. Lipoma intermusc. des Daumenballens. Exstirpation. Geheilt.
35. —36. Nekrosenextractionen von Dauraenphalangen nach Pa-
naiütien.
37. Fungus der Streckseime des Zeigefingers. Exstirpation.
Geheilt.
38. Sehnennaht der Strecksehne des Mittelfingers wegen Trauma.
Geheilt.
39. Fungus sämmtlicher Strecksehnen des Handrückens. Ex¬
stirpation. Geheilt.
40. Complicirte Fractur einer alten, mit Schlottergelenk ge¬
heilten Resectio genu nach Sturz, zum 2. Male. Amp. femoris.
Geheilt.
41. Nekrotomie nach Osteomyelitis femoris. Gebessert.
42. Lipoma fibromat. intermusc. surae. Exstirpation. Geheilt.
43. Caries malleol. ext. Resectio. Geheilt.
44. Caries malleol. ext. et tali. Partielle Resection des Fuss-
gelenkes. Nach Heilung Erkrankung an Meningitis tuberc. und exitus.
45. Caries sicca calcanei et tali. Amp. nach Syme. Geheilt.
46. Exostosis subungue hallucis. Exstirpation. Geheilt.
Nr. 44 ist der einzige Todesfall, den vdr in unserer Anstalt
seit deren Bestehen zu beklagen haben. Nach prompter Heilung
des operativen Eingriffes entwickelten sich nach und nach die Sym¬
ptome einer tuberculösen Hirnhautentzündung, der das Kind 2 Mo¬
nate nach der Operation erlag.
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168
A. Lüning und W. Schulthess. Aerztl. Bericht etc.
XI. Andere nicht orthopädische Leiden.
24 FäUe.
Zur Vornahme gymnastischer, electrischer oder Massagecuren
besuchten ferner eine Anzahl Patienten unsere Anstalt, deren Leiden
weder orthopädischer noch chirurgischer Natur waren. Auf diese
Fälle, die kein weiteres Interesse bieten, wird hier nicht näher ein¬
gegangen und nur bemerkt, dass in 8 Fällen schlechte Entwickelung,
besonders des Thorax bei Kindern, in den übrigen nervöse Störungen
wie Enuresis nocturna, Neuritis und Neuralgien, Tabes dors. (Sus¬
pension !) u. dergl., die Indication zur Behandlung geben.
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VIII.
PhotograpMsclie Messung der Skoliose.
Kurze Mittheilung
von
Dr. Rud. Oehler, Frankfurt a. M.
Mit 3 Abbildungen im Text.
Ausser den vorzüglichen aber recht theuren Apparaten, die
Schulthess und Zander zur Messung der Skoliose angegeben
haben, benützen wohl die meisten Orthopäden lange schon die Photo¬
graphie, um von dem Stande einer Rückenverkrümmung ein genaues
objectives Bild zu bekommen. Hat doch die Photographie gegen¬
über den genannten Apparaten den grossen Vorth eil, dass sie ein
ganz exactes Bild von der momentanen Haltung des Patienten giebt,
dass sie dem Patienten erlaubt, bei der Aufnahme ganz frei und un¬
gezwungen dazustehen, und dass sie weniger ermüdet, da sie zur
einzelnen Aufnahme kaum halb so viel Secunden erfordert, wie die
genannten Apparate Minuten. Trotz dieser Vorzüge kann die Photo¬
graphie die Messapparate nicht ersetzen 1., weil der Apparat Zahlen
giebt, welche den Grad der Verbiegung einer Skoliose in Zahlen aus-
zndrücken erlauben; 2. weil der Apparat Profile nicht nur in den
senkrechten, sondern auch in den wagrechten Ebenen, d. h. Hori-
zontalprojectionen liefert.
Wo man daher Horizontalprojectionen haben will, da reicht
die Photographie nicht aus; dagegen möchte ich zeigen, dass der
andere Vortheil der Apparate, den Grad einer Verbiegung in Zahlen
anzugeben, auch mittelst der Photographie erreicht werden kann.
Beiliegendes Bild zeigt die photographische Aufnahme eines
kleinen skoliotischen Patienten. Dicht vor dem Patienten steht ein
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170
Rud. Oehler.
Fig. 1.
Rahmen, auf dem in gleichen Abständen von 2,5 cm senkrechte und
wagrechte Schnüre gespannt sind. Das so gebildete Netzwerk proji-
cirt sich auf dem Bild des Kindes und erlaubt die seitliche Aus¬
biegung der Wirbelsäule, den Ver¬
lauf der Körpercontouren, die Höhe
der Schulterblätter u. s. w. in Centi-
metern abzulesen. Man sieht z. B.,
das Kind ist 46 Theilstriche, d. h. 115 cm
gross; das rechte Akromion steht
21,25 cm höher als die Darmbeinschau¬
feln; das linke steht 1 cm tiefer als das
rechte; die Ausbiegung der Wirbelsäule
an den Dornfortsätzen gemessen er¬
reicht die stärkste Abweichung nach
links im Lendentheil 6 cm über der
Höhe der Darmbeinschaufeln, die stärkste
Ausbiegung nach rechts liegt 5 cm
höher. Beide Ausbiegungen entfernen
sich nur 1,5 resp. 1,75 cm von der
Mittellinie u. s. w.
Wenn hier die Linien des Netzes
direct als Maass für den Körper ge¬
nommen werden, so bedarf das einer
kleinen Rechtfertigung. Es ist klar,
dass das Netz nur dann ein genaues
Maass giebt, wenn es hart dem Körper
anliegt. Ist zwischen Netz und Körper
eine gewisse Distanz, so verlangen die
oben gegebenen Zahlen eine kleine
Correctur. Sei s die zu messende
Strecke am Körper, v das am Netz
abgelesene Maass ^), d die Distanz zwischen Netz und Körper, D die
Distanz vom photographischen Apparat zum Netz, dann ist
d \ d. + D
= v(l + jy) = v.
Je kleiner der Zwischenraum zwischen Körper imd Netz im
Vergleiche zur Entfernung des Netzes vom Apparat, um so exacter
*) s und r vom Mittelpunkt des Bildes gerechnet.
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Photographische Messung der Skoliose.
171
das Maass. In dem vorliegenden Falle waren D — 3,50 m; (/ = 0,10m;
daher sind die oben gegebenen Zahlen mit 1,028 zu multipliciren.
Man macht, wenn man diese Correctur nicht anbringt, auf 10 cm
einen Fehler von 2—3 mm.
Fig. 2.
Fig.3.
Wenngleich dies ein belangloser Fehler ist, so kann man auch
diesen durch einen kleinen photographischen Kunstgriff ganz elimi-
niren. Man kann nämlich die Distanz zwischen Netz und Körper
gleich Null machen, indem man das Netz durch den Körper legt,
d. h. nicht in Wirklichkeit sondern in effigie. Zu dem Ende macht
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172
Rud. Oehler.
man eine Aufnahme des Patienten allein ohne Netz; dann eine zweite
Aufnahme vom Netz allein, ohne den Patienten und sorgt nur da¬
für, dass das Netz genau an die Stelle placirt wird, wo vorher der
Patient gestanden hat. So erhält man zwei Negative, welche man
nach einander auf dasselbe Papier copirt, was ganz exact und ohne
Schwierigkeit zu machen ist, wenn man nur am Hintergrund irgend
ein paar scharfe contourirte Linien (einen Stuhl, ein Fensterkreuz,
eine Stange) hat, welche zur Orientirung beim üebereinandercopiren
dienen. Die so gefertigten Bilder enthalten scharf und deutlich das
Netzwerk und den Patienten. Sie sind auf den ersten Blick von
den gewöhnlichen Bildern, die Netz und Körper in einer Aufnahme
geben, nicht zu unterscheiden. In diesen, wie ich sagen will, in-
direct gemessenen Bildern sind die Maasse genau, wenn nur der
Rahmen mit dem Netz exact an der Stelle aufgenommen ist, wo der
Patient stand, und wofern sie richtig über einander copirt sind.
Beides ist wie gesagt, leicht zu ermöglichen. Nun ist klar, dass ein
einziges Negativ genügt, um für unzählige Aufnahmen von Patienten
das richtige Maass abzugeben, wenn man nur immer in gleicher
Entfernung vom Apparat und mit demselben Hintergrund photo-
graphirt. Durch gewisse Vorrichtungen am Apparat wäre es auch
möglich, sich vom Hintergrund unabhängig zu machen, ja auch das
Netzwerk Hesse sich nach Art der Mikrometervorrichtung mancher
Mikroskope dem Apparat selbst einverleiben — doch wozu? Die
einfachsten Verfahren sind meist die besten, und so möchte ich em¬
pfehlen, etwaige Versuche mit directer Aufnahme von Netz und
Patient in einer Zeit zu machen. Mit Lupe und Nonius kann
man sehr exacte Maasse von solchen Photographien ablesen, die
man, wenn höchste Genauigkeit verlangt wird, in oben angedeuteter
Weise corrigirt.
Ich empfehle diese Art der photographischen Messung, weil
sie ganz leistungsfähig ist und besonders weil sie für den Patienten
sehr bequem ist.
Zum Schluss einige Bemerkungen über die beigegebenen Abbildungen.
Fig. 1 erhellt aus dem im Text Gesagten. Fig. 2 und 3 sind zwei Aufnahmen
eines Knaben mit normaler Wirbelsäule, dem durch eine Unterlage unter dem
rechten Fuss eine statische Skoliose gemacht wurde. Man sieht bei Fig. 3, dass
die Unterlage 1,5 cm hoch ist. Dem entsprechend steht das Becken schief und
ist die Wirbelsäule nach links ausgebogen. Die Acromien stehen bei Fig. 3 exact
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Photograpliische Messung der Skoliose.
173
gleich hoch, nur ist in Schulterhöhe der Oberkörper um 5 cm nach links ver¬
schoben. Fig. 2 zeigt dieselben Verhältnisse, doch ist hier infolge von Ermü¬
dung die Ungleichheit schlecht, d. h. übercorrigirt, indem das linke Acromion
Va cm höher steht als das rechte.
Fig. 3 ist durch directe Aufnahme von Netz und Köri^er gewonnen, bei
Fig. 1 und 2 wurden Netz und Körper einzeln aufgenommen und dann über¬
einander copirt.
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IX.
Die Ursaclien der orthopädisclien Knochen-
misshildnng.
Von
Prof. Dr. J. A. Korteweg- Amsterdam.
Im Jahre 1883 habe ich in einem holländischen Aufsatze kritisch
die Frage referirt, wie die orthopädischen Kräfte den Knochen um¬
bilden ^).
Nach und nach habe ich bemerkt, dass die Meinung, welche
ich damals als die Wolffsche auseinander setzte, nicht ganz mit
seiner „Transformationstheorie“ übereinenstimmt. Im Gegen-
theil, ein principieller Unterschied wurde mir allmählich klar. Jetzt,
da ich nach Durchlesung der letzten Wolffsehen Arbeit^) nicht
umhin kann, meine Ansicht für die bessere zu halten, glaube ich
mich verpflichtet, diesem Unterschied weiteren Ausdruck zu geben.
Wolff stellt seine Transformationslehre der Volkmann’schen
Drucktheorie gegenüber. Es sei nicht richtig, dass vermehrter Druck,
z. B. am Genu valgiim im Condylus externus, Knochenschwund zur
Folge habe. Man finde gerade die Spongiosabälkchen des Condylus
externus etwa doppelt so dick als die der medialen Seite. Trotz
ihrer bestechenden Eigenschaften sei die Drucktheorie in allen ihren
Punkten unrichtig. „Sie entspricht weder der mathematischen Be¬
trachtung, noch den anatomischen, noch auch den klinischen That-
sachen.“
Meine Ansicht, dass Wolff sich da, wo er die mathemati¬
schen Voraussetzungen auf die klinischen Bedingungen überträgt,
b Nederlandsch Tydschrift voor Geueeskunde 1883.
Archiv für klinische Chirurgie Bd. 42 Heft 2.
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Die Ursachen der orthopädischen Knochenniissbildung.
175
mehrere Ungenauigkeiten schuldig macht, will ich der Kürze halber
nicht weiter verfolgen. Polemisch möchte ich mich darauf be¬
schränken, zu erinnern, wie sehr die Transformationslehre einem
grossen Worte ähnelt. Ohne jede Zusammenkettung werden doch
äussere Form wie innerer Bau fortwährend als der Ausdruck der
,Function“ betrachtet, als die functioneile und physio¬
logische Anpassung an äussere Bedingungen angemerkt.
„Wie also der Klumpfuss nichts anderes darstellt als die functio¬
neile Anpassung des Fusses an die ihrerseits in den einzelnen Fällen
den allerverschiedensten Ursachen entstammende Einwärtskehrung
des Fusses, resp. der gesammten Extremität, und wie die Skoliose
als functionelle Anpassung des Rumpfskeletts an die zusammenge¬
hockte Rumpfhaltung des Kranken aufzufassen ist, so bedeutet das
Genu valgum nichts anderes als die functionelle Anpassung der
Knochen und Weichgebilde der Extremität an die häufig wiederholte
Auswärtsstellung des Unterschenkels“ ^).
Weder in diesen Zeilen, noch irgendwo sonst vernehmen wir,
auf welche Weise Wolff sich vorstellt, dass die „functionelle
Anpassung“ ihre Wirkung entfalten und am Ende Form und
Bau umändem kann. Und dass der Begriff der functioneilen
Anpassung doch zu geräumig ist um genau zu sein, das wird
wohl am besten vor Augen gelegt, wenn man liest, zu welchen un¬
wissenschaftlichen Folgerungen die Transformationslebre schon ge¬
führt hat:
„Wir*) haben durch unsere (d. w. s. die Wolffsche) Auf¬
fassung und Deutung der Skoliose zugleich die bisher noch un¬
beantwortete Frage nach dem Grunde der Entstehung der Torsions¬
erscheinungen .... auf die einfachste Art und Weise beantwortet:
In der Torsion skoliotischer Thoraxringe sehen wir den Ausdruck
der functioneilen Veränderung des Brustkorbs. Sie ist eine
physiologische und also die beste Form, die die Natur bei
der veränderten statischen Inanspruchnahme ihnen geben konnte.“
Dies ist wirklich die ganze, so einfache Erklärung. Leider
nur, dass die Leute, welche an dieser „physiologischen“ Krank¬
heit leiden, alle mit dieser „besten“ Form ihrer Buckel so schlecht
zufrieden sind.
*) Deutsche mecl. Wochenschrift 18^9, S. 1019.
*) Joachimsthal, Zur Pathologie und Therapie der Skoliose. Inau¬
guraldissertation. Berlin 1887, S. 17.
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176
J. A. Körte weg.
Es sei mir in den folgenden Zeilen erlaubt, kurz auseinander¬
zusetzen , wie meines Erachtens die schönen Thatsachen, welche
Wolff über den inneren Knochenbau zu Tage förderte, recht wohl
mit der alten Volkmann'schen Drucktheorie in üebereinstimmung
gebracht werden können.
Jedes Organ bedarf einer normalen Function zu seiner ge¬
bührenden Ernährung. Wenn eine Kniegelenksentzündung den kräf¬
tigen Quadriceps zur Ruhe nöthigt, sind nach kurzen Monaten nur
noch wenige degenerirte Muskelfasern zurück zu finden.
Die Frage, auf welche Weise die Function eines Organes der
Ernährung nützlich ist, hat in groben Zügen gewiss eine genügende
Antwort gefunden. Z. B. ist für die Speicheldrüsen erwiesen, dass
jede Function mit einer reflectorischen Blutwallung zusammengeht.
Dadurch werden nothwendig alle Elemente der Submaxillardrüse mit
frischen Ernährungssäften durchströmt und also die Neuerung und
die Vermehrung des Drüsengewebes erleichtert und ermöglicht. Aber
auch jener trophischen Nerven kann man entbehren, wenn man sieh
erklären will, wie der functionirende Muskel, z. B. der Biceps,
durch fortgesetzte Uebung in wenigen Wochen zu doppeltem Um¬
fange anschwillt. Jede Contraction wird doch nicht blos das venöse
Blut, sondern auch die stagnirende Lymphe und Gewebeflüssigkeit
mit Kraft austreiben, so vollständig als ohne kräftige Contraction
wohl niemals geschieht. Im nächsten Augenblick werden sich die
entleerten Bahnen leichter als je mit frischem Plasma anfüllen.
Natürlich, dass diese forcirte Ernährung dem Muskelgewebe zu Gute
kommt.
In den blutarmen Organen, welche, wie z. B. die Bänder für
ihre Ernährung nahezu ganz auf die passive Fortbewegung der Lymphe
angewiesen sind, wird der Vortheil einer functionellen Beschleunigung
des Plasraastromes nocli desto grösser sein. So kann man sich vor¬
stellen, wie nur Bänder, w'elche kräftig fimctioniren, genügend er¬
nährt werden; wie jedes Band, das seiner Zeit nicht kräftig gedelint
wird, schnell seiner Elasticität verlustig wird und bald der Atrophie
anheimfällt; wie sich im Körper nur da kräftige Bänder vorfinden,
wo es dessen bedarf. Genügt doch schon eine sechs wöchentliche
Eingypsung, um das Wackeln eines Gelenkes hervorzurufen.
Dieselben Verhältnisse wird man auch im Knochengewebe
erwarten dürfen. Wenn man einen Röhrenknochen zu biegen ver¬
sucht, wird das Knochengewebe der einen Seite zusammengepresst.
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Die Ursachen der orthopädischen Knochenmissbildung.
177
das der anderen Seite gedehnt, während irgendwo in der Knochen¬
achse die moleculäre Spannung keine Aenderung erfährt. Dasselbe
wird geschehen, wenn der Röhrenknochen functionirt, denn die Kraft,
womit bei der Function eine Umbiegung erstrebt wird, ist mit der
Elasticität des Knochengewebes sehr wohl vergleichbar. Der Femur
z. B. wird beim Stehen auf einem Beine mit einer Kraft zusammen¬
gedrückt, welche derjenigen ähnelt, die unsere ganze Körperschwere
auf einen skeletirten Femur auszuüben vermag. An den Stellen
nun, wo der intraossale Druck während der Function geändert wird,
d. w. 8. an den peripheren Theilen des Röhrenknochens wird die
Lymphbewegung beschleunigt, indem im Centrum des Knochens
keine functionelle Fortbewegung möglich ist. So ist es erklärlich,
dass eben wie bei den Muskeln und Bändern so auch zur Erhaltung
des Knochengewebes die Function nothwendig ist, mit anderen
Worten, dass gerade in den Richtungen, worin drückende oder
ziehende Kräfte im Knochengewebe sich ausbreiten, die Knochen-
bälkchen sich anbilden und erhalten. Der innere Knochenbau, dessen
architektonischer Werth von Meyer und Wolff gelehrt und be¬
tont wurde, findet also eine ganz rationelle Erklärung.
Will man die Einwirkung der Function auf Form und Bau
des Organes mit dem Namen „Transformationskraft“ bezeichnen,
mir recht. Ich möchte indess hervorheben, dass diese Transformations¬
kraft dann nichts von der geheimnissvollen Wolff sehen Kraft an sich
hat, aber dass in der Abwechselung der inneren Spannung, durch
äusseren Druck oder äusseren Zug veranlasst, die ganz einfache Ur¬
sache gefunden wird, wodurch die Gewebe sich umbilden und ver¬
mehren.
Und welche grossen Folgerungen die richtige Deutung dieser
Transformationskraft sofort mit sich bringt, wird uns klar, wenn
wir in dem neuen Lichte die Einwirkung eines permanenten
Druckes oder einer permanenten Dehnung einer näheren Be¬
trachtung unterwerfen. Solcher permanenter Druck (oder Dehnung)
beschleunigt doch die Fortbewegung der Lymphe gar nicht, ist
darum der Ernährung unnütz, ja bringt dieser nur Schaden, weil
in permanent zusammengepresste (gedehnte) Organe gar keine frische
Lymphe eintreten kann.
Die deletäre Wirkung einer permanenten Dehnung auf die
Festigkeit des Bandapparates findet in der orthopädischen Therapie
manche wohlbekannte Anwendung, wird dagegen für das Kniegelenk
ZoitHchrift für orthopädische Chirurj?ie. II. B.^nd. 12
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178
J. A. Koi’teweg.
bei der Distraction einer kranken Hüfte oder eines Schenkelbruches
mit gutem Rechte gefürchtet.
Und so erklärt es sich auch ganz von selbst, dass Knochen,
die von einem permanenten Drucke misshandelt werden, statt wie
bei gehöriger Function fester zu werden, im Gegentheil erweichen
und auf die Dauer dem Drucke nachgeben ^). Die Volkmann’sche
Drucktheorie mit ihren schönen Erklärungen, die sie für die ver¬
schiedensten orthopädischen Krankheiten zu geben vermöchte, von
Wolff als streitig mit dem normalen Knochenbau zurückgewiesen,
kommt also als unmittelbare Folgerung unserer mehr genauen Be¬
trachtung der normalen Knochenfunction wieder zu ihrem alten Rechte.
Aber es ergiebt sich noch mehr. Nehmen wir das Genu valgum
nochmals zum Beispiel.
Das von der permanenten Einwirkung der Körperschwere
malträtirte Kniegelenk leidet in seinem Knochengewebe*) eben wie
in seinen Bändern. Die letzteren, am meisten das mediale Band,
gehen ihrer normalen Elasticität verlustig. Das Gelenk schlottert
Der Condylus extemus wird am meisten krank, am meisten erweicht
und giebt dem Drucke förmlich nach. Indess ist der ganze Knochen
so weich, dass man mit wenig Kraft, ohne den Femur zu zerbrechen,
in einer einzigen Sitzung ein ausgiebiges Redressement erlangen kann.
Wenn aber der Kranke sich zu mehr normaler Function seiner
Beine berathen lässt und diese wiederum nur als Geh-, nicht mehr
als Stehorgane benützt, dann sieht man öfters nach und nach eine
spontane Genesung eintreten. Von nun an werden Knochen wie
Bänder von der Function gestärkt, die meist benützten Theile werden
am besten ernährt, am meisten gekräftigt. Nach wenigen Jahren ist
nur noch eine leichte Andeutung der Krankheit nachweisbar.
Wie im Allgemeinen beim Körperwachsthum immer diejenigen
Theile, welche am meisten benützt werden, auch am besten wachsen,
so darf man gewiss auch beim geraden Wachsen der krummen Beine
die Function ein Wort mitreden lassen. An der concaven Seite
*) Tn wieweit fliese Erweichung hauptsächlich oder nur in der Epiphysen-
linie und deren Nähe beim wachsenden Knochen stattfindet, oder ob es in den
leichteren Fällen sich mehr um eine Venninderung des Wachsthums als um
eine wirkliche Erweichung handelt, dies alles ist bei der obenst^henden Be¬
trachtung Nebensache.
') Die Frage der Spätrhachitis lasse ich hier ebenso der Einfachheit
halber ganz bei Seite.
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Die Ursachen der orthopädischen Knochenmisabildung. 171>
functionirt der Knochen am meisten, und so findet die physiologische
Neigung der Röhrenknochen gerade zu wachsen (man bedenke die
spontane Genesung der rhachitischen Säbelbeine) eine unerwartete Er-
klänmg. Dass wir dasselbe beim leichten Genu valgum beobachten,
sei dieses mehr rhachitischer oder mehr statischer Natur, wird uns
dann gewiss nicht wundem.
Anders verhält sich die Sache, wenn der Kranke mit Genu
valgum dem guten Rath nicht folgt, aber die Misshandlung seiner
Kniegelenke so lange nur möglich fortsetzt. Indess wird auch er
am Ende, von den vielen Beschwerden belästigt, sich doch genöthigt
finden, seine gewöhnlichen Beschäftigungen fahren zu lassen. Von
diesem Augenblick geht er nur so viel, als er eben ohne Schmerzen
gehen kann; von diesem selben Augenblick aber lässt er Knochen
und Bänder in guter Weise wirklich functioniren. Von dieser
Function werden die verschiedenen Theile des Gelenkes aufs neue
gestärkt, die Beschwerden werden immer geringer, die Function mit
ihrer stärkenden Wirkung immer ausgiebiger. Wird ein solches
Genu valgum nach längerer Zeit der Entstellung halber operirt, dann
staunt man über die Festigkeit der Knochen, über die colossale
Entwickelung der Bänder. Gerade die lateralen Condyli und die
medialen Bänder, also diejenigen Theile, die im ersten Stadium des
Genu valgum nachgegeben haben, findet man jetzt, weil sie am
kräftigsten functionirten, der statischen Verhältnisse halber viel kräf¬
tiger als normal, ganz ausserordentlich fest und dicht geworden.
Dies ist das alte, consolidirte, zuweilen in jeder Hinsicht ganz
sufficiente Genu valgum, welches Wolff mit grossem Unrecht mit
dem schmerzhaften, in Entstehung begriffenen, wackelnden Genu
valgum zusammenwirft.
Wenn es mir erlaubt ist, meine Meinung noch einmal ganz
kurz zusammenzufassen, dann möchte ich betonen, dass Knochen¬
function, d. w. s. eine den Knochen stärkende Verwendung,
nicht von einem permanenten Druck oder Zug eingeleitet wird,
sondern eine Abwechselung der inneren Spannung, die Folge einer
sich fortwährend ab ändern den äusseren Kraft, voraussetzt; dass
solche gebührende Function die normale innere Architektur entwickelt
und unterhält, dagegen ein permanenter Druck oder Zug, wie
Volk mann uns gelehrt hat, nur Schaden bringt und die ortho¬
pädischen Missbildungen veranlasst.
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X.
Bemerkungen zu der vorstellenden Eorteweg’scken
Arbeit über „Die Ursachen der orthopädischen
Enochenmissbildung“.
Von
Prof. Dr. Julius Wolff in Berlin.
Wenn ich den Sinn der vorstehenden Körte weg* sehen Arbeit
richtig verstanden habe, so liat der Autor wohl auf Folgendes
hinauskommen wollen:
„Durch die Function eines Gewebes oder Organes, namentlich
der Knochen und Bänder, werde die Zufuhr einer genügenden Menge
von Emährungsmaterial zu diesem Gewebe bewirkt. Eine solche
Zufuhr sei die Vorbedingung der Entwickelung und des Fortbestandes
der normalen inneren Structur des betreffenden Gewebes.
Sobald aber ein permanenter Druck oder Zug auf die Knochen
ausgeübt werde, so fehle es an einer sich fortwährend abändernden
äusseren Kraft und der ihr entsprechenden Abwechselung der inneren
Spannung. Dadurch werde die Fortbewegung der Emährungsflüssig-
keit bezw. das Eintreten neuer Ernährungsflüssigkeit gehindert. Die
Folge einer solchen Behinderung sei die Erweichung und der Schwund
des permanent gedrückten oder gezerrten Gewebes, und dieser Schwund
führe zur Entstehung der Deformität. Damit komme die von mir
widerlegte Theorie des Knochenschwundes durch Druck und der
Knochenanbildung durch Druckentlastung wieder zu ihrem Rechte.
Hierzu möchte ich mir einige Bemerkungen erlauben.
Was den ersten Theil dieser Körteweg'schen Anschauung be-
trifl't, die Abhängigkeit der normalen Structurverhältnisse von dem
Quantum der zugefülirteii Eriiährungsflüssigkeit, so handelt es sich
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Bemerkungen zu der vorstehenden Korteweg’schen Arbeit etc. jgl
bei dieser Anschauung, mit welcher Körte weg eine neue Entdeckung
gemacht zu haben glaubt, um eine längst und viel discutirte, und be¬
reits 1881 von W. Roux in endgültiger Weise widerlegte Hypo¬
these.
Es ist mithin überflüssig, auf diesen Punkt, über den sich
Körte weg durch Lectüre der ausführlichen Auseinandersetzungen
Roux's (Kampf der Theile im Organismus S. 137—164) Aufklä¬
rung verschaffen, und bezüglich dessen er sich alsdann mit Roux
abzufinden versuchen möge, ausführlicher einzugehen.
Es genügt, hier nur die folgenden Worte Roux's anzuführen:
„Es widerspricht allen Thatsachen, wenn man eine passive Er¬
nährung der Theile allein abhängig von der Nahrungszufuhr statuiren
will. Die Ernährung findet im Gegentheil unter qualitativer und
quantitativer Auswahl Seitens der ernährten Theile statt, und die
Blutzufuhr wird von der Verbrauchsstelle entsprechend dem Be¬
darf regulirt. Die functioneile Hyperämie, wo sie stattfindet, ist
keinesfalls die Ursache der functioneilen Hypertrophie, sondern sie
darf nur als eine günstige, vielleicht nicht einmal immer unerläss¬
liche nothwendige Vorbedingung derselben angesehen werden.“
Ich komme zum zweiten Theile der Korteweg'schen Ausein¬
andersetzungen, zu seiner Meinung, dass bei permanentem Druck oder
Zug das Ausbleiben der Abwechselung der inneren Spannung im Knochen
zum Schwunde der Knochensubstanz führt. Körte weg ist, wie man
aus seinen Darlegungen ersieht, zu dieser Meinung gelangt ohne Ver-
ständniss der Culmann'schen Entdeckung der mathematischen Be¬
deutung der inneren Knochenarchitektur, ohne Verständniss des auf
dieser Entdeckung begründeten „Gesetzes der Transformation der
Knochen“, so wie der Lehre vom „trophischen Reize der Function“ und
der Lehre von der „functioneilen Knochengestalt“, 'ohne Verständniss
der Krahnzeichnung der Mathematiker, welche uns in unerbittlichen
Zahlenwerthen auf klärt über die Art, Oertlichkeit und Grösse der
durch die äusseren Kräfte im Knochen hervorgebrachten Druck-,
Zug- und Schubspannungen, ohne Verständniss endlich der vollen
Üebereinstimmung der architektonischen Verhältnisse der Fracturen-,
Rhachitis- und Deformitätenpräparate mit jenen Berechnungen der
Mathematiker.
Ich würde es unter solchen Umständen nicht der Mühe für
werth erachtet haben, über die Korteweg'schen Auseinandersetzungen
auch nur ein einziges Wort zu verlieren, wenn Korteweg seinen
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182 J- Wolff. Bemerkungen über die vorstehende Korteweg’sche Arbeit etc.
Erörterungen nicht auch noch einen fast persönlichen Angriff auf
meinen Assistenten Herrn Dr. Joachimsthal hinzugefügt hätte.
Er nennt JoachimsthaTs Darlegung meiner Auffassung der
Torsion der skoliotischen Thoraxringe als einer functionellen An¬
passung an die fehlerhafte Haltung und Inanspruchnahme des Thorax
eine „unwissenschaftliche“ Folgerung der Transformationslehre.
Es ist ganz gewiss nicht JoachimsthaTs, sondern lediglich
Körteweg’s Schuld, wenn letzterer es nicht zu begreifen vermag,
dass bei den Deformitäten nur die statische Inanspruchnahme der
Knochen pathologisch ist, die Form dagegen eine für diese patho¬
logische Inanspruchnahme zweckmässige, den zweckdienlichen
Widerstand gegen die veränderte Richtung der Druck-, Zug- und
Schubspannungen ermöglichende, also zwar eine abnorme, aber doch
nicht direct pathologische Bildung darstellt.
Wenn Korteweg sich entschlösse, in Zukunft besser, als er
es bisher gethan hat, sich in das Studium der Lehre von der func¬
tionellen Anpassung zu vertiefen, und eigene Arbeit auf diesem
Gebiete hinzuzufügen, so würde er sich damit erst das Recht er¬
werben, sich ernsthaft an der Discussion über „die Ursachen der
orthopädischen Knochenmissbildung“ zu betheiligen. Dann würde
er es aber auch gewiss vermeiden, Dinge niederzuschreiben, die eine
so energische Abweisung, wie die hier vorliegende, provociren.
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Referate
Mit einer in den Text gedruckten Abbildung.
Dr. C. Hübscher, lieber Bewegungsfelder am menschlichen Körper (aus der
Basler chirurg. Klinik. In den Beiträgen zur klin. Chirurgie. Mitth. a. d.
chir. Kliniken v. Tübingen, Heidelberg. Rev. v. Bruns. VIII. Bd. 26).
Bewegungsfelder nennt der Verf. die Excursionsgebiete der in einem
Gelenk möglichen Bewegungen, analog den Bezeichnungen G e s i c h t s f e 1 d und
Blickfeld. Letzteres ist geradezu das beste Beispiel eines Bewegungsfeldes.
Es wird hier vermittelst des Perimeters aufgenommen und zwar in der Art,
dass eine Schriftprobe oder ein Licht so lange peripherwärts verschoben wird,
bis der Patient denselben mit den Drehungen des Auges nicht mehr zu folgen
im Stande ist, oder in der Weise, dass die Reflexbilder eines vor dem Patienten
aufgestellten Lichtes, welche auf Cornea und Linse entstehen, vom Beobachter
zum Visiren und Einstellen benutzt werden.
Wie beim Auge die Bestimmung der Form des Blickfeldes wichtige An¬
haltspunkte zur Beurtheilung des Zustandes der Augenmuskeln liefert, so hielt
es Verf. für möglich, dass der orthopädischen Diagnostik aus der Bestimmung
der Form des Bewegungsfeldes ein Nutzen erwachse.
Zur Aufnahme des Bewegungsfeldes, z. B. des Hüftgelenks, welches schon
durch Albert an der Leiche vermittelst eines Kugelnetzes von Metallstäben
aufgenommen wurde, bedient sich der Verf. des von ihm angegebenen zwei¬
achsigen Winkelmasses (Beiträge z. klin. Chirurgie, 4. Bd., 2. Heft). Der Arbeit
sind die Zeichnungen der Bewegungsfelder eines nonnalen und congenital
luxirten Hüftgelenks beigegeben.
Auch für die Kopfbewegungen einschliesslich derjenigen der Halswirbel¬
säule hat Hübscher das Bewegungsfeld bestimmt. Er bediente sich hiezu einer
neuen von ihm erfundenen Methode. Auf die Stirn des Patienten wird mittelst
eines Gummibandes eine grosse Convexlinse befestigt, welche die zur Aufnahme
nöthigen Reflexbilder liefert, wie beim Auge Cornea und Linse. Auch hierfür
sind die Aufnahmen zweier Brillen (normal und pathologisch) beigegeben.
Aber auch die Drehungen der Wirbelsäule hat Hübscher mit seiner
Methode zu prüfen versucht. Nun wird die Convexlinse successive auf den ver¬
schiedenen Domfortsätzen der Wirbel befestigt und das Perimeter am Rücken
des Patienten aufgestellt. Mit vollem Recht legt Hübscher ein grosses
Gewicht auf die frühzeitige Diagnose der Scoliose, bei welcher eben (wie schon
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184
Referate.
von Lorenz besonders betont. Ref.) die Beschränkung^ der Beweglichkeit der
Wirbelsäule nach einer Seite öfters das einzige deutlich nachweisbare Symptom
bildet. (Wir möchten aber davor warnen, dieses Verhalten als relative Insuf-
ficienz der entsprechenden Muskeln zu bezeichnen, um nicht ein Missverständniss
in Bezug auf Aetiologie hervorzurufen. D. Ref.)
Hübscher erhielt bei diesen Aufnahmen, deren Resultate nun auf einem
Quadrainetze aufgetragen werden, der nach oben zunehmenden Drehfähigkeit
der Wirbelsäule entsprechend 2 divergente Curven.
Ohne Zweifel hat Hübscher damit eine Methode in die Diagnostik der
Bewegungsfähigkeit eingeführt, welche die Aufmerksamkeit der Orthopäden in
hohem Masse verdient. Selbstverständlich wird es aber stets schwierig sein., das
Gelenk in die Mitte des supponirten Kugelnetzsystems zu bringen und noch
mehr dasselbe darin zu erhalten. In welcher Weise der Verf. für die Wirbel¬
säule dieser Forderung gerecht geworden ist, geht aus der Mittheilung nicht
hervor, doch wird sich zweifelsohne hier die Aufgabe sehr schwierig gestalten,
da jede Drehung auch die Sagittal- und Frontalkrümmungen in erheblicher
Weise beeinflusst. Immerhin liefern die beiden beigegebenen Zeichnungen den
Beweis, dass die angegebene Methode ein Resultat gibt, das von dem theoretisch
zu erwai-tenden kaum erheblich abweicht.
Wilhelm Schulthess-Zürich.
L. Heusner, lieber die Behandlung der Wirbelcaries (Deutsche med. Wochen-
schr. 1892, Nr. 10, S. 209 f.).
Zur Behandlung der Wirbelcaries construirte Heusner folgenden Ap¬
parat: Das Stützmieder besteht aus weichem Filz, in 3—4facher Lage fest um¬
wickelt mit gestärkten Gazebinden. Zwischen diesen Lagen handbreite Streifen
von einem Rohrgeflecht, wodurch dem Gerüst Festigkeit, Leichtigkeit und
Schmiegsamkeit gegeben wird. Bei schmalen Hüften wird über die Cristae ilei
und bis vor die Spinae antt. supp, ein kleinfingerdicker Gummischlauch auf die
Filzunterlage gelegt und beim Wickeln der Bindentouren bis zum gleichen Niveau
fest in die Weichtheile eingedrückt. Zur Entlastung der Wirbelsäule werden
gepolsterte Achselstücke aus leichten Eisen- und Stahlstäben in die Touren
eingeschlossen. Zur Streckung des Rückens können über den Geflechtplatten
4 federnde Stahlstäbchen eingeschaltet werden. Der Kopfhalter besteht aus
einem dem Hinterhaupt und Unterkiefer genau angepassten und gepolsterten
eisernen Kragen, der hinten unter der Polsterung ein Chamier zum Oefihen hat
und vom durch ein Lederriemchen geschlossen wird. Den Kragen trägt eine
am hinteren Pole angenietete Stahlschiene, die frei über das Korsett hinabläuft
und sich unten in 2 Stäbe gabelt. Die unteren Enden der Gabel sind mittelst
Gummizügen an den Achselstützen aufgehängt, und zwar von der rechten Gabel
zur linken Achselstütze und vice versa. So ruht der Kopf wie auf einer Feder¬
waage, deren Tragfähigkeit durch die Spannung der Gummizöge willkürlich
regulii-t werden kann. Da das Kinn stets hoch ist, so werden die morschen
Wirbelkörper entlastet. Die Erfolge, welche Heusner mit dieser Construction
erzielte, sind nach seiner Angabe vorzügliche.
Hoff a-Wörzburg.
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Referate.
185
M. Schede, üeber die blutige Reposition veralteter Luxationen (Langenbecks
Arch. f. Chirurg. Bd. 43, S. 351 ff.).
In dem sehr bemerkenswerthen Aufsatz theilt Schede seine Erfahrungen
mit, die er bei der blutigen Reposition veralteter Luxationen gemacht hat. Es
ist ihm gelungen, eine ideale Heilung mit mehr oder weniger vollstilndiger
Erhaltung der Beweglichkeit ohne Resection zu erzielen in 4 Fällen von tuber-
culöser und 1 Fall von tabischer Vereiterung des Hüftgelenkes, Imal bei tuber-
culöser Vereiterung des Schultergelenkes, Imal bei veralteter Schultergelenks¬
luxation, Imal bei solcher des Radius. Eine vorübergehende Eiterung, ohne
das Endresultat wesentlich zu beeinflussen, trat einmal ein nach der Reposition
einer angeborenen Luxation der Schulter. Schliesslich hat Schede 4mal
mit absolut günstigem Erfolg die Hoff a’sche Operation der angeborenen Hüft-
g’elenksluxation ausgeführt. Namentlich über diese letztere Thatsache kann der
Referent nur seiner Freude Ausdruck geben. Es ist dies die erste öffentliche
Bestätigung seiner eigenen Erfahrungen; von weiteren günstigen Resultaten ist
ihm persönlich Mittheilung gemacht worden. Diese Fälle werden wohl später
noch veröffentlicht werden. Hoffa-Würzburg.
E. Müller, Die Therapie der Skoliose (Med. Corresp.-Blatt des württemb. ärztl.
Landesvereines, Bd. 62, Nr. 10 und 11).
Zur Correctur des skoliotischen Thorax hat Müller folgenden Apparat
construirt (s. umstehende Fig.). Der Patient wird mittelst eines um das Becken
kreuzweise geschlungenen Riemens an dem hölzernen Rahmen so befestigd^, dass die
Mittellinie des Körpers vor die senkrechte eiserne Stange AB zw stehen kommt.
Da der hölzerne Rahmen in der Höhe nicht verschieblich ist, so werden kleinere
Patienten auf Holzklötzchen von 10 oder 5 cm Höhe gestellt, bis sie die Höhe
erreicht haben, dass die Spina il. den horizontalen Schenkel des Rahmens etwas
überragt Der Querdurchmesser des Beckens muss mit dem letzteren parallel
sein. — An der senkrechten runden Eisenstange sind zwei horizontale Stahl-
stangen angebracht; beide sind in der Höhe verschiebbar und um die senkrechte
Stange als Achse drehbar. Die obere Stahlstange (CH) trägt nach vorne (gegen
den Patienten) eine gepolsterte Platte, gegen welche die Schultern des Patienten
mittelst zweier Riemchen befestigt werden; nach hinten zu befindet sich eine
Schraube, mit der die Stange an der senkrechten Eisenstange unverrückbar
festgeschraubt werden kann.
Die untere Stange (JR) kann wie die obere in beliebiger Höhe fest¬
gehalten werden, bleibt aber dabei um die senkrechte Stange drehbar. Auf
der zur rechten Seite des Patienten (eine rechtsconvexe Dorsalskoliose voraus¬
gesetzt) gelegenen Seite der Stange befindet sich an ihr verschiebbar eine ovale
Pelotte (P ), die in einem Gelenk mit senkrechter Achse drehbar ist. Diese
Pelotte wird so eingestellt, dass sie auf den hinteren Rippenbuckel zu liegen
kommt. Die Pelotte kann in dieser Einstellung fest geschraubt werden. —
Gegenüber der ersten senkrechten Eisenstange ist eine zweite (C D ), ebenfalls
runde, angebracht, in einer solchen Entfernung, dass der Patient bequem
zwischen den beiden Platz hat; sie befindet sich also der vorderen Mittellinie
des Patienten gegenüber. An ihr befindet sich ebenfalls eine in beliebiger Höhe
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186
Referate.
feststellbare und um die senkrechte Achse drehbare Stahlstange (MN), an
welcher auf der der linken Seite des Patienten entsprechenden Hälfte wieder
eine Pelotte (P*) angebracht ist, die wie die Pelotte (P) nach rechts und links
verschiebbar und um eine senkrechte Achse drehbar ist, und ausserdem noch
vor- und rückwärts, also in der Richtung gegen den Patienten geschoben werden
kann. Diese Pelotte wird auf den vorderen Rippenbuckel aufgelegt, und durch
3 Schrauben in ihrer Lage festgestellt. Von der linken Hälfte der Stange (CrH)
geht nun zu der ebenfalls linken Hälfte der Stange {MN) ein durch ein Chamier
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Referate.
187
mit beiden verbundenes Stahlstängchen (Q ), welches die Aufgabe bat, die Be¬
wegung der einen Stange auf die andere zu übertragen.
An dem rechten Ende der Stange (JK) ist eine Schnur befestigt, welche
nach der Wand des Zimmers, gegen welche der Patient sieht, geht, und dort
über eine Rolle läuft; an dieser Schnur können beliebige Gewichte angebracht
werden. Wenn dieser Gewichtszug wirkt, so wird die hintere Pelotte gegen den
hinteren Rippenbuckel und gleichzeitig, da durch die Rückwärtebewegung der
linken Hälfte der Stange (JK) die linke Hälfte der Stange {MN) gegen den
Patienten zu bewegt wird, auch die Pelotte (P^) gegen den vorderen Rippen¬
buckel angedrückt. Die beiden Pelotten bewegen sich also gegen einander, den
langen Durchmesser des Thorax verkleinernd.
Die Grösse der Excursion der vorderen Pelotte kann man dadurch regu-
liren, dass das Stängchen (Q) an beliebigen Stellen der Stange befestigt
werden kann; je näher dem Drehpunkt der Stange die Befestigung stattfindet,
um so kleiner ist natürlich die Excursion der Pelotte. Die vordere Pelotte
muss aber eine kleinere Excursion machen und damit einen geringeren Druck
ausüben, weil der vordere Rippenbuckel viel leichter nachgibt als der hintere,
und bei zu starkem Druck eine nachtheilige Beengung von Herz und Lunge
stattfinden könnte.
üeber dem Apparat ist noch eine Suspensionsvorrichtung angebracht, um
auch erforderlichen Falls eine Extension auf die Wirbelsäule einwirken lassen
zu können. — Müller ist mit diesem Apparat sehr zufrieden. Der Vortheil
desselben scheint ihm hauptsächlich der zu sein, dass durch den Gewichtszug.
der uns ja von dem Zugverband von den Extremitäten her sympathisch ist, eine
sehr genaue Dosirung der angewandten Gewalt stattfinden kann; dann ist der
Thorax nicht unnachgiebig eingespannt; bei tiefen Inspirationen kann sich auch
der comprimirte Durchmesser erweitern, wie man am Auf- und Abgehen des
Gewichtes sehen kann. Ferner kann man die Stelle, welche gedrückt werden
soll, sehr genau bestimmen, und ist der zu drückende Punkt einmal bestimmt,
so bleibt die Pelotte auch während der ganzen Anwendung des Apparates ruhig
liegen; es ist dadurch möglich, die Gewalt ganz genau in der Richtung des
vergrösserten Durchmessers wirken zu lassen. — Die Wirkung des Apparates
ist eine sehr starke; je nach der Grösse des Patienten, der Stärke des Buckels,
der Nachgiebigkeit der Rippen werden Gewichte von 7—18 Pfund angehängt,
und infolge des langen Hebelarms summirt. sich das Gewicht, mittelst dessen
der Thorax comprimirt wird, auf 20 — 50 Pfund. Die Wirkung ist eine ganz
allmählich sich steigernde; je länger dieselbe andauert, um so mehr nähern sich
die Pelotten einander und wird der vorher kürzere diagonale Durchmesser zum
längeren. — Durch dieses allmähliche Zunehmen der Compression wird auch
eine länger dauernde Anwendung des Apparates — bis zu 20 Minuten — ohne
Beschwerden ertragen; sobald die Kranken es wünschen, werden sie aus dem¬
selben herausgenommen. — Dass die Anwendung, zumal im Anfang, eine vor¬
sichtige sein muss, versteht sich von selbst; ebenso dass, solange ein Kranker
eingespannt ist, stets Jemand in der Nähe sein muss, der den Kranken aus
seiner Lage befreien kann; das Anlegen des Apparates besorgt stets der Arzt selbst.
Von der kurzen Arbeit Müllers ist schliesslich auch ein eigener Mess¬
apparat für Skoliosen beschrieben. Hoffa.
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188
Referate.
L. Heuener, üeber einen Stützapparat bei Lähmung des N. radialis (Deutsche
med. Wochenschr. 1892, Nr. 6 S. 115).
Für einen Patienten, der infolge Stichverletzung an der Aussenseite des
linken Oberarms eine völb’ge Lähmung der Hand- und Fingerstrecker und auch
eine Gebrauchsschädigung der Beuger davontrug, insofern als Patient die Finger
der betreffenden Hand nur schliessen kann, nachdem die Handwurzel in Exten¬
sionsstellung gebracht und die Finger in die Höhe gehoben sind, construirte
Heusner folgenden Apparat: Eine auf der Beugeseite durch eine Stahlspange
verstärkte Lederkapsel umfasst Vorderarm und Hand bis zu den Fingerwurzeln
und hält das Handgelenk so in leichter Streckstellung; der Metacarpus des
Daumens bleibt fast ganz frei. Auf dem Rücken der Kapsel vier Gummischnüre,
die, an den Basalgelenken unter Kulissen durchgeführt, in breitere Gummi¬
bändchen auslaufen, welche die Basalglieder der vier Finger umfassen; dadurch
werden die Finger in Strecksteilung gehalten, aus welcher sie willkürlich und
einzeln in die Beugstellung gebracht werden können. — Patient trägt diesen
Apparat über V« Jahr, ohne dass besondere Reparaturen nöthig gewesen wären.
Kr ist im Stande, feine leichte und auch schwerere Gegenstände sicher zu fassen
und festzuhalten. Hoffa-Wüi’zburg.
Hosenfeld, Ueber portative Holzverbände (Münch, med. Wochenschr. 1892).
Kurze Darstellung der heute gebräuchlichen portativen Holzverbände.
Rosenfeld hat versucht, auch die Hessing’schen Lederhülsen durch Holz-
hülsen zu ersetzen. Hoffa-Würzburg.
H. Ti mm er. Supramalleolaire Osteotomie biy een Geval van Pes valgus (Ned.
Tiydsch. voor Geneen. 1892, I. Theil).
Tim m er hat, wie die Figuren zeigen, bei einem schweren Fall von Platt-
fuss durch die Trendelenburg’sche Operation ein sehr gutes Resultat erreicht.
Im Anschluss an den mitgetheilten Fall, werden noch die gleich günstigen Er¬
fahrungen von Trendelenburg und Willy Meyer angeführt.
H o ff a-Würzburg.
Karl Basch, Ueber sogenannte Flughautbildung beim Menschen (Separate
abdruck aus „Zeitschrift für Heilkunde“ 1891, Bd. 12).
Basch beschreibt drei Fälle der zuerst, von Julius Wolff an der
unteren Extremität beobachteten und als Flughaut bezeichneten eigenthümlichen
Missbildung. In dem ersten Fall bestand bei einem im Alter von 5 Wochen
gestorbenen Kinde neben der in Rede stehenden Abnormität Hasenscharte,
Wolfsrachen und ähnlich wie in dem Wolffschen Falle beiderseitige Klump-
fussbildung, Zehendefect — es waren jederseits nur vier Zehen vorhanden —
und Anomalie in der Stellung derselben. Am linken Fusse waren die Zehen
so angeordnet, dass je zwei nach der medialen und zwei nach der lateralen
Seite gerichtet waren, wodurch eine geringe mediane Einschnürung entstand,
die sich aber auf den Metatarsus nicht fortsetzt«. Zwischen dem Ober- und
Unterschenkel war beiderseits der Länge nach eine Hautduplicatur ausgespannt,
die der Kniekehle in Form eines Dreiecks aufgesetzt erschien. Man tastete
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Referate.
189
längs der Basis dieser dreieckigen Hautduplicatur einen straff gespannten
Sehnenstrang, der sich aus den Flexoren des Unterschenkels zusammensetzte
und mit der ebenfalls angespannten Achillessehne bis zum Calcaneus berabzog.
Die Oberschenkelknochen sowie die das Kniegelenk formirenden Antheile der
Tibia und Fibula zeigten keine Neubildung; die Patellae waren beiderseits er¬
halten. Das Kniegelenk war rechts bis zu einem Winkel von 100°, links bis
zu ca. 130° streckbar, die Flexion war beiderseits bis zur Berührung der Unter-
fläxjhe des Oberschenkels mit der des Unterschenkels möglich.
Bei der anatomischen Präparation zeigte sich rechts ein angeborener
Mangel des langen Kopfs des M. biceps femoris; der M. semitendinosus und
semimembranosus gingen zwar regelmässig vom Sitzhöcker ab, übersprangen
aber ihre normale Insertionsstelle an der Tuberositas tibiae und vereinigten sich
zusammen mit dem M. triceps snrae in der Höhe des unteren Dritttheils des
Unterschenkels in Form einer breiten sehnigen Verbindung, die an der Innen¬
seite der Achillessehne zu dieser hinzutrat. Der mediale Kopf des M. gas-
trocnemius war nicht vorhanden. Durch das Fehlen des langen Kopfes des
Biceps und das Auseinanderweiclien der Beuger des Unterschenkels erschien der
Hüftnerv in dem grösseren Theil seines Verlaufs freigelegt. An der linken
unteren Extremität fehlte gleichfalls der lange Kopf des Biceps. Während so¬
dann der M. semitendinosus sich auch auf dieser Seite mit der Achillessehne in
ihrem unteren Drittel vereinigte, an dieselbe aber mehr von unten und hinten
her hervortrat, inserirte der M. semitendinosus mit dem grössten Theil seiner
Muskelmasse nindsehnig an der normalen Stelle, während sich daneben ein
anderer Muskeltheil fächerförmig abfaserte und in die Fascie der Waden-
rausculatur überging. Die Mm. plantares longi fehlten an beiden Seiten.
Die beiden weiteren Fälle von Flughautbildung fanden sich unter den
Präparaten des Prager pathologischen Museums. Bei dem ersten bestand bei
einem Omonatlichen Fötus die Abnormität neben Situs viscerum inversus und
zahlreichen anderen Missbildungen. Es handelte sich uni eine Flughautbildung
geringen Grades zwischen Ober- und Unterschenkel der rechten Seite. Bei der
Präparation konnte keinerlei Abnormität in der Verlaufsanordnung der Beuger
des Unterschenkels ermittelt werden. f]s bestand als Ursache der Contractur
nur eine Verkürzung der Musculatur an der Innenseite des Oberschenkels, eine
„Hypoplasie“ des M. gracilis, M. semitendinosus und M. semimembranosus, ohne
dass ihre normale Form und Anlage dadurch gestört worden wären. An der
Verkürzung nahm der Hüftnerv insofern Antheil, als er sich nicht entlang den
Beugern der Kniekehle anlegte, sondern schon von der unteren Hälfte des
Oberschenkels freigelegt, in der Kniekehle hinter die Beuger zu liegen kam und
im freien Rande der Hautduplicatur zum Unterschenkel herabzog.
Bei dem Ömonatlichen Fötus, den Basch noch beschreibt, handelte es
sich neben einer Fissura abdominalis, infolge welcher es zur fast vollständigen
Eventration der Baucheingeweide gekommen war, und hochgradiger rechtsseitiger
Klumpfussbildung um eine Flughautbildung am rechten Knie. Die Flexions-
contractur betrug beinahe einen rechten Winkel. Hier fand sich eine auffällig
mächtige Entwickelung des M. sartorius und des M. gracilis. Die Verlaufs¬
richtung der beiden Muskeln war dabei eine regelrechte, was auch bezüglich
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190
Referate.
aller Beuger des Unterschenkels galt. Der M. gracilis, semitendinosus und
semimembranosus schienen verkürzt, ebenso der Hüftnerv, der wie in den frü¬
heren Fällen stark gegen den freien Rand der Flughaut vorgedrängt war.
Wegen dieses Verhaltens der Nerven ist demselben bei event. operativen
Eingriffen besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden. Joachimsthal-Berlin.
A. Lücke, Die späteren Schicksale des stationär gewordenen Plattfusses
(Deutsche Zeitschrift für Chirurgie, Bd. 34, S. 1 — 11).
Aus der reichen Erfahrung L ü c k e’s heben wir Folgendes hervor. Selbst
mit sehr ausgebildeten Plattfüssen können Patienten jeder Anstrengung im
Gehen sowohl auf ebenem Boden als auch auf bergigem Terrain gewachsen
sein. Es sind das solche Patienten, deren Unterschenkelmuskeln gut aus¬
gebildet sind.
Bei dem sich entwickelnden Plattfuss besteht oft eine hochgradige
Schmerzhaftigkeit beim Gehen, ohne dass man schon, besonders in der Ruhe¬
lage, eine Deformität bemerken kann. Diese Schmerzen hängen zum Theil wohl
von den osteoporotischen Veränderungen ab, welche am oberen Knochen des
sich bildenden Plattfusses statthaben.
Bei den weniger hochgradigen Plattfüssen ist doch stets eine deutliche
Venenzuckung — die Folge von Circulationsstörungen — vorhanden. Ebenso
verlaufen die Zehen an solchen Füssen lang gestreckt.
Die häufigste Ursache der Plattfussrecidive, d. h. des Wiederaufbretens
von Schmerzen bei bereits stationär gewordenen Plattfüssen ist ein den Platt¬
fuss treffendes Trauma. Die Diagnose wird dann wohl öfters fälschlicherweise
auf eine traumatische Ostitis gestellt. Anlegung eines gegen den Plattfuss ge¬
richteten Schienenverbands führt dann meist rasch die Heilung herbei. Es gibt
aber auch incurable Fälle dieser Art. Es handelt sich dann stets um sehr
ausgebildete Plattfüsse, und es ist allen diesen Fällen gemeinsam, dass die Spitze
des Malleolus extemus gegen die Aussenfläche des Hackenfortsatzes des Cal-
caneus anstösst.
Auch abnorme einseitige Belastung eines Plattfusses bei Erkrankung des
andern kann ein Plattfussrecidiv im obigen Sinne hervorrufen. Weiter sind als
Ursachen des Plattfussrecidivs Varicenbildung und durch verschiedene Einwir¬
kungen hervorgerufene allgemeine Muskelschwäche und sich schnell entwickelnde
Fettleibigkeit zu beschuldigen.
Das wesentlichste Symptom des Plattfussrecidivs ist die Sclimerzhaftig-
keit. Der Schmerz selbst kann localisirt werden in die Zehen, in die Fuss-
wurzelknochen. besonders an die Grenze der hinteren Reihe, in den Calcaneus,
an die Spitze des Malleolus extemus. Dieser Schmerz wird in der Regel als
ein rheumatischer gedeutet. Man muss dann die Patienten im Stehen unter¬
suchen und wird dann leicht die Stellungsanomalien und die Varicenbildung,
öfters • auch Thrombosenbildung (auch in den tiefen Wadenvenen!) erkennen.
Die Schmerzen verschwinden bei Behandlung mittelst Massage und Elektricität,
werden dagegen stärker beim Gebrauche warmer Bäder. In seltenen Fällen
entwickeln sich förmliche Neuralgien, die meist dem Verlaufe des Nervus pero¬
neus folgen. Die Heilung des Recidivplattfusses, verbunden mit Einwirkung der
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Referate.
191
Elektricitilt beseitigt in vielen Fällen diese Neuralgie; in anderen Fällen ent¬
wickeln sich aus derselben alle Formen der Hysterie. Hoffa-Würzburg.
Albert Zeller, Zur Behandlung des Plattfusses (Med. Correspondenzblatt des
Württemb. ärztl. Landesvereins, 22. December 1891, Ö. 297).
Zeller berichtet über zwei Fälle von schmerzhaftem Plattfuss, die er
mit Erfolg nach Trendelenburg behandelte. Die beiden Kranken sind vor
1 Jahr und 9 resp. 7 Monaten operirt. Die Höhlung der Sohle, die, wie auch
aus den der Arbeit beigegebenen Pelmatogrammen hervorgeht, nach der Opera¬
tion sehr ausgesprochen war, ist zwar mit der Zeit wieder etwas flacher ge¬
worden; doch sind die Schmerzen nicht wiedergekehrt.
Helferich, Die Behandlung deform geheilter Knoohenbrüche (Münch, med.
Wochenschr. 1892, Nr. 12).
Helferich der sich, was di«* Behandlung deform festgewachsener
Knochenbrüche betrifft, auf ein Material von 30 Kranken stützt, die in der Zeit
vom October 1885 bis Ostern 1891 in die Greifswalder Klinik wegen fehlerhaft
geheilter Fracturen aufgenommen wurde, erläutert in der vorliegenden Arbeit
an einzelnen Beispielen das in diesen Fällen eingeschlagene Verfahren. Da fast
stets die fehlerhafte Heilung dadurch herbeigeführt war, dass die betreffenden
Patienten von ihren Aerzten sofort Gipsverbände erhielten, die nachher wochen¬
lang liegen blieben, so nimmt Helferich Gelegenheit bei frischen Knochen¬
brüchen vor der Anlegung von Gipsverbänden zu warnen. Er empfiehlt für die
ersten 8 Tage Schienenverbände; bei den Diaphysenbrüchen folgt dann der
erste Gipsverband, gepolstert, wenn nöthig in Narkose, nach sorgfältiger Repo¬
sition. Jedenfalls wird derselbe aber nach weiteren 8 Tagen wieder entfernt,
um die Stellung der Fragmente zu controlliren, und durch einen neuen weniger
gepolsterten, wenn nöthig wieder in Narkose ersetzt. Dieser zweite Verband
bleibt nur in der Regel 2—3 Wochen liegen.
Am einfachsten ist es in der Regel, wenn es sich darum handelt, deform
tixirte Diaphysenbrüche des Unterschenkels dessen mittlerem Theil angehörend
zu bessern. Von fünf derartigen Fällen der Greifswalder Klinik bespricht
Helferich zwei eingehender. Im ersten gelang es, den rhachitischen Ver¬
krümmungen des Unterschenkels analoge Verbildungen nach einer vor einem
halben Jahre erlittenen Fractur bei einem 50jährigen Patienten mittelst des
R i z z o 1 i'schen Osteoklasten wieder zu fracturiren und in wesentlich gebesserter
Stellung zur Heilung zu bringen. Bei dem zweiten analogen Fall wurde zu¬
nächst die Fibula an ihrer Bruchstelle durch Incision freigelegt und durch-
meisselt, worauf die Tibia mittelst des Osteoklasten fracturirt wurde. Auch
hier resultii-te eine annähernd normale Stellung mit verminderter Verkürzung
und guter Gehfahigkeit.
Grössere Anforderungen an die Geschicklichkeit und chirurgische Er¬
fahrung erfordern die deform fixirten Oberschenkelbrüche, ln zwei der mitge-
theilten Fälle vermochte Helferich durch die Osteoklase, in dem dritten durch
die Osteotomie an der alten Bruchstelle mit nachfolgendem Extensionsverband
die Winkelstellung zu beseitigen und die Verkürzung wesentlich zu bessern.
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192
Referate.
In einer besonderen Gruppe bespricht Helferich dann noch die deform
,geheilten“ Gelenkfractiiren, indem er des Genaueren auf einige Fälle eingeht,
die das Fussgelenk und die Fractur der Knöchel betreffen. Bei zwei Kranken
mit Valgussteilung der Füsse nach Knöchelbrüchen wurden im ersten Fall die
beiderseitigen Fracturen mit dem Rizzoli'schen Osteoklasten mobilisirt und
die Füsse in Varusstellung zur Heilung gebracht, während bei dem zweiten
Patienten die Operation in der Weise stattfand, dass Tibia und Fibula nach
subperiostaler Blosslegung dicht oberhalb der Malleolen angenieisselt wurden,
und der völUge Bruch an diesen Stellen nach Versorgung der Wunden durch
den Rizzoli hergestellt wurde. Bei frühzeitigen Bewegungen im Fussgelenk
erfolgte auch hier gute Heilung. Bei einem dritten Kranken endlich war durch
Sturz vom Wagen und Ueberfahren ein t^'iuscher Knöchelbruch zu Stande ge¬
kommen, der mit bedeutender Deformität zur Heilung gelangte, so dass der
Kranke sich nur mit Hilfe zweier Krücken fortzubewegen im Stande war. Die
Fractur war in typischer Weise im Bereich des inneren und etwa 4 cm ober¬
halb des äusseren Knöchels nachzuweisen. Die Valgussteilung des Fusses war
sehr beträchtlich (ungefähr 150®). Hier wurde zunächst die Fibula an der
Fracturstelle nach subiieriostaler Freilegung durchmeisselt; bei der Freilegung
des inneren Malleolus erwies sich die abgerissene Knöchelspitze nur binde¬
gewebig fixirt und stark dislocirt. Nach Durchschneidung der Verwachsungen
und Anwendung des Rizzoli zur Mobilisirung wurde die völlige Reposition
ermöglicht. Unter Anwendung von Massage, activen und passiven Bewegungen
schon von der vieHen Woche an, erfolgte die vollständige Wiederherstellung.
Joachimsthal - Berhn.
Max Schede, Uebei* die nachträgliche Beseitigung starker Verkürzung der
Knochen als Folge schlecht geheilter Fracturen (Arch. f. klin. Chir., Bd. 83,
S. 346, Festschrift, Herrn Thiersch gewidmet).
ln dem von Schede mitgetheilten Falle gelang es, bei einer mehr als
6 Monate alten, völlig consoUdirten, aber mit einer Verkürzung von 10cm
geheilten Oberschenkelfractur durch Osteotomie und Gewichtsbehandlung die
Verkürzung auf IV 2 —2 cm zu reduciren. Nur ein kleiner Theil der Verkür¬
zung, etwa 1 cm, war durch eine massige Verkrümmung der Oberschenkel-
diaphyse nach aussen, der ganze Rest durch ein hochgradiges Uebereinander-
schieben der Fragmente bedingt. Es hatte ein Schenkelbnich etwa der Mitte
des Oberschenkels Vorgelegen; das obere Fragment lag in der gewöhnlichen
Weise vor dem unteren, seine untere Spitze war gut 20 cm von dem oberen
Ende des unteren Fragments entfernt. Unmittelbar nach dem Eingriff, der in
einer ausgiebigen Freilegung der sehr langen Bruchlinie und in einem Durch-
meisseln der festen Verschmelzungen, welche die beiden Knochen mit einander
verbanden, bestand, liess sich durch sehr starken Händezug das Bein bereits
um 3 cm verlängern. Da die Weichtheile bei dem zum Theil stumpfen Lösen
von unebenen mit Osteophyten besetzten Knochen nicht unerheblich gequetscht
waren, so wagte Schede nicht eine partielle prima intentio anzustreben und
stopfte die ganze Wundhöhle mit Jodoformgaze aus; dann wurde ein Exten¬
sionsverband angelegt und zunächst ein Gewicht von 20 Pfd, angehängt, das
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Referate.
193
später auf 25 Pfd. gesteigert wurde. Allerdings erfolgte nach wiederholter
Ausstossung kleiner Sequester aus der fistulös gewordenen Wunde die definitive
Heilung erst ein Jahr nach der Operation, doch gelang die Kur glänzend in
Bezug auf die Beseitigung der Verkürzung, indem der Kranke ohne Stock und
selbst ohne Sohlenerhöhung leicht und ohne zu hinken sich fortzubewegen im
Stande war. Joachimsthal-Berlin.
Guston Sardon, Traitement des cals vicieux avec chevauchement par Tosteo-
toinie oblique (Paris, G. Steinheil 1891).
Die vorliegende Arbeit enthält einen Bericht über fünf wegen fehlerhaft
mit Verkürzung geheilter Oberschenkelbrüche ausgeführter schräger Osteo¬
tomien.
Es handelte sich zunächst um einen 11jährigen Knaben mit einer seit
10 Monaten bestehenden Luxatio iliaca und einem fehlerhaft consolidirten Bruch
unterhalb der Trochanteren. Von der bestehenden Verkürzung des Beins um
5\'2 cm entfielen 2V* cni a-uf die Luxation, 3 cm auf die Verschiebung der Bruch¬
stücke an einander. Da es zur Bildung einer sehr guten Nearthrose gekommen
war, so verzichtete man auf die Beseitigung der Verrenkung und vollführte eine
schräge Osteotomie des Femur in der Richtung von unten medialwärts nach
oben und lateralwärts. Das freie Ende des oberen Fragments wurde mittelst
einer aus der Wunde herausgeleiteten und an der Schiene befestigten Silber-
drahtschlinge in der gewünschten Lage erhalten. Unter der Einwirkung der
eingeleiteten Extensionsbehandlung trat das erstrebte Resultat ein; die geringe
noch bestehende Verkürzung wurde durch eine erhöhte Sohle ausgeglichen.
Bei dem zweiten Patienten, einem 12jährigen Kinde, der infolge eines
Bruchs vor 4 Monaten eine den Gang sehr erschwerende Verkrümmung des
oberen Femurabschnittes und eine Verkürzung des Beins um 3 cm acquirirt
hatte, gelang es zwar durch die Osteotomie schräg von aussen unten nach innen
oben und durch IV 2 Monate fortgesetzte F^xtensionsbehandlung die Deformität
zu beseitigen. Dieselbe kehrte jedoch beim Gebrauch des Gliedes wieder.
S a r d o n knüpft hieran die Mahnung, Kinder nach der Osteotomie nicht vor 1V 2 ,
Erwachsene nicht vor 3 Monaten auftreten zu lassen.
3. Im Anschluss an eine complicirte Fractur vor 11 Monaten war bei
einem 29jährigen Patienten eine Verkürzung des Oberschenkels um 11 cm zu
Stande gekommen. Hier gelang es, nach der schrägen Osteotomie und der Ent¬
fernung mehrerer Sequester, die zur Fistelbildung geführt hatten, die Verkürzung
bis auf 3 cm zu verringern.
Die vierte Osteotomie wurde bei einem 59jährigen vor 9 Monaten ver¬
unglückten Kranken vollführt. Die beiden Fragmente bildeten hier einen nach
innen offenen Winkel von 135® in der Mitte des Oberschenkels. Die sehr
schräge Osteotomie wurde in der Verlängerung des inneren Randes des unteren
Fragments direct ausgeführt, so dass ein Theil des alten oberen Fragments in Ver¬
bindung mit dem neuen unteren Bruchstück blieb. Trotz langdauemder Eiterung
wurde ein gutes Resultat erzielt und die Verkürzung von 7 cm bis IV 2 cm
ausgeglichen.
In dem sechsten Fall endlich gelang es, bei einem ISjährigen Knaben mit
Zeitochrlft für orthopädlBcbe Chirurgie. II. Band. X3
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Referate.
einer 2 Monate alten fehlerhaft geheilten Fractur des Feraur an die Stelle der
Verkürzung des Beines um b'/i cm eine Verlängerung desselben um V'j t-m
gegenüber der gesunden Seite zu erzielen. Joachimsthal-Berlin.
Ed. Schwartz, Deux cas d’osteotomic sous-trochanterienne pour des ankyloses
vicieuses de la hanche (Revue d’orthopedie 1892, Nr. 1 S. 46).
Schwartz berichtet über die erfolgreiche Ausführung der Osteotomia
subtrochanterica in zwei Fällen von Hüftgelenksankylose. Im ersten Fall stiind
bei einem O'/a.lährigen Knaben im Anschluss an eine Coxitis das linke Bein in
überrechtwinkliger Flexion, starker Adduction und Aussenrotation, derart, das«
cs dem Kranken selbst mit der Fussspitze nicht möglich war, den Boden zu
berühren. Die Verkürzung, die bei dieser pathologischen Stellung ungefähr
12 cm betrug, wurde durch die Operation, die linear ausgeführt wurde, auf
5—6 cm verringert und der Patient in den Stand gesetzt, ohne Krücken und
Stock mit Hilfe eines Beckens und linke Extremität einschliessenden Apparates
sich fortzubewegen. Im zweiten Fall war bei einem 27jährigcn Kranken im
Anschluss an eine gonorrhoische Gelenkentzündung eine Ankylose in leichU^r
Flexions- und starker Adductionsstellung mit einer scheinbaren Verkürzung des
Gliedes um 5—6 cm zu Stande gekommen. Um die starke Adductionsstellung
besser zu corrigiren, vollführte Schwartz hier eine keilförmige Osteotomia
subtrochanterica, wobei die etwa 2 cm hohe Basis des Keils nach aussen ge.
richtet war. An Stelle der scheinbaren Verkürzung kam es infolge der Ah-
ductionsstellung, die nun erreicht wurde, zu einer scheinbaren Verlängerung des
Gliedes um 2—5 cm und zu einem sehr guten functioneilen Resultat.
Joachimsthal' Berlin.
Kümmell, Beitrag zum Ersatz von Sehnendefecten (Ibid. S. 280).
Kümmell berichtet über eine subciitane Zerreissung der Sehne des
Extensor pollicis longus. Der kräftige gesunde Patient fühlte beim Zügeln zweier
junger Pferde, während diese zur Seite sprangen, einen starken Ruck und einen
lebhaften bald vorübergehenden Schmerz, der sich durch den ganzen linken
Arm verbreitete. Eine leichte Schwellung in der Gegend des linken Hand¬
gelenks hinderte nicht die Bewegungstahigkeit der Hand. Einige Stunden später
entglitt ein Sattel, den der Kranke vom Haken nehmen wollte, seiner Hand,
wobei ein furchtbar heftiger, jäher Schmerz im linken Arm auftrat. Der
Daumen hing von dieser Zeit ab schlaff herab und konnte weder abducirt noch
extendirt werden, ln diesem Zustand kam Patient 3 Wochen später in K fi m-
melTs Behandlung. Der ulnare Rand der Tabatiere war nicht sichtbar, dagegen
fühlte man in der Gegend der Mitt<‘ des Metacarpus pollicis das kolbig ver¬
dickte periphere Sehnenende. Nach Eröffnung der Sehnenscheide fand Kümmell
die Sehne etwa 3 cm peripher vom Muskel durchrissen , äusserlich aber von
vollkommen normaler Beschaffenheit und Derbheit. Da die Vei*8uche, durch
forcirte Hyperextension, durch sehr starkes Anziehen der Sehnen sowie durch
Einkerbung derselben die Enden an einander zu bringen, misslangen, vielmehr
noch eine Diastase von ca. 8 cm bestehen blieb, so verband Kümmell nach
dem Vorgänge von Gluck die getrennten Sehiienenden durch mehrere zusammen-
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Referate.
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gedrehte dicke Seidenfäden, vereinigte darüber die Wunde durch die Naht und
verband die Hand in möglichster Hyperextension. Der Patient ist bei der Vor¬
stellung, 4 Monate nach der Operation, im Stande seinen Daumen wieder wie
früher zu gebrauchen. Kümmell glaubt ebenso wie Gluck, dass der künst¬
liche Ersatz die Richtschnur bildet, die das neue Bindegewebe versetzt, gleich¬
sam das Gerüst und Spalier, welches von neuen lebenden Geweben durchwachsen
wird. Joachimsthal-Berlin.
Eduard Regnier, Zur operativen Behandlung des Genu valgum (Arch. f.
kUn. Chir. 1892, Bd. 43, S. 378).
Regnier berichtet über die in der Grazer chirurgischen Klinik des
Prof. Wölfl er wegen Genu valgum vorgenommenen operativen Eingriffe. Bei
der Aufmeisselung der Tibia mit gleichzeitiger Osteotomie der Fibula nach
Schede, die 7mal zur Ausführung kam, bemühte er sich, da Schede’s Empfeh¬
lung der Durchtrennung des Wadenbeins von einem 2—3 cm langen, dicht
unterhalb des Fibulaköpfchens beginnenden Hautschnitt aus, nach Einsicht in
die anatomischen Verhältnisse die Verletzung des Peroneus nicht mit Sicher¬
heit ausschliessen, eine diesen Nerven nicht gefährdende Schnittführung zur
Osteotomie der Fibula zu finden. Die Höhe der typischen Durchmeisselungs-
stelle der Tibia unterhalb der Tuberositas tibiae auf die Fibula übertragen,
triflÜi gerade die Ausbreitungsstelle des Nerven in seine Aeste, einen Ast, welcher
quer über die Fibula zum Tibialis anticus und Extensor digitorum communis
verläuft, ferner den Nervus peroneus profundus und N. p. superficialis; da die
beiden letzteren noch eine Strecke weit an der Vorderfläche der Fibula ver¬
laufen, muss von jeder tieferen Stelle zur Durchmeisselung des Knochens Ab¬
stand genommen werden, diese vielmehr, da der Raum zwischen Fibulaköpfchen
und Nervenausbreitung im Durchschnitt eine Länge von 3 cm besitzt, höchstens
2 cm unterhalb des Fibulaköpfchens ausgeführt werden. Nach genauer Ab¬
fassung des Fibulaköpfchens bei gebeugtem Kniegelenk führte Regnier daher
knapp unter demselben einen an der oberen Kante der Fibula verlaufenden
1 7« cm langen sofort auf den Knochen dringenden Längsschnitt und durchtrennt
hierauf in der Mitte desselben von der inneren Kante der Fibula aus quer den
Knochen. Die Infrangirung der möglicherweise noch bestehenden Knochenlamelle
hat zur Vermeidung einer Zerrung, Anspiessung oder Interposition des Nerven-
stammes in der Richtung der Abduktion zu geschehen. Bei der Nachbehandlung
bevorzugt Regnier das langsame Redressement mittelst des Mikulicz’schen
Verbandes nach vorgenommener Osteotomie. In einem der von Regnier mit¬
geteilten Fälle traten Lähmungserscheinungen am 36. Tage post operationera,
bedingt durch eine Kompression des Peroneus durch Callusraassen, auf. Der
den Callusmassen fast adhärente Nerv wurde aus denselben herauspräparirt und
durch einen zwischengelegten Jodoformgazestreifen an einem neuerlichen Ein¬
wachsen gehindert, wonach Rückgang der Lähmungserscheinungen eintrat.
Regnier tritt bei der Behandlung des Genu valgum entschieden für
die Macewen’sche Operation ein, die im Verlauf von 3 Jahren an 13 Kranken
17mal ausgeführt wurde. Gegenüber der von Hahn empfohlenen Vornahme
eines zweiten Schnitts an der Aussenseib* des Oberschenkels sieht Regnier
keinen Orund von Macewen’s Originalmethode abzugehen. Auch nach dieser
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Referate.
Operation geschieht die Correction vom 8.—10. Tage an allmählig mittelst des
MikulicZusehen Verfahrens. Ist die Consolidation eingetreten, so wird mit
Gehversuchen und passiven Bewegungen im Kniegelenk sofort begonnen, ln
keinem der Fälle sah Regnier eine hochgradige Bajonettstellung ein treten,
was er auf die Art der Nachbehandlung zurückführt. Die Behandlungsdauer
biß zur Entlassung betrug im Mittel 88 Tage. Die Kranken verliessen alle
ohne Stütze die Anstalt. Die Bewegungsfähigkeit im Kniegelenk erreichte einen
Winkel von 60”. 12 Patienten befanden sich im Alter von 15—24 Jahren; ein
Patient, bei dem es sich um einen im Anschluss an ein Trauma entstandenen
arthritischen Process handelte, war 37 Jahre alt. Der bei dem Letzteren durch
die Operation erreichte Erfolg war kein befriedigender, da einerseits ein mäch¬
tiger hypertrophischer Gallus am Orte der Osteotomie auftrat, andererseits
schon nach den ersten Gehübungen die Zeichen eines Recidivs bemerkbar wurden.
Veranlassung dazu, die Correction der Deformität nach der Macewen'schen
Osteotomie allmählig in der erwähnten Weise vorzunehmen, gab zuerst ein
Fall schwerer Peroneuslähmung, der infolge eines sofortigen Redressements nach
der Operation auftrat, offenbar durch den intensiven Druck des corrigirenden
Verbandes bedingt. Joachimsthal-Berlin.
Villeneuve, Luxation sous-pubienne de la hanche gauche irreductible par
les moyens ordinaires. Tentative infructueuse de r^duction par la methode
sanglante. Osteotomie intra-trochantärienne. Guerison dans une bonne
Position. Observation recueillie par le Dr. Melchior Robert. (Revue
d’orthopedie 1892 Mai, Nr. 3 S. 161.)
Ein 48jähriger Patient gelangte mit einer Luxatio subpubica 62 Tage
nach der Verletzung in Villeneuve’s Behandlung. Nach angeblichen Ver¬
suchen einer unblutigen Reposition legte Villeneuve durch einen verticalen
20 cm langen Schnitt über Spin. ant. sup. und inf. den Schenkelkopf frei und
führte einen Haken um den Schenkelhals, um mit dieser Hülfe durch geeignete
Manipulationen den Kopf zu reponiren. Da alle diese Versuche nicht zum Ziel
führten und die Pfanne mit dem Finger nicht zu erreichen war, so entschloss
sich Villeneuve zur Ausführung einer Osteotomie im untern Drittel des
Trochanter, wonach das Bein mit Leichtigkeit in die gerade Stellung überführt
werden konnte. Der Wundverlauf war aseptisch und der Zustand des Patienten
nach der Heilung ein verhältnissmässig günstiger. Das Bein war in der Hüfte
leicht flektirt, um 4 cm verkürzt und die Flexion auf einen Winkel von 80®
beschränkt; nur im Freien bedurfte der Kranke beim Gehen noch eines Stocks.
Joachimsthal-Berlin.
Phocas, Contribution ä Tetude du genu valgura infantile (Revue d'orthopedie
1891, VI).
Unter Mittheilung einer Reihe von Krankengeschichten berichtet Phocas
über die von ihm bevorzugten Methoden der Behandlung des Genu valg. infant.
Bei leichten Fällen erzielte er Heilung durch orthopädische Apparate (Lagerung
des Patienten mit Heine's Kissen und elastischem Zugverband). Diese ortho¬
pädische Behandlung ist nur dann indicirt, wenn Patient wochenlang liegen
kann. Ist dies nicht möglich, dann manuelle Osteoklasie nach Tillaux: ebenso
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Referat«.
197
bei höheren Graden und bei Patienten über 7 Jahr. Bei ganz schweren Formen,
bei älteren Kindern und in jenen Füllen, wo Osteoklasie versagte, operirt
Phocas unter 8treng^ter Antiseptik nach Maeewen. Kr verzichtet daV)ei auf
Esmarch'sche Binde, da ohne diese die venöse Blutung geringer (!) sei, im
Uebrigen befolgt er genau Maeewens Vorschriften. — Nachbehandlung mit
Gypsverband oder permanenter Extension. —
Bezüglich der Aetiologie des Leidens nimmt Phocas als Hauptmoment
Rhachitis an, dann auch Heredität; in seinen Füllen das Leiden meist bilateral,
und zeigte die Tibia die Hauptkrümmung. Tausch-München.
H. Martin, Du traitement orthopedique des genoux cagneux (Revue d’ortlio-
pedie 1892, IL).
Auf Sayre's Ausspruch fussend „dass alle Operationen bei Kniever*
krümmungen mehr oder weniger geführlich (!) seien und vermieden werden
könnten“, beschreibt Martin sein Verfahren bei den verschiedenen Graden des
Genu valgum (und varum). Bei leichten Formen begnügt er sich mit Massage,
Bädern, diätetischer Kräftigung des Kindes und Einlage einer Plattfuss.sohle
aus Filz, Kork oder Gummi. Reicht dies nicht aus, und ist der Malleolar¬
abstand mehr als 4 cm, bedient Martin sich einer Art TupperFscher Schiene
oder um progressiv die Deformität zu redressiren, einer VeneTschen Schiene
(s. Abb.), die aus zwei, einer vorderen und hinteren, durch seitliche Verbindun¬
gen fixirten Eisenstäben von der Länge und Form des Beines besteht. Die
Schienen wirken nach manueller Correction der Deformität durch drei mittelst
Knöpfen an den Schienen befestigte elastische Gurte (bei gen. valg. 2 äussere,
1 innere). Abbildungen illustriren die Wirkungsweise sehr anschaulich. Von
55 Fällen wurden 45 vollständig geheilt, 5 sind noch in Behandlung, die übrigen
entzogen sich derselben. Behandlungsdauer 6 Monate bis 2 Jahr.
Ta lisch-München.
Bradford, ün cas de pied bot congenital chez une femme de 35 ans (Revue
d’orthopedie 1892).
Ausgezeichneter Behandlungserfolg an einem hocligradigen, schwer zu
redre.ssirenden Klumpfuss bei einer 3äjährigen Frau. Da manuelle Redre.ssions-
versuche unmöglich und die Deformität so hochgradig war, dass bei einem
Resectionsvei*such aus dem Tarsus ein sehr grosser Keil hätte entfernt werden
müssen, entschloss sich Bradford nach Phelps’scher Durchschneidung der
betreffenden Weichtheile mittelst eines expre.ss construirten Apparates, der eine
enorme Kraftentfaltung ermöglichte, einen Redressionsversuch zu machen. Dieser
Versuch gelang vollständig, und war die Redressionswirkung so stark, dass die
Haut am innern Fussrand einen Zoll breit tief einriss und weit klaffte, während
der Fuss aus der Varu.s- in eine Valgusstellung übergeführt war. (Die Achilles¬
sehne wurde erst 14 Tage später durchtrennt.) Fixirender antiseptischer Ver¬
band. 3 Wochen nach der Operation erhält Patient eine Taylor sehe Schiene. —
Fussstellung vorzüglich, so da.ss Patient ein Jahr nach der Operation ohne
irgend welchen Apparat gehen kann; gegen eine etwaige Uebercorrection und
zur Unterstützung des Fussgelenks trägt sie vorsichtshalber einen leichten
Schienenschuh. — Der Redressionsapparat, der nur für solche alte und schwere
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Referate.
Fälle bestimmt ist, besteht aus einer langen Eisenstange; an dem einen Ende
befindet sich ein querer Handgriff, an dem andern Ende ist ein Drehhaken,
bestimmt den Astragalus zu umgreifen, und eine Platte für die Befestigung
des Vorderfusses angebracht (cf. die Abbildungen). Tausch-München.
Ludwig Frankel, lieber die Behandlung der Ankylosen des Ellenbogen¬
gelenks (Inaug.-Dissert. Berlin 1892).
Fränkel berichtet Über ein von Julius Wolffin vier Fällen geübtes
Verfahren der Behandlung der Ellenbogengelenksankylosen, das diesem zweimal
ausgezeichnete Resultate ergab, während in den beiden andern Fällen aus
äusseren Gründen der Erfolg ausblieb. Es handelt sich im Wesentlichen um
eine Durchschneidung aller hindernden Stränge in offener Wunde; an dem
narkotisirten Patienten wird zunächst ein nach den Verhältnissen des einzelnen
Falles modificirter im Allgemeinen aber längsgerichteter, wie zur Resection
geeigneter Schnitt durch die Haut gemacht. Sodann wird der Vorderarm
gegen den Oberarm in das Maximum derjenigen Excursion, welche am meisten
gehindert ist, also fast immer in das Maximum der Flexion gestellt und nun
systematisch die Durchtrennung jedes einzelnen sich anspannenden Stranges
ausgeführt, indem man dabei schichtweise in die Tiefe vordringt von dem sub-
cutanen und fascialen Gewebe bis zu der (gegebenen Falls) verkürzten und
geschrumpften Gelenkkapsel mit ihren Verstärkungsbändem, ja selbst, wenn es
sein muss über diese hinaus bis in die Gelenkhöhle, so dass auch eventuell
synoviale oder sonstige Knochenbrücken unter dem Messer fallen. Ist dies ge¬
schehen, und ergibt die nunmehr vorgenommene passive Bewegung des Gelenks
vollkommen freie Beweglichkeit, so wird die Hautwunde durch die Naht ge¬
schlossen, und nachdem sie verheilt, was bei aseptischem Verlauf etwa am
10. Tage eintritt, eine energische Nachbehandlung bestehend in Massage,
activen und passiven Bewegungen, verbunden mit Faradisation der Muskeln ein¬
geleitet, wenn nicht -wie in dem ersten von Fränkel mitgetheilten Fall schon
jetzt die Function des Gelenks eine passiv und activ vollkommen normale ist.
In Bezug auf die einzelnen Krankengeschichten muss auf das Original verwiesen
werden. Joachimsthal-Berlin.
Carl Lauenstein, Bemerkungen zu der Beurtheilung und Behandlung von
Verletzungsfolgen vom Gesichtspunkte der Unfallversicherung, sowie zum
Capitel der Simulation (Deutsche medicinische Wochenschrift 1892, Nr. 15
S. 323).
Unter Hinweis auf geeignete Fälle erwägt Lauenstein die Nachtheile,
die bei der Beurtheilung resp. Behandlung von Verletzungsfolgen durch den
liäufigen Wechsel der begutachtenden resp. behandelnden Aerzte entsteht, und
weist auf die Vortheile hin, welche die neuerdings in Anregung gebrachten
sogenannten „Unfallkrankenhäuser“ bieten werden, in denen der Verletzte von
der ersten Untersuchung und Behandlung an stets unter einheitlicher Beur¬
theilung bis zur definitiven Beendigung des Heilverfahrens steht. Besonders
lehrreich in dieser Beziehung ist ein von Lauenstein ausführlich besprochener
Fall, einen 39jährigeii Aibeiter betreffend, der im Seemannskrankenhaus wegen
Verletzungen, die ihm durch einen Betriebsunfall zugefügt worden waren, in
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Referate.
199
Behandlung stand. Neben einer Reihe von Quetschungen an Rumpf und Extre¬
mitäten fand .sich eine schwere complicirte Verrenkung des Ellenbogengelenks.
Aus.ser weitgehenden Weichtheilzerreissungen (Zerreissung der Kapsel- und Band¬
apparate) bestand eine Schriigfractur des Condylus intenius humeri. Die Gelenk-
enden waren an einander verschoben, und ihre Verbindung derartig gelockert,
dass, um der Bildung eines Schlottergelenks voraubeugen, das Radiusköpfchen
durch eine Drahtnaht an den Proc. cubitalis befestigt wurde, welche reactions-
lo8 einheiltc, so dass bei der Entlas.siing aus dem Hospitale, welche auf den
Wunsch des Verletzten vor völlig beendeter Heilung der Weichtheilverletzungen
erfolgte, der Vorderarm rechtwinklig in dem gute Festigkeit zeigenden Kllen-
bogengelenk stand. Der Verletzte, welcher zunächst die Vollrente bezog, wurde
nun nacheinander von 4 Aerzten behandelt und begutachtet, und sein Arm
in durchaus unangebrachter Weise einer consequent fortgesetzten Behandlung
durch Gymnastik unterworfen, die der durch die Drahtnaht erreichten Festig¬
keit des Ellenbogengelenks direct entgegengearbeitete und statt Nutzen nur
Schaden anrichtete, indem sie ein Wackelgelenk hervorrief, das den Arm weniger
brauchbar erscheinen lie.ss als die erstrebte feste unbewegliche V^erbindung der
Knochen des Ellenbogen. Die Erwerbsfähigkeit des Kranken, der neben .seinem
kraft- und machtlosen Arm noch einen Hernie bei dem Unfall acquirirt batte,
wurde schliesslich noch auf 607« abgeschätzt, trotzdem er so gut wie völlig un¬
fähig zu der körperlichen, angestrengten Arbeit war, tlurch die er früher sein
Brot verdiente.
Lauenstein bespricht bei dieser Gelegenheit auch seinen Standpunkt
in der Frage der Radicaloperation der durch Betriebsunfall herbeigeführten
Brüche. Trotz der gro.s.sen Sicherheit, die die Massregeln der modernen Asep.sis
und Antisepsis bieten, isL da selbst die allergünstigsten Statistiken der neuesten
Zeit über die Radicaloperationen noch immer 1—87« Todesfälle aufweisen,
diese Operation nicht für ein absolut gefahrloser Kingrift zu erklären, und da
überdies sich in 15—20, ja selbst 25 7« Fälle Recidive einstellen, so kann
e.s sich um die Operation solcher Hernien nur handeln, wenn sie die Träger
derselben, nachdem man sie mit den Au.^^sichten dieser Operation vertraut ge¬
macht. ausdrücklich wünschen.
Was die Simulation anbetritft, so empfiehlt Lauenstein geeigneten
Falls die Benützung der Chloroformnarkose und besonders des Excitations-
stadiums derselben, da gerade derjenige Zustand, in dem das Bewusstsein des
Chloroformirten bereits getrübt ist, wo aber die Sensibilität noch besteht, und
die motorischen Organe noch innervirt werden, uns die Möglichkeit gibt, Reflex¬
bewegungen herbeizuführen und Glieder auf ihre active und willkürliche Beweg¬
lichkeit zu prüfen. Joachiiiisthal-Berlin.
Soharffs Schreibschule (Hiiwald'sche Buchhandlung, 0. Hollesen-Flensburg).
Bei der ungemein grossen praktischen Bedeutung der Steilschrift für dit;
Prophylaxe der Wirbelsäulenverkrümmungen möchten wir den Aerzten dringend
empfehlen, das Ihrige für die Verbreitung der Steilschrift zu thun. Da es
nun ganz ausserordentlich viel darauf ankommt, die Steilschrift wirklich ordent¬
lich zu lehren, so möchten wir die Collegen bitten als sehr praktisches Hülfs-
mittel hierzu den Lehrern und Schülern die Scharffsche Schreibschule zu
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Referate.
2<H)
empfehlen. Dieselbe besteht aus methodisch geordneten Heften, welche die
senkrechte Schreibschrift sicher und schnell erlernen lassen. Die Regeln, welche
die schreibenden Kinder bei Ausübung der Schreibschrift befolgen sollen, sind
nach Schubert-Nürnberg folgende:
1. Die Mitte der Zeile liegt genau vor der Körpermitte, die Zeile
selbst ist gleichlaufend mit dem Pultrand.
2. Das Abschreiben aus nebenliegendem Heft muss unterbleiben.
8. Beide Unterarme ruhen zu */3 auf dem Pult, in gleicher Richtunjj;
gegen die Mitte der Zeile, so dass beide Hände gleichweit vom
Körper entfernt sind. Die Ellenbogen stehen beiderseits etwa hand¬
breit vom Körper ab.
4. Die hohle Hand ist nach links gerichtet. Die 8 Schreibtinger sind
leicht gebeugt (nicht geknickt). Die Federspitze muss 3 cm über
die Spitze des Zeigefingers vorragen, das obere Griffelende ist gegen
den Ellenbogen gerichtet. Die Hand stützt sich auf die Kuppe des
kleinen Fingers.
5. Die Grundstriche entstehen durch leichte Beugung der 3 Schreib¬
finger, so dass die Federspitze gegen die Mitte der Brn^t bewegt
wird. Durch starke Beugung der b'inger entstehen Lnksschiefe
Gimndstriche.
b. Im Verlauf der Zeile ist der Arm wiederholt nach rechts zu
rücken. Nach 2 — 3 Zeilen muss das Heft nach oben geschoben
werden.
7, Bei Bänken mit Minusdistance ist Rücklehnung beim Schreiben zu
fordern.
8. Die Verbindungslinie sowohl der Schultern als auch der Augen
muss während des Schreibens genau wagerecht gerichtet bleiben,
der Oberkörper darf sich nicht vornüber beugen, die Brust nicht
an den Pultrand gestützt werden. Der Kopf sei leicht gebeugt,
der Abstand der Augen von der Schrift betrage 30 — 35 cm. Die
Beine dürfen nicht über einander geschlagen werden, die Füsse
ruhen auf dem hierfür bestimmten Fus.sbrett.
H 0 f f a -W ürzburg.
F. Schenk, „Simplex“, Neuer Schreibtisch für Schule und Haus (Biel, Albert
Schule).
Wir möchten die von Schenk construirte Schulbank den Collegen bestens
empfehlen. Für Schrägschrift schreibende Kinder ist sie wohl die zweckmässigste
Bank, die wir zur Zeit besitzen. Die Preise der Schultische variiren zwischen
40-100 Fr. Ho ff a-Würzburg.
H. Wind 1er, Preisverzeichniss der Fabrik chirurgischer Instrumente und
Bandagen. 1^92.
Der neue Windler'.sche Catalog zeugt von dem Bestreben des bekannten
Bandagisten den modernen Anforderungen bei der Construction orthopädischer
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Referate.
201
Apparate gerecht zu werden. Nur mit dem Anfertigen orthopädischer Corsette
nach einfacher Maassangabe können wir uns nicht einverstanden erklären.
H 0 f f a - W ürzbu rg.
Fröhlich, üeber künstliche Gliedmassen und orthopädische Apparate aus
Celluloid und Aluminium. Therapeutische Monatshefte 1892 (März S. 125).
Das von Fröhlich beschriebene, von dem Fabrikanten Franz Bingler
in Ludwigshafen a. Rh. praktisch geübte Verfahren zur Herstellung künstlicher
Gliedmassen und Apparate gestaltet sich folgendermaassen:
Das genau abgenommene Gyps- oder Holzmodell wird von einer Spindel¬
vorrichtung aufgenommen, die sich über kochendem Wasser befindet; an einer
entsprechenden Nahtstelle wird alsdann eine abgepasste Celluloidplatte ange¬
bracht. Durch Umdrehen der Spindelkurbel kommt nun das Modell mit der
Platte in das siedende Wasser, wobei das erweichte Material mit Gurt und Zange
unter sorgfältiger Beobachtung der Erhöhungen und Vertiefungen an das Modell
genau adaptirt wird. Nach festgestellter Form wird zum Schutz gegen Feuers¬
gefahr und Erhaltung des Gestells eigens präparirte Porzellanglasur dreimal in
30—36 Stunden auf beide Flächen des Celluloids aufgestrichen. Der nothwendige
Beschlag und die Chamiere werden aus Aluminium gefertigt, so dass sich die
Apparate durch eine besonders grosse Leichtigkeit auszeichnen; eine vollständige
untere Extremität für eine Person mit stärkstem Gewicht wiegt z. B. —2 kg,
ein Corsett gegen Rückgratsverkrümmungen je nach Alter und Körperform des
Patienten 250—700 gr. Auch können einmal gebrauchte Apparate z. B. Cor-
setts bei entsprechender Abänderung des Gypsmodells durch wiederholte Mani¬
pulationen der ev. veränderten Körperform wieder angepasst werden.
Jo achi ms thal-Berlin.
Oscar de Fischer, Breve trattato del massagio e della ginnastica medica
con ispeciale riguordo alP ortopedia e ginnastica. Trieste 1890.
Fischer bespricht zunächst die Indicationen für die Massage, die nach
seinen Angaben in Italien erst relativ spät und wesentlich durch die Bemühungen
von Pagliani (1882) und Volpe (1889) Eingang gefunden hat. Auch bei
frischen Fracturen weiss Fischer über gute Resultate unter Anwendung von
Massage zu berichten. Das zweite Kapitel des Buches ist der Besprechung der
Heilgymnastik gewidmet, wobei Fischer besonders lobend der Widerstands¬
bewegungen, sowie der medico-mechanischen Institute gedenkt, ohne jedoch auch
die übrigen heilgymnastischen Hebungen und Apparate zu vernachlässigen, die
zum Theil durch Abbildungen veranschaulicht werden. Bei der Besprechung
der einzelnen orthopädischen Erkrankungen und ihrer Behandlung verweilt
Fischer besonders bei der Skoliose, bei der er die Anwendung der nach
Sayre’scher Manier hergestellten Holzmieder empfiehlt.
Joachims thal-Berlin.
Leopold Ewer, Cursus der Massage mit Einschluss der Heilgynmastik. Berlin.
Mit 101 Abb. im Texte. Berlin 1892. H. Kornfeld.
Das vorliegende Büchlein hat der Verf. seinen Schülern gewidmet. Herr
Ewer unterrichtet nämlich, wie aus seiner Vorrede erhellt, Laien beiderlei
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202
Referate.
Geschlechtes in Massage und Gymnastik und scheint an seinen Zöglingen viel
Freude zu erleben. Denn während der acht Jahre seines erzieherischen Wirkens
ist ihm, wie er schreibt, ,niemals von den vielen Aerzten, welche diese Per¬
sonen beschäftigen, die geringste Klage bekannt geworden.“
Wir treten seit Jahren in Wort und Schrift gegen die Laienmassage auf,
weil diese, nach unserer und zahlreicher CoDegen Erfahrung, viel irreparablen
Schaden für die Blanken im Gefolge hat und im besten Falle geeignet ist, die
Mechanotberapie in den Augen des Publikums zu diskreditiren. Herr Ewer
steht auf anderem Standpunkte; er schreibt sogar Bücher für diese jüngste
Classe der Kui-pfuscher und wird daher sicherlich nicht verlangen, dass an ein
solches Buch die wissenschaftlich-kritische Sonde angelegt werde. Nur sollte
er sich hüten, in dem für Laien geschriebenen Buche Worte stehen zu lassen,
welche diesen Standpunkt empfindlich zu erschüttern geeignet sind. Er schreibt
(S. 47): ,Da spricht man von Misserfolgen der Massage, vmndert sich, dass das
Pfuscherthum unter den Masseuren emporwuchert, und bedenkt nicht, dass hier,
wie in den meisten derartigen Fällen, die Aerzte selbst der überwiegendste
Theil der Schuld tritft.“ Ganz unsere Ansicht, Herr College Ewer; glauben
Sie aber nicht, dass dieses Emporwuchem des Unkrautes , Pfuscherthum“ sehr
erklärlich ist, wenn man dasselbe mit solcher Hingebung pflegt, wie Sie? Wer
Massage-Curse für Laien abhält, züchtet Kurpfuscher. Der Arzt soll und darf sich
nicht darauf beschränken, Laienmasseure zu überwachen, er muss die Massage
selbst ausüben, nachdem er sie erlernt hat, will er seinen Patienten Nutzen bringen.
Das „Werk“ theilt sich in einen populär-anatomischen und einen mechano-
therapeutisch-populären Abschnitt, über welch letzteren uns einige wenige Worte
vergönnt sein mögen. Nach cui*sorischer Mittheilung der Geschichte der Massage
und eingehender Besprechung der Technik derselben, ein Kapitel, welches durch
bessere Holzschnitte wesentlich gewonnen hätte, gelangte der Verf. zu dem
wichtigsten Theile jedes Lehrbuches der Mechanotberapie, zur „Physiologischen
Wirkung der Massage“. Wir sind weit entfernt, von jedem Autor eines Massage-
Buches zu verlangen, dass er eigene Arbeiten auf dem so lange brach gelegenen
•Felde der Physiologie der mechanischen Heilmethode aufzuweisen habe. Allein
in einem die Jahrzahl 1892 tragenden Buche sich noch immer mit den gewiss
ausgezeichneten, zum Theil sogar grundlegenden Arbeiten MosengeiPs zu
begnügen, ohne der zahlreichen, im letzten Decennium zu Tage gefÖrdei*ten
physiologischen Thatsachen auch nur mit einem Worte zu gedenken, ist selbst
für ein Werk unthunlich, welches a priori sich jedes wissenschaftlichen Werthes
entkleidet hat. Wie sollen denn die Schüler z. B. den Abschnitt „Erkrankungen
der Nerven“ verstehen, wenn im allgemeinen Theil vom Einflüsse des direct^n
Druckes auf den der Hand zugänglichen Nerv nicht die Rede ist?
Alles in Allem genommen, das Ewer’sche Buch mag seinen Schülern
eine angenehme Erinnerung an den Lehrcurs bleiben; wir perhorresciren solche
Schüler und damit solche Bücher. Bum-Wien.
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Hennann v. Meyer f.
Wir erfüllen nur eine dringende Pflicht der Dankbarkeit,
wenn wir in diesen Blättern des grossen Forschers gedenken,
dessen Arbeiten auch für die Orthopädie vielfach von grund¬
legender Bedeutung sind.
Hermann v. Meyer starb am 21. Juli *) in seiner Vater¬
stadt Frankfurt a. M.
Er gehört zu jenen reichbegabten Schülern Johannes
Müller's, welche mit hellem Blick und unermüdlicher Arbeits¬
kraft uns Deutschen eine medicinische Wissenschaft sozusagen
erst geschaffen haben. Seine wissenschaftliche Thätigkeit um¬
spannt mehr als ein halbes Jahrhundert und er konnte 1886
zum 500jährigen Jubiläum der Universität Heidelberg der Alma
Ruperto-Carolina seine Huldigung in einer Denkschrift dar¬
bringen „am Schlüsse seines hundertsten Semesters seit seinem
Abgänge von Heidelberg“.
Eine besonders hervortretende Eigenschaft v. Meyer's
war das Bestreben, die Forschungsgegenstände nicht nur für
sich allein, sondern stets in ihrem Zusammenhang mit dem
Ganzen aufzufassen. „Ich erkannte,“ sagteer*), „dass die ein¬
zelnen Doctrinen der anatomisch-physiologischen Fächer zwar
*) Geboren ist H. v. Meyer am IG. August 1815. Er 8111 ( 61*16
von 1833—36 in Heidelberg, dann ein .Jahr in Berlin, wo er 1837, am
2. December, proraovirt wurde. In Bezug auf die näheren biographischen
und literarischen Angaben sei hier auf den Nekrolog von C. Weigert,
Deutsche med. Wochenschrift Nr. 40, und von K. Barde leben, Ana¬
tomischer Anzeiger 1892, Nr. 19, verwiesen. ’
Handschriftliche Aufzeichnungen.
Zeitschrift für orthop.ädlsche Chirurgie. II. Band. 14
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204
Egbert Braatz.
anscheinend sehr verschiedetien Inhalt haben, dass sie aber
doch nur Zweige eines gemeinsamen Stammes sind, welche nur
in ihrer Vereinigung das richtige Bild des ganzen Baumes
geben, welches Bild wiederum nothwendig ist, um den einzelnen
Zweig in seiner Eigenart und in seinen Wechselbeziehungen
zu den anderen Zweigen zu verstehen.“ So hielt er es nicht
nur mit den einzelnen Wissenszweigen, sondern auch bei der
Erforschung von Einzelerscheinungen. Unter dieser höheren
Betrachtungsweise nahm selbst der scheinbar starre, unver¬
änderliche Knochen des menschlichen Skelettes Leben an und
es offenbarte sich seinem sinnenden Auge in der Spongiosa,
ein Bau von einer constructiven Feinheit und Zartheit, die uns
noch jetzt entzückt. Wie systematisch v. Meyer arbeitete und
wie wenig diese grösste seiner Entdeckungen eine zufällige war,
geht schon daraus hervor, dass sie die nähere Bezeichnung
trägt: ,Zehnter Beitrag zur Mechanik des menschlichen Knochen¬
gerüstes.“ So wurde er der Begründer der physiologischen
Methode in der Forschung und dem Lehrvortrag der Anatomie.
Es kann für die nachfolgenden Generationen nicht genug daran
erinnert werden, dass Hermann v. Meyer es war, dem wir
das Verständniss für die innere Knochenarchitectonik ver¬
danken. Schon diese einzige geistige That würde hinreichen,
ihm unsterbliches Verdienst zu sichern. Aber ein Blick auf
die lange Reihe von Arbeiten von orthopädischem Interesse
(c. 40), die uns hier zunächst angehen und welche kaum den
dritten Theil seiner so vielseitigen, rein anatomischen, histo¬
logischen und pathologisch-anatomischen Abhandlungen bilden,
zeigt uns, welche wichtigen Aufschlüsse, welche Anregungen wir
ihm verdanken. Seine Arbeiten über Beckenneigung, Mechanik
der Gelenke, Skoliose etc. sind auch für Chirurgie, Orthopädie,
Geburtshülfe von grösster Bedeutung geworden. Sind auch
nicht in allen Punkten seine Ansichten zu herrschenden ge¬
worden und ist manche der von ihm behandelten Fragen wegen
ihrer Schwierigkeit auch heute noch nicht endgültig aufgeklärt,
so ist nicht zu vergessen, dass er selbst fern war der Meinung,
als hätte er ein starr in sich abgeschlossenes, entwickelungs¬
unfähiges Lehrgebäude geschaffen: „Meine Meinung war dabei
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Hermann v. Meyer t-
205
keinesweges eine vollständig abgeschlossene Lehre zu geben,
ich wünschte nur einen vorläufigen Abschluss hinzustellen,
welcher als Grundlage für weitere Forschungen in der gleichen
Richtung dienen könne; wie ich selbst bis in die neueste Zeit
viele Ergänzungen und Verbesserungen, theils in Aufsätzen,
theils in Monographien veröffentlicht habe.“
Hermann v. Meyer hat nicht nur vom Katheder, nicht
allein in Fachjoumalen für das einmal von ihm als richtig Er¬
kannte gewirkt, er suchte auch durch populäre Aufsätze ana¬
tomischen Inhalts, über Gymnastik, über die richtige Schuh¬
form u. a. auf das Laienpublikum aufklärend und belehrend
zu wirken und ist in seinem ausdauernden Ankämpfen gegen
althergebrachte üble und verkehrte Gewohnheiten nicht ohne
Erfolg gewesen. So ist er sowohl auf rein wissenschaftlichem
Gebiet forschend vorangegangen und zugleich in praktischer
Hinsicht vielen Menschen, auch der kommenden Jahrhunderte,
zum wahren Wohlthäter geworden. Wie gern und freundlich
hat er auch Belehrung und Rath ertheilt, wenn er darum ge¬
beten wurde, wie dies der Schreiber dieser Zeilen selbst er¬
fahren hat.
Frankfurt hat uns so manchen um Wissenschaft und Kunst
hochverdienten Mann geschenkt: Auch Hermann v. Meyer
gereicht seiner Vaterstadt zum Ruhm und zur Zierde.
Möchte ihm die Nachwelt eine treue und dankbare Er¬
innerung bewahren.
Egbert Braatz.
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lieber die Behandlung von Contracturen des Ellen¬
bogengelenks mit dem „Pendelapparate“*).
Von
Dr. med. August WesthoflF,
in Münster i. Westf., ehemaliger erster Assistenzarzt der chirurgischen
Universitätsklinik in Greifswald.
Mit 3 in den Text gedruckten Abbildungen.
Die Behandlung von Gelenkcontracturen der oberen Extremität
hat eine wesentliche Förderung erfahren durch die glückliche Idee
Krukenberg’s, durch die Schwingungen eines activ in Bewegung
gesetzten Pendels die mangelnden Bewegungen passiv zu unterstützen
und ausgiebiger zu machen.
Kruken bei*g benützt einen langen unten beschwerten Hebel¬
arm als Pendel, das, mit dem peripheren Theile des zu mobilisirenden
Gelenkes fest verbunden, durch seine Schwingungsexcursionen die
Erweiterung der ungenügenden Beweglichkeitsgrenzen forcirt.
Dies Princip löst er technich in folgender Weise: Bei Con¬
tracturen der Fingergelenke verbindet er eine metallene Röhre von
Fingerform, die mit dem unten beschwerten Pendel unbeweglich
verbunden ist, durch ein über den Handrücken verlaufendes elastisches
Band mit einer das Handgelenk umfassenden Ledermanschette.
Bei Contracturen des Handgelenkes legt er an Hand und Vor¬
derarm je eine knapp anliegende Gypsmanschette, welche durch zwei
seitlich eingelegte Stahlschienen unter einander verbunden sind; die
letzteren sind mit einem Charnier in der Handgelenkgegend ver¬
sehen ; in dem äusseren dieser Charniere wird eine unten beschwerte
Stahlstange au den peripheren Schienentheil fest angeschraubt.
*) Der Apparat ist gesetzlich geschützt.
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lieber die Behandlung von Contracturen des Ellenbogengelenks etc. 207
So folgt der jedesmalige periphere Gelenktheil den Schwingungs¬
einwirkungen des Pendels, während der centrale Gelenktheil activ
ftxirt bleibt.
Die intensive Bedeutung dieses Princips des schwingenden
Hebelarms zur Beseitigung von Beweglichkeitshindemissen an Gelenken
ist klar: denn zu den activen Bewegungen, die nothwendig sind, um
das Pendel in Schwingungen zu setzen und zu erhalten, summirt
sich bei jeder Schwingung die Ausschlagskraft des Pendels, den zu
mobilisirenden Gelenktheil über die Grenze der activen Beweglichkeit
hinausdrängend. Ausser der beständigen Uebung der bewegenden
Musculatur werden contrahirte und geschrumpfte Gelenkbänder und
Kapseltheile mechanisch gedehnt, ja sogar pathologisch veränderte
knöcherne Gelenktheile allmählich in der Weise formirt, dass sie
dem auf sie einwirkenden Muskelzuge wieder folgen können.
Ich habe als Assistenzarzt der Greifswalder chirurgischen
Klinik sehr schöne Erfolge nach Anwendung des Krukenberg-
schen Apparates bei schweren Hand- und Fingergelenkcontracturen
beobachtet und war deshalb der Versuch naheliegend, auch für
EUenbogencontracturen einen ähnlichen Apparat zu construiren, der
die bisher so mühevolle und im allgemeinen so wenig erfolgreiche
Behandlung von Contracturen des Ellenbogens erleichterte und ver¬
besserte.
Kruken herg’s Princip lässt sich nicht ohne weiteres gleich
zweckmässig auf den Ellenbogen übertragen; denn die physiologischen
und physikalischen Momente bei Bewegungen der Hand- und Finger¬
gelenke sind so verschieden von denen beim Ellenbogengelenk be¬
deutungsvollen, dass bei Anwendung des schwingenden Pendels die
Berücksichtigung neuer Gesichtspunkte wesentliche Modificationen in
der Anordnung und Gestaltung eines zweckentsprechenden Apparates
bedingt.
Auf folgende Weise glaube ich nun das Princip des schwingen¬
den Pendels brauchbar auf das Ellenbogengelenk übertragen zu
haben (s. Fig. 1).
Eine innen gepolsterte Halbhohlrinne von Blech nimmt den
Unterarm auf; ein die Rinne aussen bedeckender Lederbezug, der
durch Schnürriemen oben zusammengezogen wird, ergänzt dieselbe
zu einer festanschliessenden Manschette (a). An ihrer Unterseite
trägt dieselbe in der Medianlinie verlaufend eine Stahlstange, die
nach einer leichten Bogenbildung unter dem olecranon sich um
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208
August Westhoff.
Unterarmlänge nach hinten fortsetzt; im Bereiche dieser Fortsetzung
— Leitstange — ist ein Laufgewicht (i) angebracht, welches dazu
dient, das Eigengewicht des Unterarms zu compensiren, denselben
also ohne active Muskelanstrengung des Patienten in der Schwebe
zu halten, wie einen Balken einer im Gleichgewicht befindlichen
Wage.
Fig. 1.
Von der Leitstange des Laufgewichtes gehen seitlich neben
dem Ellenbogen her ein Paar Riemen (c) zur Vorderarmmanschette,
wodurch eine bessere Fixation des Apparates um das als zu be¬
wegenden Mittelpunkt geltende Ellenbogengelenk erzielt wird.
Von der Mitte der Stahlstange (also unterhalb des Ellenbogren-
gelenks) hängt in einem Chamiergelenk eine zweite Stahlstange (rf)
von ungefähr 1 Meter Länge herab, welche unten das pendelnde
Gewicht (e) trägt; diese Pendelstange lässt sich zum Unterarm in
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lieber die Behandlung von Contracturen des Ellenbogengelenks etc.
jedem beliebigen Winkel feststellen durch Anschrauben an einen
Halbkreis (/), der unter der ersten Stahlstange befestigt, das Char-
nier der Pendelstange in weiterem Abstande umkreist. Das Pendel¬
gewicht ist an seiner Stange verschiebbar, wodurch eine zweckent¬
sprechende Regulirung seiner Ausschlagsintensität ermöglicht wird.
Es ist leicht ersichtlich, dass die Wirkung des schwingenden
Pendels in dieser Anordnung in vollem Masse auf das Ellenbogen¬
gelenk zur Geltung kommt; die activen Bewegungen, wodurch das
Pendel in Schwingung versetzt und erhalten wird, werden constant
und je nach der Energie der Patienten effectvoll unterstützt und
forcirt im Sinne der Beugung und Streckung durch die Ausschlag¬
kraft des schwingenden Pendels.
Um so efifectvoller erachte ich diese Wirkungsweise des Pendels,
als es vermöge der Anordnung des Compensationsgewichtes auf den
seiner Eigenschwere entlasteten Unterarm wirken kann. Die
bekannte Thatsache, dass die active und passive Beweglichkeit bei
bestehender Contractur eines Gelenks im Bade ausgiebiger wird, ist
wohl zum grössten Theil durch den Fortfall der eigenen Schwere
der zu bewegenden Gliedmassen zu erklären. Unter ähnliche Be¬
dingungen stellt der Apparat das Ellenbogengelenk, wo das in ent¬
sprechender Entfernung vom Ellenbogen fixirte Laufgewicht der
Schwere des Unterarms sowie der Belastung durch den Apparat
selbst entgegen wirkt, so dass der Unterarm ohne active Muskel-
nnstrengung gleichsam in der Schwebe ruht.
Von der intensiven Bedeutung dieser Aequilibrirung des Unter¬
armes kann man sich leicht überzeugen, wenn man den Apparat am
eigenen (gesunden) Arm zunächst ohne Pendelgewicht (e) und ohne
Laufgewicht (6) anbringen lässt. Will man den so belasteten Unter¬
arm in der zum Oberarm rechtwinkligen (Mittel-)Stellung erhalten,
so ist eine ziemliche active Muskelthätigkeit erforderlich; wird nun
■das Laufgewicht in entsprechender Entfernung angebracht, so mangelt
jedes Gefühl der Anstrengung und der Belastung, wie wenn der
Unterarm auf einer Unterlage aufruhe, so dass man selbst nach dem
Gefühl genau die Stelle angeben kann, wo das Laufgewicht befestigt
sein muss, um seinen Zweck der Aequilibrirung des Unterarmes zu
erfüllen.
Von besonderer Wichtigkeit wird diese Aequilibrirung, wenn
mit passiven Bewegungen eines (aus irgend einem Grunde) in Con¬
tractur stehenden Gelenkes erst begonnen wird, z. B. nach frischen
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210
August Westhoff.
Resectionen oder eiiigerenktea Luxationen, wo ja die vielleicht mini¬
malen Bewegungen mit intensiven Schmerzen verbunden sind. Hier
kommt es besonders darauf an, das Gelenk unter solche Bedingungen
zu setzen, dass die zunächst leichten Pendelschwingungen möglichst
schonend einwirken. Wäre von dem Pendel auch noch die Schwere
des Unterarms zu überwinden, so gehörte zu dem gleichen Eflfect in
den Bewegungsexcursionen eine bedeutend grössere Ausschlagkraft
des Pendels; das Verfahren würde also eingreifender, roher; während
der Apparat so möglichst schonende und schmerzlose Einwirkung
der Pendelschwingungen gestattet.
Die Construction des Apparates, vor allem die Möglichkeit, die
Pendelstange durch Anschrauben an den Halbkreis in beliebigem
Winkel zum Unterarm fixiren zu können, ermöglicht seine univer¬
selle Anwendbarkeit bei allen Contracturstellungen des Ellenbogen¬
gelenkes jeglichen Winkelgrades; sowohl bei spitz- als auch stumpf¬
winkligen Contractureu gelingt es in gleicher Weise den Unterarm
unter Aufhebung seiner Schwere den Pendelschwingungen folgen zu
lassen; es ist also nicht etwa für jede Art von Contracturstellung
ein eigener Apparat erforderlich, sondern derselbe Apparat leistet
für alle Contracturstellungen denselben Eflfect, nach entsprechender
(je nach dem Winkel der Contractur verschiedener) Anordnung des
Laufgewichtes und der Pendelstange.
Um die verschiedene Anwendungsweise des Apparates genauer
zu analysiren, nehmen wir zuerst eine rechtwinklige Contractur des
Ellenbogens an von minimaler activer Beweglichkeit. Man legt
praktisch dann am besten den Apparat vorläufig ohne Lauf- und
Pendelgewicht an, indem der Unterarm in der Ledermanschette fest¬
geschnürt wird, so zwar, dass die Spitze des olecranon über dem
Aufhängepunkt der Pendelstange zu liegen kommt.
Diese Situation wird durch Befestigung der beiden von der
Leitstange aus seitlich neben dem Ellenbogen her zur Unterarm¬
manschette verlaufenden Riemen gesichert. Bei vertikal herab¬
hängendem Oberarm wird nun der durch den Apparat beschwerte-
Unterarm durch Muskelanstrengung in dem mittleren Beugungsgrade
erhalten; man fühlt es an dem gespannten M. biceps. Wird nun auf
der nach hinten vorspringenden Leitstange das Laufgewicht in ent¬
sprechender Entfernung befestigt, so ist der Unterarm entlastet; der
biceps ist erschlafft. Nun wird die Pendelstange, welche bis dahin
in ihrem Halbkreis beweglich war, vertikal herabhängend durch
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Ueber die Behandlung von Contracturen des Ellenbogengelenks etc. 211
Andrehen der Schraube fixirt, so dass sie also die Verlängerung der
Oberarmaxe und mit dem Unterarm ungefähr einen rechten Winkel
bildet. Leichte active Thätigkeit der Beuger und Strecker genügt
jetzt, um bei fixirtem Oberarm das Pendel in Schwingungen zu
setzen und zu erhalten; jede
Schwingungsexcursion der letz¬
teren forcirt die Erweiterung der
Beweglichkeitsgrenzen im Sinne
der Beugung und Streckung.
Nach gleichem Principe hat
die Anlegung und Einstellung
des Apparates bei spitzwinkliger
(s. Fig. 2) oder stumpfwinkliger
Contractur (s. Fig. 3) zu ge¬
schehen, das Bild des zur Thätig¬
keit eingestellten Apparates ist
allerdings in diesen Fällen ein
anderes, da das Laufgewicht
einen entsprechenden anderen
Platz bekommt und der Unter¬
arm dann in einem grösseren
(Fig. 2) resp. kleineren (Fig. 3)
Winkel zu der principiell als
Verlängerung der Oberarmaxe
vertikal in dem Halbkreis fixir-
ten Pendelstange steht.
Ist schon eine leidliche
Excursionsweite der Beweglich¬
keit im Ellenbogengelenke er¬
zielt, so ermöglicht der Apparat
die weitere Beugung oder Streck¬
ung jede für sich isolirt zu for-
ciren, imd zwar nun nicht mehr
als Pendelwirkung allein bei feststehendem Oberarm, sondern als
Schwung- oder Schleuderwirkung unter Mitbewegung
des Oberarmes. Will man z. B. weitere Beugung besonders be-
^nstigen, so legt man den Apparat in dem activ grösstmöglichen
Beugungsgrade des Unterarms an, d. h. unter der diesem Beugungs-
^ade entsprechenden Localisation des Entspannungsgewichtes und
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212
August Westhoft'.
Fixirung der vertikal herabhängenden Pendelstange (Fig. 2). Wird
nun der Oberarm ruckartig (wie zum Schwung) nach vorn bewegt,
so schwingt das in seiner Verlängerung hängende Pendel mit; hört
nun plötzlich die Bewegung des Oberarmes nach vom auf, so wirkt
Fig. 3.
das dem Trägheitsgesetze fol¬
gende Pendel in seiner weite¬
ren Bewegung intensiv im Sinne
weiteren Beugung des Unter¬
armes.
Umgekehrt forcirt man die
Streckung durch Schwingungen
des Oberarmes nach hinten bei
in grösstmöglicher Streckstellung
eingestelltem Apparat (Fig. 3).
Die ganze mannigfache Anwen¬
dungsweise des Apparates ist
zugleich sehr geeignet auf die
Unterarmbeuger und Strecker
kräftigend einzuwirken, ein be¬
sonders bei sogen, paralytischen
Contracturen nicht zu imter-
schätzender Factor, der um so
wirksamer sein kann, als ja der
Oberarm, an dem sich das
Muskelspiel vollzieht, bei der
Construction des Apparates völlig
frei bleibt.
Die Anwendung des Appa¬
rates und seine Anpassung an
die gegebenen Verhältnisse ist
in der That eine sehr einfache
und ergibt sich meist von selbst.
Die Patienten lernen bald allein
damit umgehen, und da sie sehen, wie ohne Beschwerde fleissige Uebung
die Beweglichkeit des Gelenkes zusehends fördert, so freuen sie sich
auf so leichte Weise selbst an ihrer Wiederherstellung arbeiten zu
können; wie langwierig und für den Arzt wie Patienten oft gleich
unangenehm, und wie wenig erfolgreich ist dagegen die ausserdem
noch sehr schmerzhafte bisherige Behandlung von Ellenbogencon-
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Ueber die Behandlung von Contracturen des Ellenbogengelenks etc. 213
tracturen mit täglicher Massage und passiven Bewegungen ? Mit
Schrecken sehen die Patienten diesem täglichen Acte entgegen, und
ist derselbe je nach der Intelligenz und Willensstärke des Patienten
mit mehr oder weniger Widerstand überstanden, so wird meist das
schmerzende Glied für den Rest des Tages in ängstlicher Ruhestel¬
lung belassen oder aber selbst willige Patienten täuschen sich selbst
über den Fortschritt der Beweglichkeit bei ihren activen Uebungen,
indem sie bei Eintritt der Hemmung und des Schmerzes unwillkür¬
lich das kranke Glied ruhig stellen, dagegen durch Inanspruchnahme
des Schultergelenks eine scheinbar grössere Exkursionsweite im
Ellenbogengelenk produciren. Von kurzen Sitzungen täglich, wo¬
mit die Anwendung des Apparates begonnen wurde, brachten es die
Mehrzahl meiner Patienten dahin, 7—8 Stunden täglich damit zu
arbeiten, so dass sie sogar bei ihren Spaziergängen im Garten gleich-
mässig mit ihren Schritten unverdrossen ihre Pendel- oder Schwung¬
bewegung übten, ohne dass irgend welche Reizungszustände am
Gelenk beobachtet wurden.
Als passende Objecte für die Behandlung mit meinem Apparat
sehe ich alle Arten von Contracturen an, bei denen wenigstens ein
geringer (vielleicht nur in Narkose erkennbarer) Grad von Beweg¬
lichkeit vorhanden ist. Denn nur dann ist es möglich, dass die
Ausschlagskraft des schwingenden Pendels bewegend auf den Unter¬
arm und damit auf das Ellenbogengelenk wirkt; ist dagegen völlig
feste, knöcherne Ankylose vorhanden, so dass Unter- und Oberarm
ein starr mit einander verbundenes winkliges Hebelpaar bilden, so
überträgt sich die Kraft des Pendels durch die Schwung- oder
Schleuderwirkung wohl auf das Schultergelenk, der Ellenbogen
jedoch wird nicht beeinflusst. Für solche Fälle völlig knöcherner
Ankylose tritt der Apparat erst in sein Recht nach stattgehabter
Re.section des Gelenkes; und hat dann allerdings ein aussichtsvolles,
dankbares Gebiet seiner Wirksamkeit. Der erste Fall, den ich als
Assistenzarzt der chirurgischen Universitätsklinik zu Greifswald mit
meinem Apparate zu behandeln Gelegenheit nahm, betraf ein rese-
cirtes Gelenk; der günstige Erfolg berechtigte zu weiteren Versuchen.
Es handelte sich um einen 14jährigen Schüler Willy Hase, der am
12. März 1891 in die Klinik aufgenommen wurde mit einer compli-
cirten, septisch inficirten Luxation beider Vorderarmknochen nach
hinten-aussen, seit 8 Tagen bestehend; die Trochlea des Humerus
lag zum Theil in der äusseren Wunde frei; Umgebung phlegmonös.
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214
August Westhoff.
Kein Repositionsversuch; sofortige Drainage der Gelenkgegend und
feuchte Verbände brachten die septische Entzündung zum Rückgänge.
Dann wurden die zum Theil nekrotischen Gelenkenden der Unter¬
armknochen und der Humerus resecirt: Jodoform-Tamponade; secun-
däre Naht der Weiebtheile; glatte Wundheilung. Nachdem eine
lange Nachbehandlung (tägliche Massage, passive Bewegungen,
Bäder, Elektricität) für die Beweglichkeit wenig erfolgreich ge¬
wesen, wurde der Apparat versucht. Der intelligente und auf
seine Wiederherstellung bedachte Patient lernte sehr bald damit um¬
gehen und übte fleissig; der Fortschritt in der Beweglichkeit war
überraschend, so dass der Knabe nach 5 Wochen bei seiner Ent¬
lassung bereits bis zu einer activen Bewegungsweite von 90^ ge¬
kommen war ^).
Nach diesem günstigen Erfolge nahm ich weitere Fälle in
orthopädische Behandlung mit meinem Apparat, wie sie das Material
der Klinik gerade bot. Meist waren es Contracturen nach älteren
Verletzungen, nach immobilisirenden Verbänden u. s. w. Zwei Ap¬
parate waren seitdem in der Klinik in täglichem Gebrauch; frische
Verletzungen am Ellenbogen, besonders Luxationen, konnten bei
dem stark wechselnden Material der Klinik meist nicht bis zur
vollendeten orthopädischen Nachbehandlung in der Klinik behalten
werden; solche Fälle wurden dann der Poliklinik überwiesen, wo
ihnen Gelegenheit gegeben wurde, täglich einen Apparat zur Ver¬
fügung zu haben. Die Resultate der Behandlung sind natürlich je
nach der Art der stattgehabten Verletzung, nach der bereits be¬
stehenden Deformität des Gelenkes, nach dem Alter der Contractur,
nach der Dauer der Behandlungszeit, verschieden; jedenfalls über¬
traf der Erfolg der Behandlung mit dem Apparat in der grossen
Mehrzahl der Fälle bedeutend die bisherigen Resultate. Manche
Fälle von Contractur nach älteren Verletzungen kamen eben als das
Resultat der Behandlung mit Massage, passiven Bewegungen u. s. w.
in meine Behandlung; unter dem Einflüsse des Apparates liess sich
auch bei ihnen die Beweglichkeit noch bedeutend bessern. Es sei
mir gestattet, kurz die Fälle zu erwähnen, welche ich in der dortigen
Klinik behandelte, nur um zu zeigen, in welch weiter Ausdehnung
0 Herr Professor Helferich demonstrirte diesen Fall in der Sitzung
des Greifswalder medicinischen Vereins als ,vorzüglichen“ Erfolg der Behand¬
lung mit dem Pendelappai-ate.
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üeber die Behandlung von Contracturen des Ellenbogengelenks etc. 215
der Apparat in der Orthopädie des Ellenbogengelenks Anwendung
finden kann.
Meinem verehrten früheren Chef, Herrn Prof. Dr. Helfe rieh,
sei für die gütige Ueberweisuug des Materials auch an dieser Stelle
herzlicher Dank gewidmet.
1. Buse, Agnes, 15 Jahre, aufgenommen 2. Mai 1891.
Contractur des linken Ellenbogengelenkes nach ungünstig geheilter
T-Fractur des unteren Humerusendes; minimale Beweglichkeit; ge¬
bessert. Behandlung frühzeitig unterbrochen.
2. Becker, Carl, 16 Jahre, aufgenommen 5. Mai 1891.
Necrosii humeri sin. (unteres Ende). Contractur des Ellenbogen¬
gelenkes. Sequestrotomie; nachher orthopädische Behandlung. Ge¬
bessert.
8. Peter, Wilhelm, 36 Jahre, aufgenommen 12. Juni 1891.
Contractur des Ellenbogens nach Maschinenverletzung der linken
Hand, mit folgender schwerer Phlegmone des Armes; vielfache lange
Incisionen. Bei der Entlassung am 8. October 1892 active Beweg¬
lichkeit von 1 R.
4. Strege, Richard, 10 Jahre, aufgenommen 8. August 1891
mit Gelenkfractur am unteren Humerusende und ischämischer Läh¬
mung von Unterarm und Hand nach strangulirendem Gypsverband.
Ellenbogen activ unbeweweglich; bei der Entlassung 16. December
Beweglichkeit von 1 R.
5. Rätz, Carl, 29 Jahre, aufgenommen 9. August 1891.
Phlegmone manus et antibrachii dext. Gangraena digitorum. Aus¬
giebigste Incisionen; Amputation mehrerer Finger; nachher Trans¬
plantationen auf grössere Hautdefecte. Contractur des Ellenbogens.
Bei der Entlassung am 21. October 1891 Beweglichkeit des Ellen¬
bogens fast normal: an der Streckung fehlen bei Supination der Hand
ungefähr 10®.
6. Kahle, Alfred, 6 Jahre, aufgenommen 1. September 1891
mit Gelenkfractur am unteren Humerusende und ischämischer Läh¬
mung des Unterarmes und der Hand nach strangulirendem Gyps¬
verband; Ellenbogen unbeweglich; bei der Entlassung beweglich
um 1 R.
7. Fourestier, Ernst, 11 Jahre, aufgenommen 25. September
1891. Fractura complic. antibrachii dext. Verbandsteifigkeit des
Ellenbogens. Gebessert der Poliklinik zur weiteren orthopädischen
Behandlung überwiesen.
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216
August Westhort'.
8. Blunck, Robert, 34 Jahre, aufgenominen 24. October 1891.
Contractur des Ellenbogens nach Phlegmone manus dext. et anti-
brachii mit Nekrose der Sehnen der Muse, palmaris long. Gebessert.
9. Wende, Carl, 15 Jahre, aufgenommen 26. October 1891.
Contractur des Ellenbogens nach Fractur der Ulnae (oberes Drittel)
und Luxatio capituli radii unter. Gebessert.
10. Fahrendorf, Wilh., aufgenommen 2. November 1891.
Steifigkeit des Ellenbogens nach Luxatio antibrachii poster. com-
pleta; am Ende der Behandlung normale Beweglichkeit.
Die folgenden Fälle beweisen, dass die Anwendung meines
Apparates zur frühzeitigen orthopädischen Nachbehandlung selbst
operirter Gelenke indicirt ist; sogleich nach Heilung der äusseren
Wunde wurde der Apparat angelegt; in keinem Falle haben etwa
Reizungszustände des Gelenkes eine Unterbrechung der orthopädischen
Uebungen erfordert. Die stetigen leichten Pendelschwingungen sind
für ein frisch operirtes Gelenk schonender und schmerzloser als
manuelle passive Bewegungen, weil der Patient die Intensität der
Schwingungen selbst regulirt und der „entlastete“ Unterarm diesen
Einwirkungen leichter folgen kann.
11. Westphal, Herrn., 13 Jahre, aufgenomraen 16. Mai 1891
mit Luxatio cubiti nach hinten-aussen. Mehrere auswärts ge¬
machte Repositionsversuchc waren erfolglos; auch in der Klinik
gelang die Reposition nicht, so dass Herr Prof. Helferich sich zur
operativen Reposition entschloss. Es ergab sich hierbei eine Inter¬
position von Kapseltheilen, sowie des zerrissenen Muse, brachialis int.
Nach Hebung dieses Hindernisses gelang die Reposition leicht;
primäre Naht; guter Heilungsverlauf. Nachdem die äussere Wunde
geheilt war, wurde sogleich mit Bewegungen im Apparate begonnen,
die an Dauer und Intensität allmählich verstärkt wurden. Bei der
Entlassung am 18. Juli 1891 blieb die active Flexion nur noch um
5®, die active Extension um 15'^ hinter der normalen zurück, passiv
war beides bis zum normalen auszugleichen.
12. Henning, F erd in., 18 Jahre, Knecht, aufgenommen
18. März 1891 mit einer alten nicht reponirten Luxatio capituli
radii dext., bedeutende Behinderung der Flexion und Supination, Re-
sectio capituli radii. Nach normalem Wundverlauf Behandlung mit
dem Apparat. Bei der Entlassung am 25. April 1891 vollkom¬
mene Supination; Flexion bis 50'^.
13. Wilken, Wilhelm, 23 Jahre, Schiffszimmermann, auf-
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Ueber die Behandlung von Contracturen des Ellenbogengelenks etc. 217
genommen 26. April 1891. Durch Sturz aus der Schiffstakelage
auf Deck zog er sich folgende Verletzungen zu: Luxatio cubiti sin.
poster; Fractura capituli radii sin; Fractura radii typica lateris utri-
usque. Sofortige Reposition der Luxation; Schienen verband; normale
Heilung der Radiusbrüche; das abgebrochene Radiusköpfchen ergab
nachher ein bedeutendes Bewegungshinderniss für den Ellenbogen,
daher Resectio capituli radii. Nach Wundheilung Nachbehandlung
mit dem Apparate. Bei der Entlassung am 19. Juni 1891 Flexion
im Ellenbogen bis Extension bis 150^; Pro- und Supination um
90® möglich.
14. Krieger, Heinrich, 24 Jahre, aufgenommen 1. Juli 1891,
mit Fractura radii typ. dext.: Luxatio ulnae (unteres Ende) dorsal.
Im späteren Heilungsverlauf Resection des Capitulum radii und des
unteren Endes des ulna aus orthopädischen Gründen. Nachbehand¬
lung mit dem Apparat. Entlassung am 18. September 1891. Flexion
fast normal. Extention in Pronationsstellung bis 170®; Supination
noch behindert.
15. Artel, Johann, 36 Jahre, aufgenommen 16. Juli 1891.
Luxatio capituli radii sin. anter. inveterata; Fractura ulnae. Resec¬
tion des Radiusköpfchens; Apparatbehandlung. Bei der Entlassung
am 18. August 1891 fast keine Bewegungsstörung mehr.
16. Poraht, Adolf, 30 Jahre, aufgenommen 28. October 1891,
mit beginnender Tuberculose des Radio-humeral-Gelenks nach Trauma;
starke Schmerzhaftigkeit und Behinderung der Beweglichkeit. Bei
der vorgenommenen operativen Eröffnung des Gelenks ergab sich
eine circumscripte tuberculöse Erkrankung der Gelenkkapsel; Resec¬
tion des Capitulum radii. Exstirpation der erkrankten Kapselpartien
weit im Gesunden. Nach Wundheilung: Apparatbehandlung. Bei
der Entlassung: Streckung bis 150®, Beugung bis 60® activ ohne
Schmerzen möglich. Ellenbogengegend auf Druck nicht schmerzhaft.
Fall 16 bildet insofern eine Ausnahme, als ich im allgemeinen
frische entzündliche Contracturen des Gelenks natürlich nicht mit
Bewegungsübungen, also auch nicht mit dem Apparate behandelt
wissen will; hier ist neben localer Behandlung Ruhe des Gelenks
angebracht, bis das entzündliche Stadium völlig abgelaufen ist: für
die dann zurückbleibenden Bewegungsstörungen tritt allerdings der
Apparat in seine Kraft. In unserem letzten Falle konnten wir mit
Grund annehmen, den circumscripten Krankheitsherd total entfernt
zu haben. Der gute Wundverlauf, die völlige Schmerzlosigkeit auf
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218 August WesthofF. Ueber die ßehandluog von Contracturen etc.
Druck rechtfertigte den frühzeitigen Versuch die Beweglichkeit des
Gelenks zu fördern.
Ein weiterer Fall befindet sich gegenwärtig in meiner Behand¬
lung. Ein achtjähriger Knabe fiel vor sieben Wochen vom Tisch;
starke Schmerzhaftigkeit, Schwellung des Ellenbogengelenks. Therapie:
Lagerung des Armes in Mitella; Einreibung der Ellenbogengegend.
Als ich die Behandlung vor drei Wochen übernahm, war das Status
folgender: Der linke Ellenbogen steht in Beugung von c. 135®;
Unterarm in Mitte zwischen Pronation und Supination; Beweglich¬
keit des Ellenbogengelenks activ = 0®, passiv unter Schmerzen nur
5® möglich. Pronation und Supination passiv in halber Ausdehnung
möglich. Die Gegend der Epicondylus ext. humeri fühlt sich knöchern
verdickt an und ist auf Druck sowohl von aussen als auch von der
Beugeseite her schmerzhaft; Capitulum radii normal und nicht
schmerzhaft. Es handelte sich um einen Epicondylenbruch, der unter
ungünstiger Verlagerung des Bruchstückes nach vorn consolidirt war.
Trotz der Schmerzhaftigkeit des Gelenks bei passiven Bewegungen
wurde der Apparat gut ertragen; die active Beweglichkeit hat bis
jetzt um 35® zugeiiommen.
Ich hoffe, dass mein Pendelapparat eine nützliche Bereicherung
der bisher noch recht mangelhaften Therapie von Ellenbogensteifig¬
keiten bilden wird, nicht allein für Kliniken und orthopädische In¬
stitute, sondern auch für den praktischen Arzt, der nicht eben auf
dem resignirten Standpunkte steht, dass nach den erheblicheren Ver¬
letzungen der Ellenbogengegend ein „steifer Arm“ doch zurückzu¬
bleiben pflegt.
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XII.
Das Grewicht des Körpers in seiner Beziehung zur
Pathologie und Therapie des Klnmpfusses.
<Telesen vor »The American Orthopaedic Association‘^. New York,
September 21. 1892.
Von ,
A. B. Judsoii, M. D.
Orthopaedic Surgeon to tlie Out-Patient Department of the New York
Hospital.
Mit 20 in den Text gedruckten Abbildungen.
Meine Herren! Ich möchte Ihnen einige Gedanken in Bezug
auf die Behandlung des Talipes equino-varus vortragen.
Um mit dem angeborenen Klumpfuss anzufangen, müssen wir
uns vergegenwärtigen, dass ein grosser Unterschied zwischen einem
liegenden und einem gehenden Kinde besteht. So lange das Kind
noch getragen wird, fallen die Complicationen, die durch das Ge¬
wicht des auf den verunstalteten Fuss fallenden Körpers veranlasst
werden, fort. Diese ersten zwölf Monate sind für uns die wich¬
tigste Periode, weil während dieser Zeit die Einwirkung auf den
Fuss eine derartige sein muss, dass, wenn das Kind zu gehen anfängt,
schon eine einfache Schiene mit massigem Drucke genügt, um das
Körpergewicht aus einer verunstaltenden in eine corrigirende Kraft
umzuwandeln. Während dieser Monate der Ruhe, wo das Körper¬
gewicht noch nicht in Betracht kommt, die Gewebe weich und nach¬
giebig sind und der Fuss fast um das Doppelte wächst, können wir
mit Bestimmtheit einen Erfolg unserer Behandlung erwarten, voraus-
9 Ins Deutsche übersetzt von Dr. A. Lilienfeld, chirurgischer Assi¬
stenzarzt am Elisabeth-Krankenhaus in Berlin.
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. II. Band. 15
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220
A. B. Judson.
gesetzt, dass wir genügende Zeit und genaue Befolgung von Einzel¬
heiten der Sache widmen.
Der Apparat, welchen ich zur Correction, bevor das Kind zu
gehen anfängt, anwende, ist eine einfache Haltschiene, die wie ein
Hebel wirkt mit dem einen Druckpunkte an der Aussenseite des
Fusses und Knöchels bei A (Fig. 1—4 incl.) und den beiden andern
Druckpunkten an der Innenseite des Unterschenkels bei B und am
inneren Rande des Fusses bei C, Ich möchte betonen, dass wir es
hier mit einem Hebel zu thun haben, weil wir im Bewusstsein der
Anwendung eines Hebels mit seinen gegebenen drei Stützpunkten
den Apparat wirksamer gestalten können, als wenn wir ihn im All¬
gemeinen nur zu dem Zwecke einer Verbesserung der Gestalt des
Fusses angewendet wissen wollen.
Ich nehme zunächst eine kleine Schiene aus Messingblech und
brauche zur Anfertigung nur einige einfache Werkzeuge. Der Vor-
Fig. 1. Fig. 2. Fig. 3. Fig. 4.
theil der eigenen Anfertigung liegt zweifellos darin, dass man
dann genau weiss, wo der Fehler liegt, wenn der Apparat nicht
ordentlich functionirt. Zwei gekrümmte Platten B und C (Fig. B
und 4) werden an eine Schiene D genietet und dadurch die zwei
Punkte des Gegendruckes geschaffen. Der Druckpunkt selbst wird
durch eine dritte Platte A hergestellt, welche an der Aussenseite dea
Fusses und Knöchels angebracht und hier befestigt wird durch einen
Heftpflasterstreifen, der das Glied und die Schiene, welche die bei¬
den Platten B und C verbindet, umfasst. Die Platten werden mit
Flanell gepolstert, der leicht mit Nadel und Faden erneuert werden
kann. Diese Schienen sind so billig und leicht angefertigt, dass es
eine Kleinigkeit ist, neue und grössere herzustellen, indem man
schwereres Metall für die Schiene anwendet, wenn das Kind älter
wird. Im Allgemeinen werden drei verschiedene Grössen genügen.
Der Rand der Scheiben muss etwas umgebogen werden, um
dem dünnen Messing mehr Festigkeit zu verleihen und die Haut vor
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Das Gewicht des Körpers in seiner Beziehung zur Pathologie etc. 221
der sonst scharfen Kante zu schützen. Eventuell würden auch Platten
aus Blech, leichte Eisen- oder Stahlschienen dieselben Dienste leisten.
Die Schiene wird mit drei Heftpflasterstreifen angelegt. Der
obere und untere Streifen F und G (Fig. 4) dienen nur der Befestigung
des Apparats amFusse und Unterschenkel, während der mittlere Streifen
E durch straffes Anziehen über der Platte, indem man von Zeit zu
Zeit die Schiene gerade richtet, die Deformität allmählich und ohne
Gew'altanwendung ausgleicht. Bei jeder Wiederanlegung wird die
Schiene ein klein wenig gerader als der Fuss selbst gerichtet.
Dieses kann man leicht mit der Hand selbst ausführen, und dann
wird der mittlere Heftpflasterstreifen über dem Schild so straff an¬
gezogen, dass die Form des Fusses derjenigen der Schiene entspricht.
Nach einigen Tagen muss die Schiene noch etwas gerader gerichtet
und wieder so fest angelegt werden, dass eine merkliche Correction
stattfindet. Die Schiene wird zu Anfang der Behandlung stark ge¬
bogen (krumm) angelegt, wie in Fig. 3 und 4, und wird dann von
Zeit zu Zeit gerader gerichtet, um wenn die Deformität corrigirt
und der Patient grösser geworden ist, durch eine längere ersetzt zu
werden. Alle 1—2 Wochen soll die Schiene auf einige Tage weg¬
gelassen werden, damit während dieser Zeit die Mutter in vorge¬
schriebener Weise passive corrigirende Bewegungen mit dem Fusse
macht. Diese Bewegungen sind sehr wichtig, da Fälle bekannt sind,
in denen Pes varus und equinus lediglich durch diese Manipulationen
der Mutter geheilt worden sind.
Durch diese einfache Behandlungsweise, in systematischer Weise
ohne Hast, Gewalt oder Schmerz ausgeführt, wird man stets, abge-
gesehen von einigen Ausnahmefällen, die Varusstellung des Fusses
in eine Valgussteilung bringen können. Zugleich wird durch diese
Manipulationen, indem man der Schiene zeitweise eine antero-posteriore
Richtung gibt, die Achillessehne verlängert, bis der Fuss fast nor¬
mal oder wenigstens rechtwinklig steht. Fig. 3 und 4 zeigen un¬
gefähr die Form der Schiene zu Anfang der Behandlung, Fig. 5
und G, wenn die Varusstellung corrigirt ist, und Fig. 7 und 8, wenn
die letztere in die Valgusstellung umgewandelt ist. Diese Valgus-
stellung des Fusses wird nicht beibehalten werden, wenn man ihn
sich selbst überlässt, kann aber ohne Kraftanwendung in eine solche
zurückgebracht werden. Wenn aber in dieser corrigirten Stellung
das Kind zu laufen anfängt, muss ein anderes Stadium der Behand¬
lung eingeleitet werden.
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222
A. B. Judson.
Sobald das Kind läuft, tritt eine neue Schwierigkeit auf. Jetzt
würde das auf den zarten und missgestalteten Fuss fallende Körper¬
gewicht, ohne die nöthige Direction, unsere Bemühungen vereiteln.
Wir wollen hier kurz die mechanischen Verhältnisse des mensch¬
lichen Fusses betrachten. Zunächst fällt das Körpergewicht, welches
sich beim Yierfüssler auf die vier Extremitäten vertheilt, beim
Menschen nur auf zwei. Die geringe Grundfläche, welche die Füsse
einnehmen und ihr leichter Bau scheinen der Aufgabe nicht gewachsen
zu sein, die über ihnen hochragende Gestalt, ähnlich einer auf ihrer
Spitze ruhenden Pyramide, in genügender Weise zu unterstützen,
was noch in verstärktem Maasse gilt, w^enn das Bewegungsmoment
hinzukommt. Geradezu staunenerregend muss uns die Ausdauer des
Fusses erscheinen, wenn auf längere Zeit noch fremde Gewichte ein-
Fig. 5. Fig. 6.
wirken, wie bei den Lastträgern der wilden Völker oder beim Fuss-
ßoldaten auf dem Marsche. Es ist daher natürlich, dass die Füsse
den mannigfaltigsten Uebeln, wie eingewachsenen Nägeln, Hallux
valgus, Plattfuss u. s. w. ausgesetzt sind. Nur muss man sich
wundern, dass sie nicht schon bald, nachdem das Laufen anfängt,
untauglich werden, oder wenigstens später, wenn das Alter und die
üppige Lebensw'eise die Fettansammlung begünstigen. Der Gour-
mand Lavarin behauptete, dass unter den Schöpfungswerken der
Entwurf des Fusses augenscheinlich missglückt sei. Doch wenn
man das ungeheuere Gewicht in Betracht zieht, das vom Fusse ge¬
tragen wird, so ist es klar, dass nur der von der Natur in so voll¬
kommener Weise eingerichtete Aufbau desselben eine so vorzügliche
Function ermöglicht und dass man bei dem künstlichen Wiederauf¬
bau desto vorsichtiger sein soll.
Wir sehen also, wie schwierig die Correction des Klumpfusses
auf mechanischem Wege, während der Patient herumgeht, ist, doch
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Das Gewicht des Körpers in seiner Beziehung zur Pathologie etc. 223
werden wir durch die Beobachtung ermuthigt, dass es beim Pes
varus eine wichtige Grenzlinie zwischen der Deformität und der
Norm gibt. Wird der Fuss nun in der Weise, wie wir gleich an¬
geben werden, richtig in Bezug auf diese Grenzlinie gehalten, so
wird er durch jeden Schritt in die Valgusstellung gedrängt, und das
Gewicht des Kindes unterstützt uns noch in der gegebenen Richtung,
also entgegengesetzt der Varusstelhmg. Das Kind stampft gewisser-
maassen seinen Fuss gerade. Wenn dagegen der Fuss auch nur
ganz minimal von dieser Grenzlinie nach der verkehrten Seite hin
abweicht, so wird er durch jeden Schritt wie durch einen Schlag
immer in die Varusstellung hineingetrieben.
Zur Illustration des Gesagten diene die auf dem Ulnarrande
aufliegeude Hand. Auch hierbei besteht eine bestimmte Grenzlinie
zwischen Suppination und Pronation. Wird die Hand auch nur um
ein Geringes pronirt, so wird jeder hinzutretende Druck die Pro¬
nation vermehren, welche der Valgusstellung des Fusses entspricht.
Dagegen bei der geringsten Suppination wird jeder vermehrte Druck
diese vergrössern, entsprechend der Varusstellung des Fusses.
Wenn wir diesen Gedanken bei der Anfertigung der Schiene,
die während des Gehens getragen wird, im Auge behalten, so können
wir das Gewicht des Körpers als einen unterstützenden Factor uns
zu Nutzen machen. Dieselbe muss von einem Instrumentenmacher
und zwar aus Stahl angefertigt werden. Zunächst soll sie Avie ein
Hebel wirken, jedoch nicht um die Deformität durch directe Gewalt
auszugleichen, wie in der oben beschriebenen Haltschiene, sondern
um den Fuss in der richtigen Lage zu der angegebenen Grenzlinie
fest zu halten, so dass der Fuss durch das Gewicht des Körpers
gerade gerichtet wird.
Die Schiene besteht, wie gewöhnlich, aus dem Schenkel¬
riemen II (Fig. 9 und 10), dem Fussstück I und dem Schaft J, die
fest zusammengenietet werden. Auf ein bewegliches Gelenk am
Knöchel verzichten wir, da ein solches die Hebel Wirkung beein¬
trächtigen würde und hier keinen Zweck hätte. Am besten ver¬
wendet man weichen Stahl, um leichter Veränderungen vorzunehmen
und, wenn man in der Correction vorwärts kommt, Kiemen und
Schnallen eher verschieben zu können. Die Schiene wird, wie in
Fig. 14, an der Innenseite des Beines angelegt. Der obere Theil
der Schiene verursacht einen Gegendruck an der Innenseite des
Beines, hat aber in vernachlässigten Fällen noch eine andere wich-
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224
A. B. Judson.
tige Function zu erfüllen, die darin besteht, dass ein Stahlreifen
um den hinteren Theil des Schenkels geht, an welchem zwei Schnallen
angebracht sind, die der Befestigung eines Gurtes K (Fig. 9) dienen,
welcher an der vorderen Seite des Schenkels liegt. Der Stahlstreifen
darf keinen Druck auf das Bein ausüben, da er einzig für die
Schnallen vorhanden ist. Dagegen thut uns der vordere Gurt, der
gepolstert sein muss, wichtige Dienste in den Fällen, in denen ver¬
säumt wurde, die Varusstellung, bevor das Gehen anfängt, zu corri-
giren. Derselbe überträgt einen Theil des Körpergewichts von der
vorderen Fläche der Fusssohle, wo dasselbe der Correction hinder¬
lich ist, auf den oberen Theil der vorderen Fläche des Beines, wo
es für die Behandlung unwesentlich ist. Dass der so übertragene
Gewichtsausdruck erheblich ist, wird durch die an dieser Stelle
auftretende Callus- und Schleimbeutelbildung, welche der Gurt ver¬
ursacht, bewiesen. Diese mechanische Wirkung gleicht derjenigen
der in Fig. 11 abgebildeten Schiene zur Behandlung der Lähmung
der Wadenmuskulatur mit nachfolgendem Pes calcaneus.
Der obere Theil der Schiene muss ferner auch von folgenden
Gesichtspunkten aus betrachtet werden. In vernachlässigten Fällen
werden wir die Schiene so stellen, dass sie einen Winkel von 15^
bis 20^ oder mehr mit einer zum Fussstück senkrecht gezogenen
Linie bildet wie in Fig. 9. Obgleich durch diese Stellung die Correc¬
tion des Pes equinus hinausgeschoben wird, so können wir doch hier¬
durch auf die Varusstellung einwirken, und sobald die Equinusstellung
gehoben werden soll, können wir allmählich wieder zu der senkrechten
Lage der Schiene übergehen wie in Fig. 10, oder sogar noch über
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Das Gewicht des Körpers in seiner Beziehung zur Pathologie etc. 225
^iese hinaus, so dass das Körpergewicht mehr auf den vorderen
Theil der Fusssohle fallt, und dadurch die Achillessehne gedehnt
wird. Die verticale Richtung der Schiene wie in Fig. 10 kann so¬
fort bei den Patienten angewendet werden, wo die Correction vor
dem Anfang des Gehens stattgefunden hat.
Wir wollen jetzt zu der Betrachtung des Fussstückes über¬
gehen, welches aus Stahlblech angefertigt wird.
Dasselbe hat die gewöhnliche Sohle L Fig. 13 und Seiten¬
stück M Fig. 10. Die Hülse für den Haken wird durch ein Leder¬
stück N Fig. 13 gebildet, welches den Haken nach hinten umgreift
Fig. 13. Fig. 14.
und bis zu dem Sporn 0 Fig. 13 reicht, der von dem hinteren Theil
des äusseren Randes der Sohle nach oben hin sich erstreckt. Wenn
wir wieder die oben beschriebenen vernachlässigten Fälle im Auge
behalten, wo der Apparat als Hebel zur gewaltsamen Correction der
Varusstellung wirken soll, so wird der Gegendruck am inneren
Rande des Fusses und am oberen Theil der Innenseite des Unter¬
schenkels angebracht, während der Druck selbst bewirkt wird durch
einen oder mehrere Riemen, die am Fussstück und am Schienenstück
befestigt werden. Ein Riemen ist in Fig. 13 und 14 bei P abge¬
bildet. Dieser reicht aus in den Fällen, wo die Varusstellung
schon vor dem Beginn des Laufens corrigirt worden ist. In den
Fällen, wo noch während des Gehens die Varusstellung beseitigt
werden muss, müssen zwei oder drei Riemen hinzugefügt werden
wie in Fig. 9, die theilweise um Fuss, Schenkel und Knöchel herum¬
gehen und so angebracht werden, dass sie am wirksamsten der
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22G
A. B. Judson.
Varusstellung entgegenarbeiten und den Fuss in möglichst günstiger
Stellung gegenüber dem Körpergewicht halten. Diese Theile des
Apparats können bei besonders schwierigen Fällen öfters umgestellt
werden. Als vorzügliches Hilfsmittel zur Anwendung eines continuir-
lichen Druckes kann man einen Heftpflasterstreifen Q Fig. 14 be¬
nutzen, der an ein Lederstück B befestigt wird und zum Theil den
Fuss und Knöchel umgreift, in zwei Enden sich theilend. Das Leder¬
stück wird am inneren Rande der Schiene festgeschnallt. Hierdurch
wird nicht nur der Druck gesteigert, sondern die Ferse wird auf
der Sohle des Fussstückes festgehalten und der Fuss nach aussen
rotirt, so dass bei dieser Stellung das Körpergewicht eher ein corri-
girender als verunstaltender Factor wird. Das Seitenstück am Fuss
kann auch in vorher vernachlässigten Fällen ein Oehr aus Messing¬
blech tragen, S Fig. 13 und 14, welches über das erste metatarso-
phalang. Gelenk umgebogen wird, um zu verhindern, dass der innere
Rand des Fusses über den Rand des Seitenstückes hinausschlüptt.
Das Fussstück wird mit Heftpflaster in verschiedenen Lagen belegt,
um das Rosten zu verhindern und mit einem Stück Leder, welches
an der Sohle und am Sporn durch kupferne Nieten befestigt wird
wie in Fig. 10. In der Praxis erfordern diese Einzelheiten ebenso
viel Aufmerksamkeit wie die allgemeinen Grundsätze der Behand¬
lung. Die Schiene wird über dem Strumpf angelegt, indem der
Riemen B durch ein Loch in demselben geht, und wurd durch Hose
und Schuh bedeckt.
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Das Gewicht des Körpers in seiner Beziehung zur Pathologie etc. 227
Wir gehen zu dem oberen Theil der Schiene über. Derselbe
läuft oben schwach schmäler zu und besteht aus weichem Stahl, der
in vorher vernachlässigten Fällen, wie in Fig. 12, etwas gebogen
angelegt wird, doch nicht ganz so stark wie der Fuss selbst, nach¬
dem man diesem mit der Hand die beste Stellung gegeben hat. Die
verschiedenen Riemen werden dann wie in Fig. 9 befestigt und
täglich fester angezogen, bis die Hebel Wirkung die Varusstellung
einigermassen corrigirt hat. Dabei wird die Schiene selbst allmälich
gerade gebogen bis zur vollständigen Correction des Varus. Jetzt
wird die Schiene von Zeit zu Zeit, wie in Fig. 17 nach der Valgus-
stellung hin gebogen, bis der Fuss die Stellung angenommen hat
wie in Fig. 18. Diese Manipulationen würden nicht nothwendig
sein, wenn der Varus in Valgus übergeführt worden wäre, schon
bevor das Kind zu laufen anfängt. In sehr vernachlässigten Fällen
^vird es besser sein, um den Nachtheil des Körpergewichtes aus¬
zuschalten, den Patienten liegen zu lassen, oder eine hohe Sohle
am gesunden Fuss und eine Krücke benutzen zu lassen, bis die
Varusstellung sich erheblich gebessert hat. In den Fällen, wo das
Kind schon älter ist, sollte auch auf die häusliche Unterweisung in
der Haltung des Fusses besonders auch beim Gehen Gewicht gelegt
werden.
Sobald der Fuss die Valgusstellung erlangt hat, entweder dann,
wenn das Kind zu laufen anfängt, oder in vernachlässigten Fällen
später, wird Folgendes beobachtet: Es steht jetzt der äussere Rand
des Fussstückes höher als der innere, wie in Fig. 19 und 20, und
dadurch wird derselbe Erfolg erzielt, wie wenn man am äusseren
Rande des Schuhes die Sohle erhöht. Hierdurch werden wir in
unseren Bemühungen, den Fuss möglichst günstig gegenüber dem
Körpergewicht zu stellen, erheblich unterstützt.
Die Schiene zum Gehen, wie sie oben beschrieben worden ist,
dient also hauptsächlich zur Correction der Varusstellung, die durch
die Gewohnheit auf dem äusseren Fussrande zu gehen mehr oder
weniger verschlimmert worden ist. Eigentlich sollten solche Fälle
gar nicht Vorkommen, man sieht sie aber in der That sehr häufig,
eben in den Fällen, die nicht vor dem Gehen behandelt worden
sind, wo eine Correction noch leicht vorzunehmen gewesen wäre. Wenn
die Varusstellung stets, bevor das Kind zu laufen anfängt, corrigirt
würde, dann wäre der einzige Zweck der Schiene wie in Fig. 19
und 20, den Fuss in leichter Valgussteilung zu halten, so dass das
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•228
A. B. Judson. Das Gewicht des Körpers etc.
Körpergewicht selbst während des Wachsthums des Kindes den Fuss
normal gestaltet. Nach drei- bis vierjähriger Behandlung und Er¬
neuerung der Schiene, mit dem Grösserwerden des Kindes, wird man
die nächsten zwei bis drei Jahre jede weitere Behandlung unterlassen
können. Der Patient muss jedoch von Zeit zu Zeit beobachtet
werden, und wenn der Fuss im Wachsen wieder Neigung zeigt, in
die ursprüngliche Varusstellung zurückzukehren, so muss man wieder
^ine entsprechende Schiene zum Gehen auf zwei bis drei weitere
Jahre anlegen. Ist der Fuss ausgewachsen, so wird er nach dieser
Fig. 19. Fig. 20.
Behandlung allen Anforderungen eines congenital normalen Fusses
entsprechen.
Obgleich wir in der vorangehenden Beschreibung hauptsächlich
den congenitalen Klumpfuss im Auge gehabt haben, so sind doch
die Ansichten, die wir in Bezug auf den Einfluss des Körpergewichts
geäussert haben, auch auf den paralytischen Klumpfuss anwendbar.
Hierbei ist im frühen Stadium, bevor der Fuss seine Biegsamkeit
verloren hat, eine einfache Gehschiene wie in Fig. 19 und 20 ge¬
nügend, um dem Gewicht des Körpers die nötige Richtung zu geben.
Zu einer späteren Zeit, wenn dies vernachlässigt worden ist, so dass
der Fuss die Varusstellung angenommen hat und wenig biegsam
ist, wird eine eingehendere Behandlung mit mehreren Riemen und
Heftpflasterstreifen erforderlich sein, um den Fuss so zu stellen, dass
das Gewicht des Körpers einen corrigirenden und keinen verunstal¬
tenden Einfluss ausübt.
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XIII.
Mittheilungen aus dem orthopädischen Institute von
Dt. A. Lüning und Dr. W. Schulthess, Privat-
docenten in Zürich.
VI.
Einige Bemerkungen Uber Messungsverfahren und Messapparate
für Skoliose.
Von
Dr. Wilh. Schaltliess.
In jüngster Zeit sind verschiedene neue Messungsverfahren und
Messapparate für Skoliose beschrieben worden. Müller^) construirte
einen Messapparat, Kirchhoff*) hat eine einfache Methode ange¬
geben, um die laterale Deviation und die anteroposteriore Krümmung
der Dornfortsatzlinie zu messen, Oehler^) machte Mittheilungen
über eine Verbesserung der photographischen Aufnahme.
Alle diese Neuerungen verdanken ihre Entstehung dem Be¬
streben, die bisherigen Messungsmethoden und Apparate zu verein-
faclien. Als Gründe dafür werden einerseits der hohe Preis der
Messapparate, ihre Grösse, andererseits die Messungszeit angeführt.
Bevor ich nochmals auf die Messungen mit meinem Apparate zu¬
rückkomme ^), auf welchen von den genannten Autoren ebenfalls Bezug
Medicin. Correspondenzblatt des württemb. ilrztl. Landesvereins Bd. 52
Jsr. 11, 30. April 1892. Die Therapie der Skoliose.
Diese Zeitschr. Bd. 2 Heft 1 u. 2 S. 95.
Diese Zeitschr. Bd. 2 Heft 1 u. 2 S. 169.
S. die Beschreibung des Apparates in dem Centralblatt für orthopä¬
dische Chirurgie 1885, Nr. 4.
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230
Wilh. Schulthess.
genommen wird, seien mir einige Worte über diese neueren Apparate
und Methoden gestattet.
Müller hat einen Apparat construirt, der aus einem Rahmen
besteht, der auf einem Stativ hinter dem Patienten aufgestellt wird.
In diesem Rahmen kann ein quer gestelltes Lineal auf- und abwärts
geschoben werden. Dieses wiederum trägt einen in der Richtung
verschiebbaren Reiter. Dieser Reiter ist durchbohrt und in die
in der Richtung von vorn nach hinten liegende Bohrung ist ein
Metallstäbchen eingefügt, das in derselben Richtung verschiebbar ist.
Nun sind an der senkrechten Richtung am Rahmen, in der queren
Richtung am verschiebbaren Lineal und in der Tiefenrichtung an
dem in die Bohrung des Reiters eingefügten Stäbchen Centimeter-
scalen angebracht. Auf diese Weise ist es möglich, die Lage aller
mit dem Stäbchen erreichbaren Punkte durch 3 Zahlen zu be¬
stimmen.
Der Patient wird vor dem Messrahmen vermittelst eine»?
Beckengrats fixirt, während sein Kopf in eine gewöhnliche Kopf¬
halfter gelegt wird, die über dem Patienten am Messrahmen be¬
festigt ist. Dadurch, dass nun dieser Messrahmen an seiner untern
Seite eine Art Stiel trägt, der um eine am Stativ befestigte Achse
drehbar ist, kann er den eventuellen Seitenschwankungen des
Patienten bis zu einem gewissen Grade folgen, d. h. der Patient
nimmt den Rahmen mit.
Mit dem Apparat lässt sich demnach die relative Lage ein¬
zelner Punkte im Raume, ihre Höhe, seitliche Verschiebung und
Tiefe (in anteroposteriorer Richtung) bestimmen und es ist durch
Aufnahme vieler Punkte möglich, sich ein Bild der Verkrümmung
zu construiren, selbstverständlich wird aber die Herstellung eines
brauchbaren Bildes die Aufnahme relativ vieler Punkte, somit eine
relativ lange Zeit erfordern.
Die Einstellung des Patienten scheint uns verschiedene Fehler¬
quellen zu bergen. Er muss so eingestellt werden, dass die Mitte
des Beckens vor der Mitte des Messrahmens steht. Sein Kopf wird
in die senkrecht über ihm angebrachte Halfter gebracht. Allerdings
nimmt er den Rahmen theilweise mit, aber eine theilweise Correctur
Stellung ist für viele Fälle unvermeidlich.
Wenn wir also diese Art der Becken- und Kopffixation als eine
Fehlerquelle bezeichnen müssen, so liegt eine fernere darin, dass
keinerlei Sicherheit gegen Drehungen geboten ist, mit andern Worten»
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Einige Bemerkungen über Messungsverfahren u. Me8sapi)arate f. Skoliose. 231
man liat keine Garantie dafür, dass der Patient jedesmal gleich in
den AjDparat eingestellt wurde, so dass seine Frontal ebene, bezw. die
Frontalebene seines Beckens dem Messrahmen parallel steht. Un¬
statthaft halten wir es auch, das skoliotische Kind am Kopfe zu
fixiren. Gerade die Stellung des Kopfes ist es, welche unter Um¬
ständen auf die Haltung der ganzen Wirbelsäule einwirkt. Die
Schiefstellung des Rahmens aber mit den eventuellen Schwankungen
muss nothwendigerweise dazu führen, dass die für die Messung nöthige
Orientirung nach Horizontal- und Verticalrichtung verloren geht.
Wir können uns die Leistungen des Apparats nur als un¬
genügende vorstellen. Ausserdem sehen wir uns aber veranlasst,
darauf hinzuweisen, dass dieser Apparat in seinem Haupttheile dem
Messrahmen mit seiner Einrichtung vollständig dem unsrigen nach¬
gebildet ist. Vielmehr der Mü Herrsche Messrahmen ist der
Schulthess’sche ohne die Zeichnungsvorrichtung. Das wird jeder
Unbefangene zugeben, der entweder die obige Darstellung oder die
Mülle r'sche im Original aufmerksam mit der Beschreibung unseres
Apparats vergleicht.
Wenn es sich also um das Erfindungsrecht handeln würde,
müssten wir dieses dem Autor vollständig bestreiten und für uns in
Anspruch nehmen. Er hat nur einen Theil unseres Apparats weg¬
gelassen. Der Mülle r’sche Apparat repräsentirt das erste Entwick¬
lungsstadium des unsrigen. Wir können demnach kaum zugebeu,
dass er den Apparat als eine Modification des unsrigen beschreibt.
Von Müller selbst hinzugefügt ist nur der Kopfhalfter, die andere
weitaus unexactere Art der Beckenfixation und die Pendelung des
Messrahmens, also eine andere Fixationseinrichtung für den Patienten.
Dass der Apparat weniger leistet als der unsrige, wird vom Autor
selbst zugegeben, allerdings ist er auch viel billiger.
Die in dieser Zeitschrift von Kirchhoff beschriebene Beely-
sche Messungsmethode scheint hauptsächlich für praktische Aerzte
bestimmt. Es wird dabei aber dem Messenden bereits ein gutes
Quantum specialistischen Wissens zugemuthet. Man verlangt von
ihm, dass er schwerere von leichteren Skoliosen unterscheide. Das
Verfahren beschäftigt sich nur mit der seitlichen Deviation und der
physiologischen Krümmung, berücksichtigt aber nicht die Torsion.
Wenn Kirchhoff hervorhebt, dass bei beginnenden Skoliosen die
Torsion keine bedeutende Rolle spiele, so ist das doch nur für eine
beschränkte Anzahl von Fällen richtig, besonders nicht für alle be-
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232
Wilh. Schul tbess.
ginnenden, d. h. nur für diejenigen, bei welchen die Torsion bei
Vorwärtsbeugung vollständig verschwindet. Aber gerade für die
Untersuchung der dem praktischen Arzte zukommenden Fälle ist die
Berücksichtigung der Torsion eine unerlässliche Bedingung.
Wenn wir also noch keinen Einspruch dagegen erheben
möchten, dass es eine Anzahl von Fällen gibt, in denen das Beely-
sche Messungsverfahren genügt, wenn wir ferner noch die genannte
Messungsmethode für den ihr zugewiesenen Zweck als eine sehr
einfache, praktische und den Apparat als einen billigen
anerkennen möchten, so müssen wir auf der andern Seite bezweifeln,
ob dieses Verfahren den praktischen Aerzten zur Untersuchung Sko-
liotischer oder gar zur Controlle einer häuslichen Behandlung
empfohlen werden dürfe. Zum letzteren Zweck ist nach unserer Er¬
fahrung der beste und exacteste Apparat gerade gut genug.
Ja, die Behandlungscontrolle gehört beinahe noch mehr in die Hand
des Specialisten als die Behandlung selbst. Mindestens müsste dem
Apparate ein zweiter zur Messung der Torsion beigegeben werden.
(Vergl. noch die Beschreibung des vom Verf. construirten Nivellirtrapezes
dieser Zeitschr. Bd. I, Heft 4, welches den Grad der Torsion fest¬
zustellen gestattet.) Der praktische Arzt ist so wie so nicht sehr
geneigt, den Erörterungen des Orthopäden allzuviel Gewicht beizu¬
legen. Gibt man ihm aber einen Apparat in die Hand, der ihn
über den Zustand seines Klienten nur unvollständig belehrt, auf
dessen Resultate er jedoch fussen zu können glaubt, so
erschwert man dadurch den Standpunkt der Orthopäden gegenüber
den Aerzten.
Sehr brauchbar wäre aber der besprochene Apparat gewiss z. B.
für Massenuntersuchungen, wobei es sich um Ausschaltung der Skolio-
tischen und nur um Feststellung der Haltungstypen mit ihren
Seitendeviationen handeln würde. Von diesem Standpunkte aus
möchten wir die Methode Beely’s als eine sehr praktische be-
grüssen.
Oe hl er hat gezeigt, dass man durch Mitphotographiren eines
Fadennetzes oder durch nachträgliche Aufnahme eines Fadennetzes,
welches genau an die Stelle des vorher photographirten Patienten
gestellt würde, die Photographie mit geringen Fehlerquellen zur Mes¬
sung benutzen kann, sofern es sich um das Ablesen von Distanzen
handelt, welche in einer bestimmten verticalen Ebene oder wie das
bei der Skoliose der Fall ist, zwischen wenig von einer solchen ab-
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Einige Bemerkungen über Messungsverfahren u. Messapparate f. Skoliose. 23o
weichenden Punkten liegen. Er hat damit einen Weg betreten, der
zu ähnlichen Zwecken auch schon benutzt wurde, z. B. von Braune
und Fischer bei ihren Untersuchungen über die Bewegungen des
Kniegelenks am Lebenden. Wir suchen auch die Bedeutung der
Methode für den medicinischen Forscher hauptsächlich in der An¬
wendung in der Bewegungsphysiologie. In zweiter Linie kann die
Methode jedenfalls sehr gute Dienste leisten in der Feststellung der
Bewegungsgrenzen einzelner Gelenke, Extremitätenverkrümmung u. s. w.
Ob hingegen der Verf. gut daran gethan hat, als Beispiel für das
Verfahren die Messung der Skoliotischen zu wählen, erscheint uns
sehr fraglich. Ohne Zweifel wird man hie und da gerne auch von
der Photographie Gebrauch machen, als Hilfsmethode zur Herstcd-
lung einer Krankengeschichte, aber sie ist von durchaus untergeord¬
neter Bedeutung.
Es hat viel Arbeit und Mühe gekostet, das ärztliche Publicum
davon zu überzeugen, dass es bei der Skoliose nicht genüge, die
Seitenabweichungen zu berücksichtigen, sondern dass gerade zur
Unterscheidung einzelner Formen, für Diagnose, Prognose und Be¬
handlung das Verhalten der Torsion äusserst wichtige Anhaltspunkte
gäbe. Wenn diese Ansicht heute wohl Gemeingut der Aerzte ge¬
nannt werden darf, warum soll man bei Besprechung an und für
sich sehr hübscher und zu bestimmten Zwecken sehr brauchbarer
Methoden immer wieder eine Auffassung befürworten, welche zur
Vernachlässigung des mit schwerer Mühe Errungenen verleitet?
Zura Schlüsse möchten wir uns noch erlauben, auf die An¬
wendung unseres Messapparates zurückzukommen, der neben dem
Zander’schen an verschiedenen Orten empfohlen ist.
Oefters findet man dabei Angaben über die Messungszeit.
Wenn wir dieselbe früher als 15—20 Minuten angegeben haben,
so betraf dies die ganze Untersuchung von A—Z mit der Feststel¬
lung aller wichtigen Angaben. Die Messungszeit selbst, d. h. die
Zeit während welcher der Patient im Apparate stehen muss, die
Zeit, zur Vollendung der vollständigen Masszeichnung beträgt 3 bis
4 Minnten. In dieser Zeit sind die 3 der früheren Beschreibung
beigegebenen Projectionszeichnungen fertig.
Was nun den immer wieder angefochtenen Preis, sowohl des
Zander'schen als meines Apparats anbetrifft, so ist derselbe allerdings
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234 Willi. Scliulthess. Einige Bemerkungen über Measungsverfahren etc.
hoch, aber in Anbetracht des häufigen Gebrauchs des Apparats und
der Unentbehrlichkeit eines Messinstruments für eine Anstalt nicht
zu hoch. Gibt doch ein Zahntechniker für seinen Operationsstuhl
mehr aus, was würden seine Klienten sagen, wenn er auf einmal
einen gewöhnlichen Stuhl, — der zur Xotli für diesen Zweck
ja auch genügt — in Anwendung zöge. Ein orthopädisches In¬
stitut kann ohne ein geeignetes Messinstrument heutzutage nicht
mehr concurriren. Die Pathologie der Skoliose bedarf noch sehr
vieler exacter Beobachtungen. Die Orthopäden haben das Lernen
in dieser Richtung noch sehr nöthig und sie sollten bestrebt sein,
dass man von ihnen in der Skoliosentherapie nicht ferner sagen
kann: Sie wissen nicht, was sie thun.
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XIV.
lieber eine Modiöcation in der Anwendung der
Barwell’scben Schlinge.
Von
Dr. F, Jessen in Hamburg.
Mit 2 in den Text gedruckten Abbildungen.
Wenngleich in allen Fällen von Skoliose mit ausgesprochenem
Rippenbuckel die Anwendung der Barweirschen Schlinge mit Recht
als unzuträglich erklärt ist, da durch den von der Schlinge aus¬
geübten Druck der Thorax nur noch mehr in seinem frontalen Durch¬
messer comprimirt wird, und damit der Rippenbuckel nur verstärkt
wird, so ist doch die Lagerung auf der Barweirschen Schlinge für
alle Skoliosen ohne Complication ein nicht zu entbehrendes, vorzüg¬
lich wirkendes Unterstützungsmittel der Behandlung.
Allein ein jeder, welcher die Patienten, während dieselben in
der Schlinge liegen, genau beobachtet, wird die Bemerkung machen,
dass dieselben sehr bald eine ihnen möglichst bequeme Stellung ein¬
nehmen und mit dem Rücken sich an die diesem entsprechende Seite
der Schlinge anlehnen. Dadurch aber wird die Richtung des Druckes,
den die Schlinge ausübt, verschoben, indem er nicht mehr direct
frontal die Wirbelsäule umkrümmt, sondern mehr in einer Richtung
zur Geltung kommt, welche von hinten unten nach vorne oben geht.
Von einer ähnlichen Betrachtung ausgehend hat bereits Nö neben
angegeben, dass die Kinder in ein Säckchen aus festem Stoff gelegt
werden sollen, welches derart an der Schlinge befestigt wird, dass
die Lagerung der Patienten keine Veränderung erleiden kann. Ich
hatte bereits, ehe ich von der Nönchen'schen Vorschrift Kenntniss
bekam, eine andere Anordnung getroffen, welche jenen Uebelstand
vortrefflich vermeidet und mir den Vorzug vor der Nönchen’schen
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. II. Band. Iß
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236
F. Jessen.
Vorschrift zu haben scheint, dass der Gebrauch der Schlinge sich
durch ihre Anwendung nicht complicirter gestaltet als früher.
An dem der Schlinge als Unterlage dienenden Brette befinden
sich in der horizontalen Mittellinie zwei Einschnitte, welche bis auf
ca. 5 cm von dem Mittelpunkte des Brettes geführt sind und an
ihrer Seite eine mit Nummern versehene Scala besitzen. Diese Ein¬
schnitte dienen als Führung für je eine Eisenstange, an derem cen-
Fig. 1.
tralen Ende sich ein in rechtwinkliger Dreiecksform geschnittener
Holzklotz befindet. Die beiden Holzklötze können in der Führungs¬
spalte, je nach der Dicke des Körpers des Patienten, der Mitte ge¬
nähert oder von derselben entfernt werden und an dem richtigen
Punkte in dem Führungseinschnitt durch eine Schraube festgestellt
werden. Die Stützen der Schlinge sind in der Mitte in der Breite
der Schlinge ausgefräst, so dass die Schlinge sich nicht seitwärts ver¬
schieben kann. Sie selbst kann durch Schnallen beliebig verkürzt
oder verlängert werden.
Man braucht also nur bei der ersten Anwendung der Schlinge
je nach Lage des Falles zunächst die Schlinge anzuziehen, um das
richtige Maass der Umkrümmung zu erreichen, und dann die Holz¬
klötze soweit vorzuschieben, dass der Rumpf selbstverständlich ohne
irgend eine Compression genau in senkrechter Lage über dem Brette
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Ueber eine Modification in der Anwendung der Barweirschen Schlinge. 237
fbdrt wird, um den Apparat dauernd für den Gebrauch des betr.
Patienten fertig zu haben. Je nach Bedarf, bei event. Besserung
oder Verschlechterung, lässt sich die Stellung dann ohne Mühe
ändern.
Fig. 2.
Braucht man dieselbe Schlinge z. B. in einer Anstalt für
mehrere Patienten, so hat sich jeder derselben die Nummer der
Schlingenspannung und die Nummer der Scala an den Führungs¬
einschnitten, welche die für ihn bestimmte Stellung bewirken, zu
merken, um dann immer in genau derselben Weise gelagert zu
werden.
Der ganze Apparat kann beliebig auf jede Uebungsbank, auf
ein Sopha, oder ins Bett gestellt werden.
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XV.
Ein Fall von mangelhafter Entwickelung des grossen
Brustmnskels bei einem lljährigen Knaben.
(Mitgetheilt in der Sitzung der physisch-medicinischen Gesellschaft
zu Moskau den 11. Mai 1892.)
Von
Dr. N. Haymann,
Privatdocent, Director der orthopädischen und heilgymnastischen Anstalt
zu Moskau.
Mit 1 in den Text gedruckten Abbildung.
Der Brustkorb des Menschen entwickelt sich, wie bekannt, in
verschiedenen Richtungen. In den ersten Lebensjahren vergrössert
er sich hauptsächlich in der Sagitalrichtung, in der Altersperiode
nimmt die Entwickelung in der Frontalrichtung das üebergewicht.
Diese Verhältnisse hängen höchstwahrscheinlich von der Lage der
Verknöcherungsebene der Rippen ab. Liegt diese Verknöcherungs-
ebene mehr im frontalen Durchmesser, so wächst der Brustkorb in
der Sagitalrichtung und umgekehrt. Dieser Umstand macht es er¬
klärlich, dass, wenn Bedingungen einer ungleichzeitigen oder nicht
zeitgemässen Verschiebung des Brustkorbes eintreten, auch das
Wachsen oder die Vergrösserung des letzteren unregelmässig oder
asymmetrisch wird. Durch das genannte Verhältniss wird auch leicht
erklärlich die Entwickelung eines skoliotischen Buckels, einer kypho-
tischen und sogenannten Hühnerbrust. Die eingesunkene Brust (pec-
tus excavatura) wird durch die unregelmässige, mangelhafte Ent¬
wickelung des Brustbeins bedingt, als Folge der nicht entsprechenden
Anheftung der Rippenknorpel und unregelmässigen Wachsens der
Rippen; daher erreicht sie auch ihren höchsten Grad in der Jüng-
liugsperiode, d. h. zu einer Zeit, wo die Entwickelung in der Fron-
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Ein Fall von mangelhafter Entwickelung des grossen Brustmuskels etc. 239
talrichtung die Oberhand nimmt. Bei der Rhachitis stört schon
leicht eine unbedeutende mechanische Wirkung die Form des Brust¬
korbes, die weichen Knochen sind leichter der Veränderung zugäng¬
lich und dadurch wird die Regelmässigkeit ihres Wachsens gestört.
Nur dadurch werden jene höchst verschiedenartigen Formen der
rhachitischen Veränderungen erklärlich, welche im weiteren Verlaufe
der Entwickelung entweder sich verbessern, oder, in anderen, schein¬
bar gleichartigen Fällen, fortwährend schlimmer werden. Es wird
jetzt fast von allen Orthopäden anerkannt, dass die Veränderungen
in der Statik des Skelets mehr oder weniger auf das Wachsen der
Wirbel und des Brustbeins zurQckwirken und somit diese oder jene
Unregelmässigkeit in der Entwickelung der Brust hervorrufen. Der
Einfluss des Muskelzuges auf die Form und Regelmässigkeit in
der Entwickelung des Wirbel- und des Brustkorbes wird noch ent¬
fernt nicht allgemein anerkannt. Es gibt sogar Autoritäten, welche,
wie z. B. Hueter, denselben vollständig verneinen. Für Aerzte, die
sich praktisch mit der Entwickelung der Muskeln durch Gymnastik
beschäftigen, unterliegt es auch nicht dem kleinsten Zweifel, dass
die regelmässige Entwickelung und Stärkung der Brust und Wirbel¬
säulemuskeln einen Einfluss auch auf die regelmässige Entwicke¬
lung des Brustkorbes hat und zur Beseitigung der Seitenkrüm¬
mungen der Wirbelsäule dient. — Im gegebenen Falle, wo es sich
um eine unregelmässige Entwickelung des grossen und höchst wahr¬
scheinlich auch des kleinen Brustmuskels handelt, finden wir den,
wie ich glaube, genügenden und sichtbaren Beweis für die Richtig¬
keit der Annahme, dass der Muskelzug einen Einfluss auf die
Entwickelungsform des Brustkorbes ausübt.
N. P., Schüler der Realschule, wurde mir von einem Collegen
zugeschickt, als ein Fall einer unregelmässigen Entwickelung des
Brustkorbes, der eine orthopädische Therapie nothwendig macht.
Die Abflachung des Brustkorbes rechterseits wurde als Folge irgend
eines Brustleidens — Bronchitis, Pleuritis etc. — erklärt. Aus den
Angaben sowohl des Knaben selbst, als auch seiner Eltern konnte
man aber keine Anhaltspunkte für eine derartige Voraussetzung er¬
reichen. Obwohl der Knabe in seiner früheren Kindheit hustete, so
war der Husten doch massig und dauerte nicht lange. Weder an
Keuchhusten, noch an Seitenschmerzen war der Knabe, sowie auch
seine Geschwister, jemals krank, überstand auch überhaupt, ausser
Masern, keine mehr oder weniger ernste Krankheit. Erbliche Be-
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240
N. Haymann.
lastung ist nicht zu constatiren. Vater und Mutter yoUkommen
gesund, haben auch keine Fehler der Entwickelung.
Die oberflächliche (äussere) Betrachtung des Brustkorbes von
vom lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die der Qrösse und Form
nach verschiedenen grossen Brustmuskeln beiderseits. Links hat dieser
Fig. 1.
Muskel seine gewöhnliche Form, sein äusserer Rand reicht zum
Rumpf hemnter unter einem sehr spitzen Winkel (Fig. la). Rechts
aber erscheint der Muskel weniger breit, während seine obere
Portion sehr scharf markirt ist. Der Muskelbauch ist dicker als
normal, sein äusserer Rand reicht nach unten zum Rumpf fast unter
einem rechten Winkel herab (a). Bei der Palpation zeigt die Rippen¬
portion des Bmstmuskels linkerseits keine Abweichungen, ihre Dicke
ist normal, rechts fühlt sie sich gar nicht durch und es scheint, als
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Ein Fall von mangelhafter Entwickelung des grossen Brustmuskels etc. 241
ob die Rippen bloss von der Haut bedeckt seien, keine Verdickungen,
keine Stränge und dgl. sind vorhanden, die Brust stellt sich auch
als etwas eingesunken, mangelhaft entwickelt vor. Die Axillargruben
(Fig. 1) sind scharf umschrieben beiderseits, der Form nach aber
die eine der andern nicht ähnlich. Rechts hat sie mehr die Form eines
Dreiecks, statt, wie gewöhnlich, eines Rhombus; sie sieht mehr nach
vorne oben, und der ganze rechte Vorderarm stellt sich als wie nach
aussenhin gedreht dar. Der M. deltoideus ist rechts mehr entwickelt,
der Latissimus dorsi, wenn auch nicht stärker entwickelt, so doch
zweifellos mehr gespannt. Zwischen den Antagonisten keine Har¬
monie: im Qegentheil eine Disharmonie. Der Brustumfang bei abso¬
luter Ruhe 65 cm. Der Durchmesser von vorn nach hinten links
oben, auf der Höhe der zweiten Rippe mit abgezogenen Schulter¬
blättern — IIV*» niedriger, an der Warze 13 cm; rechts an den¬
selben Stellen oben 10^/4, unten 11^/4; dem Aussehen nach ist der
Brustkorb vom rechts wie abgeflacht, und ist diese Erscheinung in
den oberen Theilen deutlicher ausgesprochen, als in den untem.
Die rechte Hälfte erinnert an diejenige Hälfte einer skoliotischen
Brust, welche hinten dem skoliotischen Buckel entspricht. In dem
hinteren Theile gehen die Rippen von den Wirbeln vollkommen sym¬
metrisch ab, und das Rückgrat selbst stellt sich nicht gekrümmt vor.
Die respiratorischen Functionen des Brustkorbes sind normal.
Die Erweiterung und Hebung der Rippen beiderseits gleichmässig.
Die Athmungscapacität der Lungen nach dem Spirometer 2300 ccm.
Capacität höher als normal. — In den Bewegungen der Extremi¬
täten, sowohl der rechten, als der linken, ist bei der oberflächlichen
Beobachtung nichts Anormales zu bemerken. Alle Bewegungen
werden regelmässig und symmetrisch ausgeführt; der Knabe ist nicht
linkshändig. Er spielt mit gehöriger Fertigkeit den Ball, schleudert
mit Genauigkeit, leistet kräftigen Widerstand. Seine Bewegungen
sind stets zweckmässig. Er schreibt, haut, hobelt. Bei fast allen
diesen Arbeiten aber wird vom Knaben behauptet, dass der rechte
Arm öfter schwächer wird und leichter ermüdet. Bei intensiver,
nicht anhaltender Arbeit, wo nicht nur der Vorderarm allein in An¬
spruch genommen wird (hobeln), wird der rechte Arm bald müde,
so dass er sehr oft mit der linken Hand zu hobeln anfängt, — wie
er überhaupt irgend etwas mit der linken Hand lieber andrückt,
befestigt, bearbeitet. Die aufmerksame Untersuchung ergibt, dass
alle Bewegungen, welche eine Supination des Armes erfordern, nicht
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242
N. Haymann.
ganz vollständig ausgeführt werden. Das Niederlassen der Schulter
ist rechts viel schwächer. So kann er mit der linken Hand mit
einer Kraft mehr als 30 kg heben, rechts aber überwindet seine Kraft
auch keine 2 kg. Eine Last von 3 kg über eine Blockrolle mit der
rechten Hand nach innen zu drehen, — wobei auch der Vorderarm
eine Supinatio ausübt, — gelingt nur mit grosser Mühe, während
er mit der linken Hand leicht 4 kg überwindet. Ein Schlag mit
dem rechten Ellenbogengelenk bei einer Drehung der Schulter nach
innen ist kaum fühlbar, während mit der linken Hand derselbe Schlag
mit genügender Wucht geführt wird. Die Beugung des Vorderarms
bei fixirtem Schultergelenk wird normal ausgeführt mit gewöhnlicher
Productivität, während rechts dieselbe Bewegung höchst schwach
geschieht, und das Resultat nichtig ist. Bei langedauernder Be¬
wegung wird die Schulter mit grosser Mühe in der nothwendigen
Spannung erhalten. Kurz, wenn man den Knaben eine Reihe von
üebungen machen lässt, so vollführt er sie entweder gar nicht,
oder die ganze Arbeit fällt der linken Extremität zu. Die Schultern
werden nicht durch normale, sondern durch compensatorische Kräfte
in ihrer Lage erhalten. Und infolge dessen ist der M. deltoideus
rechts mehr entwickelt, und eben dadurch ist auch mehr ent¬
wickelt und stärker gespannt der rechte Latissimus dorsi. Die
Brust- und Schlüsselbeinportion des M. pector. major ist unter dem
Einflüsse der ihnen zu Theil werdenden grösseren Arbeitsleistung,
auch verdickt, der Bauch des Muskels erscheint rund, — aber
niedriger. Vollständiger Mangel der Muskelschichte. Der M. pecto-
rahs minor ist nicht durchzufühlen. — Das ist also das Bild, welches
wir bei unseren Knaben sehen. Was ist das, fragt es sich, für eine
Abnormität? Wir haben es hier zweifellos mit einem Mangel der
Rippenportion des grossen Brustmuskels und mit einer unvollstän¬
digen Entwickelung, vielleicht aber auch vollständige Abwesenheit
des kleinen Brustrauskels zu thun. Dass diese Erscheinung keine
erworbene, dafür spricht die Anamnese, namenthch die vollkommene
Abwesenheit irgend welcher Erkrankungen in der vorhergegangenen
Lebensperiode, die im Stande wären, eine partielle oder vollständige
Atrophie des genannten Muskels herbeizuführen, weder Typhus, noch
Diphtheritis, noch irgend welche Erscheinungen eines abgelaufenen
Leidens des Centralnervensystems. Sollte man endlich auch ge¬
neigt sein, zugeben zu wollen, dass in der Anamnese die möglichen
Ursachen zufälligerweise vom Patienten selbst und seiner Umgebung
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Ein Fall von mangelhafter Entwickelung des grossen Brustmuskels etc. 243
unbeachtet blieben, so stimmten auch alsdann die gegebenen Er¬
scheinungen viel zu wenig mit der gewöhnlichen Auffassung einer
Atrophie. Die mangelhafte Entwickelung der Brustwarze, die ab¬
weichende Form der Axillargrube, das Fehlen von Spuren eines
früher dagewesenen Muskels, das Fehlen von Narbengewebe resp.
Strängen u. dgl., die Thatsache, dass an der Brustwand bloss eine Haut¬
schicht fühlbar ist und zugleich die verdickte hypertrophirte Schlüssel¬
beinportion desselben Muskels und der höchst schroflFe Uebergang vom
dicken Muskelbauch zum vollständigen Mangel einer Muskelschicht, —
alles das passt nicht für die Vorstellung einer anfänglichen Muskel¬
atrophie und führt uns zu der Ueberzeugung, dass hier eine an¬
geborene Anomalie vorliegt: eine Anomalie der Entwickelung des
grossen Brustmuskels, das Fehlen seiner Rippenportion.
Muskelanomalien sind überhaupt selten beim Lebenden zu er¬
kennen. Die Anomalie ist in unserem Falle zu den seltenen Erschei¬
nungen zu zählen. Unser verehrter Vorsitzender, Professor Zernoff,
der mehr als 20 Jahre die Anatomie studirt, sah noch nie einen solchen
Fall. Die Lehrbücher der Anatomie, die ich zu Rathe zog, äussem
sich dahin, dass die Brustmuskel nicht selten in ihrer Form von der
Norm abweichen. Die meisten Abweichungen sind in der Nähe
ihrer Anheftung, wo sie mit anderen Muskeln verschmelzen. Das
Fehlen aber seiner Rippenportion hält Henle^) für eine seltenere
Anomalie im Vergleiche zum Fehlen der Clavicular- und Sternalpor¬
tion. In dem speciellen Werke von L. Testut^), welches nur die
Muskelanomalien zum Gegenstände seiner Bearbeitung hat, werden
folgende 8 Typen von Anomalien des grossen Brustmuskels be¬
schrieben: 1. seine Verschmelzung mit dem Deltoideus; 2. seine Ver¬
schmelzung mit dem Pectoralis maj. der anderen Seite; 3. seine Ver¬
bindung mit dem M. rectus abdom.; 4. seine Verbindung mit dem
M. biceps brachii; 5. die Zertheilung der Clavicular- und CostaJ-
portionen in Form besonderer Muskeln; 6. die Zertheilung des Muskels
selbst in zwei übereinander liegende Schichten; 7. Anomalie der
Anheftung und Entwickelung der Clavicularportion und 8. das Fehlen
der stemalen oder costalen Portion. Unser Fall gehört zur letzten
Categorie. Testut bringt nur 18 Fälle zusammen, die er in der
Literatur herausfinden konnte, — somit wäre unser Fall der 19., —
0 He nie, Handbuch der Muskellehre des Menschen. 2. Aufl. 1871, S. 88.
*) L. Testut, Les anomalies musculaires chez Thomme. Paris 1884. S. 33.
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244
N. Haymann.
während Fälle von Fehlen der Rippenportion nur die Zahl 5 er¬
reichen. Der Fall Piovanardi, der Fall Berger bei einem 28jäh-
rigen Manne: Fehlen der Rippen- und Brustportion mit Vergrösse-
rung der Clavicularportion, — 1 Fall, der sehr nah dem unserigen
zu stehen kommt. — Quai ns: Fehlen der Rippenportion. 2 Fälle
von Kyrtt: Fehlen der Stemalrippenportion, an der Leiche beob¬
achtet und unser Fall.
Das Wesen und die Pathogenese der Muskelanomalien be¬
sprechend, macht Testut die Bemerkung, dass jede Abweichung in
Form und Entwickelung beim Menschen sich wie bei einigen Thieren
auch normaliter vorfindet: was beim Menschen als Abweichung von
der Norm erscheint, bildet bei einigen Thieren den normalen Zu¬
stand. Testut bemüht sich dadurch, den Beweis zu liefern, dass
die Anordnung und Entwickelung der Muskelschicht in enger Ab¬
hängigkeit von den speciellen Aufgaben sich befindet, welche die
Natur diesem Muskel zur Erfüllung bestimmt hat. Durch diese Frage
angeregt, wandte ich mich an die Zoologen unserer Universität und.
dank der Freundlichkeit des hochgeehrten Professor Tichomyrow,
erhielt ich von ihm folgende, obwohl kurz gefasste, Auskunft. „Die
Homologie des Muse, pector. maj. bei den niederen Klassen der
Säugethiere wird durch zwei Umstände erschwert. 1. Zerfällt dieser
Muskel manchmal in mehrere besondere Muskeln, und sodann ist in
einigen Fällen anzunehmen: a) M. pectoralis major, b) M. pectoralis
abdominalis, c) M. pectoralis minor und d) M. pectoralis quartus.
Letzterer erscheint manchmal — selbst bei den Fledermäusen — als
blosser Unterhautsmuskel. — 2. Bildet der Musculus pectoralis major
ein Ganzes mit dem Musculus pectoralis minor. — Was die, dem
Menschen am nächsten stehenden, Affen betrifft, so ist hier Folgendes
zu bemerken. Bei den anthropomorphen Affen — Gorilla, Schim¬
panse, Orang-Utang — hat der Pectoralis major denselben Anfang
und dieselbe Anheftungsstelle, wie beim Menschen; aber beim Orang-
Utang fehlt, nach Bisch off, die Clavicularportion. Bei vielen Affeo
der alten Welt, die zum Genus macaccus und Cereophitecus gehören,
fehlt nicht nur die claviculäre, sondern auch die Rippenportion, d. h.
es fehlt der Theil des Muskels, der von den Rippen seinen Anfang
nimmt (unser Fall). Es ist nicht zu verkennen, dass, je complicirter
die Aufgabe, die der Muskel zu erfüllen hat, stets desto dauerhafter und
verschiedener auch sein anatomischer Bau sein muss. Bei den Vögeln,
welche grosse Widerstände mit den oberen Extremitäten beim Fluge
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Ein Fall von mangelhafter Entwickelung des grossen Brustmuskels etc. 245
zu überwinden haben und bei denen die Schulter bei diesen Bewegungen
verschiedene Lagen einnehmen muss, erreicht auch die Entwickelung
des Musculus pectoralis major ihren höchsten Grad. Bei anderen
Thieren hingegen, bei denen das Schultergelenk nicht sehr stark
befestigt zu sein braucht, aber eine grössere Beweglichkeit erfordert,
nämlich hinsichtlich der Raschheit und Geläufigkeit, ist der Musculus
pectoralis weniger entwickelt: so bei Pferden, Hunden.“ —
Zum Schlüsse muss ich noch bemerken, dass unser Fall noch
einmal den Beweis liefert, dass die Entwickelung und die Kraft der
Muskelschicht einen Einfluss auf die Form und Entwickelung des Brust¬
korbes ausübt, und dass die altbekannte Wahrheit, dass die Natur, im
Falle irgend eines Fehlers im Körper des Menschen durch Entwicke¬
lung anderer Theile diesen Fehler zu corrigiren bestrebt ist, durch
Theile nämlich, die verbessernd und compensirend die Function des
fehlenden resp. mangelhaft entwickelten Organs ersetzen, — dass
diese Wahrheit auch in unserem Falle ihre Bestätigung findet.
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XVI.
Die Zander’sche Behandlung der Skoliosen.
Von
Dr. F. Bähr, Karlsruhe.
Man ist heute grösstentheils von der Einseitigkeit in der Be¬
handlung der Skoliose durch orthopädische Apparate allein, Corsets,
Bandagen etc. zurückgekommen, und selbst Erfinder irgend eines
alleinseligmachenden Apparates haben sich dazu entschlossen, die
Gymnastik mit in die Therapie aufzunehmen. Mag auch noch be¬
züglich der Aetiologie, des primum agens, für das Zustandekommen
der Verkrümmung mancher Meinungsunterschied vorhanden sein, so¬
viel steht fest, dass sich die combinirte Behandlung mittelst Redressi-
rungsvorrichtung und Gymnastik als durchweg rationell erwiesen hat.
Die strengste Durchführung dieses Principes finden wir momentan
bei der Zander’schen Methode, welche in gleichem Umfange ortho¬
pädische Apparate, — abgesehen von tragbaren Stützapparaten —, und
Gymnastik verwendet. Dr. Zander steht übrigens ganz und voll
auf dem Standpunkt der Torsion und zwar mit entschiedener Be¬
rechtigung. Denn nehmen wir auch an, die neuesten Ausführungen
Nicoladonis wären unumstösslich in einzelnen Momenten, so lässt
sich die Torsion trotz aller beigebrachten Beweismittel nicht aus der
Welt schaffen. Denn wie sollten jene Missverhältnisse zwischen
biacromialem —, von dem gelegentlichen Vorhängen einer Schulter
sehe ich natürlich ab —, und bispinalem Durchmesser in Gestalt
einer Drehung des Thoraxgerüstes zum Becken zu Stande kommen,
deren Veranlassung nicht in der Lendenwirbelsäule liegt, wenn nicht
eine Torsion in den einzelnen Theilen des ganzen Gefüges möglich
wäre. Es wäre interessant, diese Verhältnisse, welche in der Ent¬
stehung einer Skoliose so mannigfache Veränderungen bieten, ein¬
mal des Genaueren zu verfolgen.
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Die Zander’sche Behandlung der Skoliosen.
247
Die Rüstkammer der Zander sehen Skoliosentherapie enthält
1. orthopädische Lagerungs(Redressirungs-)Apparate, 2. orthopä¬
dische Uebungsapparate und endlich 3. eine Reihe activer und pas¬
siver Bewegungsapparate. Den ersten Zweck erfüllen die vier K-
Apparate. Beim ersten derselben, dem Seitenhangapparat, liegt der
Patient mit der Höhe der Convexität (meist einer dorsalen Krüm¬
mung) auf einem gepolsterten Querbalken in etwas aufwärtsgekehrter
Lage, während die Hände durch Eingreifen in zwei oberhalb an¬
gebrachte Leitern den Körper festhalten und durch eine unterhalb
des Querbalkens befindliche, unter verschiedenen Winkeln einzu¬
stellende Ebene der untere Theil des Rumpfes geneigt und so gleich¬
zeitig eine Streckung der Wirbelsäule vorgenommen werden kann,
seitliche Suspension. Der zweite, der Seitendruckapparat, fast durch¬
weg bei Lumbalskohosen benützt, hat eine Kopfstütze und eine
Ebene, auf welcher der Körper von unten bis zur Höhe des Darm¬
beinkammes aufliegt. Zwischen Kopf und Darmbeinkamm befindet
sich, der Entfernung des höchsten Punktes der Lumbalskoliose von
diesem entsprechend, die Seitendruckpelotte, auf welcher der Patient
ebenfalls in etwas aufwärtsgekehrter Lage ruht, um so zu gleicher
Zeit die Torsion zu beeinflussen. Die Ebene ist gegen die Pelotte
wieder in verschiedenen Winkeln einzustellen, um auf die Stellung
des Beckens zur Lendenwirbelsäule corrigirend einzuwirken. Nach
Wegnahme der Seitendruckpelotte wird derselbe auch für Total-
skoHosen angewendet. Der Körper liegt dann mit Kopf und Becken
unterstützt auf der der Krümmung entgegengesetzten Seite, so dass
dieselbe durch die Schwere nach der Concavität zu übercorrigirt
wird. Der dritte, Brustkorbdreher genannte Apparat trägt den Pa¬
tienten auf einer leicht geneigten Ebene durch zwei Achselriemen
oder vermittelst eines Kopfhalters; ausserdem hat er eine Rücken-
und eine Brustpelotte, welche, auf die stärkste Prominenz des Rippen¬
buckels angelegt, den zu grossen Diagonaldurchmesser zu verkleinern
streben und gleichzeitig eine torquirende Wirkung auf die Wirbel¬
säule ausüben sollen. Der vierte Lagerungsapparat, der Redressi-
rungsstuhl, ist eine Combination von schiefem Sitz und Seitendruck
zur Correction einer lumbodorsalen Skoliose.
Orthopädische Uebungsapparate in engerem Sinne existiren bis
jetzt zwei: der erste, höchst sinnreich construirt, stellt eine Verbin¬
dung von schiefem Sitz und einer die Dorsalkrümraung corrigii'enden
Armbewegung dar. Der zweite dient zum Rückenstrecken in Bauch-
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248
F. Bähr.
läge oder Aufwärtsbeugen in Seitenlage, wobei der Körper vom
Darmbeinkamme abwärts auf einer gepolsterten Unterlage ruht mit
Fixation an den Füssen ^).
Neben diesen einem specielleren Zwecke dienenden Apparaten
werden aus der Reihe der anderen Zander’schen Gymnastikapparate
noch eine Anzahl corrigirender Arm-, Bein- und Rumpfbewegungen
angewendet. Die wichtigsten sind: A1 = Arm seitwärts senken,
A2 = Armheben, Schulterheben, A3 = Armsenken und -beugen
(vorwärts), A 5 = Zusammenführen der Arme (horizontal), A 6 = Seit¬
wärtsführen der Arme (horizontal), B1 = Hüftbeugen, B 2 = Hüft¬
strecken, B3b = Hüftheben, B4 = Hüftkniestrecken, C1 = in Rumpf
seitwärts führen, C2 = sitzend Rumpfaufrichten, 03 = in Rumpf
seitwärts beugen, liegend, 04 = Rumpfaufrichten, langsitzend, 05
= Rumpfaufrichten stehend, 06 = Rumpfseitwärtsbeugen sitzend,
07 = Rumpfdrehen bei fixirtem Becken, 08 = Beckendrehen bei
fixirtem Schultergürtel, 010 = Nackenspannen, Kopf nach rück- imd
seitwärts beugen, Dl = Rumpfbalanciren, E6 = Brustweitung, E7
= passive Rumpfdrehung, E8 = Beckenhebung in Seitenlage, G4
= Rumpfhackung, als Rückenklopfung, 15 = Rückenstreichung.
Das oben erwähnte Princip der Oombination von Redressirungs-
apparat und Gymnastik wird in der Weise von Zander durchgeführt,
dass jeweils der Mobilisirung der Wirbelsäule durch einen ortho¬
pädischen Lagerungsapparat eine entsprechende active oder passive
Bewegung folgt, welche die durch den Redressirungsapparat bewirkte
Oorrection durch Muskelaction aufrecht zu erhalten und anzuerziehen
versucht. Nehmen wir z. B. an, wir hätten durch den Seitenhang¬
apparat Kl eine rechtsdorsale Krümmung übercorrigirt und die Ver¬
bindungen auf der concaven Seite derselben gelockert, so werden
wir weiterhin eine Arm- oder Rumpfbewegung anordnen, z. B. A3
N4 rechts Zug, N6 links Streckhalten oder 06 nach rechts (Rumpf¬
beugen nach rechts), welche die Muskeln auf der convexen Seite in
Thätigkeit versetzt, auf der concaven dehnt. Es würde zu weit führen,
hier die Verwendung aller in Frage kommenden Apparate durchzu-
*) Zu diesen, den L-Apparaten sind neuerdings noch gekommen: L3
= Becken seitlich führen, L4 = Becken vorwärts, rückwärts führen, L5 = Lenden¬
rückenseitenbeugen (Biegung des Lenden- oder des ganzen Rückens nach der
der Krümmung entgegengesetzten Seite) imd L 6 = Rückgrat geraderichten
(Dehnung und Streckung des Rückens in sitzender Haltung, wobei mit dem Kopf
ein Hebel mit verschiebbarem Gewicht gehoben werden muss).
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Die Zander'sche Behandlung der Skoliosen.
24^
sprechen, es genüge die Bemerkung, dass der Einfluss der Muskel-
thätigkeit auf die Correction der fehlerhaften Haltung im Zand er¬
sehen System eine grosse Rolle spielt, wie in der schwedischen
Heilgymnastik überhaupt.
Bei den Uebungen werden in ausgedehnter Weise der schiefe
Sitz und die hohe Sohle angewendet. Dr. Zander hat zu diesem
Zwecke einen besonderen Untersuchungsstuhl angegeben, um das
jeweils nothwendige Maass für dieses Correctionsmittel der lumbalen
Krümmung zu bestimmen. Die Anwendung der Apparate in der
Skoliosenbehandlung geschieht im übrigen natürlich nach den von
Dr. Zander als allgemein gültig für seine Methode aufgestellten
Regeln.
Sehr wichtig für eine rationelle Zander sehe Behandlung sind
die Zander’schen Messapparate, welche alle übrigen derartigen Con-
structionen an Brauchbarkeit weitaus übertreffen. Der wichtigere
von den zweien ist der sogen. Rumpfmessapparat. Er hat eine Cen-
trirungsvorrichtung zur Fixation des Beckens, ein Kopfgestell, um
die Lage des Kopfes zu bestimmen und zu flxiren, drei Höhenskalen,^
zwei seitliche und eine hintere, mit Millimetereintheilung und die an
diesen verschiebbaren Excenterskalen, welche horizontal verlaufen
und in verschiedenen Höhen an die zu bestimmenden Punkte her-
angeführt werden können. Damit werden gemessen: die Grösse, der
Kopfstand, die Domfortsatzlinie, ihre Krümmungen in frontaler und
sagittaler Ebene, der Schulterstand, die Schulterblätter, resp. ihr
oberer xmd unterer Winkel, die Spinae ant. sup. und die Taillen¬
dreiecke. Die gefundenen Maasse werden in einer besonderen Tabelle
eingetragen und auf einem Schema wird an Händen desselben ein
anschauliches, übersichtliches Bild von der Gestaltung des Rumpfes
entworfen. Der zweite Messapparat, der Querschnittsmesser, gibt
uns in jeder beliebigen Höhe ein ganz genaues Bild von dem Um¬
fang des Thorax und dessen Abweichungen von dem normalen. Die
beiden Messbilder zusammen geben uns einen vorzüglichen Aufschluss
über den Grad der Verkrümmung, eine richtige Handhabe für die
exacte Receptirung, besonders für richtige Anwendung der ortho¬
pädischen Apparate, für die Höhe und Lage des anzuwendenden
Druckes und bei wiederholten Messungen eine Anschauung von dem
Fortschritte unserer Therapie. Es ist dies entschieden die sicherste
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250
F. Bähr. Die Zander sehe Behandlung der Skoliosen.
Methode, den jeweiligen Stand der Verkrümmung sich zu vergegen¬
wärtigen. Man hat vielfach an dem hohen Preise dieser Apparate
Anstoss genommen, indes bei der gediegenen Herstellung und vor¬
züglichen Brauchbarkeit darf dieser Umstand nicht zu schwer ins
Gewicht fallen. Wer sich eine ungefähre Vorstellung von der
Zander’schen Skoliosentherapie machen will, den muss ich auf die
mit vorzüglichen Abbildungen ausgestattete dritte Auflage seiner
Apparatbeschreibung hinweisen, besser wird ihn allerdings der ge¬
legentliche Einblick in ein medico-mechanisches Institut orientiren.
Einiges noch über die Resultate der Zander sehen Behandlung.
Dieselbe hat allenthalben gute Erfolge zu verzeichnen, doch ist dar¬
über bis heute eine ausgedehntere Publication noch nicht erschienen.
Was meine eigene Erfahrung betrifft, habe ich wohl Stillstand der
Verkrümmung, aber nie einen evidenten Rückschritt beobachten
können, so lange die Behandlung eine streng durchgeführte von
seiten des Patienten war. Ich möchte auf den letzten Punkt einen
gewissen Nachdruck legen. Während eines Jahres hatte ich zwei
Schwestern in Behandlung, die eine mit einer leichten Dorsalis sini-
stra, die andere mit einer vorgeschrittenen Lumbodorsalis, die erstere
ein muskelschwaches, in seiner Haltung sehr nachlässiges Individuum,
die zweite ein frisches, energisches Mädchen. Es gelang mir nicht,
die erstere von ihrer kleinen Krümmung zu befreien, während die
zweite unter der Behandlung recht nette Fortschritte machte. Es
ist dies auch ein trefflicher Beleg für den Zander’schen Satz:
„Wir können die Skoliotischen nicht mit Gewalt ge¬
rade machen, wir können sie nur zwingen, gerade zu
wachsen.“
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XVII.
Erwiderung der WoUTsclien Bemerkungen zu meiner
Arbeit über „die Ursachen der orthopädischen
Enochenmissbildung‘‘.
Von
Prof. Dt. J. A. Korteweg in Amsterdam.
Mit 4 in den Text gedruckten Abbildungen.
Bei dieser Erwiderung will ich mich mehr, als Wolff es
versucht hat, an die Sache halten. Seine nebensächlichen, persön¬
lichen AngriflFe zeigen doch eine Heftigkeit, welche jedenfalls nicht
in dem Ton meiner Arbeit ihre Erklärung findet. Ist die Vermuthung
richtig, dass nur die Schwäche der Transformationslehre daran
Schuld ist, dann ist gewiss eine weitere Anfechtung jener Lehre die
beste Entgegnung.
Aber voraus bedarf eine einzelne Bemerkung Wo 1 f Ts, welche
nicht persönlich war, einer kurzen Erwähnung.
W. Roux sollte bereits 1881 endgültig die Hypothese wider¬
legt haben, dass die Structurverhältnisse von dem Quantum der
zugeföhrten ErnährungsflOssigkeit abhängig seien. Diese, von Wolff
vorgebrachte, endgültige Widerlegung wird mit einem Citate
Roux begründet, worin iin Gegentheil gerade diese Abhängigkeit
zugestanden wird. Nur will Roux die Ernähioing der Theile nicht
von der Nahrungszufuhr allein abhängig wissen. Die functioneile
Hyperämie sei nur eine günstige, indess oftmals nothwendige
Vorbedingung zur functionellen Hypertrophie ^).
') Das Citat lautet wörtlich:
.Es widerspricht allen Thatsachen, wenn man eine passive Ernährung
<ler Theile allein abhängig von der Nahrungszufuhr statuiren will. Die Er-
Zeitscbrift für orthopädische Chirurgie. I[. Band.
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252
J. A. Korteweg.
In Widerspruch mit Wolff’s Behauptung wird dann auch
von den heutigen Pathologen (ebenso wie von Roux) noch immer
grossen Werth gelegt auf das Quantum der zugefllhrten Emährungs-
flUssigkeit.
So z. B liest man in Ziegler, Lehrbuch der speciellen path.
Anatomie 1887, 2. Theil S. 209:
„Die Verlängerung eines Knochens bei Anwesenheit eines Ent¬
zündungsherdes in der Diaphyse ist wahrscheinlich dahin zu erklären,
dass der Reizzustand und der damit verbundene Congestions-
zustand nicht nur eine stärkere osteoplastische Thätigkeit des Periostes
und des Markes, sondern auch eine verstärkte Knorpelwucherung in
der Knorpelfuge, unter Umständen auch in dem Gelenkknorpel und
weiterhin eine raschere und ausgiebigere endochondrale Ossification
anregt. Ist auch der benachbarte Knochen mitbetheiligt,
ohne selbst einen Entzündungsherd zu enthalten, so darf man
vielleicht annehmen, dass die veränderten Ernährungsver¬
hältnisse sich nicht nur auf den einen Knochen, sondern
auf die ganze Extremität erstrecken.“
Wenn man im 1. Theil dieses Lehrbuches (S. 131) ganz all¬
gemein erwähnt findet, dass häufig wiederkehrende Circula-
tions- und Ernährungsstörungen, die zum Theil den Entzündungs¬
processen zugezählt werden, als Urs ach e der eintretenden Hypertrophie
anzusehen sind, dann wird man mir gewiss glauben, wenn ich
versichere, dass ich gar nicht „mit dieser Anschauung eine neue
Entdeckung gemacht zu haben glaube“ (Wolff *s Bemerkungen S. 181).
Vielleicht ist in dieser Hinsicht nur zu betonen, dass die Fort¬
bewegung des Gewebeplasmas, welche durch jede Massage und jede
gehörige Knochen- und Bänderfunction sehr kräftig befördert wird,
der Ernährung der Zelle mehr nützt, als die kräftigste Blutwalluog.
Vielleicht dass gerade in der Beschleunigung der plasmatischen Cir-
culation, welche jede Muskel-, Knochen- und Bänderfunction ver¬
gesellschaftet, die wirkliche Ursache der functionellen Hypertrophie
zu suchen ist.
nilbrung findet im Gegentheil unter qualitativer und quantitativer Auswahl
seitens der ernährten Theile statt, und die Blutzufuhr wird von der Verbrauchs¬
stelle entsprechend dem Bedarf regulirt. Die functionelle Hyperämie, wo sie
stattfindet, ist keinesfalls die Ursache der functionellen Hypertrophie, sondern
sie darf nur als eine günstige, vielleicht nicht einmal immer un¬
erlässlich nothwendige Vorbedingung derselben angesehen werden.*
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Erwiderung der WolflPschen Bemerkungen zu meiner Arbeit etc. 253
Ebenso wie Wolff in dieser Angelegenheit sich nur zu sehr
übereilt hat, wurde von ihm „die Krahnzeichnung der Mathematiker,
welche uns in unerbittlichen Zahlen werthen aufklärt über die Art,
Oertlichkeit und Grösse der durch die äusseren Kräfte im Knochen
hervorgebrachten Druck-, Zug- und Schubspannungen“ ganz missver¬
standen und hat er seitdem in unerbittlicher Weise auf dieses Miss-
verständniss weiter durchgejagt.
Diese meine Behauptung näher zu
begründen, wird man mir gewiss
zugestehen, wenn man bedenkt,
dass Wolff aus dieser Krahnzeich¬
nung die Waffe geschmiedet hat,
womit er bei seinem Versuch, die
Volkmann’sche Theorie zu be¬
siegen, so schrecklich herumblitzte,
dass vielleicht Einzelne dadurch
geblendet wurden.
Wird der bei CD eingemauerte
Krahn bei AB belastet, dann wer¬
den durch diese Belastung inner¬
halb des Krahnes Spannungen ent¬
wickelt, welche in Richtung und
Grösse an der Hand der Statica
undElasticitätslehre berechnet wer¬
den können.
Ohne genauere Analyse ist es
aber schon bei einfacher Be¬
Fig. 1.
trachtung klar, dass der Krahn an der concaven Seite zusammen¬
gepresst wird, dagegen die Belastung an der anderen Seite seine
Theile zu dehnen strebt, d,tv. s.: an der concaven Seite kommen
hauptsächlich Druckspannungen, an der convexen Seite Zugspannungen
zur Entwickelung. Die mathematische Analyse lehrt, dass die Rich¬
tungen der in jedem materiellen Theilchen wirksamen maximalen Druck¬
spannung und Zugspannung durch Curven angegeben werden können
(dieCulm'ann'schenDruck-undZugcurven). InCulmann’s Krahnfigur
sind diese Curven angegeben. Die Curven der maximalen Druckspannung
nähern sich einander bei D, die der maximalen Zugspannung bei C.
Betrachtet man diese, in der Zeichnung auch dem Laien schon
verständlichen Curven etwas genauer, dann ist es klar, dass 1 qcm
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254
J. A. Korteweg.
z. B. bei H von grösseren Kräften zusamniengepresst wird, als ein
qcm bei P und dass ein qcm bei G grösserem Zug zu widerstehen
hat als ein qcm bei Q, So wird es gewiss durch blosse Betrach¬
tung auch verständlich, dass in jedem Querschnitte die Spannung
von einem Punkte zum anderen fortwährend wechselt und so z. B. die
Druckspannung bei H beträchtlich grösser ist, als die Druckspannung
in dem nahe, aber mehr innerseits gelegenen Punkte H^.
Will man den Maximaldruck (resp. Zug) in einem bestimmten
Punkte in Zahlen bezeichnen, dann berechnet man, wie viel kg per
qcm auf eine, zu der Richtung der Maximalspannung senkrecht
gestellte, kleine Fläche drücken (resp. ziehen) sollten, um die durch
diese Fläche wirksame Elasticitätskraft zu ersetzen.
So hat Culmann berechnet, dass derjenige Punkt, welcher in
dem Querschnitt CD den grössten Druck zu tragen hat, mit 163,6 kg
gedrückt wird.
Für den Querschnitt
II findet
er
diese Maximalpressung = 116,6 kg
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VIII
n
. = 3,0 .
1» »»
Punkt F
n
. = 0,0
dies alles in der Voraussetzung, dass der Krahn einem menschlichen
Femur in Form und Grösse ähnelt und die Belastung bei AB^ also
dem Acetabulum gegenüber, in gleichmässiger Vertheilung = 30 kg
angebracht ist.
Dies ist die Culmann’sche Vorstellung und Berechnung.
Wolff aber meint, dass Culmann berechnet diat: „dass der
Querschnitt I, bei CZ), mit 163,3 kg belastet ist, der Querschnitt Hl,
etwa auf mittlere Höhe des Krahnes, nur noch mit 100 kg“ etc. ^).
Wie grundfalsch diese Wolff’sche Vorstellung ist (Culmann
hat daran gar keine Schuld) ist leicht nachzuweisen, wenn man sich
denkt, dass der Krahn in CP auf einer Wage befestigt sei und ge¬
wogen würde. Die bei AB aufruhenden 30 kg würden dann hier
ungeändert zu Geltung kommen, nur 30 kg wägen und also ist der
Querschnitt CD gar nicht mit 163,3 kg, aber nur mit 30 kg be-
*) Langenbeck’g Archiv Bd. 42 S. 311.
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Krwideriing der WolfTschen Bemerkungen zu meiner Arbeit ete, 255
lastet. Der Punkt D wird zwar mit 163,3 kg auf die Wage nieder¬
gepresst, aber der Punkt C wird mit nahezu ebengrosser Kraft in
die Richtung nach oben aufgezogen (Zugspannung). Die positiven
und negativen Druckspannungen zusammen betragen im Querschnitt
C wie in jedem Horizontalschnitt, genau 30 kg *).
Man verzeihe mir diese Weitläufigkeit, aber es bedurfte derer,
damit es klar würde, >vie schlecht Wolff alle diese Mathematik ver¬
standen hat. Nicht in der Absicht eines persönlichen Angriffes, aber
nur in der Absicht, verständlich zu machen, dass Wolff wirklich
gemeint hat, was er weiter behauptet, habe ich diesen Fehler so
genau zergliedert.
Verfolgen wir doch seine Auseinandersetzung weiter, so lesen
wir: ,dass der Querschnitt VIII, welcher nahe dem oberen Ende des
Krahnes und in nächster Nähe der Stelle gelegen ist, an der die
Last auf dem Krahne ruht, nur noch mit einem Gewicht von 3 kg
gedrückt wird, und dass es sogar an der Spitze des Krahnes, bei
einen idealen Punkt gibt, an welchem der Belastungswerth gleich
Null ist. Wir sehen also, wenn wir die aus der Krahnzeichnung
sich ergebenden Verhältnisse auf den Knochen übertragen, dass da,
wohin Hueter beim Genu valgum die gesammte Wirkung der Be¬
lastung gelegt hat, an den Facetten der Femurcondylen und
an der Knorpeloberfläche der Tibia diese Druckwirkung
th atsächlich nahezu gleich Null ist, und dass sie auch da,
wohin sie die meisten anderen Autoren verlegten, am Epiphysen¬
knorpel, noch eine so überaus geringfügige ist, dass sie, gegenüber
den in der Diaphysenmitte der Knochen sich geltend machenden
mächtigen Wirkungen der Druckabänderungen kaum noch überhaupt
in Betracht kommen kann.“
Man denke sich den Hebebalken DCE = 10 X C'/>) auf der
Wage AB befestigt durch die zwei Pfeiler CC^ und D Ist der Hebebalken
in K mit 1 kg belastet, dann ist der Druck in r, “ H kg, der Zug in D\ = 10 kg-
D c
40 C^rat > ^
A.-
Dl
Y //
B
E
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256
J. A. Korteweg.
Wolff will also auf Folgendes hinauskommen:
Culmann lehrt, dass die 30 kg, welche bei AB dem Krahne
aufruhen, bei CD mit 163,3 kg drücken, etwas mehr nach der Ge¬
lenkfläche hin mit 100 kg, weiter nach oben, nach einander mit
71,6, 51,6, 25,0, beim Querschnitt VIII nur noch mit 3, ja ganz
am Ende der Hüftgelenkfläche, wollen wir sagen an der idealen
Hüftgelenkfläche, gar nicht mehr drücken. Und wenn wir jetzt die
„aus der Erahnzeichnung sich ergebenden Verhältnisseauf das
Kniegelenk übertragen, dann sehen wir (Wolff), dass auch da „an
den Facetten der Femurcondylen und an der Knorpeloberfläche
der Tibia“ (gewiss ebenso wie an dem Punkte dem idealen
Hüftgelenke) „diese Druckwirkung thatsächlich nahezu gleich
Null ist.“
Aber bitte doch, warum nicht ganz und gar gleich Null?
Dann würde der ganze Körper über das Kniegelenk schweben und
dann wäre Volkmann ja gewiss fehl gegangen, als er die Ursache
der orthopädischen Missbildungen in einen Druck verlegt hat, welcher
gar nicht einmal besteht, wie uns die Krahnzeichnung der Mathe¬
matiker lehrt, „welche uns in unerbittlichen Zahlenwerthen auf klärt
über die Art, Oertlichkeit und Grösse der durch die äusseren
Kräfte im Knochen hervorgebrachten Druck-, Zug- und Schubspan¬
nungen“ etc.
Ich will die Behauptung Wolff’s, dass das Kniegelenk „nahezu^
in denselben statischen Verhältnissen verkehrt wie der Punkt i^,
welcher bei der Krahnberechnung als unbelastet angenommen wurde,
nicht weiter widerlegen. Gewiss, es bedarf dessen nicht und es
ist schon jedem klar, dass die Waffe, womit Wolff die Druck¬
theorie bekämpfte, eine blecherne war. Sie machte ja auch zu
viel Lärm.
Nur kurz möchte ich noch auseinandersetzen, das§ die stati¬
schen Verhältnisse, wie solche durch die Krahnzeichnung näher auf¬
geklärt würden, ganz gut mit den Volkmann’schen Voraussetzungen
zusammenstimmen.
Denken wir uns den Erahn weiter nach unten, bogenförmig,
in der Form des Femurs, zum Kniegelenk hin, verlängert, so, dass
die Mitte der platten Endfläche sich senkrecht unter der Mitte der
Belastungsstelle beflndet, der Krahn also, einmal aufgerichtet, gar
nicht einer Einmauerung bedarf.
Die Belastung, welche gleichmässig bei AB drückt, wird jetzt
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Erwiderung der Woltfsehen Bemerkungen zu meiner Arbeit etc. 257
bei KL so drücken, dass linker und rechter Theil jeder die Hälfte
der Belastung zu tragen haben. Würde doch der Punkt M allein die
Belastung noch tragen können, der Erahn habe die Form, welche
man will. Der Punkt M muss also der Angriffspunkt der Resul¬
tante aller 'm KL wirksamen Kräfte sein.
hi CD mögen grössere Druck- und Zugspannungen bis 163,3 kg
zur Entwickelung gebracht werden, diese lassen die Kniegelenk¬
fläche, denn diese wird durch KL bezeichnet, unberührt. Innerer
und äusserer Condylus haben also jeder die Hälfte der Belastung zu
tragen, so lange die Schwerlinie die Mitte des Kniegelenkes durch-
Fig. 3.
schneidet und, wie Mikulicz uns gelehrt hat, ist ungefähr dies das
normale Verhältniss.
Denken wir uns jetzt ein Genu varum. In unserer Figur wird
dann KL den Fuss bezeichnen und CD das Kniegelenk. Bis in der
Nähe des unteren Femurendes geltet Culmann’s Berechnung nahezu
ungeändert. Der innere Condylus wird also nicht gleichmässig, im
Ganzen mit bloss 15 kg zusammengedrückt werden, aber z. B. der
Punkt D wird per jeden Quadratcentimeter mit einer Kraft von ungefähr
160 kg zusammengepresst. Bei C und Umgebung werden nahezu gleiche
Zugspannungen ausgeübt, welche natürlich alle durch das Ligamen¬
tum laterale übernommen werden. Man sieht: dies ist ganz den
Volk man n’schen statischen Voraussetzungen gemäss. Die recht ver-
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258
J. A. Korteweg.
standene mathematische Berechnung widerspricht hier so wenig wie-
je die gesunde Vernunft.
Beim Genu valgum wird die Sache noch schwieriger. Im Grossen
und Ganzen sind aber die Verhältnisse wie folgt. Bei CD (Fig. 3>
finden sich grössere Zug- und Druckspannungen vor; bei EF ist
die Kraftvertheilung gleichmässig und nahezu eben dieselbe wie oben
(Fig. 2) und auch hier bei KL. Im Kniegelenk GH sind die Ver¬
hältnisse die umgekehrten wie bei CD^ die Zugseite (die convexe)
ist hier bei //, die Druckseite (die concave) bei G. Dia Grösse der
Kräfte wird sehr gut mit denen des Genu varum vergleichbar sein
(bis 160 kg per Quadratcentimeter), also nahezu gleiche Kräiie, als
diejenige, welche die Diaphyse eines normalen Femurs per Quadrat¬
centimeter belasten.
Wir finden also statische Verhältnisse, wie Volk mann solche
schon lehrte: kräftiger Druck am Condylus externus, kräftiger Zug
am Ligamentum mediale.
Am Ende dieses Nachtrages bitte ich Wolff meine Bemer¬
kungen einem befreundeten Mechaniker vorzulegen und vorläufig
nicht mehr über ein „Recht“ zu reden, welches wohl der Eine,
nicht der Andere haben sollte, „sich ernsthaft an der Discussion über
die Ursachen der orthopädischen Knochenmissbildung zu betheiligen“.
Ich gestehe gern, dass, ungeachtet aller Fehler, Wolff doch noch
Recht behält, über diese Sache mitzureden, ja Niemand dazu so
grosses Recht hat wie er, weil Niemand sich um die Erklärung der
inneren Knochenstructur so grossen Verdienst erworben hat, wie er
und Meyer. Aber so lange ich mich ernsthaft an der Discussion
betheilige, habe auch ich mein Recht.
Die Anerkennung dieses Rechtes wird mich gerade von Wolff
seines grossen Verdienstes wegen besonders freuen und gewiss nicht
Vorbehalten, aber ebenso öffentlich wie er seine Bemerkungen ge¬
macht hat, zugestanden werden, sobald es Wolff gelungen ist,
etwas Ernsthaftes in meinen obenstehenden Bemerkungen zu ent¬
decken. Und dass dies nicht lange währen wird, davon bin ich überzeugt.
Die Ursachen der orthopädischen Missbildungen dünken mir dafür
zu klar, die Fehler Wolff’s zu grob zu sein.
Anmerkung bei der Correctur. Seitdem ist „das Gesetz der
Transformation der Knochen“ von Julius Wolff erschienen. Icli
finde hier S. 8d u. f. denselben Fehler wieder, nämlich, dass Wolff die Cul-
m a n n’schen Berechnungen für das obere Ende des Femurs kritiklos, ohne
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Erwiderung der \Volrt‘‘schen Bemerkungen zu meiner Arbeit etc. 259
Analyse der ganz anderen statischen Verhältnisse, auf das untere Femurende
eines Genu valgum überträgt. Auch in dieser Arbeit liest man: „Wirsehen
also, wenn wir die aus der Krahnzeichnung sich ergebenden Verhältnisse auf
den Knochen übertragen, dass da, wohin Hueter beim Genu valgum die
gesammte Wirkung der Belastung gelegt hat, an den Facetten der Femurcon-
dylen und an der Knorpeloberfläche der Tibia, diese Druckwirkung thatsächlich
gleich Null“ ist“ (S. 87). In diesem Satz gipfelt Wo 1 ff’s Widerlegung der
Volkmann’schen Drucktheorie. In diesem Satz gipfelt, meiner Ansicht nach,
Wo 1 ff’s Trugschluss.
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XVIII.
Entgegnung.
Von
J. Wolff.
Die Abfertigung, welche im vorigen Hefte dieser Zeitschrift
Herrn Korteweg durch mich zu Theil geworden ist, hat auf den¬
selben eine sehr üble Wirkung ausgeübt.
Unter Benutzung von Ausdrücken, wie „schreckliches ümher-
blitzen“, „Lärm machen“, „blecherne Waffen“, u. dergl. m., glaubt
er, seiner ersten, von mir gebührend gekennzeichneten Mittheilung
über die „Ursachen der orthopädischen Knochenmissbildung* eine
zweite hinzufügen zu müssen, die noch tief unter dem Niveau jener
ersten steht.
In dieser neuen Mittheilung gibt es nach Herrn Korteweg’s
mathematischen Vorstellungen keinen Unterschied mehr zwischen
einem Punkt, einer Fläche und einem Körper. Mit kühnem Sprunge
macht der Autor aus dem „idealen Punkte“ des Oberschenkelähn¬
lichen Krahns, in welchem, wie dies aus Culmann's Zeichnung er¬
sichtlich ist, die durch die Spannungstrajectorien dargestellten Druck-
uiid Zugspannungen auf Null herabgesimken sind, eine ideale „Fläche“,
und aus dieser sogar ein „ideales Hüftgelenk“, über welchem „der
Körper schwebt“.
Während er sich auf solche Weise bezüglich seiner mathe-
mathischen Anschauungen legitimirt, behauptet er zugleich, Cul-
mann's mathematische Auseinandersetzungen seien von mir miss¬
verstanden worden, und ich habe aus diesem Grunde »grobe mathe¬
matische Fehler“ gemacht.
In einer im Jahre 1870inVircho w’s Archiv erschienenen Arbeit
wurden von mir die genaueren Verhältnisse der Zug- und Drucklinien,
soweit deren Kenntniss für das Verständniss des Knochenbaus er-
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Entgegnung.
261
forderlich ist, erörtert. Der Entdecker der mathematischen Bedeu¬
tung der inneren Knochenarchitectur, Cu 1 mann selbst, hat mich
bei diesen Erörterungen unterstützt bezw. dieselben durch eigene
Bemerkungen vervollständigt. Derselbe gab zugleich die ausdrück¬
liche Erklärung ab, dass „meine Schlussfolgerungen aus den Verhält¬
nissen des Krahns auf diejenigen des Knochens ihm wie aus der Seele
gesprochen erscheinen“ (vergl. Virchow’s Archiv Bd. 50 S. 418).
Ich zeigte in jener Arbeit, dass die Druck-, Zug- und Schub¬
spannungen in einem Erahn bezw. einem Krahnähnlichen Knochen
von Punkt zu Punkt wechseln. Es wurde zugleich dargelegt,
in welcher Weise die Grösse jener Spannungen für jeden Punkt eines
beliebigen Längs- oder Querschnittes des Krahns berechnet wird. Es
wurde nachgewiesen, dass die Zug- und Drucklinien des Culmann-
schen Oberschenkelähulichen Krahns ihren Maximalwerth an der
Peripherie des untersten, von der Stelle der Belastung des Krahns
am weitesten entlegenen Querschnitts (des Querschnittes I der Krahn-
zeichnung) haben, und dass der Werth der Curven sowohl nach oben,
gegen die Belastungsstelle hin, als auch nach innen, gegen die Achse
hin, immer geringer wird.
Der Kürze halber wurde dabei der, auch von Culmann bei der
Durchsicht meines Manuskriptes gebilligte, Ausdruck gebraucht,
dass der Querschnitt I, als der einzige, auf welchem die Druck¬
spannung an der Peripherie der Druckseite bei einer Krahnbelastung
mit 30 kg bis auf die Höhe von 163,3 kg steigt, „mit 163,3 kg
belastet ist“. Dass damit etwa ein auf allen Punkten des
Querschnitts gleichmässig lastender Druck von 163,3 kg ge¬
meint sei, das konnte Niemand, der für meine Darlegung des überall
von Punkt zu Punkt wechselnden Drucks, Zugs und Schubs auch
nur das nothdürftigste Verständniss hatte, annehmen. Ich hätte
ebenso gut den Querschnitt I als denjenigen bezeichnen können, in
welchem ein Zug von 163,3 kg wirkt, weil einzig und allein in
ihm es eine Stelle gibt, an welcher die Zugspannung diese Höhe
erreicht. Ich hätte endlich auch denselben Querschnitt durch das
Verhältniss derjenigen rings um seinen Mittelpunkt gelegenen Punkte
kennzeichnen können, in welchen gar kein Druck und Zug, dagegen
das Maximum der Schubspannung sich geltend macht.
Es war eben ein so kurzer Ausdruck, wie der erwähnte, er¬
forderlich, weil unmöglich jedesmal, wenn von dem Querschnitt I —
bezw. von irgend einem anderen Querschnitt — die Rede war, die
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262
Wolif.
verschiedenen Druck-, Zug- und Schubspannungen, die sich in allen
einzelnen Punkten des betreflFenden Querschnittes geltend machen,
wiederholt werden konnten.
Herr Korteweg weiss nicht das Geringste von dieser
meiner Arbeit. Er würde sonst unmöglich die elementarsten,
in dieser Arbeit ausführlich mitgetheilten, die Druck- und Zuglinien
betreffenden Verhältnisse mit einer Weitschweifigkeit erörtert haben,
welche zur Genüge zeigt, dass er diese seine Darlegung als eine
für den Leser gänzlich neue angesehen hat. Er würde ferner es
sonst unmöglich versucht haben, aus dem erwähnten, der Kürze halber
erforderlich gewesenen und für jeden auch nur einigermassen
Eingeweihten verständlichen und unzweideutigen Ausdruck eine —
lediglich in seiner Phantasie bestehende — Differenz zwischen C u 1-
mann und mir herleiten zu wollen. Er würde endlich mir nicht in
geradezu kaum glaublicher Weise die Meinung unterzuschieben ge¬
wagt haben, als könnte die an der Peripherie der Druckseite vor¬
handene Druckspannung von 103,3 kg sich bemerklich machen, wenn
man den Krahn miisammt seiner Belastung auf die Wagschale
bringt.
Bezüglich der grossartigen Idee, auf der Wagschale Ge¬
naueres über die im Innern des Krahns durch die Belastung her¬
vorgerufenen Spannungen feststellen zu wollen, darf Herr Korteweg
die volle Priorität für sich in Anspruch nehmen. Die Idee wird
sicherlich bei allen Mathematikern Körteweg's Namen zu der
grössesten Berühmtheit bringen.
Ganz dieser Idee und der übrigen mathematischen Begriffe des
Herrn Korteweg würdig ist seine abenteuerliche schematische Zeich¬
nung der Vertheilung der Kräfte bei einem Genu valgum, über welche
ich mich nach dem Vorangegangenen aller weiterer Bemerkungen
enthalten zu dürfen glaube.
Herr Korteweg hat sich nun eingebildet, dass aus seinen
wunderlichen „mathematischen“ Auseinandersetzungen die „Schwäche
der Transformationslehre“ hervorleuchten werde, und dass nunmehr
Jedermann mit ihm annehmen müsse, der Schwund des Knochen¬
gewebes werde nicht, wie es das Transformationsgesetz lehrt, durch
Aufhebung oder Verringerung der Druck- und Zugspannungen an
den dem Schwunde anheimfallenden Knochenstellen bewirkt, sondern
durch „das Fehlen einer sich fortwährend abändernden äusseren Kraft
und die dadurcli behinderte Fortbewegung der Ernährungsflüssigkeit“.
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Entgegnung.
268
Solcher Einbildung gegenüber, die mir zugleich die Möglich¬
keit einer Belehrung des Herrn Korteweg ganz auszuschliessen
scheint, wird es fast als überflüssig erscheinen, wenn ich Herrn
Korteweg die Versicherung gebe, dass die Transformationslehre nicht
nur durch mathematische Beweise, sondern auch auf anatomischem
und klinischem Wege sicher begründet ist, und dass diese Lehre wohl
auch bereits allseitig, ausser durch ihn allein, acceptirt worden ist.
Ich habe noch zu bemerken, dass ebenso, wie bezüglich der
Zug- und Drucklinien, auch bezüglich der »functionellen Hyperämie“
Herr Korteweg seiner Phantasie freien Lauf gelassen hat.
Durch mein Citiren der Worte Roux*s, nach welchen die „func¬
tioneile Hyperämie, wo sie stattfindet, keinesfalls die Ursache der
fiinctionellen Hypertrophie ist,“ nach welchen dieselbe vielmehr „nur
als eine günstige, vielleicht nicht einmal immer unerlässlich noth-
wendige Vorbedingung derselben angesehen werden muss“, hatte ich
selbstverständlich mich dieser Roux'schen Anschauung ganz und gar
angeschlossen. Dass ich damit die functioneile Hyperämie als gänz¬
lich ausser Betracht kommend angesehen haben soll, das kann wiederum
Niemand, ausser Herrn Korteweg allein, angenommen haben.
Sein Versuch, mich in Differenz mit Roux zu bringen, ist
mithin ganz ebenso verunglückt, wie es seine ähnlichen, eine ver¬
meintliche Differenz zwischen Culmann und mir betreffenden Be¬
mühungen sind.
Zu meinem Bedauern habe ich, wie man sieht, den sehnlichen
Wunsch des Herrn Korteweg, dass in seinen Bemerkungen irgend
etwas „Ernsthaftes“ von mir entdeckt werden möchte, nicht zu er¬
füllen vermocht. Um dies Ziel zu erreichen, hätte Herr Korteweg,
ehe er seine Erwiderung niederschrieb, zum Allermindesten den Ent¬
schluss gefasst haben müssen, sich den Unterschied von Punkt, Fläche
und Körper klar zu machen.
Nachschrift während der Correctur.
In dem von Herrn Korteweg in seiner „Anmerkung bei der
Correctur“ citirten Satze aus meinem „Gesetz der Transformation der
Knochen“ (S. 87) heisst es wörtlich: ^-dass da, wohin Hueter
beim Genu valgum die gesammte Wirkung der Belastung gelegt hat,
an den Facetten der Femiircondylen und an der Knorpeloberfläche
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264
J. WolfF. Entgegnung.
der Tibia, diese Wirkung thatsächlich nahezu gleich Null
ist etc.“
Korteweg hat aus diesem Satze geflissentlich dasjenige Wort,
auf welches es für die vorliegende Erörterung ganz besonders an¬
kommt, das Wort „nahezu“ fortgelassen. Er denkt, auf solche Weise
den Leser glauben machen zu können, dass ich, ebenso, wie er selbst,
einen Punkt und eine Fläche mit einander verwechselt habe.
Man ersieht aus diesem Verfahren des Herrn Korteweg, dass
derselbe unaufhaltsam daran arbeitet, seine Aeusserungen über
die Knochenmissbildungen in einem für ihn immer noch ungünstiger
werdenden Lichte erscheinen zu lassen.
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XIX.
Aus der Eönigl. Umversitätspolikliuik für ortho¬
pädische Chirurgie zu Berlin.
Ueber angeborene seitliche Deviationen der Fingerphalangen.
Zum Theil vorgetragen in der Berliner medicinischen
Gesellschaft am 7. December 1892.
Von
Dr. G. Joachimsthal^
Assistenzarzt der Poliklinik.
Mit 2 in den Text gedruckten Abbildungen.
Angeregt durch die Publication eines Falles von angeborener
seitlicher Deviation der beiden Daumenendphalangen, die
Herzog^) bei einem 10^2 Jahre alten Knaben beobachtete, berichte
ich über zwei in der Kgl. Universitäts-Poliklinik für orthopädische
Chirurgie zur Beobachtung gekommene analoge Fälle dieser Ver¬
bildung. Die betr. beiden Fälle sind dadurch noch besonders be-
merkenswerth, dass sie Mutter und Sohn betreffen, und dass
die gleiche Deformität auch noch bei zwei andern Gliedern
derselben Familie vorhanden ist. Die Combination der frag¬
lichen Missbildung bei dem einen Träger derselben mit einem an¬
geborenen Klumpfuss dürfte auch für die Frage von der Entstehung
dieses Uebels nicht ohne Interesse sein. Die Fingerverbildung ist
bei dem Sohn ausgesprochener als bei der Mutter, hat also in der
Descendenz zugenommen.
*) W. Herzog, Die angeborenen Deviationen der Fingerphalangen
(Klinodactylie). Münch, med. Wochenschr. 1892, Nr. 20 S. 123.
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266
G. Joachimsthal.
1. Die Mutter, eine 41 Jahre alte sonst körperlich gut entwickelte
Patientin, stammt aus gesunder Familie. Die Eltern sowie drei Ge¬
schwister sind wohlgebildet. Dagegen ist ein Vatersschwestersohn
mit einem linksseitigen angeborenen Klumpfuss behaftet; ein Kind
ihrer einen Schwester zeigt dieselben Deviationen der beiden Daumen¬
endphalangen wie sie selbst und ihr Sohn^ während ein zweites
Kind derselben Schwester rechts die gleiche Deformität aufweist
und an der linken Seite einen überzähligen Finger besitzt. Bei der
Betrachtung der Hände unsrer Patientin zeigt sich eine links starker
als rechts in die Augen fallende Abweichung der beiden Daumend-
Fig-1-
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\:
jt .* ■
■ • ■ ■■
glieder nach der ulnaren Seite. Der Winkel, in dem die beiden
Phalangen in dem Zwischengelenk in gestrecktem Zustande zusammen-
stossen, beträgt an der ulnaren Seite links ca. 150, rechts ungefähr
160 Grad. Die Bewegungen der beiden Glieder sind in dem Inter-
phalangealgelenk vollkommen frei; dabei verschwindet ähnlich wie
bei einem Genu valgum die Deformität in der Beugehaltung. Be¬
sonders in der Flexionsstellung constatirt man an der radialen Seite
des Capitulum der 1. Phalanx eine stärkere Prominenz. Die Deformität
lässt sich durch Druck auf die ulnare Seite des Nagelgliedes mit
einigem Kraftaufwand ohne besondere Schmerzen fast völlig aus-
gleichen (s. Fig. 1).
2. Der 10jährige Sohn dieser Patientin ist neben zwei gut
entwickelten Geschwistern das Zweitälteste Kind. Ob bei seiner
Geburt die Fruchtwassermenge abnorm gering war, ist nicht zu
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lieber angeborene seitb'che Deviationen der Fingerphalangen. 267
eruiren. Die Untersuchung des Knaben ergab zunächst das Vor¬
handensein eines rechtsseitigen angeborenen Klumpfusses. Neben
starker Adduction der Fussspitze zeigte sich hier eine sehr erhebliche
Supinationsstellung, so dass der kleine Patient direct mit dem Dorsum
pedis auftrat, wofür auch die hier befindlichen Druckschwielen Zeug-
niss ablegten. An beiden Händen liegen, nur in verstärktem Maasse,
dieselben Formfehler vor, wie bei der Mutter. Die beiden Phalangen
bilden hier einen ulnarwärts offenen Winkel von links ca. 120, rechts
ungefähr 130 Grad. Auch hier fehlen directe Functionsstörungen,
auch hier verschwindet die Deviation bei der Beugung und imponirt
Fig. 2.
die stärkere Prominenz des radialen Theils des Capitulum der 1. Pha¬
lanx. Bei stärkerem Kraftaufwand gelingt es auch hier, durch Finger¬
druck die Deformität vorübergehend auszugleichen.
Die angeborenen Gelenksanomalien an den Fingern gehören
nach dem übereinstimmenden Urtheil aller Autoren, die den Gegen¬
stand überhaupt berührt haben; in Deutschland meines Wissens ausser
Herzog nur Vogt — zu den seltensten congenitalen Affectionen.
Annandale *) und nach ihm Fort ^), welch letzterer den Fingergelenks-
0 V 0 g t, Die chirurgischen Krankheiten der oberen Extremitäten. Deutsche
Chirurgie 1881, Lieferung 64 S. 25.
Ch. Annandale, The malforinations, diseases and injuries of the
fingere and toes. Edinburgh 1865, S. 65.
*) J. A. F 0 r t, Des difformites congenitales et acquises des doigts et des
moyens dy rem^dier. Th^se. Paris 1869, S. 60.
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. II. Bsud. 28
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268
G. Joachimsthal.
deviationen noch die grösste Aufmerksamkeit geschenkt und sie mit
einem besondern Namen, dem der Klinodaktylie (von xXtveiv und
SdxroXo(;) belegt hat, scheiden sie, je nachdem die Verschiebung der
distalen Phalanx nach der Vola, dem Dorsum oder nach der radialen
oder ulnaren Seite stattfindet; in palmare, dorsale und laterale.
Einen Fall der ersteren Art hat der Instrumentenmacher Mathieu bei
einem jungen Manne gesehen. Beiderseits stand hier der Ringfinger
in fixirter mittlerer Flexionsstellung. Ueber dorsale Abweichungen
der Phalangen, bei der diese in Hyperextensionsstellung sich finden,
und die Unmöglichkeit besteht, eine Beugung in den betreffenden
Gelenken auszuführen, berichten Chaussier^) undBörard^). Was
endlich die lateralen Verschiebungen anlangt, zu denen auch unsere
Fälle gehören, so unterscheiden sich dieselben so wesentlich von den
beiden bisher erwähnten Gruppen, dass es wohl rathsam erscheint,
sie künftig durch eine strengere Scheidung von ihnen abzusondern.
Die volaren und dorsalen Deviationen der Phalangen stellen näm¬
lich nichts anderes als congenitale Luxationen oder Subluxationen
dar, die in ihrer äusseren Erscheinung am meisten Aehnlichkeit mit
den angeborenen Luxationen im Kniegelenk darbieten. Auch hier
handelt es sich, wie ich dies im Jahre 1889 an einem Fall von
präfemoraler Luxation der Tibia zu demonstriren in der Lage
war^), um fixirte falsche Stellungen des Gelenks, hier meist in
Hyperexteusion. Dagegen bestehen bei den seitlichen Deviationen
der Finger keinerlei Verschiebungen der Phalangen gegen
einander, sondern lediglich congenitale Verbildungen der
Gelenkenden, die keine Aufhebung des Contacts der Articulations-
flächen und daher auch keine Störung der Beweglichkeit be¬
dingen.
Auch Fälle dieser Art existiren nur äusserst spärlich in der
Literatur. Einer derselben stammt von Robert^). Er betraf ein
(»jähriges Mädchen, bei der die 3. Phalanx im stumpfen Winkel
*) Cf. J. A. Fort, 1. c.
Malgaigne, Le^ons d’orthopedie publiees par Mm. Guyon et
Panas 1862.
•) Dict. de med. en 30 vol., t. XVIII ort. Main p. 514.
Joachimsthal, Vorstellung zweier Fälle von congenitalen Luxa¬
tionen im Kniegelenk. Berl. klin. Wochenschr. 1889, Nr. 42 S. 429.
Alph. Robert, Des vices congenitaux de conformation des articula-
tions. Paris 1851, These, p. 103.
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Ueber angeborene seitliche Deviationen der Fingerphalangen. 269
nach aussen abwich. Durch die Haut konnte man eine schwächere
Entwickelung des Condylus externus am unteren Ende der 2. Pha¬
lanx constatiren, während der innere Condylus stärker hervortrat.
Eine analoge Verbildung besass Professor Trousseau^). Bei
ihm waren die Endglieder beider Ringfinger stark nach innen
abgewichen. Annandale*) sah an beiden Händen eines Pa¬
tienten, dessen Oheim ähnliche Deviationen aufwies, laterale Ab¬
weichungen der Finger. Endlich hat, wie schon erwähnt, Herzog
eine angeborene fast rechtwinkelige Deviation der Nagelphalangen
beider Daumen im Interphalangealgelenk nach der ulnaren Seite
gesehen, ohne Drehung oder Luxation des abgewichenen Endgliedes,
und ohne dass dadurch die Bewegungsfähigkeit im Gelenk beein¬
trächtigt worden wäre. Dabei konnte er wie Robert deutlich
eine stärkere Entwickelung des radialen Theils des Capitulum der
1. Phalanx und ein Hervortreten über den ulnaren Theil con¬
statiren.
Diesen Fällen reihen sich als Analoga der Herzog'schen unsere
beiden eignen Beobachtungen an, die mit diesem fast in allen Einzel¬
heiten übereinstimmen.
Sahen wir vorher in den congenitalen Luxationen der Tibia
eine den dorsalen und volaren Fingerdeviationen vergleichbare Ver¬
bildung, so bietet auch für die seitlichen Abweichungen der Pha¬
langen, bei denen, wie wir constatirten, die freie Beweglichkeit des
Gelenks in keiner Weise leidet, eine AflFection des Kniegelenks, fast
immer allerdings extrauterinen Ursprungs, das Genu valgum resp. varum
ein passendes Vergleichsobject. Es wird sich daher empfehlen, für
die vorliegende Fingeranomalie den Namen Digitus resp. Pollex
valgus, und bei Abweichung nach der radialen Seite varus ein¬
zuführen.
Was unseren eigenen Beobachtungen noch besonderes Interesse
verleiht, ist das mehrfache Vorkommen der gleichen Ano¬
malie in derselben Familie sowie die Combination der Ver¬
bildung bei dem einen Träger derselben mit einem angeborenen
Klumpfuss, wie ein solcher auch bei einem Vatersschwestersohn der
Mutter aufgetreten war. Die ungezwungenste Erklärung für das
Vorkommen der Missbildungen in den verschiedenen Seitenlinien gibt
*) Cf. J. A. Fort, 1. c.
0 1. c.
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270
G. Joachimsthal.
wohl die Annahme, dass durch eine Alteration der Keimanlage von
einem gemeinschaftlichen Vorfahren die Neigung zu derartigen Miss¬
bildungen vererbt worden ist. Man hat in der Aetiologie speciell
des Klumpfusses dem Mangel an Fruchtwasser, infolge dessen sich
die Uteruswand zu eng an den Fötus anschliesst, eine hervorragende
Rolle zugeschrieben und, zumal nachdem es so hervorragenden For¬
schern wie Volkmann gelungen war, an der Haut des Klump¬
fusses Druckschwielen nachzuweisen, auf diesem Wege die Ent¬
stehung der meisten KlumpfÜsse genügend erklärt zu haben geglaubt.
Gerade die Combination der Fussdeformität mit anderweitigen Ver¬
bildungen, deren Entstehung auf gleiche Weise nicht zu erklären
ist, sollte uns daran erinnern, dass es gerade auf diesem Gebiete
unseres Wissens gewisse dunkle Punkte gibt, die zu erklären uns
vor der Hand unmöglich ist, und bei denen wir daher das Igno-
ramus besser zugestehen, als dass wir nicht genügende Hypothesen
verfechten.
Was die Behandlung betrifft, so wurde bei dem Knaben der
Klumpfuss von mir nach der Tenotomie der Achillessehne durch
den Wolf fischen Etappenverband redressirt. Die aus cosmetischen
Gründen vorgeschlagene Beseitigung der Deviationen der Daumen¬
endphalangen wurde mit Rücksicht auf die geringen Functionsstörungen
abgelehnt. Herzog hat in seinem Fall rechts nach erfolgloser
Durchschneiduiig des Ligamentum laterale auf der ulnaren Seite die
schräge Resection des Capitulum der 1. Phalanx ausgeführt. Das
Resultat dieses Eingriffes war aber nicht sehr befriedigend, denn
einmal behielt die 2. Phalanx noch die Neigung, nach der Seite ab¬
zuweichen, ausserdem war die Bewegung im Interphalangealgelenk
keine gute und der Gebrauch des Daumens mit Beschwerden ver¬
bunden. Aus diesen Gründen wurde links ein Keil aus der 1. Pha¬
lanx mit der Basis nach der radialen Seite zu herausgenommen und
damit ein zufriedenstellendes Resultat erzielt. Mit Rücksicht auf
die an andern Gelenken namentlich beim Genu valgum gemachten
Erfahrungen ist an Stelle dieses Operationsverfahrens die Anwendung
redressirender Verbände nach den Grundsätzen der „functionellen
Orthopädie“ zu bevorzugen. Wir sahen oben, dass es bei einigem
*) Wolff, Das Gesetz der Transformation der Knochen. Berlin 1892,
S. 140. — G. Joachimsthal, Lineare oder keilförmige Osteotomie. Berl.
klin. Wochenschr. 1892, Nr. 34 S. 849.
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lieber angeborene seitliche Deviationen der Fingerphalangen. 271
Kraftaufwand in unsern Fällen möglich ist, durch Fingerdruck die
Deformität vorübergehend auszugleichen. Gelingt es nur durch einen
Verband, diese normale Stellung dauernd innezuhalten, so erzeugt
die Transformationskraft, d. i. die Kraft der Natur, welche die An¬
passung der äusseren Form und der inneren Architectur der Knochen
an jedwede Abänderung der statischen Inanspruchnahme bewirkt,
ganz von selbst, ohne jedes weitere Zuthun unsererseits, die normale
Knochenform.
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Referate
Mit 4 in den Text gedruckten Abbildungen.
Bericht über die erste jährliche Yereinigangr der Italienischen ortho¬
pädischen Gesellschaft, gehalten zn Mailand Tom 20.—22. April 1892 *).
Sitzung vom 20. April.
Nota (Turin). Ueber die rationelle Behandlung der angeborenen
Hüftgelenks-Luxation nach der Methode von Paci.
Nota spricht über eine von ihm 1887 versuchte Modification der opera¬
tiven Methode von Margary, zum Zwecke der Erhaltung einer stärkeren
Fixation des partiell resecirten Femurkopfes, und um eine allzugrosse Ver¬
kürzung des operirten Gliedes zu vermeiden. Die Operation von Nota, die
in der Resection eines Stückes des Ligamentum rotundum, das, so lange es vor
handen ist, gewöhnlich bedeutend verlängert ist, bestand, scheiterte an der
Unfügsamkeit der kleinen Patientin. Nach dem Erscheinen der ersten Arbeit
von Paci (1888) übte Nota die Methode dieses Autors in 12 Fällen aus, von
denen 5 doppeltseitig und 7 einseitig waren; d. h. die Operation wurde von
Paci 18mal ausgeführt, llmal mit gutem, Imal mit partiellem, 4mal mit
negativem und 2nial mit zweifelhaftem Erfolg.
Nota schliesst einige Betrachtungen an über die Ursachen, welche die
Dauer der Reposition des Femurkopfes verringern können, oder sogar die
Wiederkehr der Luxation oder Subluxation begünstigen, und über die Mittel,
welche man anwenden muss, um diesen Unannehmlichkeiten abzuhelfen.
Diese Ursachen beruhen entweder auf den anatomischen Verhältnissen
der Gegend oder auf der mangelhaften Anwendung der Methode, sei es wäh¬
rend der Operation selbst, sei es während der folgenden Behandlung.
*) Die Italien, orthopäd. Gesellschaft, welche am 20. December 1891 zu
Mailand gegründet wurde, hatte beschlossen, ihre erste jährliche Versammlung
im April des laufenden Jahres in Mailand abzuhalten, unter Ernennung des
Professors A. Gamba zum Präsidenten, des Dr. Panzeri und Professors
Bajardi zu Vicepräsidenten, des Dr. Bernacchi zum Secretär und Agustoni
zum öconomischen Verwalter. Die Sitzungen, an denen zahlreiche Collegen
theilnahmen, fanden statt in dem Institute per Rachitici unter dem Vorsitz des
Dr. Panzeri.
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Referate.
273
Die erste anatomische Ursache besteht in der Missgestaltung des Beckens
(platt oder schräg), welches mit einer engen Pfannenhöhle, einem rudimentären
Pfannenrande, einem fast vertical stehenden Darmbeinkamm behaftet ist. Durch
diesen letzteren Umstand sieht man, wie der Femurkopf unter dem Einfluss der
Muskelwirkung leichter nach oben schlüpfen kann, in die Fossa iliaca ext.
Um diesem Uebelstand entgegenzuarbeiten, wendet man nach der Methode von
Paci einen immobilisirenden Apparat und eine Gewichtsextension an, während
der Patient zu Bett liegt. Sobald der Patient geht, bedient sich Nota eines
Apparats, der aus zwei dreieckigen kopfförmigen Metallplatten besteht, die
durch einen elastischen Zug mit einander verbunden sind und die grossen
Trochanteren umschliessen. Die von Nota Operirten tragen diesen Apparat
Jahre lang.
Zugleich muss man eine starke Aussenrotation des Gliedes unterhalten.
Auch die Neigung der Axe des Femurhalses, welche in den Fällen von ange¬
borener Luxation bis auf 90 ® sich verringern kann, muss berücksichtigt werden.
Der Kopf, welcher sich unter den gleichen Verhältnissen befindet, könnte an
seine alte Stelle gerückt werden, wenn man dies nicht durch starke Extension
des Gliedes, das in dem immobilisirenden Apparat in Abduction gehalten wird,
verhindert.
Die Verkürzung der periarticulären Gewebe, besonders der Muskeln,
wird während der Reduction selbst überwunden werden durch Zerreissungen in
den Muskeln oder Sehnen. Um den Erfolg der Operation zu sichern, empfiehlt
Nota, sehr vorsichtig bei der Reduction vorzugehen und eventuell zum zweiten-
mal zu operiren, wenn der Erfolg kein vollständiger ist.
Gewichtszug des Nachts, Corsetts, Krücken müssen lange Zeit angewendet
werden, selbst wenn der endgültige Erfolg gesichert erscheint. Zu gleicher
Zeit Massage, Elektricität, Douchen u. s. w.
Zum Schluss berichtet Nota über einen Fall von einem 7jährigen Kind,
wo in der ersten Zeit der Femurkopf während der Extension nach oben und
hinten rückte, und er das Bein dann in Flexion, Abduction und Aussenrotation
fixirte. Nach 23 Tagen vollendete er die Operation zunächst mit vorzüglichem
Erfolge.
Paci (Pisa) glaubt auch diese Ursachen, welche, allerdings in sehr
seltenen Fällen, den Erfolg der Methode, deren 4 Zeiten mit grosser Vorsicht
ausgeführt werden müssen, verhindern können. Er selbst hat in einem Falle
eine Epiphysentrennung des Femurkopfes erlebt. Er glaubt, dass die Operation
in 2 Zeiten, von Nota vorgeschlagen, in manchen Fällen von Nutzen sein
könnte, und will dieselbe versuchen.
Panzeri (Mailand) ist nicht ganz überzeugt von der Wirksamkeit dieser
Operation, aus physiopathologischen Gründen und auch aus eigener Erfahrung.
Er glaubt, dass es manchmal möglich sein wird, einen augenblicklichen Erfolg
eher als mit der Extension zu erzielen, aber er glaubt nicht, dass man den
nach unten und vom verlegten Femurkopf dort wird fixiren können, weil er
daselbst die Bedingungen nicht erfüllt sieht, die zur Bildung einer Nearthrose
nothwendig sind, d. h. ein starkes Trauma, Riss der Gewebe und die Bewegungen
im Gelenk, die das Glied braucht. Jedoch nach dem, was Nota und Paci
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Referate.
berichtet haben, wird er diese Methode eingehender würdigen, obgleich die
geringe Erfahrung, die er bis jetzt darüber hat, nicht ermuthigend ist.
Nota fügt hinzu, dass er Fälle hat, die seit 2 Jahren operirt sind, wo
das Resultat stets gut ist, doch tragen seine Operirten einen Apparat und sie
gehen mit dem Bein in starker Aussenrotation. Was die Nearthrose anbetrifft,
so glaubt er, dass während der Reduction im Acetabulum und in dem peri-
articulären Gewebe Einrisse und vielleicht auch intra-articuläre Ergüsse ent¬
stehen.
J* a c i sagt dasselbe aus. Nach seiner Meinung stellt sich die Nearthrose
stets früher oder später ein. Man kann die Neai-throsenbildung nach der Art
von Lannelongue unterstützen, jedoch glaubt er, zum Theil infolge seiner
experimentellen Arbeiten, zum Theil nach der Untersuchung seiner zahlreichen
operirten Fälle, dass seine Methode, energisch angewandt und mit aufmerksamer
Nachbehandlung, vollständig genügt. Einige seiner Fälle zeigen noch nach
mehreren Jahren vorzügliche Resultate.
Panzeri glaubt immer noch, dass nur die Muskeln gedehnt oder auch
zerrissen würden und nicht die Gelenkkapsel.
Bajardi (Florenz) macht aufmerksam auf die grosse Rolle, die bei der
Nearthrosenbildung die Bew’egung des luxirten Endes spielt, was in den Fällen
von congenitaler Luxation, die nach der Methode von Paci behandelt wird,
vernachlässigt wird.
Paci betont den bei seiner Methode entstehenden peri- und endo-arti-
culären Reiz. Er fügt hinzu, dass, abgesehen von dem, was man während der
Reduction und um sich dieselbe zu sichern, macht, er den Operirten (im Bett,
3 Monate) erlaubt, sich zu setzen und frei zu bewegen. Augenblicklich wendet
er seine Methode bei einem Kranken des Instituts an (Luxatio iliaca anterior).
G. Rossi (Mailand). Ueber die Einathmung von comprimirter
Luft bei der Behandlung der Skoliose.
Nach einigen Worten über die Aetiologie und pathologische Anatomie
der Skoliose spricht Rossi über die Behandlung im allgemeinen und im be¬
sonderen über die Methoden der vertebralen Detorsion, wie sie von Hoffa und
Lorenz vorgeschlagen sind. Kein Autor, sagt er, dachte daran, direct auf
die Seitenwand von innen nach aussen einzuwirken. Wenn man die Gelenk¬
verbindungen der Rippen mit den Wirbeln und die physiologische Function
derselben und der Thoraxwand während der Respirationsbewegungen prüft,
wird man verstehen, mit welcher Kraft man auf die Wirbelsäule und vor allem
auf ihre Rotation einwirken kann. Wenn man bei der seitlichen Compression
die Beweglichkeit der einen Thoraxwand verhindert und w^ährend der Suspension
den Druck auf die Wirbelsäule ausschaltet, so wirkt die dilatatorische Kraft
des Thorax während der forcirten Inspirationen energisch auf die costo-verte-
bralen Gelenkverbindungen und auf die Querfortsätze der anderen Seite und
die Rotationsbewegung der Rippen selbst wird einen starken directen Druck
auf die erwähnten Fortsätze und somit eine Rotation der Wirbel bewirken.
Rossi lässt die Skoliosenkranken während der Suspension langsame und tiefe
.\thembewegimgen mit einem Apparat von Waldenburg machen.
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Referate.
275
D. Giordano (Bologna), lieber einen veralteten Fall von Luxation
der Cartilago semilunaris mit Gelenkmaus.
Giornani hat die Ansicht der Autoren über die Aetiologie der beweg¬
lichen Gelenkkörper und über die Luxation der Cartilagines semilunares ge¬
prüft. Er stützt sich auf die Ansicht von Marsh und Riedel, dass die
beweglichen traumatischen Körper sich primär bilden können. Er erwähnt die
Literatur über die Luxation der Cartilagines seniilunares; bemerkt, dass manch¬
mal die Diagnose unsicher sein kann dadurch, dass der Riss oder die Los¬
trennung eines Meniscus Veranlassung zu einem beweglichen Körper geben
kann. Die einzig rationelle Behandlung ist die operative mit Entfernung des
beweglichen Körpers oder des Meniscus, oder auch mit Naht des Meniscus.
Zum Schluss berichtet er über einen eigenen Fall, wo eine traumatische
Luxation eines Meniscus complicirt war mit Abreissung eines Stückes des¬
selben; — Abtragung des freien Körpers und Naht des grössten Theiles des
Meniscus; — Heilung.
Bernacchi (Mailand). Beitrag zur Casuistik der congenitalen
Deformitäten der Extremitäten.
Bernacchi berichtet über die Beobachtungen von 10 Jahren, die in
dem alnstituto de Rachitici“ und in der orthopädischen Abtheilung der Poli¬
klinik zu Mailand gemacht worden sind.
Panzeri. Unter 1917 Fällen von congenitalen Gliederdeforraitäten
waren 66 primäre Deformitäten, 1851 intrauterine. Unter den ersteren war
47mal die obere Extremität, 19mal die untere betheiligt. Unter den secundären
Deformitäten befanden sich: 2 congenitale Luxationen des Radius, 4 der Hand,
1039 des Femur, 1 der Kniescheibe; 4 manus valgae, 2varae; 812 Klumpfüsse,
von denen 320 varo-equinus, 212 planus-valgus, 86 varus, 61 talo-valgus,
2 equinus, 51 Variationen von varo*valgus, valgo-equinus u. s. w.
Bernacchi lässt eine eingehende Beschreibung von mehreren seltenen
Fällen folgen (s. ,Betti** du Congres, welche nächstens erscheinen werden); be¬
tont die Häufigkeit der congenitalen Hüftgelenkluxationen: 1039 Fälle, von
denen 172 männliche und 867 weibliche, u. s. w.
Pugliesi (Lodi). Seltener Fall von congenitaler Anomalie der
Extremitäten.
Es handelt sich um einen von jenen Fällen, die in der Perotologie unter
dem Namen Perodactylie (Otto, Curveilhier, Meniere) beschrieben sind,
und welcher die Deformität nicht nur an den Füssen, sondern auch an den
Händen und zwar ganz symmetrisch zeigte.
Sitzung vom 21. April.
Panzeri (Mailand). Ueber die operative Behandlung der Hüft¬
gelenkslux ati on.
Panzeri stellt einige von ihm operirte Fälle vor. In einem der Fälle
handelte es sich um eine doppelte schwere, sehr schmerzhafte Luxation; die
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Referate.
einfache Operation nach Margary ergab ein befriedigendes Resultat. Die
Operirte ist mit festen Gelenkverbindungen und ausgedehnter Bewegungsfahig-
keit versehen. — In einem anderen sehr schweren Falle übte Panzeri die
osteoplastische Resection des oberen Femurendes aus, d. h. des Kopfes, des
Halses und des grossen Trochanter; adaptirte das neue Femurende dem Ace-
tabulum. Gutes Resultat.
Panzeri erkennt an, dass man bei Erwachsenen selbst nach Resection
grosser Knochentheile nur schwer das Femurende zurückhalten kann infolge
der Verkürzung der Muskeln und des periarticulären Gewebes.
Oliva glaubt nicht, dass man sie für gewöhnlich nach der Methode
von Margary operiren soll, weil dabei das Hinken bleibt. Bei einem Jungen
von 14 Jahren eröffnete er 1888 das Hüftgelenk, resecirte die Kapsel und re-
ponirte mit Sorgfalt den Kopf, indem er ihn mit einer Metallnaht zu &dren
suchte; aber die Luxation kehrte wieder, als man das Bein extendirte. Darauf
resecirte er den Kopf. Seitdem glaubt er, dass man im wesentlichen den
Widerstand der weichen Gewebe überwinden muss und acceptirte die Methode
von Hoffa, welche er bei einem jungen Mädchen von 13 Jahren, das eine sehr
schwere Luxation darbot, ausübte.
Diese Methode hält Oliva, wenn sie auf das kindliche Alter beschränkt
wird, für die rationellste und praktischste.
Er kann noch nicht Schltisafolgerungen aus den Fällen ziehen, die er
nach der Methode von Paci operirt hat. A priori glaubt er nicht, dass diese
Methode gute Resultate geben wird, besonders nicht in alten Fällen. Jedoch
da sie unschädlich und leicht ist, würde er rathen, sie bei Kindern zu ver¬
suchen, um dann, wenn sie misslingen sollte, die operative Behandlung nach-
folgen zu lassen.
Im Januar 1892 führte er von neuem die Operation nach Hoffa bei
einem 12jährigen Mädchen aus. Die Luxation war nicht sehr schwer; die Re¬
position gelang nach Resection der Knorpelschicht des Kopfes. Das Resultat
ist noch kein definitves,
Panzeri fasst die Discussion in den folgenden allgemeinen Sätzen zu¬
sammen :
In der ei*sten Periode (bis zum 3. Jahre) muss man die Operation von
Paci und seine nachfolgende Behandlung versuchen. Von 3 — 12 — 14 Jahren
müsste man zur Operation nach Hoffa rathen. In den veralteten Fällen sind
die Operationen im allgemeinen wenig günstig, besonders in den einseitigen
Fällen; dagegen kann man in den doppelseitigen noch gute Resultate durch
die Resection des Femurkopfes und durch die osteoplastischen Resectionen
erzielen.
Schliesslich schlägt Panzeri vor, als Tagesordnung für die 2. jährliche
Versammlung noch zu setzen „die operative Behandlung der congenitalen
Hüftgelenksluxation, im besonderen nach der Methode von Paci“.
Zuffi (Mailand). Ueber die Indicationen und über die Technik
des „Redressement force“.
Zuffi berichtet über zahlreiche Fälle, die in dem „Institute per Rachitici*
in Mailand operirt sind, besonders über die Indication zu dieser Operation in
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Referate.
277
den Fällen von „Genu valgum Adolescentium'^ und ihre vorzüglichen Resultate.
Er lässt einen Fall von doppelseitigem Redressement bei einem Knaben von
17 Jahren folgen.
Oliva (Turin). Ueber die blutigen Operationen, ausgeführt im „In¬
stitute per Rachitici“ zu Turin, zur Correction der rhachi-
tischen Deformitäten der unteren Extremitäten.
Es handelt sich um 239 Osteotomien, von denen 138 am Femur (19 dia-
physäre und 119 supracondylome), 81 an der Tibia, 10 an der Tibia und Fibula
ausgeführt worden sind. Auf 98 rhachitische Kranke kommen 43 männliche
und 55 weibliche; mittleres Alter 8 Jahre.
Die Fälle sind im besonderen: 110 genu valgum, 49 genu varum, 27mal
Verkrümmungen der Tibia, lOmal des Femur.
Einige sehr schwere Fälle werden von Oliva eingehend beschrieben.
Einigemal incidirte er bei der Osteotomia supracondylica die Weichtheile
an der Aussenseite. In einem schweren Fall von doppeltem Genu varum
führte er die keilförmige Osteotomie der Fibula und die lineare der Tibia aus.
Er wendet nach der Operation entweder einen Gipsverband an, oder eine
Schiene nach Mac Ewen, oder eine permanente Gewichtsextension.
Bei Kindern nach der Operation von Mac Ewen zieht er den Apparat
des Letzteren vor, welcher eine vollständige Correction in einer Sitzung ge¬
stattet. Jedoch ist die Form des Schenkels eine bessere nach der Application
der Gewichte, welche Methode Oliva bei den Erwachsenen und schweren Fällen
an wendet, die nach Mac Ewen operirt sind. Er extendirt 18—20 Tage, um
dann die Osteotomie der Tibia und einen immobilisirenden Apparat folgen zu
lassen. Im allgemeinen sind hierbei die Resultate vorzüglich.
Motta (Turin) glaubt auch, dass die Gestalt des Femur nach der Ge¬
wichtsextension eine bessere sei.
Bajardi (Florenz) berichtet über seine Resultate in der Behandlung des
Genu valgum, des Genu varum, der Diaphysenverkrümmungen und des deformen
Callus, d. h. über 23 Osteotoiniae supracondyl. des Femur, 12 lineare und
19 keilförmige der Tibia, 22 Osteoclasien und 7 lineare Osteotomien der Fibula,
3 manuelle Osteoclasien und 1 Osteotomia linearis diaphys. des Femur, 7 Ostco-
clasien, von denen 6 manuelle, am Femur wegen Callus deform.
Panzeri übt seit 1879 nach der Osteotomie des Femur die Gewichts¬
extension aus, die man indess genau überwachen muss. Er hat immer die
typische Incision nach Mac Ewen ausgeführt; manchmal hatte er vorüber¬
gehende Peroneuslähmung. Er operirt selten ganz junge Kinder und hat nur
äusserst selten nach voraufgehender Osteotomie der Tibia auch die der Fibula
folgen lassen.
Oliva glaubt, dass die Osteotomie der Fibula nur in ganz besonderen
Fällen auszuführen sei und dann nur nach einem bestimmten Alter.
Motta fügt hinzu, dass er gute Resultate, besonders bei Kindern, nach
der Methode des „Etappenverbandes“ von Wolff gehabt hat.
Oliva, von Secchi befragt, gibt an, dass er, trotz seiner Abneigung
gegen diese Methode, doch 70—80 „Redressements forces“ gemacht hat, und
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Referate.
zwar bei Genu valgum von Kindern unter 6 Jahren und ohne Diaphjsen-
verkrümmungen.
Er fügt eine interessante Studie über die Rhachitis in Turin hinzu. Von
1887—1891 untersuchte er 902 rhachitische Kranke, von denen ungefähr 421
noch krank waren. Er hat ein häufigeres Vorkommen der Rhachitis zu gewissen
Jahreszeiten nach der Topographie der Rhachitis in Turin nachweisen können.
Seine Beobachtungen sind durch topograpliische Tabellen und durch klinische
Curven illustrirt.
Panzeri schlägt vor, indem er sich lobend über die Arbeit von Oliva
ausspricht, in der 2. jährlichen Versammlung die Topographie der Rhachitis in
den italienischen Städten, wo Mitglieder der Gesellschaft wohnen, zu behandeln.
Bajardi. Beitrag zum Studium (klinisch und anatomisch) der an¬
geborenen Gliederdeformitäten, welche in dem pedriatischen
Institut zu Florenz beobachtet sind.
Beschreibung von 5 Fällen von schweren congenitalen Gliederdeformitäteu.
(Ausführlich veröffentlicht in dem Bericht des Congresses.)
Panzeri, Motta, Nota, Oliva fügen einige Worte hinzu über
einige seltene Fälle von congenitalen Deformitäten, die sie beobachtet haben.
Rota (Bergamo). Ueber die Osteotomia Instrumentalis mit dem
Apparat von Robin.
Rota berichtet über seine 50 Fälle. Betont die vollständige Narkose
und räth dazu, die Compression des Gliedes zu wiederholen, wenn ein erster
Versuch des Hebels misslingen sollte. Nach der Operation Gewichtsextension.
Das Alter der Patienten und die vordere epiphysäre Krümmung des Femur sind
Contraindicationen für die Operation, die 2. durch die Unregelmässigkeit di^
Stützpunktes.
Rota hat nie grössere Ecchymosen, auch nicht in den Fällen bis zu
24 Jahren, gehabt.
Motta (Turin). Bericht über die chi rurgi sch-orthopädische Ab¬
theilung der allgemeinen Poliklinik zu Turin.
Motta berichtet über 1394 Fälle, beobachtet während 34 Monaten, von
denen 1284 rein orthopädisch sind. Er tlieilt sie ein in: llö Fälle von Rhachitis.
7 Deformitäten des Rumpfes, der Lippen, der Ohrmuschel u. s. w.; 33 Caput
obstipiim; 194 Kyphosen, von denen 163 tuberculös und 31 rhachitisch: 18 runde
Schultern!, von denen 1 rhachitisch, 1 neuralgisch, 1 syphilitisch; 68 Sko¬
liosen; 9 Hühnerbrust!; 45 Gelenkdeformitäten infolge von allgemeinen
Gelenkerkrankuiigen; 11 Deformitäten der oberen Extremität; 5 Deformitäten
der Hand; 1 überzähliger Finger; 112 congenitale Hüftgelenksluxationen;
6 andere Luxationen; 200 Genu valgum et varum; 49 rhachytische Diaphysen-
verkrümmungen; 3 deformer Callus; 42 Deformitäten beruhend auf Störungen
des Nervensystems; 161 Klumpfüsse; 62 Plattfüsse; 15 Hallux valgiis und Klauen¬
stellung; 21 Fälle, w'O die Diagnose unbestimmt war.
Nach einigen allgemeinen Bemerkungen spricht Motta über die vor-
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Referate.
279
genommenen Curen, speciell beim Caput obstipum, bei der Kyphose (Lorenz,
Hoffa, Beely), congenitalen Hüftgelenksluxation, rhachitischen Deformitäten
der unteren Extremitäten u. s. w.
Die in der Poliklinik ausgeführten Operationen betrugen 211, von denen
19 nach Phelps, 27 nach Paci, 5 Arthrodesen, 1 orthopädische Ellenbogen-
resection, 29 lineare Osteotomien, 44 Operationen nach Lorenz (pes. plan.)
u. 8. w.
Nach Bemerkungen von Secchi, Bernacchi und Panzeri wird
Motta beauftragt, in der nächsten jährlichen Versammlung der Gesellschaft
über die moderne Behandlung der Skoliose zu referiren.
Sitzung vom 22. April.
Sala (Mailand), lieber die keilförmige Osteotomie nach Volkmann
bei der Behandlung der Ankylosen der Hüfte.
Beschreibt die directen bekannten operativen Methoden. Sala spricht
im besonderen über die keilfönnige Osteotomia subtrochanterica, über die
M e i s 8 e 1 resection! und über die Osteotomia linearis obliqua der Femurdiaphyse.
Er stellt einige vorzügliche Resultate vor, die nach dieser Weise von Panzeri
operirt worden sind.
Oliva bemerkt, dass die tuberculösen Ankylosen der Hüfte selten
knöcherne sind, so dass man nach der Methode von Lorenz gute Resultate
erzielen kann. Bei ärmeren Kranken zieht er die Osteotomia subtrochanterica,
bei reichen die Meisselresection mit ihrer nachfolgenden langen Nachbehandlung
vor. In den Fällen von doppelseitiger Ankylose erkennt er, je nachdem sie zu¬
gestanden wird, die Nützlichkeit der Osteotomie auf der einen und der Re¬
section auf der anderen Seite an.
Panzeri betont die A^orzüge der Osteotomia subtrochanterica in den
Fällen von wirklicher knöcherner Ankylose.
Oliva berührt beiläufig die Frage des Zeitpunktes, wo man, nach
Heilung der ursprünglichen Krankheit, einschreiten soll oder kann, und bemerkt,
dass die Wahl der Operation abhängt von der Stellung des Gliedes.
Panzeri glaubt, obgleich es schwierig ist, allgemeine Grundsätze in
Bezug auf den operativen Eingriff bei tuberculösen Ankylosen festzusetzen, dass
man zunächst eine gründliche Untersuchung des Patienten in Chloroformnarkose
vornehmen und, wenn es gelingt, das Redressement force machen sollte. Wenn
die fibrösen Gewebe dies nicht gestatten, so ist die Methode von Lorenz am
Platze. Sollte die Krankheit noch nicht gänzlich ausgeheilt sein, so muss man
abwarten. Ist die Ankylose knöchern, so ist die Meisselresection vorzu¬
nehmen.
Secchi fasst in Bezug auf den Eingriff die Gelenkerkrankung und die
nachfolgende Deformität ins Auge. Ist die Erkrankung, für gewöhnlich tuber-
culös, acut, — radicaler Eingriff mit nachfolgender orthopädischer Behandlung.
In den Fällen von traumatischer Deformität oder wenn dieselbe auf puerperalen
Störungen beruht, ist ein möglichst frühzeitiger Eingriff angezeigt.
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280
Referate.
Porta (Mailand). Besonderheiten in der Behandlung der Spon¬
dylitis.
Porta zeigt, dass die Behandlung der Spondylitis nur dann rationell
ist und befriedigende Resultate ergibt, wenn sie sich gründet auf die verschie¬
denen Störungen an den Knochen, Ligamenten, Meningen und am Rückenmark
selbst während der einzelnen Perioden der Krankheit. Er lässt einen kritischen
Ueberblick über die verschiedenen Behandlungsmethoden folgen, indem er ver¬
sucht, die Bettruhe, die Gewichtsextension, das Corsett und die chirurgischen
Eingriffe auf bestimmte Indicationen zurückzuführen.
Zum Schluss beschreibt er die orthopädische Behandlung während der
Periode der Wiederherstellung, ihre Indicationen, ihre Dauer u. s. w.
Agustoni (Mailand). Die Massage in der Orthopädie.
Agustoni specificirt den physiologischen Act der Massage und schliesst
daraus auf die allgemeinen, therapeutischen Indicationen, besonders in Bezug
auf die praktische Orthopädie, d. h. auf die congenitalen und rhachitischen De¬
formitäten, auf die Abweichungen des Rückgrates, auf die Gelenksteifigkeiten,
auf die Contracturen, Pseudoarthrosen, deformen Gallus u. s. w.
Brunelli (Mailand). Die verschiedenen operativen Behandlungen
des Klumpfusses.
Kritische Beschreibung der verschiedenen Behandlungs- und Operations¬
methoden, wie sie heute im allgemeinen und im speciellen im ,Institutezu
Mailand ausgeübt werden, mit Einschluss der in Narkose nach Lorenz aus¬
geführten Operationen des Pes planus. Vorstellung von Abbildungen von nach
Phelps Operiiien mit befriedigenden Resultaten.
Beschreibung eines Schuhes für Plattfüsse, wie er im Institute ge¬
braucht wird.
Motta bemerkt, dass er vorzügliche Resultate auch functionell zunächst
von den nach Phelps Operirten gehabt hat, ebenfalls mit dem ,Etappen¬
verband“ nach Wolff, selbst in sehr schwierigen Fällen.
Oliva berichtet die Operationen nach Poncet und Bayer (1891 und
1892) und sagt in Bezug auf die operative Behandlung des Pes equinus para-
lyticus, dass er manchmal zum Zwecke der Verlängerung der verkürzten
Achillessehne im Zickzack incidirt hat, indem er darauf die Immobilisation in
nicht vollständige Correction folgen lässt.
Er hat auch die Operation nach Gibney wegen Talipes ausgeführt, mit
sehr gutem augenblicklichem Resultat. Der definitive Erfolg ist ihm unbekannt.
Zum Schluss berichtet Oliva über einen Fall von Naht des
durch eine alte Fractur getrennten Olecranons und über einen
Fall von Resection am Sprunggelenk wegen Pes valgus trau-
maticus (keilförmige Resection des Gelenkendes der Tibia und Osteotomia
linearis supramalleolaris der Fibula).
Die Sitzungen sind zu Ende.
Die 2. Versammlung wird zu Turin stattfinden: Gamba, Ehrenpräsident.
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Referate.
281
Panzeri, Präsident. Oliva und Nota, Vicepräsidenten. Motta, Secretär
und Agustino, ökonomischer Verwalter. Motta.
Neuere Arbeiten Uber die Steilschrift.
Referent: Georg Burckhard-Würzburg.
A) Alois Jos. Ruckert, Die Steilschrift des deutschen und lateinischen Alpha¬
betes und der ZiÖern. Würzburg, Staudinger 1892. 142 S.
Verf. erwähnt in der Einleitung die verschiedenen Schädlichkeiten, die
das Schreiben überhaupt auf den sich entwickelnden Organismus der Kinder
auBübt, sowie die in Würzburg über diesen Punkt gemachten Untersuchungen
und deren Resultate. Diese Schädlichkeiten werden gemindert durch Einführung
der Steilschrifb, da bei dieser die Körperhaltung unwillkürlich eine bessere ist
als bei der Schrägschrift. Gleichzeitig gibt Verf. einen neuen Lehrgang zur
Erlernung der Steilschrift an, speciell zur Erlernung derselben im Uebergang
von der Schrägschrift. Sodann stellt er Regeln auf über Lage des Heftes, über
Pult und Sitze, über Arm-, Rumpf, Kopf-, Hand- und Federhaltung, sowie über
Gröjäse der Buchstaben und das Verhältniss der einzelnen Theile derselben
unter einander. Ferner spricht er eingehend über Schnellschreibübungen und
Taktschreibübungen und deren Werth. Daran schliessen sich Bemerkungen über
Vorübungen an für die einzelnen Buchstabentheile.
Im zweiten Theile (S. 51—129) gibt Verf. eine detailirte Beschreibung
über Theorie und Praxis beim Lehren und Erlernen der einzelnen Buchstaben
(die Anordnung der Buchstaben ist dabei die, dass mit den einfachen begonnen
wird, und dann die anderen, je nach dem Grade der Schwierigkeit, folgen, und
zwar sowohl für das deutsche als auch das lateinische Alphabet), sowie eine
kurze Anleitung zum Gebrauche der von ihm angegebenen „Lemhefte für die
Steilschrift“.
Zum Schluss erwähnt Verf. noch zwei von ihm erfundene Schreibgeräthe.
Das erste ist ein sog. „Buchhalter“. Derselbe hat den Zweck, das Ab¬
schreiben aus einem neben dem Schüler liegenden Buch oder einer Vorlage
zu vermeiden; denn dadurch, dass der Schüler beim Abschreiben den Kopf und
in Folge des.sen auch den Körper nach links dreht, leidet nicht nur die gute
Körperhaltung, sondern werden auch die Augen angestrengt. Die Benützung
des Buchhalters erfolgt in der Weise, dass derselbe vor dem Schüler an der
Bank befestigt und das Buch hineingeklemmt wird; nun steht er so vor dem
Schreibenden, dass ein einziger Augenaufschlag genügt, um die Vorlage zu er¬
blicken.
Das andere Schreibegeräth, an dem auch der Buchhalter angebracht
werden kann, ist ein „Schreibebrett“. Bei der Construction desselben ging Verf.
von dem Gedanken aus, dass alles Schreiben auf einer horizontalen Fläche ver¬
werflich sei. Deshalb ist das Schreibebrett so construirt, dass es auf den Tisch
gestellt in einem Winkel von 5—30® geneigt werden kann. Ein grosser Vor¬
zug dieses Apparates ist, dass man ihn, sobald er nicht mehr benutzt wird,
Zusammenlegen kann und seine Aufbewahrung keine Schwierigkeit macht.
Der Zweck beider Apparate ist nach des Verf. eigener Angabe der, „die
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282
Referate.
Steilschrift zu unterstützen, die Sehkraft zu unterhalten resp. zu schonen, sowie
die Schüler vor Rückgratsverkrümmungen zu schützen.“
Ich habe mich durch persönliche Anschauung von dem praktischen Nutzen
dieser beiden Apparate überzeugt und kann dieselben sowohl für den Schul¬
gebrauch als auch für das Haus mit bestem Gewissen empfehlen; der Preis
derselben ist ein sehr massiger.
B) E. Bayr, Steile Lateinschrift. 3. Aufl. Wien, Richter, 1892. 175 S.
Verf., der speciell für die steile Lateinschrift eintritt, gibt nach einem
genauen und ausführlichen Verzeichniss aller von 1853 an über die Frage der
Steilschrift erschienenen Abhandlungen 1. eine Zusammenstellung der Ansichten
verschiedener Ophthalmologen und Orthopäden über die Schädlichkeiten der
durch die Schrägschrift herbeigeführten schlechten Körperhaltung und die zur
Minderung dieser Schädlichkeiten gemachten Vorschläge und Gutachten der
verschiedenen Aerzte.
2. Berichte von Lehrern und Lehrerinnen Wiener Schulen über die mit
Einführung der Steilschrift erzielten Erfolge und über den von ihnen beob¬
achteten Nutzen derselben.
3. Beschlüsse und Verfügungen einzelner Regierungen uud Commissionen
betreffs Einführung der Steilschrift, sowie auch die Gutachten und ürtheile ver¬
schiedener Zeitungen.
Er stellt dann selbst genaue Regeln auf über Körperhaltung und Heft¬
lage bei der Steilschrift und tritt zum Schluss warm ein für die allgemeine
Verbreitung der lateinischen Schrift, im Gegensatz zur deutschen.
Ein Anhang enthält Schriftproben von Steilschrift Schreibenden und Vor¬
lagen für die Steilschrift, sowie Photographien schräg und steil schreibender
Schulkinder.
C) Die vom ärztlichen Bezirksverein München zur Prüfung des Einflusses der
Steil- und Schiefschrift gewählte Commission kommt nach ihrem in Nr. 28
der Münchener medicinischen Wochenschrift veröfientlichten Bericht auf
Grund von Messungsergebnissen zu folgenden, die Steilschrift begünstigen¬
den, Resultaten:
1. Bei Steilschrift sitzen weniger Schüler augenfällig schief als bei Schräg¬
schrift (Verhältniss 5:7); absolut gerade sitzen bei Steilschrift gegen Schräg¬
schrift 25,4^0 gegeii 11,4 7« •
2. Bei der Steilschrift zeigt die 2. Classe eine erheblich bessere Körper¬
haltung als die 1.; bei der Schrägschrift tritt diese Besserung in der Körper¬
haltung in den höheren Classen nicht ein.
3. Bei der Steilschrift zeigen nicht nur beträchtlich mehr Schüler gerade
Kopfhaltung, als bei Schrägschrift, nämlich 3mal so viel, sondern es ist auch
die Neigung des Kopfes zur Seite eine beträchtlich geringere als bei Schräg¬
schrift (Verhältniss 8:13). Schiefe Kopfhaltung bedingt aber in gleichem
Verhältniss Vorwärtsneigung des Kopfes und damit Annäherung des Auges an
die Schrift.
4. Bei der Schrägschrift beträgt die Entfernung zwischen Auge und Schrift
bezw. Federspitze durchschnittlich 5,6 cm weniger als bei Steilschrift.
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Referate.
283
5. Die durch ihr gegenseitiges Verhalten besonders ungünstigen Körper-
und Kopfstellungen werden vorwiegend bei der Schrägschrift getroflPen.
Die Untersuchungen sollen noch weiter fortgesetzt werden.
C. Hasse, Die Ungleichheiten der beiden Hälften des menschlichen Beckens.
(Aus der anatomischen Anstalt zu Breslau.) Archiv für Anatomie und
Physiologie. Anatomische Abtheilung 1891.
C. Hasse, Spolia anatomica. (Aus der anatomischen Anstalt zu Breslau.)
Archiv für Anatomie und Physiologie. Anatomische Abtheilung 1891.
Hasse hat schon früher (die Formen des menschlichen Körpers und die
Formveränderungen bei der Athmung. Jena 1888 — 1890) die Ungleichheiten
der beiden Körperhälften beschrieben und nachgewiesen, dass dieselben in be¬
stimmter Beziehung zu dem seitlichen Ausweichen der Wirbelsäule stehen. Er
weist auf die Künstler hin, welche theilweise diese Ungleichheiten schon längst
l^ekannt haben und verurtheilt diejenigen Anatomen, welche den Satz aufstellen,
dass beide Hälften des Körpers gleich gebaut seien, besonders wenn sie das in
einem für Künstler bestimmten Werke thun.
Die Ungleichheiten sind nur bei dem erwachsenen Menschen klar und
deutlich, lassen sich dagegen bei Kindern und Thieren nicht nachweisen. Ihre
Ursache ist unbekannt.
Hasse citirt Isen flamm und Rosenmüller, die schon im Jahre
1800 ausgesprochen haben, dass „die Ungleichheiten und Unregelmässigkeiten
der Beckenhöhle ebenso individuell sind, wie die der Himschalenhöhle.“ In
der späteren Literatur finden sich zwar öfters Bemerkungen über verkommende
Ungleichheiten der beiden Beckenhälften, jedoch sind sie vereinzelt und unzu¬
sammenhängend (s. das Original).
Zur Prüfung der Verhältnisse wählte Hasse das Becken eines wohl-
g-ebauten 42jährigen Mannes.
An der unversehrten Leiche wurde in Bauchlage eine mässige Abweichung
der Wirbelsäule nach rechts constatirt. In der Rückenlage das relative Tiefer¬
stehen und das stärkere Vorragen der Spin. ant. super, des Darmbeins.
Hasse schliesst daraus, dass auch intra vitam im aufrechten Stehen die
rechte Spina um ebenso viel nach vom über die linke heiTorgeragt haben würde
und erwähnt, dass auch weitere Untersuchungen (bei Lebenden oder bei Todten?
der Ref.) gezeigt, dass bei Menschen mit normaler rechtsseitiger Krümmung
der Wirbelsäule die rechte Körperhälfte weiter vorsteht als die linke.
Behufs weiterer Untersuchung wurde das Becken sorgfältig unter Scho¬
nung der Bänder herausgeschnitten und in einem eigens hiezu construirten
Apparat aufgehängt und zwar unter Berücksichtigung der zuerst gefundenen
Stellungsveränderungen an den Spinae. Ueber die genaue Einstellung in Be¬
ziehung auf die Beckenneigung spricht sich Hasse nicht aus. Es folgen nun
3 photographische Aufnahmen, von vorn, von rechts und von links, welche mit
aller wünschbaren Vorsicht und mit Zuhilfenahme eines Messgitters vollzogen
wurden. Der Fixationsapparat gestattete eine genaue Drehung des Objects um
je 90®. An den sehr schönen Abbildungen, welche in der Hälfte der natür-
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. II. Band. |9
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284
Referate.
liehen Grösse hergestellt sind, lassen sich nun eine Reihe von Asymmetrien fest¬
stellen. Besonders auffällig ist in der Ansicht von vorne die Verbreitemng
des vorderen Kreuzbeinflügels, der Höherstand der linken Darmbeinschaufel und
die Verlängerung der linken Beckenhälfte, wenn man als Maass eine Linie vom
linken Sitzhöcker zum obersten Punkte der Darmbeinschaufel annimmt.
Hasse gibt ferner an, dass, je geringer der Unterschied in dem Stande
der beiden Darmbeinstacheln, desto geringer der Grad der normalen Skoliose
sei. Aus der Stellung der Querfortsätze der unteren Lendenwirbel und der
Stellung und Gestalt des Kreuzbeins schliesst Hasse auf eine Rechtsneigung
der Wirbelsäule, welche einen tieferen Stand der rechten Beckenbälfte zur Folge
hat, der sich aber in den oberen Theilen derselben mehr wie in den unteren
geltend macht. Auch die rechte Hüflpfanne steht tiefer. Die Beckenachse ist
in ihrem oberen Theile stärker nach aufwärts links und hinten gekrümmt, wie
im unteren.
An der Wirbelsäule erkennt man (soweit sie sich eben überblicken lässt
vom 4. Lendenwirbel an!) eine Drehung, so dass die rechte Hälfte nach vom
vorgeschoben ist. Aber auch das Becken ist im selben Sinne nach links ge¬
dreht. Dabei ist der linke Beckenknochen schlanker, höher, der rechte ge¬
drungener, die Schaufel etwas übergeneigt, breiter. Die rechte Beckenbälfte
ist weiter wie die linke.
In den Spolia anatomica beschreibt Hasse die Eigenthümlichkeiten eines
weiblichen Beckens.
Hier fand Verf. umgekehrte Verhältnisse. Die linke Spina ilei ragte vor
und stand tiefer. Die Wirbelsäule war nach links abgewichen.
Hasse stellt nun folgende Sätze auf:
,Die Ungleichheiten der beiden Beckenhälften lassen sich auf 3 Erschei¬
nungen zurückführen:
1. Die Seitwärtsneigung der Wirbelsäule (Skoliose).
2. Die Drehung der Wirbelsäule um die Längsachse (Spiraldrehung).
3. Das Ueberwiegen der rechten Hälfte an Masse.
Bei der Seitwäiisneigung der Wirbelsäule nach rechts ist die Lenden¬
wirbelsäule nach links gedreht, umgekehrt dagegen nach rechts, wenn die
Wirbelsäule seitliche Neigung nach links zeigt.
In welchem Sinne auch immer die Wirbelsäule seitwärts geneigt und ge¬
dreht ist, in der Regel überwiegt die rechte Beckenhälfte an Masse und Aus¬
dehnung.
Welche Ursache, oder welche Ursachen diese allmählich im Laufe der
körperlichen Entwickelung nach der Geburt des Menschen zu Tage tretenden
Grunderscheinungen haben, ist unbekannt.“
In dem vorliegenden Falle nun führte nach Hasse die Linksneigung der
Wirbelsäule und Becken zu ähnlichen Veränderungen in der Stellung, Lage und
Grösse der Beckenschaufeln im umgekehrten Sinne wie im erst beschriebenen
Falle. Dagegen wahrt die trotzdem vorhandene stärkere Entwickelung der
rechten Beckenhälfte dem Becken gewisse Eigenschaften, die auch bei dem
männlichen Becken vorhanden waren.
Uebergehend zu der Aetiologie der Skoliosen, ei*wähnt H a s s e am Schlüsse
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Referate.
285
seiner Arbeit, dass die habituelle Skoliose stets mit einer Drehung der Wirbel¬
säule im entgegengesetzten Sinne verknüpft hat, wie das bei der physiologischen
Skoliose der Fall sei. „Je stärker die Seitwärtsneigung, desto stärker
dabei die Drehung.“
Hierzu seien dem Referenten einige Bemerkungen gestattet: Es ist in
der Arbeit von Hasse anfänglich gesprochen von einer Abweichung der Wirbel¬
säule nach rechts und später von einer physiologischen Skoliose nach rechts.
Dabei ist ohne Zweifel die Convexität der Wirbelsäule nach rechts gerichtet im
oberen Theil. Später spricht Verf. von einer Rechts n e i g u n g der Wirbelsäule
und von der damit verknüpften Linksdrehung. Umgekehrt bei dem zweiten
Falle, dem weiblichen Becken.
Nun ist aber bei Rechtsneigung die Convexität nicht nach rechts, sondern
sehr wahrscheinlich nach links gerichtet und es kann durch den Gebrauch dieser
beiden Ausdrücke ein Missverständniss nicht entstehen. Die von Hasse be¬
schriebene Drehung der Wirbelsäule: bei Rechtsneigung nach links, bei Links¬
neigung nach rechts ist also eine im orthopädischen Sinne widersinnige
Drehung, wenn man Rechtsneigung als Skoliose nach rechts auffassen würde.
Gewöhnlich findet die Drehung im Sinne der Convexität statt, d. h. bei Aus¬
biegung der Wirbelsäule nach rechts ebenfalls nach rechts. Jedoch ist anzu¬
nehmen, dass bei der Neigung nach einer Seite eine Convexität nach der anderen
entstehe und damit die von Hasse beschriebene auch bei Skoliose im gleichen
Sinne beobachtete Drehung, wenn auch diese sich bei den wohlbekannten Seit¬
wärtsneigungen nur im unteren Theile der Wirbelsäule geltend macht. Die
imponirenden Seitenabweichungen müssen in den beiden Fällen höher oben ge¬
legene Gegenkrüramungen gewesen sein. In diesem Falle stimmen die Beob¬
achtungen Hasse’s vollständig mit bisherigen Beobachtungen überein und wir
zweifeln nicht daran, dass der Begriff Neigung in diesem Falle streng auf¬
zufassen sei, dagegen nicht mit Ausbiegung nach . . . übersetzt werden dürfe.
Selbstverständlich haben die vorliegenden Untersuchungen Hasse’s für
(len Orthopäden ein ungemeines Interesse und werden bei Beurtheilung besonders
der tief gelegenen Skoliosen und Totalskoliosen zu berücksichtigen sein.
In Bezug auf die Aufstellung der beiden Becken im Sinne der Becken¬
neigung möchte Referent nun die letzteren als zu stark gewählt bezeichnen
und hofft in nächster Zeit Gelegenheit zu haben, nach Messungen am Lebenden
den Beweis dafür zu erbringen. Es erscheint ferner etwas fraglich, ob man
die auf einem ebenen Tisch an der Leiche gefundenen Stellwagen direct auf
den Lebenden übertragen dürfe. Wilhelm Schulthess-Zürich.
Lorenz, Operative Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. (Centralblatt
für Chirurgie 1892, Nr. .31.)
Lorenz hat einen Fall von angeborener doppelseitiger Hüftluxation
(Tjähriges Mädchen) nach der Methode von Hoffa operirt; hatte dabei aber
sehr grosse Schwierigkeiten, den Kopf nach abwärts zu ziehen und in die
Pfanne zu bringen; der Wnndverlauf war ungünstig und schliesslich trat Re-
cidiv ein.
Lorenz war nach dieser Erfahrung überzeugt, dass die pelviotrochanteren
Muskeln nicht das Haupthinderniss der Reduction seien. Die weitere Unter-
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286
Referate.
Buchung von Kindern mit angeborener Hüftluxation ergab auch, da^s die am
Tuber iscbii inserirenden Muskeln (Semimembr., Semitend., Biceps fern ); ferner
die Adductoren und die von der Spina entspringenden Muskeln (Sartor., Tensor
fasciae, Rectus) bei Zug in der Längsrichtung wie scharf gespannte Saiten sich
anfühlten, während die Gesässmuskeln auch bei stärkstem Zug schlaflP blieben.
Damit stimmt die Ueberlegung überein, dass wenn der Kopf in die Höhe rückt,
sich die Muskeln am meisten verkürzen müssen, deren Insertionspunkte sich
einander nähern; also diejenigen Muskeln, welche der Längsrichtung des Femurs
parallel gehen; je grösser der Winkel ist, den ein Muskel mit der Achse des
Femur macht, um so geringer ist seine Verkürzung; bei rechtem Winkel muss
sogar eine Verlängerung stattfinden (Quadratus femoris); ebenso ist es der Fall
beim Ileopsoas, beim Pyriformis, Obturator intern. Gemelli, Obturator extern.
Lorenz entwarf daher folgenden Operationsplan: Das Wesen der Ope¬
ration besteht darin, dass der Kopf der Pfanne gegenüber gestellt wird (Re-
duction), bevor die Pfanne gebildet und der Kopf reponirt wird. Die Roduction
soll durch theils subcutane, theils offene Myotomien der Tuber-, Spinamuskeln
und der Adductoren in der Gegend ihrer oberen Insertion ermöglicht werden:
die pelviotrochanteren Muskeln sollten intact bleiben; das Gelenk wird von
vorne eröffnet, um von hier aus Pfannenbildung und Reposition vorzunehmen.
4 Fälle wurden so operirt (darunter ein ISjähriges Mädchen); in einem
Falle (5j übriges Mädchen) gelang die Reposition ohne Eröffnung des Gelenks.
Lorenz würde darin, wenn dies auch sonst bei kleinen Kindern gelingt, eine
wesentliche Vereinfachung der Operation erblicken.
Müll er-Stuttgart.
Karewski, Die operative Behandlung der angeborenen und anderer Hüft¬
gelenks Verrenkungen. (Centralblatt für Chirurgie 1892, Nr. 36.)
Karewski sieht die Ursache für die Unmöglichkeit, eine angeborene
Hüftluxation zu reponiren, weder in der Verkürzung der pelviotrochanteren
(Hoffa), noch in der der Spina- und Tubermuskeln (Lorenz), sondern in
der Missgestalt der Gelenkpfanne und des Gelenkkopfes. Dass die Muskeln
nicht die Ursache sind, sieht Karewski durch den Umstand bewiesen, dass
es wenigstens bei jüngeren Kindern möglich ist, durch Zug am Bein die Ver¬
kürzung auszugleichen, also Pfanne und Kopf einander gegenüberzustellen; bei
längerem Bestehen tritt allerdings Schrumpfung der der Schenkelachse parallel
verlaufenden Muskeln ein, so dass sich Karewski in zwei Fällen genöthigt
sah, die betreffenden Muskeln zu durchschneiden. — Karewski fand in keinem
Falle von angeborener Verrenkung eine auch nur annähernd normale Pfanne;
der Schenkelkopf war auch pathologisch gestaltet, so dass wohl die Gelenk¬
enden einander gegenübergestellt werden konnten, aber kein Ineinandergreifen
der Theile sich erzielen liess.
Die Pfanne war nur als eine flache Dalle angedeutet: der Limbus carti-
lagineus spannte sich als festes Band platt aus und beschränkte den ohnehin
engen Raum noch mehr. — Der Schenkelkopf hatte eine kegelförmige Gestalt
und setzt sich rechtwinklig an den Schenkelhals an. — Die Gelenkkapsel war
nach oben von der Pfanne abnorm ausgedehnt, der untere Theil abnorm fest.
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Referate.
287
Die Pfanne musste daher bei der Operation für die Aufnahme des Kopfes
mit Hohlnieisseln erweitert werden. Zweckmässig war dabei, den Limbus car-
tilagineus einzuschneiden und ihn dadurch für die Aufnahme des Kopfes zu
entfalten; er umfasst dann den letzteren so, dass er einen Widerstand gegen
das Hinaufrücken desselben bildet. Genügte dieser Schutz nicht, so wurde
durch Einschlagen von Nägeln in den Pfannenrand für 6—8 Tage ein künst¬
licher Wall geschaffen.
Der Operation ist eine Extensionsbehandlung vorauszuschicken; in einem
Falle von angeborener Luxation, wo jene nicht genügte, um den Kopf der
Pfanne gegenüberzustellen, durchschnitt K a r e w s k i die Muskeln.
Karewski hat auf diese Weise 5 Fälle von angeborener Hüftluxation
operirt; ein Fall war doppelseitig, die anderen einseitig; in allen Fällen blieb
der Kopf zunächst an seiner Stelle: der Gang wurde gebessert; die gleiche
Länge der Beine wurde nie erreicht wegen des Fehlens des Halses und der
rechtwinkligen Stellung des Kopfes zum Schaft. — Das spätere Resultat war
um so besser, je länger die orthopädische Nachbehandlung dauerte.
In 2 Fällen, wo nur 3 Monate lang Apparate getragen wurden, rutschte
der Schenkel wieder in die Höhe; in 2 jetzt noch lebenden Fällen, die zweck¬
mässig nachbehandelt wurden, ist der Gang fast wie bei Gesunden.
Karewski hat, bevor er die angeborenen Luxationen in Angriff nahm,
Fälle von pathologischer Luxation operirt; es sind jetzt im ganzen 9. Die
8 paralytischen Luxationen waren sämmtlich Luxatio infra pubica; bei allen
gelang die Reposition; alle erhielten frei bewegliche Gelenke und bei keinem
trat ein Recidiv ein; bei der Luxatio infra pubica wirkt nach der Reposition
der Gehact dem Entstehen eines Recidivs entgegen.
Als Ergebniss seiner Beobachtungen betrachtet Karewski, dass die
blutige Reposition des verrenkten Schenkelknochens, sei es aus welcher Ursache
die Luxation entstand, immer da berechtigt ist, wo andere Massnahmen nicht
zura Ziele führen. Müller- Stuttgart.
Hoffa, Zur operativen Behandlung der angeborenen Hüftgelenksverrenkung.
(Centralblatt für Cliirurgie 1892, Nr. 45.)
Hoffa wendet sich gegen die beiden vorstehenden Arbeiten. — Lorenz
gegenüber betont er, dass er die Schrumpfung der Längsmusculatur durchaus
nicht übersehen habe; er mache im Gegentheil in seinem Lehrbuch der ortho-
jiädischen Chirurgie ausdrücklich darauf aufmerksam; bei kleinen Kindern ge¬
linge es, durch allmähliche Dehnung die Weichtheile zu verlängeren, bei älteren
werde die Spannung besser durch Tenotomie in der Kniekehle beseitigt; ebenso
müssen bei älteren Individuen die Fascia lata und die von der Spina herab¬
ziehenden Muskeln durchtrennt werden; ob offen oder subcutan ist Geschmacks¬
sache ; Hoffa zieht vor, zu sehen, was er durchschneidet.
Die Reposition ohne Eröffnung des Gelenks vorzunehmen, wie Lorenz
vorschlägt, hat Hoffa an mehreren Kindern früher versucht, aber ohne
Erfolg.
Karewski gegenüber weist Hoffa den Vorwurf zurück, als ob er die
Veränderungen des Skelets zu wenig berücksichtigt habe; er verweist auf
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Referate.
seine früheren Publicationen, in denen er die betreflFenden pathologischen Ver¬
änderungen und die Bildung der neuen Pfanne ausführlich beschreibt.
Durch die beiden Arbeiten von Lorenz und Karewski sieht sich
Hoffa nicht veranlasst, von seiner Methode, die er jetzt 24mal ausgeführt
hat, und deren Resultate er später dem Chirurgencongress vorführen will, ab¬
zuweichen.
Hoffa betont nochmals, dass möglichst fiühzeitig operirt werden solle.
Müller- Stuttgart.
H. Eisenhart, Beiträge zur Aetiologie der puerperalen Osteomalacie. Deutsch.
Archiv f. klin. Medicin 1892, Bd. XI, IX S. 156.
Ebenso wie Fehling, gelangt auch Eisenhart dazu, als Grundleiden
bei der Osteomalacie einen pathologischen Zustand der Ovarien anzunehmen.
Als Art dieser Anomalie nimmt Eisenhart mit Rücksicht auf die grosse Fer¬
tilität Osteomalacischer (auch nach Ausbruch der Krankheit, auf das häufigere
Vorkommen von Zwillingsschwangerschaften, auf diesbezügliche, wiederholte Be¬
funde an exstirpirten Ovarien, auf die aus dem Einfluss der ovariellen Thätig-
keit [Follikelwachsthum] auf die Blutvertheilung im kleinen Becken resultirende
Hyperämie in demselben u. a. m.) eine pathologisch erhöhte Thätigkeit der
Eierstöcke, eine Hyperproductivität derselben an. Diese das physiologische
Maass überschreitende Functionirung der Ovarien hat selbstverständlich eine
beträchtliche Steigerung des physiologischen Efiects derselben zur Folge: einen
an Extensität und Dauer ausserordentlich vermehrten Zufluss von Blut zu den
Weichtheilen und den Knochen des Beckens.
Die zweite Thatsache, die sich aus Eisenhartes Untersuchungen ergibt,
ist: dass die Osteomalacie mit einer Blutalteration verbunden ist, welche (neben
einer Verminderung des Hämoglobingehalts) in einer Abnahme der Alkalescenz
desselben besteht. Das so vei-änderte Blut vermag dann lösend auf die Kalk¬
salze des Knochens einzuwirken und theils durch seine chemische Reaction,
theils durch die Schnelligkeit seiner Strömung und die grosse Ausbreitung seiner
Angrifisfläche die bekannten Veränderungen zunächst am Becken hervorzu¬
bringen. G. Joachimsthal-Berlin.
Rudolf Volkmann, Ueber die Regeneration des quergestreiften Muskelgewebes
beim Menschen und Säugethier. Beiträge zur pathologischen Anatomie
von Ziegler. Bd. XII.
Bei dem grossen Interesse, das die im Titel angegebene Frage für den
Orthopäden besitzt, der ja die offene Muskeldurchschneidung so oft auszuführen
Gelegenheit hat, dürfte es angezeigt erscheinen, die Resultate mitzutheilen, die
R. Volk mann bei einer ausgezeichneten experimentellen Untersuchung ge¬
wonnen hat.
Die Regeneration des quergestreiften Muskelgewebes geht immer von den
Kernen der alten Fasern aus. Die Neubildung der jungen Elemente kann in
oder ohne directen Zusammenhang mit den alten Fasern vor sich gehen. Geht
die Regeneration ohne directen Zusammenhang vor sich, so gleicht die Rege¬
neration im allgemeinen dem embryonalen Typ^s der Muskelfaserbildung.
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289
Findet sie im Zusammenhang mit der alten Muskelfaser statt, so entspricht sie
dem seit Neumann als Knospenbildung bezeichneten Vorgang. In beiden
Fällen stellt ausnahmslos die Wucherung der Muskelkeme und des diese Kerne
umgebenden Protoplasmas den Anfang des Regenerationsprocesses dar, während
die Bildung von Muskelknospen durch directes Auswachsen der contractilen
Substanz nicht nachzuweisen ist. Deshalb bilden aber die beiden Arten der
Muskelwiederbildung keine Gegensätze, sondern sie sind nur verschiedene Er¬
scheinungsformen desselben Princips. Beide können auch gleichzeitig neben¬
einander Vorkommen imd ausserdem gibt es üebergangsformen zwischen beiden,
ln allen neugebildeten Elementen ist frühzeitig in dem Protoplasma eine feine
fibrilläre Streifung erkennbar, während die Querstreifung in der Regel sehr viel
später deutlich zum Vorschein kommt.
Die Muskelregeneration nach dem embryonalen Typus findet sich haupt¬
sächlich nach solchen Schädigungen, welche vorzugsweise die contractile Sub¬
stanz getroffen haben z. B. nach Erfrierungen. Die Muskelregeneration nach
I)urchschneidungen der Muskeln kommt dagegen vorzugsweise auf dem Wege
der Knospenbildung zu Stande.
Transplantirte Muskelstücke bleiben niemals lebensfähig, sondern sterben
ausnahmslos sofort ab und werden später resorbirt. An ihre Stelle tritt eine
Narbe, die, wie jede andere Muskelnarbe partielle Muscularisation zeigt.
Prachtvolle Photogramme und Zeichnungen erläutern den Text, dessen
Studium grosse Anregung gewährt. Hoffa-Würzburg.
Hans Virchow, Demonstration des Muskelmannes Maul.... S.-A. aus der
Berliner klin. Wochenschrift 1892, Nr. 28.
Virchow hebt bei der Demonstration in erster Linie hervor, dass der
Demonstrii-te einige Anomalien darbietet, hauptsächlich eine erhebliche Ver¬
kürzung des rechten Beins, durch eine früher erlittene Fractur, mit consecutiver
Skoliose, die durch Ausgleichung der Verkürzung fast verschwindet. Die un¬
gewöhnliche Muskelentwickelung soll in diesem Falle ererbt (Vater, Grossvater,
Urgrossvater) sein. Besonders stark ist Thorax-, Schulter- und Armmusculatur.
Eine Untersuchung der Kraft einzelner Muskeln hat Virchow nicht versucht,
weil er dieselbe der synergischen Thätigkeit anderer Muskeln wegen als zu
schwierig hält.
In Bezug auf synergische Thätigkeit hat Virchow beobachtet, dass der
Mann beim Emporstemmen einer Last den Oberkörper zurückbringt, er leitet
davon die Entstehung der relativ starken Lordose her.
Ferner: Bei belastetem Arm bleibt die Scapula während der Senkung
des Arms, wenn die horizontale Haltung nahezu erreich ist, mit dem Oberarm
fixirt, bis zur vollständigen Senkung in senkrechte Ruhelage. Erst dann kehrt
die hierdurch während der Senkung rückwärts und medianwärts verlagerte
Scapula zu ihrer Ruhelage zurück. Virchow sucht die Bedeutung dieser
(nicht nur hier, sondern auch bei anderen Menschen zu beobachtenden Ref.)
Erscheinung darin, dass der Arm durch die Fixation am Abgleiten an der
Pfanne verhindert werde. Dieses Abgleiten könne jedoch besonders leicht bei
horizontaler Armhaltung stattfinden.
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290
/
Referate.
Die starke Muskelentwickelung hindert theilweise die Beweglichkeit,
dass z. B. der teres major das Anlegen des Arms an den Rumpf unmöglich
macht.
Zum Studium der Anatomie am Lebenden eignen sich besonder der
Rücken und das Ellenbogengelenk.
Der Mittheilung ist eine mit dem Virchow’schen Rückenzeichner aul¬
genommene Rückenkurve beigegeben. Vortragender erwähnte bei der Demon¬
stration die unverhältnissmässig starke Lendenlordose. Nach der Rücken¬
kurve zu urtheilen würde man jedoch in erster Linie die Brustkyphose
ungemein übertrieben finden, in weit höherem Grade als die Lendenlordose..
Der unterste Theil der Curve steht verhältnissmässig steil, was auf eine relativ
geringe Beckenneigung schliessen lässt. Zur Erklärung der starken Rücklage¬
rung der oberen Lenden- und unteren Brustwirbelsäule könnte auch die Bein¬
verkürzung rechts beigezogen werden, üebrigens gibt es Athleten mit absolut
flachem Verlauf der Armfortsatzlinie, wie sich Ref. in einem Falle überzeugen
konnte. Wilhelm Schulthess-Zürich,
Leopold Ewer, Einige Bemerkungen über den chronischen Muskelrheuma¬
tismus. Berliner Klinik, October 1892, Heft 52.
Ewer gibt einen kurzen historischen üeberblick der Anschauungen, die
man zu den verschiedenen Zeiten über das Wesen des Muskelrheumatismus ge¬
habt hat, und stellt dabei fest, dass vom zweiten Drittel dieses Jahrhunderts
an das Interesse, das die Aerzte vordem dieser Affection in hohem Grade zu¬
gewandt hatten, erheblich nachgelassen hat.
Indessen kann auch er selbst — was Definition und Aetiologie der Krank¬
heit anbetrifft — dem Altbekannten nichts Neues hinzufügen. •
Ewer versteht unter Rheumatismus «alle schmerzhaften Afifectionen der
Muskeln und der dazu gehörigen Sehnen, welche durch Erkältung oder durch
nicht zu ergründende Ursachen, die man in die Atmosphäre verlegt, entstan¬
den sind“.
Neben der allgemeinen Erkältungsiirsache stellt er noch als ätiologische
Momente hin: fortgesetzten Druck auf ein und dieselbe Stelle des Muskels
(als Beispiel: der Knopf eines üniformmantels während eines Feldzuges), ferner
Uebernnstrengung einzelner Muskeln oder Muskelgruppen; die Ermüdungsproducte
üben nach E w'e r’s Ansicht, falls sie nicht genügend früh durch die abführende
öefässe fortgeschaflft werden, einen derartigen Reiz auf die Gewebe aus, dass
eine chronische Entzündung entsteht.
Vor allem glaubt der Verfasser für die rechtzeitige Diagnose ein wich¬
tiges Merkmal gefunden zu haben. Er behauptet nämlich, dass Jahre bevor, ehe
der Patient von den eigentlichen rheumatischen Schmerzen befallen wird, der
exact untersuchende Arzt objectiv durch die Palpation Veränderungen im Muskel,
,Geschwülste“ oder «Geschwulstbildungen“, wie er sie nennt, nachw^eisen und
damit die Frühdiagnose auf chronischen Rheumatismus stellen kann. Dafür, dass
die betreffende Person von ihrem Krankheitszustand jetzt noch nichts empfindet,
weiss Ewer folgende Erklärung zu geben: Durch die sich beim Rheumatismus
?m Innern des Muskels oder im Perimysium externum abspielende Entzündung
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Referate.
291
findet eine Wucherung des interstitiellen Bindegewebes oder des Perimysium
externum statt, die sich als kleine erbsen- und linsengrosse Knötchen durch die
Palpation feststellen lässt. Diese Knötchen wachsen allmählich an Zahl und
Grösse auf Kosten des arbeitsfähigen Muskels weiter, ohne vorläufig spontan
Schmerz zu verursachen (der Schmerz entsteht durch Druck auf die sensiblen
Neiwenendigungen); bei Druck auf dieselben hat indessen der Patient schon
das Gefühl des Schmerzes. So spüren die Kranken die ersten Jahre überhaupt
den Druckschmerz, den die Geschwülste auf die Nervenendigungen ausüben,
nicht, da infolge der geringen Zahl oder Kleinheit der Geschwülste die Nerven¬
endigungen in dem weichen und nachgiebigen Muskelgewebe Raum genug
finden, dem Druck auszuweichen. Nehmen aber mit der Zeit die Anschw'ellungen
an Zahl und Grösse zu, oder tritt ein Umstand ein, der zeitweilig dasselbe
bewirkt, dehnen sie sich nämlich durch Aufnahme von Feuchtigkeit aus (aus
der Luft oder aus dem Blut, die sich dem Gewebe mitgetheilt hat?) und hat
dabei der Muskel durch Abnahme seiner elastischen Fasern schon au Nach¬
giebigkeit verloren, so ist kein Raum zum Ausweichen für die Nervenendigungen
mehr vorhanden, und der Druck auf dieselben kommt dem Patienten als
Schmerz zum Bewusstsein durch die von Zeit zu Zeit sich einstellende Aus¬
dehnung der ,Geschwülste“; durch Aufnahme von Feuchtigkeit erklärt Ewer
zugleich das attaquenmässige Auftreten der rheumatischen Schmerzen. Ferner
sieht er in der Abnahme der elastischen Muskelfasern durch Wucherung des
interstitiellen Bindegewebes die herabgesetzte Arbeitsfähigkeit der erkrankten
Muskeln erklärt. Zum Schluss glaubt Ewer noch auf seine besondere ünter-
suchungsmethode erkrankter Muskel aufmerksam machen zu müssen.
In der Behandlung mittelst Massage und Heilgymnastik bringt der Verf.
nichts Neues, da bekanntlich seit Jahren alle Mechanotherapeuten gerade den
Muskelrheumatisinus als für ganz besonders zugänglich für diese Behandlungs¬
methode halten. Auch die gleichzeitige Empfehlung heisser Bäder mit oder
ohne Zusatz ist allgemein bekannt. Benedix-Berlin.
P. Redard, Resultats eloignes de la eure des Absces froids par les injections
d’huile Jodolbrm^e. Gazette raedicale de Paris, 20. Aug. 1892.
Redard empfiehlt nach seinen Erfahrungen sehr die Jodoforminjections-
behandlung der kalten Abscesse. Von 30 bedeutenden, kalten Abscessen, von
denen 20 ,d’origine osseusse“ waren (12 bei Spondylitis), hat er durch die Jodo-
formölinjection 28 völlig geheilt, 2mal Besserung erzielt. Injicirt wird unter
allen aseptischen Cautelen eine sterilisirte Jodoformöllösuug (1 :101), nachdem die
Abscesshöhle punktirt und dann mit einer Lösung von Naphthol ^ 10,0, Aqu.
destill. q. s. u. s. 100,0, 90®/o Alkohol 5,0, solange ausgewaschen worden ist,
bis der ablaufenden Waschflüssigkeit kein Eiter mehr beigemischt ist. Nach¬
theile hat Redard von dieser Behandlung nie gesehen. Hoffa-Würzburg.
Georg Engler, Stuttgart. Fabrication des Arm- und Bruststärkers, Patent
Largiader.
Wir nehmen gern die Gelegenheit wahr, den Largiad^r’schen Arm- und
Bruststärker an dieser Stelle den Collegen zu em23fehlen, nachdem wir ihn
durch Jahre hindurch an unserer Klinik mit Erfolg verwendet haben.
H 0 f f a - W ürzburg.
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292
Referate.
Rosenfeld, lieber portative Holzverbände. Münch, med. Woch. 1892.
Rosenfeld schildert ausführlich die Technik der portativen Holzver¬
bände (vorzügliche Holzbinden zu denselben liefert der Tischler Slawitiaski.
Wien, N. Wassergasse 13) und theilt mit, dass er mit Erfolg versucht hat die
Hülsen zu Schienenhülsenapparaten auch aus Holz darzustellen.
H 0 f f a -W ürzburg.
0. Joachiinsthal, Lineare oder keilförmige Osteotomie. Berlin, klin. Wochen¬
schrift 1892, Nr. 34.
Joachimsthal spricht sich für die absolute Durchführung der linearen
Osteotomie bei rhachitischen Verkrümmungen aus, speciell bei denjenigen des
Unterschenkels, und verwirft gänzlich die keilförmige Osteotomie, welcher er
eine wohl etwas überschätzte Gebräuchlichkeit supponirt. Die Vortheile lägen
in der einfachen Ausführung der Operation, sowie in dem Umstande, dass
die lineare Osteotomie das verkrümmte Glied um ein Beträchtliches verlängert,
während die keilfömiige dasselbe verkürzt. Zur Stütze der principiellen Bedeutung
und Vorzüglichkeit der bisher »rein empirisch“ ausgeführten linearen Osteotomie
führt Joachimsthal des Weiteren das Wolffsche Transformationsgesetz an,
indem er mit Wolff annimmt, dfiss man nicht direct die Form des Knochens
abzuändern hat, sondern zunächst nur die Function, und damit erst indirect
die sich stets der Function von selbst anpassende Form.
Ob man nun sich diesem Princip anschliesst oder nicht, jedenfalls ver¬
dient JoachimsthaTs Vorschlag, die lineare Osteotomie zu bevorzugen, volle
Zustimmung. Rosenfel d-Nümberg.
B. Sachs, New-York, Die Hirnlähmungen der Kinder. Samml. klin. Vorträge
V. Volkmann. Nr. 46 u. 47. Neue Folge. Leipzig 1892.
Unter dem Namen „infantile Himlähmung* beschreibt Sachs ein genau
charakterisirtes, bis jetzt jedoch nicht genügend studirtes Krankheitsbild,
welches wegen seiner Folgezustände für den Orthopäden von grosser Wichtig¬
keit und Interesse ist. Die Häufigkeit dieser „infantilen Himlähmung* ist keine
geringe. Sachs selbst verfügt über 225 Fälle, Tornsend fand in dem
Krankenmaterial des Hospital for Ruptured and Crippled in einem Jahre
91 Fälle infantiler Hirulähmung neben 142 Fällen infantiler Spinallähmung.
Aetiologisch theilt Sachs die Himlähmung in drei Gruppen: 1. in die
vor der Geburt entstandene; 2. Lähmung infolge von Geburtstraumen; 3. acute
oder acquirirte Lähmungen. Das Krankheitsbild gestaltet sich bei allen dreien
klar und einheitlich: Bei Kindeim im zartesten Alter, von der Geburt an bis
zum 10. Lebensjahr, aber meist in den ersten Lebensjahren tritt eine spastische
Lähmung auf, welche sich am häufigsten als Hemiplegie entwickelt, sehr oft
aber auch als doppelte Hemiplegie (Diplegie) oder Paraplegie auftritt. Diese
Lähmungsformen fallen sofort durch die mehr oder weniger ausgeprägte Rigidität
der gelähmten Muskeln auf, durch die Neigung zu Contracturen und durch die
Erhöhung sämmtliclier Reflexe. Als Begleiterscheinungen finden sich Bewegungs¬
störungen aller Art, ataktische, athetoide und choreatische, vor allem aber ist
die Epilepsie ein fast constantes Symptom. Sensibilitätsstörungen fehlen ganz
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Referate.
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oder sind nur sehr schwach, die elektrischen Reactionen sind meist völlig
normal. Am auffälligsten unter allen Symptomen sind die nach der Lähmung
sich einstellenden Contracturen. Dieselben sind in 75®/o aller Fälle vorhanden,
und in 95^0 intrauterin entstandenen und congenitalen Lähmungen. Der
Grad der Contractur ist ein ausserordentlich schwankender. Am stärksten sind
gewöhnlich befallen die Flexoren und Pronatoren des Armes, die Flexoren am
Schenkel und am Bein. Bei Diplegie und Paraplegie hndet man noch ausser¬
dem sehr häufig eine Contractur der Schenkeladductoren. Bei diesen beiden
Formen sind die Beine im Kniegelenk stark gebeugt und fest aneinander¬
gepresst, der Fuss steht in Equinus- oder Equinovarusstellung. Ist die obere
Extremität betheiligt, so steht der Arm dem Rumpf fest anliegend, im Ellbogen
flectirt, die Hand ebenfalls in Beugestellung, die Finger fest eingedrückt.
Im Gegensatz zur spinalen Kinderlähmung, wo die Atrophie der gelähmten
Theile in den Vordergrund tritt, spielt sie bei der cerebralen nur eine unter¬
geordnete Rolle. Allerdings erleiden auch hier die gelähmten Theile eine gewisse
Atrophie, namentlich bei Di- und Paraplegie, doch nie im ausgedehnten Maasse.
Pathologisch-anatomisch spielen verschiedene Processe eine Rolle: Poren-
cephalie, meningeale Hämorrhagien, Embolie, Thrombose. Dagegen steht nach
Ansicht von Sachs die von Strümpell angenommene Poliencephalitis
noch in Frage, da noch keine sicheren klinischen Beweise vorliegen.
In der Therapie der infantilen Himlähmung fällt dem Orthopäden eine
umfangreiche Aufgabe in der Behandlung der Contracturen und Bewegungs¬
störungen zu und hat Sachs von weitgehenden Tenotomien in Verbindung mit
gut redressirenden Apparaten, selbst in verzweifelten Fällen, gute Erfolge ge¬
sehen. Namentlich rühmt er den Nutzen einer von Gibney construirten Eisen¬
hand zur Ruhigstellung bei athetoiden Bewegungen. Rosen fei d-Nürnberg.
R. W. Lovett, The surgical aspect of the paralysis of new-bom children. Bost.
Med. and Surg. Joum. 7. July 1892.
Lovett weist auf eine, noch wenig gekannte, Lähmungsform neugeborener
Kinder hin, welche infolge eines Traumas bei der Geburt häufiger zu ent¬
stehen scheint. Die Lähmung betriflPt den Arm, ist manchmal mit Facialis-
lähmung combinirt, und ist hervorgerufen durch Verletzung des Plexus brachialis,
durch zu starken Zug am Kopfe bei Zangengeburten, kommt aber auch manch¬
mal bei spontanen Geburten vor, bei welchen durch den Geburtsmechanismus
ein starker Druck oder Zug auf den Plexus brachialis ein wirkt. Der Arm der
Kinder hängt vollkommen schlaff herunter und sind gar keine Bewegungen des¬
selben zu beobachten. Das Leiden verschwindet manchmal von selbst, meist
bleibt eine dauernde Lähmung zurück, wie Lovett an der Hand von 10 be¬
obachteten Fällen beweist. Therapeutisch ist neben der fortgesetzten Anwendung
von Elektricität eine Bandage nach Velpeau zu empfehlen.
Rosenfeld - Nürnberg.
Charles Roersch, Contribution ä Tetude de Tarthrodese. Revue de Chirurgie
1892, Nr. 6.
Roersch bezeichnet, entgegen der bisher üblichen Nomenclatur, mit dem
Namen der Arthrodese jegliche Gelenksoperation, die den Zweck verfolgt, eine
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Referate.
knöcherne Ankylose zu erzielen, gleichgültig, ob dieselbe an einem sonst ge¬
sunden Gelenk, dem durch Muskelthätigkeit nicht die zur Function nöthige
Stellung und Festigkeit gegeben werden kann, vorgenommen wird, oder ob an
einem kranken Gelenk der Fixation eine mehr oder minder ausgedehnte Resection
vorausgeht. Die von Roer sch gewünschte Ausdehnung des Begriffs der Arthrodese
dürfte wohl kaum Verbreitung finden; wäre sie doch nur dazu angethan, durch¬
aus nicht zusammengehörige Dinge unter einer Bezeichnung zu vereinen.
Arthrodesen in Roersch’s Sinne hat v. Winiwarter nach dem vorliegenden
Berichte an 10 Patienten vorgenommen, doch handelt es sich bei 4 von den
Kranken um eine wegen Arthritis deformans des Kniegelenks vorgenommene
Resection, bei der nach Entfernung der Gelenkenden Femur und Tibia durch
Silberdrähte etc. vereinigt wurden. Nur an den restirenden 6 Patienten, die alle
an Folgezuständen der spinalen Kinderlähmung litten, kam es zur Ausführung
von Arthrodesen im bisher üblichen Sinne des Wortes.
In dem ersten Fall wurde bei einem 10jährigen Knaben an beiden Knie-
und Fussgelenken die Arthrodese in der Weise geübt, dass nach Anfrischung
der Gelenkenden diese durch Silberdrähte vereinigt wurden. Kurze Zeit nach
der Heilung erlag das Kind einer Diphtherie. Bei der Section erwiesen sich
beide Kniegelenke durch einen fibrösen, zum Theil schon verknöcherten Gallus
vereinigt, während an dem die Fussgelenke ersetzenden Gallus bisher keinerlei
Ossificationsvorgänge bemerkbar waren.
Der zweite Fall betraf ein Gjähriges Mädchen, dem beide Kniegelenke
ankylosirt wurden. Nach 3 Monaten war vollständige Heilung eingetreten,
doch erlitt die Patientin beim Fall aus dem Bett complicirte Fracturen an bei¬
den Kniegelenken, den Bruch des Gallus, denen sie erlag.
Bei der 3. Kranken, einem 14jährigen Mädchen, kam die Arthrodese iui
Sprunggelenk sowie in den Gelenken zwischen Talus und Naviculare und
zwischen Galcaneus und Guboides mit Erfolg zur Ausführung.
In dem 4. Fall entfernte v. Winiwarter bei einem 12V*jährigen Knaben
mit Schlottergelenk im linken Knie und gleichzeitiger Genu valgum-Stellung.
um auch das Genu valgum zu beseitigen, bei der Anfrischung des Femur mehr
an der Innen- als an der Aussenseite. Den nach Entfernung der Ligamenta
cruciata und der Semilunarknorpel zwischen den angefrischten Gelenkenden
bleibenden Zwischenraum füllte er mit Knorpel- und Knochenstückchen und
zum Theil mit Glaswolle. Die beiden Knochen wurden alsdann mit Stahl¬
klammern an einander gefügt, während die durchschnittene Patella vernäht und
an die Tibia genagelt wurde. 5 Wochen später wurden die Klammern ent¬
fernt; 2 Monate nach der Operation war das Kniegelenk vollkommen ankylo¬
sirt. Auch bei der Arthrodese der Articulatio talo-equalis und talo-navicularis
füllte V. Winiwarter den Gelenkraum mit Holzwolle und vernähte die Haut¬
wunde vollkommen darüber. In dem letztem Gelenk trat vollkommene Anky¬
lose ein, während das Sprunggelenk in geringem Grade beweglich blieb.
Alsdann gab ein 20jährige8 Mädchen mit spinaler Kinderlähmung des
linken Arms Veranlassung zu einer Arthrodese des Handgelenks, die in der
Weise geübt wurde, dass von einem Schnitt an der Innen- und einem solchen
an der Aussenseite die Gelenk enden der Vorderarm knochen angefrischt und
durch Klammem zusammengehalten wurden. Obgleich diese Klammern fest
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Referate.
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einheilten , trat dennoch keine Ankylose ein. v. Winiwarter legte infolge
dessen wieder das Gelenk frei und füllte die Gelenkhöhle mit Glaswolle, um
darüber die Haut vollkommen zu vernähen. Die Entstehung einer Fistel gab
Anlass zu einem dritten Eingriffe, bei der ein Theil der Glaswolle und die bei
der ersten Operation verwendeten Klammem wieder entfernt und das Gelenk
durch einen vom Radius bis in den 3. Metacarpus hineingetriebenen Stift fixirt
wurde. Obgleich auch dieser nach 14 Tagen entfernt werden musste, trat doch
dieses Mal vollkommene Consolidation ein. v. W iniwarter beabsichtigt später
noch die allein noch functionsfähige Musculatur des Index mit den Sehnen des
Daumens in Communication zu setzen.
In dem 6. Fall handelt es sich um ein löjähriges Mädchen. Bei der
Arthrodese des linken Kniegelenks fixirte v. Winiwarter Femur und Tibia
mittelst zweier schief eingetriebener Elfenbeinstifte, die reactionslos einheilten.
Am Fuss vollföhrte man eine temporäre Resection des Malleolus exteraus,
frischte dann die Gelenkfläche der Tibia sowie die obere und seitliche Partie
des Taluskörpers an, reponirt den äusseren Knöchel und fixirt denselben mittelst
eines Elfenbeinstifts, der durch den Talus bis in den Calcaneus hinein vordrang.
Nach 5 Wochen wurde der Stift entfernt, die Fixation des Gelenks war eine
vollkommene. G. Joachimsthal-Berlin.
Egbert Braatz, Thomas’sche Schiene aus Draht und Wasserglasbinden.
Deutsche medic. Wochenschr. 1892, Nr. 42 S. 958.
Braatz stellt sich die sonst theure und nur vom Instrumentenmacher zu
verfertigende Thoraas'sche Schiene in folgender einfacher Weise her:
Aus einem ca. 3 mm starken Draht wird ein Ring gebogen, welcher
oben den Oberschenkel parallel der Inguinalfalte umkreist. Dann misst Braatz
an einem Telegraphendraht (ca. 6 mm stark) die Länge der äusseren und in¬
neren Schiene ab, wobei, damit der Fuss nicht den Boden berührt, nach unten
4 cm nach oben soviel als noch zum Um biegen nöthig ist, hinzugerechnet wird.
Braatz biegt darauf die Schlinge entsprechend zurecht, schlägt die glühend
gemachten Enden flach, glüht sie abermals, damit sie nicht brechen und biegt
sie von innen nach aussen an vorher bezeichneten Stellen um den Ring. Jetzt
legt er auf den Ring der Länge nach einige Schichten von weichen Gazebinden,
die vorher in Wasserglas getränkt und fest ausgedrückt sind, und umwickelt
ihn so lange circulär, bis er ca. 2—3 cm dick geworden ist. Dabei verbindet
er namentlich sorglUltig die Winkel, wo die Seitendrähte mit dem Ringe Zu¬
sammentreffen. Nachdem auch noch die innere und äussere Schiene fest mit
der Wasserglasbinde umwickelt worden sind, wird der Apparat auf etwa 2 bis
3 Tage zum Trocknen aufgehängt und vor dem Anlegen noch mit einigen
Lagen einer weichen Gazebinde umwickelt.
Der Apparat erstarrt dann zu einer homartig festen Masse und ist nicht
nur gut passend, sondern auch ungemein haltbar.
G. Joachimsthal -Berlin.
Wilhelm Kammler, Die in der chirurgischen Universitäts-Klinik zu Greifs¬
wald vom 1. October 1885 bis 1. April 1891 zur Behandlung gelangten
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Referate.
Fälle von ungünstig geheilten Fracturen. Inaug.-Dissert. Greifswald 18S1.
50 in der Greifswalder Klinik zur Behandlung gelangte Fälle theilt
Kammler in 3 Gruppen.
Von den ersten 15 Fällen, bei welchen die Fractur mit bedeutender Dis¬
location dei* Fragmente zur Heilung gelangt war, bebafen nur 3 Fälle die
obere, 10 die untere Extremität, ein Fall die Patella und einer die Clavicula.
Bei den 3 Fällen der oberen Extremität handelte es sich um eine durch die
Dislocation der Fragmente hervorgerufene, völlige Steifigkeit im Ellenbogen¬
gelenk. Es wurde hier die Resection des Humerus, in einem Falle auch noch
die des Radiusköpfchens vorgenommen. Die Functionsfähigkeit war bei der
Entlassung eine leidliche. Bei den 10 die untere Extremität betreffenden Fällen,
von denen 2 auf den Oberschenkel, 8 auf den Unterschenkel entfielen, wurde
auf operativem Wege (Osteotomie und Osteoklasie) ein gutes Resultat in Stel¬
lung und Function erzielt. Die die Patella und Clavicula betreÖenden Fälle
gelangten ebenfalls auf operativem Wege, der eine durch Abmeisselung eines
Knochenfragments, der andere durch Resection, zu einem guten Resultat.
Bei den folgenden 26 Fällen (12 an der oberen, 14 an der unteren Ex¬
tremität), in denen es entweder in der gesetzmässigen Zeit nicht zur Heilung
oder zwar zur Heilung, aber mit bedeutender Störung in der Function des
Gliedes gekommen war, wurde durch Verbände, Massage, Bewegungen, Elek-
tricität eine Besserung, theilweise sogar vollständige Wiederherstellung der
Function des Gliedes erzielt, mit Ausnahme einiger Schenkelhalsbrüche, bei
denen ein sehr wesentlicher Erfolg durch die eingeleitete Therapie nicht zu
verzeichnen war.
9 zur Behandlung gelangte Pseudarthrosen, von denen 4 die obere, 5 die
untere Extremität betrafen, zeigten bis auf einen Fall ebenfalls ein günstiges
Resultat in der Heilung. 5 Fälle wurden auf operativem Wege durch Frei¬
legung der Bruchenden, Anfrischung derselben mit nachfolgender Silberdraht¬
naht, in einem Falle mit Nagelung zur völligen Consolidation mit mehr oder
weniger Verkürzung gebracht. In einem Falle wurden die Bruchenden mit
Stahlnägeln, welche durch die unverletzte Haut geschlagen wurden, an einander
fixirt und ein ebenso günstiges Resultat erzielt. 2 Fälle wurden mit elastischer
Compression und Percussion der Bruchstelle behandelt. Ein auf die gleiche
Weise behandelter Fall von Pseudarthrosis tibiae zeigte keinen wesentlichen
Erfolg. . Hof fa-Würzburg.
M. Schede, Ein neuer Apparat zur Behandlung der Skoliose. Deutsche med.
Wochenschrift 1892, Nr, 12.
Unter obigem Titel veröffentlicht derVerf. die Beschreibung eines neuen
Detorsionsapparates, welcher schon deshalb ernste Beachtung verdient, weil die
mit demselben erreichten Resultate besser zu sein scheinen als die mit bis¬
herigen Behandlungsmethoden gewonnenen.
Wenn Verf. eingangs erklärt, da.ss erst aus allerneuester Zeit die Ver¬
suche datiren, durch mehr oder weniger active Detorsion auf den Thorax ein¬
zuwirken, so wird dieser Zeitraum aber doch eine grössere Anzahl von .Jahi*en
umfassen dürfen, während welcher diese Versuche wohl mit Recht als sehr zahl-
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Referate.
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reiche bezeichnet werden müssen (Benno Schmidt, Zanders Diagonaldruck-
apparat, Bühring’scher, BeeJy’scher Lagerungsapparat, Nyrop’scher Portativ¬
apparat, Wolfermann’sches Corset), während allerdings die Combinatiun der
Detorsion mit Extension jüngeren Datums ist. Dieselbe ist wohl zuerst in
rationeller, der Schede’schen sehr ähnlichen Weise von Hoffa eingefülut
worden.
In ei*8ter Linie unterscheidet sich das Verfahren Schede’s durch die
Einführung des Heftpflasters von den bisherigen Detoi-sionsmethoden. Dasselbe
wird, die vorspringenden Partien breit fassend vermittelst des Apparates zur
Gewichtsdetorsion verwendet. (Wie Ref. einer privaten Mittheilung entnimmt,
hat Hoffa bereits das Heftpflaster in dieser Weise angewendet, die Methode
der schwer zu vermeidenden Unbequemlichkeiten wegen aber wieder fallen
lassen.)
Der Apparat besteht aus einem aus Gasröhren gefertigten Gestell, an
dessen einer Seite eine ebenfalls aus starkem Rohr gefertigte Säule emporsteigt.
Diese dient zur Fixation verschiedener Vorrichtungen, in erster Linie eines
eisernen, horizontal gestellten, in der Höhe verschiebbaren Rings. In diesen
können wiederum eine Anzahl von Rollen- und Pelottenträgern in verticaler
Richtung eingesteckt werden. Zu diesem Behüte ist der Ring in regelmässigen
Abständen senkrecht durchbohrt Die Rollen sind an den oberen Enden von
Stäben befestigt, mit etwas Auslage nach aussen. Die Pelotten sind in hori¬
zontaler Richtung verschiebbar, so dass al.so die Pelotte in jeder wünschbaren
Höhe und Stellung fixirt werden kann. Höher oben trägt die Säule eine
hölzerne Handhabe, ebenfalls verschiebbar.
Ferner trägt die Säule an einer verschiebbaren Hülse eine Handhabe,
d. h. einen quer gestellten, hölzernen Hebel. Das obere Ende der Säule endlich
ist umgebogen und zur Befestigung einer Glisson’schen Schwebe eingerichtet.
Zur Fixation des Beckens befindet sich an dem ersterwähnten stuhl-
formigen Gestell eine Vorrichtung, bestehend aus zwei in horizontaler Richtung
gegen einander verschiebbaren gepolsterten Platten.
Die Anwendung des Apparates geschieht nun in der Weis»*, dass der
Patient von unten her in den Ring hineinkriecht und in der Schwebe leicht
suspendirt wird. Seine Hände fassen die Handhabe bei ausgestreckten Armen,
das Becken wird durch Zusammenschieben der gepolsterten Platten gegen
Rotation gesichert. Endlich werden die Schultern durch eine geeignete Stütze,
die ebenfalls an dem horizontalen Ringe befestigt ist, mit Riemen festgestellt.
Die Heftpflasterstreifen, die in bedeutender Breite (ca. 20 cm) auf dem
Rippenbuckel eingeklebt werden und vom in eine abgestumpfte Spitze endigen,
werden nun mit Drahthaken mit einer Schnur in Verbindung gebracht, die
über die in geeignete Stellung gebrachten Rollen geführt und mit Gewichten
belastet wird. Das Gewicht schwankt zwischen IV 2 und 5 k.
Die Stellung des Rollenträgers muss so gewählt werden, dass die exten-
dirende Schnur in einer Richtung wirkt, die von einer an den Thorax gezogenen
frontalen Tangente nach innen abweicht.
Die erwähnten Pelotten dienen dazu, der event. durch die Detorsion her¬
vorgebrachten allzustarken Verschiebung ein Hinderniss entgogenzustellen,
so dass die Detorsion mehr im Sinne der Umbildung der Rippen wirkt.
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Referate.
Das Interessanteste in der Mittheilung Schede’s sind nun die erreichten
Resultate, welche die bisherigen Leistungen der Therapie auf dem Gebiete der
Skoliosenbehandlung unbedingt übertreffen. Insbesondere ist die von Schede
hervorgehobene bedeutende Beeinflussung des Rippenbuckels beinahe neu zu
nennen.
Leider konnten der Abhandlung, und das wird vom Autor selbst bedauert,
keine Abbildungen oder Masswegsbilder beigegeben werden, welche die erreichten
Resultate illustriren, und geeignet wären, die. skeptische Stimmung gegen die
Skoliosentherapie auf ein gebührendes Mass zu reduciren. Ferner ist auch die
Anzahl der behandelten Fälle eine geringe. Immerhin sind einzelne der mit-
getheilten Resultate (z. B. fast völliges Verschwinden eines Rijjpen-
buckels bei einem 16jährigen Mädchen) so eklatante, dass wohl an der
Wirksamkeit der Methode nicht gezweifelt werden kann. (In dem Vortrage
über die Methode demonstrirte Schede eine Anzahl von Curven mit dem
Be ely'sehen Stäbchencystometer.)
Ref., der Gelegenheit hatte, die Methode Schede's an einem dem be¬
schriebenen nachgebildeten Apparate im orthopäd. Institute in Zürich zu
prüfen, zögert nicht, zu bestätigen, da.«s die momentane redressirende Wirkung
des Apparates eine bedeutende ist und die Lorenz’sche Methode der Detorsion
unbedingt übertrifft. Dass jedoch die Mitwirkung des Heftpflasters eine be¬
deutende Unbequemlichkeit schafif und für ein gangbares Institut auch nur
mit grösserem Zeitaufwande durchzuführen ist, muss ebenfalls zugestanden
werden.
Genaue Messungen der Resultate werden dem Schede'schen Verfahren
die Prognose bestimmen, die, wie wir hoffen, etwas günstiger lauten wird als
diejenige vieler anderer Versuche. Wilhelm Schulthess-Zürich.
Peter Wisser, Untersuchungen über die Beschaffenheit der Wirbelsäule bei
Schulkindern (Dissert. Würzburg).
In genannter Dissertation sind die Re.sultate einer Untersuchung von
515 Schulkindern in Bezug auf Wirbelsäulendeviation niedergelegt. Die Unter¬
suchungen wurden vom Autor unter der Leitung von Riedinger ausgeführt.
Verf. beginnt mit einem kurzen Rückblick auf die verschiedenen An¬
sichten über die Entstehung der sogen, habituellen Skoliose, der „häufigsten*
Skoliosenform. Wenn er dabei die Roser-Volkmann’sche Belastungstheorie
als die heute weitverbreitetste erklärt, muss man ihm wohl beipflichten.
Wenn er ferner erklärt, dass ähnliche Untersuchungen wie die vorliegende
noch fast gar nicht gemacht worden seien, so ist das allerdings insofern richtig,
als die bisherigen derartigen Erhebungen mit wenigen Ausnahmen nicht
in die Detaillirung der einzelnen Formen eingetreten waren.
Die 515 Schulkinder gehörten einer fünfklassigen Schule an, und standen
im Alter von 7—11 Jahren. 292 Knaben, 223 Mädchen. Der Umstand, dass
die betreffende Schule eine Badeeinrichtung enthielt, erleichterte die Gelegen¬
heit zur Untersuchung, welche am nackten Körper (Badehose) bei schlaffer und
strammer Haltung vorgenommen wurde. Mit Farbstift wurden die Domfort¬
sätze bezeichnet und vermittelst des Pendels die Deviation beurtheilt. In ein-
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Referate.
299
/.einen Fällen ^urde das Gehen, das Strecken und Bewegen der Wirbelsäule
zur Untersuchung benutzt.
Da sich ergab, dass diejenige Haltungsform der W. S. mit Convexität
nach rechts im Brusttheil, nach links im Lendentheil weitaus die häußgste
sei, so bezeichnete Verf. diese als typisch, die umgekehrte dorsal links¬
convex, lumbal rechtsconvex als atypisch. Daneben figurirt total links und
total rechts, dreifach geschlängelt (mit je zwei Formen, mittlere Convexität
rechts und mittlere Convexität links). Die wirklich deutlichen Skoliosen wurden
unter einer Rubrik pathologisch zusammengelässt.
Um über das Resultat der Untersuchungen sich ein deutliches Bild zu
machen, ist es nöthig das Original mit den Tabellen nachzulesen. (Es wäre
übrigens wünschenswerth, dass der Verf. eine Bearbeitung dieser Untei’suchungen
mit den Detailangaben, Tabellen und Curven in dieser Zeitschrift veröffent¬
lichen würde.) Wir heben hier nur einige der wichtigsten Punkte hervor.
Es ergab sich aus den Tabellen und daraus construirten Curven: Schon
beim Beginne der Schule (7. Schuljahr) findet man einen starken Procentsatz
von Verkrümmungen überhaupt, darunter auch die sogen, typische Form. (38,47o
der Gesammtzahl der nicht pathologischen Fälle.) Auffallend ist durchweg die
starke Zahl der Normalen, welche in den einzelnen Klassen von 36,2—57,67o
schwankt, ferner das Ueberwiegen der ,Verkrümmungen Überhaupt“ und
der typischen Krümmungen insbesondere bei den Knaben gegenüber
den Mädchen.
Die „Verkrümmungen überhaupt“ erreichen die höchste Höhe bei den
Knaben am Ende des dritten, bei den Mädchen am Ende des vierten Schul¬
jahres.
In den Schlussfolgerungen des Verf. vermissen wir ein energisches Ein¬
stehen für das erste und vornehmste Resultat dieser Untersuchungen,
nämlich dafür, dass sich daraus mit unzweifelhafter Sicherheit ergeben hat, dass
die habituellen Haltungen, besonders die sogen, typische Form, nur zum geringen
Theil vom Sehulbesuch beeinflusst werden. Denn wenn wir beim Beginn der
Schulzeit (d. h. Ende des ersten Schuljahres) bereits einen Procentsatz von
31<160 Knaben, 33,9 bei den Mädchen finden und dieser alsdann auf
40 bezw. 49®/o innerhalb 2—3 Jahren steigt, zudem bei den Knaben mehr steigt
als bei den Mädchen, so lässt sich daraus nicht Material gegen die Schule
schmieden, sondern es müssen, wie der Autor allerdings selbst, aber wie uns
scheint, allzu schüchtern zugibt, andere Factoren mitwirken. Aber noch ein
anderes ebenso interessantes Resultat haben die Untersuchungen zu Tage ge¬
fördert: Die pathologischen Fälle nehmen mit der Klassenhöhe
nicht zu.
Allerdings muss dabei in Betraeht gezogen werden, dass eben in das
Alter, in welchem die meisten Skoliosen zur Beobachtung gelangen, die Sta¬
tistik nicht hineinreicht, jedoch erlaubt diese Thatsache den Schluss, dass sich
zwischen den wirklichen Skoliosen und den in der Untersuchungsreihe bezeich-
neten Verkrümmungen eine Kluft befindet, deren Ueberbrückung durch Zwischen¬
formen erst das Material an die Hand geben könnte oder über die Frage der
Entstehung der habituellen Skoliosen ein Urtheil zu fällen. (Auch durch die
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. II. Band. 20
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300
Referate.
Schenk'schen Untersuchungen ist das nicht möglich geworden, denn der
Schenk'sche Satz: ,Die jedem Kinde eigene Schreibhaltnng bildet die gewöhn-
liehe Veranlassung zur Entwicklung einer Skoliose*, ist unter Umständen ein
Trugschluss. Ohne Zweifel lautet für viele Fälle der Satz so: Die jedem
Kinde eigenen anatomischen Eigenthümlichkeiten bilden dieVer-
anlassung zur Entwicklung einer Skoliose und einer dieser ent¬
sprechenden Schreibstellung. Der Ref.)
Der Autor ist demnach geneigt, ,andern Factoren als der Belastung
allein“ einen Einfluss auf die Entstehung der sogen, habituellen Skoliose ein¬
zuräumen. Er denkt hierbei an Veränderungen in den Knochen, Vererbung
und Aehnliches.
Gewiss sind Untersuchungen wie die vorliegenden, wenn sie auch sehr
viel Mähe kosten, in hohem Grade zu begrüssen. Sie haben zur Ausfüllung
einer bedenklichen Lücke in der Pathologie und Aetiologie der Skoliose bei-
zutragen.
Ebenso wünschenswerth ist es dagegen, wenn sich künftige Beobachter
einer etwas genaueren Methode bedienen, so dass auch der Grad der Ver¬
krümmung angegeben werden kann. (Vielleicht würde sich hierzu das Beely-
Kirchh off sehe Verfahren eignen?) Ebenso sollte die Torsion berücksichtigt
werden. Vielleicht würde sich dadurch die Zahl der Normalen etwas ver¬
kleinern, die Zahl der total Skoliosen aber etwas vergrössem.
Wilhelm Schulthess-Zürich.
P. Redard, De la Skoliose dans ses raporta avec le pied plat. Gazette medical
de Paris. 1892. 6. August.
L. Heusner, Beitrag zur Behandlung der Skoliose. Langenbeck’s Archiv f.
Chir. Bd, 44, Heft 4.
Redard macht auf das oftmalige Zusammentreffen von Skoliose und
Plattfiissen aufmerksam. Namentlich findet sich häufig bei primärer Lenden¬
skoliose ein Plattfuss auf der Seite, welcher der Convexität der Lendenkrüm¬
mung entspricht. Die Folge des Plattfusses ist eine Verkürzung der betreffenden
Extremität, daher die Skoliose. Heilung des Plattfusses führt meist auch zur
Heilung der Skoliose.
Auch Heusner betont die häufige Coincidenz von Plattfuss und Skoliose.
Von 283 plattfüssigen Kranken die er untersuchte, hatten 59 7® Skoliose. Um¬
gekehrt fand sich auch bei der Hälfte aller Skoliotiden Plattfuss, eine Beobach¬
tung, die Bernhard Roth schon 1889 veröffentlicht hat.
Heusner beschreibt ferner einen neuen Lagerungsapparat für skoliotische
Patienten. Wie die Fig. 1 zeigt, handelt es sich um eine als Lagerungsbrett
eingerichtete, schiefe Ebene, welche mit einer Glisson’schen Schlinge zur Längs
extension und einem System von vier gepolsterten Gurten für seitlichen Correc-
tionszug ausgerüstet ist. Die Gurte kommen mit dem hintern Ende an einem
Längsschlitz in der Mitte des Brettes hervor, hinter welchem sie an einer runden
Eisenstange verschieblich befestigt sind; ihre vorderen Enden laufen in Hanf-
schnüre aus, welche schwere Sandsäcke tragen und über die zu beiden Seiten
der Bretter eingeschobenen Eisengeländer hinübergeleitet werden. Die Wirkung^-
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Schema (Fig. 2). Der Apparat gleicht
dee dem Bühring’schen Lagerungs-
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Referate.
apparate und hinsichtlich der wirksamen Gewichtszüge dem Fischer-Beely-
schen Skoliosenbarren, vermeidet aber die active Inanspruchnahme der Rücken-
muskulatiir und verbindet mit der seitlichen Gewichtscorrection die Längs-
extension auf der schiefen Ebene, die um so kräftiger ausfällt, je schräger die
Extensionsbügel nach abwärts über die Seitengeländer gelegt werden. Die
Kinder sollen 1—2 Stunden täglich auf dem Apparat zubringen und dabei
möglichst laut auswendig lernen, damit die Athmung angeregt und die Aus¬
dehnung der Brust nach der nicht belasteten Seite befördert wird.
Nachdem ich den beschriebenen Apparat aus eigener Erfahrung kennen
gelernt habe, kann ich denselben den Collegen bestens empfehlen.
H o f f a -W ürzburg.
Messner, üeber Asymmetrie (halbseitige Atrophie) de^ Thorax und Contrac-
turcn der Wirbelsäule nach Kinderlähmung (paralytische Skoliosen).
Centralbl. f. Chir. 1892, Nr. 44, S. 897.
Messner beobachtete bei einem 12 Jahre alten Mädchen, das im Alter
von */< Jahren eine spinale Kinderlähmung der ganzen rechten Seite mit baldigem
Rückgang der paralytischen Erscheinungen durchgeinacht hatte und nach den
Angaben der Eltern seit dem 7. Lebensjahre anfing schief zu werden, bei der
Untersuchung des Rückens neben einer hochgradigen Skoliose im Dorsaltheil
nach links und einer sehr starken Lordose im Lendentheile der Wirbelsäule eine
auffällige Asymmetrie des Thorax. Es machte den Eindruck, als ob die ganze
rechte Seite des Thorax in der Entwickelung zurückgeblieben wäre, und an-
gestellte Messungen bestätigten dies in der That, indem alle Maasse, die Messner
von der Mittellinie des Rückens nach der Mittellinie der Brust (Sternallinie)
nahm, um 'ß —IV 2 cm auf der rechten Seite gegenüber der linken zurück¬
blieben. Deutlicher noch als am Thorax w^ar die AsjTnmetrie im Gesicht, in¬
dem hier ebenso wie am Schädel die rechte Seite überall kleinere Mansse zeigte
als die linke. Auch der rechte Arm und das rechte Bein zeigten, wenngleich
Lähmungserscheinungen nicht mehr bestanden, eine geringe Atrophie. Am
Rücken war die elektrische Erregbarkeit sämmtlicher Muskeln sow^ohl gegenüber
dem constanten als dem faradischen Strom ganz wesentlich herabgesetzt.
Messner nahm keinen Anstand, die vorliegende Skoliose in Zusammen¬
hang mit der überstandenen Kinderlähmung zu bringen. Auf Grund von Be¬
obachtungen, die er im Anschluss an diesen Fall sammelte, erlangte er, dass die
Kinderlähmung, ebenso wie sie bei der Entstehung von Contracturen an Hand
und Fuss eine grosse Rolle spielt, auch bei der Bildung von Contracturen der
Wirbelsäule, bei der Skoliose, ätiologisch mehr berücksichtigt werde. Es ge¬
lang Messner nämlich, unter 15G Fällen von Skoliose, die er in den letzten
2 Jahren daraufhin untersuchte, 8 Fälle als sicher paralytischen Ursprungs
nachzuweisen; ausser der Anamnese sicherte das Vorhandensein von Contrac¬
turen oder Wachsthumsstörungen an Arm oder Fuss die Diagnose.
Messner constatirte dabei, dass die paralytische Skoliose, eine Erschei¬
nung, die sie mit der statischen gemeinsam hat, sich erst spät oder gar nicht
fixirt. Die relativ grosse Beweglichkeit der verkrümmten Wirbelsäule ist wohl
auf eine Bänder- und Kapseldehnung der Gelenke zurückzuführen. Am deut-
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308
lichsten zeigte sich diese Erscheinung an einem ausserordentlich schweren Fall
von Kinderlähmung, bei welchem beide Beine und die Rückenmuskulatur fast
vollständig gelähmt waren, so dass das 4jährige Kind nie gehen gelernt hatte
und nur unsicher sitzen konnte, wobei mehr die natürlichen Hemmungen als
die Muskeln mitwirkten. Bei diesem Kinde hatte sich neben einer starken
Lordose der Lendenwirbelsäule eine sehr hochgradige Skoliose (im Brusttheil
nach rechts convex, im Lendentheil nach links convex) ausgebildet, die bei
Suspension am Kopf sich ganz und gar ausglich, so dass der Thorax, bei
welchem sich in zusammengesunkenem Zustande die einzelnen Rippen ganz
übereinander geschoben hatten, bei der verticalen Suspension eine ganz andere
Form annahm. Selbst bei diesem ungemein schweren Fall hatte sich trotz
jahrelangen Bestehens kein Rippenbuckel ausgebildet, wie überhaupt von einer
Torsion der Wirbelsäule nichts nachzuweisen war. Messner hält dieses Fehlen
des Rippenbuckels, das er in allen seinen Fällen constatirte, für eine charakte¬
ristische Erscheinung der paralytischen Skoliose.
Was die Ausbiegung der Wirbelsäule anlangt, so konnte Messner in
7 Fällen eine gewisse üebereinstimmung in Beziehung auf die Richtung des
Bogens constatiren. Die Convexität des Bogens war nämlich immer nach der
gesunden Seite gerichtet, während die gelähmten resp. paretischen Muskeln
immer auf der concaven Seite der ausgebogenen Wirbelsäule lagen. In Fall 8,
dem schon oben angeführten sehr schweren Fall, waren beide Beine und der
ganze Rücken gleichmässig gelähmt; hier hatte sich eine im Brusttheil nach
rechts, im Lendentheil nach links convexe Skoliose ausgebildet. 6mal betraf
die Lähmung die rechte Seite des Thorax, und in allen 6 Fällen w^ar der Bogen
der Wirbelsäule im Brusttheil nach links convex, linal war die linke Thorax¬
seite die gelähmte, und hier war die Convexität de.s Bogens nach rechts ge¬
richtet.
In der Therapie der paralytischen Skoliose spielt gewiss die Prophylaxe
eine grosse Rolle. Ebenso wie sich an den Extremitäten die Ausbildung einer
Contractur nach Kinderlähmung verhindern lässt, dürfte dies w'ohl auch bei
der paralytischen Skoliose der Fall sein. Für den Anfang empfiehlt sich
Elektricität, Massage u. dergl. m.
Bei der ausgebildeten Skoliose hat die Therapie zweierlei Indicationen
zu erfüllen, erstens die in sich zusammengesunkene bewegliche Wirbelsäule auf¬
zurichten und aufrecht zu erhalten, was am zweckmässigsten durch leichte, in
verticaler Suspension angelegte, abnehmbare Corsets geschieht, und zweitens die
Muskeln, welche die Wirbelsäule in ihrer geraden Stellung erhalten sollen, zu
kräftigen. Hier empfehlen sich regelmässige gymnastische Uebungen, Massage,
Elektricität, Duschen, kalte Abreibungen und reizende Einreibungen der ge¬
schwächten Rückenmuskeln. Bei dieser Behandlung hat Messner von den
8 Fällen bei 3 vollständige Heilung erreicht, bei 4 wesentliche Besserung er¬
zielt. G. Joachim8thal-Berlin.
E. Remak, lieber Ischias scoliotica. Deutsche med. Wochenachr. 1892, Nr. 27
S. 626.
Es handelt sich bei der von Remak gemachten Beobachtung um einen
typischen Fall von rechtsseitiger Ischias mit einer permanenten Skoliose der
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Referate.
Lendenwirbel mit der Concavität nach der kranken rechten Seite nnd einer
geringeren Skoliose der Brustwirbel in entgegengesetzter Richtung. Nach
Brissand und Laniy würde in diesem Falle eine spasmodische rechtsseitige
Ischias mit Betheiligung des Plexus lumbalis vorliegen. Da Lähmungserschei¬
nungen nicht bestanden, die linke Seite sich als ganz gesund erwies, so konnte
es allerdings keinem Zweifel unterworfen werden, dass hier die Stellungs¬
anomalie in der That auf einer reflectorischen oder instinctiven Anspannung
der gleichseitigen rechtsseitigen Lendenmuskeln beruhte. Da jedoch ausser der
Lendenskoliose keinerlei sonstige spastische Symptome bestanden, so erschien
esRemak wiederum nicht gerechtfertigt, in diesem Fall nur wegen der homo¬
logen Skoliose eine besondere spasmodische Form der Ischias anzunehmen.
Es wird durch Remak’s Fall bestätigt, was für die altemirende Skoliose
des früheren schon nachgewiesen wurde (cf. diese Zeitschr. Bd. I, p. 326), dass
auch ohne spastische Symptome der Ischias selbst bei dieser wenn auch seltener
als die nach Charcot pathognomonische gekreuzte Skoliose, die auch von
Gussenbauer in einem Falle beschriebene homologe Skoliose eintritt. Die
Richtung der Deformität hängt nach Remak viel mehr noch als von ver¬
schiedenen Localisationen der dem Symptomencomplex der Ischias zu Grunde
liegenden Entzündungsprocesse und als von der Betheiligung bestimmter sen¬
sibler Anastomosen von individuellen Verhältnissen des Einzelfalls ab, indem
nach verschiedenen Methoden die mechanischen Bedingungen von den Kranken
ausfindig gemacht werden, unter w’elchen das schmerzhafte Glied von dem
Körpergewicht einigermassen entlastet wird. In dem vorliegenden Fall glaubt
Remak die sogen, anomale (homologe) Skoliosenstellung bei rechtseitiger
Ischias wesentlich dadurch bedingt, dass der Patient als Former mit nach rechts
geneigtem Oberkörper in gebückter Stellung unter Schmerzen zu arbeiten ge¬
zwungen war und auch nach Aussetzen der Arbeit, wozu er schliesslich genöthigt
wurde, die für diese günstigste habituelle Stellung instinctiv beibehielt.
H. Higier, Fünf Fälle von Ischias scoliotica. Deutsche medic. Wochensclir.
1892, Nr. 27 S. 627.
Drei Fälle von homologer Ischias scoliotica, ein solcher von gekreuzter
Skoliose und ein Fall, bei dem binnen S'/i Wochen eine alterairende Skoliose
vorhanden w'ar, die einen von dem Remak'schen Fall etwas differenten Cha¬
rakter trug und später in eine permanent gekreuzte Skoliose überging.
H 0 f f a -W ürzburg.
Johannes Bolten, Ueber den angeborenen Hochstand des einen Schulter¬
blattes (SprengeFsclie Deformität). Mittheilungen der chirurgisch-
orthopädischen Privatklinik des Privatdocenten Dr. A. Hoffa in Würz¬
burg. München, J. F. Lehmann 1892, S. 57.
Bolten beobachtete in Hoffa’s Klinik die von Sprengel zuerst
beschriebene Deformität der angeborenen Verschiebung des Schulterblattes nach
oben (cf. diese Zeitschr. I, S. 476), die darnach auch von Kölliker, Schlange,
Per man und Beely gesehen wurde, bei einem 37* Jahre alten Knaben. Die
linke Scapula stand hier um etwa SVa cm höher als die rechte. Die Spina
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Referate.
305
«capulae befand sich in gleicher Höhe mit dem Proc. spinosus des 7. Hals-
•wirbels. Der Muse, cucullaris der linken Seite sprang scharf hervor, so dass
■der Hals links verkürzt und voluminöser erschien. Am oberen medialen Winkel
der linken Scapula hatte man wie in den K ö 11 i k e r’schen Fällen bei der Pal¬
pation das Gefühl, als ob eine Exostose hakenförmig nach vom bis fast zur
•Clavicula verliefe. Die Bewegungen des Armes waren bis auf die Elevation über
■die Horizontalebene unbehindert. Links bestand ausserdem totaler Radiusdefect,
infolgedessen typische Talipomanus sinistra. Die rechte obere Extremität war
normal bis auf eine rudimentäre Entwicklung des Daumens. Eine ganz auffällige
Veränderung zeigt die Schädelform. Die linke Schädelhälfte war gegen die
rechte quasi nach hinten verschoben, so dass es schien, als ob der Schädel im
rechten schrägen Durchmesser zusammengedrückt wäre resp. einer besonderen
Zugwirkung von rechts vorne nach links hinten nachgegeben hätte. Bei der
Geburt des Kindes hatte die Hebamme sofort auf die auffallend geringe Frucht¬
wassermenge aufmerksam gemacht. Nach derselben lag der linke Arm dicht
am Rücken an, als ob er dort festgebunden wäre. Durch Ausfühmng anfangs
passiver, später auch activer Bewegungen wurde der linke Arm allmählich
beweglicher.
Da Hoffa auf Grund der Kölliker’schen Beobachtungen die Exostose
in ursächlichem Zusammenhang mit dem Hochstand des linken Schulterblattes
bringen zu müssen glaubte, beschloss er die operative Entfernung derselben.
Der auf den vermuthlichen oberen Schulterblattrand geführte Schnitt, der
genau entsprechend dem Rande des Cucullaris verlief, traf zum grössten Er¬
staunen des Operateurs nun nicht den oberen Schulterblattrand, sondern die
Spina Scapulae. Eine Exostose war gar nicht vorhanden. Das, was als solche
imponirt hatte, war vielmehr der obere Schulterblattrand, der am vorderen Rande
des Cucullaris verlief und thatsächlich fast die Clavicula erreichte. Die Scapula
liess sich nach der bisher ausgeführten einfachen Incision nicht nach unten ver¬
schieben. Es wurden deshalb von dem vorhandenen Schnitt aus alle Muskeln,
■die sich dem Herabziehen der Scapula in den Weg stellten, olfen durchschnitten.
Nach der reactionslosen Heilung der Wunde erhielt der Patient ein Skoliosen-
<;orset. Durch einen an diesem vorne und hinten befestigten, über die linke
Schulter verlaufenden elastischen Zug wurde die Scapula einer dauernden
Druckwirkung nach unten ausgesetzt, die auch sehr bald zu einer entschiedenen
Besserung des Zustandes führte. G. Joachimsthal-Berlin.
A. Schmucker, Ueber die Auslösung von Schmerzempfindungen durch Sum¬
mation sich zeitlich folgender Beize bei Compressionsmyelitis. Inaug.-
Dissert. Würzburg 1892.
Angeregt durch die Untersuchungen Naunyn’s, welcher nachwfies, dass
bei Erkrankungen des Rückenmarks vor allem bei Tabes dorsalis durch die
Summation sich zeitlich folgender sensibler Hautreize Schmerz ausgelöst werden
kann, hat Schmucker Versuche bei Compressionsmyelitis an vier Fällen an¬
gestellt. Mit Ausnahme eines Falles gelang es auch, durch wiederholten Reiz
(Inductionsschläge, Berührung mit Sondenknopf, stumpfen Draht, Nadelstich
200—400mal in der Minute) nach einer längeren oder kürzeren Latenz Schmerzen
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Referate.
an den betreffenden Körperstellen (zwischen den Zehen, Fingern etc.) auszulösen.
Im Gegensatz zu Naunyn fand jedoch Schmucker, dass zwischen Latenzzeit
und Intensität des Reizes eine gewisse Beziehung statthat, dass nämlich die
Steigerung der Intensität des Reizes die Latenzzeit abkürzt.
Rosenfeld - Nürnberg.
H. Chiari, Die Aetiologie und Genese der sogenannten Spondylolisthesis
lumbo-sacralis. Eine pathologisch-anatomische Studie. Zeitschr. f. Heil¬
kunde XIII 1892, S. 199.
Chiari definirt den BegrüF der Spondylolisthesis lumbo-sacralis dahin,
dass er darunter eine allmählich unter Einwirkung der Rumpflast entstehende
Verschiebung des letzten Lendenwirbels, sei es in toto, sei es mit seiner vor¬
deren Hälfte, über die Basis des Kreuzbeins nach vorne versteht. Er will auf
diese Weise einerseits den Gegensatz zwischen der Spondylolisthesis und der
acuten, durch ein intensives Trauma plötzlich erzeugten Luxation besonders
aussprechen, indem ja die Spondylolisthesis einen ganz allmählich vor sich
gehenden Gleitungsprocess, also einen chronischen Luxationsvorgang gegenüber
der acuten traumatischen Luxation darstellt, andererseits hervorheben, dass es
Fälle unzweifelhafter Spondylolisthesis gibt, in denen ein allmähliches Gleiten des
letzten Lendenwirbels in toto stattfand.
Was die Aetiologie und Genese der Spondylolisthesis anbetrifit, so müssen
nach Chiari die Ursachen als sehr verschiedenartig gedacht werden.
Es geht nicht an, alle Fälle auf ein und dasselbe ätiologische Moment
zurückzuführen, vielmehr müssen eine ganze Reihe von Ursachen für die Spon¬
dylolisthesis zugegeben werden. Bei Gegenwart eines oder des andern ursäch¬
lichen Moments bedarf es dann erst immer noch besonderer Verhältnisse und
namentlich der entsprechenden Druckwirkung seitens der Rumpflast, damit die
Olisthesis wirklich zu Stande kommt.
Indem Chiari alle Momente, welche im Stande sind, die Festigkeit der
Verbindung zwischen dem letzten Lendenwirbel und dem Kreuzbein zu alteriren
oder eine Verlängerung des letzten Lendenwirbels selbst herbeizuführen, berück¬
sichtigt, nimmt er folgende Gruppirung der überhaupt denkbaren Ursachen für
die Spondylolisthesis lumbo-sacralis vor.
Erste Kategorie.
Abnorme Verhältnisse im Bereiche der lumbo-sacralen Gelenksfortsätze,
wodurch der ganze letzte Lendenwirbel zum Gleiten nach vorne gebracht wird
und zwar:
1. Entwicklungsanoinalien derselben;
2. krankhafte Zerstörung derselben;
3. Fraktur derselben;
4. Luxation im Bereiche der ursprünglich normal gebildeten lumbo-
sacralen Gelenksfortsätze.
Zweite Kategorie.
Abnorme Verhältnisse, durch welche der letzte Lendenwirbel infolge der
auf ihn von oben her bei aufrechter Stellung des Körpers wirkenden Rumpflast
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Referate.
307
zur Verlängerung gebracht wird, so dass seine vordere Hälfte nach vorne ver¬
schoben wird und zwar:
1. Entwicklungsanomalien des Bogens des letzten Lendenwirbels;
2. krankhafte Erweichung resp. Zerstörung desselben;
.3. Fraktur desselben;
4. Gestaltsveränderungen des früher normal gewesenen letzten Lenden¬
wirbels aus übermässiger Belastung desselben durch die Ruinpflast.
An der Hand dieser aprioristischen Gruppirung der ätiologischen Momente
für die Spondylolisthesis erwägt nun Chiari, was für Anhaltspunkte aus der
pathologischen Osteologie der Wirbelsäule überhaupt und der Anatomie der
Spondylolisthesis im Speciellen für die einzelnen genannten Ursachen gewonnen
werden können, wobei neben der eingehenden Berücksichtigung der bezüglichen
ausgedehnten Literatur die Beschreibung einer Reihe neuer Fälle seines
Museums gibt, die gerade im Hinblick auf die Aetiologie und Genese der
Olisthesis besonderes Interesse bieten.
Was die erste Kategorie von ursächlichen Momenten für das Entstehen
der Spondylolisthesis betrifft, so müssen zwei Gruppen derselben, nämlich die
Entwicklungsanomalien der lumbo-sacralen Gelenksfortsätze und die Frakturen
derselben als zu Recht bestehend anerkannt werden und verdienen volle Beachtung,
während die beiden andern Gruppen, die krankhafte Zerstörung der Gelenks-
fortsUtze und die Luxation im Bereiche der ursprünglich normal gebildeten
Gelenksfortsätze als bisher nicht erwiesen zu betrachten sind und nach Chiari
auch kaum erwiesen werden dürften.
Was die zweite Kategorie anbetrifft, so sind die Entwicklungsanomalien
des Bogens des letzten Lendenwirbels in der Aetiologie der Spondylolisthesis
vollkommen, besonders durch N e u g e b a u e r’s Untersuchungen, sicher gestellt
und spielen in derselben eine besonders wichtige Holle. Die Spondylolysis inter-
articularis congenita im Bereich des letzten Lendenwirbels setzt hier, insofern
der Bogen kein knöchernes Continuum darstellt, sondern in den Portiones
interarticulares von Bandmasse unterbrochen ist, eine Prädisposition zur Ent¬
stehung der Spondylolisthesis, die dann unter der Einwirkung besonderer Ver¬
hältnisse, etwa durch eine übermässige Belastung der Wirbelsäule oder durch
ein Trauma, entsteht, indem plötzlich stärkere Dehnungen der Bandmassen
resp. Zerreissungen derselben gesetzt werden. Freilich wird es selbst bei nicht sehr
weit gediehenen Fällen von Spondylolisthesis mitunter recht schwierig werden,
zu entscheiden, ob eine in der Portio interarticularis des letzten Lendenwirbels
vorfindliche Spondylolysis interarticularis die Bedeutung einer congenitalen oder
frakturären Continuitätstrennung besitzt.
Fälle von Spondylolisthesis, die auf krankhafte Erweichung resp. Zer¬
störung der Wirbelknochen zurückzuführen wären, sind bis jetzt nicht gesehen
worden, dagegen ist es wahrscheinlich, wenn auch bisher nicht sicher erwiesen,
dass die Spondylolisthesis aus Fraktur der Portio interarticularis des letzten
Lendenwirbels infolge eines dieselbe treffenden Traumas entstehen könne. Was
schliesslich die Möglichkeit der Entstehung von Spondylolisthesis aus Gestalts¬
veränderungen des früher normal gewesenen letzten Lendenwirbels infolge von
übermässiger Belastung desselben durch abnorme Steigerung der Rumpflast an-
langt, auf die Arbuthnot Lane hingewiesen hat, so mag es wohl in der
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308
Referate.
That eine so entstandene Sx)ondyloli8the8i8 lombosacralis geben, doch i8t die
Druckformation sicher nicht, wie L a n e dies aussprach, die einzige Ursache
für dieselbe.
Eine Entscheidung darüber, in welche ätiologische Gruppe ein specieller
Fall von Spondylolisthesis lumbo-sacralis gehört, ist oft sehr schwierig, ja mit¬
unter überhaupt nicht mehr möglich, wenn nämlich hochgradige secundäre
Veränderungen eingetreten sind. Immerhin aber wird man einerseits per
exclusionem, andererseits mit Heranziehung aller sonstigen, namentlich der
anamnestischen Daten die Zahl der für den betreffenden Fall überhaupt annehm¬
baren Ursachen in zweckdienlicher Weise einzuengen vermögen und so der rich¬
tigen Lösung näher kommen , als wenn man von vornherein der Anschauung
huldigt, dass die Spondylolisthesis lumbo-sacralis stets nur aus ein und der¬
selben Ursache sich entwickeln könne. G. Joachimsthal-Berlin.
Kuno Pescatore, üeber die Endergebnisse der Resectionen des Ellbogen¬
gelenkes. Inaug.'Diss. Berlin 1892.
Pescatore hat die Endergebnisse einer Reihe von Resectionen des
Ellenbogengelenkes, die in den letzten 12 Jahren in der Bardeleben'schen
Klinik ausgeführt wurden, zu ermitteln versucht. Es gaben dabei 24mal Tuber-
culose des Ellenbogengelenkes, 7mal Traumen, Imal Ankylose die Indication
zur Resection. 6mal wurde die totale, 19mal die partielle Resection vorge¬
nommen, 2mal wurden 2 partielle, 2mal 3 partielle, sowie je Imal 2 totale,
eine partielle und eine totale, 2 partielle und eine totale.
Pescatore zählt, der GurlUschen Eintheilung in 5 Kategonen fol¬
gend, 2 ausgezeichnete, 10 gute, 2 mittel massige, 4 schlechte, 4 unbrauchbare
Resultate; 3mal waren Arnjiutationen erforderlich, in 7 Fällen konnte noch
nicht von einem Endre.sultat gesprochen werden. Von den 25 »Endresultaten*
sind 1 zwölf, 1 neun, 4 acht, 3 sieben, 3 sechs, 5 vier. 4 zwei, sowie 1 ein
Jahr alt.
Die functioneilen Resultate der typischen Resectionen waren durchschnitt¬
lich schlechter, die partiellen besser wie mittelinässig. Dagegen wurde die
Araputatio humeri nur nach geschilderten Resectionen nöthig. Nach partieller
Resection traten ferner 13, nach totaler nur ein Recidiv ein.
Neun nachgewiesene Complicationen mit Lungentuberculose kamen vor;
in 2 Fällen liess es sich feststellen, dass dieselbe erst nach der Openition und
zwar in ganz acuter Weise entstanden war.
Das arithmetische Mittel der Bewegungsexcursionen betrug in den von
Pescatore ermittelten Fällen 70,5 Grad, totale Ankylosen kamen in zwei
Fällen nach partieller Resection vor. Schlotterverbindungen sind neun zu ver¬
zeichnen, sechs nach totalen, drei nach partiellen Resectionen. ln einem Falle
trat Schlottervcrbindung ein, nachdem nur eine Stelle an der Ulna und solche
an den Coudylen des Humerus ausgelöffelt waren. Die Beweglichkeit von Hand
und Fingern hatte in vier Fällen gelitten, unnatürliche Stellungen der Hand
wurden in zwei Fällen beobachtet. Zwei Patienten haben Beweglichkeits¬
beschränkung im Schultergelcnk; bei zwei andern hing die Schulter herab.
Deutlichere nervöse Störungen irgend welcher Art (neuralgisclie Be-
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Referate.
309
schwerden, vasomotorische und secretorische Erscheinungen) fanden sich in
sechs Fällen. J o ach im sthal-Berlin.
Urasaburo Kosima, üeber den Verlauf und Ausgang der tuberculösen Er¬
krankung des Ellenbogengelenks. Deutsche Zeitschr. f. Chir. Bd. 35 S. 65.
Das Kosima's Arbeit zu Grunde liegende Material besteht aus 137
innerhalb eines Zeitraums von 15 Jahren in der chirurgischen Klinik zu Göt¬
tingen behandelten Fällen von Ellenbogengelenkstuberculose, über deren End¬
resultat sich Kosima, soweit dies möglich war, theils durch eigene Unter¬
suchung, theils brieflich Anhaltspunkte zu verschaffen suchte. Kosima theilt
die gesammelten Fälle, je nachdem von einer eingreifenderen oder weniger ein¬
leitenden Behandlungsmethode Gebrauch gemacht worden war, in zwei Gruppen.
In der einen Gruppe figurirt die Behandlung mit Gypsverbänden, ferner die
Injection von JodoIbrmglycerin, die Incision von Abscessen, das Auskratzen
tuberculöser Granulationen sowie endlich die partielle Resection, worunter
Kosima diejenige Operation versteht, bei welcher das Gelenk ausgiebig ge¬
öffnet wurde, um die Entfernung der Heerde im Knochen oder den erkrankten
Theil der Synovialis vorzunehmen, ohne jedoch dabei wie bei der typischen
Resection die Knochenenden abzntragen. Als eingreifendere Behandlungsmetho¬
den vereint Kosima alsdann die Amputation und ty[»ische Resection in der
zweiten Gruppe.
Jodoforniinjectionen wurden nur für 2 Kranke gebraucht, beide Male
ohne Erfolg; Gypsverbände sind ebenfalls nur 2mal verwendet worden. Die
eine so behandelte Kranke ist ohne Besserung entlassen und bald an Lungen-
tuberculose gestorben, der zweite hierhergehörige Patient, der nach einer In¬
cision einen Gypsverband erhielt, wurde zwar etwas gebessert entlassen, starb
jedoch ein Jahr später ebenfalls an Lungentuberculose. Mit Incision von Ab¬
scessen , Auskratzungen und partiellen Resectionen wurden 17 Patienten be¬
handelt, so dass also 21 Patienten (15 ®/o) der ersten Gruppe angehören. Mit
eingreifenderen Methoden behandelt wurden dagegen 116 (85 7«)- Amputatio
humeri wurde dabei 8mal vorgenommen und zwar weniger des hohen Alters
der Patienten wegen als hauptsächlich wegen der ausgedehnten Zerstörung des
Gelenks und der vorgeschrittenen Tuberculose der inneren Organe. Darunter
ist in 7 Fällen primär und in einem Fall secundär nach der Resection, die
nicht zum gewünschten Ziele geführt hatte, amputirt worden. Resecirt wurde
lOSmal und zwar 94mal nach v. Langenbeck und 14mal nach König.
Was die Endresultate sowohl bei den eingreifenden als den weniger ein¬
greifend operativ behandelten Fällen betrifft, so trat vollkommene Heilung mit
mehr oder weniger Beweglichkeit ein in 48 Fällen, unvollkommene Heilung
mit zurückbleibender kleiner Fistel und beschränkter Gebrauchstahigkeit in
8 Fällen; durch Amputation geheilt wurden 6 Fälle, gestorben waren zur Zeit
von Kosima's Nachforschungen 38, unbekannt 34 Patienten. Diese Fälle ver¬
theilen sich derart auf beide oben unterschiedene Gruppen, dass von den we¬
niger eingreifend behandelten Kranken vollkommen geheilt wurden 31 ^/o, un¬
vollkommen 7,5 61,57o in der Zwischenzeit starben, während von den
Patienten der zweiten Gruppe 547o vollkommen, 87o unvollkommen geheilt
und 38 7o gestorben waren.
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310
Referate.
In Bezug auf die Frage, wie die operirten Arme sich in Bezug auf die
Function und Gebrauchsfähigkeit verhielten, betrachtet auch hierKosima die
Functionsresultate neben einander, je nachdem die Behandlungsmethode ver¬
schieden war. Von 45 durch Resection geheilten Kranken war bei 27 (60%)
Heilung mit mehr oder weniger Beweglichkeit, bei 15(33%) Heilung mit Anky¬
lose und bei 3 (7%) Heilung mit Schlottergelenk eingetreten, während von 4
mit den weniger eingreifenden Methoden Behandelte bei 3 (75 7'^) Heilung mit
mehr oder weniger Beweglichkeit, bei 1 (25 %) Heilung mit Ankylose zu Stande
gekommen w’ar. Schliesslich ergibt eine Uebersicht über die nach v. Langen-
beck und König resecirten Kranken, dass von den nach v. Langenbeck
Operirten 60 7« vollkommen, 197o unvollkommen geheilt und 317o gestorben
waren, 'während von den nach König Resecirten 38,5 7« vollkommen, 7,57®
unvollkommen geheilt und 54 7® gestorben waren. In Bezug auf die Function
des operirten Arms war Heilung mit mehr weniger Beweglichkeit eingetreten
bei 62,57® der nach v. Langenbeck und 407® der nach Kö n i g behandelten
Kranken, Heilung mit Ankylose bei 30 7® der nach v. Langenbeck, bei 607«
der nach König Operirten und Schlottergelenk bei 7,57® der nach v. Langen¬
beck, bei 07® der nach König Resecirten. Nach dieser Zusammenstellung
scheinen durcli die König’sche Methode viel mehr Ankylosen zu Stande ge¬
kommen zu sein als nach dem v. Langenbeck’schen Verfahren; doch ist die
Zahl der mit der Abmoisslungsmethode behandelten Kranken zu klein, um die
richtige Entscheidung dieser Frage zu ermöglichen.
Joachimsthal - Berlin.
Hermann Krukenberg, Beugecontractur der Finger infolge von Deviation
der Strecksehnen. Jahrbücher der Hamburgischen Staatskrankenanstalten.
II. Jahrgang 1890.
Krukenberg theilt die Krankengeschichte eines 24ijährigen Schuh¬
machers mit, der an einer Beugecontractur der Finger der rechten Eand litt.
Bei genauerer Untersuchung der betreffenden Hand zeigten sich alle in Frage
kommenden Gewebe, deren Contractur oder Insufticienz die Contractur hätte
erzeugen können, intact. Dagegen fand sich, dass am 2. bis 5. Finger die stark
hervorspringenden Strecksehnen vom Capitulum metacarpi nach der ulnaren
Seite hin abgewichen waren, so dass sie nicht mehr auf der Höhe des als Rolle
dienenden Capitulum, sondern in der ulnarwärts von demselben gelegenen
Furche zwischen den einzelnen Capitula verliefen. Ara 5. Finger zeigt« sich
die Sehne nach der Ulnarseite, nach dem Kleinfingerballen zu, stark dislocirt.
Die Beugecontraction ist nur einfach als Folge der veränderten Zugrichtung
der Strecksehnen zu erklären. Brachte man diese in ihre normale Lage, so
konnte der Patient die Finger gut strecken. Eine Operation, die wegen eines
gleichzeitigen Herzfehlers des Patienten unterlassen wurde, hätte demnach die
Fixation der Sehne an ihrer normalen Stelle durch Einraeisseln von Läng?-
furchen in die Capitula metacarpi erstreben müssen.
Die Ursache der Affection liegt nach Krukenberg in der abnormen
Lockerung des Bindegewebes, durch welches die Strecksehnen auf den Capitulis
der Metacarpi hxirt werden. Eine solche Lockerung des Bindegewebes scheint
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_h
Referate.
311
sich im Anschluss an den acuten und chronischen Gelenkrheumatismus ent¬
wickeln zu können. Der Patient Krukenberg’s hatte an letzterer Krankheit
g’elitten. H o f f a - Wtirzbu rg.
Wahncan, Die Behandlung alter Knie- und Hüftgelenkscontracturen mit oflenen
Sehnen- nnd Muskeldurchschneidungen. Jahrbücher der Hamburger Staats¬
krankenanstalten. II. Jahrgang 1890.
Empfehlung der offenen Durschschneidung aller geschrumpften Weich-
theile bei der Behandlung von Gelenkscontracturen mit nachfolgender Heilung
unter dem Schede’schen Blutschorf. Die Resultate, die in 8 mitgetheilten
Fällen erzielt wurden, sind ausnahmslos sehr gute und kann die Methode auch
nach den Erfahrungen des Ref. und denen von Lorenz nur empfohlen werden.
H 0 f f a - W ürzburg.
A. Dubrueil, Section des tendons fl^chisseui-s de Tindex, sutures des bouts
peripheriques avec le tendon du mödius; succ^s. Revue d’orthopedie
1892, Nr. 6 S. 413.
Nach einer Durchsebneidung der beiden Sehnen des oberflächlichen und
tiefen Beugers des Zeigefingers in der Hohlhand etwas oberhalb der Articulatio
metacarpO'phalangea machte Dubrueil am 5. Tage nach dem Unfall den Ver¬
such, die beiderseitigen Stümpfe aufzusuchen und eventuell durch die Naht zu
vereinen. Da sich die centralen Enden der durchtrennten Sehnen jedoch trotz
vieler Mühe nicht auffinden liessen, so entschloss sich Dubrueil dazu, die
peripheren Stümpfe leicht anzufrischen und alsdann mit Hilfe zweier Catgut¬
nähte an die Sehne des oberflächlichen Beugers des Mittelfingers zu befestigen.
Der Kranke beugte danach zunächst die beiden letzten Phalangen des Zeige¬
fingers stets gleichzeitig mit dem Mittelfinger, später soll er die volle Beweg¬
lichkeit des Index und auch die Möglichkeit, denselben unabhängig von dem
Mittelfinger zu beugen, wiedererlangt haben. Joachimsthal -Berlin.
Erb, üeber einen Fall von angebojenem Defect zweier Finger der linken
Hand. Verhandl. des naturhistorisch-medicinischen Vereins zu Heidel¬
berg 1892, S. 438.
Erb fand bei einem 60jährigen von allen sonstigen Missbildungen freien
Maurer an der linken Hand nur drei Finger, die der Patient wie jeder gesunde
Mensch gebrauchen konnte. Dem äusseren Anschein nach handelte es sich hier
um ein Fehlen des Zeige- und kleinen Fingers. Die beiden restirenden Finger
entsprechen in Form, Grösse und Stellung ziemlich genau dem Mittel- und
Ringfinger der rechten Hand. Soweit dies durch die Untersuchung am Leben¬
den, mit Bezug auf Nervenverbreitung, Muskel- und Sehnenansätze und Function,
besonders mit Hilfe des faradischen Stroms festgestellt werden konnte, schien
die Auffassung dass die drei Finger Daumen, Zeige- und Mittelfinger seien, die
richtige zu sein.
Erb verweist dabei auf eine von Wen zel-Gruber publicirten Fall, in
dem ebenfalls nur drei Finger an der linken Hand gefunden wurden, die auf
Grund der anatomischen Zergliederung als Daumen, Zeige- und kleinen Finger
zu deuten waren. Joachimsthal -Berlin.
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312
Referate.
V. Röchet, Nouveau procede de greffe tendineux dans les cas de sectiou
ancienne des tendons flöchisseurs des doigts. Gaz. hebdom. 1891, Nr. 2o.
p. 293; Lyon med. Journ. 1891, Nr. 43 p. 575.
In einem Falle von veralteter Durchtrennung der beiden Flexoren des
rechten Zeigefingers mit einer Entfernung der beiden Stümpfe um 6 cm von
einander hat Röchet ein eigenartiges Verfahren der Sehnenplastik geübt
Nachdem er am Zeigefinger durch einen longitudinalen Schnitt die Insertions¬
stelle des tiefen Beugers an der 3. Phalanx blossgelegt hatte, durchtrennte er
diese Sehne dort, wo sie durch die Spalte des hochliegenden Beugers hindurch¬
tritt. Zur Hohlhandwunde zurückgekehrt suchte Röchet sich nun den peri¬
pheren Stumpf des tiefen Beugers, befreite ihn von seinen Verbindungen mit
dem Flexor sublimis, und zog alsdann die an der Insertionsstelle freie Sehne
in ihrer Scheide nach oben in die Hohlhandwunde. Das untere Ende derselben
nähte er nunmehr an den peripheren Stumpf des Flexor sublimis, während er
das obere an das centrale Ende derselben Sehne und der Sehne des M. flexor
profundus selbst befestigte. Endlich vernähte er den an der 3. Phalanx stehen
gebliebenen Rest des Flexor digiti profundus an die Spaltränder, die hier zum
Durchti’itt der Sehne des tiefen Beugers in dem oberflächlichen Beuger vor
handen sind. Die Nähte wurden mit Seide ausgeführt, nach vorheriger An¬
frischung der durchschnittenen Sehne. Nach gutem Wund verlauf war das
Resultat ein vorzügliches, indem nicht nur die 2., sondern auch die 3. Phalanx,
letztere allerdings nicht über einen sehr stumpfen Winkel hinaus, gebeugt
werden konnte. Joachimsthal-Berlin.
W. Herz og, lieber angeborene Deviationen der Fingerphalangen (Klinodactylie).
Münch, med. Wochenschr. 1892, Nr. 20 S. 344.
Herzog hat in einem Fall von angeborener doppelseitiger Deviation
der Daumenendphalangen nach der ulnaren Seite zunächst am rechten Daumen
von einem Längssschnitt auf der ulnaren Seite des Ligamentum laterale des
Interphalangealgelenkes durchschnitten. Da hierdurch eine Correction der
Stellung nicht zu erreichen war, wurde durch einen Längsschnitt an der radialen
Seite des Gelenkes und Durchschneidung des Ligamentum laterale an dieser
Seite das Gelenk weit eröffnet und hierauf eine schräge Resection des Capitulum
der 1. Phalanx ausgeführt, wobei der Knorpel ganz entfernt wurde, und auf
der radialen Seite ein Stück Knochen wegfiel. Da jedoch das Resultat auf
dieser Seite nicht ganz befriedigend ivar, indem eine grosse Neigung zur
Deviation noch fortbestand, und ausserdem die Bewegungen im Interphalangeal-
gelenk beschrankt blieben, w’ählte Herzog am linken Daumen eine andere
Operationsmethode, indem er von einer Längsincision an der radialen Seite der
1. Phalanx aus susperiostal einen Keil mit radialer Basis entfernte, und zwar
dicht oberhalb des Interphalangealgelenkes unter Schonung desselben. Nach
Fracturirung der übrig gebliebenen, ulnarwärts gelegenen Knochenlamellen liess
sich die Stellung ziemlich ausgleichen. Die Nachbehandlung bestand in Schienen¬
verbänden und später noch Consolidation der Knochenfractur in Massage sowie
activen und passiven Bewegungen der Daiimengelenke. Das Resultat war hier¬
nach ein nahezu vollkommenes, indem keine Neigung zur Deviation bestand.
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Referate.
313
und da das Gelenk hier intact blieb, die Beweglichkeit normal und die Gebrauchs¬
fähigkeit eine gute wurde. H o ffa-Würzburg.
Oscar Eollmann, Die Behandlung des federnden Fingers. Münch, med.
Wochenschr. 1892, Nr. 32.
Eollmann führt in dem mitgetheilten Falle die Entstehung des Phä¬
nomens des federnden Fingers auf ein Trauma zurück und zwar das Entkorken
eines Mineralwasserkruges, dessen Eork maschinell zu fest eingetrieben war.
Beim Einschrauben des Eorkziehers übte dessen eiserner Bügel einen starken
Druck auf dieVola manus aus und beim Entkorken erfolgte ein starker Rück-
stoss, so dass in der Hohlhand sogleich ein brennender Schmerz wahrgenommen
wurde. Nach einigen Tagen entwickelten sich an dem ersten Interphanlangeal-
gelenk des Mittelfingers die Erscheinungen des Fedems. In der Hohlhand liess
sich dabei in der Gegend der Condyli des Mittelfingers eine leichte Verdickung
nachweisen, welche beim Spiele der Sehne als dieser und der Sehnenscheide
angehörig erkannt wurde. Genau auf die verdickte Stelle in der Hohlhand
wurde eine mit Leinraull umwickelte planconvexe Bleiplatte mit ihrer convexen
Seite, welche an der Innenseite eines starken ledernen Handschuhs eingenähi
war, applicirt und dieser Druck noch durch Bin den touren verstärkt. Bei dieser
Behandlung, die nach Eollmann nur alle 2 Tage, und in diesen Tagen nur
6—8 Stunden durchgeführt werden darf, trat vollständige Heilung ein.
H o f f a -Würzburg.
Adolf Lorenz, lieber die mechanische Behandlung der Coxitis und der fun-
gösen Gelenkserkrankungen der unteren Extremität überhaupt. (Wiener
Elinik 1892, Nr. 10 u. 11.)
Eine neue Arbeit von Lorenz wird in Fachkreisen stets mit Freuden
begrüsst. Diesen Erfolg verdient auch seine neueste Monographie, in der er
eines der bisher undankbarsten Eapitel, die Therapie der Coxitis, behandelt.
Ausgehend von dem richtigen Standpunkt, dass gerade arme Patienten das
grösste Contingent aller orthopädischen Eranken bilden, wendet Lorenz das
Augenmerk hauptsächlich darauf, dass die zweckmässigsten Mittel auch zugleich
die einfachsten sind, und dass jeder Arzt diese einfachen Mittel auch auf
kurzem Wege selbst herzustellen in den Stand gesetzt wird, falls er über
etwas mechanische Geschicklichkeit verfügt; denn der Arzt soll kein „Apparato-
therapeut“ sein, er soll seinen Patienten keine complicirten und theure Apparate
verschreiben, die dieselben in die Hände des Bandagisten liefern, sondern er
soll selbst mit der „chirurgischen Hand“ unterstützt durch die ihm zur
Verfügung stehenden mechanischen Hilfsmittel seine Kranken heilen.
Lorenz hegt, gestützt auf vielfache Erfahrung, die Ueberzeugung dass
eine frühzeitige mechanische Behandlung, welche gleich bei den ersten Sym¬
ptomen der tuberculösen Gelenkerkrankungen einsetzt, den Verlauf derselben
wesentlich modificiren und günstig beeinflussen, ja dieselben häufig sogar cou-
piren kann. Stillung der Schmerzen, um dem Patienten ungestörten Schlaf
zu verschaffen, Ermöglichung des Aufenthaltes in frischer Luft, sei es in
Horizontallage oder mit der Möglichkeit selbständiger Bewegung im Freien, das
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314
Referate.
sind die Hauptaufgaben der mechanischen Therapie der fungösen Gelenk¬
erkrankungen, erst dann kann die Erkrankung durch Hebung der Ernährung'
und Besserung des Allgeraeinzustandes günstig beeinflusst werden.
Die Coxitis gilt als die schmerzhafteste aller tuberculösen Gelenk¬
erkrankungen, und zwar treten diese Schmerzen hauptsächlich bei Nacht ein.
weil die namentlich im Beginn der Coxitis vorhandenen reflectorischen Muskel¬
spasmen, welche während des Wachens das Gelenk fixiren, sich im tiefen
Schlafe lösen, wodurch die Schmerzen entstehen. Zum Beweise hierfür ver¬
mochte Lorenz durch locale Cocainanästhesie im Gelenk diese Spasmen zu be¬
seitigen. Als beste Methode, die Schmerzen zu stillen, ist nun die Fixirung des
Gelenkes durch mechanische Mittel zu betrachten, dann verschwinden auch die
Reflexspasmen.
Den Anschauungen der amerikanischen Collegen, dass die Spasmen die
Zerstörung des Gelenkes herbeiführen, kann Lorenz nicht l^eistimmen, weil
er beobachtet hat, dass der starre Spasmus sich nur bei beginnender Coxitis
vorfindet, w’o die Gelenktheile noch intact und fest sind. Er ist auch kein
Anhänger der bisher üblichen reinen Extensionsmethode, die ihm als alleiniges
Fixationsmittel nicht ausreicht, ausserdem den Patienten an das Bett fesselt
sehr umständlich ist, bei Heftpflasteranwendung, leicht Ekzem und Excoriationen
hervon*uft und fortwährende Nachhilfe und Beaufsichtigung verlangt. So ver¬
dammt er auch die zum Theil noch bestehende »Ankylophobie“, da er als
weitere Aufgabe der mechanischen Therapie es ansieht, in jenen Fällen, wo
meist wegen zu spät eingeleiteter Behandlung eine restitutio ad integrum nicht
erzielt werden kann, sondern eine Zerstörung der Gelenktheile entsteht darüber
zu wachen, dass das Gelenk in einer zweckmässigen Stellung ankylosire. Je
fester die Ankylose, um so besser functionire das Bein. Aus diesem Grunde
verzichtet er auch auf die Ermöglichung freier Beweglichkeit während der
Fixation.
In ausführlicher Weise bespricht Lorenz, wie den Indicationen der
Fixation und Entlastung durch die üblichen mechanischen Vorrichtungen ent¬
sprochen wird, wobei er die Methode von P h e 1 p s (Patient wird mittelst Gyps-
verband auf einem nach seinen Körpercontouren geschnittenen, gepolsterten
Brett befestigt, der kranke Fuss ist dabei an das untere Ende angezogen) als
einfaches und sinnreiches Mittel die gewünschten Indicationen zu erfüllen, lobt.
Die Extensionsschienen (Davis, Taylor etc.) wendet Verfasser nicht an, weil
sie nur einen gewissen Grad von Fixation erzielen. Die durch mechanische
Fixation des Gelenkes wirkenden Schienen von Thomas, Phelps, die
LovetPsche Hüftkrücke entsprechen den an sie gestellten Forderungen, haben
aber mehr oder weniger Nachtheile, auch benöthigen sie Krückengebrauch, so
dass die einfache und sichere Methode des Verfassers mit Freude begrüsst wird.
Die Fixirung geschieht zunächst unter Belastung der spastischen Con-
tracturstellung, vermeidet also im floriden Stadium jedes Redressement, um so
mehr da die primäre pathologische Stellung des Beines die wünschenswerthe
Haltung bei Ausheilung mit Gelenkzerstörung repräsentirt. Nur bei hoch¬
gradiger Deformität corrigirt Lorenz, wobei er sich häufig der lokalen Nar-
cose mittelst intraarticu'.ärer Cocaininjcction bedient. Als Mittel zur Fixation
dient ihm das Coxitisbett, welches aus Gipsbinden in ähnlicher Weise wie das
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Referate.
315
SpOndylitisbett des Verfassers hergestellt wird. Nachdem das Bett getrocknet und
gepolstert ist, wird Patient mit straffen Binden darauf befestigt. Nach Ver¬
minderung der Spasmen und Beseitigung der Schmerzen erfolgt die Stellungs-
correctur, falls solche nöthig, durch eine neue Application des Coxitisbettes in
verbesserter Stellung, Bei hochgradigen perversen Beinstellungen wird das
Coxitisbett mit orthopädischer Extension combinirt. — Nach der Stellungs-
correctur Anlegung eines Gehapparates in Form eines inamoviblen Gipsver-
bajides oder einer nach Modell gearbeiteten abnehmbaren Holz- oder Celluloid¬
hülse. Letztere dienen auch zur Nachbehandlung, da eine längere Fortdauer
der Fixation von grösster Wichtigkeit ist. Für Herstellung aller dieser mecha¬
nischen Verbandmittel werden die genauesten Vorschriften mitgetheilt.
Die Behandlungsprincipien bei Erkrankung des Knies- und Sprunggelenkes
sind au fond dieselben, nur bietet ihre Ausführung geringere Schwierigkeit;
auch für diese Erkrankungen werden genaue, schätzenswerthe Vorschriften
gegeben.
Was die operative Behandlung der Coxitis anlangt, so beschränkt sich
Lorenz auf event. zu wiederholende Function von Abscessen mit nachfolgender
Salicylauswaschung; nur bei drohendem Spontandurchbruch mit Schmerzen und
Fieber spaltet er den Abscess breit, kratzt die Abscesshöhle aus und drainirt.
{Sollten die jetzt verbreiteten, allseitig günstig beurtheilten Jodoforminjectionen
dem Verfasser so werthlos erscheinen, dass er dieselben gar nicht erwähnt? lief.)
T a u s c h • München.
Zur Lehre der Torticollis spastica. Sammelreferat von Dr. Hoffa*Würzburg.
In den letzten Jahren ist, angeregt durch Noble Smith in London,
wiederholt die Resection des Nervus accessorius zur Behandlung der Torticollis
spastica ausgeführt worden. Die neueren einschlägigen Arbeiten sind folgende:
1. Noble Smith, Spasmodic wry*neck and other spasmodic movemente of the
head, face and neck. London 1891.
2. L. H. Petit, Traiteraent du Torticollis spasmodique par le resection du nerf
spinal. Revue d’orthopedie Nr. 4, 1891.
3. Atkin, Sheffield Medico Chirurgical Society, 25. Febr. 1892. The Lancet,
19. März 1892.
4. Ch. A. Powers, Resection of the posterior Brauches of the first three Cer-
vical Nerves for Spasmodic Wry neck. The New-York medical Journal
5. März 1892.
5. W. Keen, A New Operation for spasmodic Wryneck. Annals of Surgery.
Januar 1891.
6- A. Pearce Gould, A Gase of spasmodic Torticollis treated by Avulsion of
the central End of the spinal accessory nerve. The Lancet, 18. Juni 1892.
7. Noble Smith, Spasmodic Torticollis and others spasmodic movements of the
Head. The Lancet, 18. Juni 1892.
8. Edmund Owen, Spasmodic Wryneck, treated by resection of the spinal
accessory nerve. The Lancet, 18. Juni 1892.
9. Major u. Mr. J. Appleyard, Spasmotic Torticollis. Excision of a piece
of right spinal accessory nerve. The Lancet, 18. Juni 1892.
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. II. Baud. 21
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316
Referate.
Die Resection des Nervus accessorius zur Heilung einer Torticollis spastica
ist zuei-st von Bujalski (1834), dann von M. Campbell de Morgan ausge-
führt worden. Seitdem wurde sie mehrfach gemacht. Petit konnte in seiner
im Juli 1891 erschienenen Arbeit schon 24 Fälle zusammenstellen. Wir können
diesen noch 3 Fälle von Gould, 3 nepe Fälle von Noble Smith und je einen
Fall von Atkin, Owen, Major und Appleyard, Powers und Keen hinzu¬
fügen. Wir hätten demnach bis jetzt über 35 Fälle zu verfügen. Von den
24 Fällen von Petit war in 18 ein wesentlicher Erfolg erzielt worden (11 voll¬
ständige Heilungen, 7 wesentlicho Besserungen). Von den 11 von uns noch
hinzugefügten Fällen war das Resultat bezüglich der Heilung des Krampfes
gut in dem 1 Fall von Noble Smith — die beiden andern waren bei der
Publication noch nicht lange Zeit genug beobachtet, ebenso zwei Fälle von
Gould, ferner gut in den Fällen von Atkin, Power’s, 1 Fall von Gould,
Owen, Major und Appleyard. In dem Falle von Keen ist ein leichtes
Recidiv eingetreten, wahrscheinlich wohl, weil nicht alle Nervenfasern durch¬
schnitten worden waren. Wir hätten demnach von den 35 Fällen in mindestens
24 Fällen ein gutes Resultat zu verzeichnen.
Zur Ausführung der Resection des Accessorius kann man am vorderen
oder hinteren Rand des Stemocleidomastoideus einschneiden oder nach Keen
den Trapezius quer durchtrennen. Am besten geht man wohl am vorderen
Rand des Stemocleidomastoideus ein. Owen räth dabei einen recht langen
Schnitt von der Spitze des Warzenfortsatzes herab zu machen, weil der Nerv
erst in bedeutender Tiefe in den Muskel eintritt und man letzteren daher gut
umzudrehen in der Lage sein muss. Die Eintrittsstelle des Nerven in den
Muskel entspricht etwa dem Kieferwinkel. Gould machte in einem Falle
unwillkürlich die Nervenausreissung, wie sie Thiersch empfohlen hat. Viel¬
leicht ist diese Neurexairesis des Accessorius besser auszuführen als die Resec¬
tion, weil man so leichter alle Nervenverzweigungen entfernen kann.
Durch die Operation entsteht natürlich eine Lähmung des Kopfnickers,
Die Heilung des Krampfes erfolgt aber in der Regel nicht unmittelbar nach
der Operation, indem meist auch nach Lähmung des Stemocleidomastoideus
und des Trapezius von den übrigen Drehmuskeln des Kopfes noch ein leichter
Krampf des Kopfes hervorgebracht wird. Diese „secundären“ krampfartigen
Bewegungen vermindern sich allmählich, um dann meist ganz zu verschwinden.
Sollte dies nicht der Fall sein, so kann man nach Keen auch noch die hinteren
Aeste der Cervicalnerven durchschneiden. Um nach der Operation einen voll¬
ständigen Erfolg zu erzielen, muss man noch Monate nach derselben einen
Stützapparat für den Kopf tragen lassen und die contracturirten Muskeln
energisch massiren.
A. Poncet, De rallongemeiit d’un tendon divise, avec ecartement plus ou
moins considerable de ses deux bouts par des incisions en zigzag prati-
quees sur ses bords. — Allongement en accordeon. Gaz. hebdomad. de
medecine et de Chirurgie 1891, Nr. 48 S. 575.
Ein lOjähriger Landmann hatte sich durch einen Sensenhieb eine quere
Wunde an der hinteren ünterschenkelfläche mit vollständiger Durchtrennung
der Achillessehne ungefähr 3 cm oberhalb ihrer Insertion zugezogen. Bei recht-
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317
’^inkliger Stellung des Fusses zum Unterschenkel waren die beiden Selinen-
enden ungefähr 3 cm von einander entfernt. Da die Stümpfe nur bei stärkster
Plantarflexion des Fusses mit einander in Contact zu bringen waren und Poncet
ein Durchschneiden der Fäden fürchten musste, so vollführte er an dem oberen
Stumpf zwei zickzack förmige Einschnitte bis über die Mitte der Sehne. Es
resultirt daraus eine, beträchtliche Verlängerung, so dass nun die Sehnenenden
bequem mit einander durch zwei Seidennähte vereinigt werden konnten. Nach
aseptischem Verlauf war diis Resultat ein vollkommenes.
H 0 f f a - Würzburg.
Rudolf T emesväry, Ueber intrauterine ünterschenkelbrüche. Wiener medic.
Wochenschr. 1892, Nr. 33/34.
Temesväry constatirte bei einem 12 Tage alten Zwillingskinde intra¬
uterin entstandene Fracturen beider Unterschenkel an symmetrischen Stellen.
An der Grenze zwischen unterem und mittlerem Drittel war hier an der inneren
Fläche beiderseits ein nach innen und abwärts gerichteter, fast haselnussgrosser
stumpfer, knöcherner Höcker zu fühlen, der nach innen und nach oben mit
glattem Rande in den übrigen Theil des Schienbeins überging und über dessen
Spitze je eine weisse narbige Einziehung sichtbar war. An der Aussenseite der
Unterschenkel, ca. 1 */« cm tiefer als die erwähnten Höcker, waren ebenfalls
massig heiTorragende bohnengrosse knöcherne Erhebungen nachzuweisen. Beide
Schienbeine zeigten sich stark verdickt und erschienen in der Sagittalrichtung
zu.samraengedrückt, in der Querrichtung dagegen ausgebreiteter. Beide Unter¬
schenkel w^aren nur je 7 cm lang und so um ein Beträchtliches (ca. 5 cm) kürzer
als gewöhnlich. Die Füsse waren subluxirt; der äussere Rand stand 1*/* cm
höher als der innere. Den untersten Punkt bildete beiderseits der Talus. Die
Knie befanden sich in Valgusstellung. Sonstige Entwicklungsfehler, auch Fibu-
lardefecte, waren nicht vorhanden.
In der Literatur ist ausser dem mitgetheilten nur noch ein Fall doppel
seitiger intiauteriner Unterschenkelfracturen mitgetheilt.
H 0 f f a - W ürzburg.
Max Sperling, Ueber die Aetiologie der sogen, intrauterinen Fracturen an
den Extremitäten im besonderen der Unterschenkelknochen. Zeitschr. f.
Geburtshilfe und Gynäkologie 1892, Bd. 24 S. 225.
Sperling gelangt auf Grund ausführlicher Betrachtungen zu der Schluss¬
folgerung, dass derartige solitäre Knickungen an den Extremitätenknochen, wie
sie in der Literatur besonders bei Gurlt, Ithen und H. Braun als intrauterine
Fracturen zusaiumengestellt sind, nicht als solche, d. h. ,intrauterine Continui-
tätstrennungen von Extremitätenknocheu, entstanden meistens durch Einwirken
einer stumpfen Gewalt auf den Unterleib oder durch Uteruscontractionen“ an¬
zusehen sind, sondern dass vielmehr ihre Entstehung auf eine viel frühere Zeit,
d. h. auf den ersten bis zweiten Monat des embryonalen Lebens zu verlegen
ist, dass sie keinerlei Beziehung zu irgend einem Trauma haben, sondern vor¬
aussichtlich ihre Entstehung irgend w'elchen pathologischen, mechanischen Ein¬
wirkungen des erkrankten Amnions, besonders amniotischen Verw'achsungen
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Referate.
Falten und Strängen zu verdanken haben; dass der Ausdruck ,intrauterine
Fractur“ dagegen nur auf meist multiple Continuitätstrennungen Anwendung
finden könne, deren mittelbare oder unmittelbare Ursachen eine Allgemein¬
erkrankung des fötalen Knochensystems (sogen, fötale Rhachitis, Osteogenesis
imperfecta, Lues u. dergl.) ist. Der Vorgang bei allgemeiner Knochenerkran*
kung könnte dann wohl dem im extrauterinen Leben bei den sogen. Spontan-
fracturen vorkoramenden analog sein. Joachimsthal-Berlin.
J. Hennequin, Osteotomie des os longs. Revue de Chirurgie 1892, Nr. 9 p. 765.
Hennequin empfiehlt zur Behandlung der ünterschenkelfractur, deren
Fragmente Neigung zur Verschiebung nebeneinander zeigen, die permanente
Extension, für deren Anwendung er einen eigenen Apparat beschreibt. Den¬
selben Apparat benutzt er auch nach der schrägen Osteotomie der Unterschenkel¬
knochen, die er nach fehlerhaft mit Verkürzung geheilten Fracturen dieser
Knochen ausführt. Die Arbeit enthält einen Bericht über vier Osteotomien am
Unterschenkel wegen schlecht consolidirter Knochenbrüche und zwei Pseudar-
throsenoperationen. Joachimsthal - Berlin.
Feodor Korseh, Ueber die Behandlung der Untei*schenkelbrüche im Ümher-
gehen. Charite-Annalen 1892, II S. 439.
Kor sch hat seit IV 2 Jahren die in die chirurgische Klinik der Charite
zur Aufnahme gelangten Patienten mit Unterschenkel- und Knöchelbrüchen im
wesentlichen nach den von Krause gegebenen Vorschriften behandelt und da¬
bei gute Resultate erzielt. Die Anlegung des Gipsverbandes geschieht ohne jede
Polsterung und wird dann vorgenommen, wenn Kor sch eine weitere Schwel¬
lung der Weichtheile ausschliessen zu können glaubt. Korsch wechselt die
Verbände alle 14 Tage, um durch Massage und passive Bewegungen der Atro¬
phie der Muskeln und der Steifigkeit der Gelenke vorzubeugen.
Complicirte Untcrschenkelbrüche und einfache directe Brüche mit Quet¬
schung und Abschürfung der Haut bieten keinen Hinderungsgrund für den am¬
bulatorischen Gipsverband. Hier muss man unter Umständen etwas länger mit
dem Anlegen desselben warten. Bei einfachen Durchstechungsfracturen wird in
geeigneten Fällen die Vereinigung der Hautwunde vorgenommen, in anderen
schwerer complicirten wird unter Tamponade abgewartet, bis Verminderung
der Secretion erfolgt ist, und nun der Verband ohne Fenster angelegt. Ist
trotz des aufgelegten Jodoformgazebausches eine Durchfeuchtung des Gipses
eingetreten, so wird der Verband erneueid. Bei Quetschungen und Abschür¬
fungen der Haut. bezw. Bildung von Blasen, wird nach Abtragung der letzteren
und Rasieren des ganzen Unterschenkels der antiseptische Apparat in Bewe¬
gung gesetzt, und der Gipsverband über die mit Höllensteinlösung und Bis-
mutbum subnitricum behandelten und mit einer dünneren Salbencompresse be¬
deckten exeoriirten Stellen angelegt.
Knöchelbrüche mit Sf>rung in das Fussgelenk und Bluterguss in dasselbe
werden, nachdem eine genaue Reposition meist in Narkose vorgenommen, und
eine weitere Anschwellung des auf einer Watson’schen Schiene gelagerten Gliedes
nicht mehr zu befürchten ist, 2—4 Tage massirt und durch elastische Binden
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Referate.
319
comprimirt. In extremster Vainisstellung und dorsalflectirter Stellung des Fusses
wird dann der ambulatorische Verband am 5.—7. Tage angelegt. Je stärker
die Anschwellung war, um so häuhgere Verbandwechsel sind erforderlich, die
jedesmal zum Massiren benutzt werden. Einfache Knöchelbrüche hat Korsch
24 Stunden nach dem Unfall eingegipst; in einem solchen Falle hat er nach
24 Tagen eine vollkommene Heilung gesehen. G. Jo ach i ms thal* Berlin.
H. Nebel, Heilgymnastik und Massage im grauen Alterthum, speciell bei den
Chinesen (Arch. f. klin. Chir. Bd. 44 Heft 1).
Nebel hat sich der grossen Mühe unterzogen, den Unwalu-heiten in den
bekannten Lehr- und Handbüchern der Mechanotherapie, soweit dieselben die
Geschichte dieser Doctrin behandeln, nachzugehen und zumal die von Daily
aufgestellte, von anderen — wie Reibmayr, Schreiber, Hühnerfaut etc.—
nacbgeschriebene Behauptung, der Begründer der schwedischen Heilgymnastik,
P. H. Ling, sei nichts mehr und nichts weniger als ein Plagiator des alten chine¬
sischen „Cong-fou“ gewesen, zum mindesten aber durch dieses Buch zur Aufhellung
seines Systems angeregt worden, zu entkräften. Zu diesem Zwecke theilt uns
der Verf. den wesentlichen Inhalt des „Congfou“, welchem er in Amiot’s
Uebersetzung in der Strassburger Bibliothek aufgefunden hat, wie einige recht
anschauliche Bilder aus diesem Werke mit und weist nach, dass es beim Cong-
fou lediglich darauf hinauskommt, eine bestimmte Stellung einzunehmen und
einige Zeit zu bewahren, um dann nach einer der vielen, im Buche eingehend
besprochenen Arten zu athmen.
Nebel unterzieht sich weiter der Mühe, die physiologischen Auseinander¬
setzungen des alten, wenn auch nicht, wie die deutschen Autoren behaupten,
,ältesten* chinesischen Buches zu reproduciren, im Beginnen, bei welchem wir
dem eifrigen Autor hier nicht begleiten können. Der Beweis, den Nebel zur
Ehrenrettung Ling’s erbringen wollte, ist ihm voll und ganz gelungen.
Bum-Wien.
Arno Ido Maggiora (Modena), Untersuchungen über die Wirkung der
Massage auf die Muskeln des Menschen. Archiv für Hygiene 1892, XV
S. 141.
M a g g i o r a hat in dem Laboratorium des Prof. M o s s o unter Benutzung
der Methoden dieses Forschers für das Studium der Muskelarbeit und der Er¬
müdung eine Reihe von Untersuchungen über die Wirkung der Massage auf
die Muskeln des Menschen unter verschiedenen physiologischen Bedingungen
angestellt. Aus seinen Experimenten gehen, kurz zusammengesetzt, folgende
Thatsachen hervor:
1. Die Massage, auf einen ruhenden Muskel angew’^andt, vermehrt dessen
Resistenz, modificirt die Ermüdungscurve, indem sie das Erscheinen derselben
verspätet.
2. Die wohlthätige Wirkung der Massage ist innerhalb gewisser Grenzen
ihrer Dauer proportional; wenn diese Grenzen überschritten werden, dann er¬
hält man auch bei Fortsetzung der Massage keine weitere Vermehrung der
mechanischen Arbeit.
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Referate.
8. Die Massage 'kann die Anhäufung der Ermüdungsstoffe im Mnskel,
die durch Ausführung von zu schnell aufeinander folgenden Arbeiten entsteht,
verhindern.
4. Die verschiedenen Massagemanöver wirken in verschiedener Weise
auf die Arbeitsfähigkeit des Muskels, das Reiben und die Schläge erweisen
sich als nicht so wirksam, wie das Kneten und die gemischte Massage.
5. In dem durch das Fasten geschwächten Muskel kann die Resistenz-
fähigkeit durch die Massage beträchtlich gebessert werden.
6. Die Massage übt auf einen Muskel, der durch irgend eine Ursache,
welche wie lange Märsche, excessive psychische Arbeit, im Fieberanfall, auf
das ganze Muskelsystem einwirkt, geschwächt ist, eine erholende Wirkung aus,
so dass die normale Quantität mechanische Arbeit wieder hergestellt wird.
7. Die wohlthätige Wirkung der Massage auf die Erscheinungen der
Contraction und der Muskelarbeit hört auf, wenn sie auf einen Muskel ohne
freien Blutzutritt angewendet wird. G. Joachimsthal-Berlin.
P. Bruns, Die Luxation der Semilunarknorpel des Kniegelenkes. Beiträge
zur klinischen Chirurgie 1892, IX S. 435.
Bruns hatte in 4 Fällen Gelegenheit, die Diagnose der Luxation der
Semilunarknorpel des Kniegelenkes durch die Operation zu bestätigen. Mit
Einschluss dieser eigenen Fälle stellt er 43 Beobachtungen der genannten Ver¬
letzung zusammen, von denen 6 an Präparaten, 37 bei Operationen an Leben¬
den durch die Autopsie sicher gestellt wurden.
In Bruns 4 Fällen handelte es sich 3mal um Luxation des inneren,
Imal um eine solche des äusseren Semilunarknorpels. Die Ursache der Ver¬
schiebungen war in allen Fällen in Abreissungen und Zerreissungen am vor¬
deren Ende der Meniscen begründet. 2mal war die vordere Haftstelle aus¬
gerissen, Imal das vordere Ende von seiner Raiidverbindung losgetrennt und
mit winkliger Knickung der Fragmente wieder verwachsen. In allen Fällen
handelte es sich um veraltete bezw. habituelle Luxationen, welche tlieils durch
andauernde Functionsstörung, theils durch häußge Anfälle von Einklemmung
zur Arbeitsunfähigkeit geführt hatten. In allen Fällen wurde die partielle
Exstirpation des Meniscus ausgeführt und völlige Heilung erzielt, so dass die
Beweglichkeit und Functionsfähigkeit des Gelenkes sich wieder vollständig her¬
stellte. G. Joachimsthal-Berlin.
P. Buchheim (Leipzig), Die Bedeutung der Erschütterungen und daa Ver-
hältniss derselben zu den übrigen Handgriffen der Massage. (Deutsche
Ztschr. f. Chir. Bd. 34. — Festschrift, Herrn Prof. Dr. C. Thiersch
gewidmet.)
Anknüpfend an Hasebrock’s bekannte Versuche mit den Zand er¬
sehen Erschütterungsapparaten, hat Verf. mit dem Ewer’schen, nach Art der
amerikanischen Bohrmaschine construirten „Concussor“, welchem er mehrere
neue Ansätze beifügte, an 129 Kranken den Einfluss der localen Erschütterungen
und Fibrationen geprüft und „in nahezu allen Fällen die symptomatischen Be¬
schwerden beseitigt oder wenigstens auf kurze Zeit gebessert.* Die Fälle be-
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trafen 15 Herzkrankheiten (genauere Diagnosen fehlen), 22 Neuralgien, ferner
Kehlkopf-, Rachen- und Nasenkrankheiten, chronische Lymphdrüsenschwellung,
Icterus, Gallensteinkolik, Magen- und Leberkrankheiten, Lähmungen, Epilepsie,
Ilehim- und Rückenmarkserschütterung, Chorea, functionelle Neurosen, sowie
einige chirurgische Erkrankungen (Callusabnormitäten, Contusionen und Distor¬
sionen etc.), endlich Ohrensausen, Trommelfellverwachsung und — Kropf (!).
Ohne in die Details der Casuistik einzugehen, begnügt sich Verf. damit,
den Ewer’schen Apparat als Surrogat der Zander’schen Maschinen dem Prak¬
tiker zu empfehlen.
Interessanter als dieser meritorische Theil der Arbeit sind B u chh eim’s
einleitende Bemerkungen über Wesen und Bedeutung der Massage im All¬
gemeinen und die physiologischen Leistungen der einzelnen Handgriffe. Seine
Definition des Begriffes der Massage: „Massage ist der Gesammtbegriff aller
der zu Heilzwecken ausgeübten Handgriffe, welche ohne Wollen des Patienten
auf mechanischem Wege die Gewebe des Körpers beeinflussen, indem sie mehr
oder weniger kurz dauernde Veränderungen in derselben hervoibringen* kann
man ohne weiteres gelten lassen, zumal durch dieselbe die Erschütterungen
der Massage, und nicht — wie Nebel hartnäckig verlangt — der Heilgymna¬
stik angereiht werden.
Von ganz besonderem Interesse sind uns die für den Mechanotherapeuten
überaus werthvollen technischen Bemerkungen des Verf., welche zeigen, dass
Buch heim nicht nur bei Etfleurage, Fiction und Petrissage, sondern auch
bei Tapotement und Vibration auf correcte manuelle Massage trotz der
Anwendung des Concussors für Erschütterungsbewegungen mit Recht den
grössten Werth legt. Bum-Wien.
K. Hasebrock, Mittheilungen aus dem Hamburger Medico-mechanischen
Institut vom Jahre 1891. Hamburg 1892.
Die Mittheilungen eröffnet Hasebrock mit einem Aufsatz: Zur Wür¬
digung der Zander’schen Apparate für die active Bewegung der
chwedisehen Heilgymnastik. Es veranlasst ihn dazu der Umstand, dass
das eigentliche Princip der Z an de Eschen Apparate, was sie leisten wollen
und sollen, noch immer zu wenig bekannt ist. Von den physiologischen Er¬
wägungen ausgehend, dass die Arbeitsleistung des Muskels innerhalb der ein¬
zelnen Bewegung keine constante ist, sondern im Beginne der Bewegung an¬
schwillt, und nach Erreichung eines gewissen Höhepunktes wieder abschwillt,
darf auch der dem Muskel gesetzte Widerstand kein gleichmässiger sein, son¬
dern muss an- und abschwellen. Dass das Heer der Gymnasten und Masseure,
denen man diese Manipulationen meist überlässt, nicht sehr geeignet ist, hier
das Richtige zu treffen, muss man Hasebrock zugeben, ebenso, dass ein
grosser Theil der gebräuchlichen Apparate mit einfachem Reibungswiderstand
der physiologischen Forderung nicht entspricht. Zander hat nun in seinen
Apparaten fast ausschliesslich den belasteten Hebel verwandt, der allerdings der
genannten Forderung mathematisch vollkommen nachkommt. Durch Ueber-
tragung des Widerstands in parallel zu den natürlichen Hebelarmen stehende
Ebenen repräsentiren denn auch die Zander’schen Apparate ein gewisses
technisches Ideal.
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Referate.
Dieser Besprechung schliessen sich die Erfahrungen Hasebrock’s über
die gymnastische Behandlung der habituellen Rückgrats Verkrüm¬
mungen an. Hasebrock wendet sich speciell gegen die von Lorenz in dieser
Hinsicht geübte Kritik und gegen den Skepticismus, den man überhaupt der
schwedischen Heilgymnastik in dieser Frage entgegenbringt. Er vertritt den
wohl anzuerkennenden Standpunkt, dass auch bei der gynmastischen Behand¬
lung stets das Mobilisiren und Umkrümmen der Wirbelsäule zuerst stattzufinden
hat, und dass erst weiterhin die Appellation an die Muskulatur in Betracht
kommt, und zwar dies nur insofern, als dieselbe sich allmählich der redressirten
Stellung anpassen und diese erhalten soll. Diesem Gedankengang kann die
Berechtigung nicht versagt werden, doch würden vielleicht Hasebrock’s Resul¬
tate noch besser sein, wenn er nicht grundsätzlich von portativen Apparaten ala
Unterstützung der gymnastischen Therapie absähe. Die Mobilisirung der Wirbel¬
säule erfolgt mittelst der Zanderapparate und sucht Hasebrock den Efiect
des forcirten Redressement durch die Coiisequenz der Widerholung zu erreichen.
— Aus der Uebersicht über 54 behandelte Skoliosen geht hervor, dass im all¬
gemeinen befriedigende Resultate erzielt wurden: namentlich die lumbalen Sko¬
liosen zeigen eine theilweise recht erhebliche Besserung. Fast gar nicht wurden
dagegen die dorsalen Skoliosen durch die Gymnastik beeinfiusst, während die
S-förmigen etwa die Mitte halten. Man darf Hasebrock zustimmen, wenn er
glaubt, auf die schwedische Heilgymnastik als einen Factor hinweisen zu müssen,
mit welchem man immerhin rechnen könne, wenn die Erfolge auch nicht
ideale sind.
Besucht wurde das Institut im Jahre 1891 von 595 Personen, darunter
von 154 wegen chirurgischer Leiden. Unter diesen befinden sich auch 65 Fälle
von Functionsstörungen nach Verletzungen bei Angehörigen der Berufsgenossen¬
schaften, Leider ist hier keine genauere Statistik angegeben, doch glaubt
Hasebrock behaupten zu können, dass auch hier sich die ZandeFschen Appa¬
rate bewährt haben. Rosen feid-Nürnberg.
G. Schütz. Erster Jahresbericht (1891) der Heimstätte für Verletzte zu Nieder¬
schönhausen bei Berlin. Berlin 1892.
Der Jahresbericht der Niederschönhausener Heimstätte gibt ein anschau¬
liches Bild der recht erfreulichen Erfolge dieser Errungenschaft des Unfallver¬
sicherungsgesetzes, sowie der ZandeFschen Apparate. Die Heimstätte, ui-sprüng-
lich für 50 Betten angelegt, hat bereits nach Jahresfrist Raum für 80—85 Pfleglinge
und ist mit 37 ZandeFschen Originalapparaten ausgestattet. Das Hauptgebäude
enthält ausser den Wohn- und Schlafräumen den grossen Apparateraum mit
Massageraum, ein ärztliches Untersuchungszimmer, Wohnungen für 2 Assistenz¬
ärzte, 2 Masseure. Ein dritter Masseur wohnt im Pavillon, der im December
1891 als Erweiterungsbau geschaffen wurde.
Der Gang der Behandlung ist, dass in Abtheilungen von 12—16 Mann
an den Apparaten geübt wird, jeder Patient erhält im Uebungsraum sein ,Re-
cept“. Im Anschluss an die genau überwachten Uebungen wird die Massage
und manuelle Gymnastik ausgeführt, eventuell die nothwendige elektrische Be¬
handlung vorgenommen. Nach Beendigung ruhen die Pfleglinge, doch wird für
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Referate.
323
eine leichte Beschäftigung, die zur Unterstützung der Kur oft recht nothwendig
ist, nach Kräften Sorge getragen; eine Bestrebung, die ihren Abschluss finden
wird in der für die nächste Zeit geplanten Errichtung einer Beschäftigungs¬
und Arbeitsabtheilung.
Die von anderer Seite bis zu 33 7« beobachtete Häufigkeit der Simulation
kann Schütz nicht bestätigen: unter 269 im Jahre 1891 Entlassenen befanden
sich nur 19, d. h. 7 Simulanten. Dagegen wurde sehr häufig gefunden, dass
die Pfleglinge die Klagen über vorhandene Krankheitssyinptome stark über¬
treiben.
^ Die Frequenz der Heimstätte betrug 1891 322 Verletzte mit 18155 Be¬
handlungstagen, das Alter der Pfleglinge schwankte zwischen 17 und 69 Jahren,
der Durchschnitt berechnete sich auf 43 Jahre. Unter den Verletzungen nehmen
Knochenbrüche mit 187 Fällen den ersten Rang ein (70®/o)» es folgen Contusionen
mit 34, Weichtheilwunden mit 28, Verrenkungen mit 14, Verstauchung mit 4
und Gehirnerschütterung mit 2 Fällen.
Die Aufnahme der Verletzten erfolgte relativ spät, durchschnittlich erst
im 14. Monat nach der Verletzung, gleichwohl beweisen die Erfolge die Nöth-
wendigkeit derartiger Anstalten. Fast ein Drittel war nach der Entlassung ganz
oder nahezu erwerbsfähig, die Herabsetzung der Erwerbsunfähigkeit betrug in
Procent der Rente ausgedrückt 40,9 ®/o. Die am Schlüsse des Beliebtes an¬
geführten Krankengeschichten geben bemerkenswerthe Details über die Einzel¬
heiten der Erfolge. Rosen fei d-Nürnberg.
P. Redard, Traite pratique de Chirurgie orthopedique. Avec 771 tigures dans
le texte. Paris. Octave Doin. 1892.
In verhältnissmässig kui*zer Zeit ist eine Reihe umfangreicher orthopädi¬
scher Lehrbücher erschienen, in Deutschland die allgemeine und specielle
orthopädische Chirurgie von A. Schreiber (1888, 344 Seiten, 388 Abbil¬
dungen) und das Lehrbuch der orthopädischen Chirurgie von A. Hoffa
0891, 748 Seiten, 555 Abbildungen), in Amerika The treatise on ortho-
pedic Surgery von E. H. Bradford und R. W. Lovett (1890, 783 Seiten,
789 Abbildungen) und zuletzt in Frankreich Traite pratique de Chirurgie
orthopädique von P. Redard (1892, 1047 Seiten, 771 Abbildungen).
Jedes dieser mit grossem Fleiss und Sachverständniss ausgearbeiteten
Werke besitzt seine Vorzüge, sie ergänzen sich gegenseitig, so dass man.in
seiner Bibliothek keines derselben missen möchte. Die Lehrbücher von Hoffa
und Bradford und Lovett spiegeln mehr die Individualität der Verfasser
wieder, Schreiber und Redard lassen dagegen neben der eigenen die An¬
sicht fremder Autoren in ausgedehnterem Maasse zur Geltung kommen, sie bieten
dem Leser ein umfangreicheres Material und geben ihm dadurch Gelegenheit
selbst zu wählen und zu bestimmen. Wer sich dieser Mühe gern enthält, wird
Hoffa oder Bradford und Lovett vorziehen. Hoffa’s Buch eignet sich da¬
her auch besser für den Studirenden. Das Lehrbuch von Bradford und Lovett
zeichnet sich vor allen anderen durch die sorgsame und eingehende Behandlung
der chronischen Gelenkkrankheiten aus, das Hoffa's dadurch, dass er
auch die Lehre von den Prothesen hinzugefögt hat.
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324
Referate.
Redard hat sein Buch Frau Furtado-Heine gewidmet, in dankbarer
Anerkennung der Verdienste, die diese edle Frau sich durch Gründung gross¬
artiger Wohlthätigkeitsanstalten erworben hat. Ihr verdankt es der Verf., dass
er Gelegenheit hatte, seine Studien über orthopädische Chirurgie an einem zaiil-
reichen Krankenmaterial zu machen. Die Resultate dieser Studien und der
praktischen Prüfung verschiedener Behandlungsmethoden hat er in seiner Arbeit
niedergelegt.
Bevor Redard an die Ausarbeitung seines umfangreichen Werkes ging,
hat er aber nicht nur in der Literatur des ln- und Auslandes, sondern auch
auf ausgedehnten Reisen überall Umschau gehalten, hat fast alle wichtigeren
orthopädischen Anstalten der alten und neuen Welt aus eigener Anschauung
kennen gelernt, ist mit den Leitern deraelben in persönlichen Verkehr getreten.
Bei seiner grossen Objectivität, bei seinem gesunden kritischen Sinn, hat dadurch
sein Unheil einen um so grösseren Werth. Redard hat als Material ungefähr
in derselben Weise und in demselben Umfang bearbeitet wie Schreiber und
Hoffa, die chronischen Gelenkkrankheiten dagegen nicht so ausführlich be¬
handelt wie Bradford und Lovett, sondern nur in ihren Folgezuständen,
ebenso die Rhachitis. Die Lehre von den Prothesen hat er ganz fortgelassen,
auf die Massage geht er nur kurz im speciellen Tlieil ein. Er hat, wie Hoffa,
die Bezeichnung Chirurgie orthopedique gewählt, um damit daraufhinzu¬
weisen, welch wichtige Rolle die Chirurgie in der Orthopädie spielt.
Nach einer kurzen geschichtlichen Uebersicht, w'obei er für seine Lands¬
leute bei verschiedenen Gelegenheiten die Priorität zu wahren sucht, folgt der
allgemeine Theil: Definition, Aetiologie, Eintheilung — angeborene und er¬
worbene Deformitäten — Diagnose, Prognose, orthopädische Apparate und
Maschinen, chirurgische Operationen. Im speciellen Theil finden wir bespro¬
chen: Torticollis, Kypliose (einschliesslich der Pott’schen Kyphose), Lordose,
Skoliose, wobei besonderes Gewicht auf die Skoliose en rapport avec l’obstruc-
tion nasale gelegt wird, ferner Deformitäten des Thorax, der oberen Extremi¬
täten mit einer kurzen Beschreibung der operativen Beseitigung der Synovitis
und einer ausführlichen der congenitalen Luxationen. Bei den Deformitäten
der unteren Extremität wird in einem besonderen Kapitel die Osteite deformante
syphilitique behandelt. Sehr instructive Abbildungen veranschaulichen die Ent¬
stehung des angel)orenen Klump- und Plattfusses durch intrauterine Lagerung.
Es folgen schliesslich die Deformitäten, die durch Erkrankungen des Nerven¬
systems bedingt werden, die Deformitäten im Gefolge von Fracturen und Luxa¬
tionen, die Contracturen und Ankylosen.
Wie gegen jede Eintheilung, lässt sich auch gegen diese Manches ein¬
wenden, keine kann vollkommen sein; es liegt dies nun einmal in der eigen-
thümlichen Stellung der Orthopädie, deren Gebiet kein fest zu begrenzendes ist.
Es hat dies aber für den praktischen Gebrauch des Buches keinen Nachtheil,
da ein sorgsam ausgeführtes, vollständiges Inhaltsverzeichniss das AutÜnden der
einzelnen Abschnitte ungemein erleichtert.
Ganz besonders muss die gleichmässige Berücksichtigung der Literatur
aller Länder, besonders auch Deutschlands, hervorgehoben werden. Die ausser¬
ordentliche Literaturkenntniss des Verf. offenbart sich bei jeder Gelegenheit,
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Referate.
325
dabei hat er es geschickt vermieden, mit alten, nicht mehr gültigen Theorien
den Leser zu ermüden.
Den Schluss bildet eine reichhaltige, augenscheinlich ziemlich vollstän¬
dige Bibliographie (S. 945—1026), sehr übersichtlich geordnet, so dass es
ausserordentlich leicht ist, sich hier in kurzer Zeit zurechtzufinden.
Wer orthopädische Fragen bearbeiten will, wird das Buch kaum entbehren
können, jedem, der sich eingehender mit der Orthopädie beschäftigt, kann es
aufs wärmste empfohlen werden. Beely.
F. Dornblüth, Die Gesundheitspflege der Schuljugend. Für Eltern und Erzieher
dargestellt. Rostock, Deutsche Verlagsanstalt, 1892.
Ernst Brücke, Wie behütet man Leben und Gesundheit seiner Kinder? 4. Auf¬
lage. Wien und Leipzig, W. Braumüller, 1892.
H. Schusny, lieber Schulhygiene in Ungarn. 2. .Auflage. Leipzig, Alfred
Langkammer, 1892.
H. Cohn, Lehrbuch der Hygiene des Auges. Wien und Leipzig, Urban und
Schwarzenberg, 1891.
Wir referiren die vier im Titel genannten Schriften zusammen, weil sie
in gleichem Sinne die Hygiene des Kindesalters, namentlich aber auch die der
Schulzeit behandeln. Jedes einzelne der Werke ist als sehr willkommener Bei¬
trag zu der behandelten Frage zu betrachten und kann gar nicht genug auf
die Nothwendigkeit hingewiesen werden, dass sie von möglichst zahlreichen
Aerzten gelesen werden.
Dornblüth bringt in den vier Abschnitten seines Buches — Vor der
Schule — Die Kinder der unteren Schulstufe — Die Kinder der mittleren Schul¬
stufe — Die Jugend auf der oberen Schulstufe, eine ausführliche Schilderung
aller einschlägigen Verhältnisse. In klarer, allgemein verständlicher Darstellung
bespricht er alle Schädlichkeiten, welchen die Kinder in und ausser der Schule
ausgesetzt sein können und gibt viele gute Rathschläge, diese Schädlichkeiten
zu meiden. Das Buch kann allen Eltern und Erziehern empfohlen werden, wird
aber, wie gesagt, auch den Aerzten wegen der vielen guten Winke, die es ent¬
hält, nur Nutzen bringen können.
Ein geradezu elastisches Buch ist das des berühmten Physiologen
Brücke. Der Verfasser bringt uns in demselben in formvollendeter Weise
die werthvollsten Anleitungen über die Pflege und Ernährung des Kindes vom
Säuglingsalter an, über zweckmässige Einrichtung der Wohnung, über Ab¬
härtung, Kleidung, Leibesübungen. Weitere Capitel behandeln die Vergiftungen
und deren Verhütung und die Lehre der ansteckenden Krankheiten. Das Buch,
das bereits in 4. AuHage, diesmal aber noch mit besonderer Liebe bearbeitet,
vorliegt, braucht nicht viele Empfehlungen auf den Weg, es spricht für sich
selbst. Möchte es die weiteste Verbreitung finden!
Schusny beschränkt sich in seiner kurzen aber inhaltsreichen Schrift
auf das Gebiet der Schulhygiene. Er behandelt zunächst den objectiven Theil
derselben, die Schulbauten und die Anforderungen von Luft, Licht und zweck¬
mässigen Schulbänken. Den Haupttheil der Broschüre widmet er dann dem
subjectiven Theile, dem Unterricht und den Folgen desselben. Nachdem er
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326
Referate.
zunächst die üeberbürdungsfrage gestreift hat — die nach seiner Ansicht otl
der Schule, vielleicht aber noch öfter den Eltern zur Last fällt — kommt er
auf die Krankheiten, welche für die Schule von besonderer Wichtigkeit sind,
die Myopie und Skoliose, deren Ursachen und Verhütung, sowie auf die In-
fectionskrankheiten zu sprechen. Des Weiteren behandelt er das Turnen und
die übrigen Leibesübungen der Jugend, Schwimmen und Schlittschuhlaufen.
Er ist ferner für die Schulausflüge und die Einrichtung von Feriencolonien.
Auch diese Schrift möge in allen betheiligten Kreisen recht gründlich studirt
werden.
Last, but not least haben wir das Buch von Hermann Cohn, des
bekannten Schulhygienikers zu besprechen. Es ist dies eine Musterleistung in
jeder Beziehung. Nicht allein* der Inhalt des Buches ist auf das Sorgfältigste
und mit ausserordentlich grossem Fleisse und sehr viel Geschick bearbeitet,
sondern auch die äussere Ausstattung ist eine ganz vorzügliche, die beste w’ohl,
die bisher in einem Buche deutschen Lesern vorgeführt worden ist. Den Ver¬
legern dafür alle Anerkennung. Möchte ihr Beispiel recht viel Nachahmung
finden. Was nun den Inhalt des Buches betrifft, so hat der Verfasser in dem¬
selben einen ersten Versuch gemacht, ein Lehrbuch der Hygiene des Auges zu
schreiben. Wir können mit gutem Gewissen sagen, dass dieser Versuch durch¬
aus geglückt ist und möchten mit dem Verfasser wünschen, dass das Werk
dazu beitragen möge, das edelste Organ des Körpers vor einer Reihe von
Erkrankungen zu bewahren, von denen dasselbe nicht befallen zu werden
braucht. Die einzelnen Capitel des Buches behandeln die Blennorrhoe, Scrophu-
lose, Trachom, Pocken, Uebersichtigkeit und Schielen, Kurzsichtigkeit, Onanie,
Syphilis, Trinken und Rauchen, Blendung, Berufskrankheiten, Verletzungen,
Blutsverwandtschaft und Farbenblindheit.
Uns interessirt aus diesen Capiteln hier hauptsächlich das der Kurz¬
sichtigkeit, indem an der betreffenden Stelle die Lehre der Subsellien ausführ¬
lich erörtert ist. Ferner finden sich die für die Körperhaltung ebenfalls so
wichtigen Fragen der Beleuchtung und der Handschrift und aller einschlägigen
Verhältnisse allen modernen Anschauungen entsprechend auf das Klarste ent¬
wickelt. Hervorheben wollen wir, dass der Verfasser die Steilschrift auf das
Wärmste befürwortet.
Wir wünschen dem Buche die weiteste Verbreitung und hoflen, dass es
nicht nur von allen Aerzten, die mit den behandelten Fragen zu thun haben,
gelesen wird, sondern dass es ebenso auch Eingang findet bei den zuständigen
Behörden, den Schulmännern, Erziehern und Technikern.
H 0 f f a - Würzburg.
Georg Müller, Die Widerstandsgyranastik für Schule und Haus. Leipzig,
C. L. Hirschfeld, 1892.
Das vorliegende Büchlein soll eine Anleitung zur Erhaltung und Kräfti¬
gung der Gesundheit bieten dadurch, dass es die gymnastischen Hebungen als
Widerstandsbewegungen auszuführen lehrt. Das Buch ist also für das Volk ge¬
schrieben, nicht für den Arzt. Wir bezweifeln, ob das Bestreben des Verfassers,
die Widerstandsgymnastik allgeraeinverständlich für Jedermann darzustellen, viel
Nutzen stiften wird, fürchten vielmehr, dass es das Pfuscherthum wieder ausser-
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Referate.
327
ordentlich begünstigen wird. Selbst für den geschulten Arzt ist es oft schwer,
die Kraft des Widerstandes richtig zu bemessen, wie viel mehr wird da von
den Laien gesündigt werden. Unseres Emchtens nach sollte bei der üeber-
handnahme der sogenannten Orthopäden und Gymnasten Alles vermieden werden,
was diese Pfuscher grossziehen hilft. Erst sollten einmal die Aerzte die Gym¬
nastik studiren und sich zu eigen machen, dann wäre es immer noch Zeit
genug, sich direct an das Publicum zu wenden.
Was den Inhalt des Büchleins betrifft, so sind die einzelnen üebungen
durch Figuren illustrirt. Dabei hat der Verfasser aber leider wieder auf die
unsinnigen alten Ausdrücke, wie Flügel — Bein — links seitwärts — liegend etc.
xurückgegriffen. Unseres Erachtens nach werden diese Ausdrücke ausserordent¬
lich viel zweckmässiger ersetzt durch die Ausdrücke, wie sie bei den gewöhn¬
lichen militärischen Üebungen gebräuchlich sind. Wenn schon Üebungen vor¬
genommen werden sollen, so sollen sie nach militärischem Commando ausgeführt
werden. Was soll sich der Laie unter Flügel-spreiz bogen-stehend vorstellen?
Commandirt man ihm aber „Hüften fasst, Beine seitwärts stellt, Rumpf rück¬
wärts beugt“, so weiss Jedermann, was er zu thun hat.
Wir hoffen, dass der Verfasser unsere Ansicht nicht verübeln wird. Wir
können nicht anerkennen, dass das Bedürfniss nach einer solchen Anleitung besteht.
Was uns fehlt, das ist ein für den Arzt geschriebenes Buch, bei dem aber nicht
die einzelnen üebungen geschildert werden, sondern bei dem beschrieben wird,
welche Muskelgruppen bei den verschiedenen Üebungen in Anspruch genommen
werden und wie sich die einzelnen Muskeln selbst in Angriff nehmen lassen.
Ein guter Anfang ist in dieser Beziehung durch das gleich zu besprechende
Buch von Hughes gemacht worden. Hoffa-Würzburg.
J. Rossbach, Lehrbuch der physikalischen Heilmethoden für Aerzte und
Studirende. Zweite vermehrte Auflage. Berlin, August Hirschwald, 1892.
Das Werk hat für den Orthopäden insofern Interesse, als im letzten
Theil Heilgymnastik und Massage behandelt werden. In kurzen, klaren Zügen
verbreitet sich der Verfasser über die einzelnen Methoden des Turnens und der
Heilgymnastik, von denen er so vieles bespricht, dass der praktische Arzt seine
Auswahl treffen kann. Bei seiner Abhandlung über Massage wird dem prak¬
tischen Arzte besonders das Capitel über therapeutische Anwendung willkommen
sein. Ein weiterer Vorzug ist die ausgedehnte Angabe der einschlägigen
Literatur. Bonnenberg -W ürzburg.
H. Hughes, Lehrbuch der Athmungsgyranastik. Wiesbaden, Verlag von J.
F. Bergmann, 1893.
Das vorliegende Buch bestrebt sich, die Athmungsgymnastik — die bis¬
herigen Vorschriften von Oertel und Zander ergänzend — wissenschaftlich
zu begründen und zu verwerthen. Wir können dem Bestreben des Verfassers
nur Anerkennung zollen und halten mit dem Buch eine Lücke in der Literatur
für ausgefüllt. Demgemäss wünschen wir dem Buch eine recht weite Ver¬
breitung. Vor allen Dingen begrüssen wir es freudigst, dass der Verfasser
nicht nur die einzelnen Üebungen beschreibt, sondern dass er dabei stets auch
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Referate.
Recheoschaft ablegt von der Thätigkeit der an diesen Uebungen betheiligien
Mnskeln, dass er ferner die Nomenclatur der Uebnngen recht einfach gestaltet
und die Uebungen selbst gut illustrirt hat.
Der Stoff ist in der Weise bearbeitet, dass zunächst die Stellung und
Haltung des Körpers, dann das Verhalten der oberen Luftwege bei der Respi¬
ration beschrieben werden. Dann folgt eine Analyse der einzelnen Körper^
bewegpingen beim kräftigen Athemholen, ein Capitel über das halbseitig»
Athmen, über besondere Athmungsweisen, über die manuelle Unterstützung und
instrumenteile Unterstützung bei den Athemübungen. Schliesslich wird aus¬
führlich die Wirkung und Anwendung der Athemübungen und ihre Verord¬
nungsweise beschrieben. Einige Receptproben geben das Muster ab, in welcher
Weise der Verfasser die verschiedenen Uebungen bei den verschiedenen Er¬
krankungen angewendet wissen wül.
Alles in Allem können wir das Buch nur empfehlen. Bei kritischer An¬
wendung im Sinne des Verfassers werden die Athemübungen sicher vielen
Patienten ausserordentlich heilbringend sein. Ho ff a-Würzburg.
Beiträge zur Chirurgie. Festschrift gewidmet Theodor Billroth von
seinen Schülern. Stuttgart, Verlag von Ferdinand Enke, 1892.
Wir möchten die Leser dieser Zeitschrift auf die Festschrift aufmerksam
machen, die Theodor Billroth, dem ja die Orthopädie so manchen Fort¬
schritt verdankt, von seinen Schülern zur Feier seiner 25jährigen Thätigkeit als
Fig. 3. Fig. 4.
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Referate.
329
Professor der Chirurgie an der Wiener Hochschule gewidmet worden ist.
Specielles Interesse haben für uns die Arbeit von Max Scheimpflug: Zur
chirurgischen Behandlung tuberculöser Ellenbogenerkrankungen im Kindesalter,
die an anderer Stelle referirt ist, und die Arbeit von Heinrich Thausing:
Die Therapie der Coxitis tuberculosa an der Klinik Billroth’s. Wir erfahren aus
dieser Arbeit, daasBillroth ein grosser Freund der conservativen Coxitis*
Behandlung ist und dass er die ambulatorische Gypshosenbehandlung der
Extensionsbehandlung im allgemeinen vorzieht. Die Technik des Gypsverbandes
wird genau beschrieben. Der Gypsverband wird angelegt mit Hülfe des
v. Hacker’schen Stützapparates (Wiener klin. Wochenschrift 1889 Nr. 14).
Ein nach der Angabe v. E i s e 1 s b e r g’s in den Gypsverband mit eingegypster
Querriegel zwischen den Beinen, der aus einem durch Gypstouren verstärkten
Brettchen aus weichem Holze besteht (Fig. 3, 4), macht den Verband wesentlich
fester und das Heben des Patienten z. B. auf die Bettschüssel viel bequemer.
Die Resection ist erst im äussersten Nothfall indicirt, wenn profuse Secret-
absonderung, wachsender Kräfteverfall, nicht durch anderweitige tuberculöse
Processe in anderen Organen bedingte, allabendliche Temperatursteigerungen
und Beckenabscesse vorhanden sind. Erst der Befund bei der Operation ent¬
scheidet, wie viel resecirt werden muss. Hoffa-Würzburg.
E. Albert, Diagnostik der chirurgischen Krankheiten. Wien, Verlag von
Alfred Hölder, 1893.
Ein Referat und eine Empfehlung der anerkannt vorzüglichen und jetzt
bereits in 6. verbesserter Auflage erschienenen Chirurgischen Diagnostik ist
auch an dieser Stelle angezeigt, da es auch die Differentialdiagnostik ortho¬
pädischer Leiden einschliesst. So behandelt gleich das erste Capitel die ab¬
normen Kopfhaltungen und die ihnen zu Grunde liegenden Krankheiten.
Andere Capitel aber erörtern die Gelenkserkrankungen, die Spondylitis und
schliesslich die Skoliose. Beherzigenswerth ist, was Albert bei der Diagnose
der Skoliose sagt: »Auf dem Gebiete der seitlichen Rückgrats Verbiegungen wird
von den Aerzten heute noch vielfach gesündigt. Einerseits werden beginnende
Skoliosen verkannt, andererseits wird eine geringe seitliche Abweichung leicht
genommen und die frivole Tröstung (!) ausgesprochen, das werde sich schon
von selbst ergeben. Die Doctoren sollten da von den Müttern
lernen, und zwar sowohl das Sehen, als auch die B esorgniss.“
Wir wünschen, dass das Albert’sche Buch von recht vielen Aerzten
gründlich studirt. werden wird. Hoffa-Würzburg.
Alfred Levertin, Dr. G. Zander’s medico-meclianische Gymnastik. Stock¬
holm 1892.
Levertin, der langjährige Assistent Zander’s, hat sich der dankens-
werthen Aufgabe unterzogen, in dem vorliegenden, mit dem Bildniss Zanders
geschmückten und mit zahlreichen Abbildungen der Zander’schen Apparate
versehenen Büchlein die Zander sehe Methode einem weiteren ärztlichen Publi¬
cum zugänglich zu machen. Der Verfasser behandelt der Reihe n^ich zunächst
die Theorie der Zander’schen Gymnastik, dann deren technische Ausführung,
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330
Referate.
die Erschütterung als Bewegung in der raedico-mechanischen Gymnastik cur, die
Wirkungsart der mechanischen Heilgymnastik, die diätetische und die Ent¬
wickelungsgymnastik nach der Zander sehen Methode und schliesslich die An¬
wendung der Methode bei krankhaften Affectionem Ein besonderes Capitel ist
der Skoliosenbehandlung gewidmet, ein anderes der Bedeutung der medico-
mechanischen Institute für die Berufsgenossenschaften, insbesondere für die
Nachbehandlung Verletzter.
Möchte das Buch eine recht weite Verbreitung finden und der Zander*-
schen Methode die verdiente ausgedehnte Anwendung erreichen helfen.
H 0 f f a - Würzburg.
C. Kaufmann, Handbuch der Unfallverletzungen mit Berücksichtigung der
deutschen, österreichischen und schweizerischen Unfallpraxis. Für Aerzte,
Versicherungsbeamte und Juristen. Stuttgart, Verlag von Ferdinand
Enke, 1893.
Das vorliegende Buch Kaufmannes hilft entschieden einem dringenden
Bedürfniss ab und bürgt schon der gediegene Name des Autors für einen guten
Inhalt. In der That findet man in dem Buche alle einschlägigen Verhältnisse
äusserst klar und ausführlich beschrieben, so dass die Aerzte, welche eine Un¬
fallverletzung zu begutachten haben, einen in jeder Beziehung guten Rathgeber
an dem Buche finden. Es finden sich zunächst alle für die ärztliche Thätigkeit
in Betracht kommenden Bestimmungen der Unfall Versicherungsgesetze im
Deutschen Reiche und in Oesterreich und der Haftpflichtgesetze in der Schweiz
dargestellt. Dann werden vom Kopf bis zu den Zehen herab die einzelnen
Unfallverletzungen mit besonderer Berücksichtigung ihrer Heilungsdauer und
ihrer Folgen für die Erwerbsfähigkeit besprochen. Den Schluss des Werks
bildet das Capitel der traumatischen Neurosen.
Das einzige, was dem Buche noch fehlt, was aber nicht dem Autor zur
Last zu legen ist, sondern der bisher noch mangelhaften Literatur, ist, dass
die Schätzungen von Unfallfolgen in relativ sehr geringer Zahl angegeben
sind. Gerade hierin sucht der Praktiker aber gern einen Anhaltspunkt. Eine
Abhilfe wird hier erst möglich sein, wenn die Versicherungsbehörden ihre Ent¬
scheidungen den Aerzten übersichtlicher und vollständiger als bisher zugäng¬
lich machen.
Wir sind überzeugt, dass sich das Buch Kaufmannes in den einschlä¬
gigen Kreisen rasch die gebührende Anerkennung erwerben wird. Dem Verfasser
hat die Ausarbeitung desselben jedenfalls grosse Mühe und Arbeit bereitet.
Ho ff a-Würzburg.
Max S c h e i m p f 1 u g , Die exspectative und initiative Behandlung chirurgischer
Tubercnlose im Erzherzogin Maria Theresia-Seehospize von 1888—1891.
Stuttgart 1892.
Verfasser gibt in seiner Abhandlung eine übersichtliche, nach den ein¬
zelnen Localisationen geordnete Zusammenstellung der in dem seiner Leitung
unterstellt gewesenen Hospize zur Behandlung gekommenen Tuberculosen,
illustrirt durch zahlreiche Krankengeschichten. Von allen Fällen wurde die
^lehrzahl operativ behandelt, da eben die meisten in vorgeschrittenem Zustande
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Keferate.
;33l
zur Aufnahme kamen; nur verhältnissmässig wenige heilten bei exspectativer
Behandlung. Nach Jodoformglycerininjectionen sah Verfasser eher Verschlimme¬
rung, denn Besserung. Ueber die erzielten Erfolge belehrt am besten die dem
Werke beigefügte Statistik, wonach von 495 Fällen 365 (73,74 ®/o) geheilt, 112
(22,63 °/o) gebessert wurden und 18 (3,68 ®/o) starben.
Bonn enb erg-Würzburg.
Carl Werner, Die Massage und Heilgymnastik. Anwendung, Technik und
Wirkung. Für Aerzte und Laien. Berlin SW., Hugo Steinitz, 1892.
Wir können uns damit begnügen, einzelne Stellen aus dem Buche selbst
anzulTihren. In dem Vorwort sagt Verfasser, dass auch diese Auflage „allen
denen, welche die Massage erlernen wollen, ein praktischer und kurz gefasster
Lehrer und Führer“ sein soll. Seite 75 sagt dann Verhisser: „Ks ist gerade bei
dieser Behandlungsmethode die grösste Gefahr darin zu suchen, dass sie leicht
in die Hände von Laien rällt, sogenannter Streichmänner und -Frauen, die
irrationell verfahrend und schematisirend, ohne die ärztliche Vorbildung, nicht
im Stande sind, eine Prognose zu stellen, alles über einen Leisten streichen
und kneten, und dabei das grösste Unheil anrichten.“ — Wir sind sehr
erstaunt, dass Verfasser nach dieser Auslassung dennoch ein
Buch über Massage, wie er selbst .sagt, für Laien schreibt, durch das
dem Curpfnscherthum Thür und Thor geöffnet wird.
B 0 n n e n b er g - Würzburg.
Julius Wolff, Das Gesetz der Transformation der Knochen. Berlin, Verlag
von A. Hirschwald, 1892.
Das vorliegende Werk hat den Zweck, diis von dem Verfasser auf-
gestellte „Gesetz der Transformation der Knochen“ und die auf diesem Ge¬
setze fassenden Lehren von der „functionellen Knochengestalt“ und von der
^Transformations-Kraft“ in möglichst erschöpfender Weise inatheinatisch,
anatomisch und klinisch zu begründen. Das Werk hat zugleich den Zweck,
die aus dem Gesetze der Transformation der Knochen für die Knochenlehre,
für viele andere Gebiete der medicinischen Wis.sensehaften und für gewisse
Fragen der allgemeinen Naturansehauung herzuleitenden Schlussfolgerungen
einer eingehenden Betrachtung zu unterziehen.
Julius Wolff ist mit der Herausgabe dieses Werkes ein seltenes Glück
zu Theil geworden. Ks ist ihm vergönnt gewesen, in demselben nach vieler
.Jahre Arbeit das Gebäude fertig zu stellen, zu dem er den Grundstein .schon
im Jahre 1870 gelegt hat. In unausgesetztem, emsigen Fleis.s hat er Stein für
Stein zu dem Gebäude herbeigetragen, und wenn dasselbe jetzt vollendet da¬
steht, so kann der Baumeister .sein Werk mit gei*echteni Stolze betrachten.
Wie aber ein schönes Haus die ganze Stadt ziert, so ist auch das Wölfi sche
Werk eine Zierde deutscher Wissenschaft und deutscher Gründlichkeit zu
nennen, und können wir daher nicht nur dem Verfasser zur Vollendung des
Werkes gratuliren, sondern auch uns selbst, dass uns dieses Werk beschert
wurde. Julius Wolff hat sich mit dem.selben ein unvergängliches Denkmal
gesetzt.
Zeitschrift für orthopfulische Cblrnr^ie. II. It.iiul. 22
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332
Referate.
Skizziren wir nun den reichen Inhalt des Werkes, das durch 12 wunder¬
volle Tafeln und eine auch sonst prachtvolle Ausstattung den guten Kern auch
in einer schönen Schale darbietet, so liehandelt der erste Abschnitt den Begriff
des Gesetzes von der Transformation der Knochen. Es ist unter diesem Gesetze
der Transformation der Knochen dasjenige Gesetz zu verstehen, nach welchem
im Gefolge primärer Abänderungen der Form und Inanspruchnahme, oder auch
bloss der Inanspruchnahme der Knochen, bestimmte, nach mathematischen
Regeln eintretende Umwandlungen der äusseren Form der betreffenden Knochen
sich vollziehen.
Das Verständniss des 'Pransformationsgesetzes ist nur möglich auf Grund
einer genauen Kenntniss gewisser Verhältnisse der normalen inneren Knochen-
architectur und namentlich auf Grund der Kenntniss der von dem Züricher
Mathematiker Culmann entdeckten mathematischen Bedeutung dieser Archi-
tectur. Demgemäss behandelt der zweite Abschnitt des Werkes nach Voraus¬
schickung der Geschichte der Entdeckung der inneren Knochenarchitectur. zu¬
nächst die Architectur des menschlichen coxalen Femurendes als der für die
Darlegung der Verhältnisse geeignetsten Körperstelle. Alsdann wird die Be¬
deutung der Spannungstrajectorien der graphischen Statur auseinandergesetzt
und hierauf unter Herbeiziehung der Cu 1 mann’schen Berechnungen für den
oberschenkelähnlichen Krahn, die mathematische Bedeutung der inneren Archi¬
tectur der Knochen erläutert. Das Studium dieses Abschnittes ist dringend zu
empfehlen. Ohne eine genaue Kenntniss desselben ist ein Verständniss des
Transformationsprocesses unmöglich.
Nur durch ein Missveiständniss dieses Theiles konnte Körte weg zu
seinen in diesem Hefte unserer Zeitschrift niedergelegten Angriffen gegen die
Lehre Wolffs kommen. Wir müssen Julius Wolff entschieden beistimmen,
dass Körte weg nur durch eine ganz irrthümliche und falsche Deutung des
Inhalts der Wolff sehen Arbeit über die Drucktheorie zu seinen Ausführungen
veranlasst werden konnte. Korteweg hat sich durch den Ausdruck von der
Belastung der Querschnitte irre führen lassen. Dieser Ausdruck könnte ja auch
zu Irrthiimern Veranlassung geben, hätte Julius Wolff nicht ausführlich
erörtert, aus welcher Ursache er ihn gebrauchte. Hätte Julius Wolff nicht
von der Belastung des Querschnittes gesprochen, sondern etwa von dem ,speci-
fischen Druck und Zug“, der an den einzelnen Punkten des Querschnittes
herrscht, so hätte ihn auch wohl Korteweg verstanden. Wir bedauern ausser¬
ordentlich, dass gleich der erste Anlauf gegen das Transformationsgesetz in so
irrthümlicher Weise unternommen wurde und fordern um so mehr zu einem
gründlichen Studium desselben auf.
Der dritte Abschnitt des Werks behandelt die Transformationen der
inneren Architectur und der äusseren Gestalt der Knochen. Es
werden hier diejenigen Abänderungen der Form und Architectur ins Auge ge¬
fasst, welche eintreten, wenn die Knochen, sei es eines jugendlichen oder eines
ausgewachsenen Individuums, unter Verhältnissen functioniren, welche
von der Norm ab weichen. Demgemäss werden besprochen: 1. die Trans¬
formationen der inneren Architectur der Knochen bei pathologischen
^^törungen der äusseren Knochenform, 2. die secundären Um
Wandlungen der äusseren Knochenform bei primär pathologischen
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Referate.
333
Veränderungen dieser Form, 3. die Umwandlungen der Architectur
und der Form der Knochen bei pathologischen Störungen der sta¬
tischen Inanspruchnahme der Knochen und 4. die Umwandlungen
<ler Form und Architectur der Knochen bei absichtlich herbeigeführten
Abänderungen dieser Inanspruchnahme.
Auf die allgemeine Betrachtung der Transformationen führt Julius
Wolff alsdann den speciellen Nachweis der betreffenden Transformationen an
pathologischen und experimentell gewonnenen Knochenpräparaten, sowie an
klinischen Befunden. Schliesslich folgt dann die Erörterung der Theorie des
Entstehens jener Transformationen, sowie die Betrachtung der histiologischen
Vorgänge bei den Knochentransformationen.
Der vierte Abschnitt des Werkes behandelt die Lehre von derfunc-
tionellen Knochengestalt. Zuerst werden die bisherigen Anschauungen
über die Ursachen der Knochenformen aufgeführt, daen folgt die Kritik dieser
Anschauungen mit besonderer Berücksichtigung der „Drucktheorie“, die mathe¬
matisch, anatomisch und klinisch widerlegt wird. Schliesslich begründet der
Verfasser seine Theorie von der „functioneilen* Knochengestalt, indem er den
Beweis auch wieder auf mathematischem, anatomischem und klinischem Wege
beibringt. Bekanntlich behauptet diese Lehre von der functionellen Gestalt der
Knochen, dass diese letztere einzig und allein bestimmt wird durch die statische
InJinspruchnahme, für welche der Knochen bestimmt ist, oder, was dasselbe ist,
durch seine Function. Nur die statische Brauchbarkeit und Nothwendigkeit,'
oder das statische üeberflüssigsein entscheiden über die Existenz und Oertlich-
keit jedes einzelnen Knochenpartikelchens und demgemäss auch über die ge-
sammte Knochenform. Apposition, Inteqmsition, Schrumpfung, Massenschwund,
Expansion und Resor^ition — also alle diejenigen Dinge, durch welche die
Form der Knochen verändert werden kann —, sind nichts als die verschiedenen
P^inzelvorgänge. mittelst welcher zu verschiedenen Lebenszeiten und an den
verschiedenen Oertlichkeiten, unter normalen Verhältnissen und bei patholo¬
gischen Veränderungen der statischen Inanspruchnahme, die alle diese Vorgänge
beherrschende Activität und functionelle Anpassungsfähigkeit der
Tela ossea in die Erscheinung tritt. „Es ist der Geist, der sich den Körper
baut.“ Durch dies auch von Roux für seine Lehre vom „Kampf der Theile
im Organismus“ herbeigezogene Wort Schiller's wird das Ergebniss der
Julius Wolff sehen Untersuchungen über die Ursachen und die Bedeutung der
Knochenformen und über die Irrthümlichkeit der früheren Erklärungsversuche
dieser Formen in treffender Weise gekennzeichnet.
Der fünfte und sechste Abschnitt, die für den Orthopäden besonders
werthvolle und zu beherzigen sind, lehren die „Transformationskraft“
und ihre Verwendung als therapeutische Kraft kennen und ziehen
d ie Schlussfolgerungen aus dem Gesetze der Transformation der
Knochen.
Es ist unmöglich, im Rahmen eines Referates den reichen Inhalt dieser
Abschnitte wiederzugeben. Wir heben nur hervor, dass Jeder, der Orthopädie
treibt, dieselben lesen und sich zu eigen machen muss. Wir finden neben den
Schlussfolgerungen aus dem Transformationsgesetze für die Lehre vom normalen
Knochenwachsthum, für die Lehre von der Heilung der Knochenbrüche, für die
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334
Referate.
Lehre der Rhachitis, eine dem Transformationsgesetz entsprechende neue Ein-
theilung der Deformitäten, wir finden ferner die Pathogenese dee Klumpfusses,
des Genu valgum und der Skoliose erörtert, wir finden die Forderungen, die
das Transformationsgesetz für die Behandlung der Deformitäten verlangt und
finden schliesslich eine neue Lehre, die ’der afuöctionellen Orthopädie*,
begründet.
Weiterhin sind angeschlossen Schlussfolgerungen aus dem Gesetze der
Transformation der Kiiochengewebe für die Verhältnisse anderer Gewebe des
Organismus, für die Structur der Pflanzen und die Frage nach den Trans¬
formationen dieser Structur, für die Lehre vom Stoffwechsel, von der Entzündung
und Regeneration.
Philosophische Betrachtungen, welche sich als Schlussfolgerungen aus
dem Transformationsgesetz ergeben, und zwar die teleologische Naturauffassung
im Lichte des Transformationsgesetzes, die Bedeutung dieses letzteren für die
Theorie der Mechanik, für die Lehre von der „Organprojection* und für die
Descendenzlehre, bilden den Schluss des Werkes.
Möge dasselbe fruchtbringend auf unsere Wissenschaft wirken und möchte
der Verlä’sser desselben die wohlverdiente Anerkennung für dasselbe in reichstem
Maasse finden.
Erwähnen wollen wir noch, dass die Herausgabe des stattlichen Werkes
durch die Königlich Preussische Academie der Wissenschaften erfolgt ist.
H 0 ff a - Würzburg.
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XX.
Mittheilnngen über die Zander’scbe Mecbanotberapie.
Eingeleitet von
Dr. Hermann Nebel.
Im Nachstehenden gebe ich, in freier Uebersetzung, einen von
Dr. Gustav Zander vor der allgemeinen Aerzteversammlung in
üpsala 1889 gehaltenen Vortrag wieder, der bei uns nicht, wie er
es verdient hätte, bekannt geworden ist. Die Arbeit möchte als
Einleitung dienen für eine Reihe von Mittheilungen über die von
dem genialen Stockholmer Arzte ersonnene und stetig weiter aus¬
gebildete Mechanotherapie von Seiten seiner Schüler, resp. von Ver¬
tretern der Z a n d e raschen mechanischen Behandlungsmethode, welche
nirgends so rasche und stetig voranschreitende Verbreitung gefunden
hat, wie bei uns in Deutschland. Obwohl sich gerade hier zunächst
verschiedene Massage-Schriftsteller mit oberflächlich absprechenden
Urtheilen und kaum begreiflicher Animosität bemüht hatten, der neuen
Methode den Weg zu verlegen, haben wir ja bereits 18 „medico-
mechanische Zand er-Institute“ in Deutschland:
2 in Baden-Baden, das erste im Grossherzogi. Friedrichs-
Bad, als erste derartige Anstalt in Deutschland, 1884
eingerichtet, das zweite im Kaiserin Augusta-Bad wird
dieses Frühjahr eröfihet;
1 in Hamburg seit 1886;
1 „ Berlin seit 1887;
1 „ Nieder-Schönhausen bei Berlin (Arbeiterheim) seit 1889;
1 „ Karlsruhe seit 1887;
1 „ Breslau seit 1888;
1 „ Mannheim seit 1888;
*) Der Vortrag ist gedruckt im Nordiskt medicinskt Arkiv Bd. 21 Nr. 22.
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. IL Band. 28
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336
Hermann Nebel.
1 in Frankfurt a. M. seit 1889;
1 « Dresden seit 1889;
1 „ Würzburg seit 1889;
1 , Leipzig seit 1891;
1 „ Wildbad seit 1892;
1 „ Stuttgart seit 1892;
1 „ Wiesbaden seit 1892;
1 „ in Bochum seit 1892, vorzugsweise für Nachbehand¬
lung von Unfallsverletzten von der Knappschafts-
Berufsgenossenschaft eingerichtet;
1 „ Aachen seit 1893;
1 „ Königshütte seit 1893;
dazu kommen noch 4 mit einer kleineren Anzahl Zander'scher
Apparate versehene Heilanstalten:
Dr. Friedrich's Anstalt in Pforzheim seit 1887;
Krüche’s sogen, physikalische Heilanstalt in München seit 1890;
Dr. Ammann's orthopädisches Institut in München seit
1891, und
cand. med. Nycander’s gymnastisches Institut in Elberfeld
seit 1892.
In Schweden existiren ausser dem grossen, vonDr. 6. Zander
selbst seit 1865 eingerichteten und geleiteten Stockholmer medico-
mechanischen Institut noch 7 kleinere derartige Anstalten, nämlich
1 zweite in Stockholm seit 1881 und 1 dritte daselbst seit 1884,
1 in Gothenburg und kleinere in Upsala, Oerebro, Norrköping, Hjulsta.
Norwegen hat 1 medico-mechanisches Z a n d e r - Institut in
Christiania seit 1885.
Dänemark hat 1 medico-mechanisches Zand er-Institut in
Kopenhagen seit 1889.
Finnland hat 2 Zander -Institute, 1 in Helsingfors und 1 in
Abo seit 1877.
Russland hat 2 Z a nd er - Institute, 1 in St. Petersburg und
1 in Moskau seit 1877.
England hat nur 1 medico-mechanisches Institut in London
seit 1881.
Oesterreich-Ungarn hat 2 Z a n d e r - Institute, in Budapest seit
1883, in Wien seit 1889.
Die Schweiz hat 1 Zand er-Institut in Ragaz-Pfäfers seit 1893.
In Frankreich existirt bis jetzt keine derartige Anstalt!
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Mittheilungen über die Zander'sche Mechanotherapie.
337
Nord-Amerika hat bereits 4 medico-mechanische Zander-
Institute: 2 in Baltimore seit 1889, 1 in New York seit 1890, 1 in
St. Louis seit 1892. In der Einrichtung begriffen sind Chicago,
Boston, St. Francisco.
Süd-Amerika hat 1 Zander-Institut in Buenos-Aires
seit 1884.
Wir haben also 22 grössere und kleinere Zand er-Institute
in Deutschland, während in allen andern Ländern zusammen bis
jetzt nur 23 derartige Heilanstalten existiren.
Der im folgenden wiedergegebene Vortrag von Dr. Zander
gibt vor allem eine wohl Vielen willkommene Beschreibung seines
bewährten Rumpf-Haltungs-Messapparates und seines Gebrauches,
sowie auch seines noch kaum bekannt gewordenen vorzüglichen In¬
strumentes für Rumpf-Querschnitts-Messungen.
Da der Vortrag, abgesehen von der Besprechung seiner Lage¬
rungsapparate, nicht in die Details der von Dr. Zander ausgebil¬
deten Skoliosentherapie eingeht, sondern nur, im Anschlüsse an
die Erörterung interessanter und wichtiger Präliminarfragen, kurz
die Grundzüge der Behandlung darlegt, so will ich versuchen,
meinem verehrten Lehrer mit einer ausführlicheren Darstellung
s'ämmtlicher von ihm als Bekämpfungsmittel der Skoliose ange¬
gebenen Bewegungen und mechanischen Einwirkungen zu folgen.
MittheUungen aus den verschiedenen medico-mechanischen
Zander-Instituten werden sich hoffentlich bald anreihen. Zu¬
nächst dürften wohl Berichte über eine grosse Summe von Rumpf¬
messungen, sowie über die Resultate der Behandlung von Haltungs¬
fehlern zu erwarten sein; weiterhin gewiss auch Aufsätze über andere
Der Messapparat ist von mir bei verschiedenen Gelegenheiten, aber
nie ausführlicher, besprochen worden. Daher mag es auch kommen, dass
Schulthess in seiner Aufzählung und Rubricirung der verschiedenen Mess¬
vorrichtungen für Skoliotische (Centralblatt für orthopädische Chirurgie 1887)
dem Zand er sehen Apparate gar wenig gerecht zu werden wusste, obwohl
derselbe, bei grösserer Einfachheit und Solidität, doch durchaus Alles zu messen
ermögheht, was der von Schulthess erfundene und als non plus ultra hin¬
gestellte Mess- und Zeichnungsapparat ermöglicht.
üebertroffen wird der Zander’sche Rumpfmessungsapparat, meiner An¬
sicht nach, nur von einem neuerdings von Dr. v. Heinleth construirten, im
Hamburger Krankenhau.se aufgestellten Apparate, der eine Combination eines
veränderten Zand ersehen Rumpf-Haltungs-Messapparates mit einem Umfangs-
Zeichenapparate darstellt.
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Gustav Zander.
mechano-therapeutdsclie Kapitel, wie die Behandlung der Kreislaufs¬
störungen, der Rheumatiker, der Neurastheniker, der Folgezustande
nach Verletzungen u. a. m.
lieber die Behandlung der habituellen Skoliose mittelst
mechanischer Gymnastik.
Von
Dr. Oastav Zander-Stockholm.
Mit 20 in den Text gedruckten Abbildungen.
Die Skoliosenbehandlung, deren Ausbildung und Vervoll¬
kommnung mich jetzt unentwegt beschäftigt, ist erst seit 1882 eine
Specialität des bereits 1865 von mir errichteten und bis heute ge¬
leiteten medico-mechanischen Institutes in Stockholm geworden.
Erst nachdem es mir gelungen war, einen zuverlässigen Rumpf-
Messungsapparat herzustellen, konnte ich der Skoliosenbehandlung
Geschmack abgewinnen. Denn es schien mir eine conditio sine
qua non eines wirklich wissenschaftlichen therapeutischen
Vorgehens gegen jenes Leiden zu sein, dass man sich im
Besitze eines Instrumentes befinde, vermittelst dessen
man Körperhaltung und Form bestimmen könnte, ohne zu
viel Umstände, damit es regelmässig zur Anwendung kommen könnte,
und mit möglichster Genauigkeit, so dass sich die Wirkung ver¬
schiedener Bewegungen erkennen und das Resultat der Gesammt-
behandlung zuverlässig darstellen lasse.
Keine der bisherigen Untersuchungs- und Controllirungs-
methoden gab mir sicheren und klaren Aufschluss über ein mecha¬
nisches Moment, dessen Kenntniss mir unerlässlich erschien, um
jeden speciellen Fall richtig aufzufassen und die Behandlung in-
dividualisiren zu können. Ich meine die Gesammthaltung des
Patienten, wenn wir ihn aufgefordert haben, ungezwungen da¬
zustehen. Er nimmt dann nämlich unwillkürlich eine seiner Gleich¬
gewichtslage entsprechende Haltung ein, welche das Product der
vorliegenden anatomischen Beschaffenheit des Rückgrates sammt
Brustkorb, sowie des Tonus und der Elasticität der Muskeln und
Bänder ist.
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Ueber die Behandl. der habituellen Skoliose mittelst mech. Gymnastik. 339
Ich werde im folgenden noch näher auf die Bedeutung dieser
Haltung zu sprechen kommen.
Die Unzufriedenheit mit den geläufigen üntersuchungsmethoden,
welche keine genügende ControUe der Behandlung ermöglichen und
die somit bestehende Unsicherheit derselben machten mich miss-
muthig, und es gab eine Zeit, da ich ernstlich mit mir zu Rathe
ging, ob ich die Behandlung skoliotischer Patienten nicht lieber ab¬
lehnen sollte, bis mir nach mehreren unbefriedigenden Versuchen
die Idee des in Fig. 1 abgebildeten Messapparates kam.
Als er fertiggestellt war, verging noch eine gewisse Zeit, ehe
ich die nöthige Uebung und Erfahrung in seiner Anwendung
erworben hatte, ohne welche die Ausführung wirklich
brauchbarer Messungen natürlich nicht möglich ist.
Als ich dann aber — ebenso wie später meine Schüler —
die beruhigende Ueberzeugung gewonnen hatte, dass sich mit dem
Apparate leicht und zuverlässig arbeiten lasse, und dass derselbe
sich als Controllirungsmittel der Wirkung einer gewissen Behandlung
bewährt, da fühlte ich festen Boden unter meinen Füssen und ging
mit Eifer daran, zu untersuchen, inwieweit meine mechanische Gym¬
nastik sich mächtig erweise, einem Uebel zu steuern, welches, sich
selbst überlassen, zu einer furchtbaren Verkrüppelung des mensch¬
lichen Körpers führen kann, und bei den Verhältnissen, unter welchen
zumal die weibliche Jugend heutigen Tages aufwächst und sich ent¬
wickelt, immer allgemeiner zu werden droht.
Die nähere Betrachtung des Messapparates wird darthun, dass
*) Die ärztlichen Leiter der medico-mechanischen Institute in Gothenburg,
Helsingfors, Kopenhagen, Baden-Baden, Hamburg, Berlin, Frankfurt a. M.,
Dresden, Karlsruhe, Leipzig, Wiesbaden, Buenos*Aires, New York, Baltimore,
bedienen sich des Messapparates wie ich, wohl täglich. Auch Professor Phelps
in New York und Dr. Nönchen in Düsseldorf haben den Apparat für ihre
orthopädischen Institute angeschafft. Sie alle können Auskunft darüber geben,
ob der Rumpf-Messungsapparat ihnen eine verlässliche Hilfe ist oder ob sie von
seiner Anwendung absehen möchten. Der Preis ist leider sehr hoch. Aber da
er ein Apparat von grossen Dimensionen ist, welcher die äusserste Genauigkeit
bei der Herstellung verlangt, und da er nicht fabrikmässig herzustellen ist, so
lässt er sich kaum billiger beschaflfen. Uebrigens dürfte der Preis kaum ein
Hindemiss sein für einen Arzt, resp. eine Anstalt, welche die verantwortungs¬
volle Aufgabe haben, jährlich 50 oder mehr skoliotische Patienten zu behandeln.
Der Apparat wird von Göransson’s mechanischer Werkstatt in Stockholm,
Grefmagnigatan 13, zum Preise von 1000 Mark geliefert.
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Gustav Zander.
er uns ermögliclit, die Lage je
fläche eines über der Fussplatte
Fig. 1.
vertikale Ebene, in welcher sii
3 beliebigen Punktes an der Ober¬
und zwischen den beiden um den¬
selben drehbaren Stangen bh (siehe
Fig. 1) beflndlichen Objectes mit
mathematischer Genauigkeit zu be¬
stimmen, indem wir seine Höhe
über der Fussplatte und seine Lage
zur Centrumslinie des Apparates
mathematisch genau bestimmen
können. Die beiden vertikalen
Stangen bb sind nämlich mit einer
Centimeter- und Millimeterskala
versehen; ich nenne sie Höhen¬
skala, weil an ihnen die Höhen¬
lage des zu bestimmenden Punktes
über der Fussplatte abzulesen ist.
An beiden Höhenskalen sind eben¬
falls mit Centimetereintheilung ver¬
sehene Querstäbe cc derart ange¬
bracht, dass man sie sowohl in
vertikaler als auch in horizontaler
Richtung verschieben kann, letz¬
teres so, dass die beiderseitigen
Querstäbe sich immer in demselben,
die Centrumslinie des Apparates
schneidenden V ertikalplane, in
welchem die Höhenskalen einge¬
stellt sind, bewegen. Die Quer¬
stäbe cc nenne ich Excenterskalen,
da wir an denselben die Excentri-
cität, d. h. den Abstand des zu
bestimmenden Punktes von der
Centrumslinie des Apparates, ab¬
lesen. Da nun das ganze System
von Messstangen in jedem belie¬
bigen Durchmesser der Fussplatte
eingestellt werden kann und die
die Excenterskalen bewegen, durch
die ringsum an der Fussplatte angebrachte Gradeintheilung genau
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lieber die Behandl. der habituellen Skoliose mittelst mech. Gymnastik. 341
in ihrer Lage bestimmt werden kann, so ist die Lage jedes Punktes
auf der Oberfläche eines innerhalb des Apparates befindlichen Körpers
leicht festzustellen.
Angenommen wir fänden den Punkt auf einem Radius, welcher
mit der medianen Sagittallinie im rechten hinteren Quadranten einen
von 37® bildet und sich 113 cm über der Fussplatte und 6,2 cm
von der Centrumslinie des Apparates befindet, so kann man mittelst
dieser Angaben die Lage des Punktes auf dem Papier leicht fixiren.
Fig. 2 zeigt seioe Lage auf der
Horizontalebene; ab repräsentirt
die mediane Frontallinie, cd die
mediane Sagittallinie. Der Ra¬
dius ef bildet einen cj von 37 ®
gegen die mediane Sagittallinie
und Punkt q auf derselben ist
^ Ä
6,2 cm vom Mittelpunkt ent- ^
femt; also ist g der zu be¬
stimmende Punkt.
Mittelst der Lothe gi und
gh findet man seine Entfernung
von der Mitte des frontalen und
von der Mitte des sagittalen
Durchmessers, d. h. seinen seit¬
lichen und seinen Rückabstand vom Centrum des Apparates, d. h.
des Durchschneidungspunktes beider Durchmesser.
In Fig. 3 Frontalbild ist g der zu bestimmende Punkt und
gi seine seitliche Entfernung von der Centrumslinie; im Sagittalbilde
B ist gh die rückwärtige Entfernung des Punktes vom Centrum.
Man kann die Entfernung gi und gh auch durch Berechnung
erhalten; gi ist nämlich der Sinus des Winkels efd multiplicirt
mit dem Radius fg^ und gh ist der Cosinus von efd multiplicirt
mit demselben Radius.
Eine kleine Vorrichtung, die ich Doppelmesser nenne,
Fig. Id, überhebt uns jedoch der Mühe, die Lage des Punktes durch
Construction oder Berechnung festzustellen. Der Doppelmesser lässt
uns den frontalen und den sagittalen Abstand des fraglichen Punktes
vom Centrum direct ablesen. Er besteht aus einer rechtwinklig am
centralen Ende einer der Excenterskalen befestigten Querskala, die
einen seitwärts verschiebbaren Zeiger trägt. Ist dieser auf den zu
Fig. 2.
C
h
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Gustav Zander. *
bestimmenden Punkt eingestellt, so liest man dessen seitliche Ent¬
fernung von der sagittalen Medianlinie auf der Querskala und den
Abstand nach vor- oder rückwärts von der frontalen Medianlinie
auf der Excenterskala ab.
Der Rumpf-Messungsapparat ist mit einer Centrirungsvor-
richtung versehen, bestehend aus einem Paare gepolsterter Gabeln,
Fig. 3.
welche in Höhe der Trochanteren das Becken umfassen, um das¬
selbe mittelst einer rechts- und linksläufigen Schraube in die Mitte
des Apparates zu stellen.
Zur Messung der Eopfabweichung vom Centrum dient das
Eopfgestell (Fig. 1 f ), womit auch die ganze Eörperlänge be¬
stimmt wird.
Ich nehme gewöhnlich, wie die Rumpfmessungsbilder in
Fig. 3^ im Frontalschnitt, B in Sagittalprojection zeigen, eine
Anzahl von Punkten in der Frontalfiäche des Eörpers, und zwar
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TJeber die Behandl. der habituellen Skoliose mittelst mech. Gymnastik. 343
so viele, dass man durch ihre Verbindung ein Diagramm erhält,
welches die HauptzUge der Conturen des Körpers in dieser Fläche
ergibt; ferner die Abweichungen der Rückgratslinie sowohl in der
frontalen als in der Sagittalansicht, und schliesslich die Haltung des
Kopfes und der Acromialwinkel. Dies reicht gewöhnlich aus, um
die Eigenthümlichkeiten der einzelnen Fälle erkennen zu lassen,
soweit ihre Kenntniss für die Entwerfung eines Behandlungsplanes
und die Controllirung seines Erfolges erforderlich ist.
Will man den Mechanismus der Skoliose näher studiren, so
kann man die Messung leicht weiter ausdehnen, wie dies Dr. Nebel
seit einer Reihe von Jahren regelmässig gethan hat.
Seine Messbilder zeigen auch noch im Frontal- wie im Sagittal-
plan die inneren Schulterblattlinien, die Lage der Spinae anteriores
superiores pelvis und 4—6 Eintragungen im Horizontalplane, welche
über Rotation resp. Torsion des Rumpfes Aufschluss geben.
Während des Messens diktirt man einem Gehilfen resp. einer
Gehilfin die in ein vorbereitetes Schema einzutragenden Ziffern,
wonach das Rumpfmessungsbild dann in beliebiger Grösse zu
zeichnen ist.
Vor dem Messen hat man natürlich auf der Haut des Patienten
mit Tuschepinsel die Rückgratslinie vom 7. Halswirbel bis zur Rima
natium, die Acromialwinkel (den Winkel, welchen das Acromion
hinten auf der Schulterhöhe mit der Spina scapulae bildet) und
wenn man will, auch den inneren oberen und unteren Schulterblatt¬
winkel, sowie die Spinae anteriores superiores pelvis anzuzeichnen.
Die Röcke werden mittelst eines in Höhe der Trochanteren fest
angelegten Riemens festgehalten. Zur Schonung des Schamgefühls
lässt man die Mädchen ein die vordere Seite des Rumpfes ver-
hüUendes Tuch um den Hals binden. Die Schuhe werden ausge¬
zogen, wenn die Absätze nicht gleich hoch oder nicht mehr ge¬
rade sind.
So vorbereitet steigt der Patient auf den Apparat. Die Hüften
werden mittelst der Centrirungsvorrichtung fixirt und das Kopf¬
gestell bis zu loser Berührung auf den Kopf herabgelassen, nach¬
dem wir den Patienten gebeten haben, natürlich und ungezwungen
zu stehen, nicht etwa sich zu strecken. Eine gestreckte Haltung
4—5 Minuten hindurch — so lange dauert die Messung in
Händen eines geübten Arztes — einzuhalten, würde nämlich den
meisten Patienten nicht gelingen; sie würden während der Messung
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Gustav Zander.
zusammensinken, und die zuerst gemessenen Punkte zeigten eine
bessere Haltung als die später gemessenen. Auch ist es nicht die
Paradehaltung, welche man ja nur einige Minuten lang einhalten
kann, sondern die zwanglose, gewohnheitsmässige Körperhaltxmg,
auf die es uns ankommt.
Jeder Mensch aber hat eine gewisse Haltung, die er
unbewusst, habituell einnimmt und längere Zeit hindurch
einzuhalten vermag, weil sich bei derselben der Mechanismus
des Rückens in seiner Gleichgewichtslage befindet und die Rücken¬
muskeln am wenigsten angestrengt werden. Diese Haltung ist ein
Product einerseits statischer Momente, nämlich der vorliegendeo
anatomischen Form der Rückgratstheile, andererseits dynamischer
Momente, nämlich der Spannkraft und Elasticität der Muskeln.
Gerade von dieser Haltung aber, sozusagen der Gleichgewichtslage,
wollen wir ein Bild haben, das als Ausgangspunkt für die Behand¬
lung zu dienen hat. Denn unsere Aufgabe ist, die vorliegende
abnorme Gleichgewichtslage in eine normale, die schiefe
Haltung in eine möglichst gerade zu verwandeln. Aufge¬
fordert, ungezwungen zu stehen, nimmt der Patient instinctmässig
seine natürliche Gleichgewichtslage ein und kann dann während der
Messung so stille stehen, wie nöthig ist. Die eine oder andere im-
freiwillige Bewegung kann wohl Vorkommen, aber der Körper federt
sogleich in die Gleichgewichtslage zurück, so dass diese unfreiwilligen
Bewegungen den im Messen geübten Arzt nicht irre machen. Jeden¬
falls erkennt er dadurch etwa in das Messprotokoll und in die Auf¬
zeichnung kommende Fehler leicht als solche.
Die thunlichst rasch auszuführende Messung geht nun so vor
sich, dass man die Seitenplättchen des Kopfgestelles vorsichtig, ohne
den Kopf aus der ihm etwa eigenen schiefen Stellung heraus¬
zudrücken, links und rechts heranschiebt, die den Abstand von der
Mittellinie angebenden Ziffern abliest und diktirt. Dann misst man
durch vorsichtiges Heranschieben der Excenterskalen links, rechts,
hinten die Lage einer grösseren oder kleineren Anzahl von Punkten,
deren Verbindung auf dem mit Maasseintheilung in bestimmtem
Grössenverhältnisse versehenen Zeichenpapier die Seitenlinien des
Rumpfes, die Rückgratslinie (in Frontal- und in Sagittalansicht),
die Schulterstellung, die Lage der Schulterblätter (im Frontal-,
Sagittal- und Horizontalplane), der Spinae a. s. pelvis, sowie etwaige
Torsionsveränderungen (im Horizontalplane) zur Darstellung bringt.
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Ueber die Behandl. der habituellen Skoliose mittelst mech. Gymnastik. 345
Während des Messens der Seitenlinien hält sich der zu Mes¬
sende mit beiden, im Ellenbogengelenke rechtwinklig gebogenen, bis
zur Schulterhöhe vorwärts hoch gehaltenen Armen an einem vor
dem Messapparate herabhängenden Querstabe. Während des Messens
der Rückgratslinie stützt Patient die Brust gegen die Brustplatte
(Fig. Igr).
Will man auch noch, um den Grad der Verdrehung des
Fig. 4.
Brustkastens beurtheilen zu können, ein Querschnittsbild haben,
z. B. in der Höhe der grössten Deviation des Rückgrates, so braucht
man nur die Excenterskalen auf die gewünschte Höhe zu stellen,
misst Frontal- und Sagittaldiameter des Körpers und nachher so
viele Diagonaldiameter, wie man wünscht, z. B. einen für jeden
15. Grad.
Die gemessenen Punkte werden auf einem bereit gehaltenen,
mit entsprechender Eintheilung versehenen Papiere eingezeichnet,
verbunden und die Querschnittscontur ist fertig (Fig. 4).
Nun habe ich mir aber einen besonderen, für diesen Zweck
bequemeren und sichereren Messapparat construirt (Fig. 5). Sein
Mechanismus wird auf der Planzeichnung (Fig. 6) veranschaulicht.
32 bewegliche Stahlstangen sind wie Radien um 4 verschiedene
Mittelpunkte geordnet, so dass ihre mit Holzknöpfen versehenen
inneren Enden, wenn sie gleich weit zurückgezogen werden, einen
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346
Gustav Zander.
ovalen Ring bilden, ungefähr dem ovalen Querschnitt des Brustkastens
entsprechend. Mittelst kleiner Bleigewichte (Fig. 5a) werden diese
Messstangen gegen ihre respectiven Mittelpunkte vorgeschoben und
stossen dann mit ihren Holzknöpfen gegen den Körper, welcher
sich in der centralen Oeffnung des Apparates befindet; sie bilden
Fig. 5.
also zusammen einen Ring, welcher genau die Conturen der Durch¬
schnittsfläche des Brustkastens in der gewählten Höhe wiedergibt
(Fig. 5). Auf 12,5 cm Abstand von den Holzknöpfen hat jede Mess¬
stange eine nach oben gerichtete kleine Stahlspitze. Wenn zwischen
die Druckplatten (Fig. 5 b) Segmente aus Papierringen gelegt werden
und man diese gegen die Stahlspitzen drückt, so erhält man auf den
Papierringen eine vergrösserte Kopie des Ringes, welcher von den Holz¬
knöpfen gebildet wird. Die beiden Papiere werden abgenommen und
auf ein Schema gelegt, auf welchem die Richtungslinien der Mess¬
stangen aufgezeichnet sind. Die durch die Stahlspitzen verursachten
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üeber die Behandl. der habituellen Skoliose mittelst mech. Gymnastik. 347
Löcher werden alsdann 12,5 cm nach innen auf ein anderes Papier
projicirt, am besten auf durchscheinendes Pergamentpapier, so dass
man die Richtungslinien verfolgen kann. Verbindet man die proji-
cirten Punkte durch Linien, so erhält man ein Diagramm, welches
die Querschnittsconturen in natürlicher Grösse wiedergibt. Die Mess-
Fig. 6.
fläche ist in zwei Hälften getheilt, welche auseinander geschoben
werden, bevor der Patient in die centrale Oeffnung tritt. Die Mess¬
stangen werden unterdessen durch einen besonderen Mechanismus
(Fig. hcc) zurückgezogen und festgehalten, bis der zu Messende ent¬
sprechend eingestellt ist. Dann lässt man sie los gegen den Körper,
klappt während tiefer Ein- oder Ausathmung schnell die vorerst
hochgestellten Papiere gegen die Stahlspitzen herunter, stellt sie
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348
Gustav Zander.
wieder hoch, und die Messung ist fertig. Sie dauert kaum eine halbe
Minute. Will man mehrere Conturen in verschiedener Höhe oder
zuerst während der Aus-, sodann während der Einathmung unmittel¬
bar hinter einander messen, so braucht man nur die bei dem ersten
und zweiten Niederklappen der Papiere eingestochenen Punkte durch
Bleistiftkreuze oder Striche zu markiren.
Fig. 7 zeigt 3 nach einander gemessene Conturen, um darzu-
thun, welche Rückenmuskeln sich zusammenziehen, wenn der eine
Arm unter Belastung ausgestreckt wird. Die punktirte Linie zeigt
Fig. 7.
den Querschnitt des Brustkastens, wenn die Arme an die Handgriffe
gelehnt schlaff herabhängen, wie auf Fig. 5 zu sehen ist. Die schraffirte
Linie ist gemessen während der rechte, die ausgezogene fette Linie
während der linke Arm mit 3 kg belastet gestreckt gehalten wurde.
Die langen Rückenmuskeln der entgegengesetzten Seite sind dabei
zusammengezogen, wie bei a resp. b zu ersehen ist.
Der Querschnittsmesser ist nicht nur bei der Behandlung Skolio-
tischer von Nutzen, sondern auch in anderen Fällen, wo es von
Interesse ist, die Entwickelung oder Symmetrie des Brustkastens
zu constatiren, wie z. B. bei Herz- und Lungenkrankheiten.
Mit Hilfe und unter Leitung der besprochenen Untersuchungs¬
und Controllinstrumente hat sich die in meinem Institute angewandte
Behandlung der seitlichen Rückgrats Verkrümmungen ausgebildet.
Einen eingehenden Bericht über dieselbe kann ich hier nicht geben;
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Ueber die Behandl. der habituellen Skoliose mittelst mech. Gymnastik. 349
ich will nur die Grundzüge der Behandlung anführen und einige
wichtige Apparate demonstriren.
Ich schicke Einiges über das Wesen und die Ursache der
habituellen Skoliose voraus. Dr. Lorenz in Wien, dessen jüngst
erschienene Arbeit über die Skoliose sicherlich bis jetzt die beste
ist, besonders die Kapitel über die pathologische Anatomie und
Pathogenese der Skoliose, gibt uns folgende Definition: „Die habi¬
tuelle Skoliose ist die durch Bänder- und Knochenveränderungen
fixirte und consolidirte habituelle skoliotische Haltung“ *).
Ich halte es für richtiger, zu sagen: „die mehr oder we¬
niger fixirte skoliotische Haltung“, sonst wäre ja die Thätigkeit
des Orthopäden gegenüber der Skoliose eine gar zu beschränkte,
beinahe hoöhungslose.
Uebrigens zeigt Lorenz auch an einer anderen Stelle seines
Buches, dass dies eigentlich seine Meinung ist. Denn weshalb
sollten wir jene lateralen Rückgratskrümmungen, welche der Patient
selbstthätig noch theilweise oder sogar vollständig auszugleichen
vermag, wenn auch nur mit Anstrengung und für eine kleine
Weile, nicht Skoliosen nennen? Diese beiden Gruppen sind doch
bestimmte pathologische Zustände, welche bestimmte therapeutische
Massregeln zu ihrer üeberwindung erfordern und uns viel Arbeit
verursachen können. Die skoliotische Haltung ist im Anfänge physio¬
logisch und wird allmählich pathologisch; letzteres aber erst, wenn
sie zur üblen Gewohnheit geworden ist, d. h. wenn sie der Patient
einnimmt, sobald er nicht seine Aufmerksamkeit darauf richtet, sich
gerade zu halten. Wir können sicher sein, dass in solchem Falle
unsymmetrische Veränderungen in den constituirenden Theilen des
Rückgrats eingetreten sind. Will man daher unter dem Begriffe
„Skoliose“ das ganze hierhin gehörende Material, mit dem der
Orthopäde arbeitet, zusammenfassen, so muss man sagen: „Die
habituelle Skoliose ist die zur Gewohnheit gewordene skoliotische
Haltung“. Aber was ist die Ursache derselben? Nach meiner An¬
sicht das für einen im Wachsthum begriffenen Organismus unsinnig
lange Stillesitzen, welches durch die an die Schulbildung gestellten
übertriebenen Ansprüche gefordert wird. Es ist nicht meine Auf-
*) Pathologie und Therapie der seitlichen Rückgratverkrümmungen von
Dr. A. Lorenz.
*) 1. c. S. 75.
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350
Gustav Zander.
gäbe, zu erörtern, ob und von welchem Standpunkte diese Ansprüche
berechtigt sind; aber als Specialarzt in Orthopädie und Heilgymnastik,
der jährlich wohl 100 schwache und übermässig angestrengte Mäd¬
chen zu behandeln hat, sind mir die Folgen dieses Missverhältnisses
zwischen der verlangten Arbeit und derjenigen, welche ohne Schaden
für die physische Entwickelung geleistet werden kann, wohl bekannt.
Warum besitzen wir nicht auch Mädchenschulen, in denen die in¬
tellektuelle Ausbildung, welche ja doch einer reiferen Altersperiode
angehört, der physischen Entwickelungsarbeit mehr Zeit und Ruhe
lassen könnte? Die kostbaren Jahre des Wachsthums würden dann
nicht unter einem sorglosen Beiseitesetzen gerade der ihnen ge¬
hörenden Aufgabe der Ausbildung eines gesunden, starken und ab¬
gehärteten Körpers verstreichen. Dann könnte man auch dem
schweren üebel, mit welchem wir uns hier beschäftigen, eine Grenze
setzen, indem ihm vielfach vorzubeugen und in der Mehrzahl ge¬
linderer Fälle Heilung möglich wäre, während die einmal in ein
gewisses Stadium gekommene skoliotische Verbiegung allen An¬
strengungen und Mitteln der Wissenschaft Trotz bietet.
Die skoliotische Haltung ist also, wie gesagt, zuerst physio¬
logisch, d. h. das Rückgrat nimmt die mit seiner normalen Con-
struction vereinbarten Krümmungen und Drehungen an. Diese Ab¬
weichungen aber sind die Folge davon, dass die activen Elemente,
die Muskeln besonders, bei vieler Arbeit im Sitzen ermüden und
erschlaffen; hierzu kommt, dass das gewöhnliche Missverhältniss
zwischen der Höhe des Tisches und des Stuhles, sowie die unzu¬
reichende Breite des Tisches die Schulkinder geradezu zwingt, den
Rücken seitlich zu krümmen. Sie thun dies erfahrungsgemäss meist
nach links, um für den schreibenden, rechten Arm mehr Freiheit
und Platz zu haben. Wenn nun die physiologischen Grenzen fiir
die Beweglichkeit der Gelenke erreicht sind und die als active Liga¬
mente dienenden Muskeln unthätig bleiben, so sind es nicht länger
die Wirbelkörper, welche allein das Körpergewicht tragen, sondern
auch die ligamentösen Partien und diejenigen knöchernen, welche
physiologisch die Ausdehnung der Bewegung über eine gewisse
Grenze hinaus hemmen. Das Körpergewicht hängt jetzt gleichsam auf
diesen hemmenden Theilen, und da während der Schulzeit dies fast
täglich stundenlang der Fall ist, so darf man sich nicht wundem,
dass die nicht zu solchem Zwecke construirten Theile allmählich
nachgeben, einerseits der Compression, andererseits der Dehnung
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Ueber die Behandl. der habituellen Skoliose mittelst mech. Gymnastik. 351
und Lockerung unterliegend. Dazu kommt, dass der Druck, welcher
auf den Wirbelkörpem lastet, bei schiefer Haltung umsomehr auf
die concavseitigen Hälften der Wirbelkörper verlegt wird, je mehr
und je öfter die Wirbel aus der Mittellinie des Körpers abweichen.
Daher die zunehmende keilförmige Missgestaltung der Wirbelkörper.
Es schädigen aber selbst unbedeutende Veränderungen der das
Rückgrat constituirenden Theile den ganzen Mechanismus, denn sie
erschweren und vereiteln die Aufgabe der Muskeln, das Rückgrat
gerade zu erhalten. Zudem beirren sie den Patienten in seiner
Auffassung von der geraden Haltung.
Die Skoliose braucht daher nur einen gewissen noch geringen
Grad erreicht zu haben, um doch schon eine stets wachsende Ten¬
denz zur Verschlimmerung zu zeigen. Sich selbst überlassen, nimmt
sie oft mit erschreckender Schnelligkeit zu, und nicht selten darf
man sich glücklich schätzen, wenn es nach Aufnahme der Behand¬
lung nur gelingt, sie in ihrer weiteren Entwickelung aufzuhalten.
Doch auch die Fälle, welche noch Aussicht auf Besserung zeigen,
stellen die Geduld des Orthopäden auf eine harte Probe, besonders
wenn, wie es gewöhnlich der Fall ist, während 7—8 Stunden Still-
resp. Schiefsitzens in der Schule und bei den Schularbeiten im
Hause niedergerissen wird, was in der meist auf eine Stunde täg¬
lich beschränkten mechanisch-gymnastischen Behandlung aufgebaut
werden kann. Der Streit ist eben ein zu ungleicher. Dennoch
habe ich Resultate erzielt selbst in Fällen, wo ich daran verzweifeln
wollte, und ich hege die üeberzeugung, dass weit mehr zu erzielen
wäre, wenn es gelänge, die Zeit der Behandlung in ein richtiges
Verhältniss zu den zu überwindenden Schwierigkeiten zu bringen, —
ja dass nicht so viele schwere habituelle Skoliosen aufkommen könn¬
ten, wenn der Kampf gegen die Schiefhaltung nicht gar so oft zu
spät eingeleitet würde.
Ich meine nicht, dass die Behandlung im ganzen länger
dauern müsste; eher kürzer, weil concentrirter. Denn bei recht¬
zeitig eingeleiteter, beharrlich durchgeführter Behandlung würden
sich wohl grössere Resultate in kürzerer Zeit gewinnen lassen.
Nachher könnte dann eine weniger Zeit in Anspruch nehmende,
mehr auf allgemeine Kräftigung abzielende conservirende, gym¬
nastische Behandlung eintreten. Eine Stunde Gymnastik täglich
bliebe freilich nöthig, solange die schädigenden Einflüsse einwirken,
d. h. während der ganzen Schulzeit, damit Rückfälle vermieden werden.
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. II. Band. 24
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Gustav Zander.
Eine concentrirte Behandlung, wie ich sie mir gedacht habe,
kann nur durch Einrichtung von orthopädischen Instituten zu Stande
kommen, wo alle Patienten Pensionäre wären, und wo alles darauf
abzielte, dieselben den ganzen Tag unter corrigirenden Einflüssen
zu halten. Der nothwendige Schulunterricht müsste dabei so statt¬
finden, dass er die Hauptaufgabe der Anstalt nicht beeinträchtigen
würde. Ich bin überzeugt, dass 6 Monate in einer solchen Anstalt
mehr ausrichten würden, als 2 Jahre der gewöhnlichen ambulanten
Behandlung, d. h. eine Stunde Gymnastik täglich während des Win¬
ters und vielleicht gar keine im Sommer. Was nun die jetzt in
meinem Institute übliche Behandlung betrifit, so ist das leitende
Princip dabei, den Patienten während der Gymnastikstunde unter
so anhaltende und kräftig corrigirende Einflüsse wie thunlich zu
bringen. Den frühzeitig eintretenden und beständig zunehmenden
asymmetrischen Veränderungen in den inactiven Theilen des Rück¬
grates muss vorgebeugt oder entgegengearbeitet werden.
Alle diese Veränderungen zusammen bilden gleichsam eine
schiefe Ebene, auf welche die Körperschwere fortwährend wirkt,
und deren Neigung beständig vermehrt wird. Man muss darnach
streben, die umgekehrte Neigung der Ebene zu bewirken, so dass
die entgegengesetzten Druckwirkungen auf die beiden Hälften der
Wirbel und der Intervertebralknorpel zu Stande kommen. Hier¬
durch soll die gleichmässige Biegsamkeit des Rückgrates nach beiden
Seiten wiederhergestellt und der Neigung, den Rücken beständig
nach derselben Seite zu beugen, entgegengearbeitet werden.
Diesen — den statischen Theil der Behandlung, — wobei der
Patient sich passiv verhält, kann man auf verschiedene Weise er¬
reichen. Es ist aber unerlässlich, auch die Muskelthätigkeit zur
Correcturarbeit heranzuziehen. Wir wissen ja, wie leicht Spannung
und Elasticität der Muskeln verändert wird, wenn ihre Insertions¬
punkte längere Zeit hindurch einander genähert oder weiter von
einander entfernt werden. Sitzt man längere Zeit mit gekrümmtem
Rücken, so ist es schwer, ihn auf einmal wieder zu strecken, und
zwar um so schwerer, je schwächer die Muskeln sind. Diese müssen
daher geübt und gestärkt werden, nicht nur, um zu der Umgestal¬
tung der inactiven Theile beizutragen, sondern auch, um selbst in
lebenskräftigem Zustande zu bleiben. Solange die Rückgrats Verkrüm¬
mung starr, fixirt ist, vermögen die Muskeln natürlich nicht zu ihrer
Ausgleichung beizutragen. Aber sobald die Skoliose wieder etwas
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üeber die Behänd!, der habituellen Skoliose mittelst mecb. Gymnastik. 353
beweglicher geworden ist, haben die Muskeln eine wichtige Aufgabe,
nämlich die Krümmungen solange wie möglich gestreckt zu halten
und dadurch zur Wiederherstellung der normalen Druckverhältnisse
auf die missgestalteten Wirbel beizutragen.
Der statische und dynamische Theil der Behandlung
müssen Hand in Hand gehen; sie ergänzen einander, und keiner
von ihnen führt allein zum Ziele.
Nach diesem Grundsätze ist man auch im gymnastisch-ortho¬
pädischen Institute in Stockholm verfahren. Der Unterschied zwi¬
schen der dort gehandhabten Behandlung und der meinigen liegt
hauptsächlich darin, dass im orthopädischen Institute Bandagen und
Corsette als statische Mittel angewendet werden, während bei mir
sogen. Lagerungsapparate im Gebrauch sind. Die wichtigsten demon-
strire ich Ihnen hier.
Der erste, der Seitenhangapparat (Kl), ist nach einem von
Dr. A. Lorenz zuerst angegebenen Verfahren construirt. Lorenz
empfahl zum Seitenhang ein Gestell, ungefähr wie ein gewöhnlicher
Bock, mit verstellbarem Tragbalken. Ueber diesem hing der Patient,
etwa wie ein Mantel über einer Stuhllehne hängt, so zwar, dass die
Convexität der Rückgratsverkrümmung auf dem Tragbalken ruhte.
Ich versuchte das Verfahren, es schien mir jedoch so gewalt¬
sam und gewagt, dass ich es nicht adoptiren mochte, sondern mir
dafür den in Fig. 8 dargestellten Apparat anfertigen liess. Ich wende
denselben an zur Gradrichtung resp. zur Umkrümmung von dorsalen
und lumbo-dorsalen Krümmungen.
Ist der Patient z. B. mit einer linksconvexen Totalskoliose
behaftet, so legt er sich, nachdem die bewegliche Ebene horizontal
gestellt ist, auf die linke Seite, so dass die Höhe der Convexität der
Krümmung auf dem gepolsterten Querbalken (a) aufliegt. Mit der
rechten Hand fasst er in die verstellbare Leiter (i), während die
linke Hand sich auf eine der unteren Querstangen (c) stützt. Der
Patient liegt nicht völlig auf der Seite, sondern mit der Brust etwas
nach oben gedreht, so dass der Druck in der Richtung der linken
Brustkastendiagonale wirkt. Sodann wird die bewegliche Ebene {d)
schräg abwärts gestellt, anfangs schwach, später stärker, doch nicht
über 45®. Der Patient bleibt so 5—10 Minuten liegen und macht
unmittelbar darauf gymnastische Bewegungen, welche dieselbe Cor-
recturhaltung des Rückens hervorrufen sollen, wie der Lagerungs¬
apparat, d. h. in dem angenomnenen Falle Rumpfbiegen nach links.
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354
Gustav Zander.
Der hierzu dienende Apparat C6 wird stets so gestellt, dass
die Biegung auch an der richtigen Stelle vor sich geht. Eine bei
links-convexer. Dorsalskoliose etwa vorhandene rech ts-convexe Gegen¬
krümmung im Lendentheile wird durch entsprechenden Schrägsitz
ausgeglichen, so dass sie an der Beugung nach links nicht participirt
Auch gewisse Armbewegungen veranlassen eine Biegung des Rück¬
grates im Dorsaltheil.
Erhebe ich z. B. den mit einer Hantel belasteten rechten
Arm, so ziehen sich, wie aus Fig. 7 zu ersehen ist, die Seitenbeuger
auf der linken Seite zusammen und beugen den Dorsaltheil nach rechts.
Ziehe ich an einem belasteten Stricke mit dem linken Arm abwärts,
so resultirt dieselbe Wirkung. Diese beiden Armbewegungen können
auch vortheilhaft combinirt werden.
Schliesslich erhält Patient eine ableitende Fussübung oder
passive Bewegung. Darauf wird er angewiesen, 5 Minuten zu
ruhen oder auch auf dem Correcturstuhle iC4 (Schrägsitz mit Seit¬
stütze) zu sitzen (Fig. 9).
In der nächsten Lagerungs- und üebungsgruppe würden wir
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Ueber die Bebandl. der habituellen Skoliose mittelst mech. Gymnastik. 355
bei Vorhandensein einer Lendenkrümraung diese aogreifen und zwar
vermittelst des Seitendruckapparates K2 Fig. 10. Der Patient legt
sich mit der Convexität der Lendenkrümmung gegen das Polster a,
welches nach Bedarf in verticaler und auch horizontaler Richtung
verstellbar ist. Der Kopf
wird von dem Polster b ge-
tragen. Auf der gepolsterten
Ebene c ruhen das Becken
und die Beine; auch hier ist
die Lage eine mit dem Leib
etwas nach oben gewendete.
Wird eine Lumbalkrüm¬
mung ohne Behandlung ge¬
lassen, so bildet sich all¬
mählich eine compensirende
lumbo - sacrale Krümmung
nach der entgegengesetzten
Seite aus. Der obere Schenkel
dieser Verkrümmung zeigt sich
als eine „Infraktion“ des
Rückgrates gegen das Becken.
Um auf diese einwirken zu
können, muss man die Con¬
vexität des Lendenrückens
gegen das Polster a stützen
und das Becken mit den Bei¬
nen wie einen Hebel anwen¬
den , indem man dasselbe
gegen das Rückgrat zurecht¬
dreht. Zu diesem Zwecke
habe ich die Ebene, auf wel¬
cher die Beine ruhen, beweglich gemacht, so dass sie im Winkel
gegen die Horizontale verstellt werden kann. Ich habe bestimmt
beobachtet, dass die Lendenkrümmungen der Behandlung keinen so
hartnäckigen Widerstand mehr leisten, seitdem ich diesen Apparat
anwende. Ich bin überzeugt, dass man ohne denselben nichts gegen
eine starre Lendenkrümmung ausrichten kann; doch muss seine Wir¬
kung in der Zwischenzeit durch eine hohe Sohle oder einen schrägen
Sitz unterstützt werden.
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Gustav Zander.
Nachdem der Patient 5 Minuten auf diesem Apparate gelegen
hat, erhält er wieder active Bewegungen, welche den Zweck haben.
Fig. 10.
die ausgleichende Wirkung auf die Lendenkrümraung zu verstärken
und zu unterhalten.
In der dritten Uebungsgruppe wenden wir uns gegen die spiral¬
förmige Verdrehung des Rückgrates und des Brustkastens, welche
die Skoliose in ihren schwereren Formen gewöhnlich begleitet. Dies
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üeber die Behandl. der habituellen Skoliose mittelst mecb. Gymnastik. 357
ist dasjenige Symptom der Skoliose, welches am meisten entstellt,
am bedrohlichsten für die Gesundheit ist, und der Behandlung am
meisten trotzt.
Fig. 11.
Es kann natürlich nur im Beginne, ehe die anatomischen Ver¬
änderungen eine grössere Entwickelung erlangt haben, wirksam be¬
kämpft, d. h. an der weiteren Ausbildung verhindert, sogar noch
etwas reducirt werden.
Der Apparat, welchen ich mir zur Bekämpfung dieses Sym-
ptomes erdacht habe, ist der sogen. Brustkorbdreher {KS Fig. 11).
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Gustav Zander.
Das Schema (Fig. 12) zeigt seine Wirkung; a ist ein Durchschnitt
des Brustkastens, welcher sowohl nach hinten eine Ausbuchtung,
den RUckenbuckel (bei i), wie auch einen auf der entgegengesetzten
Seite nach vom, den Bmstbuckel (bei c), aufweist. Es ist einleuchtend,
dass, wenn man eine kräftig drehende Wirkung auf den Brustkorb
haben will, es nicht genügt, nur auf den Rückenhöcker zu drücken,
sondern man muss den Brustkorb wie mit 2 Händen umfassen, von
denen die eine nach vom drückt, die andere nach hinten. Nach
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lieber die Behandl. der habituellen Skoliose mittelst mech. Gymnastik. 359
diesem Schema ist nun mein Apparat construirt. Sein Mechanismus
besteht aus einem System paralleler Hebel, welche sich um 2 Achsen
drehen und mit einander so verbunden sind, dass der Parallelismus
beständig gewahrt bleibt. Die beiden vertikalen Stangen d und e
tragen Pelotten mit doppelten Gliedern, sodass sie sich genau der
Oberfläche anpassen können, gegen welche sie drücken.
Wenn die horizontalen Hebel mittelst eines angehängten Ge¬
wichts f um ihre Achsen gedreht werden, so wird die eine Pelotte
nach oben, die andere nach unten gedrückt, aber beide Pelotten
nähern sich auch einander und verursachen somit nicht nur eine
Drehung, sondern auch ein Zusammendrücken des Brustkorbs in der
Richtung der verlängerten Diagonale, denn die auf die Pelotte wirkende
Kraft kann in zwei Componenten zerlegt werden, eine in der Rich¬
tung der Tangente drehend wirkende, und eine, die in diagonaler
Richtung drückt. Dadurch wird auch die zurückgewichene rechte
Brustkorbhälfte gezwungen, sich auszudehnen. Mit Hilfe meiner
Rumpfmessbilder kann ich leicht bestimmen, wie die Pelotten an¬
geordnet werden sollen und wie hoch das Fussbrett (a) gestellt
werden muss, damit die Rückenpelotte gegen den hinteren Rücken¬
höcker drückt. Der Patient legt sich auf die schräge Ebene i, die
Arme über die in die richtige Lage gebrachten Achselgabeln, die
Pelotten werden geordnet, das Gewicht angehängt und das Fussbrett
weggenommen. So liegt der Patient 10 Minuten, bisweilen zweimal
während der üebungsstunde, und unmittelbar darauf erhält er active
Drehungsbewegungen oder solche, die auf die Krümmungen aus¬
gleichend wirken.
Der Brustkorbdreher wird nicht nur bei dorsalen, sondern auch
bei Lendenkrümmungen angewendet; auch in solchen Fällen, welche
keine ausgesprochene Verdrehung des Rückgrates zeigen. Er wirkt
nämlich nicht nur antirotatorisch, sondern auch ausgleichend auf die
seitlichen Verkrümmungen.
In dieser Weise wird die Behandlung während der gymnastischen
üebungsstunde fortgesetzt, in der 4—5 Gruppen von je 3 Hebungen
durchgenommen werden können. Es sind nicht viele Minuten während
dieser Stunde, in denen der Patient nicht unter einem corrigirenden
Einflüsse steht.
Wo es nöthig erscheint, zu Hause und in der Schule mit sta¬
tischen Mitteln nachzuhelfen, wende ich zur Herstellung des Schräg¬
sitzes am liebsten ein kleines flaches Polster an, welches der Patient
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360
Gustav Zander.
unter den Kleidern trägt und welches, sobald er sitzt, die Lenden¬
krümmung gerade richtet. In schwereren Fällen nimmt er einen
Brustkorbdreher mit nach Hause und liegt täglich stundenlang dar¬
auf, wobei er nachher stets einige vorher eingeübte active Correctur-
bewegungen zu machen hat.
Wir wollen jetzt einen Blick auf die erzielten Resultate werfen.
Fig. 13.
Ich schicke zunächst ein paar Fälle voraus, in welchen die Behand¬
lung sich darauf beschränken musste, einer Verschlimmerung des
Leidens vorzubeugen.
Das Mädchen A. F., geboren 1875 (Fig. 13), begann im
October 1887 bei mir mit den üebungen, nachdem es 4 Jahre
hindurch in einem anderen Institute behandelt worden war. Es
handelte sich damals, wie die schwarze Contur ausweist, um eine
doppelseitige starre Skoliose. Eine während zweier Winter durcb-
geführte, durch Anwendung eines Brustkorbdrehers (KS) im Hause
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lieber die Behandl. der habituellen Skoliose mittelst mech. Gymnastik. 361
unterstützte Institutsbehandlung ergab zum Schlüsse das schraffirte
Bild. Die Behandlung im medico-mechanischen Institut sowohl wie die
häuslichen Uebungen waren oft unterbrochen worden. Die Summe
der Deviationen beider Krümmungen war im Beginn 35 mm und
beträgt jetzt 30 mm.
Ein anderer Fall: V. D., geboren 1872 (Fig. 14), begann die
20 10 0 10 20
Uebungen bei mir im September 1885 gegen eine starre linksseitige
Lumbalskoliose von 21 mm Deviation; dabei bestand Rotation der
Lendenwirbel. Vorher war sie 2 Jahre lang in einem anderen Insti¬
tute manuell behandelt worden, aber im letzten Winter ohne jede
Behandlung geblieben. Während der zwei folgenden Winter hielt ich
sie im status quo bis Mai 1887; das schwarze Messbild zeigt 22 mm
Deviation.
Das gleichzeitig genommene Querschnittsbild zeigt Fig. 4
B. 345. Auch während des Sommers 1887 erlitt die Behandlung
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Gustav Zander.
wieder eine Unterbrechung, und ich fand bei der nächsten Messung
im September (Fig. 14 punktirte Linie) eine Vergrösserung der De¬
viation von 13 mm; eine Verschlimmerung, die auch im Querschnitts¬
messbilde Fig. 15 (schwarze Contur) zum Ausdruck kommt. Ein com-
pensirender dorsaler Bogen war in der Ausbildung begriflFen. Während
der folgenden zwei Winter gelang es, das Verlorene wieder zu ge¬
winnen, wie aus den eingezeichneten, im Februar 1889 erhaltenen,
schraffirten Längs- und Querschnittsmessbildern ersichtlich ist. Die
Patientin machte dann fleissig häuslichen Gebrauch vom Brustkorb¬
dreher (Apparat A3), wonach eine weitere Querschnittsmessung im
Fig. 15.
Mai eine deutliche aus der punktirten Linie erhellende Verbesse¬
rung ergab. Also hatte die Schiefheit während dieser 4 Jahre, bei
einem Längenwachsthum von 3,5 cm, nicht zugenommen, und eine
rasch entwickelte, bedeutende Verschlimmerung war vollständig be¬
seitigt worden.
In den folgenden 3 Fällen (Fig. 16, 17, 18) waren die Rück¬
gratsverkrümmungen so starr, dass ich eine erhebliche Besserung nicht
zu versprechen wagte.
H. A., geboren 1873 (Fig. 16, schwarze Contur), begann im Sep¬
tember 1888 mit den Hebungen; die seit mehreren Jahren manifeste
Lendenskoliose war ohne Behandlung zu einer Deviation von 36 mm
gediehen. Die Verkrümmung nahm jedoch allmählich ab und war im
April auf 18 mm (schraffirte Contur) zurückgebracht.
A. P., geboren 1874 (Fig. 17, schwarze Linie), trat im October
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Ueber die Bebandl. der babituellen Skoliose mittelst mech. Gymnastik. 363
1888 in meine Behandlung mit einer starren rechts-convexen Lumbal¬
krümmung von 27 mm Deviation im Scheitel. Im Januar war die¬
selbe auf 9 mm und im März 1889 auf 7 mm zurückgegangen
(schraffirte Linie).
E. L., geboren 1876 (Fig. 18), mit vorher nicht behandelter,
rasch entwickelter Totalskoliose, war so wenig wie die beiden vorher-
20 JO U 10 20
gehenden Patientinnen im Stande, eine geradere Haltung anzunehmen.
Die Behandlung führte aber wider Erwarten schnell zu einer Ab¬
nahme der Verkrümmung von 24 auf 12 mm und wurde in wei¬
teren 6 Monaten bis auf 5 mm Deviation zurückgebracht; eine Ab¬
weichung, die fast in normalen Grenzen sich bewegt.
Bei den folgenden 3 Patienten handelt es sich um leichtere
Formen von Schiefheit, die ihre Trägerinnen noch für kurze Zeit
selbst ausgleichen konnten, um aber schleunigst in die habituelle
schiefe Haltung zurück zu fallen. Anatomische Veränderungen müssen
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364
Gustav Zander.
auch hier schon in der Ausbildung begriffen, aber noch nicht so ein¬
gewurzelt und consolidirt gewesen sein, wie in den obigen Fallen^
so dass die Behandlung schneller zum Ziele führen konnte.
M. B. (Fig. 19), geboren 1875, begann die gegen ihre links¬
convexe Totalskoliose mit 26 mm Deviation gerichtete Behandlung
im Februar 1888. Vier Wochen später ergab die Messung eine
Fig. 17.
Abnahme bis auf 15 mm; im schraffirten Bilde vom Mai des fol¬
genden Jahres beträgt die Abweichung von der Mittellinie nur
noch 6 mm.
Der in Fig. 3 S. 342 dargestellte Fall verdient eine besondere
Hervorhebung. E. S., geboren 1876, hatte während des Winters
1887—1888 unter meiner Behandlung eine Besserung ihrer links¬
convexen Totalverkrümmung von 21 auf 6 mm erzielt. Während
des folgenden Sommers ging dieser Erfolg wieder verloren. Messung im
Herbste 1889 (Fig. 3, punktirte Linie) ergab eine Deviation von 20 mm.
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lieber die Behandl. der habituellen Skoliose mittelst mech. Gymnastik. 365
Die Mutter glaubte indessen auf die weitere Institutsbehandlung
verzichten zu können, weil in der von der Tochter besuchten Schule
eine besondere Turnstunde für diejenigen Schülerinnen eingerichtet
war; welche aus Rücksichten ihrer Gesundheit von der gewöhnlichen
Schulgymnastik keinen Gebrauch machen durften. Die schlechte
Haltung ihrer Tochter würde — wie die Mutter meinte — in diesem
Fig. 18.
20 10 0 10 20
unter Leitung der Turnlehrerin stattfindenden Cursus gehörig berück¬
sichtigt tmd behandelt. Glücklicherweise sandte die Mutter das Kind
jeden zweiten Monat zur controllireoden Messung zu mir. Die erste
Messung im November zeigte keine Verbesserung der Schiefheit; die
folgende im Februar ergab sogar eine beträchtliche Zunahme der Ver¬
krümmung, welche jetzt 37 mm Deviation im Scheitel des Bogens auf¬
wies (Fig. 3 schwarz ausgezogenes Bild). Die nun wieder eingeleitete
Behandlung in meinem Institute brachte die Schiefheit in kaum 7 Wo¬
chen auf 10 mm Abweichung im Messbilde zurück (schraffirtes Bild).
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3G6
Gastav Zander.
Ich führe diesen Fall an, um anlässlich desselben
Protest dagegen zu erheben, dass skoliotische Kinder
einem gymnastisdien Schulcursus unter Leitung eines ge¬
wöhnlichen „Gymnasten“ überwiesen werden. Es ist thöricht
zu erwarten, dass solche Leute, denen alle Mittel fehlen, sich eine ge¬
naue objective Auffassung des ihnen anvertrauten Falles zu verschaffen,
Fig. 19.
und denen die Hilfsmittel zu einer wirklich zweckmässigen Behand¬
lung* abgehen, Erfolge erzielen können, wo oft dem Arzte im ortho¬
pädischen Institute mit allen möglichen der Diagnose, Behandlung
und Controlle dienenden Mitteln enge Grenzen gezogen sind. Wenn
sie es nichts desto weniger übernehmen, so beweisen sie nur, dass sie
keine Ahnung von den Schwierigkeiten haben, welche die Behandlung
einer Skoliose bietet. Man sollte doch das oft recht verwickelte
Problem, ein krummes Rückgrat gerade zu machen, ebenso
wenig als andere Aufgaben imLeben, Personen anvertrauen,
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üeber die Behandl. der habituellen Skoliose mittelst mech. Gymnastik. 367
welche die noth wendigsten Voraussetzungen nicht erfüllen^).
Ist es nicht verkehrt, eine hauptsächlich mechanische Aufgabe
Jemandem zur Lösung zu geben, welcher keinen Sinn für Mechanik
und keine Ahnung von mechanischer Auffassung besitzt? Ich habe
doch wahrlich viel Zeit dafauf verwandt, die Mechanik in den Dienst
der Heilkunde zu stellen und muss heute noch viel Zeit und Nach¬
denken darauf verwenden, wenn es sich darum handelt, eine gewisse
Bewegung so anzuordnen, dass sie den gerade gewollten Effect und
nichts anderes bewirkt.
Skoliotische können überdies nicht von einer Person allein ohne
Gehilfen und ad hoc construirte Apparate behandelt werden.
Geschieht es dennoch, so bedeutet es im besten Falle Zeit¬
verlust; aber gewöhnlich auch eine nicht wieder einzubringende Ver-
säuraniss der rechten Zeit, in der das üebel noch mit sicherer Aus¬
sicht auf Erfolg bekämpft werden kann.
Noch gegen einen anderen, von Qymnasten genährten,
ja sogar von Aerzten getheilten Wahn muss ich hier an¬
kämpfen, dass nämlich gegen Schiefheit leichteren Grades
nur symmetrische, allgemein stärkende Bewegungen an¬
zuwenden seien. Diese Auffassung findet ihre theoretische Wider¬
legung in dem, was ich über die Entwickelung der Skoliose, über die
schon so früh eintretenden Veränderungen in den activen und in-
activen Theilen des Rückgrates und über die natürliche Tendenz der
Skoliose zur Verschlimmerung, im obigen gesagt habe. Aber auch
die Erfahrung stützt die Theorie.
Es ist natürlich, dass man, nachdem die möglichste Besserung
der Skoliose erreicht ist, schliesslich zu einer symmetrischen Behand¬
lung übergehen kann; jedoch ist dabei grosse Vorsicht am Platze,
damit das erzielte Resultat nicht wieder verloren gehe. Im folgenden
Falle war dieses eingetreten.
S. F., geboren 1873, wurde 1887—1888 wegen einer links¬
seitigen Totalskoliose von 24 mm Deviation behandelt; letztere war
im Mai 1888 auf 6 mm zurückgebildet. Als die Patientin im fol¬
genden Herbst sich wieder vorstellte, schien sie vollständig gerade
Anm. des Uebersetzers. Ein frommer Wunsch, angesichts der
nicht nur bei Laien, sondern bei nur zu vielen Aerzten noch herrschenden An¬
schauung, als könne man die Behandlung mittelst Gymnastik und Massage
unbedenklich ebenso gut sogenannten Gymnasten und Masseuren als den be¬
treffenden Specialärzten anvertrauen!
ZeitBcbrirt für orthopädische Chirurgie. II. Band. 25
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368
Gustav Zander.
zu sein. Im Messbilde jedoch zeigte die Dornenlinie drei flache
Krümmungen von höchstens 5 mm Tiefe (schwarze Linie).
Dieselben konnten nicht als Symptome anatomischer Verän¬
derungen der Wirbelsäule gedeutet werden, sondern ich nahm an,
dass sie auf Storungen im Tonus der semispinalen und rotatorischen
Fig. 20.
Rückenmuskeln zurückzuführen seien und verordnete symmetrische
roborirende Bewegungen.
Nach ungefähr 2 Monaten zeigte das Messbild (schraffirte Linie)
diese seichten Krümmungen nicht mehr, und die im Sagittalschnitt
ersichtliche, weniger kyphotische Haltung sprach für die erzielte
Stärkung der Rückenmuskulatur.
Aber die initiale links-convexe Totalskoliose war wieder vor¬
handen; die symmetrischen Bewegungen hatten also ihr Wieder¬
erscheinen nicht zu hindern vermocht.
Es ist nichts Ungewöhnliches, dass Aerzte in Unterschätzung
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üeber die Behandl. der habituellen Skoliose mittelst mech. Gymnastik. 369
der Gefahr die beginnende Skoliose ohne Behandlung lassen und die
Eltern mit den Worten in Sicherheit wiegen, „dass es von selbst ver¬
wüchse.Ich glaube nicht, dass dies der Fall ist. Das streitet zu
sehr gegen die Natur der Skoliose. Wenigstens darf man eine solche
Behauptung auf nichts anderes als zuverlässige Messungen stützen.
Es sind erst wenige Tage verflossen, seit ich die Rückgrats¬
verkrümmung eines Mädchens mass, welche der Arzt für so un¬
bedeutend erklärt hatte, dass man sich nicht darum zu kümmern
brauche.
Ich musste jedoch die üeberzeugung aussprechen, dass eine
zweijährige Behandlung nöthig sei, um einer schwereren Form der
Skoliose vorzubeugen.
Es gibt ja vereinzelte Fälle, die nicht behandelt wurden und
dennoch auf einer gewissen Entwickelungsstufe stehen blieben, be¬
sonders wenn ihr Träger nicht genöthigt war, lange still zu sitzen.
Da solche Fälle aber unter gewissen ungünstigen Verhältnissen sich
rasch zum Schlimmem entwickeln können, so ist es nicht angenehm,
die Verantwortung dafür zu tragen, eine Gelegenheit zur Abwehr
des üebels versäumt zu haben.
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XXL
Znr Elumpfiissbehandliing.
(Vorgetragen auf der VI. Jahresversammlung der amerikanisch¬
orthopädischen Association New York. September 1892.)
Von
Sigfred Levy-Kopenhagen.
Mit 2 in den Text gedruckten Abbildungen.
Meine Herren! — Der ausserordentlich grosse Reichthum an
Methoden, Apparaten, Bandagen, Handgriffen und operativen Ein¬
griffen, welcher bei der Behandlung des Pes varus congenitus em¬
pfohlen wird oder zu Gebote steht, könnte von dem nicht Ein¬
geweihten so gedeutet werden, dass die Behandlung dieser Deformität
noch im Unsichem schwebe, indem ihr die erforderliche wissen¬
schaftliche und empirische Grundlage fehlt. Aber diejenigen, welche
sich stetig mit der Behandlung der Deformitäten beschäftigen und
welche mit dem Wesen der hier besprochenen Affection vertraut
sind, hegen keinen Zweifel, dass die vielen Methoden weniger ein
Ausdruck der Unsicherheit, als vielmehr der eigenartigen Schwierig¬
keiten sind, welche die Behandlung des Pes varus zu überwinden
hat, und die in erster Linie aus individuellen Eigenthümlichkeiten
bei jedem einzelnen Fall herrühren. Auch hat wohl die individuelle
Vorliebe des einzelnen Orthopäden für eine bestimmte Methode oder
einen bestimmten Apparat einen nicht geringen Antheil an dem
genannten üeberflusse, welcher nur irrthümlich als ein Zeichen all¬
gemeiner, principieller Unsicherheit aufgefasst werden kann. — Ist
es ja doch nicht nur sicher, dass der nicht complicirte, angeborene
Varus geheilt werden kann, und dass dieses ohne Einschränkung der
Fall ist, wenn derselbe consequenter Behandlung vor dem Abschlüsse
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Zur Klumpfussbebandlung.
371
des epiphysären Wachsthums unterworfen werden kann; sondern es ist
auch unverkennbar, dass wir dieses Kosultat nur vermittelst Behand-
lungsprincipien erreichen, die sehr gut, sowohl durch Erfahrung als
durch Deduction, fundirt sind, und die eine für uns alle gemein¬
schaftliche Richtschnur bilden, wie verschieden auch die Methoden
oder Mittel sein mögen, welche der Einzelne anwendet, um diese
Principien zur Ausführung zu bringen.
Dieses gilt in erster Linie betreffs des Verfahrens, welches
jetzt allgemein für die Fälle adoptirt ist, welche bald nach der Ge¬
burt zur Behandlung kommen, die sogen. * amerikanische“ oder
Sayre'sche Lehre, die darauf hinausläuft, dass der angeborene Varus
so frühzeitig wie möglich behandelt werden soll. Wenn man heut
zu Tage im allgemeinen darüber einig ist, dass mit den corrigiren-
den Manipulationen so früh wie es nur angeht zu beginnen ist, und
dass so viel wie möglich durch dieselben ausgerichtet werden muss,
so geschieht dieses nicht nur, weil die mannigfachsten directen Be¬
obachtungen, von den verschiedensten Chirurgen gesammelt, uns
davon überzeugt haben, dass dieses Verfahren einen grossen Antheil
an den guten Resultaten hat, sondern auch, weil unsere besseren
Kenntnisse über die Genese und die ganze Pathologie des congeni¬
talen IGumpfusses uns Waffen leisten, die Richtigkeit dieser Be¬
handlungsmaxime gegen die Chirurgie früherer Zeiten, welche ja in
dieser Beziehung anderen Regeln folgte, zu behaupten.
Eben dasselbe gilt betreffs der Principien, welche in der Be¬
handlung des Varus in späteren Lebensaltern befolgt werden. Man
kann in diesen Fällen, gemäss seinen Erfahrungen oder wohl auch
seiner Vorliebe, entweder Brisements mit der Hand oder mit einem
der vielen Apparate vornehmen, oder der „Etappeverbindung“, den
subcutanen Ueberschneidungen oder der „offenen Incision“ den Vor¬
zug geben, — die Norm der Behandlung bleibt in allen Fällen eine
und dieselbe: 1. bringe die Skelettheile in die normale Position zu
einander, 2. halte sie in dieser Position fest, und 3. lasse sie in
dieser Position fungiren. — Auch hinsichtlich dieser Fälle bestätigt
sich die Richtigkeit unserer Behandlungsprincipien nicht nur zufolge
directer Beobachtung, sondern auch zufolge allgemeiner wissenschaft¬
licher Raisonnements.
In letzterer Beziehung ist die Orthopädie der Jetztzeit auf
das „Transformationsgesetz“ Julius Wolff's hingewiesen, welches
ja lehrt: dass die Deformitäten als eine Anpassung der Skelet-
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372
Sigfred Levy.
theile an die pathologisch veränderten statischen Verhältnisse auf¬
zufassen sind, dass die Function der primär deformirende Factor ist,
und dass es deshalb bei der Behandlung darauf ankommt, eine
möglichst normale Function (in der möglichst normalen Position) zu
erzielen.
Fühlt man sich von der Richtigkeit der soeben genannten
dreidoppelten Behandlungsregel überzeugt, und erkennt man die Be¬
deutung der festen Grund¬
lage, die das Transforma-
tionsgesetz auf vielen Punc-
ten der Orthopädie und
der orthopädischen Be¬
handlung gewährt, muss
man auch darnach trach¬
ten, seine Behandlung mit
jenen Regeln und diesem
Gesetze in Uebereinstim-
mung zu bringen und nur
diejenigen Behandlungs¬
weisen wählen, die alle
Ansprüche in dieser Rich¬
tung vollkommen erfüllen;
während die Methoden,
welche die consequente
Durchführung der ange¬
gebenen Principien verhin¬
dern, zu verwerfen oder
demgemäss zu modificiren
sind. Von diesem Gesichtspunkte aus müssen künftig alle Methoden
ohne Ausnahme erwogen und gewürdigt werden.
Es ist nicht die Absicht, hier sämmtliche vorgeschlagenen Be¬
handlungsweisen des angeborenen Klumpfusses einer von diesem
Gesichtspunkte ausgehenden kritischen Probe zu unterwerfen. Es
soll einstweilen nur eine derselben mit diesem Massstabe gemessen
werden, um als eine Illustration der voranstehenden Betrachtungen
zu dienen. Und wir wählen dazu die inamovible (feste) Ban¬
dage, von der ja vielseitig ein sehr ausgedehnter Gebrauch ge¬
macht wird.
Wenn es uns gelungen ist, einen Varus momentan zu redres-
Fig. 1.
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Zur Klumpfussbehandlung.
373
siren, d. h. die erste der oben erwähnten dreidoppelten Regel zu er¬
füllen, kann die unabnehmbare (feste) Bandage aus Gips oder einem
andern plastischen Stoffe uns dazu helfen, der zweiten der genannten
Forderungen nachzukommen, i. e. den Fuss in der corrigirten Stellung
festzuhalten. Dies lässt sich nicht bestreiten. Aber der dritten
Forderung gegenüber, betreffs der normalen Function, lässt uns die
inamovible Bandage völlig im Stich. Sie hemmt ja in wesentlichem
Maasse die Function, indem sie nicht
nur das Talocruralgelenk, sondern auch
die davor liegenden kleineren Gelenke
unbeweglich hält, und gleichzeitig wird
der ganze Apparat, der bei der Bewegung
dieser Gelenke fungirt — Muskeln, Liga¬
mente, Gefässe, Nerven u. s. w. bis hin¬
auf zu den betreffenden Bewegungs-
centren — ausser Function gesetzt. Und
dies nicht Tage und Wochen hindurch,
sondern Monate, ja sogar Jahre lang.
Wenn die „Transformation“ des defor-
mirten Fussskelettes nicht nur durch
normale Position bedingt wird, sondern
auch, was ich nicht bezweifle, durch
normale Function hervorgerufen wird,
dann ist die anhaltende langwierige Im¬
mobilisation durch eine feste Bandage
ein Bünderniss für die Transformirung
des EJumpfusses, umsomehr da die Im¬
mobilisation einen untrennbaren Begleiter in der (Inactivitäts-) Atrophie
hat, und zwar in diesen Fällen eine Vermehrung der Atrophie, die
sich hier stets vor der Behandlung vorfindet. Und nach dem Auf¬
hören der langen Immobilisation muss lange und energisch, oft ver¬
gebens, gegen diese Hinderung normaler Function gekämpft werden.
Hierzu kommt noch die eingreifende Wirkung, welche die feste Ban¬
dage durch die Compression der Gewebe, die sie einschliesst, ausübt.
Falls Belege für die bedeutenden, manchmal deletären Folgen lang¬
wieriger Compression in Verbindung mit Immobilisation erforderlich
wären, so würden die eben nicht erfreulichen Erfahrungen bei der
Entfernung der sogen. Dauerverbände, sogar bei unbedeutenden
chinurgischen Läsionen uns oft genug solche geben. Aber die Beob-
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374
Sigfred Levy.
achtung des steifen, pastösen, mageren, atrophischen Varus, der nur
4—5 Wochen, geschweige denn 3 Monate in einer inamoviblen Ban¬
dage gelegen hat, spricht deutlich genug in dieser Richtung.
Diese Betrachtungen führen uns zu der Schlussfolgerung, dass
die anhaltende Iramobilisation durch feste Bandage in der Behandlung
des Klumpfusses unzweckmässig ist und dass die contentive Wirkung,
die sie unbestritten leistet und die uns nöthig ist, anderweitig her-
vorgeschafFt werden muss.
Da ich seit Jahren, lange bevor mir das Transformationsgesetz
theoretische Argumente gab, ausschliesslich geleitet von den Be¬
obachtungen der geschilderten Folgen der langen Immobilisation,
namentlich hinsichtlich der Zunahme der Atrophie, die Anwendung
der inamoviblen Bandage immer mehr beschränkt habe, wurde es
mir eine natürliche Aufgabe, eine Contentivbandage herzustellen, die
den corrigirten Klumpfuss in situ festzuhalten vermochte, ohne die
Uebelstände der Immobilisation mit sich zu führen. Und das Traus-
formationsgesetz musste natürlich die Ansprüche auf eine solche
Bandagirung in hohem Grade accentuiren. Vermeintlich ist die Auf¬
gabe durch beifolgende Schiene in zweckdienlicher W^eise gelöst
worden.
Dieselbe besteht, wie aus den Figuren zu ersehen, aus zwei
Stücken, deren Zusammensetzung genau in den Plan des Talocrural-
gelenkes fallen muss: eine leichte Doppelschiene für Anticrus und
eine plattenförmige Schiene mit umgebogenen Kanten für den Fuss.
Die letztere, die genau nach dem Fusse abgepasst werden muss, darf
nicht länger als bis zur Basis der Zehen reichen; sie ist mit zwei
Riemen versehen, welche zwischen der Platte und der Umbiegung
durch die Schiene geführt werden: ein hinterer Riemen, welcher von
der äusseren Seite des Fusses auf die Taluspartie wirkt, und ein
vorderer Riemen, der von der inneren Seite her den Vorfuss nach
aussen zieht; ausserdem befinden sich ganz vorne zwei Elastiques,
die nach Kreuzung auf dem Fussrücken an die Cruralschiene be¬
festigt werden. — Diese Schiene vermag mit nicht unbedeutender
Kraft contentiv auf den corrigirten Varus zu wirken in allen drei
Deviationsrichtungen: der hintere, auf die Taluspartie wirkende Zug,
wirkt gegen die Deviation in Supinationsrichtung, der vordere gegen die
Adduction und die zwei Kreuzbänder gegen die Plantarflexion. Zudem
beeinträchtigt die Schiene nicht die Function, indem das Gehen (ein¬
schliesslich die Abwicklung des Fusses) auf normale Weise vor sich
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Zur Klumplussbehandlung.
375
gehen kann, wenn nöthig in Ueberzugsstiefeln. Endlich können wir,
so oft wir wünschen, die Schiene entfernen, um Verbände, Mani¬
pulationen, Massage, Waschungen etc. vorzunehmen.
Ob nun diese kleine Schiene ebenso brauchbar von Ihnen als
von mir befunden werden wird, oder ob sie wie so viele andere
Klumpfussbandagen darauf hingewiesen sein soll, wesentlich vom
Urheber und einzelnen seiner Freunde benutzt zu werden, das kann
ich natürlich nicht abmachen. Mehr Vertrauen hege ich hinsicht¬
lich Ihrer Zustimmung an die hier vorgebrachte Anschauung, dass
Immobilisation und Transformation zwei Dinge sind, welche sich
nicht gut vertragen.
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XXll.
Mittheilimgen ans der chimrgiscli-orthopädisGhen
Privatklinik des Privatdocenten Dr. Hoffa zn
Würzbnrg.
I.
Die Luxatio capituli radii congenita (angeborene Verrenkung
des Radiusköpfchens).
Von
Dr. Theod. Bonnenberg,
Volontilrassistent der Klinik.
Mit 2 in den Text gedruckten Abbildungen.
Vor einiger Zeit gelangte in der Klinik des Herrn Dr. Hoffa
in Würzburg ein Fall von angeborener Luxation des Radiusköpfchens
zur Beobachtung und Behandlung, der manches von Interesse dar¬
bot, so dass es angebracht erscheint, denselben zu veröfiFentlichen.
Herr Dr. Hoffa war so freundlich, mir die Beschreibung des Falles
zu überlassen, wofür ich ihm auch an dieser Stelle meinen Dank
aussprechen möchte.
Bei der 20 Jahre alten S. M. aus Darmstadt findet sich eine
Luxation des rechten Radiusköpfchens nach vorn. Bei der ersten
Betrachtung fällt gleich die fehlerhafte Haltung des rechten Armes
auf. Derselbe erscheint kürzer und schwächer, besonders im Vorderarm,
als der linke (Fig. 1). Der rechte Oberarm ist 29 cm lang, die Länge
des Vorderarmes beträgt 21 cm, ebenso hat Ulna, wie auch Radius
gleichfalls eine Länge von 21 cm, die Länge der Hand ist 15 cm.
Der Umfang des Armes beträgt an der Achselhöhle 23 cm, am
Ellenbogengelenk 20 cm, am oberen Drittel des Vorderarms 18,5 cm.
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Die Luxatio capituli radii congenita etc. 377
am unteren Drittel 14 cm. Der Vorderarm steht in Supinations¬
stellung, die Hand hängt dabei in dorsalflektirter Stellung herab.
Während der Radius einen annähernd normalen Verlauf zeigt, ist
die Ulna in ihrem unteren Verlaufe entschieden spiralig gewunden
und, entsprechend der Grenze des oberen und mittleren Drittels,
convexer gestaltet, als normal. Das Ellenbogengelenk kann nicht
Fig. 1.
vollständig gestreckt werden, sondern nur bis zu einem Winkel von
155 ®. In der Strecksteilung fühlt man deutlich den Epicondyl.
intern, humeri, die Spitze des Olecranon und den Epicond, externus
humeri. Letzterer liegt in gleicher Höhe mit dem Epicond, intern.
Etwa 1 cm. über dem Epicondyl. extern, fühlt man an der vorderen
Fläche des Humerus etwas nach aussen einen Knochenvorsprung.
Der Condyl. extern, fühlt sich bei der Palpation entschieden platter
an, als normal und liegt etwa 2 cm vom Rande des Olecranon ent¬
fernt. Der Kopf des Radius ist in der Ellenbeuge deutlich zu fühlen;
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378
Theod. Bonnenberg.
bei Pro- und Supinationsbewegungen gleitet er unter dem pal-
pirenden Finger hin und her. Macht man eine Flexionsbewegung
mit dem Arm, so gleitet das Capitulum radii an der vorderen Seite
des Humerus hinauf und stellt sich gegen den oben erwähnten Vor¬
sprung. Bei spitzwinkeliger Flexion kann man an dieser Stelle,
6 cm über der Spitze des Olecrauon das Capitulum radii als kuge¬
lige Geschwulst hervortreten lassen. Bei Beuge- und Streckbewe¬
gungen fühlt man, namentlich wenn man die Hand dabei zu pro-
niren versucht, deutlich, wie das Capitulum auf einer rauhen Fläche
des Humerus nach vorne, gegen die Ellenbeuge hin, hin und her
gleitet. Die Pronation der Hand ist nicht möglich, während man
den Radius und die Ulna in dem unteren Radio-ulnar-Gelenke gegen
einander verschieben kann. Das untere Ende der Ulna springt bei
der supinirten und dorsalflektirten Stellung der Hand stark nach der
Volarseite des Armes hervor. Ueber dem Vorsprung hat sich ein
accessorischer Schleimbeutel gebildet, wahrscheinlich durch den Druck
des gleich zu beschreibenden Apparates.
Die Patientin hatte in ihrer Heimat einen von Herrn Dr. Kraus
in Darmstadt construirten Apparat getragen, welcher das Radius¬
köpfchen fixiren und die Drehung der Ulna heben sollte. Der Apparat
selbst besteht im wesentlichen aus einem stark 1 cm dicken Brette,
welches für den gebeugten Arm spitzwinkelig geschnitten von der Mitte
des Oberarmes bis zur Mitte des Vorderarmes reicht. Zur Aufnahme
des Ellenbogens selbst ist auf der äusseren Seite des Winkels eine
eiserne Kappe und an den beiden Enden des Brettes je ein inneres
Eisenblech angebracht, zwischen welche nun der Arm durch zwei am
oberen und unteren Ende in der Höhe der Eisenbleche befestigte
Schnürvorrichtungen aus Leder befestigt werden kann. Von dem
oberen Theile des Brettes und zwar von seiner äusseren Kante steigt
ein etwas gebogener Eisenstab zur Schulterhöhe empor, über der
er in einer Schnalle endigt. Oberhalb der Ellenbogenkappe ist
aussen mittelst einer Führung ein starker eiserner Bügel angebracht,
welcher an seinem über den Arm hinübergreifenden freien Ende eine
durch eine Schraubvorrichtung verstellbare Pelotte trägt, die das
Radiusköpfchen fixiren soll. Um nun der Drehung der Ulna ent¬
gegenzuwirken, wird der Vorderarm oberhalb des Handgelenkes von
der ulnaren Seite her zur Hälfte von einem Eisenbande umfasst
welches an der dorsalen Seite eine erst nach aussen, dann nach
oben gebogene ca. 20 cm lange Eisenstange trägt. Ein am Ende
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Die Luxatio capituli radii congenita etc.
379
dieser Stande befestigter Riemen kann nun in die oben erwähnte
Schnalle eingeschnallt werden und wirkt dadurch auf den Vorderarm
drehend, im Sinne der Pronation.
Da der Apparat theils durch seine Schwere, theils durch Druck
die Patientin belästigte, ferner eine Besserung durch diesen Apparat
voraussichtlich erst nach sehr langer Zeit erzielt werden konnte,
entschloss sich die Patientin, sich operiren zu lassen.
Am 20. Oktober 1892 wurde in Chloroformnarkose von Herrn
Dr. Hoffa und mir die Operation vorgenommen.
Es wird zunächst ein etwa 6 cm langer Hautschnitt an der
Aussenseite des Ellenbogengelenkes über den Condylus extemus
humeri, parallel der Längsaxe des Armes gemacht. Darauf wird
die Gelenkkapsel eröffnet. Es ergibt sich nun folgender Befund:
die ganze äussere Hälfte des unteren Humerusendes ist in einem
leicht concav nach der Ellenbeuge verlaufenden Bogen abgeschrägt,
so dass keine deutliche Abgrenzung zwischen der Erainentia capitata
und dem für gewöhnlich nicht überknorpelten Theile der Epiphyse
besteht. Beide Theile gehen vielmehr in einander über, so dass sich
der Knorpelüberzug der Eminentia capitata noch etwa 2 cm höher
hinauf erstreckt, als normal, bis zu dem oben erwähnten Knochen¬
vorsprung. Die äussere Kante des unteren Humerusendes erscheint
dabei erheblich verdünnt, so dass sie gewissermassen eine Leiste
bildet. In der abgeschrägten unteren Humeruspartie liegt über der
Eminentia capitata das Radiusköpfchen. Dasselbe ist vollständig
mit einer fibrösen Kapsel überzogen, welche rings um das Collum
befestigt und durch eine Bandmasse mit der äusseren Partie der
Gelenkkapsel verbunden ist. Die Kapsel wird über dem Köpfchen
gespalten und, nachdem das Periost gelöst worden, ein 2 cm langes
Stück des Radius mit der Stichsäge entfernt. Da sich diese Ver¬
kürzung indess noch nicht als hinreichend erweist, wird noch etwa
1 cm mit der Luer’schen Hohlmeisseizange entfernt, die Schnitt¬
fläche hohl geglättet und der Radius unter die Eminentia capitata
humeri verpasst. Zum Schlüsse wird noch die Kapsel, welche das
Capitulum radii überzog, mit der Scheere entfernt. Es ist jetzt
Beugung und Streckung im Ellenbogengelenke vollständig ungehin¬
dert ermöglicht, nicht aber Pro- und Supination. Es wird daher
über dem Processus styloideus ulnae ein etwa 4 cm langer Ein¬
schnitt gemacht und nach Ablösung des Periostes ein 3,5 cm langes
Stück vom unteren Ende der Ulna mittelst der Säge entfernt. Hier-
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380
Theod. Bonnenberg.
durch wird auch Pro- und Supination in vollem Umfange möglich.
Die beiden Wunden werden hierauf mit Jodoformgaze austamponirt
und der Arm gegen eine innere Schiene in Streckstellung anban-
dagirt. Am 23. und 28. October Verbandwechsel, bei welchem der
Arm in Beugestellung festgestellt wird.
Nachdem die Wunden verheilt sind, wird gegen Mitte No¬
vember mit Bewegungen angefangen. Zugleich wird der Arm täg¬
lich massirt und elektrisirt.
Da jedoch noch eine spiralige Drehung des Radius vorhanden
ist, wird am 30. November auf der Grenze zwischen mittlerem und
unterem Drittel die Osteotomie in Chloroformnarkose vorgenommen.
Nachdem ein etwa 2 cm langer Schnitt parallel der Längsaxe auf
den Radius gemacht ist, wird dieser mittelst Meissei und Hammer
quer durchtrennt. Der Arm wird sodann in die richtige Stellung
gebracht und, ohne dass die Wunde vernäht wird, verbunden.
Am 7. Deceraber wird der Verband zum ersten Male gewech¬
selt. Die Wunde granulirt gut; es hat sich reichlicher Callus an
der Durchtrennungsstelle gebildet. Der Vorderarm wird gegen eine
volare und dorsale Schiene anbandagirt.
Am 13. December zweiter Verbandwechsel; die Wunde ist am
Verheilen. Heftpflasterverband; Feststellung mittelst Schienen, wie
bisher.
Am 20. Deceraber wird die Patientin entlassen. Der Arm
steht in richtiger Stellung. An der Stelle der Durchraeisselung ist
noch reichlicher Callus vorhanden. Activ ist Beugung und Streckung
vollständig möglich; Pronation und Supination sind activ noch nicht
möglich, passiv jedoch vollständig frei ausführbar.
Wie weit die Besserung bis jetzt vorgeschritten ist, lässt sich
am besten aus einem-Briefe ersehen, den die Patientin am 17. Ja¬
nuar 1893 an Herrn Dr. Hoffa richtete. Sie schreibt:
„Hochgeehrter Herr Doctor! Beinahe 4 Wochen sind seit
meiner Rückkehr verflossen und ich habe Ihnen noch keine Nach¬
richt zukommen lassen. Doch möge es mir zur Entschuldigung
dienen, dass ich Ihnen zugleich Bestimmtes über den Erfolg des
Massirens mittheilen wollte.
Durch tägliches Massiren ist die Anschwellung am Vorderarm
viel kleiner geworden, und der Arm hat sich bedeutend gekräftigt,
so dass ich leichte Arbeiten damit verrichten kann. Ausserdem
mache ich täglich eine bestimmte Zeit üebungen, Drehen, Beugen u. s. w.
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Die Luxatio capituli radii congenita etc.
381
Anfangs stellte ich mich sehr ungeschickt zu Allem an, doch jetzt
geht es schon viel besser; und hoflFe ich mit Geduld und festem
Willen wenn auch nicht Alles, so doch das Meiste mit der Zeit
rechts lernen zu können.“
Am 4. März 1893 consfcatirte Herr Dr. Kraus in Darmstadt
folgenden Befund: Der rechte Arm wurde massirt vom 24. De-
cember bis 24. Februar.
Seit 3 Wochen wird der rechte Arm zum Schreiben be¬
nutzt. Mit der rechten Hand werden gröbere Sachen genäht,
Patientin kann jetzt rechts abspülen und abstauben. Sie wäscht
sich aber noch links, weil die active Beugung rechts nur wenig über
90® möglich und noch Schwäche im ganzen Arm, besonders im
rechten Vorderarm besteht. Passiv ist Beugung im rechten Ellen¬
bogengelenk bis zum spitzen Winkel möglich.
Stat. praes.: Der Radius endigt über dem Condyl. exter. in
der Ellenbeuge; 2 cm von dem distalen Ende des Proc. styloid.
radii beginnt eine Callusmasse, welche ca. 5 cra lang und 5 cm
breit ist. Auf der Höhe des Gallus befindet sich eine Incisions-
narbe. Incisionsnarben ferner über Condyl. extern, und über Proc.
styloid. ulnae.
Bedeutende Schwäche des rechten Armes im Vergleich zum
linken.
Mitte Oberarm rechts 22, links 20^2 cm.
Dickste Stelle Vorderarm rechts 20^1, links 23^4 cm.
Pronation und Supination ist rechts bei freier Armhebung nicht
möglich, in geringerem Grade bei Unterstützung durch die linke
Hand.
Umstehende Fig. 2 erläutert den Status besser als Worte.
Sie wurde anfangs März 1893 aufgenommen und zeigt den guten
Erfolg der Operation.
Beschreibung des bei der Operation gewonnenen Präparates.
Das vom oberen Ende des Radius entfernte Stück misst in der
Länge 2 cm, der Durchmesser beträgt am Capitulum 15 mm, am
Collum 13 mm, so dass also kaum eine Abgrenzung zwischen den
beiden möglich ist. Das Capitulum, überhaupt nur mangelhaft ent¬
wickelt, macht vollständig den Eindruck eines infantilen; eine eigent¬
liche Cavitas glenoidalis ist nicht vorhanden, lediglich eine unregel¬
mässige, seichte Einsenkung von etwa 4 mm Durchmesser, nimmt
die Höhe des Köpfchens ein. Knorpelüberzug fehlt dem Köpfchen,
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382
Theod. Bonnenberg.
bis auf eine nicht ganz 1 cm im Durchmesser haltende Stelle an
dem hinteren Umfange desselben, mit welcher der Radiuskopf auf
der Vorderfläche des Humerus aufschleifte.
Das vom unteren Ende der Ulna entfernte StQck misst etwa
3,5 cm in der Länge, an seinem oberen Theile 8 mm, am Köpfchen,
von vom gesehen, 15 mm, von der Seite gesehen 10 mm im Durch-
Fig. 2.
messer, der Processus styloideus wieder 8 mm und 5 mm in der
Länge. Es ist also der Processus styloideus bedeutend verdickt und
macht das ganze Stück den Eindmck eines länglichen, cylindrischen
Knochens, dem an einer Seite eine höckerige Exostose (das Capi-
tulum) aufsitzt. An diesem Knochenstücke beflndet sich nur ein
etwa 3 mm im Durchmesser haltender Knorpelüberzug auf der Spitze
des Processus styloideus.
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Die Luxatio capituli radii congenita etc.
383
Im Anschlüsse an diesen Fall sei es mir gestattet, eine Zu¬
sammenstellung der bis jetzt in der Litteratur als angeborene Luxa¬
tionen des Radiusköpfchens beschriebenen Fälle zu bringen und zu
besprechen.
Casnistik der congenitalen Lnxationen des Radinsköpfchens.
Doppelseitige congenitale Luxationen des Radiusköpfoliens.
A. Nach aussen.
Von doppelseitigen Luxationen des Radiusköpfchens nach aussen
habe ich keinen Fall in der Litteratur verzeichnet gefunden.
B. Nach hinten.
1. Fall von Dupuytren. (Meli eher, Gurlt II, Malgaigne.)
Derselbe betrifft eine an der Leiche gefundene doppelseitige
Luxation des Radius nach hinten und wurde im Jahre 1830 Du¬
puytren von Loir gezeigt. Auf jeder Seite überstieg der Radius¬
kopf das untere Ende des Humerus um mindestens einen Zoll.
2. Fall von Dupuytren. (Malgaigne.)
Derselbe ist nach Malgaigne in den mündlichen Vorträgen
Dupuytren's niedergelegt. Ein junges Mädchen von 14 Jahren
stellte sich im Jahre 1817 im Hotel Dieu mit einer vollständigen
Luxation beider Radiis nach hinten vor. Nach Angabe der Ver¬
wandten soll die Deformität im Alter von 7 Jahren erschienen sein
und sollen zu gleicher Zeit die Enden aller langen Knochen ange¬
schwollen sein. Am rechten Arme liess die runzelige und unebene
Ulna auf eine schlecht geheilte Fractur schliessen, auch gab das
Mädchen an, dass es auf diesem Arme zwei Verdrehungen erlitten
habe. Am linken Arme fehlte der untere Theil der Ulna, ohne dass
an den allgemeinen Bedeckungen die Spur von einer Narbe vor¬
handen war.
3. Fall von Servier. (Gaz. hebd. 2. Sär. IX (XIX) 14. April
1872, ref. in Schmitt’s Jahrbüchern.)
Servier beobachtete eine doppelseitige congenitale Luxation
der Knie- und Ellenbogengelenke bei einem 21jährigen Soldaten.
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. II. Band. 26
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Theod. Bonnenberg.
An der rechten oberen Extremität war die Supination nicht möglich,
die Pronation auf den achten Theil eines Kreises beschrankt; der
Vorderarm war nach aussen verschoben. Die Epitrochlea machte
einen sehr bedeutenden Vorsprung. Der Epicondylus fehlte, das
Köpfchen des Radius sprang nach hinten hervor und nahm den nor¬
malen Platz des Epicondylus ein. Wenn man den Arm beugte,
stellte sich das Radiusköpfchen über das untere Ende des Humerus;
der Radius war durch Ligamente, scheinbar das Lig. annulare, fest¬
gehalten. An der linken oberen Extremität war die Deformität noch
bedeutender. Das Radiusköpfchen stand ganz hinter der unteren
Humerusepiphyse. Bei Rotationsbewegungen des Vorderarmes machte
das Radiusköpfchen einen Weg von 3 cm um den Epicondylus herum.
4. Fall von Humphrey. (Angef. in Treatise on Dislocations
by Lewis A. Stimson.)
Der Fall betraf die Leiche einer erwachsenen Person, deren
Vorgeschichte nicht zu erlangen war. Das untere Ende der linken
Ulna fehlte, augenscheinlich in Folge mangelhafter Entwickelung;
die rechte Ulna war fest mit dem Humerus, beinahe im rechten
Winkel, ankylosirt und war 8 Zoll lang; das untere Ende war gut
gebildet und stand wie gewöhnlich in gleicher Höhe mit dem Ra¬
dius. Der Radius war ebenfalls 8 Zoll lang, sein Köpfchen war
aufwärts verlagert und lag gegenüber dem Vordertheile der Leiste,
welche vom äusseren Condylus zum Schafte aufsteigt (,against the
forepart of the ridge that ascends from the outer condyle to the
shaft“). Der Radius war etwas unregelmässig in seiner Gestalt, und
seine ausserordentliche Länge war in seinem Schafte entwickelt,
nicht in seinem Halse, wie in mehreren anderen Fällen berichtet
wurde. Die Trochlea des Humerus war unvollkommen.
5. Fall von Allen. (Angef. bei Stimson.)
Das Präparat war der Leiche eines älteren Mannes ohne Ge¬
schichte entnommen. Beide Ellenbogen waren betroffen; Flexion
war normal, Extension nur bis zum rechten Winkel möglich; die
Rotation war vollständig verloren gegangen imd standen die Glieder
in Pronationsstellung dauernd fest. Beide Radii waren rückwärts
verlagert, jedoch wurde nur der linke Ellenbogen genauer beschrieben.
Die Veränderungen betrafen die Form des unteren Humerusendes
und des Radius. Der Radius kreuzte die Vorderseite der Ulna an
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Die Luxatio capituli radii congenita etc.
385
ihrem oberen Ende und war dortselbst in einer Ausdehnung Ton
etwa 3 Zoll durch knöcherne Verwachsung mit ihr verbunden. Unter¬
halb dieser Stelle war der Schaft des Radius sehr dick geworden.
Der Hals des Radius war 1 Zoll lang, so dass das Köpfchen nach
oben, hinter den Humerus getrieben war, an die innere Seite des
Olecranon. Ausserdem war der Condyl. extern, hum. abnorm nach
ab- und auswärts gewachsen, und zwar wurde die Ausdehnung dieser
Vergrösserung auf Zoll geschätzt. Die Oberfläche der Trochlea
war verunstaltet, hauptsächlich durch Verlust des grössten Theiles
des inneren Randes. Die Fovea supratrochlearis posterior war so
weit ausgefüllt, dass die Wand zwischen ihr und der Fov. supra-
trochl. anter. V» Zoll dick war. Der Schaft der Ulna war dünn;
ihr unteres Ende war normal und stand in normalem Verhalten zum
Radius.
6. Fall von Phillips. (Angef. bei Stimson.)
Phillips’ Patientin war ein gut entwickeltes Mädchen von
17 Jahren. Das Köpfchen jedes Radius bildete eine deutliche Her-
vorragimg hinter dem Condylus externus humeri. Das Ellenbogen¬
gelenk konnte völlig gestreckt werden; die Beugung war bis fast
zur normalen Grenze möglich, jedoch nur, wenn die Hand in halber
Pronationsstellung stand. Diese Bewegung wurde hauptsächlich
durch den Supinator zu Stande gebracht; der Biceps erschien zum
grössten Theile atrophisch. Das Radiusköpfchen konnte in geringer
Ausdehnung rotirt werden. Die verschiedenen Hervorragungen des
Ellenbogengelenkes sowohl als auch das Radiusköpfchen selbst waren
vollständig entwickelt. Die Mutter behauptete, dass die Deformität
schon unmittelbar nach der Geburt des Mädchens bemerkt worden sei.
7. Fall von Heele. (Angef. bei Stimson.)
Heele’s Patient war ein choreatischer Knabe, 8 Jahre alt, mit
schlaffen Gelenken und sehr langsam von Verstand. Der linke Ra¬
dius wurde durch jede geringfügige Bewegung verlagert und war
für gewöhnlich nicht an seiner Stelle; er konnte indess leicht repo-
nirt werden durch Beugung im Ellenbogengelenke oder durch Druck
auf den Biiochen, in jeder Stellung des Gliedes. Der rechte Radius
war theilweise dislocirt und nicht zu reduciren; ungefähr ^/s des
Köpfchens blieb in Berührung mit dem Humerus. Beide Ver¬
renkungen hatten rückwärts und aufwärts statt. Beide Condylen
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Theod. Bonnenberg.
erschienen dünn. Alle Bewegungen waren möglich, nur die Rotation
war schlaflF, besonders die Supination. Die Verlagerungen wurden
bereits kurze Zeit nach der Geburt bemerkt.
8. Fall von Dr. Leo Herskovitz. (Wiener medicinische
Presse 1888 Nr. 7.)
Der Betreffende (Sanitätssoldat) soll stets gesund gewesen sein,
bis auf den Zustand seiner Ellenbogen und eine verminderte Beweg¬
lichkeit beider Vorderarme, was nach Angabe der Mutter seit der
Geburt bestehen soll. Fall auf die Hände wurde verneint.
Die Vorderarme waren gegen die Oberarme radialwärts ab-
ducirt und standen in Viertelbeugestellung, die Hände in mittlerer
Pronation.
„Geradezu frappant ist die Hinterseite, sowie die seitliche An¬
sicht des Gelenkes. lieber dem Condylus extemus sieht man late¬
ral wärts (3 cm) neben dem Olecranon eine ungefähr wallnussgrosse,
rundliche Hervorwölbung, welche jene Furche ausfüllt, die man am
normalen Gelenke zwischen dem oberen Ansätze der Supinatoren
einerseits, dem Olecranon, der Tricepssehne und den Vorderarra-
streckem andererseits verlaufen sieht; eine kleinere Furche bemerkt
man dagegen nach aussen von der Protuberanz. Der Muskelansatz
der Beuger und Supinatoren erscheint bei genauerer Inspection ab¬
geflachter, sein äusserer Contour weniger convex.“
Bei der Palpation fand sich die Stelle des Radiusköpfchens
verlassen, die Muskeln dortselbst leichter eindrückbar, die Eminentia
capitata war undeutlich, von geringerer Wölbung. Die Protuberanz
an der Hinterseite des Gelenkes stellte sich als das stark verdickte
Kadiusköpfchen mit Delle heraus, auf dem nach hinten und oben
verschobenen Halse des Radius aufsitzend; das Ligamentum annulare
war nicht zu fühlen. Bei Drehung des Vorderarmes im Sinne der
Pronation (die Supination war aufgehoben) bewegte sich die Hervor¬
wölbung sichtbar und fühlbar mit. Der Arm konnte aus seiner
Viertelbeugestellung nicht gestreckt werden, die Beugung war jedoch
bis auf einen geringen Unterschied wie normal ausführbar. Die
Pronation war bis über die Hälfte des normalen möglich, die Supi¬
nation vollständig aufgehoben. Die Ab- und Adduction der Hände
war beschränkt.
Beide Arme boten einen übereinstimmenden Befund dar.
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Die Luxatio capituli radii congenita etc.
387
C. Nach vorne.
9. Fall von Dr. A. Mitscherlich. (Archiv für klinische
Chirurgie von Langenbeck [6. Bd.] 1865.)
Bei einem 6jährigen Mädchen, bei dem 3 Jahre vorher die
Tenotomie der Achillessehne zur Heilung gleichzeitig vorhandener,
angeborener, beiderseitiger Klumpfüsse gemacht worden war, er¬
schienen die oberen Extremitäten im Verhältnisse zum übrigen
Körper etwas verkürzt und abgemagert, vorzüglich die Extensoren
zumal der linken Seite. Hand und Fingergelenke befanden sich in
schwacher Beugung und liessen sich nur mit Mühe passiv gerade
strecken. An den Ellenbogengelenken war der Breitendurchmesser
verkleinert, der Querdurchmesser dagegen grösser als normal.
Das Capitulum radii war vor der äusseren Hälfte des Pro¬
cessus coronoideus zu fühlen und Hess sich nicht an seine normale
Stelle zurückführen. Auf beiden Seiten war die Extension bis zur
vollständigen Streckung möglich, die Flexion rechts bis zu einem
Winkel von 70 Unks bis zu einem solchen von 100 ® ausführbar.
Die Hände standen beiderseits fast in vollständiger Supination und
konnten aus dieser Stellung nur in unbedeutendem Grade in Pro¬
nation übergeführt werden. Die Sensibilität und elektrische Erreg¬
barkeit auf beiden Seiten normal, dagegen die Temperatur, nament¬
lich links, erniedrigt.
Auf die dringenden Bitten der Mutter entschloss sich Geheim¬
rath Langenbeck zur Resection des linken, als des unbrauchbarsten
Ellenbogengelenkes. Nach einigen Wochen starb die Kranke, und
konnte so auch das rechte Gelenke präparirt werden. Die Gestalt
der unteren Humerusepiphyse erschien bei oberflächHcher Betrachtung
unbedeutend verändert, da nur der Condylus externus ein wenig
abgeflacht, der Condylus internus aber, sowie der Sinus maximus in
der normalen Weise vorhanden waren. Die Formveränderungen
bezogen sich hauptsächlich auf die Gelenkflächen, die Trochlea und
die Rotula. Betrachtete man die Epiphysen des Oberarms von hinten,
80 bemerkte man nur die Trochlea, welche, in normaler Weise vom
Sinus maximus entspringend, den ganzen Raum mit ihrer stark
concaven Fläche einnahm. Erst wenn man die Epiphyse von unten
betrachtete, sah man am tiefsten Punkte der Aussenseite eine Crista
entspringen, welche in gebogener Richtung, mit der Concavität nach
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388
Theod. Bonnenberg.
aussen, nach vom und soweit nach innen verlief, dass sie zuletzt
nur noch einen 1 Linie breiten Raum fQr die Gelenkfläche des
Proc. coronoideus frei liess.
Dagegen wurde fast der ganze äussere Theil der vorderen
Seite der Humerusepiphyse durch die beinahe kreisrunde Gelenkfläche
für den Radius ausgefüllt, so dass nicht nur die Vertiefungen der
Fossa anterior minor gänzlich, sondern auch die der Fossa anterior
major fast vollständig verschwanden, wobei von letzterer ausserdem
noch ein erheblicher Theil durch die oben erwähnte Crista einge¬
nommen wurde.
Die Form der Gelenkfläche der Ulna erschien fast völlig normal,
nur war ihr unterer Theil etwas breiter, als er sein sollte, um die
zu grosse Gelenkfläche am Humerus ausfüllen zu können. Der obere
Theil des Radius stand, der anormalen Lage der Rotula entsprechend,
etwas höher, als in der Norm, seine obere Gelenkfläche zeigte eine
unregelmässig convexe Gestalt, so dass ihr grösserer hinterer Theil
bei der Extensionsstellung des Vorderarmes mit der oben beschrie¬
benen Rotula artikuliren konnte. Eine Cavitas sigmoidea minor fehlte
gänzlich, da der Radius mit der Ulna nicht artikulirte, indem sich
das Capitulum des ersteren gerade vor der äusseren Hälfte des Proc.
coronoideus befand und über diese hervorragte. Die Knochensubstanz
der Epiphysen, wie der knorpelige Ueberzug waren vollständig
normal, indem sich in letzterem nirgends Schwund oder selbst
Erosionen auffinden Hessen; er erschien glatt und glänzend. Ebenso
zeigte auch die Kapsel keine Veränderungen, nur schien sie wegen
der Höherstellung des Radius an ihrer äusseren Seite etwas weniger
tief als gewöhnHch hinabzureichen. Was den Bandapparat betrifft,
so wurde das Capitulum radii in seiner abnormen Stellung dmch
ein festes Ligament fixirt, welches theils vom Proc. coronoideus, theils
in schräger Richtung vom Condylus extemus zu seinem capitulum
hinüberging, und dasselbe in ähnlicher Weise wie das Ligamentum
annulare umschloss. Die Ligamenta lateralia waren in der normalen
Weise vorhanden, nur hatte das extemum auch gleichzeitig noch
einen Ansatzpunkt an der äusseren Seite der Ulna, unterhalb des
Processus coronoideus; ebenso setzte sich das Ligamentum cubiti
anticum mit seinem äusseren Theile an Stelle des entsprechenden
Theiles des Processus coronoideus an das Capitulum radii fest,
während das Ligamentum cubiti posticum den normalen Verlauf hatte.
Die Ansatzpunkte der Muskeln boten nichts Bemerkenswerthes dar.
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Die Luxatio capituli radii congenita etc.
389
10. Fall von Leisrink. (Archiv für deutsche Chirurgie, Bd. 11.)
Der 18 Jahre alte Buchbinder Theodor Spatz soll angeblich
scheintodt geboren und durch energisches Rütteln an den Armen
nebst anderen Manipulationen zum Leben erweckt worden sein.
Damals wurde eine Deformität der Arme nicht bemerkt; erst im
dritten Lebensjahre bemerkten die Eltern ein eigenthOmliches Aus¬
sehen des oberen Theiles des Unterarmes und zugleich, dass das
Kind nicht im Stande war, die Hände in normaler Weise gegen den
Vorderarm zu drehen. Weiter bemerkte der Kranke von seinem
neunten Lebensjahre an, dass, wenn er den linken Arm stark beugte,
ein Knacken hörbar wurde und dann eine Streckung des Armes
nicht möglich war. Reposition dieser häufig auftretenden Luxation
erfolgte Anfangs durch ärztliche Hülfe, später besorgte der Kranke
dieselbe selbst, indem er einfach gegen die stark hervorragenden
Knochen drückte. Vor 5 Nächten war damals wieder einmal mit
dem bekannten Geräusch das Ellenbogengelenk luxirt und vermochte
der Kranke nicht dasselbe, wie sonst, zu reponiren.
Bei der Untersuchung zeigte sich ein elender, abgemagerter
Körper, lang aufgeschossen, mit Pectus carinatum. Das linke Ellen¬
bogengelenk zeigte deutlich die Stellung der nach hinten luxirten
Ulna. Man fühlte das Olecranon und konnte es zum Theil umgreifen.
In der Chloroformnarkose gelang die Reposition leicht bei Druck
auf das Olecranon mit gleichzeitigem Zuge am Vorderarm in der
Richtung der Stellung desselben bei der Luxation.
Als man nun die beiden Arme mit einander verglich, bemerkte
man an ihnen ein eigenthümliches Aussehen. „Die Grube zwischen
Supinator longus imd Sehne des Biceps war durch einen Gegenstand
angefüllt in dem Maasse, dass an Stelle der Grube eine deutliche Vor-
ragung sich fand. Dagegen präsentirte sich die Stelle, wo das Radius¬
köpfchen sitzen sollte, als Vertiefung. Die Vorragung war gebildet
durch das Capitulum radii, welches ganz frei zwischen Biceps-Sehne
und Supinator longus stand. Man war im Stande, das Köpfchen zu
dreiviertel zu umgreifen, und konnte ebenfalls deutlich die Gelenkfläche
tasten. An beiden Armen war das geschilderte Verhältniss dasselbe.“
Was die Beweglichkeit der Arme anlangt, so war Extension
und Flexion beinahe ganz normal, Supination und Pronation im
hohen Grade gehindert und nur zur Hälfte der normalen Ausdehnung
möglich. „Uebrigens war der Supinator longus entschieden schwach
und atrophisch.“
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Theod. Bonnenberg.
11. Fall von Dr. A. Machenhauer. (Centralblatt für Chirurgie
von Bergmann, König und Richter. XIX. Jahrgang, 1892, Nr. 13.)
Bei dem 12 Jahre alten, sonst gesunden und kräftigen K. F.
von Grünberg bildeten die beiden Vorderarme bei vollkommener
Streckung und Supination mit den Oberarmen einen nach aussen
offenen, stumpfen Winkel von 165 Dabei war eine bedeutende
Hyperextension des Vorderarmes möglich. Direct unterhalb des
lateralen Epicondylus des Humerus war eine auffallende 8 cm lange,
6 cm breite und beinahe 2 cm hohe Hervorwölbung bemerkbar. Die
normale Furche zwischen Supinator longus und Biceps war mehr
ausgefüllt und querer gerichtet. Dagegen befand sich an der nor¬
malen Stelle des Capitulum radii eine Vertiefung. Beim Betasten
der eben genannten Hervorwölbung war mit grosser Deutlichkeit
rechts wie links das Radiusköpfchen grossentheils zu umgreifen,
dessen Pfanne zu tasten und leer war. Nach hinten war ebenso
die Eminentia capitata humeri, jedoch undeutlicher zu sehen. Das
Radiusköpfchen stand rechts nur um 1 cm, links 1,5 cm tiefer, als
die Spitze des Olecranon, war mithin beträchtlich in die Höhe ge¬
rückt und artikulirte bei Beugung des Vorderarms, wie Rotationen
des Radius — Pronation und Supination der Hand — rechts direct
unter der Fossa radialis auf dem oberen vorderen Umfange des
Capitulum humeri, links entsprechend tiefer. Die Flexion des Vorder¬
armes war nur bis zu einem Winkel von ca. 80 ® möglich, die Ex¬
tension dagegen war vollkommen, sogar, wie erwähnt, eine gewisse
Hyperextension möglich. Supination wie Pronation waren ganz
ungehindert. Schmerzen und Beschwerden waren gar keine vor¬
handen, überhaupt hatte weder der Knabe noch seine Eltern eine
Ahnung von der vorhandenen Abnormität. Ebenfalls war durchaus
nichts über die Entstehung der beiderseitigen Luxation zu eruiren.
Die Geburt verlief in Kopflage ganz spontan. Ebenso vermögen
sich die Eltern nicht zu entsinnen, dass der Junge in den ersten
Lebensjahren jemals unvorsichtig an den Armen in die Höhe gezogen
worden wäre, oder sich je über irgend welche Beschwerden beklagt hätte.
12. Fall von R. Adams. (R. Adams in Dublin Joum. of
med. sc. Vol. XVH, citirt in Gurlt; Beiträge zur vergleichenden
pathologischen Anatomie der Gelenkkrankheiten, 1853. 1. Fall
bei Gurlt.)
Bei einem etwa 11jährigen Mädchen bestand eine ganz gleiche
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Die Luxatio capituli radii congenita etc.
391
Deformität des Ellenbogens auf beiden Seiten; und zwar nahm der
Radius keine bestimmte Stellung zum Humerus ein, konnte vielmehr
gefühlt werden, wie er entweder nach vorne oder nach hinten in der
Ausdehnung eines Zolles rückte, je nachdem er in Pronation oder
in Supination sich befand. Diese Bewegungen bestanden nicht in
einer einfachen Drehung des Radius um seine Längsachse, sondern
in wirklichen Ortsveränderungen des oberen Endes des Radius an
dem Condyl. ext. humeri. Die Bewegungen des Ellenbogengelenkes
waren vollkommen frei, mit Ausnahme der Extension. Das Mädchen
starb an Scarlatina und fanden sich nachher beide Ellenbogen¬
gelenke in gleicher Weise missgestaltet. Das Capitulum radii war
gross und in seinem oberen Theile ungewöhnlich ausgehöhlt; die
Fossa sigmoidea minor war ebenfalls grösser, als gewöhnlich dem
Radius entsprechend. Das Capitulum humeri fehlte nach aussen hin,
als ob ein Segment davon abgeschnitten worden wäre; das Capitulum
radii ragte über dasselbe hervor; die äussere Hälfte des unteren Endes
des Humerus hatte dadurch in gewissem Maasse das Aussehen der
Condylen des Oberschenkels in verkleinertem Maassstabe. — Die
Fossa sigmoidea major zeigte die gewöhnliche Aushöhlung von oben
nach unten, war aber um die Hälfte kleiner als gewöhnlich; statt
in ihrer seitlichen Ausdehnung convex zu sein, war sie im Gegen-
theil ausgehöhlt, so dass sie im Stande war, die innere Hälfte der
Gelenkfläche des Humerus, welche nicht mehr das Aussehen der
Trochlea hatte, aufzunehmen. Diese letztere war sehr schmal und
von vorne nach hinten und seitlich convex, und zu der beschriebenen
Fossa sigmoidea major passend. Der Processus coronoideus fehlte
vorne, so dass das missgestaltete Gelenk, von der Flexionsseite be¬
trachtet, eine auffallende Aehnlichkeit mit dem Kniegelenke (in ver¬
kleinertem Maassstabe), von der Seite der Kniekehle aus gesehen,
zeigte. Es waren auch wirklich fibröse Ligg. cruciata im Inneren
des Gelenkes vorhanden; alle ligamentösen Fasern um das Gelenk
herum waren gelb, obgleich ungewöhnlich stark. — Da das Gelenk
zwischen Humerus und Radius eine sehr ungewöhnliche Beweglich¬
keit besessen hatte, waren die Ligamente lang und schlaff, und es
war kein regelmässiges Lig. coronarium vorhanden, sondern nur ein
deutliches Kapselband, welches das Capitulum radii umgab und es
mit dem Capitulum humeri verband. Diese fast vollkommene Kapsel
war länger, weiter und stärker, als sie gewöhnlich ist. Das Lig.
coronarium des Radiuskopfes bildete einen viel grösseren Theil eines
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Theod. Bonnenberg.
Kreises, war viel stärker als gewöhnlich, und seine Fasern ver¬
schmolzen mit den verlängerten, äusseren, seiÜichen und Eapsel-
bandfasem. Es war also nicht die Länge der Fasern des Lig. coro-
narium, welche bei der Pronation dem Radiuskopfe so weit rück¬
wärts zu gehen gestattete.
Einseitige congenitale Luxationen des Radiusköpfcliens.
A. Nach aussen.
13. Fall von R. Adams. (In Dublin Journ. of med. und
Vol. XVII, 1840, angeführt bei Malgaigne und Gurlt, Anmerk.)
Ein Schneider von 27 Jahren hatte Bildungsfehler an ver¬
schiedenen Gelenken. Der rechte Radiuskopf bildete an dem äusseren
Theile über und etwas hinter dem äusseren Condylus einen Vor¬
sprung. Die Pro- und Supination war erhalten, der Arm konnte
aber weder gestreckt noch gebeugt werden.
14. Fall von Deville. (Bulletin de la Soc. anat. 1849, p. 153,
bei Gurlt 6. Fall.)
Bei einem Greise von gutem Körperbau, jedoch mit einer Un¬
regelmässigkeit des rechten Vorderarms, fand man den letzteren,
mit dem linken verglichen, viel kürzer, jedoch fast ebenso umfang¬
reich und auf seinem Uluarrande sehr concav. Die Bewegungen der
Flexion, Extension, Pronation und Supination waren Vorhanden, und
selbst leichter, als im linken Ellenbogengelenke vorzunehmen. Beide
Arme und Hände hatten ein gleiches Volum; keine Spur von Narben
fand sich an dem missgestalteten Gliede. Bei der Section fanden
sich die Weichtheile normal. Der Humerus und sein unteres Ende
waren gesund, bis auf das Capitulum, das, ohne seinen Platz ver¬
ändert zu haben, etwas atrophirt, glatt und ohne Knorpelüberzug
war. Der Radius war normal, nur zeigte er eine starke Krümmung
mit der Convexität nach aussen. Der Kopf desselben, der um mehr
als 1 Zoll über seiner gewöhnlichen Stellung gelegen war, hob die
Muse, radiales und den Supinator longus, von denen er bedeckt und
durch eine schlaffe Synovialkapsel getrennt war, empor. Die kleine
und wenig missgestaltete Gelenkfläche des Radiusköpfchens war ohne
jeden Knorpelüberzug; sie zeigte einige geringe Rauhigkeiten, an
welche sich Bandfasern inserirten. Die Ulna fehlte zum grossen
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Die Luxatio capituli radii coDgenita etc.
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Theile; nur ein Theil der unteren und die ganze obere normal ge¬
bildete Epiphyse waren vorhanden. Sie artikulirte wie im normalen
Zustande mit der Trochlea des Humerus, und ging nach unten in
einen Rest der Diaphyse über; zwischen den beiden Knochenresten
fand sich ein dicker, fibröser Strang, an welchen sich das Lig. in-
terosseum und die Muskeln, welche ihre Insertion an der Ulna haben,
befestigten. Der Radius war folgendermassen befestigt: das obere
Ende des Radius war durch ein dickes, glattes Band an seinem
Platze gehalten; dasselbe inserirte sich an dem Processus coronoideus
ulnae und an einer Knochenbildung, welche die Stelle der Fossa
sigmoidea minor einnahm, und stieg von da nach oben und aussen
zwischen dem Radius, hinter der Tuberositas desselben, welche es
nicht berührte, und dem Capitulum humeri hinauf, nahm die Form
des letzteren an und bewegte sich auf demselben vermittelst einer
neugebildeten Synovialhöhle, welche mit der gewöhnlichen der Ulna
zusammenhing. Nachdem dieses Band die innere Fläche des Collum
radii erreicht hatte, spaltete es sich in mehrere Theile; einer der¬
selben umgab das Collum radii, wie das normale Lig. annulare, ein
anderer inserirte sich direct an den inneren Theil der Gelenkfiäche
des Kopfes; noch andere inserirten sich an die schon oben angeführ¬
ten Rauhigkeiten jener Gelenkfiäche.
15. Fall von Senftleben. (Archiv für pathologische Anatomie
und Physiologie und für klinische Medicin von Rudolf Virchow,
45. Bd., 1869.)
Bei einem sonst gesunden und kräftigen 21jährigen Hausknechte
aus Hamburg wurde, gelegentlich der Aushebung der Militärpflichtigen,
eine Missbildung des linken Vorderarmes gefunden. Dieselbe bestand
in erheblicher Verkürzung, erzeugt durch eine vollkommene Luxation
des Capitulum radii nach aussen und oben bei gleichzeitigem Mangel
des mittleren Theiles der Ulna in einer Ausdehnung von 6 Zoll.
An Stelle des grösseren Theiles der Diaphyse war nur ein ligamen-
töser, durchaus weicher Strang zu fühlen und erschien dement¬
sprechend die Ulnarseite des Vorderarms concav eingebogen. Der
Kopf des Radius stand 2 Zoll über der Gelenkfiäche des Humerus
und liess sich, namentlich in pronirter Stellung, unter der Haut isolirt
fühlen und umgreifen. Die tellerförmige Gelenkfiäche war scheinbar
ganz normal gebildet, trotzdem die Luxation intrauterin (?) zu Stande
kam. Das obere und untere Ende der Ulna waren ebenfalls ganz
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Theod. Bonnenberg.
normal gebildet; namentlich das Olecranon, sowie die Fossa sig-
moidea hatte normale Gestalt und Dimensionen, so dass auch spontan
völlige Flexion und Extension des Vorderarmes möglich war. Pro-
und Supination waren, obschon die Ulna keine feste Stütze gab,
dennoch fast ganz ausgiebig, spontan ausführbar. Die Musculatur
war nicht schlechter entwickelt, als an einem normalen linken Gliede.
Hand und Handgelenk waren ebenfalls ein wenig schmächtiger,
aber normal gebildet und vollkommen functionsfähig. Die beiden
Oberarme waren durchaus gleich stark entwickelt. Die vergleichende
Messung der beiden Vorderarme ergab:
Länge des Radius . . . .
» der Ulna.
Oberes Ende der Ulna . .
Unteres Stück.
Ligamentöser Zwischentheil .
Umfang des Handgelenks über
dem Proc. styloid. radii
rechts 10 Zoll, links 8 Zoll,
« 10 „ „ 6 „
7 . .6
B. nach hinten.
16. Fall von R. Adams. (R. Adams in Dublin Joum. of
med. sc. Vol. XVH. 1840. bei Gurlt, 3. Fall.)
Die Luxation nach hinten und oben betrifft den linken Radius¬
kopf. Der Condyl. extern, humeri war vorhanden, jedoch fand sich
vom an demselben kein Capitulum für die Aufnahme des Radius¬
köpfchens, noch irgend eine Spur davon, dass ein solches je vor¬
handen war. Der Processus coronoideus und die Fossa sigmoidea
major waren ungewöhnlich gross und breit, und erstreckten sich fast
ganz und gar längs des unteren Endes des Humerus hin, welches
in eine einzige Trochlea, grösser als normal, umgewandelt war. Das
Tuberc. radii war bedeutend vergrössert, und legte sich an die Fossa
sigmoidea minor an, während das Collum radii etwas nach hinten
gerichtet und doppelt so lang, als normal, war, und statt nur bis
zur Höhe der Fossa sigmoidea minor zu reichen, sich so weit nach
oben erstreckte, dass es nahezu die Höhe der Spitze des Olecranon
erreichte. Die Carpalenden des Radius und der Ulna befanden sich
indess in ihrer normalen Lage, in gleicher Höhe mit einander. Der
Radiuskopf, welcher niemals gehörig entwickelt gewesen zu sein
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Die Luxatio capituli radii congenita etc.
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schien, lag hinter dem Condylus externus humeri. Die beiden Vorder¬
armknochen verliefen so nahe an einander, dass kaum ein Spatium
interosseum vorhanden war. — Bei der Betrachtung des Präparates
liess sich schliessen, dass das Gelenk meist in halber Beugung und
der Vorderarm in starker Pronation sich befand, und dass die Su¬
pination fast unmöglich war. (Präp. d. Mus. of the R. C. S. Ireland.)
17. Fall von R. Adams. (An derselben Stelle; bei Gurlt
4. Fall.)
Die Vorderarmknochen standen in sehr schiefer Stellung zu ein¬
ander. Während die Carpalenden beider Knochen auf gleicher Höhe
standen, war das Collum radii nach oben verlängert, und der Radius¬
kopf stark nach hinten verlagert, hinter und unter dem Condylus
externus humeri gelegen und erreichte beinahe die Höhe des Ole-
cranon. Der Processus coronoideus und die Fossa sigmoidea major
waren stark vergrössert. In dem Gelenke hatte sich ein cariöser
Process entsponnen. (Präp. in Guys Hosp. Mus.)
18 und 19. 2 Fälle von Cruveilhiei*. (Cruveilhier, Anat.
pathol. avec planches. Livrais. 9 und Traite d’Anat. path. genär,
T. I, bei Gurlt 5. Fall.)
ln 2 Fällen war (rechts) das Collum radii verlängert, nach
aussen gewendet, und hinter dem unteren Ende des Humerus ge¬
legen, über das es weit nach oben hinausragte. Der convexe und
oblonge, mit einer dünnen Knorpelschicht bedeckte Radiuskopf be¬
fand sich in einer Art fibrösen Kapsel, die wahrscheinlich auf Kosten
des Ligamentum laterale externum und des Ligamentum annulare radii
gebildet war. Von der Tuberositas radii war nur eine Spur vor¬
handen, die Fossa sigmoidea rainor fehlte ganz. Trotz der Ver¬
längerung des Radius nach oben waren die unteren Gelenkenden der
beiden Vorderarmknochen in gleicher Höhe. Der Arm befand sich
in halber Pronation und Flexion, die Supination war unmöglich, die
Extension unvollständig.
20. 21. 22 und 23. 2 Fälle von Sandifort, 1 von Dubois
und 1 von Verne ui 1. (Malgaigne, Verrenkungen. 1850.)
Sämmtliche Luxationen wurden an der Leiche gefunden, be¬
trafen einen einzigen Arm und hatten nach hinten statt. Der Radius¬
kopf überstieg die Höhe der Rotula mehr oder weniger, in Dubois*
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Theod. Bonnenberg.
Fall betrug die Verlängerung 5 Linien, zugleich war der Radius¬
kopf aber missgestaltet und geschwunden. Der Vorderarm stand in
Pronation, Radius und Ulna waren in ihrem oberen Theile, wo sie
sich berührten, mit einander verwachsen.
Gurlt beschreibt einen Fall von Sandifort (9); nach ihm
findet die Luxation nach innen statt. „Am rechten Ellenbogen¬
gelenke ist der Radius nach innen luxirt, und mit seinem Körper
so über die Ulna nach innen geschlagen, dass die Hand nicht supi-
nirt werden konnte; beide Knochen sind fast in ihrem ganzen oberen
Dritttheile mit einander verwachsen, wobei der Körper des Radius
vom Collum radii abwärts sehr dick geworden ist. Das abgeflachte
Collum radii befindet sich auf dem vorderen Theile der Ulna; das
sehr verkleinerte Capitulum ist nach der vorderen Seite des Ole-
cranon und der ganzen äusseren Seite des Knochens hingewendet,
und berührt kaum einen kleinen Theil des Humerus, weshalb statt
des Capitulum desselben nur eine kleine Hervorragung noch vor¬
handen ist. Die Gelenkfläche der Ulna, welche fast allein mit dem
Humerus articulirt, ist sehr weit geworden; an dem Humerus ist
bloss eine etwas missgestaltete, sehr grosse Trochlea sichtbar.“
24. Fall von Pye-Smith. (Lancet, 1883, angef. in Trea-
tise on dislocations by Lewis A. Stimson, 1888.)
Der Bericht von Pye-Smith's Fall ist sehr kurz. Bei einer
Frau war das Köpfchen des linken Radius nach hinten verlagert.
Sie gehörte einer Familie von 11 Personen an, von denen 8 irgend¬
welche Abnormitäten an den Gelenken hatten; ein Bruder hatte eine
ähnliche Luxation am rechten Radius. Ihr Vater, Grossvater, Onkel
und Vettern hatten verschiedene Difformitäten, Klumpfüsse etc.
25. Fall von Bessel-Hagen. (Ueber Knochen- und Gelenk¬
anomalien, insbesondere bei partiellem Riesenwuchs und bei mul¬
tiplen cartilaginären Exostosen in v. Langenbeck*s Archiv Bd. XLI.)
Es handelte sich hier um einen Fall von partiellem, ange¬
borenem Riesenwuchs. Die über das normale Maass hinausgehende
Entwickelung betraf im Wesentlichen nur die Oberextremitäten und
den Schultergürtel, doch nicht alle zu dem Aufbau der rechts¬
seitigen Extremität vereinigten Theile in gleicher Weise. Während
am linken Arm die Ulna 2,5 cm länger als der Radius war, waren
rechts beide Knochen von nahezu gleicher Länge; ja die Ulna war
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Die Luxatio capituli radii congenita etc.
397
sogar noch etwas kürzer als der Radius. In Folge dessen stand
auch das abgerundete, nach hinten verlagerte Radiusköpfchen in
gleicher Höhe mit der Spitze des Olecranon. Es bildete hinter dem
Condylus externus humeri einen etwa haselnussgrossen Vorsprung,
dessen leichte Verschieblichkeit auf eine ziemlich beträchtliche Locke¬
rung des Bandapparates schliessen liess. Die Stellung des Vorder¬
arms im Ellenbogengelenke konnte eine ziemlich gestreckte sein, und
nur im Sinne der Supination erschien die Bewegung eingeschränkt.
Während der Beugung und Streckung wanderte das obere Radius¬
ende ähnlich der Ulna um den Gelenktheil des Humerus herum, so
dass dieser in der Beugestellung senkrecht auf dem Radius sass.
Die Bewegung war aber keine glatte, sondern Unebenheiten auf den
aneinander sich reibenden Knochenflächen riefen ein knirschendes
Gefühl hervor. Von besonderem Interesse erschienen die That-
sachen, dass Oberarm und Vorderarm nicht einen lateralwärts offenen
Winkel einschlossen, wie gewöhnlich bei Dislocationen des Radius¬
köpfchens, und dass am Condylus externus humeri eine Wachs¬
thumshypertrophie vorhanden war, so dass der äussere Epicondylus
etwa 1 cm weiter abwärts reichte, als in der Norm.
26. Fall von Bessel-Hagen. (Loco citato.)
Luxation des rechten Radiusköpfchens bei einem 14^/2jährigen
Mädchen, das an multiplen cartilaginären Exostosen und vielfachen
Wachsthumshemmungen litt. Der rechte Arm war kürzer und
dünner als der linke und stand in halb pronirter, halb flectirter
Stellung. Im oberen Drittel betrug der Umfang rechts 17,5 cm,
links 19 cm, dicht oberhalb des Handgelenkes rechts 13,5 cm, links
15 cm. Es war besonders die Ulna im Wachsthum zurückge¬
blieben. Es war dadurch die Hand in eine Abweichung nach der
Ulnarseite hineingetrieben und das Radiusköpfchen nach hinten luxirt
worden. Die rechte Ulna war ca. 7,5 cm. kürzer als die linke, und
blieb das periphere Ende trotz der Verschiebung des Radiusköpf¬
chens noch 3,5 cm vom Carpalskelet entfernt. Die Adductionsstel-
lung der Hand liess sich nur bis zur vollständigen Streckung aus-
gleichen, während die Ulnarflexion in weiterem Umfange als
gewöhnlich ausgeführt werden konnte. An der Radialseite des Hand¬
gelenks trat die Schwellung, durch welche sonst der Processus sty-
loides sich kennzeichnet, kaum merkbar hervor; an der Dinarseite
fehlte er vollständig. Am Vorderarm entsprach einer leichten, mit
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398
Theod. Bonnenberg.
der Convexität nach der Dorsal- und Radialseite gerichteten, Krüm¬
mung des Radius eine Auswölbung der deckenden Weichtheile. ln
der Gegend des Ellenbogengelenkes „fand sich seitlich vom Ole-
cranon eine Hauterhebung, welche, den Vorsprung des Epicondylus
externus humeri verdeckend, in der Form eines Kegels weit hervor¬
ragte und in sich wie einen halbkugeligen Knochentumor das nach
hinten luxirte Radiusköpfchen barg.“ Die Dislocation des Radius¬
köpfchens zusammen mit der ziemlich festen Anheftung an die be¬
nachbarten Knochentheile war ebenso einer vollständigen Streckung
des Ellenbogengelenkes, wie einer vollständigen Beugung und fast
in gleichem Grade einer vollen Pronation wie Supination hinderlich.
Am meisten jedoch war Extension und Supination beeinträchtigt.
Bei allen Bewegungen fühlte man deutliches Crepitiren.
27. Fall von Bessel-Hagen. (Loco citato.)
Bei einem 50jährigen Mann, Onkel des vorhin erwähnten Mäd¬
chens, der ebenfalls an multiplen Exostosen und Wachsthumshem¬
mungen litt, fand sich eine Luxation des linken Radiusköpfchens.
Am linken Arme mass die Ulna nicht mehr als 14,5 cm, während
der Radius 19,5 cm hatte. Dieser Fehler wurde noch dadurch ver¬
stärkt, dass die Ulna nach der Dorsalseite hin ausgebogen war.
Auch in diesem Falle stand die Hand dauernd in Adductionsstellung.
Das Radiusköpfchen war stark nach hinten und oben verlagert. Die
Verbindung des Radiusköpfchens mit den benachbarten Knochen war
mehr gelockert und so seine Beweglichkeit eine grössere. Bei Ro¬
tation des Armes im Sinne einer Pronationsbewegung sah man das
Radiusköpfchen seinen gewohnten Sitz verlassen und aussen um den
Condylus externus humeri herum nach vorne wandern und bei der
Supination auf'demselben Wege wieder zurückgehen. Nur die Ex¬
tension des Armes ist behindert und lässt sich nicht vollständig aus¬
führen; alle andern Bewegungen sind in ausgiebiger und freier
Weise ausführbar. Die pathologische Stellung des Vorderarmes
machte sich nur in einer mässigen Beugung des Ellenbogens be¬
merkbar. Das Radiusköpfchen war abgerundet, stellenweise rauh
und höckerig anzufülilen.
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Die Luxatio capituli radii congenita etc.
399
C. Nach vorne.
28. Fall von R. W. Smith (in Dublin quarterly Journ. of
medic. sc. Vol. X, 1850, bei Gurlt 7. Fall).
Bei einem etwa 40j‘ährigen Weibe, welches gleichzeitig angeborene
Luxationen des Hand- und Kniegelenkes hatte, fand man den Vorderarm
in einem rechten Winkel gebeugt. Derselbe konnte darüber hinaus
nicht gebeugt werden. Streckung war bis zu einem leicht stumpfen
Winkel möglich. Er stand gewöhnlich in halbgebeugter Stellung,
die Hand zwischen Pro- und Supination; jedoch konnte keine dieser
Bewegungen vollständig ausgeführt werden. Am unteren Ende des
Humerus fand sich weder eine Spur einer Trochlea noch eines Capi-
tulums. Statt derselben war eine tiefe Grube oder Aushöhlung vor¬
handen, in welche die Fossa sigmoidea major aufgenommen wurde,
so dass, wenn der Vorderarm in einem rechten Winkel gebeugt war,
der Processus coronoideus gegen die vordere Seite des Humerus
stiess. Die Extension wurde sogleich dadurch gehindert, dass das
Olecranon mit der hinteren Seite des Humerus in Berührung kam.
Der Condylus extemus humeri war viel grösser als gewöhnlich, nach
vorne gekrümmt und vorne tief ausgehöhlt, so dass er mit der Fossa
sigmoidea minor, die ebenfalls vergrössert war, eine Gelenkhöhle
bildete, welche den bedeutend von der normalen Form abweichenden
Radiuskopf aufnahm. Derselbe glich in seiner Form dem Durch¬
schnitte einer Kugel, deren innerer Theil gleichsam vertikal abge¬
schnitten war, so dass er eine fast flache Oberfläche der veränderten
Fossa sigmoidea minor darbot. Der Rest des Radiuskopfes hatte
eine kreisförmige Gestalt und rollte in der schon erwähnten Aus¬
höhlung des Humerus während der Supination, welche in viel
grösserem Umfange ausgeführt werden konnte, als die Pronation.
Beide Bewegungen waren indessen sehr beschränkt, weil das untere
Ende des Radius, statt mit einer concaven Fläche mit der Ulna zu
artikuliren, an dieser Stelle beinahe flach war. Das obere Ende
der Ulna war so gedreht, dass die überknorpelte Fläche der Fossa
sigmoidea major nach innen gerichtet war. Das Collum radii war
nicht vorhanden, indem der Radiuskopf fast direct von der Diaphyse
des Knochens ausging. Die Ligamenta lateralia externa und interna
waren vorhanden, verliefen jedoch fast horizontal; das erstere hatte
nach aussen einen fast queren Verlauf, um sich an einem ausser-
Zeltschrlft für orthopädische Chirurgie. II. Band. 27
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400 Theod. Bonnenberg.
ordentlich dünnen, breiten und unvollkommenen Lig. coronar. zu
befestigen.
29. Fall von R. W. Smith (Dublin quarterly Joum. of medic.
1852, February Nr. XXV, bei Gurlt Fall 8).
Bei einem Manne fand sich der Vorderarm rechtwinklig ge¬
beugt, die Hand in der Stellung zwischen Pro- und Supination.
Der Vorderarm konnte leicht extendirt, jedoch nicht über einen
rechten Winkel gebeugt werden, da der vordere Rand des unteren
Endes des Humerus gegen das Collum radii stiess. Pro- und Supi¬
nation waren nicht vollständig möglich, jedoch letztere in höherem
Grade ausführbar. — Bei der Section fand sich kein Capitulum am
Humerus und eine nur sehr unvollkommen gebildete Trochlea, die
von dem Condylus extemus durch eine breite, tiefe, kugelige Ge¬
lenkhöhle getrennt war, deren Oberfläche glatt und wie Elfenbein
polirt war. Sie war besonders auf Kosten des Condylus extemus
gebildet, welcher sehr stark vorragte, nach innen und vorne ge¬
krümmt und verlängert war, bei halber Flexion des Gelenkes unter
die Höhe des Olecranon herabstieg, und den Condylus internus um
wenigstens ^/4 Zoll überragte. Der lange oder vertikale Durchmesser
der genannten Höhle betrug IV^Zoll; sie nahm den ebenfalls wie
polirten, jedoch missgestalteten Radiuskopf auf, welcher mittelst einer
unregelmässig abgeflachten Oberfläche der Fossa sigmoidea minor an¬
lag. Beide Vorderarmknochen waren oben von gleicher Länge, je¬
doch endigte die Ulna 1 Zoll oberhalb des Handgelenkes; von ihrem
atrophischen unteren Ende ging eine starke ligamentöse Verbindung
nach unten, zu dem unteren Ende des Radius und zu dem Os tri-
quetrum.
30. Fall von Jo pp ich (Beitrag zur Kenntniss der angeborenen
Luxationen des Capitulum radii. Inaugural-Dissertation, Greifs¬
wald 1888).
Bei dem 15 Jahre alten Patienten, der sich wegen einer
lupösen Erkrankung in das kgl. üniversitätskrankenhaus zu Greifs¬
wald aufnehmen liess, wurde zufällig die Entdeckung gemacht, dass
beide Ellenbogengelenke krankhafte Zustände zeigten, auf welche
indess der Patient keinerlei Gewicht gelegt hatte. Während am
rechten Arm die Diagnose auf einen tuberculösen Process gestellt
wurde, fand sich am linken Arm eine Luxation des Radiusköpfchens.
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Die Luxatio capituli radii congenita etc.
401
An der Vorderfläche des linken Unterarms zeigte sich auf der ra¬
dialen Seite eine von der Grenze des mittleren und oberen Drittels
bis in die Ellenbeuge reichende Hervorwölbung, welche zum Theil
vom oberen Ende des Radius, zum Theil von der Musculatur gebildet
wurde. Man konnte leicht einen grossen Theil des Umfanges, sowie
auch einen kleinen Theil der Gelenkfläche des Radiusköpfchens ab¬
tasten. Dasselbe lag ungefähr in der Mitte der Verbindungslinie
beider Epicondyli humeri, jedoch mehr nach vorn, wo es genau dem
Olecranon entsprechend fühl- und sichtbar deutlich hervorragte. Es
bedeckte anscheinend den äusseren Theil des Processus coronoideus
und lag in der Gegend der Fossa supratrochlearis anterior dem
Humerus auf. Es erschien etwas vergrössert, ohne jedoch eine Dif-
formität aufzuweisen. Von der deutlich zu fühlenden Tuberositas
radii liess sich die Bicepssehne über den Rand des Capitulum hin
verfolgen. An der Innenseite der Bicepssehne sah man die Arteria
brachialis pulsiren und konnte man dieselbe leicht gegen den Knochen¬
vorsprung comprimiren.
An der Aussenseite des stark pronirten Armes sah man an
der normalen Stelle des Radiusköpfchens eine seichte Einsenkung,
welche sich, spitz zulaufend, einige Centimeter nach unten erstreckte.
Nach oben wurde diese Einsenkung scharf durch das untere Humerus¬
ende begrenzt, an dem jedoch keine Difformität nachzuweisen war.
Hielt der Patient beide Arme vor sich gestreckt, die Vorderarme
in Mittelstellung zwischen Pronation und Supination, so erschien der
linke Arm in der Ellenbogengegend stumpfwinklig geknickt und lag
der Scheitel des Winkels, welcher mit dem prominenten Radius¬
köpfchen zusammenfiel, nach innen. Der Breitendurchmesser des
Ellenbogengelenkes erschien verkleinert, der Querdurchmesser ver¬
grössert. Patient vermochte seinen Arm selbständig zu strecken
und zu beugen, und näherte sich das Radiusköpfchen bei letzterer
Bewegung etwas seiner normalen Stelle, indem es sich dicht an und
über den Epicondylus externus humeri stellte. Sowohl in Streck-
wie Beugestellung war activ und passiv Pronation und Supination
vollständig frei möglich. Bei den Bewegungen, die glatt von statten
gingen, war irgend ein Geräusch nicht zu vernehmen. Weder am
Radius noch an der Ulna war irgend eine Callusbildung nachzu¬
weisen.
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402
Theod. Bonnenberg.
Znsammenfassendes Urtheil.
Was zunächst die Aetiologie der angeborenen Luxationen des
Radiusköpfchens anbetriflFt, so gelten hier alle die Momente, die über¬
haupt für irgend eine angeborene Luxation in Betracht kommen
können. Es sind im Laufe der Zeiten eine Menge von Theorien
und Ansichten über die Entstehung solcher Deformitäten aufgestellt
worden. Karl Spoerri bringt in seiner Arbeit über congenitale
Luxationen des Kniegelenkes eine ausführliche Zusammenstellung
dieser Ansichten. Danach:
1. vererben sich angeborene Verrenkungen (Paletta,Schreger,
Dupuytren, Robert, Bouvier, Krönlein).
2. Congenitale Luxationen entstehen im frühesten Entwickelungs¬
stadium des Fötus, sie sind ein Vitium primae formationis, eine Ver¬
irrung des Nisus formativus (Malgaigne), ein Fehler des ersten
Keims (Dupuytren etc.).
3. Die Entstehung derselben fällt in die Zeit der Spaltbildung,
welche die Bildung der Gelenke einleitet und die an einer anormalen
Stelle oder unter anormalen Verhältnissen stattfinden kann (Lewys,
Sayr, Hueter).
4. Oder es fällt die Entstehung in das DiflFerenzirungsstadium
der ursprünglich continuirlichen Skeletanlage, wobei die Keime
beider Gelenkenden nicht auf einander zu-, sondern an einander vorbei¬
wachsen (Volkmann).
5. Die congenitale Luxation ist das Resultat einer Bildungs¬
oder Entwickelungshemmung (Schreger, Dupuytren, Paletta,
V. Ammon, Robert, Sedillot, Krönlein).
6. Sie ist die Folge einer Gelenkkrankheit, z. B. Hydropsie,
Fungus etc. (Hippokrates, Paletta, Paris, J. L. Petit,
Dupuytren etc.).
7. Sie hat ihre Ursache in der Erweichung und Erschlaffung
der Kapsel und des Bandapparates (Melicher, Sedillot, Stro-
meyer etc.).
8. Sie ist zurückzuführen auf eine Erkrankung oder Störung
des Gehirns, des Rückenmarks oder von Nerven, die zu Muskel-
retractionen, Paresen, Paralysen, Atrophie, Störung des Gleichgewichts
von Muskelgruppen, sowie zu Convulsionen des Fötus geführt haben
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Die Luxatio capituli radii congenita etc.
403
(Chaussier, Gudrin, Melicher, Adam, Canochaii,VerneuiI,
Reclius, Kirmison, Delpech, Robert, Rudolphi etc.).
9. Auch Fehler des Gehirns und Rückenmarks, sowie mangel¬
hafte Entwickelung dieser Theile kann Ursache der congenitalen
Luxation sein.
10. Dieselbe wird hervorgerufen durch Druck auf die Extremi¬
täten des Fötus bei engem Uterus und bei geringer Menge Frucht¬
wasser, bei schlechter Haltung und Lage der Frucht (Hippokrates,
Cruveilhier).
11. Ferner wird ein Trauma, das während der Schwanger¬
schaft den Leib der graviden Frau trifft, als Ursache angesehen.
12. Heftige Gemüthsaffecte der Schwangeren sollen eine an¬
geborene Verrenkung hervorrufen können.
13. Einige waren der Ansicht, dass es überhaupt keine eigent¬
liche Luxatio congenita gebe, indem diese immer erst während des
Geburtsactes entstehe, bei engem Becken, bei Steisslage, durch die
Hebamme, den Geburtshelfer und seine Instrumente (Daily, Chelius,
D'Outrepont).
14. Endlich waren noch Einige der Meinung, dass eine un¬
mittelbar der Geburt sich anschliessende Parese oder Paralyse diese
Deformität bewirken könne (J. L. Petit, Verneuil etc.).
Ich habe geglaubt, auf die Aetiologie näher eingehen zu müssen,
weil meiner Ansicht nach gerade in dem Vorhandensein eines ätio¬
logischen Momentes der Beweis für eine angeborene Luxation ge¬
geben ist. Mit anderen Worten, wenn kein Anhaltspunkt für die
Annahme gegeben ist, dass die Luxation im späteren Leben zu
Stande gekommen sei, dagegen mit Wahrscheinlichkeit oder gar
Sicherheit aus den Symptomen und Complicationen auf Vorgänge
geschlossen werden kann, die sich entweder schon vor der Geburt
abspielten oder doch schon vor der Geburt begründet waren, so kann
man die Luxation mit Recht als eine angeborene betrachten. Ganz
über alle Zweifel erhaben wären ja doch nur die Fälle, welche schon
gleich während oder sofort nach der Geburt von ärztlicher Seite
beobachtet wurden. Deren sind aber bis jetzt eben keine mitgetheilt
worden. Es würden sich daran die Fälle anschliessen, in denen von
glaubwürdiger Seite, Eltern etc. bezeugt wird, dass die Missbildung
gleich nach der Geburt oder in früher Jugend beobachtet worden,
soweit keine Symptome uns zwingen, diese Luxation als im späteren
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Theod. Bonnenberg.
Leben entstandene zu betrachten. In den Fällen von Phillips (6),
Heele (7) und Herskovitz (8) wurde von der Mutter angegeben,
dass die Deformität seit der Geburt bestanden. In dem Falle von
Leisrink (10) wurde sie zurückgeführt auf Rütteln des schein-
todten Kindes an den Armen, fiel jedoch erst im dritten Lebens¬
jahre auf.
Mit ziemlicher Sicherheit dürfen wir dann wohl diejenigen
Luxationen als angeborene betrachten, welche gleichzeitig mit anderen
Deformitäten, mit Wachsthumshemmungen, oder aber vererbt Vor¬
kommen. Von letzteren ist ein schöner Fall mitgetheilt, der zweite von
Bessel-Hagen (26), welcher ein Mädchen betrifft, dessen Onkel
(Vatersbruder) eine gleiche Missbildung zeigt (27). Ausserdem leidet
der Vater des Mädchens, sowie vier Kinder des Onkels, wie das Mäd¬
chen selbst an multiplen Exostosen und verschiedenen Wachsthums-
hemmuugen. Eine gewisse Vererblichkeit kann auch in dem Falle
von Pye-Smith (24) angenommen werden, in dem es sich um eine
Frau handelt, welche einer Familie von 11 Personen angehört, von
denen 8 an Gelenkanomalien litten, darunter ein Bruder mit einer
ähnlichen Radiusluxation (wurde nicht näher beschrieben), und Vater,
Grossvater etc. verschiedene Abnormitäten aufwiesen.
In Verbindung mit anderen Deformitäten sind der Fall von
Servier (3), in dem noch eine doppelseitige Kniegelenksluxation
vorhanden war, der Fall von Mitscherlich (9), wo Klumpfüsse be¬
standen und der Fall von R. W. Smith (28), in dem gleichzeitig an¬
geborene Luxationen der Knie- und Handgelenke vorhanden waren.
Ebenso gehören auch hierher die Fälle von Bessel-Hagen (25,
26, 27). Des weiteren sind vier Fälle angegeben, in denen die
Luxation des Radiusköpfchens auf eine mangelhafte Entwickelung
der ülna zurückzuführen ist, die Fälle von Humphrey (4), De-
ville (14), Senftleben (15) und R. W. Smith (29). Nicht ein
Zurückbleiben im Wachsthum, sondern theilweisen Riesenwuchs finden
wir in dem ersten Falle von Bessel-Hagen (25).
In den vorliegenden Fällen finden wir eine so grosse Ver¬
schiedenheit der Symptome, dass es kaum möglich erscheint, irgend¬
welche als charakteristisch für eine angeborene Luxation anzunehmen.
Von manchen wird die Doppelseitigkeit der Luxation, wenn sie als
solche auftritt, angesehen. Diese findet sich aber nur in 12 von
31 Fällen; auch sind Fälle beobachtet worden, in denen gleiche
Luxationen beider Radii in späterem Lebensalter zu Stande kamen.
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Die Luxatio capituli radü congenita etc.
405
So hat Max Bartels (Archiv für klin. Chirurgie Bd. XVI.) einen
Fall von habitueller Luxation der beiden Radü beschrieben, in dem
bei Streckung und Pronation die Luxation erfolgte, bei nachfolgender
Beugung und Supination sich jedoch von selbst wieder einrichtete.
Diese Deformität war dadurch entstanden, dass der Patient als
schwächlicher Knabe von 10 Jahren angehalten wurde. Tag für Tag
eine schwere Karre zu schieben. — Dann wird die grössere Be¬
weglichkeit angeführt als Symptom der angeborenen Luxation, gegen¬
über der traumatischen. Jedoch auch dem glaube ich widersprechen
zu müssen, denn einerseits finden wir bei verschiedenen, angeborenen
Luxationen erhebliche Einschränkungen der Bewegungen, anderer¬
seits hatte ich vor Kurzem Gelegenheit, einen Strafgefangenen der
Strafanstalt zu Werden, der an einer veralteten Luxation des linken
Radiusköpfchens litt, durch Vermittelung des Anstaltsarztes, meines
Schwagers, Dr. Hieking, zu untersuchen. Der Betreffende gab an,
im Jahre 1877 durch Maschinengewalt einen dreifachen (?) Bruch des
linken Vorderarmes erlitten zu haben; jedoch Hess sich keine darauf
zurückzuführende Veränderung mehr nachweisen. Dagegen fiel gleich
eine Deformität des linken Ellenbogengelenkes auf. Dasselbe er¬
schien in der Richtung von vorne nach hinten verdickt, nach
den Seiten weniger breit, als normal. An der Aussenseite des Ge¬
lenkes sah man unter dem Epicondylus externus humeri eine seichte
Grube. Bei der Palpation ergibt sich, dass das Capitulum radü
nicht an seiner normalen Stelle steht, man kann vielmehr mit dem
Finger etwas unter die Gelenkfläche des Epicond. ext. hum. eindringen.
Das Capitulum radü fühlt man in der Ellenbeuge, vor dem Gelenk¬
theile des Humerus und nach der Ulna zu abgewichen. Besonders
bei Pro- und Supinationsbewegungen fühlt man dasselbe deutlich
an der angegebenen Stelle sich bewegen. Die Pro- und Supination
des Armes ist völlig frei ausführbar; die Streckung des Armes ist
nicht vollständig mögUch, ebenso die Beugung, doch lässt sich letztere
noch fast bis zur normalen ausführen, wenn man einen Druck von
vom oben innen auf das Radiusköpfchen ausübt, da dasselbe als¬
dann zum Theile wieder unter den Epicond, extern, hinunterwandert.
Der betreffende Gefangene ist durch diese Luxation gar nicht in der
Ausübung seines Gewerbes — er wird in der Schlosserei beschäftigt —
verhindert und kann sämmtliche Bewegungen, so weit sie möglich,
leicht und sicher ausführen.
Betrachten wir dagegen die Fälle von angeborener Luxation,
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406
Theod. Bonnenberg.
SO finden wir nur in den Fällen von Servier (3 — ein Arm), Phil¬
lips (6), Heele (7), Machenhauer (11), Adams (12), Deville (14),
Senftleben (15), Bessel-Hagen (25, 27) und Joppich (30) eine
grössere Beweglichkeit, Davon entfallen auf die Luxationen nach
hinten doppelseitige 2, einseitige 3; nach aussen 2 einseitige und
nach vorne 2 doppelseitige und 1 einseitige. In allen anderen Fällen
sind die Bewegungen mehr oder weniger behindert. In 8 Fällen
(8, 16, 18, 19, 26, 27, 28, 29) stand der Vorderarm dauernd theils
leicht, theils bis zum rechten Winkel gebeugt und konnte in den
Fällen mit Luxation nach hinten nicht weiter gestreckt, bei Luxa¬
tion nach vorn nicht weiter gebeugt werden; in letzteren Fällen war
auch die Beugestellung die grösste. Ferner finden wir bei Luxation
nach hinten lOmal die Hand mehr weniger in Pronationsstellung
stehen, während umgekehrt bei Luxation nach vom 4mal die Hand
in Supinationsstellung stand, wobei meist hier zugleich die Pronation,
dort die Supination beschränkt oder aufgehoben war. In den Fällen,
wo wir grosse Beweglichkeit finden, sehen wir, dass dieselbe zum
grossen Theil auf Schlafiheit oder Länge der Bänder, die das Eadius-
köpfchen halten, beruht, so dass das Köpfchen bei Bewegungen seinen
Platz verlassen kann; in den Fällen von Servier (3), Adams (12),
Bessel-Hagen (25, 27), Joppich (30) ist ausdrücklich angegeben,
dass das Köpfchen sich so verhielt.
Was nun die Form der Luxation anbetrifflt, bei welcher wir
die grösste Beweglichkeit finden, so ist dies die Luxation des Radius¬
köpfchens nach aussen, indem in 3 Fällen 2mal fast normale Be¬
weglichkeit vorhanden ist; bei Luxationen nach hinten oder vorne
ist das Verhältniss das gleiche, indem bei 20 nach hinten 5mal, bei
8 nach vorne 2mal grössere Beweglichkeit angetrofien wurde.
Während normaler Weise die Ulna den Radius an Länge über¬
trifft, finden wir bei vielen Luxationen des Radius eine Verlängerung
desselben, so dass seine Länge die der Ulna erreicht oder sogar über¬
trifft (in unserem FaU, 1, 4, 5, 15, 16, 17, 18, 19, 25, 26, 27), in
letzterem Falle um 5 cm. Während in vielen Fällen das Collum
radii verlängert war, gibt Humphry (4) ausdrücklich an, dass die
Verlängerung den Schaft des Radius betraf.
ln 5 Fällen (5, 20—23) ist angegeben, dass die Ulna mit
dem Radius verwachsen sei. Diese Fälle fanden sich sämmtlich an
Leichen und werden wohl durch Traumen, mit gleichzeitigem
Bruche beider Vorderarmknochen und Verheilung in fehlerhafter
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Die Liixatio capituli radii congenita etc.
407
Stellung entstanden und nicht zu den congenitalen Luxationen zu
zählen sein.
In weiteren 4 Fällen (2 linker Arm, 14, 15, 29) fehlte ein
Theil der Ulna, 3mal das untere Ende, Imal der mittlere Theil,
ohne dass irgend eine Narbe oder sonstiges Zeichen einer Ver¬
letzung zu finden gewesen wäre. In 3 Fällen (14, 15) finden wir
trotzdem fast völlige Bewegungsfreiheit.
Die Stellung der Hand ist nur in wenigen Fällen berücksich¬
tigt. In unserem Falle stand dieselbe dorsalflectirt. In 2 Fällen
von Bessel-Hagen (26, 27) stand sie in Adductionsstellung und
liess sich diese nur bis zur vollständigen Streckung ausgleichen,
während die Ulnai*flexion in weiterem Umfange als normal möglich
war. Herskovitz (8) gibt ferner an, dass in seinem Falle Ab-
und Adduction der Hände beschränkt war, worauf er besonderes
Gewicht gelegt wissen will.
Eine genauere Beschreibung der in Frage kommenden Gelenk¬
theile finden wir in den Fällen von Mitscherlich (9, Section),
Adams (12, Section), Deville (14, Section), Smith (29, Section),
sowie in unserem Falle; dann kürzere Angaben bei Cruveilhier
(18, 19), Bessel-Hagen (26, Operation) und Smith (28, Section).
Unter diesen sind 5 Fälle (9, 12, 28, 29 und unser Fall) Luxa¬
tionen nach vorne, 3 Fälle (18, 19, 26) nach hinten und 1 Fall (14)
nach aussen. Allen Fällen gemeinsam ist die mangelhafte Aus¬
bildung des Gelenktheils des Humerus, besonders des äusseren
Theiles, speciell Mangel eines eigentlichen Capitulum humeri. In
den Fällen von Luxatio capituli radii nach vorne finden wir, dass
der Condylus extemus vorne in grösserer Ausdehnung ausgehöhlt
ist, zur Aufnahme des Capituli radii. In unserem und in den Fällen
von Smith (28, 29) ist zugleich der Condylus externus nach vorne
gekrümmt. Das Capitulum radii wurde immer missstaltet gefunden;
kugelig abgeschliffen in 2 Fällen (26 und 28), convex 3mal (9,
18, 19). Am auffallendsten ist es wohl in unserem Falle, da es
vollständig in der Entwickelung zurückgeblieben, die Form eines
infantilen zeigt. In unserem Falle fehlte der Knorpelüberzug bis
auf eine kleine Stelle am hinteren Umfange des Köpfchens, in einem
Falle (14) fehlte er vollständig, in einem Falle (26) war er an
vielen Stellen geschwunden. Ein interessantes Verhalten zeigt der
Bandapparat, indem wiederholt eine Art Kapsel, die das Capitulum
radii überzog, beobachtet wurde. So in unserem Falle, wo das
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408
Theod. Bonnenberg.
Capitulum vollständig von einer solchen fibrösen Kapsel überzogen
war, dann in den Fällen von Cruveilhier (18, 19), in denen sich
der Radiuskopf „in einer Art fibröser Kapsel befand“, dann in dem
Falle von Bessel-Hagen (26), in welchem „dem äussersten Ende
des Knochens das dislocirte und stark verzerrte Ligamentum annu-
lare wie eine schief übergezogene Kappe, zum Theil durch fibröse
Stränge mit ihm verbunden, aufsass“.
Von weiterem Interesse war in unserem Falle das Verhalten
der unteren Enden der Ulna und des Radius. Pronation war nicht
möglich, wogegen man die beiden Knochen in ihrer unteren Ver¬
bindung gegen einander verschieben konnte. Es stellte sich dann
heraus, dass am unteren Theile gar keine Gelenkverbindung zwi¬
schen Radius und Ulna bestanden hatte, dagegen der Processus
styloideus Ulnae in geringer Ausdehnung, wahrscheinlich mit dem
Os pisiforme, gelenkig verbunden war. Ein ähnliches Verhalten
der unteren Articulatio radio-ulnaris finden wir noch in dem Falle
von Smith (28), in welchem sowohl Pronation als auch Supination
sehr beschränkt war, „weil das untere Ende des Radius, statt mit
einer concaven Fläche mit der Ulna zu articuliren, an dieser Stelle
beinahe fiach war.“
Was die Therapie der angeborenen Luxatio capituli radii an¬
belangt, so wurde schon im Jahre 1865 von v. Langenbeck in dem
von Mitscherlich (9) beschriebenen Falle die Resection des einen
(linken) ganzen Ellenbogengelenkes vorgenommen. Ein Erfolg
konnte indess nicht beobachtet werden, da die Patientin einige
Wochen nach der Operation starb. Bessel-Hagen dagegen
führte in einem Falle (26) eine einfache Resection des Radiusköpf¬
chens mit bestem Erfolge aus. Sofort nach der Operation konnte
der zuvor halb flectirte Arm vollkommen gestreckt werden. Durch
methodische, energisch ausgeführte Bewegungen wurde in kurzem
auch die Möglichkeit einer vollen Supination erzielt. Nachdem be¬
reits mehr als ein volles Jahr seit der Operation verflossen war,
war das Mädchen im Stande, den Arm vollständig zu strecken und
zu beugen, ebenso auch vollständig zu supiniren und zu proniren.
Die Knochen glitten leicht und glatt auf einander hin, die Empfind¬
lichkeit war geschwunden, die Arbeitskraft dagegen bedeutend ver¬
stärkt. Auch in unserem Falle, in welchem der Resection des Ca¬
pitulum radii, wegen der vorhin erwähnten Unregelmässigkeit im
unteren Radio-Ulnar-Gelenke, die Resection des unteren Ulnarendes
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Die Luxatio capituli radii congenita etc.
409
folgen musste, kann das Resultat, wie aus der obigen Beschreibung
ersichtlich, ein gutes genannt werden.
Wir können daher die Prognose der congenitalen Luxatio ca¬
pituli radii wohl als eine gute bezeichnen, da in vielen Fällen an
sich schon eine genügende Beweglichkeit und Brauchbarkeit des
Armes besteht, in schwereren Fällen indess durch den vonBessel-
Hagen und Hoffa eingeschlagenen Weg der einfachen Resection
des Capituli radii mit nachfolgender Massagebehandlung und Gym¬
nastik, die Möglichkeit einer erheblichen Besserung des Leidens, ja
vollständigerer Heilung zu hoffen ist.
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410
Albert Hoffa.
II.
Ein einfacher Apparat zur Mobiiisirung des Schultergelenkes').
Von
Dr. Albert Hoffa,
Privatdocent für Chirurgie.
Mit 2 in den Text gedruckten Abbildungen.
Steifigkeiten des Schultergelenkes sind dem Chirurgen relati?
häufig vorkommende Affectionen. Der Grund der Gelenksrigiditat
kann ein mehrfacher sein. Einmal sind die knöchernen Gelenkenden
durch zwischengelagertes fibröses Knorpel- oder Knochengewebe oder
übergelagertes Knochengewebe mit einander innig verwachsen. Dann
haben wir es zu thun mit wirklichen Ankylosen des Schultergelenks.
Solche Ankylosen können dann in der Regel nur auf blutigem Wege
behandelt werden. Zweitens kann die Gelenksteifigkeit bedingt sein
durch eine Schrumpfung der articulären oder periarticulären Weich-
theile. Dann haben wir es zu thun mit einer Gelenkscontractur, und
diese Gelenkscontracturen sind einer orthopädischen Behandlung wohl
zugänglich.
Die Schwere des Armes imd die Anatomie des Gelenkes be¬
dingen es, dass sich die Schultergelenkscontracturen fast durchgehends
als Adductionscontracturen darstellen. Der Arm liegt dem Leib an
und kann nur durch Vermittelung der Scapula, d. h. durch Drehimg
derselben etwas erhoben werden. Je länger die Contractur besteht,
um so hochgradiger wird die Functionsstörung. Zu derselben ge¬
sellt sich dann noch eine Deformität der Schulter, indem in Folge
der begleitenden Atrophie der periarticulären Muskeln, namentlich
des Deltoides, die Skelettheile auffallend hervorspringen.
Die Prognose der Schultergelenkscontracturen ist unter der
modernen Behandlungsweise eine relativ günstige geworden. Die
Behandlung sucht die bei einer Contractur ja niemals völlig erloschene
*) Der Apparat wurde in der physicalisch-medicinischen GeselUchafl zu
Würzburg, erste Sitzung 1893, demonstrirt.
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Ein einfacher Apparat zur Mobilisining des Schultergelenkes. 411
Beweglichkeit in möglichst erheblichem Grade zu vermehren und
schlägt dazu etwa drei verschiedene Wege ein.
Der erste Weg ist der der gewaltsamen Dehnung der contrac-
turirten Weichtheile in der Narkose. Ich bin kein Freund dieser
Methode. Abgesehen davon, dass sich das Verfahren gerade am
Schultergelenk nicht leicht ausführen lässt, und dass man bei dem¬
selben sehr wohl eine Fractur in dem oberen Theile des Humerus
erleben kann, setzt das Brisement force stets neue Gewebszerreis-
sungen und Blutungen; es verursacht dem Patienten heftige Schmerzen
und erfordert eine überaus sorgfältige Nachbehandlung, wenn nicht
der alte Zustand wieder eintreten soll.
Der zweite Weg ist der der Dehnung der contracturirten
Weichtheile durch permanente Extension derselben. Man legt am
Arm einen Heftpflasterextensionsverband an, fixirt mit Heftpflaster¬
streifen die Scapula und lässt nun das extendirende Gewicht zunächst
in der Richtung der Deformität wirken, um dann mehr und mehr
zur Norm überzugehen. Diese Behandlungsmethode erfordert sehr
lange Zeit und fesselt den Patienten ausserdem an das Bett.
Drittens hat man die Mobilisirung des Schultergelenkes durch
Anwendung des elastischen Zuges zu erreichen gesucht. Diese
Methode ist besonders von Reibmayr ausgebildet worden. Der¬
selbe construirte einen besonderen Apparat, dessen Gestalt und Wir¬
kungsweise aus der Abbildung, die ich mir herumzugeben erlaube,
ohne Weiteres erhellt.
Dieser Reibmayr’sche Apparat wirkt in leichteren Fällen ganz
gut; in schwereren Fällen ist die Scapula nicht genügend fixirt, und
der Zug am Oberarm so schmerzhaft für den Patienten, dass man
den Apparat immer nur für ganz kurze Zeit anlegen kann. Jeden¬
falls hat der Apparat den Vortheil, dass die Patienten mit ihm auf¬
sein können.
Bei den immerhin zahlreichen einschlägigen Fällen, die ich
zu behandeln habe, machte sich mir das Bedürfniss geltend, einen
besseren Apparat zur Mobilisirung des Schultergelenkes zur Hand
zu haben. Ein solcher Apparat muss meiner Ansicht nach folgen¬
den Anforderungen entsprechen. Er muss erstens verwendbar sein,
ohne die Patienten ans Bett zu fesseln, und darf bei seiner Wirkung,
die selbstverständlich eine prompte sein muss, den Patienten nicht
allzuviel Schmerzen verursachen. Man muss ferner im Stande
sein, den Apparat ohne Belästigung für den Patienten längere
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412
Albert Hoffa.
Zeit in Verwendung zu lassen, und schliesslich muss der Apparat
eine exacte Fixation der Scapula gestatten, denn sonst dehnt sich
nicht die Contractur, sondern der Arm hebt sich unter Drehung der
Scapula.
Ich möchte mir nun erlauben. Ihnen einen derartigen einfachen
Apparat zu demonstriren, der mir recht gute Dienste geleistet hat,
und den ich desshalb empfehlen zu können glaube.
Fig. 1.
Ich habe als bewegendes Agens die sog. Nürnberger Scheere
genommen, deren günstige Wirkung mir von der Beseitigung von
Adductionscontracturen der Hüftgelenke her, bei deren Behandlung
sie zuerst von Busch in Bonn verwendet wurde, bekannt war. Um
diese Nürnberger Scheere für das Schultergelenk verwendbar zu
machen, construirte ich den Apparat, den ich mir hier Ihnen vor¬
zuzeigen erlaube.
Der Apparat (Fig. 1) besteht zunächst aus zwei durch einen
runden eisernen Stab verbimdenen Bügeln, welche die Stütze des
Apparates am Rumpfe bilden. Der untere Bügel greift über den
Darmbeinkämmen an und wird durch einen den Oberschenkel der
gesunden Seite umgreifenden Riemen (t) befestigt. Der obere Bügel,
gewissermassen eine Krücke (i), besteht aus zwei nach der Contour
des Körpers geformten eisernen, mit einander verbundenen Stäben.
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Ein einfacher Apparat zur Mobilisirung des Schultergelenkes. 413
Dieselben umgreifen die Achsel und biegen sich nach hinten oben
um, indem sie bis etwa zur Spina scapulae verlaufen. Diese Stäbe
fixiren die Scapula, indem sie ein Ausweichen der Spitze der Scapula
nach aussen verhindern. Die Fixation der Scapula wird dadurch
noch sicherer, dass ein breiter Riemen (o) von den Enden der
Fig. 2.
Bügel über die Höhe der Schulter verläuft und dieselbe herab¬
drückt, während ein anderer schmaler Riemen (c) von dem einen
Ende des Bügels ausgehend, den Thorax von der gesunden Achsel¬
höhle her umfasst und am andern Ende des Bügels angeknöpft wird.
Beide Bügel werden gut gepolstert.
An dem die beiden Enden des Bügels verbindenden Eisen¬
stabe (a) ist nun, durch eine Schraube in beliebiger Höhe fest¬
stellbar, die Nürnberger Scheere (d, d, rf, d) scharnierartig befestigt.
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414
Albert Hoffa.
Man versteht bekanntlich unter einer Nürnberger Scheere vier durch
Scharniere verbundene gleichlange Stäbe. Drückt man die Scheere
von zwei gegenüberliegenden Polen her zusammen, so entfernen sich
die beiden andern Pole um ebendieselbe Distanz. Bringt man als
treibendes Agens der Scheere eine Schraube in Anwendung, so kann man
durch langsames Annähern zweier Pole die gegenüberliegenden von
einander entfernen und dabei eine ziemlich beträchtliche Kraft an¬
wenden. Die Pole der Scheere, die in unserem Falle von einander
entfernt werden sollen, sind nun der an dem eisernen Stabe (a) befind¬
liche, die Scheere mit der Rumpfstütze verbindende und der diesem
gegenüberliegende; letzterer trägt eine Pelotte (Ä) für den Oberarm.
Die Schraube der Scheere (c) ist durch einen Riemen (/) an der Achsel¬
krücke befestigt, um nach Anlegung des Apparates die Kraft eine auf¬
steigende sein zu lassen. Ohne diesen Riemen verschiebt sich die Ober-
armpelotte leicht etwas nach der Hand zu. Um die Oberarmpelotte in
jeder Stellung am Oberarm, bald nach unten, bald mehr von der
Seite her ihn stützend, festhalten zu können, verläuft das betreffende
Scharnier an seinem unteren Theile als Sector {g). Ein ebensolcher
Sector ist dann natürlich am gegenüberliegenden Pole nothwendig.
Lege ich nun den Apparat an (Fig. 2) und drehe die Schraube
von rechts nach links, so sehen Sie, hebt die Scheere den Oberarm
langsam, aber stetig in die Abductionsstellung in die Höhe. Gleich¬
zeitig ist die Scapula fixirt, und daher ist die Bewegung nur da¬
durch möglich, dass die contracturirten Weichtheile gedehnt werden.
Man kann die erreichte Abductionsstellung nach Belieben fixiren und
kann so die Dehnung der Weichtheile ganz langsam und ohne zu
grosse Schmerzen für den Patienten bewirken und nach kurzer Zeit
den gewünschten rechten Winkel erzielen.
Selbstverständlich empfehle ich den Apparat nicht als alleiniges
Hilfsmittel der Therapie, sondern ich verwende neben demselben
noch unsere sonstigen Hilfsmittel, von denen ich hier nur die Massage
und Gymnastik als ganz besonders wirksam hervorheben möchte.
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Zur orthopädischen Behandlung des Pes calcaneus paralyticus. 415
III.
Zur orthopädischen Behandlung des Pes calcaneus paralyticus.
Von
Dr. Albert Hoffa,
Privatdocent der Chirurgie.
Mit 4 in den Text gedruckten Abbildungen.
Die orthopädische Behandlung des paralytischen Hackenfusses
fand bisher entweder mittelst des Gypsverbandes oder sogen. Hacken-
fussschuhe statt. Letztere sind verschiedenfach empfohlen worden.
In meinem Lehrbuche der orthopädischen Chirurgie habe ich in
Fig. 99 den Hackenfussschuh von v. Volkmann, der dem Sayre's
durchaus gleicht, und in Fig. 517 den Apparat von Judson ab¬
gebildet.
Diese Apparate entsprechen aber nicht allen Anforderungen,
die man bei einer rationellen Behandlung des Hackenfusses stellen
muss. Neben Anwendung der Massage, Gymnastik und Elektricität
zur Wiederherstellung der Muskelkraft muss ein rationeller Hacken-
fussapparat so gestaltet sein, dass er die richtigen statischen Ver¬
hältnisse des Fusses und der unteren Extremität überhaupt wieder¬
herstellt und die völlige Function des Fusses unter dieser wieder
normalen statischen Inanspruchnahme desselben gestattet.
In den letzten Jahren hatte ich mehrere einschlägige Fälle zu
behandeln. Nach vielen Versuchen hat sich mir schliesslich ein
ganz einfaches Verfahren auf das Beste bewährt, das sich allmählich
ausbildete, während mich der Vater einer kleinen Patientin, Herr
J. Connemann von hier, bei meinen Bemühungen erfolgreich unter¬
stützte.
Der einfache Apparat, den ich empfehlen möchte, ist folgen-
dermassen gestattet: Der Fuss wird in eine Hessing'sche Lederhülse
mit Fussblech und Seitenschienen gefasst, wie ich sie in meinem
Lehrbuche der orthopädischen Chirurgie beschrieben und in ihren
einzelnen Theilen in Fig. 49 und 55 abgebildet habe. Selbstver¬
ständlich wird dieser Fusstheit über einem Gypsmodell gearbeitet.
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. II. Band. 28
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416
Albert Hoffa.
Die stark gebauten Seitenschienen des Fusstheiles tragen dem Fuss-
gelenk entsprechend Scharniere, welche zur Verbindung des Fuss¬
theiles mit dem Unterschenkeltheile dienen. Dieser besteht einfach
aus zwei Seitenschienen, die unterhalb des Kniegelenkes durch einen
gepolsterten Bügel und einen Riemen verbunden sind
Fig. 1.
Die Behandlung besteht nun darin, dass nach der täglich vor¬
genommenen Massage und Elektrisirung der Apparat angelegt wird.
Der Fuss wird zu dem Zweck in der Hülse eingeschnürt und der
Knieriemen befestigt. Nun drängt man den Fuss in Spitzfussstellung,
und während er in dieser steht, legt man ein mit elastischen
Gurten versehenes starkes Band um den unteren Theil des Unter¬
schenkels und die äussere Seitenschiene unterhalb des Scharniers
herum, so zwar, dass beim Anziehen der Gurte der untere Theil
des Unterschenkels gegen die äussere Seitenschiene an- und von
der inneren Seitenschiene abgedrängt wird (Fig. 1). Klemmt man
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Zur orthopädischen Behandlung des Pes calcaneus paralyticus. 417
den einen Gurt etwas in das Scharnier ein, so ist das Band unver¬
rückbar fixirt und der Fuss der dauernden elastischen Redression
unterworfen.
Fig. 2.
So einfach die Wirkung dieses Bandes ist, so wichtig ist das¬
selbe zur Herstellung der richtigen statischen Verhältnisse. Hat
man einen hochgradigen Pes calcaneus vor sich und bringt den Fuss
in eine rechtwinklige Stellung, so sieht man sofort, wie die Achse
des Fusses von der des Unterschenkels abweicht. Der Fuss erscheint
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418 Hoffa. Zur orthopäd. Behandlung des Pes calcaneus paralyticos.
gegen den Unterschenkel in Valgusstellung verschoben. Diese Val-
gnsstellung des Fusses beseitigt das Band, und damit kann man beim
längeren Tragen des Apparates auch die äusseren Formen des Fusses
wieder in schönster Weise zum Vorschein
bringen. Vorzüglich bildet sich der beim
Hackenfuss so mangelhaft entwickelte
äussere Malleolus wieder vollständig aus.
und das Fussgewölbe stellt sich wieder
her. Mehr als Worte illustriren wohl
beistehende Abbildungen (Fig. 2 u. 3)
die guten Resultate der Behandlung. Sie
stammen von meiner Patientin, Angela
Gonnemann, und sind genau nach den
Photographien von Herrn Maler Schöner
gezeichnet worden. Sie stellen den
Fuss vor und nach zweijähriger Behand¬
lung dar.
Will man den Fuss zunächst in
Spitzfussstellung halten, so kann man
an dem Apparat noch einen Gummi-
gastrocnemius, wie am Volkmann’schen
Schuh, anbringen. Will man nur die
Plantarflexion des Fusses, nicht aber die
Dorsalflexion des Fusses gestatten, so
kann man an den Scharnieren eine einfache Hemmung — einen
Zapfen an der Unterschenkelschiene und einen entsprechenden Stift
an der äussem Fussschiene (Fig. 4) — verwenden.
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XXIII.
Hessing’s Hülsen-Scliieiieiiverband.
Von
Dr. W. Knby,
Medicinalrath und Generalarzt.
In Nr. 8 des Münchener ärztlichen Intelligenzblattes des Jahres
1879 habe ich einen Verband und Apparat beschrieben, welcher
ermöglicht, mit einem frischen Bruch oder mit anderweitig erkrankten
Knochen und Gelenken der unteren Extremitäten umherzugehen. Ich
bezeichnete als unschätzbar, dass derartige Kranke, die bis dahin
monatelang unter unvermeidlichen Qualen in mühsamer Rückenlage
im Bette zubringen mussten ^ bald nach Anlegung des Apparates
umher gehen können, und dann ihre Heilung spazierengehend,
selbst arbeitend, abwarten, welche — unter dem Genüsse der freien
Luft, dadurch bedingter besserer Esslust, normaler vegetativer Ver¬
richtungen und besserer Blutbereitungen, Aufheiterung und Zer¬
streuung — rascher und sicherer erfolgt, als in der opulentesten
und best gelüfteten Krankenstube, während das von der alten Me¬
thode geforderte, fortwährende Liegen auf dem Lager hinreicht,
heiteren Menschen das Leben zu verleiden und nervöse Personen
krank zu machen.
Trotz dieser wannen, auf Beobachtung dreier frischer Knochen¬
brüche und zahlreicher chronischer Gelenk- und Knochenerkrankungen
gestützten Empfehlung fand die Methode wenig Nachahmung bei
den Collegen, wohl aus dem Grund, weil die technische Bearbeitung
der Materialien, aus welchen die Apparate bestehen, der grossen
Mehrzahl der Aerzte ungeläufig ist; ein anderer Theil derselben hält
es von vornherein für Unsinn, Leute mit gebrochenen Gliedmassen
umhergehen zu lassen. Ich habe daher den schon von Anderen aus¬
gesprochenen Wunsch nach Errichtung von Werkstätten in unmittel-
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420
W. Kuby.
barer Nähe chirurgischer oder orthopädischer Kliniken an mass¬
gebender Stelle zu befürworten mir erlaubt; für die Gegner aus
theoretischen Gründen theile ich unten das Verzeichniss der von
Hessing behandelten Fälle mit, aus welchen ersichtlich ist, dass
bis zum Ende des Jahres 1891
1 Schenkelhalsbruch,
19 Oberschenkelbrüche,
44 Unterschenkelbrüche,
1 Bruch der Kniescheibe,
11 Knöchelluxationen
ambulant behandelt wurden. Zwei Fälle kamen erst, nachdem sich
Pseudarthrose gebildet hatte, in die Anstalt.
Einen Fall von Schenkelhalsbruch bei einer 75jährigen Dame
und einen Fall von Zerschmetterung der Unterschenkelknochen mit
enormer Zerfetzung der Weichtheile (zu welchem ich eigentlich be¬
hufs Amputation von einem CoUegen beigezogen wurde) habe ich
in dem Apparat mit gutem Erfolg auswärts behandelt.
Nicht alle Fälle verliefen so brillant, wie die sub 9, 10 und 11
meines eingangs benannten Artikels bezeichneten, aber in der grössten
Mehrzahl der nicht complicirten Fälle konnten die Verletzten bald
nach Anlegung und Erhärtung des Verbandes und Fertigstellung des
Apparates umhergehen und manche ihrer gewohnten Beschäftigung
nachgehen oder nach Hause zurückkehren, woselbst die Consolidirung
und Heilung regelmässig verlief. In keinem Falle aber trat Ver¬
kürzung oder Verkrümmung oder sonst ein Unfall ein.
Dank der fortwährend wie spielend wirkenden Extension kam
die leidige Resection hervorstehender Knochenenden nie in Frage.
Inactivitäts-Atrophie blieb nur in seltenen Fällen zurück, und dann
nur in geringerem Maass.
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Hessing’a Hülsen-Schienenverband.
421
Verzeichniss
der von Friedrich Hessing in Göggingen behandelten frischen
Knochenbrüche und frischen Luxationen an den unteren Extremitäten.
Eintritt
u
<
Heimath
Art der Verletzung
1875.
7. Aug.
Prinz V. H. Sch.
16
1
Aussee.
Bruch der Tibia und
Fibula (s. S. 21 des
, Hülsenschienenver¬
bandes“).
1876.
4. Mai.
M.
—
Augsburg 1. d. W.
Complicirter Ober¬
schenkelbruch.
1877.
4. Mai.
H., Andreas,
Schmiedgeselle.
26
Erlinghofen.
Bruch der ünter-
schenkelknochen
(s. S. 21 des „Hülsen¬
schienenverban¬
des“).
1878.
27. Aug.
St., Pali er.
38
Augsburg.
Oberschenkelbruch
(s. S. 20 1. c.)
1879.
7. Aug.
B., Anna, Leder¬
händlerstochter.
19
Donauwörth.
Oberschenkelbruch;
entlassen 8. August
1879.
*
2. Sept.
Pf., kgl. bayrischer
Secondelieutenant.
30
München.
Bruch der Tibia und
Fibula, complicirt.
9
October.
N., Fabrikarbeiter.
—
—
Unterschenkelbruch.
1880.
Sept.
N., Taglöhner.
—
Oberhausen.
ünterschenkelbruch.
1881.
Januar.
M., Milchmannskind.
6
Göggingen.
Oberschenkelbruch.
9
Mai.
Kr., Kind.
—
Göggingen.
Bruch des Waden¬
beins.
9
Juli.
M.
—
Göggingen.
Bruch des Waden¬
beins.
9
Septemb.
L., Schäffler.
—
Bergheim.
Knöchelbruch.
9
Septemb.
K., Rottmeister.
—
Bergheim.
Schenkelhalsbruch.
9
Septemb.
G.
—
Göggingen.
Knöchelbruch.
1883.
V. B., Fräulein.
1
—
—
Bruch der Tibia und
Fibula.
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422
W. Eubj.
Eintritt
Namen
1
, <
Heimath
Art der Verletzung
1883.
7. Febr.
V. Cr.
—
1 Frühstockheim.
Unterschenkelbruch;
entlassen 13. März,
>
März.
V. C.
50
Rudenhausen.
Unterschenkelbruch;
entlassen 13. März.
»
October.
K., Thomas.
—
Gersthofen.
Splitterbruch beider
Knochen dicht über
dem Knöchel.
1884.
5. Januar.
B., Kaufmannssohn.
Augsburg.
Unterschenkelbruch;
entlassen 10. Januar.
Februar.
R.
50
Göggingen.
1
Unterschenkelbruch;
complicirter Splitter¬
bruch durch fallen¬
den Baum.
«
10. April.
H., Otto, Fabrikant.
36
Greiz.
Complicirter Unter¬
schenkelbruch; kam
mit Pseudarthrose.
Von Volkmann
geschickt; entlassen
29. Mai.
Juni.
N., Forstgehilfe.
30
Wellenburg.
Knöchelluxation.
Septemb.
L., Lieutenant.
30
—
Bruch oberhalb des
Knöchels.
V
Novemb.
M., Regierungs¬
assessor.
50
Augsburg.
Knöchelluxation.
n
4. Dec.
M., Marie.
Regensburg.
Complicirter Bruch
der T5bia und Fibula
nahe den Knöcheln;
entlassen 20. Februar
1885.
1885.
März.
Sch.
—
Göggingen.
Untei-schenkelbruch.
1»
April.
K., Taglöhnersfrau.
60
Dinkelsbühl.
Bruch der Tibia und
Fibula.
Mai.
L., Frau.
—
Leutershofen.
Knöchelbruch.
yi
19. Juni.
H.
—
Augsburg.
Oberschenkel bruch;
entlassen 24. Juni.
n
Juni.
V., Seiler.
—
—
Bruch der Tibia und
Fibula.
1886.
Januar.
Sch., Buchhändlers¬
frau. 1
—
-
Unterschenkelbruch.
Digitized by
Google
Hessing's HQisen-SchienenTerband.
423
Eintritt
1
Namen
1 J9IIV
Heimath
Art der Verletzung
1886. 4. März.
W., Ziegeleibesitzer.
—
Inningen.
Bruch der Tibia und
Fibula; entlassen
6. März.
„ April.
T.
—
Göggingen.
Oberschenkelbruch.
^ Juli.
L.
—
Augsburg.
Knöchelluxation.
, Juli.
W.
—
Augsburg.
»
Juli.
R.
—
Augsburg.
1»
, 4. Nov.
R.
—
Diedorf.
Oberschenkelbruch;
entlassen G.Novemb.
1887. Februar.
R., Heinrich.
' 7
Landsberg.
ünterschenkelbruch;
entlassen Mai.
„ Februar.
M., Fabrikant.
30
Hannstetten.
Bruch der Tibia und
Fibula nahe den
Knöcheln.
^ 11. Juli.
V. Sch., Lieutenant.
27
Ulm.
Complicirter Unter¬
schenkelbruch ; ent¬
lassen 15. December.
„ Decemb.
Z., Privatier.
70
Augsburg.
Oberschenkelbruch.
^ 28. Dec.
W., Magazinier.
—
Augsburg.
Unterschenkelbruch;
entlassen 4. Januar
1888.
1889. Januar.
G., Wirth.
—
Radiqundis.
Knöchelbruch.
, April.
H., Bankier.
-
Augsburg.
Knöchelluxation.
„ 30. März,
W., Schreiner.
-
Weiden.
Wadenbeinbruch;
entlassen 31. März.
y, März.
V. W.
45
Kutzerow
(Pommern).
Oberschenkelbruch.
, 16. Nov.
St., Ingenieur.
30
Augsburg.
Bruch der Tibia und
Fibula; entlassen
1. December.
« April.
M., Student.
22
Augsburg.
Knöchelluxation.
^ October.
W., Färbermeister.
40
Göggingen.
Bruch oberhalb des
Knöchels.
, October.
Z., AVagner.
—
Göggingen.
Oberschenkelbruch.
Digitized by <^ooQle
424
W. Kuby.
Eintritt
Namen
u
3
<
Heimath
Art der Verletzung
1889. October.
St.
—
—
Unterschenkelbruch.
j, Decemb.
Sch., Amalie.
—
Waldmünchen.
Oberschenkelbruch-
1890. 4. Januar.
S., Leopold.
—
Oberhausen.
Knöchelluxation;
entlassen 21. Januar.
„ 26. Jan.
B., Peter, Monteur.
—
Duisburg.
ünterschenkelbruch;
entlassen 2. Februar.
, März.
N., Livreebedienter.
—
Augsburg.
Knöchelluxation.
. 31. Mai.
G., Zuschneider.
—
Augsburg.
ünterschenkelbruch
nahe am Knöchel;
entlassen 1. Juni.
, August.
0., Xaver.
-
Augsburg 1. d.W.
Bruch der Knie¬
scheibe.
1891. 26. Jan.
R., Emil, Gutsbe¬
sitzer.
36
Langweid.
Bruch des Unter¬
schenkels nahe den
Knöcheln; entlassen
6. Februar.
„ 3. März.
R., Schreinermeister.
—
Augsburg.
ünterschenkelbruch;
entlassen 6. Februar.
, April.
M., Premierlieuten.
—
Lütteritz.
Oberschenkelbruch.
„ 24. April.
Dr. M.
36
Berlin.
Oberschenkelbmch,
lag 9 Monate bei
Bergmann; Elfen¬
beinstift vergebens;
entlassen 28. Mai.
, 21. Mai.
H., Bierbrauer.
35
Augsburg.
Bruch des Ober¬
schenkels; entlassen
6. Juni.
, Mai.
H., Maurer.
40
Kriegshaber.
Complicirter Unter¬
schenkelbruch, ge¬
splittert
^ Mai.
BL, Bauer.
28
Ingolstadt
Bruch der Tibia und
Fibula; entlassen
gleich nach Anlegung
des Apparates.
^ 6. Juli.
i
L., Banquier.
i 1
45
Augsburg.
Bruch des Ober¬
schenkels an dem
einen, und des Unter¬
schenkels am ande¬
ren Bein; entlassen
7. September.
Digitized by <^ooQle
Hessing’s Hülsen-Schienenverbaiid.
425
Eintritt
!
Namen
u
S
<
Heimath
Art der Verletzung
1
1891. 13. Juni.
R., Bauer.
—
Agawany.
1
Oberschenkelbruch;
entlassen 20. Juni.
18. Juli.
G., Restaurateurs¬
frau.
40
Augsburg.
Splitterbruch am
Unterschenkel; ent¬
lassen 3. August.
2. Juli.
R., Kaufmanns¬
kind.
7
Augsburg.
Oberschenkelbruch;
entlassen 7. Juli.
»
3. Sept.
M., Bildhauer.
—
München.
ünterschenkelbruch;
entlassen 5. Sept.
Novemb.
K., Ziegler.
—
Augsburg.
Knöchelluxation.
9. Nov.
T., Austräger.
70
Sch epp ach.
Bruch der Tibia und
Fibula; entlassen
21. November.
3. Dec.
M., Johann.
45
Augsburg.
Knöchelluxation.
*
Novemb.
Sch., Kind.
4
Augsburg 1. d. W.
Oberschenkelbruch.
1*
Decemb.
Br., Feldwebelskind.
6
Augsburg.
Oberschenkelbruch.
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426
W. Ettby. Hessing’s Hfllsen-SchieneiiTerband.
Zusammenstelluiig
der in den Jahren 1889—1892 in der orthopädischen Anstalt Yon
Friedrich Hessing in Göggingen behandelten Missstaltungen des
menschlichen Körpers.
1889
1891
1892
Zahl der Betten.
120
183
183
183
Zahl der Kranken:
a) aus dem Vorjahre verblieben . . • \
186')
48
41
50
b) neuer Zugang./
127
142
166
Heimath: a) Stadt Augsburg.
27
13
19
16
b) das übrige Bayern.
35
20
24
34
c) die übrigen deutschen Staaten . .
93
76
71
82
d) Oesterreich.
11
9
12
12
e) Ausland.
19
9
16
21
Geschlecht der Kranken: a) männlich ....
100
65
79
79
b) weiblich ....
86
62
63
81
Alter: von 1— 5 Jahren.
17
9
10
17
, 6-10.
35
22
22
•22
. 11-15 , .
38
20
25
41
, 16—20 , .
21
11
18
22
, 21-30 , .
19
16
12
12
, 31-40 , .
16
13
19
16
, 41-50 . .
20
17
22
23
, 51-60 „ .
9
5
2
5
Über 60 , .
3
4
2
4
Nichtnotirt.
8
10
11
4
Formen der Erkrankungen.
I. Frische Knochenbrüche und Luxationen
16
5
16
4
II. Missstaltungen im Gefolge von Knochen¬
j
brüchen und Ausrenkungen.
9
4
2
3
III. Künstliche Glieder.
4
8
8
4
IV. Hängebauch und Eventrationen ....
—
3
—
1
V. Gicht: a) Verunstaltende Gicht ....
8
_
1
1
b) Podagra.
1
— ,
—
*) Die Kranken sind nur einmal im Zugang aufgefasst, auch wenn sie
Jahre hinter einander zur Erneuerung oder Abänderung ihrer Apparate wieder¬
kehren; nur im Jahre 1889 wurden alle in der Anstalt Behandelten numerirt
Die poliklinisch und die auswärts Behandelten sind in das Verzeichniss
nicht aufgenoinmen.
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Hessing’s Hülaen-Schienenverband.
427
1889
1890
1891
1892
VI. Englische Krankheit.
VII. Missstaltungen der Wirbelsäule:
a) Verbiegung nach vorne (Lordosis):
1
—
1
1
1. der Halswirbelsäule.
—
1
—
—
2. der Lendenwirbel, liegendes Becken
6
3
2
1
b) Rückwärtsverkrümmung (Kyphosis)
15
7
8
10
c) Seitliche Rückgratsverbiegung (Skoliosis)
27
19
19
24
d) Andere Erkrankungen der Wirbelsäule
VIII. Verbiegung der unteren Extremitäten:
1
2
5
7
a) Bäckerbein (Genu valgum) ....
1
—
—
—
b) Säbel- oder Sichelbein. Reiterbein .
IX. Fusscontracturen:
a) Spitzfuss.
4
1
2
2
b) Hackenfuss.
—
—
—
1
c) Klumpfuss.
3
4
3
2
d) Plattfass.
1
2
—
4
e) Hohlfuss.
—
1
—
—
f) Missstaltung der Zehen.
X. Entzündung, Gelenksteifigkeit und Gelenk¬
verwachsung:
a) Im Hüftgelenk:
1
2
1. Entzündung.
27
8
12
28
2. Contractur und Ankylose . . .
3. Verkürzung und Wachsthumshem¬
4
3
1
6
mung nach Resection.
6
1
1
2
b) im Kniegelenk.
8
8
1
9
c) im Ellenbogengelenk ....
1
0
0
1
d) in den Fussgelenken.
XI. Angeborene Ausrenkung:
0
1
5
5
a) im Hüftgelenk .
b) Neigung zu Ausrenkungen im Schul-
3
5
5
14
tergelenk.
—
—
—
1
XII. Schiefhals . . . . ,.
1
—
—
—
XTII. Kinderlähmung.
20
9
7
7
XIV. a) Rückenmarkserkrankungen.
13
14
11
10
b) Neuralgieen.
XV. Verschiedene Gehirnerkrankungen mit Läh-
1
mungserscheinungen.
7
6
9
10
XVI. Krampfzustände.
1
—
—
1
XVII. Verschiedenes.
3
10
20
4
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XXIV.
Ein ßnderapparat für Skoliotisclie.
Von
F. Beely, Berlin.
Mit 6 in den Text gedruckten Abbildungen.
Ziemlich allgemein dürfte bei der Behandlung der Skoliose
sowohl die alleinige Anwendung der Gymnastik wie die ausschliess¬
liche Benutzung tragbarer Apparate verlassen sein, und wenigstens
in der Theorie die combinirte Behandlung als die allein zweckent¬
sprechende zugestanden werden. Dagegen wird die Frage, welcher
Theil der Behandlung unter Umständen entbehrt werden kann, welcher
der wichtigere ist, weniger auf üebereinstimmung bei den Ortho¬
päden rechnen dürfen. Für schwere Skoliosen wird zwar fast Jeder
zugeben, dass im wesentlichen nur die Behandlung mit portativen
Apparaten in Frage kommen kann, bei leichten Fällen oder wo es
sich gar nur um schwache Wirbelsäulen, um sogen. ^Haltungs-
anomalien“ handelt, werden noch Manche geneigt sein, jeden por¬
tativen Apparat, jedes Corset zu verwerfen und nur die Gymnastik
als berechtigt anzuerkennen. Ich stehe auf dem entgegengesetzten
Standpunkt, ich halte einen Stützapparat, der selbstverständlich dem
Grade des Leidens angepasst sein muss und nicht schablonenmässig
verschrieben werden darf, für die erste und wichtigste Forderung,
daneben kann und soll Gymnastik (die Massage inbegriffen) ange¬
wendet werden, soweit die Verhältnisse es gestatten.
Eine eingehendere Begründung dieser meiner Ansicht ist nicht
Zweck dieser Zeilen, ich hielt es aber für angezeigt, sie hier vor¬
auszuschicken, um durch die Beschreibung und Empfehlung eines
neuen Turnapparates nicht in den Verdacht zu kommen, Anhänger
der ausschliesslich gymnastischen Behandlungsmethode zu sein.
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Ein Ruderapparat für Skoliotischc.
429
Durch die gymnastischen Uebungen bezwecken wir zweierlei:
Erstens soll die skoliotische Wirbelsäule beweglich gemacht, die
seitlichen Ausbiegungen sollen durch Zug und Druck ausgeglichen
oder selbst in entgegengesetzte verwandelt werden. Hierzu dienen
besonders die passiven Uebungen, bei denen die damit verbundene
Muskelthätigkeit nicht beabsichtigt, sondern unvermeidlich ist. Zwei¬
tens sollen die Muskeln gekräftigt werden, und zwar hauptsächlich
die Rumpfmuskulatur, deren Uebermüdung und Erschlaffung Manche
bei der Entstehung der Skoliose als alleinige Ursache betrachten,
Andere wenigstens eine grosse Rolle spielen lassen. Uebungen dieser
Art kann man active nennen.
Ganz reine Uebungen der einen oder anderen Art gibt es nur
wenige, und eine Combination beider ist ja auch nicht unerwünscht.
Bei der Auswahl geeigneter activer Uebungen wird man sich vor
allem von dem Grundsatz leiten lassen müssen, alle Uebungen zu
vermeiden, die eine, wenn auch nur vorübergehende Zunahme der
skoliotischen Ausbiegung verursachen können, und nur solche Uebungen
wählen, die entweder gleichzeitig die Skoliose verringern oder sie
gar nicht beeinflussen.
Es ist nun nicht immer leicht, solche Uebungen in hinreichender
Zahl zu finden, und viele, die man auf den ersten Blick für unbe¬
denklich zu halten geneigt ist, sind es ganz und gar nicht. Zu den
Uebungen letzterer Art gehören vor allem die Freiübungen. Schon
das einfache Hinstellen der Patienten in eine der militärischen ähn¬
liche Grundstellung ist keine unbedenkliche Uebung. Jedem, der
vielfach Gelegenheit hat, skoliotische Patienten mit sehr beweglichen
Wirbelsäulen zu untersuchen, wird es aufgefallen sein, dass in manchen
Fällen die seitliche Ausbiegung besonders deutlich hervortritt, wenn
man die Patienten auf fordert, gerade zu stehen und sie durch An¬
spannung ihrer Rückenmuskeln dieser Aufforderung nachzukommen
suchen. Verlangt man dann von ihnen, dass sie ihre gewöhnliche
Haltung einnehmen, sich „so krumm hinstellen sollen, wie sie gern
stehen“, so sieht man die Rückenmuskeln erschlaffen und die Dorn¬
fortsätze eine seitlich viel weniger ausgebogene Linie beschreiben.
Gewöhnlich tritt dafür im Dorsaltheil eine stärkere Ausprägung der
physiologischen Kyphose auf. Es ist dies auch leicht erklärlich,
da eine gleichzeitige Anspannung sämmtlicher Rückenmuskeln einen
vermehrten Druck auf die Wirbelsäule in der Richtung ihrer Längs¬
achse ausüben muss, der dieselbe zu verkürzen strebt. Jede der-
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430
F. Beely.
artige Verkürzung der Wirbelsäule ist aber nothwendigerweise ver¬
bunden mit einer Zunahme ihrer Krümmungen, sowohl physiologischer
wie pathologischer.
Nun ist es aber bekannt, dass der Mensch im Stande ist, sich
willkürlich zu verlängern, ein Erwachsener nach einiger Uebung mit
Leichtigkeit um 1—2 cm; es lässt sich dies leicht nachweisen, wenn
man sich an eine Wand stellt, so dass das Hinterhaupt die Wand
berührt und nun den Kopf an der Wand in die Höhe zu schieben
sucht, oder noch genauer, wenn man ein Buch mit einer seiner
Schnittflächen auf den Kopf stellt, während die anstossende Schnitt¬
fläche der Wand anliegt und nun das Buch an der Wand in die
Höhe schiebt.
Man wird dabei finden, dass die Verlängerung hauptsächlich
auf Kosten des Lumbaltheils der Wirbelsäule geschieht, dass die
physiologische Lordose sich verringert, und dass es weniger die
Rückenmuskeln sind, die in Anspruch genommen werden, als viel¬
mehr— neben anderen — die Bauchmuskeln. Man hat dabei aber auch
die Empfindung, dass diese anscheinend einfache Uebung nicht ganz
leicht ist, und dass sie nicht Jeder und besonders nicht Kinder schnell
begreifen werden. — Gibt man den Hebenden noch Hanteln oder
Stäbe in die Hände, lässt man sie im Stehen Freiübungen ausführen,
so ist es für sie noch schwieriger, gleichzeitig auf ihre Körper¬
haltung zu achten, und in vielen Fällen werden sicher die seitlichen
Ausbiegungen der Wirbelsäule während dieser Hebungen nicht ver¬
mindert, sondern vermehrt. Nun kann man allerdings einwenden,
dass der Vortheil, der den Patienten aus der durch die Hebungen
erzielten Kräftigung der Musculatur erwächst, diesen Nachtheil
mehr als ausgleicht, so dass die gymnastischen Hebungen dieser
Art doch von Nutzen sind, und es mag dieses hin und wieder für
einen oder den anderen Fall zutrefiPen, sicher aber nicht für alle
Fälle und sicher nicht für Skoliosen, die Neigung zu Verschlimme¬
rung zeigen.
Bei genauer Controlle, d. h. wenn man jede Uebung des Pa¬
tienten genau überwachen kann, lässt sich ja mancher Fehler ver¬
meiden, aber dazu bedarf man eines so zahlreichen Hilfspersonals,
dass dadurch die Hebungen viel zu kostspielig und nur Wenigen
zugänglich werden.
Was von dieser Uebung gilt, gilt auch von manchen anderen,
besonders einseitigen. Ich habe daher bei meinen turnenden Pa-
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Ein Ruderapparat für Skoliotische.
431
tienten auf Freiübungen im Stehen ganz verzichtet und lasse, wo
eine grössere Anzahl von ihnen zu gleicher Zeit turnen soll, Uebungen
mit Hanteln, Stäben oder auch mit dem Bruststärker von Largiader
nur in Rückenlage vornehmen, und die Patienten sonst nur an Ge-
räthen turnen.
Dabei stellte sich sehr bald das Bedürfniss nach einem Turn¬
apparat ein, der im Nothfall im Stande ist, alle anderen, mit Aus¬
nahme der Apparate für passive Uebungen, zu ersetzen, und zwar
sollte dieser Apparat es besonders solchen Patienten, die aus irgend
welchen Gründen nicht regelmässig einen orthopädischen Turnsaal be¬
suchen können, ermöglichen, zu Hause täglich die nothwendigen
Uebungen vorzunehmen, ohne genaue Beaufsichtigung von Seiten
des Arztes oder einer zweiten Person.
Ein solcher Apparat muss verschiedenen Anforderungen ent¬
sprechen: 1. Er muss, wenn irgend möglich, zur Kräftigung der
gesammten Körpermuskulatur, hauptsächlich aber der Rumpf- (Bauch-
und Rücken-)Muskulatur dienen, d. h. alle Muskeln müssen in
Thätigkeit versetzt werden; 2. seitliche Abweichungen der Wirbel¬
säule dürfen unter keinen Umständen eine wenn auch nur vorüber¬
gehende Zunahme erleiden, sie müssen entweder unbeeinflusst bleiben
oder verringert werden; 3. die Uebungen müssen nach kurzer Unter¬
weisung von Seiten des Arztes leicht und gefahrlos für den Patienten
ausführbar sein; 4. die Uebungen müssen Widerstandsbewegungen
und so beschaffen sein, dass eine grössere Anzahl von Bewegungen
hintereinander ausgeführt werden kann bis zu mässigem Ermüdungs¬
gefühl der Patienten, und dass man es in der Hand hat, den Wider¬
stand beliebig zu steigern, so dass bei grösserer Uebung und Zu¬
nahme der Kräfte der Patienten nicht allzuviel Zeit in Anspruch
genommen wird; 5. sie müssen von grösseren und kleineren Patienten
an demselben Apparat ausgeführt werden können; 6. der Apparat
muss dauerhaft und einfach in seiner Construction sein, so dass die
Aufstellung desselben, sowie die von Zeit zu Zeit nothwendigen
Veränderungen auch von einem Laien ohne besondere Vorkenntnisse
ausgeführt werden können.
Diesen Anforderungen glaube ich zum grössten Theil gerecht
geworden zu sein; leider ist aber dabei der Apparat so umfangreich
und auch theuer geworden, dass dadurch seine Anwendung in Privat¬
wohnungen erschwert wird. Dagegen hat er mir bei täglicher Be¬
nutzung seit zwei Jahren auf dem Turnsaal so gute Dienste geleistet
Zeitschrift für orthopädiHche Chirurgie. II. Band. 29
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432
F. Beely.
und sich in jeder Hinsicht so bewährt, dass ich ihn nicht mehr
entbehren möchte, und dass mir daher eine genaue Beschreibung
desselben gerechtfertigt erscheint.
Ich ging bei der Construction des Apparates von der Idee aus,
dass die Ruderbewegung meinen Absichten am meisten entsprechen
dürfte, und hatte auch ursprünglich einen Zimmerruderapparat in
Anwendung gezogen. Daher stammtauch die Bezeichnung „Ruder¬
apparat“.
Die Ruderbewegung ist von allen Turnübungen diejenige, die
die gesammte Körpermuskulatur, auch die Rückenmuskeln, am aus- |
gedehntesten, dabei aber symmetrisch in Thätigkeit versetzt. Sie [
hat aber einige für den hier beabsichtigten Zweck. nicht unwesent- i
liehe Mängel. '
Erstens wird die Muskulatur an der vorderen Seite des Rumpfs [
nur in geringem Grade in Anspruch genommen, sodann ist das starke i
Vorbeugen des Körpers nicht unter allen Umständen gleichgültig für
die seitlichen Ausbiegungen der Wirbelsäule.
Beugt man den Rumpf nach vorn und wird diese Bewegung
nicht ausschliesslich im Hüftgelenk ausgeführt, so spannen sich dabei
die Weichtheile — Muskeln und Bindegewebe — zu beiden Seiten
der Domfortsätze und verhindern durch ihren symmetrischen Druck
auf die Querfortsätze und Rippen ein seitliches Ausbiegen der I
Wirbelsäule, ja geringe Grade seitlicher Ausbiegung können sogar
bei dieser Bewegung ausgeglichen werden, trotzdem zu gleicher Zeit I
eine stärkere Belastung, ein stärkeres Zusammenpressen der AVirbel- ^
körper stattfindet. Dies wird aber nur so lange der Fall sein, als i
die Spannung, d. h. die Kraft, welche die Wirbelkörper nach der
Mittellinie zurückzuführen und dort festzuhalten bestrebt ist, grösser
ist als die Kraft, die beim Vorbeugen die Wirbelkörper mehr zu¬
sammen- und, bei bereits vorhandener seitlicher Abweichung, seit¬
lich herausdrückt. Je stärker ausgeprägt eine Skoliose ist, desto |
mehr wird die Neigung der Wirbelkörper zunehmen, beim Vorbeugen J
seitlich abzuweichen; die Spannung der Weichtheile des Rückens
hat aber bald ihren Höhepunkt erreicht, bei einem gewissen Grade
der Skoliose wird daher beim Vorbeugen die Skoliose nicht mehr
ab-, sondern zunehmeii.
Dies muss unter allen Umständen vermieden werden, und es
kann dies geschehen trotz Beibehaltung eines mässigen Vorbeugens,
wenn zugleich mit der Anspannung der Weichtheile des Rückens, i
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Ein Ruderapparat für Skoliotische.
433
besonders der Muskeln, eine Streckung der Wirbelsäule verbunden
ist oder wenigstens kein Zusammen pressen der Wirbelkörper statt¬
findet. Dann kann die Spannung der Rückenmuskeln ihre aus¬
gleichende Thätigkeit auf die skoliotische Ausbiegung der Wirbel¬
säule unbeeinträchtigt ausüben, ganz abgesehen davon, dass schon
die Streckung, die Verlängerung der Wirbelsäule allein in diesem
Sinne wirkt.
Sodann bedurfte die Art des Sitzens bei dem sogen, amerika¬
nischen Ruderapparat einer kleinen Aenderung, da sie durch den
allzu niedrigen Sitz auf die Dauer unbequem war. Die sitzende
Stellung wurde jedoch beibehalten, weil sie einer stehenden oder
liegenden gegenüber verschiedene Vortheile darbot: das Becken wird
bei ihr durch die unteren Extremitäten besser gegen Bewegungen
um seine vertikale Achse geschützt, der Oberkörper kann eine gegen
die Horizontalebene nach vorn wie nach hinten geneigte Stellung
einnehmen, der Hebende braucht auf seine Körperhaltung weniger
Sorgfalt zu verwenden und kann leicht, wenn er das Bedürfniss
dazu fühlt, einen Augenblick ausruhen und die Hebungen dann sofort
wieder aufnehmen.
Nach mannigfachen Versuchen und Abänderungen ging aus
dem einfachen Zimmerruderapparat schliesslich der in Fig. 1 dar¬
gestellte „Ruderapparat für Skoliotische“ hervor.
Der Hebende sitzt in einem länglich-viereckigen Kasten auf
einem in der Längsrichtung des Kastens beweglichen Sitzbrett, die
Füsse stemmt er gegen ein verstellbares, aber während der Hebung
befestigtes, schräg stehendes Fussbrett, wobei die Fussspitzen unter
eine gepolsterte Leiste geschoben werden, so dass der Patient sich
unter Anspannung der Dorsalflexoren des Fusses auch gegenüber
einem Zug festhalten kann, der ihn von dem Fussbrett zu entfernen
trachtet. Am oberen Ende des Kastens, hinter dem Sitzbrett, drehen
sich um eine sie verbindende horizontale Achse zwei parallel stehende
Stangen — eiserne, in gleichmässigen Abständen durchlochte Röh¬
ren —, die mit eisernen Kugeln armirt sind und in der Nähe
ihrer oberen freien Enden einen horizontalen hölzernen Stab tragen.
Die Kugeln sowie dieser Stab können in beliebiger Höhe durch
Bolzen befestigt werden.
Die Höhe, in der der Stab festgestellt wird, wird dadurch
bestimmt, dass der Patient ihn gerade noch erreichen und mit den
Händen erfassen kann, wenn er auf dem Sitzbrett Platz genommen
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434
F. Beely.
hat und die Arme nach oben ausstreckt. Die Kugeln dienen zur
Regulirung des Widerstandes.
Von dieser mittleren Stellung aus (Fig. 1) kann sich der
Uebende nun, unter stetem Festhalten der mit ausgestreckten Armen
ergriflFenen Stange, nach vom beugen, in „Vorbeuge“, bis durch
Fig. 1.
eine hinter der Achse angebrachte Hemmung eine weitere Bewegung
verhindert wird, und ebenso nach hinten, in „Rückbeuge“, bis auch
hierbei die Hemmung eintritt.
Die Vorbeuge muss so viel als möglich im Hüftgelenk aus¬
geführt werden, mit fest durchgedrückten Knieen, ebenso das Auf¬
richten aus derselben; während der Rückbeuge muss sich der Patient
mit den Fussspitzen an der gepolsterten Fussleiste festhalten. Sämmt-
liche Bewegungen müssen langsam und geräuschlos ausgeführt
werden, so dass kein Aufschlagen der Stangen bei der Hemmung
stattfindet. Beugt sich der Uebende aus der MittelsteUung, wobei
angenommen wird, dass der Handgriff B (Fig. 2) und die Hüft-
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Ein Ruderapparat ftLr Skoliotische.
435
gelenke A sich senkrecht über der Drehungsachse C der parallelen
Stangen befinden sollen, nach vom, so beschreibt der mit den Händen
festgehaltene Stab B den Kreisbogen BE mit dem Radius BC um C
als Mittelpunkt, der Oberkörper mit den ausgestreckten Händen des
liebenden dagegen würde den kleineren Kreisbogen BE' mit dem
Radius B A um das Hüftgelenk A als Mittelpunkt beschreiben, wenn
der liebende die horizontale Stange nicht festhielte. Es muss sich
Fig. 2.
daher bei der Vorbeuge der Körper des Hebenden um AE — AE'
= EE' verlängern oder er wird, wenn er dieses nicht kann, von
dem Sitzbrett etwas abgehoben.
In Wirklichkeit würde die Differenz noch bedeutend grösser
als EE sein, da die Bewegung des Körpers nicht allein im Hüft¬
gelenk stattfindet, sondern auch zwischen den Wirbelkörpern, wobei
die Wirbelsäule sich zugleich verkürzt. Um daher ein stärkeres
Abheben des Hebenden von seinem Sitz zu vermeiden und ihm auch
den Beginn der Hebungen, der gewöhnlich aus der Vorbeuge statt¬
findet, zu erleichtern, lässt man ihn seinen Sitz so nehmen, dass das
Hüftgelenk sich etwas vor der Achse C befindet (vergl. Fig. 1).
Aus demselben Grunde, wie bei der Vorbeuge, findet auch bei
der Rückbeuge eine Streckung des Körpers und zwar um AD — AD'
= D D' statt, und wenn der Körper dieser Verlängerung nicht nach-
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436
F. Beely.
geben kann, wird er von dem Fussbrett abgezogen. Mittelst der
Fussspitzen muss der Uebende sich dann an der Fussleiste festhalten.
Dadurch, dass der Uebende seinen Sitz etwas vor der Dreh¬
achse der beiden parallelen Stangen einnimmt, der Punkt A also
links von der Linie BC liegt (Fig. 2), wird in Wirklichkeit die
Verlängerung grösser werden als DD\ es hat dies aber nichts zu
sagen, da der Körper bei der zurückgebeugten Stellung, die f^t
zur horizontalen Lage wird, sich schon von selbst eher verlängert
als verkürzt.
Der Körper ist also am wenigsten gestreckt, nur gerade auf¬
gerichtet in der Mittelstellung, er wird gestreckt bei der Vorbeuge
und Rückbeuge, Verbiegungen der Wirbelsäule werden also in beiden
Stellungen entweder ganz oder theilweise ausgeglichen, soweit sie
sich unterhalb des Schultergürtels befinden.
Während der Patient sich aus der Mittelstellung in die Vor¬
beugestellung begibt, muss er dem Gewicht der eisernen Kugeln
Widerstand leisten, und zwar um so mehr, je mehr er sich der
Hemmung nähert, umgekehrt nimmt der zu überwindende Wider¬
stand ab, wenn er aus der extremsten Vorbeugestellung zur Mittel¬
stellung zurückkehrt. Dasselbe gilt für die Ausführung der Rückbeuge.
Die Muskeln haben also ihre grösste Kraft zu entfalten, sie
werden am intensivsten in Thätigkeit versetzt, wenn der Körper am
stärksten gestreckt ist, sie sind ganz ausser Thätigkeit, sie ruhen
aus, wenn der Körper durch die Mittelstellung hindurchgeht.
Das Resultat ihrer Thätigkeit kann also nie eine Verkürzung
der Wirbelsäule, eine Zunahme der Skoliose sein.
Beim Uebergang aus der Mittelstellung in die Vorbeuge und
zurück zur Mittelstellung werden diejenigen Muskeln in Anspruch
genommen, deren Zugrichtung hinter den Querachsen sämmtlicher
Gelenke liegt, sie wirken als Streckn^uskeln; beim Uebergang aus
der Mittelstellung in die Rückbeuge und zurück zur Mittelstellung
dagegen diejenigen Muskeln, deren Zugrichtung vor den frontalen
Achsen der Gelenke liegt, sie wirken als Beugemuskeln. Eine Aus¬
nahme machen nur die Armmuskeln, soweit dieselben beim Fest¬
halten mittelst der Hände betheiligt sind.
Hat der Patient die ganze Uebung ein Mal gemacht, so sind
mit alleiniger Ausnahme der Gesichtsmuskeln fast sämmtliche Körper¬
muskeln in Thätigkeit getreten, denn auch die Halsmuskulatur wird,
allerdings nur in geringem Grade, zur Fixirung des Kopfes beansprucht.
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Ein Ruderapparat für Skoliotische.
437
Am Rumpf sind es bei dem Uebergang aus der Mittelstellung
in die Vorbeuge und zurück die Rückenmuskeln, die sich besonders
stark spannen, und diese Spannung erhöht die redressirende Wir¬
kung der mit der Vorbeuge verbundenen Streckung, da durch sie
auf die stärker hervortretenden Theile des Rückens ein stärkerer
Druck ausgeübt wird. Die corrigirende Wirkung auf die Wirbel¬
säule wird also bedeutender sein als bei einfacher Streckung der
Wirbelsäule um ein gleich grosses Stück, beispielsweise bei Suspension.
Beim Uebergang aus der Mittelstellung in die Rückbeuge und
umgekehrt sind es wesentlich die Bauchmuskeln, in denen der Uebende
zuerst die ihm ungewohnte Anstrengung verspürt. Da die Wirbel¬
säule dabei aber zugleich gestreckt wird, können sie — wie oben
erwähnt — eine Zunahme der Skoliose nicht herbeiführen. Ihre
Kräftigung wird aber zur besseren aufrechten Haltung des Hebenden
wesentlich beitragen, da sie es sind, die beim Aufrichten, bei der
willkürlichen Verlängerung des Körpers, eine nicht unwesentliche
RoUe spielen.
Dass man, wie bei allen Hebungen so auch hier, vorsichtig
anfangen und langsam, den Kräften des Hebenden entsprechend,
steigen muss, bedarf keiner besonderen Erwähnung.
Da das Aufstellen und die Bedienung eines selbst so einfachen
Apparates, wie der beschriebene, manchem Patienten besondere
Schwierigkeit gemacht hat und nicht immer ohne wiederholte Anfrage
geglückt ist, lasse ich hier noch eine genaue Anweisung zur Auf¬
stellung folgen.
Wenn der Apparat zur Benutzung aufgestellt werden soll, steckt man
zuerst die Stahlstange a (Fig. 8) in die am Kopfende des Apparate angebrachte
Hülse h. Diese Stange verhindert das Kippen des Apparates bei der Ausfüh¬
rung der Rückbeuge. Sodann führt man die beiden durchlochten Stangen A
(Fig. 4) so durch die Hülsen dass die letzteren die in Fig. 4 gezeichnete
Stellung erhalten. Das Bewegungscentrum C muss unterhalb der Hülsen liegen,
und diese mit ihrer oberen, den Namen F. Beely tragenden Seite von unten
der Hemmungsstange D anliegen, wenn die durchlochten Stangen Ä die in
Fig. 4 angegebene Stellung einnehmen und der Turnende sich nach vom beugt.
Es müssen unterhalb der Hülsen, bei E, die zwischen den Nummern 10 und 11,
oberhalb derselben, bei F, die zwischen den Nummern 20 und 21 liegenden
Löcher zum Vorschein kommen. Durch die correspondirenden Löcher der Hülsen
und Stangen werden Bolzen gesteckt. Es ist nothwendig, diese Bolzen festzu¬
binden, indem man eine Schnur durch den Ring des Bolzens zieht und sie um
die Hülse und um das vorstehende Ende des Bolzens schlingt und festknüpft.
Bei der in Fig. 4 angegebenen Stellung der Stangen ist es besser, die Bolzen
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438
F. Beely.
von unten nach oben durchzustecken, weil sonst die Ringe derselben unter Um¬
ständen durch die Hemmungsstange D verbogen werden können.
Von den dem Apparate beigegebenen vier Kugeln bringt man auf jeder
der beiden Stangen A (Fig. 4) je eine in Stellung G, die andere in Stellung G\
an, die ersteren zunächst oberhalb der zwischen den Nummern 1 und 2 die
letzteren oberhalb der zwischen den Nummern 23 und 24 befindlichen Löcher.
Die Kugeln müssen stets auf beiden Seiten gleich hoch stehen, sie werden durch
Bolzen am Heruntersinken verhindert; die Reibung genügt, um diese Bolzen
festzuhalten, man braucht sie also nicht anzubinden.
Nunmehr schiebt man das Sitzbrett dd (Fig. 3) von unten nach oben in
die am Kasten angebrachte Führung ein, bis es mit den kleinen Eisenstangen e
an dem Lager der Drehungsachse C anstösst. Der Uebende nimmt so auf
dem Sitzbrett Platz, dass ein vom Rücken herabhängendes Loth den oberen
Rand des Sitzbrettes trefien würde.
Das Fussbrett II (Fig. 4 und 5) wird in den der Grösse des Lebenden
entsprechenden Einschnitt geschoben. Die Fussspitzen werden unter das Brett¬
chen J (Fig. 5) gesteckt, die Fusssohlen müssen, wie in Fig. 5 angegeben, dem
Brett II anliegen, die Beine vollständig gestreckt, die Kniee durchgedrückt
werden.
Man lässt, wenn es nothwendig ist, den Lebenden auf dem Sitzbrett
etwas herunterrücken, dagegen nicht höher hinauf als oben angegeben.
Mit dem im Fussende des Kastens angeschraubten Riemen K (Fig. 4)
befestigt man das Fussbrett, wie es in Fig. 4 angedeutet ist.
Um die Höhe zu bestimmen, in welcher die horizontale hölzerne Stange
für die Hände anzubringen ist, lässt man den Lebenden mit gerade aufgerich¬
tetem Oberkörper Platz nehmen, die Füsse unter die Fussleiste J (Fig. 5)
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Ein Ruderapparat für Skoliotische.
439
stecken, die Arme senkrecht nach oben strecken (Fig. 1). Die hölzerne Stange
(der Handgriff) wird dann an den beiden durchlochten Stangen so weit nach
oben geschoben, dass der Uebende sie, ohne sich vom Sitze zu erheben, bei
Fig. 4.
völlig gestreckten Armen und Rücken noch erfassen kann, und in dieser Höhe
befestigt. Die Befestigung geschieht in der in Fig. 6 angedeuteten Weise mit
Hilfe von Bolzen, die aber durch eine Schnur, am besten durch eine elastische
Schlinge, besonders festgehalten werden müssen.
Fig. 5. Fig. 6.
Jetzt lässt man den Uebenden sich aus der Mittelstellung, wie sie in
Fig. 1 angegeben ist, nach vorn beugen. Die Beine bleiben dabei gestreckt,
die Kniee durchgedrückt, mit den Füssen stemmt er sich gegen das Fussbrett H
(Fig. 4 und 5); dann lässt man ihn die Bewegnng nach rückwärts ausführen,
wobei er sich mit stark dorsalflectirten Füssen an dem Brettchen J (Fig. 5)
festhält. Sind alle hierbei in Thätigkeit tretenden Muskeln hinreichend an-
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440
F. Beelj. Ein Ruderapparat für Skoliotische.
gespannt, so müssen sich die Stangen A fast unhörbar auf die Hemmung D
(Fig. 4) auflegen.
Man lässt diese Vor- und Rückbeuge wiederholen, so oft die Kräfte des
liebenden es ohne Anstrengung gestatten, zunächst 10—15mal, dann steigt man
allmählich bis zu etwa 30 Bewegungen, die aber von 1 oder 2 Ruhepausen,
während deren der üebende sitzen bleibt, unterbrochen werden. Nehmen die
Kräfte zu, so stellt man die Kugeln G (Fig. 4) auf beiden Seiten allmählich
gleichmässig höher, bis man mit ihnen bei den Hülsen B (Fig. 4) angelangt
ist, dann kann man sie entfernen, um nun mit den Kugeln Gj — ebenfalls
auf beiden Seiten gleichmässig — hinaufzurücken. Der zu überwindende Wider¬
stand wird dadurch grösser. Ist man mit den Kugeln G beim Handgriff an¬
gekommen, so bringt man beiderseits eine zweite Kugel oberhalb des Hand¬
griffs an und rückt mit der ersteren in die Ausgangsstellung oberhalb der
Hülse B zurück, um von hier aus wieder zu steigen. Schliesslich können je
zwei Kugeln oberhalb des Handgriffs auf die Stangen A gesteckt werden.
(Der Apparat kann bezogen werden durch A. Buczilowsky —
W. Berlin, Köthenerstrasse 17 — zum Preise von 150 Mark.)
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XXV.
Aus der Königl. Universitätspoliklinik für ortho¬
pädische Ghirnrgie zu Berlin.
lieber congenitale Fingeranomalien.
Von
Dr. G. Joachimstlial,
Assistenzarzt der Poliklinik.
Mit 4 in den Text gedruckten Abbildungen.
Unter den angeborenen Bildungsfeblern der Hand gehören die
seitlichen Deviationen der Fingerphalangen, wie ich dies im ver¬
flossenen Jahre im Anschluss an zwei Beobachtungen von beider¬
seitigen Abweichungen der Daumenendglieder nach der ulnaren Seite
nachgewiesen habe ^), zu den sehr seltenen Vorkommnissen. Es dürfte
daher nicht ohne Werth sein, weitere Fälle dieser Verbildung, und
zwar zunächst eine Beobachtung mitzutheilen, die gewissermassen
das Gegenstück meiner früheren Fälle darstellt, indem beiderseits die
Daumenendglieder eine Abweichung nach der radialen Seite aufweisen.
In der Familie des 8jährigen Trägers der Deformität sind nie¬
mals Missbildungen zur Beobachtung gelangt. Sofort nach der Ge¬
burt des Knaben, der als zweiter Zwilling zur Welt kam, während
der erste, im übrigen wohlgebildete Sprössling intra partum abstarb,
entdeckte man an dem volaren und radialen Antheil des distalen
Abschnitts der ersten Daumenphalanx kleine Hautanhänge nach Art
') 6. Joachi.msthal, lieber angeborene seitliche Deviationen der
Fingerphalangen. Verhandlungen der Berliner raedicinischen Gesellschaft 1892,
I S. 268; Zeitschrift für orthopädische Chirurgie Bd. 2 Heft 3 S. 265; Annales
d’orthopedie 1893, Nr. 3 S. 96.
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442
G. Joachimsthal.
rudimentärer Finger, deren Befestigung an der Hand eine so lockere
war, dass sie sofort mit geringer Mühe durch einen Scheerenschnitt
des Arztes entfernt werden konnten. Als Ueberbleibsel dieser Bil¬
dungen erkennt man an beiden Händen noch an der bezeichneten
Stelle des ersten Daumengliedes kleine Hervorragungen. Beider¬
seits weicht nun bei dem Knaben, der frei von sonstigen Defor¬
mitäten ist, die zweite Phalanx von der geraden Richtung
zur ersten ab, derart, dass sie mit der Grundphalanx
Fig. 1.
an dem Radialrande der Hand einen Winkel links von
160® (s. Fig. 1), rechts einen solchen von 165® bildet. Die
active Beweglichkeit der Interphalangealgelenke ist normal, passiv
lässt sich das Gelenk beiderseits bis zu einem Winkel von ca. 20^
überstrecken. An dem Capitulum der ersten Phalanx ist an der
ulnaren Seite eine stärkere Prominenz zu constatiren.
Durch die in diesem Fall constatirte Combination der radialen
Deviation der Daumenendphalangen mit einer durch frühzeitige Ope¬
ration beseitigten Polydactjlie, bei der die überzähligen Finger je¬
doch nur in ganz rudimentärer Form entwickelt waren und blosse
Hautanhänge darsteilten, gewinnt die in Rede stehende Verbildung
den Charakter einer Theilerscheinung anderweitiger Anomalien der
Hand. Sie bildet so gewissermassen den üebergang von den für
sich bestehenden reinen seitlichen Deviationen der dabei beweglichen
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lieber congeoitale FiDgeranomalien.
443
Phalangen, wie sie meine beiden früheren Beobachtungen und die
im Anschluss an dieselben aus der Literatur citirten Fälle charakteri-
siren, zu solchen, in denen bei ausgesprochenen anderweitigen Form¬
fehlern der Hand, so bei ausgebildeter Polydactylie, bei Ectrodactylie
und bei congenitalen Hypertrophien der Finger neben dem eigent¬
lichen Bildungsfehler noch Verschiebungen ganzer Finger oder ein¬
zelner Theile derselben zum Theil als Ausdruck der Anpassungs¬
bestrebungen der Natur an die veränderten Lageverhältnisse ein¬
getreten sind. Fälle dieser Art sind u. a. von Curling^), Gruber*),
Annandale^), neuerdings von Renard^) beschrieben worden. Auch
für diese Gruppe bin ich in der Lage, durch die folgende Mitthei¬
lung ein auch in sonstiger Beziehung höchst interessantes Beispiel
zu geben. Die ulnare Deviation der zweiten Daumenphalanx war
hier combinirt mit einer Ectro- und Brachydactylie. Sie trug wesent¬
lich dazu bei, trotz der Abnormität der Bildung die Function der
Hand noch zu einer leidlichen zu gestalten.
Die 7 Jahre alte, geistig gut entwickelte Patientin stammt aus
gesunder Familie. Ihre inneren Organe sind gesund. Der übrige
Körper ist wohlgebildet, nur die linke und rechte Hand, sowie der
linke Fuss zeigen eigenartige Missbildungen. Der linke Fuss, der
mit einer zwei- und drei dreigliedrigen Zehen ausgestattet ist, steht in
extremster Valgussteilung derart, dass die Achse des Fusses, statt
in die Verlängerung der ünterschenkelachse zu fallen, mit dieser
im rechten Winkel zusammenstösst, und die kleine Patientin, deren
linkes Bein noch ausserdem 8 cm kürzer als das gesunde ist, direct
auf dem Malleolus internus auftritt. An der rechten Hand finden
sich drei dreigliedrige Finger, die noch dazu durch Syndactylie mit
einander verschmolzen sind. Besonderes Interesse beansprucht die
Configuration der linken Hand. An die kurze Handwurzel, die hier
auf die normalen Vorderarmknochen folgt, schliessen sich zwei Meta¬
carpalknochen, die ihrerseits wieder mit zwei zweigliedrigen Fingern
articuliren. Die beiden Ossa metacarpi sind je 3 cm lang und der-
*) Med. chir. Transact. 1845, vol. XXVIII p. 357.
*) Grub er, Zur Duplicität des Daumens. Oesterreich. Zeitschr. für
praktische Heilkunde 1865, Nr. 37.
Annandale, The inalformations diseases and injuries of the fingers
and toes. Edinburgh 1865, S. 5 ff.
*) M. F. Renard, Note sur deux cas de polydactylie. Annales d’ortho-
pedie 1892, Nr. 18.
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444
G. Joachimsthal.
artig mit der Handwurzel gelenkig verbunden, dass sie ausser Flexions¬
und Extensions- noch Ab- und Adductionsbewegungen gegen ein¬
ander auszuführen im Stande sind. Beide Mittelhandknochen verbindet
eine schwimmhautartige Commissur, welche bei der Abduction, die
bis zu einem Winkel von ca. 40® ausführbar ist, sich anspannt.
(Fig. 2 zeigt die Hand in extremster Abductionsstellung.) lieber
das Maass der durch die Abduction herbeigeführten Spannung kann
die Hautfalte noch durch eine Hyperextensionsbewegung, die im
oberen Gelenk zwischen Handwurzel und Metacarpus ulnaris zu
Stande kommt, gedehnt werden. Der Eintritt in diese Hyper¬
extensionsstellung, möglich wohl nur durch einen Subluxationsvor¬
gang in dem betreffenden Gelenk, erfolgt ebenso wie die Rück¬
kehr in die normale Position mit einem fühlbaren Schnappen. An
die beiden Metacarpi schliessen sich die beiden Finger, deren radial-
wärts gelegenen wir als den Daumen beanspruchen müssen. Er besitzt
zwei 1^2 cm lange Glieder, deren vorderes mit einem sehr breiten
Nagel ausgestattet ist. Die zweite Phalanx weicht hier wiederum
von der geraden Richtung zur ersten ulnarwärts ab, und
zwar in einem Winkel, der, an dem Ulnarrande des Dau¬
mens gemessen, etwa 130® beträgt. Auch hier prominirt in
der Flexionsstellung der radiale Antheil des Capitulum der ersten
Phalanx über den ulnaren. Der dem zweiten Metacarpus sich an¬
schliessende Finger zeigt zwei in der Grösse beträchtlich verschie¬
dene Glieder; das erste ist 3 cm lang und macht den Eindruck, als
ob es aus der Verschmelzung von zwei Phalangen entstanden wäre,
das zweite ist 1 ^2 cm lang und trägt einen normalen Nagel. Es
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lieber congenitale Fingeranomalien.
445
steht gewöhnlich in leichter Flexion zum ersten, kann jedoch ebenso
wie dieses selbst activ und passiv in den normalen Excursionen be¬
wegt werden.
Obwohl die Möglichkeit einer Opposition beider Glieder mangelt,
vermag die kleine Patientin dennoch mit grossem Geschick ihre Hand
sowohl zum Schreiben als zum Nähen, Sticken und ande¬
ren Verrichtungen zu benutzen, wobei die ulnare Abweichung
der Daumenphalanx das Erfassen und Festhalten der Gegenstände
wesentlich erleichtert (s. Fig. 3).
Die hier mitgetheilte Beobachtung steht am nächsten derjenigen
Fig. 3.
Form der Ectrodactylie, die zu der Bezeichnung „Pince de homard“
Anlass gegeben hat, da bei ihr die aus Daumen und Kleinfinger
bestehende Hand in ihrer zangenartigen Gestaltung einer Krebs-
scheere gleicht. Meist wie in dem von Annandale beschriebenen
und abgebildeten Falle, der als Paradigma dieser Form der Hand¬
verbildung in eine Anzahl anderer Werke übergegangen ist, sind
die Metacarpalknochen noch theilweise erhalten und dabei vielfach
den Bewegungen der Finger hinderlich. Dem gänzlichen Fehlen
dieser Knochen, sowie der relativ grossen Beweglichkeit der beiden
vorhandenen Ossa metacarpi, endlich auch der ulnaren Abweichung
des Daumenendgliedes hat unsere Patientin es zu danken, dass ihre
verbildete Hand in höherem Grade als eine Pince de homard zur
Ausführung menschlicher Verrichtungen brauchbar geworden ist. Be¬
merkenswerth ist weiterhin an der Hand unserer kleinen Patientin
das Fehlen eines Gliedes an dem ulnaren Finger, zumal sich Fälle
von congenitaler Brachydactylie nur in wenigen Beispielen in der
*) Annandale, 1. c. p. 12.
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446
G. Joachimsthal.
Literatur auffinden lassen. Kellie^) berichtet von einer Familie,
in der seit 10 Generationen nur der Daumen vollständig gebildet
war, während an den übrigen Fingern entweder zwei oder wenig¬
stens eine Phalange fehlten. Eigenthümlich war dabei, dass sich
diese Missbildung nur bei den weiblichen Gliedern der Familie fort-
pfianzt. Fort*) stellt 6 Fälle von Brachydactylie zusammen. Andere
Fig. 4.
Beobachtungen liegen den Mittheilungen vonGruber*), Fränkel*)
und SchwegeP) zu Grunde.
*) Vergl. V. Ammon, Die angeborenen chirurgischen Krankheiten des
Menschen. Berlin 1842, S. 96.
*) J. A. Fort, Des difformites congenitales et acquises des doigts et
des moyens d’y remedier These. Paris 1869, S. 58.
’) W. Grub er, Beobachtung des Defects der Mittelphalangen an allen
Fingern und Zehen am Lebenden beobachtet. Oesterreich. Zeitschrift für prak¬
tische Heilkunde 1865, Nr. 43.
Frankel, Fhn Fall von erblicher Deformität. Berl. klin. Wochenschr.
1870, Nr. 35.
Schwegel, Die Entwickelungsgeschichte der Knochen des Stammes
und der Extremitäten. Sitzungsber. der Kaiserl. Akademie der Wissenschaften.
Wien 1858, S. 31.
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Ueber congenitale Fingeranomalien.
447
Der Fall bietet ausserdem einen interessanten Beitrag zur Frage
der Linkshändigkeit; denn bei der ganz mangelhaftigen Ausbildung
der rechten Hand ist die linke trotz der eigenen unvollständigen
Gonformation in vermehrte Thätigkeit getreten und bat es zu einer
für ihren Bau höchst wunderbaren Leistungsfähigkeit gebracht. Ent¬
gegen den mannigfachen zur Erklärung der Linkshändigkeit einzelner
Menschen aufgestellten Theorien zeigt diese Erscheinung wiederum,
dass einzig und allein vermehrte Thätigkeit und stärkere Uebung
das für die stärkere Kraft und Fähigkeit bestimmende Moment
sein kann.
Endlich berichte ich noch kurz über einen dritten Fall von
angeborener Daumenverbildung bei einem 13jährigen Knaben, der
wegen einer linksseitigen Coxitis in unsere Behandlung eintrat. Es
bestand hier eine Verdoppelung der ersten linken Daumenphalanz.
Beide Knochen, die mit gesonderten Gelenkflächen der ersten Phalanx
articulirten, waren durch eine nach vorne zu breiter werdende Haut¬
falte verbunden. Das Doppelglied, dessen beide Phalangen in einem
Winkel von ca. 45 ® divergirend und passiv gegen einander bewegt
werden konnten, trug zwei wohlausgebildete Nägel (s. Fig. 4). Nach
Ausführung der Exarticulation der radialwärts gelegenen Phalange
durch Herrn Professor Wolff resultirte hier wiederum ein Zustand
von seitlicher Deviation des restirenden Antheils nach der
ulnaren Seite in einem Winkel von ca. 140®, der jedoch der Func¬
tion des Gliedes in keiner Weise hinderlich war.
*) Vergl. L. W. Liersch, Die linke Hand. Berlin 1893, S. 12.
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. II. Band.
30
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Referate
Mit 2 in den Text gedruckten Abbildungen.
E. Stuckert, üeber angeborene spastische Gliederstarre und spastische Con-
tracturen. Inaugural-Diss. Berlin 1892.
Stuckert berichtet über 7 Fälle angeborener spastischer Contracturen,
die er sämmtlich unter die spastische Gliederstarre subsumirt mit eingehea*
dem Studium der vorliegenden Litteratur. Ob Stuckert’s Fälle, vor allem
der zur Section gekommene Fall I, sämmtlich als angeborene spastische Glieder¬
starre aufzufassen sind, dürfte anzuzweifeln sein. Referent möchte Fall I
und II Stuckert’s eher als angeborene Himlähmung betrachten. Damit wäre
auch der mit den bisherigen Anschauungen der pathologischen Anatomie der
angeborenen Gliederstarre nicht recht übereinstimmende Sectionsbefund leichter
erklärt als mit der aus diesem einen Fall heraus begründeten Ansicht, dass
die angeborene Gliederstarre keine primär spinale, sondern cerebrale Erkran¬
kung sei. Rosenfeld-Nümberg.
Th. Gelpke, Wie soll unsere Schuljugend schreiben? schräg oder steil? Ein
Beitrag zur Steilschrifbfrage. Karlsruhe 1892.
Der um die Steilschriftfrage verdiente Verfasser wendet sich scharf gegen
die Berlin-Rembold’schen Einwürfe und tritt mit Schubert mit grösster
Entschiedenheit für die gerade Medianlage ein. Er weist darauf hin, da®
diese allein die Controlle der stets richtigen Heftlage nicht nur für die Schule,
sondern — was weit wichtiger ist — auch für das Haus gibt. Da nun bei
gerader Mittellage nach den Untersuchungen Sch über t’s nur steil geschrieben
werden kann, so erhellt die NothWendigkeit der Steilschrift von selbst. Und
umgekehrt erzwingen wir mit der Steilschrift die gerade Mittellage des Heftes
und damit gleichzeitig die bestmögliche hygienische Haltung des Körpers.
Sodann legt Gelpke auch warme Worte ein für die Abschaffung der Current-
schrift und Durchführung der Lateinschrift.
Das anziehend geschriebene Werkchen verdient allgemein gelesen zu
werden. Rosenfeld-Nümberg.
H. Tausch, Ueber Belastungsdeformitäten und ihre Behandlung. Münch,
medic. Wochenschr. 1893, Nr. 5.
Tausch weist darauf hin, dass die verdienstvollen Arbeiten von Ju¬
lius Wolff und vor allem das von Wolff entwickelte Gesetz der Trans-
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Referate.
449
formation der Knochen in ihrer Wichtigkeit für die Pathologie und Therapie
der Belastungsdeformitäten, zu denen Tausch Scoliose, Gtenu valgum und
varum. Klump- und Plattfuss rechnet, gegenüber den noch immer viel ver-
theidigten V olkmann-Hüter’schen Theorien nicht die verdiente allgemeine
Anerkennung gefunden haben. Die für die Therapie von Wolff aus den
theoretischen Erwägungen gefolgerten praktischen Maassnahmen, vor allem den
Wolff'sehen Etappenverband in der Behandlung des Genu varum und valgum.
Fig. 1.
kann Tausch voll und ganz aus seinen eigenen Erfahrungen heraus‘begut¬
achten. Der Etappenverband bei den Kniedeformitäten hat Tausch bei seinen
sämmtlichen Patienten in wenigen Wochen vollkommene Heilung ohne einen
Rückfall erzielen lassen. Allerdings war keiner der Patienten über 8 Jahre
alt. Als Material nimmt Tausch durch Pappeinlagen verstärkte Wasserglas¬
binden. Er legt den ersten Verband ohne Correction an und macht dann nach
der Erhärtung jeden dritten Tag die betreffenden Keilausschnitte. Zum Zweck
der Erhaltung der durch den Keilausschnitt neu gewonnenen Correction ver¬
wendet Tausch bis zur Erhärtung der neu angelegten Binden eine im um¬
gekehrten Sinne des Osteoklasten wirkende, mit breiten Pelotten aufliegende
Schiene, welche die Kniegelenke mittelst Lederriemen stramm anzieht. Damit
die Verbandhülsen nicht hinunterrutschen und am Fussrücken einen Druck
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450
Referate.
ausüben, legt Tausch als unterste Schichte des ganzen Etappenverbandes
2 seitliche Heftpflasterstreifen, die später oben und unten noch eingeschlagen
werden.
Auch für den Elumpfnss bestätigt Tausch die Vorzüge des Etappen¬
verbandes. Er legt denselben erst an, wenn vorher eine ausgiebige Correction
der Deformität (entweder nach König über ein Holzstück oder mittelst des
Bradford’schen Hebels) erzielt worden ist. Von der Phelps'chen Operation
ist Tausch wieder abgekommen. Den ersten Gipsverband ersetzt Verfasser
nach 8 Tagen durch einen Wasserglasverband; dann folgen von 3 zu 3 Tagen
die Keilausschnitte. Die letzte Phase des Verbandes wird 2—3 Monate unter
einem Schnürstiefel getragen.
Was endlich die Scoliose anlangt, so glaubt Tausch, dass das Trans¬
formationsgesetz für das Verständniss der Verhältnisse der sich entwickelnden
Scoliose Nutzen gebracht hat, dass die Abschrägung der Wirbelkörper erfolgt
als Anpassung an die veränderte statische Inanspruchnahme.
Die allseitig anerkannte laterale Deviation ist nach der Ansicht Tausch's
merkwürdig wenig für Prophylaxe und Therapie beachtet worden. Es existiren
allerdings eine Unmenge von Modellen zu Schulbänken, welche die Möglich¬
keit gewähren, richtig zu sitzen, allein kein einziges, welches hiezu zwingt.
An der Hand vieler Versuche hat nun Tausch einen Schreibstuhl construirt, der
die Haltung des Kindes sicher zu beeinflussen im Stande ist.
Der Stuhl ist an seinen Vorderfüssen mit je 2 Hülsen versehen, in welche
sich zwei in der Höhe der Sitzfläche rechtwinkelig abgebogene Eisenrohre ein-
schieben lassen. Diese Rohre besitzen verschieb- und feststellbare Hülsen mit
Oesen, in welche die Pultplatte eingehängt wird. Tischplatte und Verstellbar¬
keit sind von dem Schenk’schen Pult acceptirt. Die Correction der Sitz¬
haltung erfolgt mittelst elastischem spiralen Bindenzügel nach Lorenz, genau,
wie es Lorenz für die Technik des Detorsionscorsettes in Nr. 1 dieser Zeit¬
schrift angegeben.
Tausch hat namentlich bei beginnenden Scoliosen durch diesen Stuhl
bei eingehender allgemeiner Gymnastik und Massage Gutes erzielt. Bei Sco¬
liosen höheren Grades schickt er die Mobilisirung der Wirbelsäule voraus.
Von Corsetten ist Tausch etwas abgekommen, am meisten ist er noch mit
der Wirkung der Detorsionscorsetten und den Lorenz'sehen Seitenzugcorsetten
zufrieden gewesen. Rosenfeld-Nürnberg.
E. Lövinson, Die Frühdiagnose der habituellen Scoliose. AerztL Rundschau
1893, Nr. 9.
Die für den praktischen Arzt geschriebenen Ausführungen heben die
NothWendigkeit exacter Untersuchungen hervor, die Bedeutung der frühzeitigen
Diagnose für die Prognose und bringen die wesentlichen Gesichtspunkte bei
der Untersuchung, ohne wesentlich Neues hinzuzufügen.
Rosenfeld - Nürnberg.
Schukelt (Schmiedeberg), Ueber die Behandlung der Kniegelenkscontracturen
mittelst Gewichtszug. Aerztl. Praktiker. 1892, Nr. 50.
Für veraltete Kniegelenkscontracturen, in welchen längere Zeit fort¬
gesetzte Anwendung bekannter Kniestreckmaschinen, sowie Streckungsversudie
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Referate.
451
in der Narcose nicht zum Ziele führten, hat Verfasser einen Apparat construirt,
der den permanenten Gewichtszug nach Schede in bequemer Form dar¬
stellt und von Windler in Berlin zu beziehen ist. Als Vorzug rühmt Ver¬
fasser das Freibleiben der Extremität für andere therapeutische Maassnahmeu.
R 0 s e n f e 1 d - Nürnberg.
E. O. Samt er, Ueber die Bedeutung der osteoplastischen Resection des Fusses
nach Wladimirow-Mikulicz als orthopädischer Operation.
Die bis vor Kurzem meist als möglichst conservirender Eingriff vorge¬
nommene osteoplastische Resection des Fusses nach Wladimirow-Mikulicz
ist neuerdings von Mikulicz und Samt er als orthopädische Operation aus¬
geführt worden in je einem Fall — Fälle, in welchen neben Deformitäten
des Fusses Verkürzung der Extremität bestand. Es kam demnach nicht bloss
darauf an, eine brauchbare Gehfläche zu schaffen, sondern auch das Bein mög¬
lichst zu verlängern. Zur Zeit der Operation waren die Bruns’schen Fälle
noch nicht bekannt.
Der erste Fall betraf eine 16jährige Patientin mit Pes calcaneus nach
einer Fussgelenksentzündung, nachdem eine Osteotomie in der Höhe des Sprung¬
gelenkes nicht zum Ziel geführt hatte. Es wurde ein Horizontal schnitt um die
halbe hintere Circumferenz des Unterschenkels dicht über den Malleolen ge¬
führt, von den Endpunkten ein Steigbügelschnitt quer durch die Ferse — beide
Schnitte bis auf den Knochen. Dann wurde Calcaneus und Talus in der Rich¬
tung des Steigbügelschnittes durchgesägt, ebenso die Malleolen entsprechend
dem Horizontalschnitt. Nach Durchtrennung der unnachgiebigen Dorsalsehnen
lassen sich die Sägeflächen in typischer Weise adaptiren. Knochennaht mit
Silberdraht. Es erfolgte, wenn auch langsam, eine vollkommene Consolidation;
die durch die Operation geschaffene Verlängerung des Beines betrug 7 cm.
Patientin konnte schon 5 Monate nach der Operation mittelst ihres Schuhes das
Bein gut belasten und ohne Stock gehen.
Der 2. (von Samt er) operirte Fall betraf einen 22jährigen Mann mit
Pes varus paralyticus. Es war der Operation 14 Tage vorher wegen Schlotter¬
gelenkes das Kniegelenk resecirt worden. Die Operation selbst unterschied
sich von dem ersten Fall nur durch die vollständige Exstirpation des im Sinne
der Klumpfussstellung dislocirten Talus. Die erreichte Verlängerung betrug
11 cm; die Function war V/a Jahre nach der Operation eine sehr zufrieden¬
stellende. Rosenfeld - Nürnberg.
R. H. Sayre, The Treatment of neglected cases of Rotatory lateral Curvature
of the Spine. 18. März 1893. New York med. Journal.
Lebhafte Empfehlung des Gypscorsetts. Hoffa-Würzburg.
Dr. Albert Hoffa, Die ambulante Behandlung der tuberculösen Hüftgelenks¬
entzündung mittelst portativer Apparate. (Kiel und Leipzig. Lipsius
und Tischer 1893.)
H 0 f f a ’s neueste Arbeit, die wiederum ein Zeugniss von dem immensen
Fleiss des Verfassers abgibt, beschäftigt sich mit dem dankbaren Thema der
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452
Referate.
mechanischen ambulanten Behandlung der Coxitis. — Nach der , Sturm- und
Drangperiode*, in der alle Coxitisfllle resecirt wurden, „in ein ruhigeres Fahr¬
wasser eingelenkt*, steht jetzt die Chirurgie gegenüber den Gelenktoberculosen
überhaupt auf einem möglichst conservativen Standpunkt. Liefert schon die
Behandlung mit Jodoforminjectionen bei ausgeprägter Erkrankung überraschende
Resultate, so erhofft Verfasser noch bessere Erfolge von der auf alle begin¬
nenden Gelenktuberculosen ausgedehnten localen Therapie durch Combina-
tion von Injectionen mit der mechanischen Behandlung. — Da vollständige
Ruhe des Gelenkes, das Femhalten jedes Reizes ihm eine unerlässliche Forde¬
rung erscheint, so handelt es sich darum, die Gelenke zu immobilisiren
und zu entlasten, in weiterer Feme auch permanent zu extendiren.
Allerdings wird durch die Extension direct keine Distraction der Gelenk¬
enden erzeugt, aber dieselbe wirkt an und für sich schon als gute Fixation,
wenn sie in richtiger Weise angewendet wird, und worauf Hoffa das Haupt¬
gewicht legt, antispasmodisch durch specifische Beeinflussung der reflectori-
schen Muskelspasmen, welche eine gegenseitige Pressung der Gelenkflächen be¬
dingen. Ferner ist auch die orthopädische Heilwirkung der Extensionsbehand¬
lung nicht zu unterschätzen. Diese Momente bestimmen Hoffa, auf der
Anwendung der Extension neben Immobilisation und Fixation des Gelenkes zu
bestehen.
Selbstverständlich sollen diese therapeutischen Maassregeln in ambu¬
lanter Weise vorgenommen werden, um den Patienten Aufenthalt und Be¬
wegung in frischer Luft zu ermöglichen, da ja die allgemeine hygienische Be¬
handlung ebenso wichtig ist als die locale des erkrankten Gelenkes. Daher
liegt der Schwerpunkt einer rationellen Therapie der Coxitis in der Anwendung
richtig wirkender portativer Apparate.
In eingehenderer Weise, als es Lorenz in seiner jüngsten Arbeit gethan,
bespricht Hoffa die Bestrebungen und Erfolge der einzelnen bisher ange¬
wendeten ambulanten Behandlungsmethoden, die er nach Ländern geordnet
hat, um auf diese Weise zugleich ein anschauliches Bild von dem jeweiligen
Stande der Coxitistherapie in den verschiedenen Ländern zu entwickeln. —
Ein längerer Aufenthalt in Amerika, der „Wiege“ der ambulanten Coxitis-
behandlung, gab Hoffa Gelegenheit, neben der Anwendungsweise verschiedener
Apparate auch zugleich ihre Heilerfolge zu controlliren. Hierbei gefiel ihm
neben vorzüglichen Resultaten der Behandlung mit der Phelps’schen Schiene,
die leider etwas complicirt, schwer und theuer, die einfachere und billige
Schiene von Thomas in der Lovett'sehen Abänderung, da sie neben einer
exacten Fixation und Entlastung auch richtige Extension ermöglicht und zu¬
gleich Adductions- und Flexionsstellung zu reguliren vermag. Hoffa hat diese
Thomas-Lovett’sche Schiene noch vielfach verbessert, wofür er genaue
Beschreibung und Abbildungen liefert, so dass er sie jetzt auf das wärmste
empfehlen kann. Sie ist zugleich auch für den Patienten ungemein bequemer
als die allerdings noch einfachere Methode von Lorenz. Als das Allervoll¬
kommenste jedoch gelten Hoffa die Schienenliülsenapparate nach Hessing.
Im Gegensatz zu B i 11 r o t h, der sich unlängst absprechend über sie geäussert
hatte, hebt Hoffa die grosse Leistungsfähigkeit dieser Apparate hervor, welche,
wie überall, so auch für die ambulante Coxitisbehandlung allen Ansprüchen
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Google
Referate.
453
vollauf gerecht zu werden vermögen. Mit der grösstmöglichen Bequemlichkeit
verbinden sie die absolute Sicherheit der Fixation, genügende Entlastung und
Extenaion, ohne die Beweglichkeit eines anderen als des Hüftgelenkes zu be¬
schränken. Wo nicht Bedenken wegen des immerhin hohen Eostenpreises die
Anschaffung ausschliessen, räth Hoffa unbedingt dazu und kommt, um die
weitere Verbreitung zu ermöglichen, auch hier wieder zu der Forderung, dass
neben orthopädischen Polikliniken mechanische Werkstätten, wie eine an seiner
Klinik besteht, zu errichten seien, wo derartige vollkommene Apparate herzu¬
stellen gelehrt wird.
Nachdem Verfasser noch die vorzügliche (von Referent bereits bespro¬
chene) Arbeit von Lorenz ausführlich kritisirt und den Nachweis gebracht hat,
um wie viel sicherer und besser die Resultate der jetzigen Coxitisbehandlung
gegenüber den früheren Erfolgen sind, stellt er die berechtigte Forderung auf,
dass es die Pflicht eines jeden Arztes ist, seinen Coxitis-Patienten die Wohl-
thaten dieser rationellen ambulanten Behandlung zukommen zu lassen. Ver«
fasser gibt hierfür am Schlüsse seiner Arbeit noch für die einzelnen Stadien
und Complicationen der Coxitis eingehende und schätzenswerthe Voi-schriften
in gewohnter klarer und übersichtlicher Weise an. T a u s c h - München.
J. Meller, Ein Fall von angeborener Spaltbildung der Hände und Füsse.
Berliner klin. Wochenschr. 1893, Nr. 10 S. 232.
Meller beobachtete bei einem 23jährigen Taubstummen eine mit Syn-
dactylie und Ectrodactylie combinirte Spaltbildung an beiden Händen und
Füssen. Beiderseits fehlt an der Hand der Mittelfinger und der demselben ent¬
sprechende Mittelhandknochen; an beiden Füssen fehlen die drei mittleren
Zehen und die drei entsprechenden Mittelfussknochen. Da eine häutige Ueber-
brückung zwischen 2. und 4. Mittelhandknochen, resp. 1. und 5. Mittelfass¬
knochen nicht vorhanden ist, entsteht ein Spaltraum, der an den Händen durch
die Mittelhand hindurch bis zur Handwurzel, an den Füssen durch den Mittel-
fuss hindurch bis zur Fusswurzel reicht. Die die Spalte begrenzenden Meta-
carpal- resp. Metatarsalknochen stehen an ihrer Basis spitzwinklig zu einander;
Patient ist im Stande, an der Hand durch Abduction und Adduction beider
Theile die Spalte willkürlich zu vergrössem und zu verkleinern; am Fuss sind
die Metatarsalknochen spitzwinklig mit einander verwachsen und deshalb un¬
beweglich. Die Endglieder der kleinen Zehen sind hakenförmig nach innen
verbogen. An der linken Hand ist ausserdem der Daumen im Verlaufe der
gleichen Phalanx mit dem Zeigefinger und an der rechten Hand der kleine
Finger theilweise mit dem Ringfinger verwachsen. Die Beweglichkeit der Finger
und Hände, der Zehen und des Fusses ist völlig normal. Patient kann schreiben,
stricken, nähen, auch zeigt sein Gang trotz der Deformität der Füsse kaum
etwas Auffälliges. G. Joachimsthal-Berlin.
Melde, Anatomische Untersuchung eines Kindes mit beiderseitigem Defect der
Tibia und Polydactylie an Händen und Füssen. Inaugural-Dissertation.
Marburg 1892.
Melde bringt die ausführliche Beschreibung eines Kindes mit Abnormi¬
täten an allen vier Extremitäten; da das Kind bald starb, hatte er Gelegenheit,
eine genaue anatomische Untersuchung vorzunehmen.
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454
Referate.
An den Unterschenkeln fäUt besonders anf, dass nnr ein Knochen, and
zwar die Fibula, vorhanden ist. Oben articulirt sie mit dem Condylos extemns,
unten mit dem Talus. Der innere Knöchel fehlt demgemäss. An fänf aas-
gebildeten und einem rudimentären Metatarsus sitzen rechts 7 Zehen, 1 und 3
etwas kürzer als die übrigen. 3 am rudimentären Metatarsus und 1 erweisen
sich bei näherer Betrachtung als die überzähligen. Zwischen ihnen liegt also
die der grossen Zehe entsprechende. Alle Zehen ausser 1 haben 3 Phalangen.
Links sind 7 Metatarsi vorhanden^ 1 und 3 schwächer. Daran schliessen sich
7 Zehen, ebenfalls 1 und 3 kleiner und nur aus 2 Phalangen bestehend, wäh¬
rend die anderen wieder aus je 3 bestehen. Durch Betrachtung der Muskel¬
ansätze ergibt sich, dass auf beiden Seiten eine mehr und weniger vollständige
Dreitheilung des Hallux vorliegt. Bei der Präparation der Muskeln und Nerven
ergaben sich auch allerlei Abweichungen.
Die Arme zeigen zunächst am Humerus einen Emochenvorsprung zwi¬
schen den beiden Condylen auf der Volarseite^ welcher die Beugung des Vorder¬
arms bei etwa iVs R- hemmt. Weiter sind die Daumen ebenfalls getheilt,
jedoch so, dass die getrennten Knochen, doppelte Metacarpi und wieder je
3 Phalangen durch eine Art Schwimmhaut zusammengehalten sind. Die Muskel-
anordnung weist, wie an den Unterschenkeln, Unregelmässigkeiten auf.
In der Literatur konnte Melde 13 Fälle von Tibiadefect auffinden, und
zwar 8 partielle, darunter 6 mit der Anlage an normaler Stelle und 2 mit ver¬
lagerter Tibia nach der Aussenseite, totale 5.
Die Aetiologie ist ganz unklar. Hier und da gefundene Einschnürungen
durch das Amnion weisen darauf hin, dass dieses vielleicht durch Raumbeengung
Schuld trägt an der Entwickelungshemmung. Möhring-Würzburg.
Spörri, Ueber die congenitale Luxation des Kniegelenks. Inaugural-Disser-
tation. Zürich.
Die angeborene Kniegelenksverrenkung ist die seltenste von allen an¬
geborenen Verrenkungen. Auf 97 andere kommt erst eine solche. Sie kann
einseitig und doppelseitig, total und partiell sein.
Verf. hat 52 Fälle aus der Literatur zusammengestellt, denen er 2 ans
der Klinik von Krönlein hinzufügen konnte. 34 davon sind einseitig, 20
doppelseitig, bei 46 ist die Dislocation nach vom.
Die Ursache scheint die Lagerung des Kindes im Uterus und ein ab¬
normer Druck zu sein. Bei einem der Fälle Spörri’s war Spina bifida mit
Paralyse der Beine vorhanden, wodurch sicher die Entstehung begünstigt wird.
Symptomatik und Diagnose bieten nichts Besonderes.
Die Prognose ist bei einseitiger Luxation günstig, während die doppel¬
seitige meist bei lebensunfähigen oder sonst verkrüppelten Kindern vorkommt,
also kaum Veranlassung zu therapeutischen Massnahmen bietet.
Die Behandlung hat in Redression, Fixirung, Gymnastik und Massage zu
bestehen. Möhring-W ürzburg.
Redard, Sur une deformation rare du poignet. Extrait des Archives gene¬
rales de medicine. December 1892.
Zu den wenigen bekannten Fällen von abnormem Wachsthum der unteren
Enden der Vorderarmknochen fügt Redard einen neuen. Ein gesundes, sonst
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Referate.
455
vohlgebaates l^jähriges Mädchen bemerkte nach einem Falle auf das linke
Handgelenk, dass allmählich beide Handgelenke dicker wurden. Zugleich traten
bei gewissen Bewegungen Schmerzen auf, welche sie schliesslich arbeitsunfähig
machten. Die Untersuchung ergab abnorme Grösse der unteren Enden des
Radius und der Ulna, welche zu einer Subluxation der Hand, zu einer Art
Bajonnetstellung nach der Yolarseite, geführt hat. Bewegungen sind schmerz¬
haft, besonder Rollen im Handgelenk. Ausserdem treten anfallsweise nicht
bestimmt localisirte Schmerzen auf, wobei die Deformität zunimmt.
Das elektrische Verhalten der Muskeln, sowie die HautsensibilitAt ist
normal.
Die Behandlung bestand in Ruhigstellung, schwacher Galvanisirung der
Muskeln und möglichster Reduction und Fixirung in der erreichten Stellung.
Innerlich wurde bei heftigen Schmerzanföllen einige Male Methylen-ChlorÜr
gegeben.
Der Erfolg war Stillstand des abnormen Wachsthums und Auf hören der
Schmerzen, so dass Patientin wieder leichte Arbeit verrichten konnte.
Ein Ueberblick Über die wenigen Fälle dieser Art ergibt, dass das Leiden
das jugendliche Alter zur Zeit des Hauptknochenwachsthums bis zum 24. Jahre
etwa befällt. 8mal war das weibliche, 4mal das männliche Geschlecht betroffen.
Eine directe Ursache ist nicht aufzufinden. Als Gelegenheitsursache
kann berufsmässige Ueberanstrengung des Handgelenkes gelten. Es ist Muskel¬
wirkung, Nervenerkrankung, chronische Knochenentzündung, Spätrachitis als
Ursache genannt worden. Verf. ist dagegen der Ansicht, dass eine Wachs¬
thums- und Functionsstörung der Epiphysenknorpel am Vorderarm vorliegt,
welcher auf oft wiederholte Reize hin hypertrophirt.
Die Diagnose begegnet keinen Schwierigkeiten.
Die Prognose ist insofern günstig, als zur Zeit des Aufhörens des Knochen¬
wachsthums auch dies krankhafte Wachsthum auf hört und höhere Grade der
Deformität höchst selten erreicht werden.
Ruhigstellung wirkt günstig ein, geschickt angebrachte Bandagen können
eine Besserung der Deformität bewirken. In Fällen heftiger Schmerzen oder
excessiver Missstaltung kommt die Osteotomie oder Resection in Frage.
M ö h r i n g - Würzburg.
R e d a r d, Contribution ä l’etude des contractures congenitales. Congres fran^ais
de Chirurgie. Paris 1892.
Re dar d hatte Gelegenheit, 2 Fälle von angeborenen Contracturen zu
beobachten, ln der Literatur sind im ganzen nur 7 Fälle ähnlicher Art er¬
wähnt. Der eine Fall Redard’s ist besonders interessant, da er von der Ge¬
burt bis zum 4. Lebensjahre behandelt wurde und ein sehr gutes Resultat er¬
zielt worden ist. Nach der Geburt (Steisslage) machte das Kind den Eindruck
einer Holzpuppe, so unbeweglich war es fast in allen Gelenken. Die Gelenke
an Armen und Beinen waren theils in Streckstellung, theils leicht gebeugt
fixirt, die Finger krallenförmig zusammengezogen. Die Füsse standen beiderseits
in Equinovarusstellung. Einige Gelenke sind in ganz geringem Maasse beweg¬
lich. Alle übrigen Functionen des Körpers sind ungestört.
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456
Referate.
Unter 4 Jahre lang fortgesetzter manueller Redression, passiven Bewe¬
gungen, Massage, Elektrisiren, dazwischen Tenotomie der Achillessehnen ist
erreicht worden, dass die Hauptgelenke mobil geworden sind. Das Kind kann
ohne Beschwerden gehen und seine Händchen gut gebrauchen. Einzelne Muskel¬
partien sind trotz aller Behandlung atrophirt.
Das andere Kind, mit 7Vs Jahren zur Beobachtung gelangt, leidet an
Contracturen der Beine. Bei doppelseitiger Equinovarusstellung der sehr atro¬
phischen Beine bestehen Beugecontracturen im Knie- und Hüftgelenk. Gehen
und Stehen ist natürlich unmöglich. Da die Muskeln nur theilweise entartet
sind, so hofft Verf. durch entsprechende Behandlung auch hier Besserung zu
erzielen.
Nach diesen Beobachtungen glaubt Re dar d annehmen zu dürfen, dass
die Ursache der Erkrankung in den Muskeln zu suchen ist und weder das
Nervensystem noch die Gelenke selbst anzuschuldigen sind. Durch fehlerhafte
Haltung im Uterus bilden sich wie auch sonst die Contracturen aus. Dass die
Gelenke nicht ankylotisch sind, zeigt der Erfolg der Behandlung — höchstens
sind einige Deformitäten der Gelenktheile vorhanden.
M ö h r i n g - Würzburg.
H. Timm er. Een geval van Luxatio congenita van het kniegewricht. —
Weekblad van het Nederlandsch Tijdschrift voor Geneeskunde 1892, Nr. 21.
Timmer beschreibt einen Fall von Luxatio congenita im Kniegelenke,
den er bei einem Mädchen von 15 Tagen zu beobachten Gelegenheit hatte.
Das kranke Beinchen konnte nicht flectirt werden, in der Kniekehle sah man
den Femur prominiren, und konnte man die Condylen fühlen, wie an der Vorder¬
seite den Tibiakopf und die bewegliche Patella. Am rechten Kniegelenke waren
in geringerem Maasse die gleichen Abweichungen vorhanden. Der rechte Fuss
war ein ty^jischer Pes valgo-calcaneus.
Es sind schon 29 Fälle von diesen Luxationen beschrieben; dieser Fall
ist also der 30. Die Ursache sucht Timmer in abnormer Lagerung in utero.
Der Partus war normal. Es war viel Fruchtwasser abgegangen, als das
Kind in der Scheitellage mit gegen die Brust aufgeschlagenen Beinchen ge¬
boren wurde.
Wahrscheinlich waren die Beinchen während der letzten Monate der
Schwangerschaft so gelagert und durch permanenten Druck der Uteruswand
die Deformität entstanden.
Timmer trat denn auch der Meinung Wolf Ts entgegen, dass die Ur¬
sache von dergleichen Luxationen in primärer Kapselerweiterung zu suchen sein
sollte — es gibt wahrscheinlich Fälle, die hieraus entstanden sind, aber man
kann nicht alle Fälle hieraus erklären. Weiter hebt Timmer noch hervor,
dass der Name Luxatio genu eigentlich nicht genau ist, und meint, dass es
besser sein sollte, in diesen Fällen von Genu recurvatum congenitum zu sprechen.
Die Therapie bestand in manuellem Redressement; ein Contentivverband war
nicht nöthig, und nach 2 Monaten war die Deformität schon grösstentheils auf¬
gehoben.
C. B. T i 1 a n u 8 - Amsterdam.
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Referate.
457
AIbers, Ein Fall von Polydactylie. Berliner klin. Wochenschrift 1893, Nr. 10
S. 230.
Alb er 8* Patient, ein 22jähriger Arbeiter, zeigte an jeder Hand sechs
Finger, und zwar an der linken Seite zunächst zwei völlig ausgebildete Daumen,
einen stärker entwickelten ulnaren und einen schwächeren radialen. Beide
sassen unter einem Winkel von 70® divergirend an einem gemeinsamen, sehr
kräftig entwickelten Metacarpus fest, welcher ein breites, dachförmig ab¬
geschrägtes Köpfchen und etwa die zweifache Dicke des entsprechenden Knochens
der rechten Hand hatte. Jeder Daumen bestand aus zwei Phalangen, der ulnare
hatte einen breiten flachen, der radiale einen schmäleren und stärker gewölbten
Nagel; beide Daumen waren von gleicher Länge und in der Weise um ihre
Längsachse rotirt, dass der ulnare mehr als normal von seiner Streckseite dem
Dorsum der Hand zuwandte, der radiale mehr von seiner Beugeseite der Vola
zukehrte. Die Interphalangealgelenke konnten activ und passiv gebeugt und
gestreckt werden. In den Metacarpo-Phalangealgelenken waren passiv ausser
Flexion und Extension noch Adductionsbewegungen in dem Sinne möglich, dass
die einander zugekehrten Seiten beider Daumen sich berührten. Activ war diese
Bewegung, an der sich beide Daumen gleichmässig betheiligten, nicht ausführ¬
bar, die active Beweglichkeit der Metacarpo-Phalangealgelenke beschränkte sich
vielmehr auf Beugung und Streckung, die stets nur gemeinsam möglich war, —
wurde der eine Daumen fixirt, so gelangen diese Bewegungen mit dem anderen
nicht. Bei der Arbeit wurde gewöhnlich der kräftige ulnare Daumen gebraucht,
welcher beim Greifen ausschliesslich zur Action kam. Dabei hinderte häufig
der radiale, indem derselbe beabsichtigte Bewegungen durch Anstossen hinderte.
An der rechten Hand war der Daumen im Interphalangealgelenk recht¬
winklig gebeugt; das Nagelglied war dabei so um seine Längsachse gedreht,
dass die Nagelseite sich fast ganz dem Dorsum der Hand zuwandte. Activ
konnte diese Stellung nicht geändert werden, passiv gelang die Streckung bis
zu einem Winkel von ca. 120®. Beugung und Streckung des Daumens waren
sonst passiv wie activ nur im Metacarpo-Phalangealgelenk ausführbar. Ausser
dieser Abnormität des Daumens hatte Patient an der rechten Hand noch einen
sechsten dreigliedrigen Finger, der zwischen Daumen und Zeigefinger eingeschaltet
war. Das Gelenk zwischen Nagel- und Mittelglied war an diesem Finger, der
in seiner Grösse etwas hinter dem fünften zurückblieb, nur sehr wenig, das
folgende etwas ausgiebiger beweglich. Die Grundphalanx war mit einem
ca. 2 cm langen Metacai-pus durch ein Gelenk verbunden, welches hinsichtlich
seiner freien Beweglichkeit durchaus den Metacarpo-Phalangealgelenken der
dreigliedrigen Finger glich. Dieser Metacarpus liess sich in den Weichtheilen
leicht hin- und herdrehen und hing mit der Handwurzel nicht fest zusammen.
Activ konnte dieser Finger gar nicht bewegt werden, scheinbare Bewegungen
wurden ihm nur mitgetheilt durch Verziehen der Weichtheile beim Oeffnen
und Schliessen der Hand, bei Adduction und Abduction des Daumens u. dgl.
Dieser überzählige Finger war dem Patienten bei jeder Bewegung hinderlich;
er wurde daher an seiner Basis wie bei einer typischen Fingerexarticulation
mittelst Ovalärschnitt Umschnitten und dann mit seinem Metacarpus aus den
zwischen Daumen und Zeigefinger gelegenen W^eichtheilen der Mittelhand aus-
gelöst. An der linken Hand wurde der radiale Daumen nahe am Metacai’po-
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458
Referate.
Phalangealgelenke amputirt; die Amputation wurde gewählt, um die Eröffnung
des Metacarpalgelenkes zu umgehen, dessen Yerhältniss zu beiden Daumen
nicht latent war, und um den anderen Daumen die seitliche Stutze nicht gänz¬
lich zu nehmen. Die Function der Hände ist nach diesen Operationen eine
erheblich bessere geworden. G. Joachimsthal-Berlin.
Felix Opfer, Ueber einen Fall von totalem Defect der oberen Extremitäten.
Deutsche medic. Wochenschr. 1892, Nr. 48 S. 1085.
Opfer beobachtete bei einem 14 Jahre alten Kinde einen angeborenen
Mangel der oberen Extremitäten. Statt dieser findet sich an der
linken Schulter nur ein kleiner Stumpf von etwa 5 cm Länge mit einem feinen
röhrenförmigen Knochen in seinem Inneren, während die rechte Schulter fast
vollkommen abgerundet ist und in der Mitte der Wölbung ein kleines Grübchen
trägt. Schulterblätter und Schlüsselbeine sind beiderseits vollkommen vorhanden
und lassen keine Abweichung von der Norm erkennen; die Schulterblattmuskeln,
ebenso der Pectoralis major und minor und Latissimus dorsi sind vollständig
ausgebildet.
Am Thorax ist eine ganz enorme Verkrümmung der Wirbelsäule be-
merkenswerth; es handelt sich um eine Kyphoskoliose nach der rechten Seite
allerhöchsten Grades. Das Becken wie die unteren Extremitäten sind normal
gebildet; durch die dauernde Uebung der letzteren hat sich sogar eine fast
übermässige Beweglichkeit in den Hüfb- und Kniegelenken, sowie eine sehr
kräftige Musculatur entwickelt.
Recht interessant ist das Verhalten der Zehen, indem sie nicht nur alle
erheblich länger als gewöhnlich sind, sondern die grossen Zehen allmählich die
Fähigkeit einer geringen Oppositionsstellung erlangt haben.
Durch dauernde Uebung hat die Patientin gelernt, ihre Fusse zu allen
Verrichtungen des täglichen Lebens wie zu gewissen Kunstleistungen zu ge¬
brauchen. Sie vermag nicht nur beim Essen mit den Zehen Löffel, Gabel und
Messer zu halten, sie kann auch feine Nadeln einfädeln, sticken, schreiben,
eine Violine spielen u. dgl. m. Trotz des Mangels der oberen Extremitäten
fühlt sie sich also ebenso wenig benachtheiligt wie andere normal entwickelte
Kinder. G. Jo ach imsthal-Berlin.
Eugen Tschudi, Ein Fall von angeborener vollständiger Verwachsung aller
fünf Finger. Deutsche Zeitschr. f. Chir. 1893, Bd. 35 S. 567.
Tschudi beobachtete bei einem 4 Monate alten Kinde neben Spalt¬
bildung der Uvula und cu bischer Schädelbildung vollständige Verschmelzung
sämmtlicher Finger an beiden Händen und zwar so, dass die vier dreigliedrigen
Finger eine einzige Platte bildeten, während der mit derselben in seiner ganzen
Länge verwachsene Daumen sich wenigstens durch eine oberflächliche Haut¬
furche von den übrigen Fingern abgrenzte. Die Nägel aller fünf Finger waren
an beiden Händen zu einer Hornmasse verschmolzen, welche entsprechend dem
Daumen und dem kleinen Finger eine Einsenkung zeigte, so dass sich die
Nägel dieser beiden Finger dadurch abgrenzten. Beide Hände waren um ihre
volare Fläche gekrümmt, ähnlich wie die des Geburtshelfers bei Einführung der
ganzen Hand. Eine Beweglichkeit der Fingergelenke war nicht vorhanden.
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Sämmtliche Zehen beider Füsse waren bis zu der Spitze schwimmfassartig
mit einander verwachsen, im übrigen gut ausgebildet und mässig beweglich.
Zunächst wurde an der linken Hand der Daumen von seiner Spitze bis
znm Metacarpophalangealgelenk durch einen durch die ganze Dicke der Hand¬
platte gehenden Schnitt abgetrennt, dann wurden die volaren und dorsalen
Hautwundränder am Daumen sowohl als an der Handplatte beweglich gemacht.
So gelang es, dieselben an der Radialseite des Zeigefingers vollständig durch
die Naht zu vereinigen; auch am Daumen war dies zum Theil möglich; einzig
an der Basis blieb ein über fünfcentimesstückgrosser Defect, auf den ein von
der Rückfläche des Daumens entnommener kleiner Hautlappen transplantirt
wurde. Dasselbe Verfahren wurde an der rechten Hand geübt. Da hier die
Naht der Hautwundränder am Daumen nicht möglich war, wurde die Wund¬
fläche durch Transplantationen nach Thier sch geschlossen. Es erschien da¬
nach noch in hohem Grade wönschenswerth, durch Loslösung auch des kleinen
Fingers eine weitere Verbesserung der Gebrauchsfähigkeit der Hand herbeizu¬
führen. Zu diesem Behufe wurde auf der Dorsalscite der Hand, zunächst links,
später auch rechts, ein der Länge des kleinen Fingers und dessen doppelter
Breite entsprechender Hautlappen Umschnitten und bis zu der dem Radialrande
des kleinen Fingers entsprechenden Linie hin losgelöst. Dann wurde der kleine
Finger selbst, dessen Knochen vollständig ausgebildet und nicht mit den anderen
Fingern verwachsen waren, bis zum Metacarpophalangealgelenk hin abgetrennt.
Den Hautlappen schlug man dann um den Radialrand des kleinen Fingers
herum, vernähte ihn mit dem volaren Wundrande und deckte die Wundfläche
an der Handplatte durch Thiersch’sche Transplantationen. Bei der Entlassung
benutzte Patientin rechts die Klammer zwischen kleinem Finger und Handplatte
zum Fassen kleiner Gegenstände, während sie links im Stande war, einen ihr
vorgehaltenen Bleistift zwischen Daumen und Handplatte zu fassen und längere
Zeit festzuhalten. Hoffa-Würzburg.
Alfred W. Hughes, Die Drehbewegungen der menschlichen Wirbelsäule und
die sogenannten Musculi rotatores. Archiv für Anat. u. Physiol. 1892,
S. 265 Heft III u. IV.
Unter Berücksichtigung ier Beobachtungen E. H. Weber’s und des
Physiologen Volkmann über die Drehbeweglichkeit der einzelnen Wirbel¬
säulenabschnitte erschien es Hughes wünschenswerth, neue Messungen und
zwar am Cadaver anzustellen, und dieselben, was bisher noch nicht geschehen
war, auf die einzelnen Wirbel auszudehnen. Benutzt wurde einmal die Wirbel¬
säule eines frischen Cadavers (40jähriger Mann), die von den Rippen, welche
in einer Entfernung von 5 cm von der Wirbelsäule abgesägt wurden, freigemacht
wurde. Nach sicherer Fixirung des Beckens durch Schrauben, und nachdem in
die Längsachse der Halswirbelsäule locker ein Metallstab eingebracht war, wurde
die Wirbelsäule in horizontaler Richtung ausgespannt erhalten, so dass ihre Lage
möglichst der mittleren Haltung bei aufrechter Stellung des Körpers entsprach.
Durch den ersten Brustwirbel wurde senkrecht zu der Längsachse ein starker
Stahlstab hindurchgetrieben, an dessen Ende starke Fäden angebracht waren,
welche durch Oesen am Fussboden liefen und es gestatteten, die Wirbelsäule
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Referate.
in den extremen Drehetellungen zu fixiren. Die Drehung wurde mit den Händen
80 kräftig wie möglich ausgefährt. Durch jeden Wirbelkörper ward nun eine
leichte Hohlnadel in frontaler Ebene senkrecht zur Längsachse hindurch getrieben,
und an jeder eine Pappscheibe sicher befestigt. An jeder Pappscheibe befand
sich wiederum ein Senkelfaden, welcher natürlich bei jeder Drehung der Wirbel¬
säule seine verticale Lage beibehielt und somit gestattete, den Drehungswinkel
zu messen, wobei aUerdings eine kleine Ungenauigkeit dadurch entsteht, dass
nicht alle Sagittalachsen der Wirbel horizontal liegen. Die zweite zu den
Me8.sungen verwandte Wirbelsäule, die noch mit dem Hinterhaupt versehen war,
stammte von einem 20jährigen muskelkräftigen Selbstmörder. Hier wurde der
Metallstab quer durch das Os occipitis hindurchgesteckt.
Es ergab sich zunächst eine grosse Verschiedenheit der Drehbeweglichkeit
an beiden Cadavem. Während bei der Wirbelsäule des älteren Mannes die
Gesammtdrehung von Rücken- und Lendentheil 63,25 ® betrug, erreichte sie bei
der Wirbelsäule des jungen Mannes die Höhe von 99,8®, trotzdem die Drehung
mit annähernd gleicher Kraft ausgeführt wurde. Aber bei beiden Messungen
zeigte sich in gleicher Weise, dass die Drehung der Lendenwirbel gegen einander
verschwindend gering war, während sie bei den Rückenwirbeln ziemlich hohe
Werthe zeigte. In beiden Fällen zeigten ferner die unteren Brustwirbel eine
geringere Drehung als die oberen, und ebenso ergab sich, dass in der Mitte
der Brustwirbelsäule eine relativ sehr grosse Drehung in Erscheinung trat. Die
grösste Beweglichkeit in Beziehung auf Drehung zeigte die Halswirbelsäule, die
leider nur bei der Wirbelsäule des jungen Mannes gemessen werden konnte.
Die Drehung des Atlas zum Epistropheus erreichte einen Werth von 105,7®.
Ausserdem war auch die Drehung des 5. zum 6. Halswirbel eine sehr beträcht¬
liche; sie erreichte die Höhe von 33,8®.
Im Grossen und Ganzen stimmen Hughes’ Befunde mit denen
E. H. Weber’s und Volkmann’s überein, die sie theilweise vervollständigen,
und ergeben folgende Resultate:
Die nonnale Lendenwirbelsäule besitzt keine Drehbeweglichkeit. Die
Werthmaasse sind so verschwindend kleine, dass sie für die Erscheinungen
während des Lebens nicht in Betracht gezogen werden können.
Die Brustwirbel dagegen sind bei normalen Verhältnissen gegen einander
drehbar, und zwar kann die Brustwirbelsäule als Ganzes eine Drehung aus¬
führen, welche mindestens die Hälfte eines rechten Winkels beträgt, vielleicht
in vielen Fällen diese Grösse noch übertrifFt. Die unteren Rückenwirbel zeigen
eine geringere Drehung als die oberen.
Durch besonders grosse Drehfähigkeit zeichnet sich die normale Hals¬
wirbelsäule aus.
In dem zweiten Theil seiner Arbeit weist Hughes nach, dass die
sogenannten Musculi rotatores am Lendentheil gar nichts zur Drehung beizn-
tragen vermögen. Dies ist nur im Rückentheile der Wirbelsäule möglich, wo
sie theilweise fast senkrecht zur Drehachse liegen, und auch am Halstbeile, da
hier eine in transversaler Richtung wirkende Componente vorhanden ist. Die
Wirkung dieser Muskeln besteht also im Lendentheil in einer reinen Extension,
im Rückentheil in einer reinen Rotation und am Halstheil in einer Rotation
combinirt mit einer Seitwärtsbeugung. Die Muskeln verdienen den Namen
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4G1
Rotatores also nicht in allen ihren Theilen. Aber auch für den Hals- und
Rückentheil empfiehlt sich diese functionelle Bezeichnung schon deshalb nicht,
weil die Drehung wesentlich von anderen Muskeln besorgt wird, die beträcht¬
lich stärker sind und weiter von der Drehungsachse entfernt liegen, als diese
relativ sehr schwachen Muskeln, für die Hughes als zusammenhängendes
System den Namen Submultifidus in Vorschlag bringt.
G. Joachimsthal-Berlin.
N. A. Ssokolow, Zur operativen Behandlung veralteter Luxationen im Ell¬
bogengelenk. St. Petersburger medic. Wochenschr. 1892, Nr. 11.
In den von Ssokolow mitgetheilten Fällen führte Tiling die Arthro-
tomie des Ellbogengelenks 7 Monate. 4 Monate, 2 Monate und 7 Wochen nach
der Luxation aus. Fast in allen Fällen erfolgte die Reposition leicht nach
Entfernung der gleichzeitig abgebrochenen Knochenstücke und nach Befreiung
der Gelenkenden von den Narbenmassen, doch gelang es in 2 Fällen nur dank
einer temporären Naht, die luxirten Knochen in noiinaler Stellung zu erhalten;
einmal musste man sogar die Arthrotomie wiederholen, da es nach der ersten
Operation wieder zur Luxation gekommen war. In einem Falle erzielte man
die besten Resultate, und auch in den Übrigen Fällen mehr weniger genügende
Bewegungsexcursionen statt der fast vollständigen Unbeweglichkeit vor der
Operation. Ho ffa-Würzburg.
Phocas, De l’orteil en marteau. Gaz. des höpitaux 1892, Nr. 114 p. 1073.
Phocas führte bei einem 12jährigen Mädchen zur Beseitigung der
Flexionscontractur der 2. Phalanx der 2. Zehe, die starke Beschwerden ver¬
ursachte, nach erfolgloser Schienenbehandlung mit günstigem Resultat einen
operativen Eingriff aus. Er entfernte ein kleines dorsales Hautstück, ent¬
sprechend der Verbindungsstelle der 1. und 2. Phalanx, exstirpirte den darunter
befindlichen Schleimbeutel, ebenso ein kleines Stück der Extensorensehne, die
hier eine knorpelharte Verdickung aufwies, und resecirte alsdann ein keil¬
förmiges, mit der Basis dem Dorsum zu gerichtetes Stück aus beiden das Ge¬
lenk zusammensetzenden Knochen. Das Gelenk wurde ankylotisch, und die
Beschwerden verschwanden. Ho ffa-Würzburg.
Eirmisson, Resection orthop4dique de la hanche pour luxation iliaque ancienne.
Bull, de la Society de chir. 1892, p. 208.
Der 19jährige Patient, über den Kirmisson berichtet, litt an einer seit
4 Jahren bestehenden Luxatio iliaca. Das Bein stand in Flexion und Adduction.
Die Verkürzung betrug in liegender Stellung 6 cm, vermehrte sich jedoch, wenn
der Kranke sich auf das luxirte Glied zu stützen versuchte, indem dann der
Kopf gegen die Crista ilei hinaufrückte, bis mindestens 15 cm, wobei der Kranke
sich nur durch Flexion der gesunden Seite aufrecht zu halten vermochte. Bei
der Eröffnung des Gelenks fand Kirmisson vor und hinter dem grossen
Trochanter zwei knöcherne Hervorragungen, von denen er die hintere mit dem
Osteotom entfernte, während er die vordere, die dem Femurkopf entsprach, in
die von dem sie ausfüllenden fibrösen Gewebe befreite Pfanne reponirte. Das
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Referate.
Resultat war, trotzdem der Verlauf nicht ganz aseptisch war, ein zufneden-
stellendes. Die Verkürzung von 6 cm bestand allerdings noch fort, doch war
die anormale Stellung des Beins corrigirt und die Neigung des Kopfes, gegen
die Crista ilei aufzusteigen, beseitigt. 8 Monate nach der Operation war der
Patient mit Hilfe einer erhöhten Sohle im Stande, frei herumzugehen.
H 0 f f a-Würzburg.
Michel Gangolphe, Nouveile minerve plätr^e. Lyon medical 1892, Nr. 7 p. 215.
Gangolphe empfiehlt für die Behandlung der Cervicalspondylitis eine
aus Gypsschienen hergestellte Minerva. Zwei aus mehrfach über einander ge¬
schichteten grobmaschigen Tarlatanstreifen hergestellte Gypsschienen werden in
Form eines T verbunden. Der horizontale Antheil desselben zeigt vom einen
geraden, hinten einen wenigstens in der Mitte leicht concaven Rand. Vom
befindet sich beiderseits in gleicher Entfernung von der Mittellinie ein Aus¬
schnitt für das Ohr, und zwar sind der vordere und hintere Rand dieses Aus¬
schnitts verlängert und bilden hier kleine Hervorragungen, die für den Arcus
zygomaticus und Processus mastoideus bestimmt sind. Die horizontale Schiene
wird mit ihrer Mitte auf die Stirn oberhalb der Augenbrauen aufgelegt, ihre
beiden Enden kreuzen sich im Nacken und gehen von hier auf die Brust, wo
sie sich abermals kreuzen, bis sie in der Gegend der falschen Rippen ihr Ende
erreichen. Der verticale Streifen geht von dem vorderen Rande des horizon¬
talen direct nach hinten, zieht in der Gegend des Nackens zwischen beiden
Enden der horizontalen Binde hindurch, tritt in den Interscapularraum und
endet in der Gegend der Spinae posteriores superiores. Seine Länge betragt
bei Erwachsenen im Durchschnitt 1 m, die des horizontalen Antheils ungefähr
180 cm. Die Breite wechselt ebenfalls zweckmässig für beide Theile der Minerva.
8 cm in der Mitte, 12 cm an den Enden genügen für die horizontale Binde,
die verticale hat in der Gegend des Nackens zweckmässig eine Breite von 10,
weiter unten eine solche von 15 cm. G. Joachimsthal-Berlin.
Maximilian Sternberg, üeber Behandlung und Diagnose der Osteomalacie.
Wien. klin. Wochenschr. 1892, Nr. 44—45 S. 634.
Sternberg berichtet über 3 Fälle von puerperaler, einen solchen von
seniler Osteomalacie, in denen bis zum Beginn der Phosphorbehandlung die
Krankheit progressiv zugenommen hatte. Bald nach der Verabreichung des
Medicaments (0,05:50 Ol. jecor. aselli täglich einen Kaffeelöffel) trat erheb¬
liche Besserung ein, die in den beiden ersten schwersten Fällen zur vollstän¬
digen Heilung führte. Bei der dritten Kranken trat Besserung ein; nachdem
die Phosphorbehandlung jedoch durch einfachen Leberthran ersetzt worden war,
ging diese wieder verloren; nach abermaliger Verabreichung des Phosphors sah
Sternberg wieder prompte und entschiedene Besserang. Bei der vierten
Kranken mit seniler Osteomalacie machte die Krankheit Monate lang Fort¬
schritte, ging dann unter Phosphorbehandlung ebenso stetig wieder zurück.
Bei der ersten Patientin trat bei einer neuerlichen Gravidität nur ein geringer
Nachschub ein, der die Frau nicht einmal in ihren häuslichen Arbeiten hinderte.
G« Joachimsthal-Berlin.
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Referate.
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E. Vincent, Contribution ä la Chirurgie rachidienne. Du drainage dans le
mal de Pott. Revue de Chirurgie 1892, Nr. 4 p. 273.
Vincent beschreibt in der vorliegenden Arbeit das von ihm in der Be¬
handlung der abscedirenden Brust- und Lendenwirbelspondylitis geübte Ver¬
fahren, um die Producte des tuberculösen Processes nach aussen zu befördern.
Das Vorgehen ist verschieden, je nachdem eine stärkere Kyphose besteht oder
nicht. Im ersteren Fall wird zum Zweck der Einleitung der prävertebralen oder
prämedullären Drainage zunächst ein 8—10 cm langer Schnitt längs des Aussen-
randes der im Sulcus paraspinosus gelegenen Musculatur durch die Haut geführt.
Auf diesen Längsschnitt folgt in der Ausdehnung von etwa 5 cm ein Querschnitt
im Verlauf desjenigen Zwischenrippenraums, der dem am meisten prominirenden
Theil des Gibbus entspricht. Es folgt, falls sich dieses als nothwendig erweist,
die Resection einer oder mehrerer Rippen, die Durchtrennung der Intercostal-
musculatur und die Verdrängung des Brustfells. Nachdem dies beiderseits ge¬
schehen, wird unter der Leitung des Fingers ein Drain durch den Erkrankungs-
heerd, der unter Zerstörung der Wirbelkörper zum Einknicken der Wirbelsäule
Veranlassung gegeben hat, geführt. Im zweiten Fall, in dem eine stärkere
Kyphose noch nicht eingetreten, der tuberculöse Process also noch zu keinem
stärkeren Zusammensinken der Wirbelkörper geführt hat, muss zum Zweck der
Drainage in dem Wirbelkör|)er selbst ein Kanal zur Aufnahme des Abflussrohrs
angelegt werden. Die Operation wird in der gleichen Weise wie diejenige zum
Zweck der prävertebralen Drainage begonnen. Nach Verdrängung der Pleura
dringt man, den fungösen Massen folgend, mit der Sonde in den Wirbelkörper,
in den mit Hilfe des scharfen Löffels zum Zweck der Aufnahme des auf der
anderen Seite hinauszuleitenden Drains ein Weg gebohrt wird.
Vincent hält die Ausführung dieser Operation für nicht allzu schwierig.
Die Verletzung des Rückenmarks, der Gefä.sse und der in der Nachbarschaft
der Wirbelsäule gelegenen lebenswichtigen Organe lä^st sich vermeiden, zumal
bei der Wirbelcaries Verdickungen der Meningen, der Bänder der Wirbelsäule
und Schwartenbildungen an dem parietalen Blatt der Pleura eintreten, die einen
Schutz für die Nachbarschaft bieten, wie er unter anderen Verhältnissen, so
bei Fracturen und Luxationen nicht besteht. Durch den Versuch an der Leiche
eines 75jährigen Mannes hat Vincent überdies durch Ausführung der verte¬
bralen Trepanation in Höbe des 5. und 6. Brustwirbels den Nachweis zu er¬
bringen vermocht, dass die genannte Operation selbst unter normalen Ver¬
hältnissen ohne Neben Verletzungen ausführbar ist. Vincent stellt weitere
Publicationen über sein Verfahren in Aussicht. G. J o ach im sthal-Berlin.
E. Kirmiss on, Compte rendu du Service chirurgical et orthopcdique des
Enfants-Assistes du 1®** decembre 1891 au decembre 1892. Revue
d’orthopedie 1893, Nr. 1 p. 1.
Kirmisson berichtet in der vorliegenden Arbeit über das 3. Jahr des
Bestehens der orthopädisch-chirurgischen Poliklinik am Höpital des Enfants-
Assistes. Die Frequenz derselben ist gegen das voraufgegangene Jahr von
677 Neuaufnahmen auf 730 gestiegen, so dass also, wie auch ein Vergleich mit
den beiden fiüheren Berichten des Verf. ergibt, diese von Kirmisson begrün-
Zeltschrlft für orthopädische Chirurgie. II. Baud.
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464
Referate.
dete Institution, von dessen vortrefflichen Einrichtungen sich Referent persön¬
lich zu überzeugen Gelegenheit hatte, mehr und mehr Aufnahme in Paris findet.
Auch in diesem Jahre war die Anzahl der Skoliotischen eine verhält-
nissmässig grosse. Unter den 141 an Rückgratsverkrummungen leidenden
Patienten waren 109 Mädchen und 32 Knaben. 90mal lag eine primäre Dorsal¬
skoliose, 64mal nach rechts, 26mal nach links convex vor. 20mal war eine
primäre Lumbalskoliose vorhanden; ihre Richtung war 15mal nach links und
nur 5mal nach rechts. 8 Skoliosen betrafen die gesamte Wirbelsäule. Ihre
Convexität richtete sich 7mal nach links, Imal nach rechts. In 13 Fällen war
Eirmisson in der Lage hereditäre Veranlagung nachzuweisen. In dem einen
Fall von Skoliose bestand gleichzeitig eine spinale Kinderlähmung an den
unteren Extremitäten, 24mal war gleichzeitig Plattfuss, 5mal Genu valgum,
Imal ein Genu recurvatum nachweisbar.
Torticollis kam 9mal zur Beobachtung, nur in 2 Fällen handelte es sich
um den angeborenen Schief hals, bei einem derselben wurde im Alter von
11 Jahren die offene Durchschneidung des Stemo-cleido-mastoideus vollführt.
Unter 44 Fällen von Pes equinus oder equinovarus waren 32 congenitaler,
12 paralytischer Natur, 21 waren doppelseitig. Meist kam Kirmisson mit
dem Redressement eventuell nach vorausgegangener Tenotomie der Achilles¬
sehne zum Ziel, 17mal an 11 Patienten wurde die Pbelps'sche Operation in
Anwendung gezogen; die Resultate waren im allgemeinen sehr zufriedenstellende.
Plattfuss kam 28mal, rhachitische Verkrümmungen der Unterschenkel
(eine lineare Osteotomie) 33mal, Genu valgum 35mal zur Beobachtung. Bei
letzterem wurde 4mal das Redressement, Imal die manuelle Osteoclasie und
3mal die supracondyläre Osteotomie in Anwendung gezogen.
Unter 19 Fällen von congenitaler Hüftluxation, die stets das weibliche
Geschlecht betraf, waren 6 doppelseitige. Kirmisson hat in seinem Hospital
im verflossenen Jahre die Hoffa’sche Operation 6raal vollführt. Leider erfolgte
bei einer Patientin, einem 12jährigen Mädchen mit doppelseitiger Verbildung,
nach der Operation der linken Seite, bei der sich der Reposition beträchtliche
Widerstände entgegensetzten und bei dem Versuche der Pfannenbildung eine
Splitterfractur entstand, nach 24 Stunden der Tod an Peritonitis. Kirmisson
schreibt die Schuld an'dem unglücklichen Ausfall dem für die Operation schon
zu weit vorgeschrittenen Alter des Kindes zu.
Coxitis war 4Imal Gegenstand der Behandlung, 23mal beim weiblichen,
18mal beim männlichen Geschlecht, 24mal links-, IGraal rechts-, Imal doppel¬
seitig. Spondylitis wurde bei 42 Patienten und zwar in gleicher Zahl bei beiden
Geschlechtern constatirt. 5mal sass das Uehel in der Cervicalregion, 17mal im
Dorsal-, 8mal im Dorsolumbal- und 8mal im Lumbaltheil der Wirbelsäule; 3mal
waren Abscesse vorhanden.
Die restirenden Fälle sind Gelenktuberculosen, Missbildungen u. dgl. m.
In der Ambulanz wurden im Laufe des Jahres 97 Operationen, sämmtlich ohne
üblen Zufall vollführt. Gleichzeitig wurden im Hospital 108 chirurgisch-ortho¬
pädische Operationen ausgeführt ; ausser dem oben erwähnten Todesfall bei
einem nach H o f f a operirten Mädchen erfolgte nur noch der Tod hei einem
Kinde nach der Osteotomie der Tibia infolge einer Maserninfection.
G. Joachimsthal-Berlin.
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Referate.
465
Pierre Delhet, Des luxations anciennes et irreductibles de T^paule. Archives
generales de medecine. 1893 janvier, fevrier, p. 10.
Bei einer seit 3 Monaten bestehenden Luxatio subcoracoidea sah sich
Delhet nach vergeblichen Repositionsversuchen genöthigt, den 33jährigen
Patienten einem operativen Eingriff zu unterziehen. Durch einen 10 cm langen
Schnitt längs des hinteren Randes des Deltoideus vermochte sich Delhet zwar
die Pfanne genügend zugänglich zu machen, doch gelang es nicht an die vordere
Fläche des Humeruskopfes zu gelangen, so dass Delhet sich genöthigt sah
noch einen Schnitt zwischen Pectoralis und Deltoideus hinzuzufügen. Auch
nach Beseitigung der an der Vorderfläche befindlichen Adhäsionen gelang die
Reduction nicht, und nach langen vergeblichen Versuchen blieb nichts übrig,
als die Resection auszuführen, die noch ein befriedigendes Resultat ergab.
Nach Delhet ist auf Grund dieser Erfahrung und nach dem Studium des
anatomischen Präparats von nicht reponirten Schulterluxationen die Eröflhiung
des Gelenks stets an der vorderen und äusseren Seite vorzunehmen. Zunächst
iat nach Entfernung etwaiger Fragmente, Durchtrennung der Adhäsionen und
Befreiung der Pfanne von dem hineingewucherten Gewebe die Reduction zu
versuchen. Gelingt dieselbe nicht ohne Anwendung grosser Gewalt, so ist die
Resection am Platze. Die Warnung vor zu forcirten Repositionsversuchen nach
der Arthrotomie ist um so berechtigter, als D e 1 h e t’s Literaturnachforschungen
ergaben, dass die functioneilen Resultate nach der blutigen Reposition und der
Refraction durchaus nicht so sehr verschieden sind. Unter 34 Fällen von Re*
section zählt Delhet 5, unter 28 blutigen Reductionen 3 Todesfälle; die Mor¬
talität ist also etwas grösser nach der Resection, wobei allerdings, ebenso wie
bei dem Vergleich der functionellen Ergebnisse, die Thatsache in Betracht zu
ziehen ist, dass die die Resection erfordernden Fälle die schwereren sind, und
dass vor der Resection fast immer die Unmöglichkeit der Reduction sich er¬
geben hat. Die nach Abzug der 3 Todesfälle restirenden 25 Repositionen er¬
gaben 12 befriedigende und zwar 6 gute und 6 genügende Resultate, Imal
blieb eine Neigung zur Luxation bestehen, 4mal war das Resultat sehr massig,
Imal entstand bei den Repositionsmanövem eine Humerusfractur, die trotz der
Knochennaht zur Pseudarthrose führte, 4mal wurde nachträglich die Resection
nothwendig, und 3mal war das Resultat unbekannt. Zählt man von den 34 Re-
sectionen die 5 Todesfälle ab, so bleiben 29 Fälle, welche ihrerseits 13 ge¬
nügende, 5 mittelmässige, 2 ganz schlechte und 9 unbekannte Resultate ergaben.
Die Warnung vor zu gewaltsamen Reductionsversuchen nach der Arthrotomie
ist zumal nach dem Ergebnisse dieser Statistik wohl berechtigt.
G. Joachimsthal-Berlin.
Guermonprez, Traitement operatoire de certaines ankyloses du poignet.
Gaz. des höpitaux 1892, Nr. 102 p. 963.
Guermonprez hat in einem Falle von Ankylose der Articulatio radio-
ulnaris inferior nach einer schweren Fractur im unteren Theil des rechten
Vorderarms bei einem 26jährigen Patienten 1 Jahr nach der Verletzung durch
subperiostale Resection des äusserst druckempfindlichen unteren Ulnarendes in
einer Ausdehnung von 57* ci“ wieder die Möglichkeit der Ausführung von
Pro- und Supinationsbewegungen geschafft.
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Referate.
In einem zweiten Falle hat er bei einem 16jährigen Knaben nach einer
Maschinenverletzung, um einer Ankylose im unteren Radio-Ülnargelenk vorzu¬
beugen, prophylactisch 6 cm vom distalen Ende der Ulna resecirt. Der Erfolg
war auch hier der erhoffte. G. Joachimsthal-Berlin.
Langes, Beitrag zur Prophylaxe und Therapie des Schreibkrampfes. Mün¬
chener medicinische Wochenschrift 1893, Nr. 9.
Durch einfach verändertes Fassen des Federhalters haben sich cand. med.
Langes und sein Bruder vom Schreibkrampf befreit. Der Halter ruht statt
zwischen Daumen und Zeigefinger hier zwischen Zeige- und Mittelfinger. Die
drei letzten Finger sind ziemlich stark gekrümmt und bilden die Stütze der
Hand, der Zeigefinger ist mehr gestreckt. Die feineren Schreibebewegungen
finden mehr im Handgelenk als in den Fingergelenken selbst statt. Dieser kleine
Kunstgriff ist vorkommenden Falles des Versuches wohl werth, und sein Erfolg
ist sehr wohl erklärlich, da der Federhalter fast ohne Muskelwirkung fixirt ist.
Man gewöhnt sich rasch an die angegebene Haltung und schreibt bald ebenso
wie gewöhnlich. Mo bring-Würzburg.
Stöcker, Ein Beitrag zur Lösung der Schulbankfrage. Münchener medi¬
cinische Wochenschrift 1893, Nr. 7.
Eine Schulbank, welche allen hygienischen Ansprüchen und auch denen
der Billigkeit genügt, haben die Herren Romminger und Stetterin Tauber¬
bischofsheim, frühere Lehrer, jetzt Besitzer einer Dampfschreinerei und Schul¬
bankfabrik, erdacht. Im ganzen ist sie einfach und solid gearbeitet und richtig
gebaut, und ihre zweckmässige Eigenthümlichkeit beruht in der Einrichtung
des Sitzes. Jedes Kind hat sein eigenes Sitztheil. Dies ist in der Mitte längs
gespalten und durch einen an der Unterfläche befestigten Hanfgurt wieder ver¬
einigt. Beim Aufstehen schiebt nun das Kind ohne weiteres mit der Rückseite
seiner Beine den Sitz so zusammen, dass er sich dachförmig aufstellt. Die erst
vorhandene Minusdistanz von 2 cm wird so zu einer Plusdistanz von 12 cm,
so dass das Kind bequem stehen kann. Beim Niedersetzen legt sich der Sitz
ebenso von selbst wieder nieder. Die Ausführung ist dauerhaft, und der ein¬
fache Mechanismus functionirt geräuschlos und sicher.
M ö h r i n g - Würzburg.
C. Hübscher, Geleimte Cellulose, ein Ersatz für den Walltuch sehen Holz¬
leimverband. Correspondenzblatt für Schweizer Aerzte 1892, Nr. 23.
In der geleimten Cellulose (bezogen aus der Cellulosefabrik Simonius
in Kehlheim; nicht zu verwechseln mit dem von Lorenz neuerdings ebenfalls
zu Verbänden benutzten Celluloid) scheint Hübscher zu den bisher für er¬
härtende Verbände verwandten Stoffen einen ausgezeichneten weiteren hinzu¬
gefügt zu haben. Die papierdünnen, leicht zu schneidenden, in feuchtem Zu¬
stande schmiegsamen Celluloseplatten werden, einander etwas deckend, auf dem
Gipsmodell getrocknet und dann geleimt, zwei Schichten über einander. Nach
vollständigem Trocknen wird der Verband oder Apparat aufgeschnitten, mit
Trikot überzogen und mit entsprechendem Verschluss versehen. Etwaige Schienen
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Referate.
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u. 8. w. lassen sich sehr gut an zwischen beide Schichten geleimten Eisenblech¬
platten anbringen. Diese Verbände oder Apparate sind leicht herzustellen, von
geringem Gewicht, elastisch, dabei aber äusserst widerstandsfähig und elegant.
Möhring-W ürzburg.
A. Bum, Zur physiologischen Wirkung der Massage auf den Stoffwechsel.
Wiener med. Club. — Sitzung vom 14. December 1892.
Vortragender wurde zu seinen Untersuchungen durch die Erfahrung ver¬
anlasst, dass Individuen, welche allgemeiner Körpermassage durch längere Zeit
unterworfen werden, nicht selten erhebliche Steigerung ihrer Diurese melden.
Zunächst nahm Bum umfassende Versuche an grösseren Hunden im Laboratorium
des Professors v. Basch vor und konnte bedeutende Steigerung der Ham-
absonderung während der Massage constatiren, als deren Ursache die Expres¬
sion der in den grossen Muskellagem befindlichen Stoffe („Ermüdungsstoffe“)
erkannt wurde. — Im Sommer d. J. setzte Bum seine Untersuchungen über
diesen Gegenstand an der Klinik Nothnagels fort, indem er durch 20 Tage
an zwei Personen (einer an Ischias leidenden 42jährigen Frau und einem
28jährigen, mit Darmatonie geführten Manne) in längeren und kürzeren Inter¬
vallen allgemeine Körperraassage ausführte, wobei der Muskelknetung und -Be¬
wegung besondere Beachtung geschenkt wurde. Der Ham der im Stoffwechsel¬
gleichgewichte befindlichen Patienten wurde sorgfältig gesammelt und — be¬
hufs Studiums der durch die Massage gesetzten Veränderungen — im Labora¬
torium Jo lies qualitativ und quantitativ analysirt.
Die bisherigen Ergebnisse dieser in graphischer Darstellung vorgeführten
Versuche, welche keineswegs als abgeschlossen zu betrachten sind, waren:
Steigerung der Diurese an den Massagetagen, im allgemeinen Erhöhung der
Harastoffausscheidung theils während der Massage, theils in unmittelbarem An¬
schlüsse an dieselbe. Chloride und Phosphate scheinen nicht alterirt zu werden.
Redner hebt die Uebereinstimmung der Resultate dieser demnächst fort¬
zusetzenden Versuche (bezüglich der Diurese) am (gesunden) Menschen mit seinen
Thierversuchen hervor, vorläufig ohne denselben praktische Bedeutung beizu¬
messen.
Rud. Fick, Ueber die Arbeitsleistung der auf die Fussgelenke wirkenden
Muskeln. — Habilitationsschrift. — Aus der Festschrift von Kölliker
vom anatomischen Institut Würzburg.
Ausgehend von dem Satze der Muskelphysiologie, dass das Product aus
Spannung und der vom Endpunkte des Muskels zurückgelegten Wegstrecke allein
ein exactes Maass für die von einem Muskel bei einer bestimmten Bewegung
geleistete Arbeit gibt, unternahm es der Verf., ähnlich wie früher E. Eick,
(A. Eugen Fick und E. Weber, Anatom.-mechan. Studie über die Schulter¬
muskeln. Würzburger Verh. N. F. 1877, Bd. 12), für das Schultergelenk, die
Verkürzung der einzelnen Fussmuskeln unter verschiedenen Stellungen, bei ein¬
fachen und combinirten Bewegungen des Fusses zu prüfen.
Die Feststellung der Verkürzung gestattet bei zweigelenkigen Muskeln,
wenn sie für beide Gelenke für sich geprüft wird, einen directen Schluss auf
die Betheiligung des Muskels bei der Bewegung jedes einzelnen derselben.
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Referate.
Zieht man aber ausser der experimentell bestimmten Verkürzung noch
die Spannung bei, mit andern Worten den grössten Querschnitt des Muskels,
der, gleiche Erregung vorausgesetzt, der Spannung proportional ist, so ist man
in den Stand gesetzt, noch die Leistung verschiedener Muskeln mit einander
vergleichen zu können.
Verf. hat uns dadurch, wie das wohl bisher noch nie geschehen ist, einen
ausserordentlich schätzenswerthen und klaren Einblick in die Muskelmechanik
des Fusses eröffnet.
Die Untersuchungsmethode war folgende: Ein möglichst noi*maler Fuss
und Unterschenkel wird in der Weise praparirt, dass die Muskeln des Unter¬
schenkels sämmtlich so abgetragen werden, dass die Sehne um 20 cm die von
den Ligamenten (Ligam. laciniatum bezw. Retinae, tendin peron. Ligmt. cruc.)
gebildeten Kanäle überragte. Die Haut wurde bis an die Zehen abgetragen.
Eine Oese wurde am oberen Ende des Knochens, der Mitte der Muskelansätze
entsprechend, eingeschlagen. Ein Faden am Sehnenstumpfe befestigt, durch die
Oese und über eine in gleicher Höhe aufgestellte Rolle geführt, an seinem
Ende mit einem Gewichte beschwert, hinter dem eine senkrechte Millimeter¬
scala aufgestellt wurde, gestattete bei den vorgenommenen Bewegungen die
Grösse der Excursion des Sehnenstumpfes, somit der für die Bewegung noth-
wendigen Muskelverkürzung zu bestimmen. Bei jedem Muskel wurden 10 Mes¬
sungen vorgenommen, im ganzen über 1200 Messungen.
Nach einander prüfte noch Fick in dieser Weise die Verkürzung der
einzelnen Muskeln bei Bewegungen in den verschiedenen Fussgelenken wie folgt:
L Im Beugestreckgelenk (oberes Fussgelenk, Articul. talocrural.).
(Die Fixirung der übrigen Gelenke erfolgte hierbei durch Eintreiben eines
Nagels durch das untere Fussgelenk und Aufnageln des Vorderfusses und
Calcaneus auf ein Brettchen.)
II. Im Pro-Supinationsgelenk (unteres Sprunggelenk, Artic. talocalcanea
und talonavicularis).
(Vordere Gelenke auf ein Brettchen genagelt, oberes Sprunggelenk durch
einen Nagel fixirt.)
III. Im Chopart’schen Gelenk (Artic. medio-tarsea, mittleres Fussgelenk,
talo-scaphoidea und calcaneo-cuboidea).
Oberes und unteres Sprunggelenk fixirt durch Nagel, vorderer Theil auf
einem Brettchen festgeheftet.
IV. Im combinirten Pronations-Supinationsgelenk zusammen. (Chopart
plus unteres Sprunggelenk.)
(Die Fixation der übrigen Gelenke erfolgte in gleicher Weise wie bisher.)
V. In den Zehengelenken.
(Fuss im übrigen Theil fixirt.)
VI. Bei Freiheit sämmtlicher Gelenke.
Diese Methode wurde bei 3 Präparaten durchgefuhrt. Bei einem dieser
Präparate wurde zudem Gewicht und grösster Querschnitt des Muskels bestimmt
und mit der letzteren Bestimmung die Möglichkeit gewonnen, nicht nur das
eine Moment der Arbeitsleistung des Muskels, die Verkürzung, sondern auch
noch das andere, die Spannung, in die Berechnung einzuziehen, so dass es
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J
Referate.
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möglich war, ein annähernd richtiges Bild für die Arbeitsleistung der einzelnen
Muskeln in Zahlen wiederzugeben.
Schon diese Mannigfaltigkeit der Prüfungen macht es dem Referenten
unmöglich, die Resultate in wenigen Worten wiederzugeben. Die Lectüre der
interessanten und an Ueberraschungen reichen Arbeit muss aber jedem, der sich
mit Fussdeformitäten beschäftigt, empfohlen werden. Für die Pathologie des
Klumpfusses und Plattfusses findet man hier sehr schätzenswerthe Aufklärungen.
Der Zusammenstellung der Hauptergebnisse des Verf. entnehme ich noch
folgende Angaben.
Der Gastrocnemius ist ein sehr kräftiger Strecker des oberen Sprung¬
gelenks und Supinator des unteren Sprunggelenks. Der Soleus ist der kräf¬
tigste aller Fussmuskeln, er steht obenan unter den Streckern und Supinatoren
des Fusses, dem fibularen Kopf fällt der grössere Antheil zu.
Der Flexor digitor. commun. long. ist einer der schwächsten in Bezug
auf seine Gesammtarbeit, Hauptwirkung Beugung der Zehen, nächste Wirkung
Supination des unteren Sprunggelenks. Der Tibialis posticus gehört zu den
schwächeren Muskeln; ganz überwiegend ist aber seine Wirkung auf die Supi¬
nation des Fusses im Talo-calcaneusgelenk, wo er gleich nach den dicken Waden¬
muskeln kommt und dabei fast halb so viel Arbeit leisten kann wie der Gastro¬
cnemius.
Flexor halluc. longus. Hauptwirkung Zehenbewegung, nächstdem Fuss-
streckung, Supination im Talo-calcaneusgelenk, sehr schwache Supination im
queren Tarsalgelenk.
Peroneus long. Hauptpronator des Fusses.
Peroneus brevis, zweitschwächster Muskel, pronirt aber kräftig im unteren
Sprunggelenk, bedeutend schwächer im queren Tarsalgelenk, sehr schwach im
oberen Sprunggelenk.
Peroneus tertius war bei dem vorliegenden Präparat (wahrscheinlich
individuell) sehr gering entwickelt, dementsprechend geringe Wirkung auf die
beiden Sprunggelenke.
Extensor digitor. commun. long. Die Zehengelenke stellen nicht sein
Hauptarbeitsfeld dar, sondern er leistet fast die doppelte Arbeit als Flexor
pedis und arbeitet als Pronator im unteren Sprunggelenk fast ebenso viel wie
an den Zehen. Er pronirt noch stark in der Artic. mediotarsea.
Extensor hall. long. ist in erster Linie Fussbeuger, in zweiter Linie Strecker
der grossen Zehe. Auf das untere Sprunggelenk wirkt er pronirend, auf das
quere Tarsalgelenk supinirend.
Tibialis anticus ist der stärkste Muskel nach dem Triceps surae. Von
der Normalstellung aus kann er im oberen Sprunggelenk und queren Tarsal¬
gelenk proniren und supiniren.
Einige Bemerkungen über die Beziehungen der üntersuchungsresultate
zur Pathologie und Therapie und ein geschichtliches Schlusswort bilden den
Abschluss der Arbeit.
Im letzteren wird namentlich betont, dass die exacten Untersuchungen
auf dem Gebiete der Muskelphysiologie zu den seltenen Erscheinungen gehören
und die Unzulänglichkeit der meisten bisher geübten Methoden dargethan.
Wilhelm Schulthess-Zürich.
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470
Referate.
L. W. Liersch, Die linke Hand. Eine physiologische und medicinisch-prak-
tische Abhandlung für Aerzte, Pädagogen, Berufsgenossenschaften und
Versicherungsanstalten. Berlin 1893.
Liersch sucht in dieser Monographie einen Zusammenhang zu con-
struiren zwischen der Rechtshändigkeit des Menschen und einer Reihe von
üebeln, so den Rückgratsverkrümmungen, Fehlern der Augen, Stuhl Verstopfung,
Stauungen in den Gefässen des Unterleibs u. dergl. m. Ohne die Berechtigung
einer gewissen Priorität der rechten Hand zu bestreiten, versucht Liersch
durch die vorliegende Schrift auf Zweihändigkeit — Amphidexterität — hinzu¬
wirken, die er besonders bei Neigung zu den oben erwähnten üebeln zu er¬
streben räth. Auch die ünfallverhältnisse werden mit eingeflochten, um auch
in dieser Beziehung darauf hinzuweisen, welchen Werth die linke Hand für
den Arbeiter wie für alle Berufsarten hat und wie bedeutend ihr Verlust, ja
nur ihre theilweise Schädigung sich im Leben geltend macht.
Dr. G. Joachimsthal-Berlin.
P. Lesshaft, Grundlagen der theoretischen Anatomie. I. Theil. Leipzig.
J. C. Hinrich’sche Buchhandlung, 1892.
Das interessante Werk Lesshaft’s hat auch für uns einen grossen
Werth, indem es uns gediegene Aufschlüsse über den Bau der Knochen und
Gelenke, über die mechanischen Bedingungen der Muskelthätigkeit, sowie über
den Schwerpunkt des menschlichen Körpers bietet. Das Studium desselben
kann deshalb nur empfohlen werden. Hoffa-Würzburg.
Medicinische Märchen von Philander. Stuttgart. Verlag von Levy & Müller.
Die Lectüre der Philander’schen Märchen, deren erstes gleich ein
„orthopädisches Märchen aus dem Lande der Pharaonen“ ist, hat uns grossen
Genuss bereitet und hoften wir, dass recht zahlreiche Collegen sich in ihren Musse-
stunden den gleichen Genuss bereiten werden. Hof fa-Würzburg.
Heather Bigg. A Short Manuel of orthopaedy. Part. I. The Deformities and
Deficiencies of the Head and Neck. London. J. & A. Churchill, 1892.
Das vorliegende Heft, das den ersten Theil eines neuen Werkes des be¬
kannten Verfassers darstellt, behandelt nicht nur die Deformitäten, sondern
auch alle möglichen Fehler des Kopfes und Halses. So finden wir den Hydro-
cephalus und Mikrocephalus, die Atherome, die Encephalocelen, Exostosen etc.
beschrieben. Ein abschliessendes Urtheil kann erst nach Vollendung des Werkes
gegeben werden. H o f fa - Würzburg.
F. Valetti, Storia della Giastica, Milano, Ulrico Hoepli 1893.
Kurze Uebersicht über die Entwickelung der Gymnastik von ihren An¬
fängen an bis auf unsere Zeit und ihre Einführung in den verschiedenen Län¬
dern Europas. H off a-Würzburg.
J. Brousses, Manuel technique de Massage. Paris. G. Mason, 1893.
Kurze Anleitung zur Technik der Massage in recht übersichtlicher Weise.
Hof fa-Würzburg.
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Referate.
471
Max Dolega, Die Massage, ihre Technik und Anwendung in der praktischen
Medicin. Leipzig, Verlag von Naumann. 1893.
Ein verdienstvolles Büchlein, das in 116 Seiten die Massage wirklich
wissenschaftlich behandelt und an dem wir nur auszusetzen haben, dass die
beschriebene Technik der Massage unseren Anforderungen nicht entspricht.
.Wir werden demnächst unsere eigenen Anschauungen über die Massagetechnik
erscheinen lassen. So kurz das Buch auch ist, halten wir es doch für eines
der besten in unserer deutschen Litteratur. Ho ff a-Würzburg.
H. A. Ramdobr, Die Heilgymnastik, gemeinverständlich dargestellt. Leipzig,
Verlag von J. Weber. 1893.
Verfasser hat es verstanden, das Wesen der Heilgymnastik allgemein-
verständlich darzustellen und namentlich die Ausführung der verschiedenen Metho¬
den der Heilgymnastik klar zu schildern. Die Aerzte können viel aus dem
Buche lernen, und da es auch die Laien nur über die Methode belehrt, ihnen
dagegen an das Herz legt, nicht auf eigene Faust hin Gymnastik zu treiben,
sondern nur unter sachverständiger Leitung eines Arztes, so wünschen wir dem
Buche eine recht weite Verbreitung. Hoffa-Würzburg.
G. Müller, Die schlechte Haltung der Kinder und deren Verhütung. Verlag
von A. Hirschwald. 1893.
Wenn das Buch auch nichts Neues bringt, so ist es doch ganz gut ge¬
schrieben und mag Aerzten und Eltern betreffender Kinder immer wieder aufs
neue einschärfen, schon die beginnenden Scoliosen rationell behandeln zu
lassen. H o f f a - Würzburg.
Arndt, Biologische Studien. I. Das biologische Grundgesetz.
Alles Leben ist Bewegung, und von aussen kommende Reize sind die
treibende Kraft. Dieser Satz wird in der Einleitung zu den ,biologischen Stu¬
dien“ des Näheren erörtert und der Beweis dafür erbracht. Die Art der Wir¬
kung aller Reize lässt sich ausdrücken in folgendem Gesetz, welches Arndt
denmach als das biologische Grundgesetz bezeichnet: ,Schwache Reize fachen
die Lebensthätigkeit an, mittelstarke beschleunigen, fördern sie, starke hemmen
und stärkste heben sie auf.“ Es macht natürlich für die Anwendbarkeit dieses
Gesetzes keinen Unterschied, wenn, wie das in vielen Fällen ist, nicht die
Reizgrösse, sondern die Widerstandsfähigkeit des gereizten Organismus wechselt,
80 dass ein und derselbe Reiz für das eine Individuum ein schwacher ist, wäh¬
rend er für ein anderes minder widerstandsfähiges schon einen mittelstarken
bis stärksten bedeutet.
An acht Beispielen verschiedener Lebensformen wird die Richtigkeit des
biologischen Grundgesetzes bewiesen. Am einfachsten und bekanntesten ist das
Verhalten der Elementarorganismen. Alle, welche Bewegung zeigen, werden
bei allmählich gesteigerter Erwärmung erst immer lebendiger, bis sie jedoch
schliesslich gelähmt werden, endlich ganz zu Grunde gehen. Ebenso ist es bei
chemischen Reizen. Weiter erklärt das biologische Grundgesetz die Thatsachen,
dass manche Vogelarten partielle Hypertrophien ihres Gefieders, z. B. Hauben,
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Referate.
zeigen, ihre Nachkommen aber an denselben Stellen kahl sind, dass Riesen
häufig Zwerge in folgenden Generationen hervorbringen, dass ganz schwarz
gefärbte Thiere oft von z. B. grauen Vorfahren die Zwischenstufe zu ganz
weissem Nachwuchs bilden, dahin, dass alle diese Thiere erst infolge von für
sie mittelstarken Reizen die erwähnten Hyptertrophien der Federn (Hauben),
des allgemeinen Wachsthums (Riesen) und des Pigments (SchwarzfUrbung)
zeigen, während derselbe Reiz für eine geschwächte Nachkommenschaft, als zu
stark, zur Hypotrophie, Verkümmerung führt, also entsprechend partielle
Kahlheit, Zwergwuchs, Pigmentlosigkeit zur Folge hat. In der Heilkunde finden
wir das biologische Grundgesetz einmal im Pflüger’schen Zuckungsgesetz
wieder, dann in der Wirkung von Medicamenten, welche in schwachen Dosen
anregend, in stärkeren lähmend, ja tödtlich wirken können, wobei als prak¬
tisch zu beiücksichtigen die sehr verschiedene Widerstandsfähigkeit des ge¬
sunden und kranken Organismus hervorgehoben wird. Die Wirkung der
Massage, des Hypnotismus, der Suggestion, der Elektro-Klimato- und Balneo¬
therapie unterliegt ebenfalls dem biologischen Grundgesetz.
Orthopädisch interessant ist die Anwendung des biologischen Grund¬
gesetzes auf die Entstehung von Platt- und Klurapfuss. Das Wesen des Platt-
und Klumpfusses ist ein übermässiges, bezw. zu geringes Wachsthum der
inneren Theile des Fusses. (Die hier entwickelten Theorien beziehen sich doch
wohl nur auf den angeborenen Platt- und Klumpfuss.)
Bei den betreffenden Individuen soll sich meist auch entsprechend Platt¬
oder Klumphand in allerdings geringem Grade finden. Dadurch wird auf das
Centralnervensystem hingewiesen als den Ausgangspunkt des die Paratrophie
verschuldenden Reizes. Dass nun gerade die Radial- und die Tibialseite der
Extremitäten von den betreffenden Reizen so beeinflusst werden, erklärt sich
nach der Archipterygiumtheorie von Gegenbaur, welche der Ulna und
Fibula die Stelle des Stammes zuweist, an welchem die anderen Knochentheile
nur Seitenstrahlen, Aeste sind, und als solche geringere Widerstandsfähigkeit
besitzen. Bei für diese Theile also verhältnissmässig mittelstarken Reizen
werden sie hypertrophiren, es entsteht Plattfuss und Platthand, bei stärksten
Reizen werden sie atrophiren, es entsteht Klumpfuss und Klumphand.
Endlich wird noch angeführt, dass auch die Wärmebildung im Körper,
sowie die Reaction der Psyche auf Reize, z. B. alle Affecte, dem biologischen
Grundsatz unterliegt. Dass psychische Erregungen bis zu den hochgradigsten
Aufregungszuständen, endlich aber zu Lähmung und Tod führen können, ist
ja allgemein bekannt.
Dem eigenen Lesen der interessanten Abhandlung muss es überlassen
bleiben, sich von der Beweiskraft der angeführten Beispiele zu überzeugen.
Sicher ist, dass uns das biologische Grundgesetz \nele bisher unbegreifliche
Lebensvorgänge verstehen lässt. Somit möge hierin die Anregung gegeben
sein, zur Anwendung des Gesetzes auch auf andere Gebiete der Lebensthätig-
keit, und besonders in der Entwickelungsgeschichte der Lebewesen dürfte das
biologische Grundgesetz überall aufklärend wirken. In Einzelheiten, z. B. der
Theorie von der Entstehung der Bacterien im thierischen Körper aus den sog.
Protoplasmakörperchen, kleinsten, besonders differenzirten Protoplasmatheilchen
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Referate.
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innerhalb der thierischen Zelle, wird Arndt freilich manchen Widerspruch
erfahren. Möhring-W ürzburg.
L. Empfenzeder, München, Instrumentenmacher. Eine neue Verbandscheere.
Die Scheere eignet sich vorzüglich zum Aufschneiden von Contentiv-
verbänden und ist in der That die beste derartige Scheere, die ich bis jetzt
kenne. Beim Gebrauch der Scheere ist Folgendes zu beachten: Erstens ist die
Schnittfläche der Scheerenblätter fleissig einzuölen; zweitens soll bei fest an¬
liegenden Verbänden die Schnittlinie nicht über Gelenke und Knochen, sondern
möglichst über Weichtheile verlegt werden, um Druck zu vermeiden.
H 0 f f a - W ürzburg.
C. Boegle, Die Entstehung und Verhütung der Fussabnormitäten auf Grund
einer neuen Auffassung des Baues und der Bewegungen des normalen
Fusses. München 1893. Verlag von J. F. Lehmann.
Eine hochinteressante Arbeit, deren gi*ündliches Studium jedem sich mit
der Orthopädie beschäftigenden Arzte dringend an das Herz gelegt werden
muss. Der Inhalt der Schrift schliesst sich eng an B o e g 1 e’s vor einigen Jahren
veröffentlichte Abhandlung ^lieber den Mechanismus des menschlichen Ganges
und die Beziehungen zwischen Form und Bewegung* an und führt zu höchst
wichtigen Schlussfolgerungen.
Es ist unmöglich im kurzen Referat den reichen Inhalt des Buches wieder¬
zugeben. Wir wollen letzteren nur dadurch charakterisiren, dass wir die
einzelnen behandelten Kapitel anführen. Nach einem Vorwort und einer Ein-
theilung folgen sich die Kapitel: Fussgelenke, Combination der Bewegungen
von zwei und mehr Gelenken, Antagonistentheorie, Muskelfunctionen, Muskel¬
functionen beim Stehen und Gehen, Umw'andlung der Fussform des Neugeborenen
in die gleiche der Erwachsenen, Plattfussbildung, Ursache und Verlauf
der häufigsten Fonnen von Plattfussbildung, die übrigen Fussdeformitäten, zur
Behandlung des Anfangsstadiums des erw^orbenen Plattfusses und Schlussfolge¬
rungen.
Wie man sieht, ist das Thema sehr eingehend behandelt und kann nur
nochmals dem Buche ein recht eifriges Studium und eine weite Verbreitung
gewünscht werden. Hoffa-Würzburg.
Nekrologe.
A. G. Drachmann, Professor, Dr. med. hon., ist am 2. Juli 1892, 82 Jahre
alt, gestorben.
Drachmann war eine lange Reihe von Jahren ein viel beschäftigter
Orthopäd zu Kopenhagen, Besitzer verschiedener „orthopädischer Institute“.
Er w^ar der erste dänische Arzt, der die Orthopädie als Specialität trieb und
hat sich auf viele Weise um die dänische Orthopädie verdient gemacht, nicht
am wenigsten durch seine Bestrebungen, die Bandagisten (in der Person des
verstorbenen Nyrop) hinter die richtigen Grenzen zu weisen. Er war bis
zu seinen letzten Lebensjahren ein eifriger und unermüdlicher Verfasser auf
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Referate.
allen Gebieten der Orthopädie, einschliesslich Schulhygiene, Mädchentumen
u. 8. w.; hat auch vielerlei selbständige Untersuchungen, z. B. über Kyrto-
metrie, Fhosphaturie bei Spondylitis u. a. m. vorgenommen. Deutschen Lesern
wird wohl Drachmann am besten durch seine Abhandlung: Ueber Skoliosis
in d. Berl. klin. Wocbenschr. (1885) bekannt sein, welche eine grosse Skoliose¬
statistik enthält. Leider bringt letztere, begründet durch die Mängel des Ma¬
terials, nicht zuverlässige Mittheilungen über die statistischen Verhältnisse der
Skoliose in Dänemark. Sigfred Levy.
E. Ipsen, Professor, Dr. med., Leibarzt des dänischen Kronprinzen, Comman-
deur des Dannebrogordens, Inhaber eines „gymnastisch-orthopädischen
Instituts*, Privatdocent der Orthopädie, ist den 29. September 1892 ge¬
storben, 48 Jahre alt.
Ipsen umfasste seine Specialität mit grossem Interesse; seine Art der
Behandlung von Spondylitis cervicalis (mittelst Kinn- und Hinterhauptstützen,
die an der Gipsjacke befestigt wurden) werden von Schede auf dem Berliner
Congresse demonstrirt und besprochen. Sigfred Levy.
10 4 9 5 8
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