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Full text of "Zeitschrift Für Orthopädische Chirurgie Einschließlich Der Heilgymnastik Und Massage 8.1901 HV"

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Zeitschrift für orthopädische 
Chirurgie einschliesslich der ... 

Deutsche Orthopädische Gesellschaft 





.No.. 

Boston 

Medical Library, 

19 BOYLSTON PLACE. 





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ZEITSCHRIFT 

FÜK 

ORTHOPÄDISCHE CHIRURGIE 

EINSCHLIESSLICH DER 

HEILGYMNASTIK UND MASSAGE. 


UNTER MITWIRKUNG 

VON 

Prof. Dr. J. WOLFF in Berlin, Dr. BEELY in Berlin, Dr. KRUKENBEKG 
in Liegnitz, Prof. Dr. LORENZ in Wien, Privatdocent Dr. AV. SCHULTHESS 
in Zürich, Privatdocent Dr. VULPIÜS in Heidelberg, Oberarzt Dr. L. HEUSNER 
in Barmen, Privatdocent Dr. JOACHIMSTHAL in Berlin, Privatdocent Dr. 
F. LANGE in München, Dr. A. SCHANZ in Dresden, Dr. DREHMANN in Breslau 

HERAUSGEGEBEN 

VON 

DR- ALBERT HOFFA, 

a. 0. PHUPKSSOR AN DER UNIVERSITÄT WÜUEfiUllU. 


VIII. BAND. 


HIT 78 IN DEN TEXT GEDRUCKTEN ABBILDUNGEN. 


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STUTTGART. 

VERLAG VON FERDINAND ENKE. 

1901. 


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Druck der Union Deutsche Yerlagsgesellschaft in Stuttgart. 


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Inhal t. 

Seile 

I. Au 8 der orthopädischen Heilanstalt des Dr. nicd. A. Schanz in 
Dresden. 1000 Patienten. Ein Bericht von Dr. A. Schanz und 

Dr. E. Mayer. Mit 2 in den Text abgedruckten Abbildungen . 1 

II. Aus dem orthopädischen Ambulatorium der KOnigl. chirurgischen 

Klinik zu München. lieber periostale Sehnen Verpflanzungen. Von 
Privatdocent Dr. F. Lange ..30 

III. Aus dem orthopädischen Ambulatorium der Königl. chirurgischen 
Klinik zu München. Die vorderen Stützpunkte des Fusses unter 
normalen und pathologischen Verhältnissen. Von Dr. Ludwig 


Seitz, ehemal. Volontärassistent der Klinik, z. Z. Assistenzarzt an 
der Königl. Universitäts-Frauenklinik München. Mit 10 in den Text 

gedruckten Abbildungen.37 

IV. Aus der chirurgischen Klinik des Herrn Hofrathes Prof. Dr. C. Nico¬ 
la doni in Graz. Ueber den Pes varus coinpensatorius bei Genu 
valgum. Von Dr. L. Luksch, Assistent der Klinik. Mit 4 in den 

Text gedruckten Abbildungen.79 

V. Aus der orthopädischen Heilanstalt des Dr. med. A. Schanz in 
Dresden. Beitrag zur Casuistik der Spondylitis typhosa. Von 

Dr. Max Herz, Assistenzarzt der Anstalt.89 

VI. Ein Beitrag zur Lehre der Contracturen und Ankylosen im Knie¬ 
gelenk und deren Behandlung. Von Dr. August Blencke, 
Specialarzt für Orthopädie in Magdeburg.95 

VII. Aus der orthopädischen Heilanstalt des Dr. med. A. Schanz in 
Dresden. Anfangsstadien der Coxa vara. Von Dr. A. Schanz 130 

VIII. Ein neuer Projectionszeichenapparat für Skoliose. Von Dr. J. Ger. 

Milo, Arzt, Orthopädist im Haag. Mit 2 in den Text gedruckten 
Abbildungen.142 


IX. Aus dem St. Johanneshospital zu Bonn. (Chirurgische Abtheilung, 
Chefarzt Herr Geheimmth Prof. S c h e d e.) Eine Vervollkommnung 
des Schede'schen Extensionstisches zur Behandlung der Spondylitis. 
Von Dr. Karl Vogel, Assistenzarzt. Mit 1 in den Text gedruckten 


Abbildung.147 

Referate. 152 

X. Die orthopädische Chirurgie. Antrittsrede zur Eröfl'nung des ortho¬ 
pädischen Curses der Künigl. Universität Bologna (Lehrjahr 1890 
bis 1900). Von Prof. Dr. CesareGhillini.133 


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IV Inhalt. 

Seitfe 

XI. Einige Bemerkungen Über Subluxationsstellung bei Luxatio coxae 
congenita. Von Wilhelm Rager, Arzt. Mit 2 in den Text 
gedruckten Abbildungen.194 

XII. Mittheilungen aus dem orthopädischen Institute von Dr. A. Lüning 

und Dr. W. Schulthess, Privatdocenten in Zürich. XVII. Ueber 
die Wirkungen des orthopädischen Corsets bei Skoliose. Von 
Alfred Hüssy, med. pract. Mit 13 in den Text gedruckten 
Abbildungen.202 

XIII. Aus Prof. Dr. A. Hoffa's chirurgisch-orthopädischer Privatklinik. 

Die Coxa vara. Eine zusammenfassende Betrachtung über den 
heutigen Stand dieser Frage. Von Dr. Max Wagner, Special¬ 
arzt für Orthopädie in Hamburg, ehemal. Assistenzarzt der Klinik. 

Mit 19 in den Text gedruckten Abbildungen.276 

XIV. Aus der chirurgisch-orthopädischen Heilanstalt des Prof. Dr. A. H o f f a 
in Würzburg. Beitrag zur Lehre und Behandlung der Artbropatbia 
tabica mit besonderer Berücksichtigung des Kniegelenks. Von 
Dr. A. E. Ah re ns, Specialarzt für orthopädische Chirurgie in 
Hamburg, ehern. Volontärarzt der Klinik. Mit 5 in den Text ge¬ 


druckten Abbildungen.345 

XV. Aus dem Samariterhause für verkrüppelte Kinder zu Cracau bei 

Magdeburg. Zwei seltene Formen angeborener Missbildung. Von 
Dr. Paul Tschmarke, Magdeburg. Mit 3 in den Text ge¬ 
druckten Abbildungen.368 

Refemte.379 

XVI. Die Aetiologie der Deviationen des Rumpfes. Von Dr. med. Peter 

Lorenzen, Director des medico-mechanischen Instituts zu Copen- 
hagen.415 

XVII. Aus der chirurgischen Abtheilung des St. Marienhospitals in Bonn 
(Herr Professor Witzei). Zur Entstehung und Behandlung der 
Klumpzehen. Von Dr. C. Hof mann. Mit 2 in den Text gedruckten 

Abbildungen. .434 

XVIII. Hysterische Hüfthaltung, Typus Wertheim-Salomonson. Von Dr. 

J. Schoemaker, Nymwegen. Mit 4 in den Text gedruckten Ab¬ 
bildungen .444 

XIX. Aus der orthopädischen Klinik der Kaiserlich medicinischen Militär- 
academie in St. Petersburg. Billige Schutzverbände. Von Dr. Wil¬ 
helm Sender. Mit 3 in den Text gedruckten Abbildungen . . 461 

XX. Aus Prof. Dr. A. Hoffa’s chirurgisch-orthopädischer Privatklinik, 
lieber die Trichterbrust. Von Dr. Chlumsky, Assistenzarzt der 

Klinik. Mit 8 in den Text gedruckten Abbildungen.465 

XXI. Weiland Eduard AlberPs Leistungen auf dem Gebiete der ortho¬ 
pädischen Chirurgie. Von Adolf Lorenz (Wien).490 

Referate.509 

Autorenregister.537 

Sachregister.539 


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I. 

Ans der orthopädischen Heilanstalt des 
Dr. med. A. Schanz in Dresden. 

1000 Patienten. 

Ein Bericht 

von 

Dr. A. Schanz und Dr. Ernst Mayer. 

Mit 2 in den Text gedruckten Abbildungen. 

Der Arzt, welcher auf dem mühevollen Wege der Praxis wissen¬ 
schaftlich nicht versauern, sondern vorwärts kommen will, thut gut, 
von Zeit zu Zeit Rückschau zu halten und mit kritischem Blick zu 
untersuchen, ob der zurückgelegte Weg bergauf geht. Der Specialist, 
besonders der Orthopäd, der das Vertrauen der Gollegen in so hohem 
Maasse fordert, hat die Pflicht, diesen auch Rechenschaft abzulegen 
für sein wissenschaftliches Streben. 

Dies sind die Gründe, welche zur Abfassung der vorliegenden 
Arbeit führten. Zugleich soll dieselbe einen Beitrag zur Statistik 
in der Orthopädie liefern; aus diesem Grunde ist der Einfachheit 
halber die Zahl 1000 gewählt worden. 

1000 Patienten sind ja sonst keine grosse Zahl; in der Ortho¬ 
pädie sind sie schon ein Factor, mit dem gerechnet werden kann. 

Diese 1000 Patienten kamen zur Beobachtung in der Zeit von 
Anfang 1897 (Gründung der Anstalt) bis August 1899. Die Grund¬ 
lage der Arbeit bilden die Notizen des von Dr. Schanz geführten 
Journals^). Sie wurden dergestalt verwendet, dass Dr. Mayer, 

*) Natürlich erhebt ein in der Sprechstunde geführtes Journal keinen 
Anspruch auf absolute Vollständigkeit; so kommt es, dass bei einigen nicht 
klinisch behandelten Patienten unwesentliche Angaben, wie Alter, Geschlecht etc., 
fehlten. 

Zeltftehrlft für orthopädisohe Chirargie. VIIL Band. ^ 


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2 


A. Schanz und Ernst Mayer. 


welcher als 1. Assistent der Anstalt den grössten Theil der Patienten 
selbst gesehen hat, die Rubricirung und statistische Zusammenstellung 
übernahm. Die von ihm gegebenen Besprechungen der einzelnen 
Kapitel sind alsdann noch einmal gemeinsam überarbeitet worden. 

Die Fälle vertheilen sich auf die einzelnen Krankheiten in 
folgender Weise (s. Tabelle auf S. 4). 

Wir geben im Folgenden in einzelnen Kapiteln kurze Be¬ 
sprechungen der wichtigsten Krankheitsbilder unter besonderer Be¬ 
rücksichtigung unserer Therapie, speciell insoweit diese von der 
allgemein üblichen abweicht. 


Schiefhals. 

Die Behandlung des Schiefhalses bestand in offener Durch¬ 
schneidung des verkürzten Muskels und seiner Fascien. Die Re¬ 
sultate verbesserten sich wesentlich durch eine Veränderung der 
Verbandtechnik, und zwar verwendeten wir später statt des allgemein 
üblichen Gipsverbandes einen dicken Watteverband. Das Watte¬ 
polster wurde auf die kranke Seite gelegt und durch Binden fest 
angewickelt. So kommt die Elasticität der Watte zur Geltung und 
bewirkt eine bessere Correction, als sie irgend ein Gipsverband 
leisten kann. Dabei hat der Verband den Vortheil, dass er das von 
Lorenz empfohlene modellirende Redressement nach der Durch¬ 
schneidung überflüssig macht. 

Auf einen Punkt muss man dabei Acht geben. Der Verband 
drückt nämlich auch die Clavicula fest nach dem Brustkorb zu und 
kann, wenn dieser Druck zu stark ist, eine Plexuslähmung durch 
Gompression des zwischen Rippen und Clavicula eingeklemmten Plexus 
brachialis hervorrufen. In einem Falle hatten wir diese unangenehme 
Complication zu verzeichnen. Die Lähmung ging im Verlaufe eines 
Vierteljahres vollständig zurück. In der weiteren Nachbehandlung 
verwendeten wir mit Vortheil den Lorenz’schen Apparat zur 
Skoliosenredression mittelst elastischen Bindenzügels. Seine specielle 
Anwendung für unseren Fall ergibt sich von selbst. Im übrigen 
weicht unsere Nachbehandlung von der allgemein üblichen nicht ab. 
Nur sei noch erwähnt, dass man dem gewohnheitsmässigen Falsch¬ 
tragen des Kopfes, welches bei den Patienten oftmals noch lange 
bestehen bleibt, sehr gut dadurch entgegentreten kann, dass man 
die Kinder leichte Sandsäcke auf dem Kopfe tragen lässt. 


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1000 Patienten. 


3 


Spondylitis. 

Die Indicationen, welche uns unsere Massnahmen in der Spon- 
dylitisbehandlung dictirten, waren zuerst ausschliesslich Ruhigstellung 
und Entlastung des erkrankten Theiles und Hebung der Gesammt- 
constitution. Dazu kam dann nach Galot's Mittheilung über seine 
Redressionserfolge das Streben nach einer Correction der Deformität. 
Die Versuche in dieser letzten Richtung haben uns Resultate er¬ 
geben, die weder zu einer strikten Ablehnung des Calot’schen Ver¬ 
fahrens, noch zu einer Verallgemeinerung desselben für alle Fälle 
führen können. Wir haben in einem Falle im Anschluss an die 
Redression einen Durchbruch des vorhandenen Psoasabscesses auf 
den Rücken neben dem Gibbus erlebt und zugleich das Auftreten 
eines kalten Abscesses am Schädel oberhalb des Ohres beobachtet. 
Der Patient genas merkwürdigerweise trotzdem; das erreichte Re¬ 
sultat ist jetzt ein ausgezeichnetes. Ebenso wie in diesem Falle 
war das Resultat ein sehr zufriedenstellendes bei jenen Patienten) 
die eine scharf geknickte, spitzwinkelige Deformität zeigten. Bei 
den Patienten mit kleinen Deformitäten hingegen stellte sich diese 
nach der Redression ausnahmslos so weit wieder her, dass das er¬ 
reichte Resultat im Vergleich zu den angewandten Mitteln und der 
Gefahr unbefriedigend blieb (s. Schanz, Bemerkungen zur Calot- 
schen Buckeloperation. Deutsche med. Wochenschr. 1898, Nr. 24). 
Dementsprechend halten wir das Calot'sche Redressement indicirt 
bei den schweren spitzwinkeligen Deformitäten. Weniger geeignet 
sind die Fälle, in welchen der schwere Gibbus eine gewisse Run¬ 
dung erlangt hat, weil bei diesen die Lücke in der Wirbelkörperreihe 
übermässig gross wird. Nicht aber ist die CaloPsche Redression 
indicirt bei den leichten Fällen. Diese sind wir in der Lage, mit 
unseren übrigen Hilfsmitteln auf einem Stand zu halten, dass die 
Deformität durch die Kleidung leicht verdeckt wird. 

Abgesehen vom Calot’schen Redressement, abgesehen auch von 
der Behandlung der Constitution der Patienten werden die Spon- 
dylitisfalle mit Gipsbett und Stützcorset behandelt (s. Schanz, lieber 
orthop. Apparate. Zeitschrift f. orthop. Chirurgie, Bd. 6). In allen 
florideren Fällen wurden die Erkrankten zunächst ein Vierteljahr ins 
Gipsbett gelegt. Die Einbusse der Patienten an freier Bewegung 

gcrißger, als der ausserordentliche Vortheil, welchen die völlige 
Ruhigstellung und Entlastung des erkrankten Theiles gewährt. 


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A. Schanz und Ernst Mayer. 



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Deformiülten der oberen Extremität. 


1000 Patienten. 


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A. Schanz und Ernst Mayer. 



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I. Hängebauch . . . . 

1 . Brust- u. Nabelhernien 
. Leisten- u. Schenkel- 
hemien. 




8 


A. Schanz und Emst Mayer. 


Am deutlichsten kann man diese Wirkung des Gipsbettes in 
den Fällen beobachten, welche mit Lähmungserscheinungen einher¬ 
gehen. Unter unseren Patienten befanden sich zwei Knaben mit 
völliger Lähmung der unteren Extremitäten. In beiden Fällen konnte 
man, nachdem die Kinder 1—2 Wochen im Gipsbett gelegen hatten, 
Besserungen der Lähmungserscheinungen, nach 6 bezügl. 12 Wochen 
völlige Heilung derselben beobachten. 

Nach Abklingen der floriden Erscheinungen bekommen die 
Patienten Stützcorsets, die fast ausnahmslos aus hartem Leder ge¬ 
arbeitet wurden. Die Corsets werden bei Tage getragen. Nachts 
liegen die Patienten im Gipsbett. 

An Stelle des Corsets trat bei Spondylitis cervicalis eine Gips- 
cravatte bezw. eine aus Leder mit Stahlverstärkung gefertigte 
Minerva. (Näheres s. Schanz, oben citirte Arbeit.) 

Eine gewisse Sonderstellung kommt der Spondylitis der Er¬ 
wachsenen zu, von denen sich unter unseren Patienten 7 befanden. 
Man kann bei diesen öfter von der Verwendung des Gipsbettes ab- 
sehen, ausser in sehr schmerzhaften Fällen. Während in diesen 
letzteren das Gipsbett von den Patienten gerne angenommen wird, 
befreundet sich der Patient, der nicht durch eine rasche Verminde¬ 
rung der vorhandenen Schmerzen seine wohlthätige Wirkung erkennt, 
nicht leicht mit ihm. 


Skoliosen und Kyphosen. 

Einen sehr bedeutenden Theil der Thätigkeit der Anstalt stellt 
die Behandlung der Skoliose und Kyphose dar. 

Es sind hierzu bestimmte Stunden des Tages für bestimmte 
Patientengruppen reservirt und zwar sind für junge Mädchen die 
Stunden von Vormittags 10—12 Uhr, für Kinder von Nachmittags 
3—6 Uhr bestimmt. 

Die Patienten beginnen die Behandlung mit B'reiübungen, welche 
^ 2 —®/4 Stunden dauern. Die Uebungen finden unter dem Commando 
eines der Assistenzärzte der Anstalt statt, der sein Augenmerk be¬ 
sonders darauf zu richten hat, dass die Patienten lernen sich „gerade*^ 
zu halten oder wissenschaftlich ausgedrückt, Selbstredression zu üben. 
Im Anschluss an die Freiübungen kommen die Patienten auf den 
Lorenz'schen Wolm, sie benutzen die Schmidt’sche Streckschaukel 
und den Krukenberg'schen pendelnden Sitz; zwischendurch ruhen 
sie sich auf der schiefen Ebene aus. Darnach kommen sie in die 


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1000 Patienten. 


9 


Redressionsapparate, in denen sie durclischnittlich je Stunde ver¬ 
weilen. Von diesen Apparaten haben wir nur zwei in Gebrauch, 
und zwar den von Hoffa modificirten BarwelPschen Apparat zur 
Rhachiljsis und den Lorenz'schen Apparat zur Redression der 
Skoliose mittelst elastischen Gurts. Einfachheit der Handhabung, 
ausgiebigste Anpassungsfähigkeit an den einzelnen Fall, kräftige, 
anatomisch richtige Wirkung sind die Vortheile, welche diese Appa¬ 
rate vor allen anderen auszeichnen. Nachdem die Patienten mit 
allen diesen Mitteln behandelt worden sind, wird noch eine Massage 
der Rückenmusculatur vorgenommen. Nach der Massage wird von 
dem betreffenden Arzte — und nur solche führen in der Anstalt 
die Massage aus — nochmals eine kräftige manuelle Redression aus- 
gefährt, und im Anschluss an diese die von Lorenz angegebenen 
Selbstredressionsübungen. 

Portative Apparate finden bei uns in der Skoliosenbehandlung 
nur dann Anwendung, wenn es sich darum handelt, ein Missverhält- 
niss zwischen der statischen Inanspruchnahme der Wirbelsäule und 
ihrer statischen Leistungsfähigkeit auszugleichen. Daraus ergibt sich, 
dass wir Gorsets nicht anwenden in jenen Fällen, die sich noch sehr 
nabe am Stadium der Haltungsanomalie befinden oder bei ausge¬ 
bildeten Deformitäten, die nicht progredient sind. 

Ebenso wenig wenden wir portative Apparate an in der Ab¬ 
sicht, durch dieselben eine corrigirende Wirkung der Skoliose zu er¬ 
zeugen. Leider fehlt uns der Raum, darauf einzugehen, weshalb 
gerade das Letztere eine Unmöglichkeit darstellt. In einer dem¬ 
nächst im Archiv för klinische Chirurgie erscheinenden Arbeit be¬ 
handelt Dr. Schanz diese Frage ausführlicher. 

Demgegenüber verwenden wir Stützapparate in allen pro¬ 
gredienten Fällen, vor allen Dingen aber auch, wenn ein drohendes 
Recidiv nach einer erzielten Correction die Progredienz bedeutet. 

Nach dem Gesagten ist es verständlich, dass wir nur ver- 
haltnissmässig einfache Apparate anwenden. In manchen Fällen be¬ 
stehen sie nur aus einem Beckenstück und von diesem aufsteigenden 
einzelnen Schienen, die mit Achselkrücken versehen sind, oder wir 
geben Hüfbbügelcorsets. In den meisten Fällen verwenden wir Leder- 
Drellcorsets, die auf Modell im grossen und ganzen so gearbeitet 
werden, wie die von Lorenz angegebenen Celluloid-Drellcorsets 
(s. Schanz, Ueber orthopädische Apparate. Zeitschrift f. orthop. 
Chirurgie, Bd. 6). 


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A. Schanz und Ernst Mayer. 


Als portativen Apparat in der Kyphosenbehandlung, der im 
Gegensatz zum Skoliosencorset auch eine redressirende Wirkung aus- 
zuöben vermag, verwenden wir Hüftbügelcorsets mit der Nyrop- 
schen Feder oder entsprechend angebrachten Gummizügen. 

Ein sehr werthvoUes Hilfsmittel in der Skoliosenbehandlung 
ist das Gipsbett. Wir fertigen dasselbe auf dem N e b e Pschen 
Schwebelagerungsapparat an und stellen dabei die Wirbelsäule des 
Patienten durch eine Reihe seitlicher Züge in üebercorrection ein. 
Dem Rippenbuckel gegenüber bringen wir durch Filzstücke, welche 
wir dort einarbeiten und später entfernen, eine Nische hervor. Auf 
die Stelle des Rippenbuckels kleben wir später dafür Filzstücke ein. 
So erhalten wir einmal für die ganze Dauer der Ruhiglage des 
Patienten (die Nacht) eine Einstellung der Wirbelsäule in üeber¬ 
correction und einen Druck auf den Rippenbuckel (s. Schanz, Eine 
einfache redressirende Lagerungsvorrichtung für Skoliotische. Deutsche 
med. Wochenschr. 1898, Nr. 4). 

Die Resultate, welche wir auf diese Weise in der Skoliosen- 
und Eyphosenbehandlung erreichten, waren durchaus gute in den 
Fällen von beginnender Deformität. Hier gelang es uns ausnahms¬ 
los, Heilung zu erzielen, wenn die Behandlung die genügende Zeit 
fortgesetzt werden konnte. Allerdings ist die nothwendige Zeit in 
manchen Fällen nicht unbeträchtlich. Das ist ja selbstverständlich, 
wenn man sich vergegenwärtigt, mit einem wie exquisit chronischen 
Leiden man zu thun hat und dass es uns selten möglich ist, die 
ursächliche Schädlichkeit auf die Dauer zu eliminiren. In den fort¬ 
geschrittenen Fällen, den sogen. Skoliosen und Kyphosen zweiten 
Grades, ist das Resultat der Behandlung nie eine vollständige Hei¬ 
lung. Besserungen — sehr wesentliche Besserungen können wir 
erreichen und erreichen wir. 

Unbefriedigend aber waren die Erfolge dieser Behandlungs¬ 
methode in den schwersten Fällen, und doch sind es gerade diese 
Fälle, welche einen Erfolg am dringendsten fordern. Das Bedürfniss, 
auch bei diesen Patienten günstigere Resultate zu erzielen, führte 
uns bei schweren Skoliosen zu einer Behandlungsart, welche von 
der bisher gebräuchlichen und oben beschriebenen grundverschieden 
ist, und welche in dem Folgenden beschrieben werden soll. Wir 
gingen aus von der Ueberzeugung, dass das Rumpfskelet genau in 
derselben Weise, wie das Skelet des Fusses, durch eine genügend 
lange Fixation in redressirter Stellung gezwungen werden kann, die 


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1000 Patienten. 


11 


ihm gegebene Form dauernd anzunehmen. Wie weit wir in der 
Lj^e sind, schwere Skoliosen vorübergehend zu corrigiren, braucht 
hier nicht aus einander gesetzt zu werden; darüber geben unsere 
Lehrbücher vollständigen Aufschluss. Es handelte sich nur darum, 
Mittel und Wege zu finden, die Redression mindestens ca. 3 Monate 
festzuhalten. Hier konnten die portativen Skoliosenapparate und 
auch das Gipscorset nicht in Anwendung kommen. Denn deren 
Wirkung ist entweder zu schwach oder hört im günstigsten Falle 
in der Mitte der Brustwirbelsäule auf. Um auch diesen Abschnitt 
fassen zu können, musste man das Gipscorset zum Rumpfgipsver¬ 
band vervollständigen, d. h. man musste den Verband vom Becken 
bis zum Hals herauf führen. 

Die specielle Durchführung dieses Programms gestaltete sich 
nach verschiedenen Versuchen folgendermassen. Die Behandlung 
wird begonnen mit einer Mobilisation der Skoliose. Dabei bringen 
wir das Kind in einen Apparat, den Dr. Schanz construirt hat, 
um eine scharfe Extension der Wirbelsäule am frei hängenden 
Patienten zu erzeugen, und gewöhnen es, diese Situation ca. 10 Mi¬ 
nuten zu ertragen (s. Zeitschrift f. orthop. Chirurgie, voriger Band). 
Man erreicht hierdurch eine möglichst vollkommene Redression der 
Skoliose, zumal wenn man in der Extension noch einen Diagonal¬ 
druck auf den Rippenbuckel ausübt. Ist die grösstmögliche Re- 
dressionsfähigkeit auf diese Weise erreicht, so erhalten wir dieselbe 
durch Anlegung- eines kräftigen Rumpfgipsverbandes. Wir bringen 
zu diesem Zweck das Kind in den bezeichneten Apparat, extendiren, 
wir umwickeln den Körper mit einer dünnen Watteschicht, die 
Darmbeinkämme werden durch einen Filzstreifen geschützt und nun 
wird ein fest anliegender Gipsverband angelegt. Die Binden werden 
am Becken sehr straff angezogen, so dass seine Contouren heraus¬ 
treten, um das Abdomen werden sie ohne Anziehen herumgeführt, 
straffer werden sie wieder um den Thorax gelegt. Eingelegte Holz- 
spähne verstärken den Verband. Ist dieser so weit erhärtet, dass 
er durch kräftigen Druck eben noch gemodelt werden kann, so wird 
durch einen Diagonaldruck auf die Rippenbuckel deren möglichste 
Ausgleichung hergestellt. Ist der Verband völlig erstarrt, so wird 
er ausgeschnitten, wobei nur das Allernothwendigste entfernt werden 
darf. Nach je 4 Tagen wechseln wir 2mal den Verband und er¬ 
reichen dabei jedesmal eine weitere Correction. 

Die Patienten haben damit eine ganz ausserordentliche Ver- 


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A. Schanz und Ernst Mayer. 


änderung ihrer Körperform erlangt. Der Verband zeigt uns eine 
oftmals bis an die Norm gehende Oorrectur der Skoliose an. Vor 
allen Dingen auffällig ist die bedeutende Verlängerung, welche der 
Körper des Patienten erreicht hat. Wir haben Verlängerungen bis 
zu 13 cm erhalten; durchschnittlich erreichten wir 8—10 cm. Die 
Befürchtungen für Herz und Lunge, welche natürlich zuerst gross 
waren, erwiesen sich als unbegründet. Nur in einem Falle, bei 
einem Mädchen von 15 Jahren, waren wir gezwungen, wegen der 
eintretenden Verschlimmerung einer alten chronischen Bronchitis, 
wahrscheinlich tuberculöser Natur, den Verband wieder abzunehmen. 
Die übrigen Patienten machten uns in dieser Beziehung keinerlei 
Schwierigkeiten. Nach je 4 Wochen wechseln wir noch 2mal den 
Verband, um uns von dem Zustande der Haut zu überzeugen. Beim 
zweiten dieser Verbandwechsel nehmen wir von dem Patienten Modell 
für ein Corset und stellen das oben beschriebene Gipsbett her. Nach 
12 Wochen nehmen wir das Kind aus dem Verband. 

Es ist erstaunlich dann zu sehen, dass der Körper des Patienten 
die Form, die wir ihm aufgezwungen haben, auch angenommen hat. 
Wir haben je nachdem, wie weit die Redression seiner Zeit gelungen 
ist, einen entsprechenden Grad der Correction erreicht. Man erhält 
so vor allen Dingen bei Kindern zwischen 6 und 10 Jahren Ver¬ 
besserungen, die man wohl Heilungen nennen könnte. In den un¬ 
günstigsten Fällen, zumal bei älteren Patienten, erreichen wir Cor- 
rectionen, welche quoad Lunge und Herz geradezu bedeutende Ge¬ 
winne darstellen und erzielen Veränderungen der Rumpfconfiguration, 
welche eine Verdeckung der Deformität in der Kleidung leicht er¬ 
möglichen. 

Beistehend geben wir Photographien zweier unserer ersten 
Patienten, die derartig behandelt worden sind. 

Die eine (Fig. 1), H. S. aus M., 10 Jahre alt, hat in der Zeit 
von 5 Monaten, über welche sich unsere Behandlung erstreckte, 
18 cm an Körperlänge zugenommen. Rechnen wir 5 cm davon auf 
Gewinn aus normalem Wachsthum, so bleiben doch mindestens 13 cm 
davon als Behandlungsresultat. 

Der andere (Fig. 2), ein 8jähriger Knabe W. P. aus T., hat 
durch das Redressement 9 cm an Körperlänge gewonnen. 

Die Photographie dieser Patienten, welche ungefähr 1 Jahr 
nach Abnahme des Gipsverbandes aufgenommen sind, beweisen auch, 
dass es uns gelungen ist, die Resultate als Dauerresultate festzuhalten. 


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1000 Patienten. 


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Was in dieser Hinsicht die Nachbehandlung zu leisten hat, 
ist nicht schwer zu bestimmen; das Recidiv nach der Gorrection 
stellt dieselben Indicationen, wie eine sich acut yerschlimmemde un- 


Fig. 1. 



redressirte Skoliose, und wir haben deshalb Massage, Gymnastik, 
Redressionen, Stützcorset und Gipsbett verwendet. 

(Ausführlicher berichtete Schanz über diese Methode dem 
diesjährigen Chirurgencongress.) 

Angeborene Huftgelenksverrenkung. 

Als Ziel der Behandlung der angeborenen Huftgelenksverrenkung 
hat uns unter allen Umständen die Reposition der Luxation gegolten. 


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A. Schanz und Ernst Mayer. 


Wir wollen hier nicht aus einander setzen, in welchen Fällen dieses 
Ziel ein rein problematisches bleiben muss. Für die Fälle, in denen 
das erreichbar scheint, bestand die Wahl zwischen der blutigen 
Operation nach Hoffa und der unblutigen nach Lorenz. 

Sprach für die blutige Operation der Umstand, dass Dr. Schanz 
während seiner Assistentenzeit an der Hof falschen Klinik reiche 
Erfahrungen mit dieser Methode hatte sammeln können, so sprachen 
dagegen die ausnahmslos günstigen Berichte, welche in der ersten 
Zeit über die Lorenz'sche Einrenkung bekannt gegeben wurden. 
So kam es, dass in der ersten Periode des hier behandelten Zeit¬ 
abschnittes der angeborenen Hüftverrenkung gegenüber ein möglichst 
abwartendes Verhalten eingeschlagen wurde. Als man über die 
Möglichkeit, über die Gefahren und Erfolge der unblutigen Ein¬ 
renkung Genaueres erfahren hatte, galt für uns Folgendes als 
Normalverfahren: Es ist in allen Fällen, wo das Alter des Patienten 
Aussicht auf Erfolg bietet und wo sonstige Contraindicationen nicht 
vorhanden sind, das Lorenz'sche Verfahren zu versuchen; wo dieses 
versagt, ist zur Hoffa’schen Operation zu greifen. Natürlich auch 
nur, wenn die sonstigen bekannten Indicationen für diese Operation 
vorhanden sind (s. Schanz, Zur blutigen Reposition der angeborenen 
Hüftverrenkung. Zeitschrift f. orthop. Chirurgie, Bd. 4, Heft 2—3). 

Nach diesem Grundsätze haben wir gebandelt und sind dabei 
niemals in die Lage gekommen, die Hof falsche Operation auszu¬ 
führen. In einem einzigen in Frage kommenden Falle, wo uns die 
unblutige Reposition bei einem lOjäbrigen Mädchen nicht mehr ge¬ 
lang, wurde der blutige Eingriff von den Eltern verweigert. 

Unsere in diesen Fällen erreichten Resultate spiegeln das all¬ 
gemein bekannte Bild wieder. Ein grosser Procentsatz der Fälle 
sind Transpositionen unter die Spina anterior inf. ossis ilei, die 
übrigen sind reelle Repositionen. Das functionelle Resultat ist in 
allen Fällen eine wesentliche Besserung der Gehfähigkeit, in einer 
Reihe von Fällen eine völlige Heilung. 

In denjenigen Fällen, in welchen eine Reposition der Luxation 
unausführbar war, war unser Vorgehen in den verschiedenen Fällen 
sehr verschieden. Bei einseitiger Luxation setzten wir uns das Ziel, 
durch Einstellung der Hüfte in eine habituelle Abductionsstellung 
eine functionelle Verlängerung der Extremität zu erzielen. Wo es 
nöthig war, wurde zur Herstellung der Abductionshaltung eine 
Durchschneidung der Adductoren ausgeführt, sonst begnügten wir 


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1000 Patienten. 


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uns mit der Application einer leichten Extension in Abductions- 
stellung für die Nacht. Die Extension darf nicht so stark sein, dass 
sie eine Distraction des Gelenkes bewirkt. Eine kräftige Extension 
wenden wir mit gutem Erfolg bei etwa Torhandenen Uebermüdungs- 
schmerzen an. 

Um dem Kopf eine festere Stütze, dem Körper einen besseren 
Halt zu geben, wurden Corsets mit Trochanterenbügel verwendet. 
Es waren dies die einzigen orthopädischen Apparate, welche bei der 
angeborenen Hüftgelenksverrenkung Verwendung fanden. Massage 
und Gymnastik fanden ausgiebige Verwendung zur Stärkung der 
Hüftmusculatur. 

Wenn es gelingt, eine habituelle Abductionshaltung zu erreichen, 
so werden dadurch die Verhältnisse für Ausbildung einer Nearthrose 
wesentlich begünstigt. Der Kopf, welcher parallel dem Darmbein 
verschoben wurde, wird jetzt durch die Körperlast in einem sich 
dem rechten nähernden Winkel gegen die Darmbeinschaufel ge- 
sto8.sen. Im letzteren Fall wird eine Durchreibung der Kapsel 
leichter stattfinden können; der Kopf kommt in Contact mit dem 
Periost und es kann eine Nearthrosenbildung entstehen. 

Treten in den Gelenken Schmerzen auf, so können diese 
wichtigen Einfluss auf die Indicationen gewinnen. Bei zwei Patienten 
mit doppelseitiger Luxation und heftigen Schmerzen in den Ge¬ 
lenken wurde die Hoffa’sche Pseudarthrosenoperation ausgeführt. 
Mit der Entfernung des Kopfes erreicht man sicher die Beseitigung 
der Schmerzen. Ueber die functioneilen Resultate dieser Operation 
Eingehenderes zu berichten, dürfte sich uns erübrigen. Sie ent¬ 
sprechen den aus der Hoffa’schen Klinik raitgetheilten (cf. Paradies, 
Die operative Behandlung der doppelseitigen angeborenen Hüftver¬ 
renkung, Hoffa’s sogen. Pseudarthrosenoperation. Zeitschrift f. 
orthop. Chirurgie, Bd. 4, Heft 2—3). 

Erwähnt sei hier noch ein eigenthömliches Krankheitsbild, 
welches mehrfach an älteren Patienten zur Beobachtung kam. Die 
Patienten gaben an, bis vor einiger Zeit eine gute Gehfähigkeit be¬ 
sessen zu haben. Nach einer heftigen Bewegung sei ein plötzlicher 
Schmerz aufgetreten (z. B. nach einem Sprung von der Strassen- 
bahn, beim Straucheln auf dem Wege) und zugleich sei eine grosse 
Schwäche des Beines und eine völlige Unmöglichkeit zu gehen da 
gewesen. Wir stellen uns vor, dass diese merkwürdige Erscheinung 
auf einer Zerreissung des Ligamentum teres, welches bis dahin als 


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A. Schani und Ernst Mayer. 


Halteband im Oelenk gedient hatte, zurückzuführen ist. Dem ent¬ 
spricht auch der Verlauf dieser Fälle, in welchen sich in der Zeit 
von 1—2 Jahren die alte Gehfahigkeit wieder herstellt, unserer Vor¬ 
stellung nach derartig, dass die nun auf Belastung in Anspruch ge¬ 
nommene Kapsel functionell hypertrophirt und sich der neuen In¬ 
anspruchnahme anpasst. 

Coxa vara. 

Das jüngste orthopädische Krankheitsbild, das der Coxa vara, 
erwies sich bei darauf gerichteter Aufmerksamkeit als viel häufiger 
vorkommend, als man früher annahm. 

Wir haben davon 12 Fälle unter unseren 1000 beobachtet. 
Wenn wir hier noch das Malum senile coxae einrechnen, was mit 
grossem Rechte geschehen kann, da diese Krankheit nichts anderes 
darstellt als eine Coxa vara senilis, haben wir 20 Fälle; mit Hinzu¬ 
rechnung der deform geheilten Schenkelhalsbrüche, die wir als Coxa 
vara traumatica auffassen können, sind es 22. 

Besonders bemüht haben wir uns, bei der Coxa vara statica 
das Anfangsstadium der Krankheit aufzufinden, und wir glauben das 
bei einer Reihe von Patienten im Alter von 6—14 Jahren erreicht 
zu haben. Diese Patienten kamen mit Klagen, welche an das An¬ 
fangsstadium der Coxitis erinnern, in die Behandlung; sie waren 
zum Theil von anderer Seite als Coxitis diagnosticirt. Die Gering¬ 
fügigkeit der Beschwerden, häufige Doppelseitigkeit derselben Hessen 
uns nicht an eine Coxitis glauben. 

Wir behandelten diese Fälle als Coxa vara und der Erfolg 
der Behandlung scheint unsere Annahme zu bestätigen. 

Messbare Differenzen waren nur bei einem dieser Patienten 
nachzuweisen, bei einem Mädchen von 10 Jahren, wo der Trochanter 
IV* cm über der R.-N.-L. stand. Einem geringeren Hochstand als 
1V* cm dürfte man eine pathognomische Bedeutung nicht beimesseu 
können. 

Die Behandlung der Coxa vara führten wir nach Grundsätzen, 
welche von denen anderer Autoren in mancher Beziehung ab weichen. 
Unsere Indicationen ergaben sich aus einer Unterscheidung der Coxa 
vara als werdender und Coxa vara als fertiger Deformität. Beide 
sind ebenso wie z. B. bei der Skoliose grundverschiedene Begriffe. 
Als werdende Deformität ist die Coxa vara der Ausdruck eines 
Missverhältnisses zwischen statischer Inanspruchnahme und Leistungs- 


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1000 Patienten. 


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fabigkeit des Schenkelhalses. Als fertige Deformität ist sie eine 
bestimmte Verbiegung des Schenkelhalses. Die Unterscheidung der 
Erscheinungen, welche von der werdenden und welche von der fertigen 
Deformität erzeugt werden, ist nicht schwer. Die erstere macht 
?or allen Dingen die bekannten Goxa vara-Schmerzen, während die 
letztere die Veränderungen der Gonfiguration und der Beweglichkeit 
erzeugt. Aus der Unterscheidung dieser beiden pathologischen Be¬ 
griffe ergeben sich als Indicationen für die Behandlung einmal der 
Ausgleich des ursächlichen statischen Missverhältnisses, im anderen 
Fall die Gorrectur der Deformität, ln sämmtlichen Fällen, in denen 
Schmerzen das Bild beherrschen, hat unter allen Umständen die Be- 
habdlungsindication der werdenden Deformität vor den Indicationen, 
welche die auch möglicherweise vorhandene fertige Goxa vara ver¬ 
langt, den ersten Anspruch auf Berücksichtigung. Erst wenn wir 
die Schmerzen gebannt haben, taucht die Frage auf, ob und wie 
weit wir auch gegen die bestehende Deformität Vorgehen können. 
Die Erfüllung der ersten Indication ist in verschiedener Weise mög- 
bch. Wir können das Zuviel der Belastung nehmen, wir können 
das Zuwenig der Tragfähigkeit ausgleichen oder wir können beides 
tbun. In leichten Fällen, zumal in den oben beschriebenen Anfangs¬ 
stadien, kommt man zum Ziel, wenn man dem Kranken jede An¬ 
strengung des Schenkelhalses verbietet und durch Massage und 
Gymnastik die Glutäalmusculatur kräftigt. In schwereren Fällen 
ist andauernde Bettruhe nöthig, man kann mittelst Extension die 
Contracturzustände der Hüftmuskeln, ein für dieses Stadium wichtiges 
Symptom, bekämpfen. 

Ein höheres Ziel der Therapie musste es sein, das letztere 
auch in einer ambulanten Behandlung zu leisten. Dafür stehen uns 
Contentivverbände und Stützapparate zur Verfügung. 

ln einem Falle gelang es uns, einen Kranken mit doppel¬ 
seitiger schwerer Deformität durch Gipsverbände, welche Becken 
und Oberschenkel umfassten, nach einander auf beiden Hüften von 
seinen Schmerzen zu befreien. In einem anderen Falle kamen wir 
mit diesem Verbände nicht zum Ziel, wohl aber durch einen Schienen- 
bQlsenapparat, der das erkrankte Gelenk bei der Function entlastete. 

Diese Apparate haben wir auch bei der Goxa vara senilis 
(Malum senile coxae), sowie bei der Goxa vara traumatica ver¬ 
wendet. 

Ueberraschenderweise kamen wir mit diesen Hilfsmitteln auch 

Z«IUohrift für ortbopiditohe Chirurgie. VIII. Band. 2 


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A. Schanz und Emst Mayer. 


bei den schwereren Fällen so weit, dass eine Correction der De¬ 
formität uns schliesslich nicht angezeigt erschien. Vor allen Dingen 
der erwähnte Patient mit doppelseitiger Deformität, der infolge seiner 
Erkrankung zum völligen Krüppel geworden schien, der sich nur 
ganz mühsam an Krücke und Stock fortbewegen konnte, kam so 
weit, dass er heute als Hausbursche in einer Krankenanstalt thätig 
ist und seinen Dienst vollständig leisten kann. Er ist ohne jede 
Schmerzen und die Beweglichkeit seiner Hüftgelenke hat sich so 
weit wieder hergestellt, dass die Gefahr eines operativen Eingriffes 
in gar keinem Verhältniss zu dem Gewinn steht, den derselbe geben 
könnte. Die von den verschiedensten Autoren berichteten Operations¬ 
resultate sind ja nichts weniger als eine Ermunterung zum 
Operiren. 

Fassen wir noch einmal die Grundsätze, welche uns bei der 
Behandlung der Coxa vara bestimmten, kurz zusammen, so steht 
unserer Auffassung nach die Nothwendigkeit der anatomischen Cor¬ 
rection der Deformität niemals an erster Stelle, vielmehr bleibt sie 
nur als relative Indication bestehen, nachdem die erste Indication, 
die Sistirung des deformirenden Processes, erfüllt ist. 

Anhangsweise sei noch eines Krankheitsfalles gedacht, der uns 
Anlass zu einer auffälligen Fehldiagnose gab. Es handelte sich um 
einen Patienten, der angab, schon in früher Jugend an den Hüften 
leidend gewesen zu sein. Er zeigte Trendelenburg’sches Phä¬ 
nomen, durch Muskelspasmen fixirte Hüftgelenke, hochgradige Schmerz¬ 
haftigkeit und beiderseitigen Hochstand des Trochanters. Auf der 
einen Seite fand sich medial vom Trochanter ein runder Tumor 
(das Caput femoris), auf der anderen Seite war durch die contra- 
hirten Weichtheile hindurch ein Kopf nicht zu fühlen. — Es wurde 
die Diagnose doppelseitige angeborene Hüftgelenksverrenkung ge¬ 
stellt, wobei angenommen wurde, dass der nicht zu fühlende Kopf 
stark atrophisch und abgeplattet sei, wie man dieses so oft findet. 
An dem Patienten sollte die doppelseitige Pseudarthrosenoperation 
nach Hoffa vorgenommen werden. Bei der Operation stellte es 
sich heraus, dass es sich um eine doppelseitige Coxa vara handele. 
Der Tumor, welcher den Kopf vorgetäuscht hatte, war ein sich hart 
anfühlendes Myxom von der Grösse eines Schenkelkopfes, welches 
oben dem Schenkelhals aufsass. Der Kranke hatte noch an anderen 
Stellen eine Reihe von Myxomen, von denen wir etliche entfernten. 


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1000 Patienten. 


19 


Coxitis. 

Die Behandlung der Coxitis wurde ausschliesslich und prin- 
eipiell als eine conservative und ambulante geführt nach den Grund¬ 
sätzen, wie sie Hoffa aufgestellt hat. 

Es sei nur hervorgehoben, dass uns die Schienenhülsenapparate 
dabei ganz hervorragend gute Dienste leisteten. 

Allerdings müssen wir von 2 Fällen berichten, welche den 
sonst ausnahmslos günstigen Verlauf nicht nahmen. Merkwürdiger- 
und bedauerlicherweise handelte es sich in beiden Fällen um die 
Söhne von Aerzten. Der eine Knabe, welcher sofort nach Anlegung 
des Schienenhülsenapparates eine Reise nach England unternahm, 
bekam dort eine Verschlimmerung seines Leidens und wurde in die 
Behandlung eines englischen Collegen gegeben. Bei dem zweiten 
Patienten gelang es uns nicht, im Apparat die nächtlichen Schmerzen, 
welche ihn schwer quälten, zu beseitigen, obgleich der Patient dabei 
eine sehr gute Gehfähigkeit im Apparat behielt. Der Patient wurde 
in andere Behandlung gegeben und starb, nachdem die Krankheit 
ungeiahr ein Jahr gespielt hatte. In allen anderen Fällen gelang 
es uns, die Erkrankung, soweit es in der kurzen Zeit möglich war, 
zur Besserung bezw. Ausheilung zu bringen. 

Von Interesse war unter den Coxitisfällen noch die Krankheit 
eines Knaben mit ausgesprochenen Symptomen einer nicht mehr 
ganz im Anfänge befindlichen Coxitis. Der Knabe stammte aus 
einer Bluterfamilie und war selbst Bluter. Bei diesem waren in 
einem Jahre alle Erscheinungen der Entzündung beseitigt und sie 
blieben beseitigt auch nach der Abnahme des Apparats. Dieser 
ausserordentlich günstige Verlauf des Falles in Verbindung mit der 
Anamnese und dem sonstigen Status lässt die Vermuthung nicht un¬ 
wahrscheinlich erscheinen, dass der Patient nicht an einer tuber- 
culösen Entzündung erkrankt war, sondern dass das Gelenk ein 
Blntergelenk gewesen sei. lieber den Fall wird an anderer Stelle 
noch ausführlicher berichtet werden. 

Die Behandlung der coxitischen Deformitäten wurde in allen 
Fällen, in welchen der Entzündungsprocess noch nicht zur Aus¬ 
heilung gekommen war, mit der Behandlung desselben combinirt. 
Wir benutzten hierzu Hilfsapparate, die mit dem Schienenhülsen¬ 
apparate vereinigt wurden. (Ihre genauere Beschreibung s. Schanz, 
»lieber orthopäd. Apparate.^ Zeitschr. f. orthop. Chirurgie VI. Band.) 


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A. Schanz und Ernst Mayer. 


Zur Einleitung der Correctur von Beugestellungen haben wir bei 
einer Reibe von Patienten mit grossem Erfolge das von Dollinger 
angegebene Verfahren benutzt. 

Mit diesem unblutigen Verfahren kamen wir in jedem Falle 
zu Stande. Wir erreichten functionelle Verlängerungen der Ex¬ 
tremität bis zu 10 cm. Dieses Verfahren ist natürlich aussichtslos 
bei Kranken mit knöcherner Ankylose zwischen Becken und Schenkel¬ 
kopf. ln 2 Fällen kamen uns solche zur Behandlung. Wir be¬ 
nutzten zu ihrer Correctur die subtrochantere und die intertrochantere 
schräge Osteotomie. Wir glaubten diese Operation der directen 
Lösung der Ankylose vorziehen zu sollen, weil wir hiermit an dem 
früheren Entzündungsheerd hätten eingreifen müssen und so die Ge¬ 
fahr vorhanden war, etwa noch vorhandene ruhig liegende Krank¬ 
heitskeime wieder zur Anregung zu bringen. Einer der hier be¬ 
richteten Fälle setzte, nachdem der Knochen durchtrennt war, der 
Correction ganz colossale Schwierigkeiten entgegen und es kostete 
viele Mühe, mit dem Dollinger'schen Verfahren die geschrumpften 
Weichtheile zum Nachgeben zu zwingen. Besonders wurde die Aus¬ 
führung dieser Correction durch die frische Operationswunde com- 
plicirt. 

Genu valgum und Genu vamm. 

Häufig zur Behandlung kommende Deformitäten sind das 
Genu valgum und varum. Wir haben uns als Richtschnur für die 
Behandlung folgende IIeberlegung dienen lassen: Eine Localbehand¬ 
lung wird erübrigt oder kann wenigstens zurückgestellt werden, so 
lange Aussicht vorhanden ist, durch eine Allgemeinbehandlung die 
Deformität zu corrigiren, wie dieses ja beim rhachitischen Genu 
valgum und varum im Alter der Kinder bis zu 6 Jahren zutreffend 
ist. Nur in den schwersten Fällen, wo die Verhältnisse für die 
Gelenke so ungünstig lagen, dass schwere Deformirungen der Ge¬ 
lenkflächen entstehen mussten, haben wir in diesem Alter Correctionen 
ausgeführt. Die Correctionen wurden dann erzielt auf dem Wege 
der Osteoklasie und Osteotomie, die durch Sicherheit des Resultates 
und schnelle Erreichung desselben uns allen anderen Methoden über¬ 
legen schienen. Nur bei ganz messerscheuen Patienten haben wir 
Schienenbehandlungen durchgeführt oder den Wolff’schen Etappen¬ 
verband verwendet. 

Schienenbehandlung haben wir ausserdem eingeleitet bei 


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1000 Patienten. 


21 


Patienten unter dem 6. Jahre und bei leichten Deformitäten. Die 
Art der verwendeten Schienen war verschieden. Nachdem wir in 
der ersten Zeit vielfach die Heusner’sche Spiraldrahtschiene ge¬ 
wählt hatten, kamen wir zu einer eigenen Construction. Unsere 
Schiene besteht ans dem Beckenring mit Schenkelriemen und einer 
äusseren Seitenschiene mit Fusshülse. Die Seitenschiene hat eine 
besondere Vorrichtung zur Verlängerung. Wenn die Extremität 
in diesem Apparat fest fixirt ist, wird durch eine Bandage das Knie 
gegen die Schiene herangezogen. Wir lassen die Schiene nur als 
Nachtschiene anlegen. 

Bei der Behandlung des Genu varum haben wir dieselben 
Grundsätze verfolgt wie bei dem Genu valgum. In besonders 
schweren Fällen haben wir hier nicht nur eine Osteotomie ausge- 
föhrt, sondern sind bis zu drei an einer Extremität gekommen. 
Während wir beim Genu valgum die Osteotomie als supracondy- 
läre ausführten, waren beim Genu varum die hauptsächlichsten 
Operationsstellen unterhalb der Tibiaepiphyse und in der Mitte der 
Femurdiaphyse. Wurde die letztere Stelle gewählt, so führten wir 
die schiefe Osteotomie aus und suchten mit deren Hilfe eine reelle 
Verlängerung des Beines zu erzielen. Bei einer erwachsenen 
Patientin, welche infolge der Correction der Deformität eine Körper- 
verlängerung von 6 cm gewann, glauben wir entschieden durch 
die schiefe Osteotomie dieses Resultat mit bewirkt zu haben. 

Gonitis. 

Die tuberculöse Gonitis wurde von uns nach denselben Prin- 
cipien, wie die tuberculöse Coxitis behandelt, d. h. unsere Behand¬ 
lung war eine conservative und wir bevorzugten, um die Indica- 
tionen der Fixation und Entlastung zu erfüllen, entsprechend con- 
strnirte Schienenhülsenapparate (s. Schanz, Ueber orthopädische 
Apparate. Zeitschr. f. orthop. Chirurgie. VI. Band). Die Correctur 
der Deformität erreichten wir im allgemeinen infolge des Zuges der 
elastischen Feder in kurzer Frist und wir stellten dann das Knie 
in Strecksteilung fest. Gegen die Subluxationsstellung wurde durch 
Verstellung der Hülsen, durch Gebrauch des Braatz’schen Sectors 
in der Weise angekämpfb, wie es in der oben erwähnten Arbeit 
ausführlich beschrieben ist. 

Der Verlauf der Erkrankung gestaltete sich unter dieser Be- 


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A. Schanz und Ernst Mayer. 


handlung ausnahmslos günstig. Wir könnten bei einigen Patienten, 
die im Beginn der Erkrankung zur Behandlung kamen, schon heute 
von Heilung sprechen, wenn wir nicht der Ueberzeugung wären, 
dass man selbst 2—3 Jahre nach Beseitigung aller Entzündungs¬ 
symptome noch nicht vor einem Recidiv absolut sicher ist. Be¬ 
sondere Erwähnung möge an dieser Stelle folgender Fall finden: 

Ein lOjähriges Kind, welches im ersten Lebensjahre an einer 
tuberculösen Gonitis erkrankt war und welches unter conservativer 
Behandlung alle Entzündungserscheinungen verloren hatte, wurde 
uns übergeben mit der Aufgabe, die eingetretene Beugecontractur- 
stellung zu beseitigen und womöglich eine gewisse Beweglichkeit 
des Gelenks herzustellen. Es gelang uns, beide Bestimmungen zu 
erfüllen und zwar dadurch, dass wir die Streckung des Knies im 
Schienenhülsenapparat äusserst langsam bewerkstelligten und dass 
wir die Streckfeder immer wieder ausser Thätigkeit setzten, um 
den Gelenkenden die Möglichkeit zu geben sich neu einzuschleifen. 
Nachdem es uns gelungen war, die völlige Streckung auf diese 
Weise zu erreichen, sind wir jetzt noch darüber, ebenso die Beuge- 
fahigkeit wieder zu erhöhen. Es ist uns geglückt, bis jetzt eine 
Excursionsfähigkeit des Gelenks von über 45® zu erreichen, ein 
Resultat, welches unsere kühnsten Erwartungen übertraf und das 
wir noch weiter zu bessern hoffen. 

Es sei an dieser Stelle noch eines interessanten Falles gedacht. 

Das betreffende 9jährige Kind kam mit hochgradigen Con- 
tracturen beider Kniee, beider Füsse, beider Ellenbogen und beider 
Hände in Behandlung. 

Die Krankheit hatte vor 5 Jahren begonnen mit grossen spontan 
auftretenden subdermalen und Gelenkblutungen. Der Verlauf brachte 
eine Reihe solcher Attacken, die unter Fiebererscheinungen und 
mit colossalen Schmerzen in allen befallenen Körperregionen ab¬ 
liefen. Die subdermalen Blutergüsse vereiterten. Schliesslich waren 
grosse schmerzhafte Narben an ihrer Stelle. Eine zuerst nur versuchs¬ 
weise eingeleitete Behandlung setzte sich als Ziel, durch vorsichtige 
Massage und passive Bewegungen die CirculationsVerhältnisse in 
den Extremitäten zu bessern. In überraschender Weise wurde das 
Kind in verhältnissmässig kurzer Zeit unter unserer Behandlung 
schmerzfrei, die contracturirten Gelenke wurden loser, die Schmerzen 
schwanden und das Allgemeinbefinden des Kindes hob sich ausser¬ 
ordentlich. Nun gingen wir an die Streckung der Contracturen. 


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1000 Patienten. 


23 


Es gelang uns mit entsprechend construirten Hülsenapparaten eine 
vollständige Streckung der Eniee und einen sehr hohen Grad der 
Correction der Elumpfüsse zu erreichen. Das Eind war nach 
drei viertel Jahren so weit, dass es einige Schritte frei gehen 
konnte; da wurde leider durch eine neue Attacke, die schwerer war 
als alle vorhergegangenen, nicht nur der von uns erreichte Erfolg 
zu nichte gemacht, sondern das Eind erkrankte so schwer, dass man 
jetzt den Exitus letalis als unvermeidlich voraussieht. 

QuadrioepsatropUe. 

Ein Erankheitsbild, welches bei der Differentialdiagnose der 
Eniegelenkserkrankung eine grosse Rolle spielt, ist die Quadri- 
cepsatrophie. Nicht selten kommen Patienten in unsere Behandlung, 
welche seit langer Zeit an beträchtlichen Schmerzen und Beschwer-* 
den von Seiten des Eniegelenks leiden. Die Schmerzen sind un¬ 
bestimmter Natur; eine Beeinträchtigung der Function zeigt sich in 
der Behinderung der Patienten, lange zu gehen; besonders machen 
sich die Störungen beim Treppab- und Bergabgehen bemerkbar. 
Es entstehen sehr leicht kleine Distorsionen des Gelenks. Bei der 
Untersuchung findet man entweder ein ganz normales Gelenk oder 
aber Veränderungen, die in keinem Verhältniss zu den vorhandenen 
Beschwerden stehen. 

Fühlt man nach dem Quadriceps femoris, so findet man eine 
deutliche, zuweilen hochgradigeVoluraenverminderung und Erschlaffung 
desselben und wir finden beim Messen in der Mitte des Oberschenkels 
Umfangsverrainderungen bis zu 7 cm. In schwereren Fällen findet 
man deutliche Temperaturunterschiede zwischen gesunder und 
kranker Seite. 

Diese Patienten sind durch eine Massage- und Gymnastikkur 
und sonstige Massnahmen, welche eine Eräftigung des Quadriceps 
bezwecken, vollständig zu heilen. 

Habituelle Patellarluxation. 

Kurz erwähnt sei hier die Therapie zweier Fälle von habi¬ 
tueller Patellarluxation. 

Bei dem ersten Falle, einer Verkäuferin von 30 Jahren, hatte 
sich die Luxation nach einem Trauma entwickelt. Es gelang uns. 


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24 


A. Schanz und Ernst Mayer. 


durch eine Eniekappe, deren Beschreibung hier zu weit führen 
würde, das Ausweichen der Patella zu verhindern. 

Im zweiten Falle, bei einem Mädchen von 12 Jahren, hatte 
sich das Leiden beiderseits im Verlaufe von mehreren Jahren ohne 
erkennbare Ursache entwickelt. Wir führten bei dieser Kranken 
beiderseits mit gutem Erfolge die Le Dentu’sche Operation aus 
(s. Schanz, Zeitschrift f. orthop. Chirurgie, voriger Band). 

Elnmpfuss. 

Die Klumpfussbehandlung führten wir nach der von Lorenz 
angegebenen Weise mittelst des modellirenden Redressements durch. 

Eine Anzahl von Fällen, welche wir nach diesem Princip be¬ 
handelten und aus der Praxis anderer Aerzte zu sehen bekamen, 
Hessen uns mit dem Erfolge dieser Methode nicht ganz zufrieden 
sein. Man erreicht immer eine Correction der Spitzfussstellung. 
Der Patient tritt mit voller Sohle auf, aber es bleibt noch eine ge¬ 
wisse Adductionsstellung des Vorderfusses bestehen, die Fusssohle 
bleibt zu kurz, der Fuss ist, wenn man sich so ausdrücken darf, 
nicht ausgerollt. Dass diese Resultate nicht etwa einen Misserfolg 
des Lorenz’schen Redressements in unseren Händen vorstellt, beweist 
die angeführte Thatsache, dass wir analoge Fälle aus der Praxis anderer 
Aerzte zur Beobachtung bekamen, es beweist dies ferner das immer 
wieder auftretende Bedürfniss nach Schienen zur Nachbehandlung 
des so corrigirten Elumpfusses. Ein wirklich volles Resultat bedarf 
aber einer Nachbehandlung nicht. 

Die Ursache dieser nicht befriedigenden Resultate fanden wir 
in der Achillotomie, die Lorenz und auch andere Autoren, welche 
ähnliche Methoden angaben (Phelps, Wolff, König), als ersten 
Act der Operation aufstellten. Mit der Durchtrennung der Achilles¬ 
sehne verlieren wir den Gegenhalt, dessen wir zur Ausrollung des 
Fusses bedürfen. Wir Hessen deshalb die AchiUotomie bei dem 
Redressement zunächst unausgeführt, wir stellten den Fuss, der sich 
dann in rechtwinklige Stellung nicht bringen lässt, in möglichst 
geringer Spitzfussstellung im Gipsverband ein, mit der Absicht, die 
AchiUotomie dem Redressement 4 Wochen später folgen zu lassen 
(s. auch Schanz, Zu den Klumpfussoperationen. Centralblatt f. Chi¬ 
rurgie 1899, Nr. 25). Wir waren überrascht, dann bei einer An¬ 
zahl von Patienten, nicht nur bei kleinen Kindern, sondern auch 


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1000 Patienten. 


25 


bei älteren, z. B. einem 12jährigen Knaben, zu sehen, dass bei dem 
Verbandwechsel der Spitzfuss zu corrigiren war, ohne dass eine 
Achillotomie folgen musste. Wo dies nicht der Fall war, führten 
wir die Achillotomie als Nachoperation aus. Unsere Resultate haben 
sich auf diesem Wege wesentlich gebessert, so dass bei den späteren 
Fällen eine Nachbehandlung überhaupt nicht mehr von Nöthen war 
und wir sehr schön ausgerollte Füsse erhielten. 

Als eine nicht gerade häufige Beobachtung sei kurz folgende 
angeführt: 

Ein neugeborenes Kind wurde uns gebracht, auf der einen 
Seite mit Plattfuss, auf der anderen mit Elumpfuss. Es war inter¬ 
essant zu sehen, wie schön die Füsse in einander verschränkt werden 
konnten. Fälle wie dieser sind besonders von Interesse, da sie die 
Unhaltbarkeit der neuerdings von Heusner aufgestellten Hypothese 
Ober die Entstehung des Klumpfusses beweisen. 

Plattfüss. 

Bezüglich der Plattfüsse bestand unser Erankenmaterial aus 
242 Fällen. Der Plattfuss nimmt also, was die Häufigkeit seines 
Vorkommens betrifft, nächst den Skoliosen die erste Stelle ein. Die 
meisten Plattfüsse waren doppelseitig (198), je 19 waren rechts- 
bezw. linksseitig, 6 waren einseitig ohne Angabe des erkrankten 
Fusses. Männlichen Geschlechts waren 107, weiblichen 111 (nach der 
Hoffa’schen Statistik 217 bezw. 121; s. Hoffa, Lehrbuch der 
orthopädischen Chirurgie, 3. Auflage, S. 776 und 777). 

Dem Alter nach vertheilen sich die Fälle von 130 Patienten 
wie folgt: 


0-1 

Jahr 

1 

36-40 

Jahre 

11 

2—5 

Jahre 

11 

41—45 

n 

4 

6-10 

11 

6 

46—50 

n 

2 

11—15 

n 

21 

51—55 


3 

16-20 

» 

29 

56—60 

1» 

4 

21-25 

n 

19 

61—65 

n 

2 

26-30 

n 

12 

66-75 

i> 

1 

31—35 

n 

4 





Der Plattfuss befallt also hauptsächlich das jüngere Lebens¬ 
alter, bei unserem Material meistens zwischen 16—20 Jahre. Was 
den Plattfuss als Berufskrankheit angeht, so findet er sich häufig 


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26 


A. Schanz und Ernst Meyer. 


bei denjenigen Ständen, bei welchen vieles Stehen und Gehen er¬ 
forderlich ist, besonders bei Kellnern, Tischlern, Fleischern, Brief¬ 
trägern, Laufburschen, Dienstmädchen, Ladnerinnen; er findet sich 
dagegen auch häufig bei Frauen nach der Zeit des Glimacteriums 
oder wenn sie aus sonstigen Gründen schwerer und behäbig werden 
(z. B. Gravidität). Auch bei schwerer werdenden Männern stellt 
sich der Plattfuss nicht selten ein. 

Aus der arbeitenden Classe allein suchten 23 Frauen und 
58 Männer die Anstalt wegen Plattfussbeschwerden auf, ein Zahlen- 
verhältniss, welches der Hoffa’schen Statistik (die der Münchener 
Poliklinik entnommen ist) ungefähr entspricht. Der Unterschied 
zwischen diesen Zahlen und der Hoffa’schen Statistik einerseits 
und unserer Gesammtstatistik über Pes planus andererseits lässt sich 
daraus erklären, dass gerade die Frauen der sogen, besseren 
Stände ein grosses Contingent zu unseren Plattfusspatienten stellten. 

Der Behandlung des Plattfusses ist in der Anstalt besondere 
Aufmerksamkeit gewidmet worden und zum Dank dafür konnten 
gerade in diesen Fällen besonders schöne Erfolge erzielt werden. 
Die Beobachtungen über Plattfuss und die Art der Therapie sind 
ausführlich beschrieben in der Zeitschrift für orthopädische Chirurgie 
VI. Band: A. Schanz, üeber Plattfussbeschwerden, Plattfussdiagnose 
und Plattfussbehandlung. Es sei nur noch auf wenige Punkte hin¬ 
gewiesen. 

Wir haben in der Behandlung des nicht fixirten Plattfusses 
mit der in oben erwähnter Arbeit näher beschriebenen Celluloidsohle 
dauernd sehr günstige Resultate erzielt und sind trotz verschiedenster 
Versuche nicht dazu gekommen, ein anderes Material zu wählen. 
Die allerdings nicht unbegrenzte Haltbarkeit des Celluloids muss 
man in Kauf nehmen, aber den sonstigen Annehmlichkeiten des 
Materials gegenüber ist dieses Uebel nicht allzu gross. Wir verwen¬ 
den nur für Arbeiter, die ganz besonders hohe Ansprüche an die 
Sohlen stellen müssen, Stahl- und Nickeleinlagen. Aluminium hat 
sich uns gar nicht bewährt. Die immer höchst unangenehm em¬ 
pfundene mangelnde Elasticität des Metalls haben wir dadurch mit 
einigem Erfolg zu mindern gesucht, dass wir die Hälfte der Wöl¬ 
bung durch eine Korkauflage herstellten. Die von Evens und 
Pistor in den Handel gebrachten Wagner’schen Stahlsohlen mit 
Celluloidauflage haben sich uns als von sehr kurzer Haltbarkeit 
erwiesen und wir haben dieselbe, da sie ausserdem den verschiedenen 


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1000 Patienten. 


27 


Formen der Füsse nicht anzupassen sind, nach einem kurzen Ver¬ 
such wieder aufgegeben. 

In der Behandlung des contracten Plattfusses sind wir immer 
mit der Redression, wie sie in der oben citirten Arbeit geschildert 
ist, zu Yollen Resultaten gekommen. Es sei dies hier ausdrücklich 
betont, da Vulpius Zweifel an dieser Möglichkeit ausgesprochen 
hat, und es sei bemerkt, dass sich unter unseren Patienten eine ganze 
Reihe hochgradigster Deformitäten und hochgradigster Contractur- 
zustände befunden hat. In letzter Zeit haben wir eine Anzahl ent- 
zQndlicher und contracter Plattfüsse mit gutem Erfolg mit Heft¬ 
pflasterverbänden behandelt, wie Hoffa sie nach Sayre zur Behand¬ 
lung der Fussgelenksdistorsion empfahl. Der Erfolg der Verbände 
war eine wesentliche Abkürzung und Vereinfachung der Behandlung. 

Krankheiten des Nervensystems. 

Den Nervenkrankheiten ist neuerdings in der Orthopädie be¬ 
sonders grosses Interesse gewidmet worden, wie dieses das kürzlich 
erschienene schöne Werk Hoffa’s: ,Die Orthopädie im Dienste 
der Nervenheilkunde“ bestätigt. 

Die spinale Kinderlähmung hat von jeher die Aufmerk¬ 
samkeit des Orthopäden besonders in Anspruch genommen. In ihrer 
Behandlung sind wir neuerdings durch die Vervollkommnung der 
orthopädischen Technik ein grosses Stück weiter gekommen. Das 
Bild, welches die spinale Kinderlähmung erzeugt, ist ein so ausser¬ 
ordentlich variables und die entsprechenden Massnahmen dafür so 
different, dass es uns nicht möglich ist, an dieser Stelle Ausführliches 
über unser Vorgehen in den einzelnen Fällen anzugeben. Wir 
müssen uns mit der Angabe beschränken, dass wir mit Massage, 
Gymnastik, Elektrisation und hydrotherapeutischen Massnahmen ver¬ 
suchten, gegen die Lähmungen anzukämpfen. Wir können fest¬ 
stellen, dass auch in diesen Fällen ausdauernde, sorgfältige Arbeit 
gar oftmals im Stande ist, auch dann noch nennenswerthe Erfolge 
zu erreichen, wo solche nach hergebrachter Auffassung nicht für 
möglich erschienen. Contracturen infolge der Lähmungen haben 
wir corrigirt mit Sehnendurchschneidungen, modellirendem Redresse¬ 
ment und redressirenden Apparaten. 

Zur Herstellung völlig oder theilweise aufgehobener Gehfähig¬ 
keit verwenden wir mit schönen Erfolgen entsprechende Schienen¬ 
hülsenapparate. 


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28 


A. Schanz und Ernst Meyer. 


Spastische Contracturen. Die Behandlung dieser Fälle 
wurde von uns nach den neuerdings von Hoffa und Lorenz ge¬ 
gebenen Grundsätzen geführt, d. h. wir beseitigten die Contracturen 
mit Myo- und Tenotomien mit darauf folgenden Bedressionen und 
liessen dann eine Behandlung mit Massage und Gymnastik folgen 
unter systematischer Einübung normaler Bewegungen. In einem 
ganz besonders schweren Falle, bei einem 6jährigen E^naben mit 
Little’scher Contractur, der weder stehen noch gehen konnte, 
mussten wir dazu noch Schienen geben. Wir konnten damit auch 
in diesem schwersten Falle dem Kinde die Fähigkeit zum Stehen 
und eine gewisse Gehmöglichkeit verschaffen, die sich im Verlauf 
der Nachbehandlung sehr schön hebt. 

Im Anschluss an die Little'sche Contractur sei noch ein Fall 
von erworbener spastischer Gliederstarre erwähnt. Der 7 Jahre 
alte Knabe hatte im 4. Jahre angeblich eine Hirnhautentzündung 
durchgemacht und bot jetzt das typische Bild einer hochgradigen 
Little'sehen Contractur. In diesem Falle erzielten wir ein beson¬ 
ders schönes Behandlungsergebniss. Der Patient geht jetzt Strecken 
bis zu einer Wegstunde. 

Die traumatische Neurose zeigten zwei Patienten. Der 
eine Patient klagte nach einer beim Militär erlittenen Verletzung 
des Knies über schwere Beschwerden unbestimmter Natur von 
Seiten dieses Gelenks^ für die sich kein anatomisches Substrat nach- 
weisen Hess, ausser leichten Reibungsgeräuschen im Knie. Der 
andere Kranke war im Bergwerk verunglückt beim Sprengen. 
Er hatte einen spastischen Klumpfuss bekommen bei hochgradiger 
Druckempfindlichkeit des Nervus tibialis in der Gegend des inneren 
Knöchels. Eine Dehnung des Nerven von dieser Stelle aus war 
von nur vorübergehendem Erfolge. Es gelang uns nicht, ebenso 
wenig wie beim vorhergehenden Patienten, mit unseren sonstigen 
Hilfsmitteln einen Erfolg zu erreichen. Beide Patienten zeigten 
deutliche Störungen der Psyche. 

Günstigere Resultate erzielten wir bei der Behandlung der 
Folgezustände von Apoplexien, bei Tabes, besonders aber bei Ischias 
und Schreibkrampf. 

Hängebauoh, Wanderniere, Bauch- und Nabelbrüohe, 

Höchst befriedigende Erfolge liessen uns in den bezeichneten 
Fällen die von Hoffa angegebenen Hüftbügelleibbinden erreichen. 


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1000 Patienten. 


29 


Was dieselben dem Hängebauch gegenüber zu leisten im Stande 
sind, ist in einer kleinen Mittbeilung gezeigt (s. Deutsche med. 
Wochenschr. 1898, Nr. 40. A. Schanz, Zur Bauchbindenfrage). 

Hervorbeben wollen wir nur, dass es uns bei allen zur Be¬ 
handlung gekommenen Fällen gelungen ist, Wandernierenbeschwerden 
zu beseitigen. Besonders deutlich war der Erfolg bei einer Patientin, 
welcher wegen dieser Beschwerden schon eine Niere exstirpirt war 
und der nun die andere auf die Wanderschaft gegangen war. 

Leisten- und Sohenkelhemien. 

Die uns zur Beobachtung gekommenen Fälle waren ausnahms¬ 
los schwierigere. Es handelte sich bei ihnen um die Construction 
schwierigerer Bandagen. Wir haben in den verschiedensten Fällen 
die verschiedensten Systeme und Constructionen fast durchgehends 
mit gutem Erfolge verwendet. Besonders oft hat uns die Löwy’sche 
Pelotte ausgezeichnete Dienste geleistet. 

Prothesen. 

Prothesen wurden im ganzen 7 angefertigt. In Betracht 
kamen dabei folgende Ersatztheile: 

Eine Prothese für den rechten Vorderarm, eine für den linken 
Arm, wo die Amputation zwischen Mittelarm und unterem Drittel 
des Oberarms ausgeführt war, eine für die Hand. Ein 8jähriger 
Knabe bekam Ersatztheile für den linken Unterschenkel und rechten 
Oberarm. Ausserdem wurden noch zwei Prothesen für den Ober¬ 
und eine für den Unterschenkel angefertigt. 


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II. 


Aus dem orthopädischen Ambulatorium der Königl. 
chirurgischen Klinik zu München'). 


lieber periostale Sehnenverpflanzungen. 

Von 

Privatdocent Dr. F. Lange. 

Meine Herren! Wenn ich mir erlaube, Ihnen einige Kranke 
Yorzustellen, bei denen der Ersatz von gelähmten Muskeln durch 
Sehnenverpflanzungen geglückt ist, so geschieht dies nicht, um die 
Casuistik dieser jungen Operation um einige Fälle zu vermehren, 
sondern weil die Methode, die ich zur Anwendung gebracht habe, 
sich von den bisher gewöhnlich geübten Verfahren unterscheidet, 
und weil sie, wie ich glaube, thatsächliche Vorzüge besitzt. 

Die bisherigen Operationsmethoden haben das Gemeinsame, 
dass der kraftspendende Muskel ganz oder theilweise auf die Sehne 
des gelähmten Muskels verpflanzt wird, so dass der neugebildete 
Muskel in seinem centralen Theil aus gesunder Muskelsubstanz, in 
seiner peripheren Partie aber aus einer atrophischen, durch die 
Lähmung mehr oder weniger schwer geschädigten Sehne sich zu¬ 
sammensetzt. Als ich bei meinen Sehnenoperationen, die ich vor 
2^/2 Jahren begann, sah, wie schlaff und dünn die blossgelegte Sehne 
des gelähmten Muskels vielfach war, hatte ich von vornherein Be¬ 
denken, ob diese in ihrer Ernährung so schwer geschädigte Sehnen¬ 
partie die Functionen einer normalen Sehne übernehmen könnte. 
Ich fürchtete, dass sich die atrophische Sehne unter dem Einfluss 

*) Zum Theil vorgetragen auf der Naturforscherversammlung zu München, 
September 1899. 


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lieber periostale Sehnenverpflanznngen. 


31 


der Muskelcontractionen allmählich verlängern würde, und dass da- 
darch der Enderfolg der Operation in Frage gestellt oder beein¬ 
trächtigt würde. 

Diese Bedenken waren, wie sich später zeigte, nicht durch¬ 
gehend gerechtfertigt. Ich habe eine ganze Reihe von Fällen nach 
der alten Methode operirt und kann im allgemeinen den warmen 
Empfehlungen von Drobnik und von Vulpius, welche sich durch 
die Ausbildung und Verbreitung der Sehnen Verpflanzung ein grosses 
Verdienst erworben haben, zustimmen. Bei anderen Patienten aber 
— es handelte sich durchweg um schwere Fälle, bei denen bereits 
das Redressement Schwierigkeiten geboten hatte, und bei denen das 
kranke Glied grosse Neigung zeigte, in die deforme Stellung zurück- 
zokebren — habe ich Beobachtungen gemacht, welche meine Be¬ 
fürchtungen bestätigt haben. Ich habe bemerkt, dass der neu¬ 
gebildete Muskel zwar in der ersten Zeit nach der Verbandabnahme 
genügte, um die Deformität zu corrigiren, dass später aber, trotz¬ 
dem die Gontraction des Muskels nachzuweisen war, ein völliges oder 
tbeilweises Recidiv eintrat, und ich glaube aus dieser wiederholt 
gemachten Beobachtung schliessen zu müssen, dass die atrophische 
Sehne des gelähmten Muskels unter dem Einflüsse der Contractionen 
sich allmählich verlängern kann, und dass für schwierigere Aufgaben 
die bisherige Methode ungenügend ist. 

Auf Grund dieser Erwägungen habe ich versucht, von einer 
Benützung des gelähmten Muskels abzusehen. Ich habe das peri¬ 
phere Ende des neuen Muskels, den ich durch Abspaltung vom 
Erafbspender erhalten hatte, direct mit dem Periost verbunden und 
auf diese Weise Muskelansätze am Knochen gebildet, die unter nor¬ 
malen Verhältnissen gar nicht existiren. 

Ein Beispiel wird die Art meines Vorgehens am schnellsten 
klar machen: 

Bei dem 7jährigen Knaben (Böllner) bestand, infolge einer 
vor 5 Jahren durchgemachten Poliomyelitis, eine Lähmung der Aus¬ 
wärtsdreher, des Extensor digit. commun. und der beiden Peronei, 
und es hatte sich durch das Uebergewicht, das der Tibialis anticus 
erhalten hatte, ein Klumpfuss ausgebildet. 

Der Klumpfuss wurde von mir im November vorigen Jahres 
(1898) in Narkose redressirt und in derselben Sitzung wurde, um 
ein Recidiv zu verhüten, ein Ersatz für die gelähmten Auswärts¬ 
dreher geschaffen. 


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32 


F. Lange. 


Ich spaltete die Sehne des Tibialis anticns von ihrem Ansatz 
am ersten Keilbein aufwärts bis zum Beginn der musculösen Sub¬ 
stanz, löste die laterale Hälfte vom Knochen ab und verschob die¬ 
selbe unter der Haut des Fussrückens so weit lateralwärts, dass das 
periphere Sehnenende über der Mitte des Cuboideum zu liegen kam. 
Dort vernähte ich es, nachdem ich die Weichtheile bis auf den 
Knochen durch einen kleinen Schnitt gespalten hatte, mit dem 
Periost. Durch diese Operation hatte der Tibialis anticus zwei In¬ 
sertionen am Knochen bekommen; die mediale Sehnenhälfte griff, 
wie bisher, am ersten Keilbein an, die laterale verpflanzte Partie 
aber inserirte am Cuboideum, an einer Stelle, wo unter normalen 
Verhältnissen sich gar kein Muskelansatz findet. 

Das Resultat, das sich nun seit 10 Monaten gleich geblieben 
ist, sehen Sie. Der neugebildete Auswärtsdreher, der bei jeder Con- 
traction deutlich durchzufühlen ist, erfüllt seine Aufgabe nach 
Wunsch. Es ist eine normale Fussform und -Stellung erhalten ge¬ 
blieben; von einem ehemaligen Klumpfuss ist nichts zu sehen und 
der Knabe bewegt seinen Fuss nicht nur in guter Mittelstellung 
auf- und abwärts, sondern kann ihn auch willkürlich nach 
innen und aussen drehen. 

Auf diese wohl nicht nur für Chirurgen, sondern auch für den 
Physiologen interessante Thatsache möchte ich Ihre Aufmerksamkeit 
ganz besonders lenken. 

Der Knabe vermochte in den ersten Monaten nach der Ver¬ 
bandabnahme diese Bewegungen noch nicht activ auszuführen, ob¬ 
wohl dieselben passiv ganz leicht möglich waren; er hat erst durch 
immer wiederholte Uebungen gelernt, sowohl die mediale, an ihrem 
normalen Platz befindliche, wie die lateral verpflanzte Hälfte des 
Tibialis anticus gesondert zur Contraction zu bringen und auf 
diese Weise willkürlich den Fuss ein- und auswärts zu drehen. 

Einen zweiten Kranken, der an einem ganz hochgradigen para¬ 
lytischen Spitzklumpfuss gelitten hatte, und der in derselben Weise 
wie der vorgestellte Knabe von mir im Februar d. J. operirt worden 
ist, zeige ich Ihnen in dem 13jährigen Knaben (Ingerl). Auch bei 
ihm ist von der ehemaligen Deformität nichts mehr zu sehen. Der 
Fuss wird ganz nach Wunsch, ohne in die alte Klumpfussstellung 
zu gerathen, auf- und abwärts bewegt, aber dieser Knabe hat noch 
nicht gelernt, die mediale und laterale Partie seines Tibialis anticus 
gesondert zu contrahiren. 


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üeber periostale Sehnen Verpflanzungen. 


33 


Die Yorgestellten Fälle zeigen, dass man durch die periostale 
Sehnenyerpflanzung — wie ich das Verfahren nennen möchte — 
neue Muskeln aus völlig gesunder Muskel- und Sehnensubstanz bilden 
kann, und dass man von der Benutzung der vielfach unzuverlässigen 
atrophischen Sehne des gelähmten Muskels in der Regel absehen darf. 

Dass der an und für sich naheliegende Gedanke bisher fast 
gar nicht von den Chirurgen ausgeführt worden ist, liegt wahr¬ 
scheinlich daran, dass der eine Fall, in dem bereits vor mehreren 
Jahren vonDrobnik^) eine periostale Sehnenverpflanzung ausgeführt 
worden ist, einen ungünstigen Verlauf genommen hat. Dieser eine 
Misserfolg scheint die Autoren von einer weiteren Ausübung der 
Methode zurückgehalten zu haben. 

Und doch, meine ich, sollte gerade die grössere Frei¬ 
heit, welche der Chirurg bei der Aufstellung des Opera¬ 
tionsplanes durch die periostale Verpflanzung bekommt, 
zu einer weiteren Ausbildung der Methode reizen! Durch 
die Möglichkeit, den peripheren Ansatzpunkt des neu¬ 
gebildeten Muskels an eine beliebige Stelle des Skelets 
zu verlegen, kann man der jeweiligen Aufgabe, welche 
die Behandlung einer Deformität stellt, viel präciser ent¬ 
sprechen, als wenn man sich auf die wenigen, von vorn¬ 
herein vorhandenen Muskelansätze beschränkt. 

Auch das sei mir gestattet, an einem Beispiel zu zeigen! 

Bei dem 12jährigen Mädchen (Alte), das ich Ihnen jetzt vor¬ 
stelle, bestand eine völlige Lähmung des Gastrocnemius; der Fuss 
stand infolge dessen in hochgradiger Hackenfussstellung. Durch eine 
gleichzeitige Parese des Tibialis anticus hatten ferner die Auswärts¬ 
dreher das Uebergewicht erhalten und den Fuss in eine extreme 
Valgusstellung gebracht. Das Kind vermochte mit seinem kranken 
Fuss nicht länger als 10 Minuten zu gehen, und es bestand ein 
dringendes Bedfirfniss, diese doppelte Deformität zu beseitigen. 

Als krafkspendender Muskel drängte sich der straffe Peroneus 
longns auf. Er vermehrte die pathologische Valgusstellung und war 
gleichzeitig die Ursache der auch heute noch — wenn auch in ge¬ 
ringerem Grade — vorhandenen Hohlfussbildung. Er durfte des¬ 
halb unbedenklich geopfert werden. Ich durchschnitt ihn in der 
Höhe des äusseren Fussrandes und führte ihn subcutan an das hintere 


0 Deutsche Zeitschr. f. Chir. Bd. 43 S. 487. 

Z«ltaohrlft für orthop&dlsche Chirurgie. VIII. Bend. 3 


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34 


F. Lange. 


Ende des Calcaneus. Hätte ich ihn dort direct mit der gelähmten 
Achillessehne vernäht, so wäre —^ vorausgesetzt, dass die atrophische 
Sehne später nicht nachgegeben hätte — der Muskel ein guter 
Plantarflector geworden; aber er hätte bei seiner Verlaufsrichtung 
von oben aussen (vom Fibulaköpfchen her) gleichzeitig den Fuss noch 
mehr in die krankhafte Valgusstellung nach aussen gezogen. Um 
dies zu verhindern, führte ich die Peroneussehne zwischen der 
Achillessehne und dem Knochen hindurch und vernähte sie medial 
vom Ansatz der Achillessehne mit dem Periost. 

Ich erzielte dadurch, dass der neugebildete Wadenmuskel den 
Fuss plantarflectirte, gleichzeitig aber auch nach innen drehte und 
den inneren Fussrand hob. 

Die Operation ist im Februar 1897, also vor fast 2^/2 Jahren, 
ausgeführt worden; man darf deshalb in diesem Falle wohl ein 
Dauerresultat einer periostalen Sehnenverpflanzung sehen. 

Der Fuss kann — wie Sie sehen — willkürlich mit gehöriger 
Kraft dorsal- und plantarflectirt werden. Bei der Plantarflexion 
wird er jedesmal gleichzeitig in eine leichte Supinationsstellung 
gezogen. Beim Gehen tritt das Kind mit ganzer Sohle auf, und 
der Fuss steht dabei in der richtigen Mitte zwischen Supination und 
Pronation. 

Der Nutzen, den die Patientin von der Operation gehabt hat, 
wird am besten durch die Thatsache veranschaulicht, dass die 
Patientin vor der Operation nur etwa 10 Minuten, jetzt aber 
mehrere Stunden nach einander geben kann, ohne zu ermüden, 
wie ein ganz gesundes Kind ihres Alters, und dass ferner dem 
Kinde jede Maschine erspart geblieben ist. 

Die guten Erfolge, welche ich ausnahmslos mit der periostalen 
Sebnenverpflanzung am Fuss und am Unterschenkel gehabt habe, 
bestimmten mich in allerletzter Zeit, das Verfahren auch am Ober¬ 
schenkel anzuwenden und zu versuchen, auf diese Weise einen Ersatz 
für den gelähmten Quadriceps zu schaffen. Bekanntlich ist der Aus¬ 
fall dieses Muskels ausserordentlich störend, und zahlreiche Menschen 
sind gezwungen, wegen einer Quadricepslähmung eine grosse Maschine 
zu tragen, welche das Knie versteift. Versuche nach der bisherigen 
Methode, einen kraftspendenden Muskel mit der atrophischen Quadri- 
cepssehne zu verbinden, sind von Vulpius, Hoffa und mir ge¬ 
macht worden; sie sind aber sämmtlich gescheitert. — Bei den beiden 
Operationen, die ich ausgeführt habe, war sicher die Ursache des 


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lieber periostale Sehnenverpflanzungen. 35 

Misslingens in der Nachgiebigkeit der atrophischen Quadricepssehue 
zu suchen. Die unter normalen Verhältnissen so straffe Sehne zeigte 
bei der Operation eine so zunderartige, mürbe Beschaffenheit, dass 
eine exacte Vernähung derselben mit der kraftspendenden Sehne 
überhaupt nicht möglich war. 

In einem im Juli 1899 operirten Falle habe ich deshalb ver¬ 
sucht, von einer Benutzung des gelähmten Quadriceps abzusehen. 
Wie bei meinen früheren Operationen habe ich den Biceps und den 
Semitendinosus als Eraftspender benutzt. Ich habe die Sehnen dieser 
Muskeln an der Fibula und an der Tibia abgelöst und die eine 
Sehne auf der lateralen, die andere auf der medialen Seite des Ober¬ 
schenkels subcutan nach vorn geführt, so dass die Enden beider 
Sehnen zwei Querfinger oberhalb der Patella zusammentrafen. An 
dieser Stelle habe ich die beiden Sehnenenden zunächst unter ein¬ 
ander vernäht. Es war auf diese Weise eine Muskelschlinge ge¬ 
bildet, deren beide Enden vom Tuber ischii entsprangen, während 
der Bogen derselben der Vorderfläche des unteren Femurendes auf¬ 
lag. Um nun eine Verbindung zwischen dieser Muskelschlinge und 
dem oberen Ende der Tibia herzustellen, habe ich von den bereits 
zusammengenähten Sehnenenden des Biceps und des Semitendinosus 
zwei sehr starke Seidenfäden subcutan über die Patella hinweg 
zum oberen Ende der Tibia geführt und dort mit dem Periost 
vernäht. 

Meine Hoffnung war, dass die Seidenfäden einheilen, sich mit 
einer bindegewebigen Hülle umgeben und eine feste Verbindung 
zwischen der musculösen Substanz und der Tibia bilden würden. 
Aehnliche Operationen sind ja bereits von Gluck und Kümmel 
bei grösseren Sehnendefecten nach Verletzungen mit gutem Erfolge 
ausgeführt worden. 

Bei der Verbandabnahme, die in voriger Woche (Anfang Sep¬ 
tember 1899) vorgenommen worden ist, geigte sich, dass die Seiden- 
ßden eingeheilt waren und deutlich als ein drehrunder Strang auf 
der Patella zu fühlen sind. Bei Seitenlage der Patientin ist eine 
active Streckung des Unterschenkels in vollem Umfange möglich, 
wobei die Anspannung des Stranges auf der Patella durch die Pal¬ 
pation festzustellen ist. Die Streckung geschieht zunächst noch mit 
geringer Kraft; so z. B. vermag die Patientin noch nicht, den ge¬ 
streckten Unterschenkel frei in horizontaler Richtung zu halten; 
doch kann sie mit dem operirten Bein schon jetzt frei, ohne künst- 


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36 


F. Lange. lieber periostale Sehnenyerpflanzungen. 


liehe Stütze, gehen, während sie früher immer die Hand auf den 
Oberschenkel legen musste, um nicht umzufallen. 

Ueber den Enderfolg dieser Operation kann man selbstyerstand- 
lieh noch nicht urtheilen; das bisherige Resultat scheint aber dafür 
zu sprechen, dass die beschriebene Operationsmetbode noch einer 
weiteren Ausbildung fähig ist^). 


‘) Nachtrag während der Correctur. Im Februar d. J. habe ich 
die Patientin im Aerztererein zu München rorgestellt. Die Sehne, welche im 
September v. J. so stark wie eine Stricknadel war, hat jetzt die Dicke eines 
Bleistiftes. Die Kraft des Muskels hat in den 6 Monaten soweit zugenommen, 
dass die Kleine für kürzere Zeit das völlig gestreckte Bein bis zu einem Winkel 
von 45® erheben kann. 

In der gleichen Sitzung habe ich zwei andere Kinder vorgestellt, bei 
denen dieselbe Operation mit noch besserem Erfolge vorgenommen worden ist. 
Bei dem einen Knaben (St.) nähert sich die Kraft des neuen Streckers bereite 
der eines normalen Quadriceps. Der Knabe vermag für kürzere Zeit 
das gestreckte Bein völlig horizontal zu halten. 

Bei einer Neigung von 45® kann er das gestreckte Bein lange Zeit hinter¬ 
einander ruhig und sicher halten (cf. Photographie in der Münchener med. 
Wochenschr. 1900, Nr. 15). 


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Aus dem orthopädischen Ambulatorium der Eönigl. 
chirurgischen Klinik zu München. 


Die vorderen Stützpunkte des Fusses unter normalen und 
pathologischen Verhältnissen. 

Von 

Dr. Ladwig Seitz, 

ebemal. Volontärassistent der Klinik, z. Z. Assistenzarzt an der Königl. 
üniversitäts- Frauenklinik München. 

Mit 10 in den Text gedruckten Abbildungen. 

L Anatomischer Theil. 

Die Unterstützungspunkte des vorderen Theiles des Fusses 
sind zur Zeit noch Gegenstand der Controverse. HyrtP), Henle*), 
Bardeleben^), v. Gerlach^) haben in den unten citirten 
Werken die Ansicht vertreten, dass die Stützpunkte des Fusses 
folgende sind: hinten die Tuberositas calcanei, vorne die Capitula 
der Mittelfussknochen, insbesondere das der ersten und fünften Zehe, 
das erstere durch Vermittlung des Sesambeins. Szymanowski^), 


*) Hyrtl, Handbuch der topograpb. Anatomie II S. 695. Wien 1871. 
*) Henle, Handbuch der Knochenlehre des Menschen. 3. Aufl. S. 281. 
Braunschweig 1871. 

*) Bardeleben, Lehrbuch der Chirurgie u. Operationslehre IV S. 859. 
Berlin 1876. 

J. V. 6 er lach, Handbuch der speciellen Anatomie des Menschen in 
topographischer Behandlung. München und Leipzig 1891. 

*) Szymanowski, Archiv f. klin. Chirurgie 1861, I S. 859. 


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38 


Ludwig Seitz. 


Hueter^) und damals auch noch Meyerin seiner Mechanik und 
Statik der Gelenke nahmen als vorderen äusseren ünterstützungs- 
punkt nicht das Capitulum, sondern den lateralen Rand am Meta¬ 
tarsus, insbesondere die Tuberositas metatarsi V an. In ähnlicher 
Weise äussert sich auch Starke^). 

Im Jahre 1882 trat Beely zum erstenmale mit der Behaup¬ 
tung auf, „dass beim Stehen auf beiden Füssen in erster Linie 
die Ferse und das Köpfchen des zweiten und dritten Mittel- 
fussknochens belastet werde, der Körper also an vier Punkten 
Unterstützung findet, während beim Stehen auf einem Fusse zur 
Ferse und dem Köpfchen des zweiten und dritten Metatarsus¬ 
knochens noch die Tuberositas metatarsi V hinzutritt, der Körper 
also von drei Punkten unterstützt ist. Diejenigen Theile der Fuss- 
sohle, mit denen der Boden ausserdem noch in Berührung kommt, 
die Capitula I, IV und V, die Zehen, der ganze äussere Fussrand, 
haben wesentlich die Aufgabe, die Centralorgane von etwaigen 
Veränderungen der Lage des Schwerpunktes des Körpers — wenn 
man sich so ausdrücken darf — in Kenntniss zu setzen und das 
Balanciren auf der besonders beim Stehen auf einem Fuss immerhin 
kleinen und schmalen Unterstützungsfläche zu erleichtern, das Um¬ 
fallen nach innen und aussen zu verhindern.*^ 

Als Beweis für diese Behauptung führt Beely zwei Unter¬ 
suchungen ins Feld, einmal die Veränderungen, welche sich an seinen 
Schuhen nach langem Tragen vorfanden, dann die Fusseindrücke, 
wie sie sich ergaben beim Treten auf eben erstarrenden Gips. 

Beely fand an seinen Schuhen, dass dieselben im vorderen 
Theile, in der Mitte der Sohle, gerade an der Stelle, welche der 
Lage nach dem zweiten und dritten Metatarsusköpfchen entspricht, 
an der äusseren, also dem Boden zugekehrten Fläche stark ab¬ 
genutzt waren, eine Entdeckung, welche einen Schuhmacher im 
Gespräche darüber zu der Bemerkung veranlasste; „dann gehen Sie 
sehr richtig**. 

Der Befund an der Stiefelsohle ist ganz selbstverständlich, 
ohne für den Stützpunkt des Fusses etwas zu beweisen. Denn die 

Hueter, Klinik der Gelenkkrankheiten. 2. Aufl. 11. Leipzig 1877. 

*) H. Meyer, Mechanik und Statik der Gelenke. Leipzig 1873. 

Starke, Der naturgemässe Stiefel. Berlin 1880. 

Beely, Zur Mechanik des Stehens. Archiv f. klin. Chirurgie Bd. 27 
S. 457-471. 


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Die vorderen Stützpunkte des Fussea unter normal, u. pathol. Verhältnissen. 39 


Sohle des Stiefels ist, wie Beely selbst ausführt, „sowohl von hinten 
nach vorne als auch von rechts nach links gegen die untere Fläche 
convex gewölbt, es wird also nur mit einer kleinen circumscripten 
Stelle auf den Boden aufgetretenund da eine Schuhsohle aus 
wenig nachgiebigem und biegsamem Leder besteht, naturgemäss 
auch jene tiefste, dem Metatarsusköpfchen III entsprechende Stelle 
am ersten und meisten abgenützt. 

Von Bedeutung für die Belastung des. Fusses können nur die 
Veränderungen sein, welche sich an der inneren Seite der Schuh¬ 
sohle vorfinden, und da kann ich, um mit einer gleichen Autorität 
wie Beely zu dienen, das Urtheil eines Schuhmachers anführen, 
der auf die Frage, wie die Sohle eines lange getragenen Schuhes 
im Innern aussehe, antwortete: die Ferse, der Grosszehenballen, 
die Spitze der grossen Zehe und meistens auch der Ballen der 
fünften Zehe weisen Vertiefungen auf. In der That ist die Form, 
wie ich mich durch wiederholte Untersuchungen überzeugt habe, 
eine solche, wie Fig. 1 zeigt. Am meisten abgenützt ist die Stelle, 
wo die Ferse aufsteht, da ja hier auch der 
stärkste Druck herrscht, sodann kommt das 
Metatarsusköpfchen I und die Endphalange I, 
welch letztere hauptsächlich beim Gehen 
eine Rolle spielt, und in den meisten Fällen 
auch noch ein Eindruck am Köpfchen des 
Metatarsns V, doch ist derselbe niemals so 
tief und ausgedehnt wie bei Metatarsus I. 

Es stellt also eine abgetragene Sohle die 
Art der Belastung gewissermassen in plasti¬ 
scher Form dar. 

Interessanter sind Beely's Studien 
der Fussformen mittelst Gipsabdrücken. 

Zuerst betrachtet er den Fuss im unbelasteten 
Zustand und findet dabei, dass in der Mittelstellung des Fusses 
zwischen Dorsal- und Plantarfiexion das Köpfchen des Metatarsus 
I und V am tiefsten stehe (cfr. Fig. 5 b in seinem Aufsatz S. 464). 
Bringt man den Fuss in starke Plantarfiexion, so treten jene ge¬ 
nannten Knochen noch^ deutlicher hervor, wie man sich jederzeit 
durch Untersuchung am eigenen Fusse überzeugen kann und wofür 
insbesondere der Spitzfuss ein klassisches Beispiel bildet. Bei starker 
Dorsalflexion des Fusses wird der Metatarsalbogen mehr nach oben 


Fig. 1. 

Endphalange 



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40 


Ludwig Seitz. 


concav, so dass also Metatarsusköpfcben III am tiefsten zu stehen 
kommt. Daraus erklärt Beely ganz mit Recht die verschieden¬ 
artige Form des transversalen Metatarsalgewölbes bei antiken Statuen^ 
deren Meister in der That viel zu scharf beobachtet haben, um sich 
diese Formveränderung entgehen zu lassen. Allein, frage ich, was 
für eine Bedeutung hat diese seine Auseinandersetzung für die 
Stützpunkte des Fusses, da die Beobachtungen alle am unbe¬ 
lasteten Fusse gemacht sind? Diese Vorgänge hängen mit der 
Unterstützung des Vorderfusses gar nicht zusammen, wie H. v. Meyer 
schon gezeigt hat, indem er sagt: (cfir. Statik und Mechanik des 
menschlichen Fusses, Jena 1886, S. 62) „die Modificationen der 
Sohlengestalt, wie sie durch Dorsal- und Plantarflexion erzeugt 
werden, sind für die Frage der Belastung nicht massgebend, indem 
sie offenbar durch Muskelwirkungen hervorgebracht werden,“ 

Nun zu Beely's Untersuchungen des belasteten Fusses! 
Beim Auftreten auf einen in ein Tuch eingewickelten Gipsbrei ergab 
sich, dass Metatarsusköpfchen II und III am tiefsten einsanken. Beim 
Stehen auf zwei Füssen waren es je eine Ferse und Metatarsus capi- 
tulum II und III, beim Stehen auf einem Beine neben Ferse und 
Capitulum II und III auch noch Tuberositas metatarsi V. Ich habe 
die Versuche nun in der Weise nachcontrollirt, dass ich Leute ohne 
Auswahl auf weichen, knetbaren Lehm treten Hess, und erhielt stets 
das gleiche Resultat, nämlich, am tiefsten sanken ein: hinten die 
Ferse und vorne das Köpfchen des Metatarsus I, in geringerem 
Grade das Köpfchen des Metatarsus V, dabei ergaben sich wesent¬ 
liche Formunterschiede in Bezug auf die vorderen Stützpunkte beim 
Stehen auf einem und beim Stehen auf beiden Füssen nicht. 
Beim Auftreten mit einem Fusse sanken die Theile infolge der 
grösseren Belastung im weichen Lehm naturgemäss tiefer ein, beim 
Stehen auf beiden Füssen fiel dem entsprechend der seichtere Ein¬ 
druck auf, dann aber auch der Umstand, dass das Köpfchen des 
Metatarsus I relativ tiefer stand als das Köpfchen des Metatarsus V, 
tiefer nämlich, als man nach der Belastung auf einem Fusse hätte 
annehmen sollen. Zur Erläuterung zeichne ich nebenan die Frontal- 
projectionen der Metatarsusköpfchengegend, welche nach Ausgiessen 
der Lehmform mit Gips hergestellt sind (F^. 2). 

Beim Stehen auf einem Fusse (Fig. 2 a) steht Metatarsus V 
relativ tief, nicht viel weniger tief wie I, es erklärt sich das 
daraus, dass beim Stehen auf einem Fuss der Körper so gestellt 


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Die vorderen Stützpunkte des Fusses unter normal, u. pathol. Verhältnissen. 41 


werden muss, dass sein Schwerpunkt möglichst senkrecht auf dem 
tragenden Punkt, dem Ästragalus liegt, von wo aus die Last weiter 
wirkend die Stützpunkte in der Weise drückt, dass die vorderen, 
jeder annähernd die Hälfte der auf den Vorderfuss entfallenden 
Belastung übernimmt, mit anderen Worten, es muss, wenn Sicher¬ 
heit des Stehens vorhanden sein soll, der Fuss auf drei Punkten 
unterstützt sein. Beely fand die drei Punkte in der Ferse, im 
Köpfchen Metatarsi II und III und Tuberosis metatarsi V, also 
ein Dreieck, das zu einem festen Standpunkt wenig geeignet er¬ 
scheint. Ungleich günstiger ist das durch Verbindung der oben 
genannten Punkte sich ergebende Dreieck, das den statischen Ge¬ 
setzen viel mehr entspricht. 

Beim Stehen auf zwei Füssen (Fig. 26) bei mässiger Aussen- 


Fig. 2. 



rotation der Beine gedacht, erscheint der Eindruck von Metatarsus I 
ungleich tiefer als der von Metatarsus V. Die Ursache davon ist 
die, dass bei dieser Art des Stehens der Schwerpunkt des Körpers 
zwischen die Füsse fallt und die medialen Theile des Fusses die 
Hauptlast zu tragen, die lateral gelegenen Theile dagegen nur eine 
viel geringere Bürde zu übernehmen haben. Auch Beely hat bei 
seinen Versuchen gefunden, dass beim Stehen auf zwei Füssen 
hauptsächlich nur zwei Stützpunkte in Betracht kommen, wenn er 
auch in Uebereinstimmung mit seinen Ansichten neben der Ferse 
noch das Gapitulum metatarsi II und III annimmt. 

Wie erklärt sich nun Beely seinen Befund? Er greift dabei 
auf die Thatsache zurück, dass bei einer Dorsalflexion Metatarsus 
I und V sich heben, Metatarsus III zurückbleibt, also ein nach 
unten convexer Bogen entsteht. Dasselbe, schliesst er weiter, flndet 
beim Auftreten auf den weichen Gips und in der Verallgemeinerung 
beim Auftreten auf jeder, auch festen und ebenen Unterlage statt. 


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42 


Ludwig Seite. 


Vielleicht hat es sich bei dem von ihm untersuchten Falle — von 
mehreren Abgüssen finde ich nirgends eine Erwähnung — um 
pathologische oder wenigstens ungewöhnliche Verhältnisse gehandelt, 
worauf ich später noch einmal zurUckkomme. Was beweist denn, 
kann man wohl mit Recht fragen, die Untersuchung, auch wenn 
sie noch so gewissenhaft ausgeführt ist, eines einzigen Falles und 
noch dazu bei einem Eörpertheile, der wie kaum ein anderes Organ 
den verschiedenartigsten äusseren Einflüssen ausgesetzt ist, die ver¬ 
ändernd und entstellend auf dasselbe einwirken? Unverstand und 
Eitelkeit kämpfen um die Wette in dem Bestreben, den Fuss in 
eine Stellung zu zwingen, wie sie seiner Form und seiner Function 
am wenigsten entspricht. 

Wie sind nun aber die von uns untersuchten Fälle, bei denen 
im Gipsabdruck Metatarsus I und V am tiefsten standen, zu erklären? 
Warum sind auch hier nicht die leicht beweglichen beiden Meta- 
tarsi I und V nach oben, dorsalwärts gedrückt worden? Ich glaube, 
der Grund liegt darin, dass die an sich viel beweglicheren Meta- 
tarsi I und V durch die plantar ansetzenden Muskeln gegen den 
Boden gepresst werden und so das Hinaufgedrücktwerden verhin¬ 
dern. Die Muskeln, die hier in Betracht kommen, sind für die 
grosse Zehe in erster Linie der Peroneus longus, der, quer über 
die Planta pedis ziehend, sich hauptsächlich an der Basis Metatarsus I 
ansetzt und daher besonders geeignet erscheint, die grosse Zehe 
gegen die Unterlage anzudrücken, dann, wenn auch in geringerem 
Grade, der Flexor halluc. long.; für die kleine Zehe sind die wich¬ 
tigsten der tibialis posticus, der neben seinen anderen Ansatzpunkten 
auch eine sehr kräftige Sehne zur Basis des Metatarsus IV schickt 
(v. Meyer) und dadurch im Stande ist, auch Metatarsus V plantar- 
wärts zu ziehen und der M. peroneus brevis, der durch seinen An¬ 
satz an der Tuberositas metatarsi V eine Plantarflexion der kleinen 
Zehe bewirkt. 

Die Muskeln treten sofort in Action, wenn die Belastung des 
Fusses bei gewöhnlichem Sohlenstand erfolgt, in viel höherem Grade 
natürlich beim Zehenstand, der nichts anderes darstellt als eine forcirte 
Plantarflexion, deren Effect, da die Köpfchen der Metatarsi durch 
die genannten Muskeln und die Phalangen durch die Flexoren, die 
an ihnen inseriren, fixirt sind, eine Erhebung des Fusses in seinem 
Fersentheile sein muss. 

Durch die Thätigkeit der genannten vier Muskeln (peroneus 


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Die vorderen Stützpunkte de§ Fusses unter normal, u. pathol. Verhältnissen. 43 

long. und flex. halluc., peron. brev. und tib. post.) hauptsächlich 
wird also ein vollständiges Einsinken und sogar ein Nachunten- 
convexwerden des transversalen Metatarsusgewölbes verhindert. Die 
Muskelthätigkeit hat aber auch noch den Zweck, die Schwankungen 
in der Art der Belastung auszugleichen und bald durch erhöhte Con- 
traction, bald durch Nachlassen in derselben das Gleichgewicht zu 
reguliren. 

Zu ähnlichen Resultaten wie Beely gelangt H. v. Meyer 
auf dem Wege einer anatomischen Analyse, nur mit dem Unter¬ 
schiede, dass er statt Metatarsusköpfchen II und III nur Metatarsus¬ 
köpfchen III als vorderen Stützpunkt gelten lässt. Er kam zu 
• seiner Annahme durch folgendes Verfahren, das ich wörtlich wieder¬ 
geben will: 

»Wenn wirklich das Capitulum ossis metatarsi I und V die 
vorderen Stützpunkte sind, so muss der flach aufgesetzte Fuss mit 
diesen Punkten ebenso fest an den Boden angedrückt stehen, wie 
mit der Ferse.“ Die Behauptung »ebenso fest an den Boden ge¬ 
drückt“ scheint mir unrichtig zu sein; das lässt sich mit Meyer's 
eigenen Berechnungen beweisen. Er hat aus der Entfernung des 
hinteren Stützpunktes (der Ferse) und des vordem (Metatarsal- 
köpfchen) von dem Scheitel des Gewölbes, dem Astragalus berechnet, 
dass die Ferse eine 3mal so grosse Last zu tragen habe als die 
Metatarsusköpfchen. Es käme also, wenn man das gesammte 
Körpergewicht zu 60 kg und zwar in gleicher Weise auf beide 
Beine vertheilt annimrat, für die vorderen Stützpunkte eines einzel¬ 
nen Fusses nur 7^2 kg. Daraus geht zur Genüge hervor, dass die 
Metatarsalköpfchen unmöglich ebenso stark an den Boden ange¬ 
presst sein können, als die Ferse, die Körperlast natürlich senkrecht 
auf dem Scheitel des Gewölbes ruhend gedacht. 

»Setzt man nun,“ fährt v. Meyer in seinem Versuche fort, 
»einen unversehrten Fuss oder auch einen solchen, an dem die 
Muskeln entfernt sind, auf die Tischfläche und belastet denselben 
durch einen senkrechten Druck, den man entweder direct auf den 
Astragalus ausübt oder durch Vermittelung des mit dem Fusse in 
Verbindung gelassenen Unterschenkels, dann flndet man, dass die 
Ferse fest aufsteht, die kleine Zehe aber und die grosse Zehe sind 


0 H. V. Meyer, Statik und Mechanik des menschlichen Fusses. Jena 
1886, S. 52. 


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44 


Ludwig Seitz. 


sehr beweglich, sie sind also nicht durch die Belastung von oben 
und den Gegendruck des Bodens festgestellt. Daraus folgt aber, 
dass weder die grosse Zehe noch die kleine Zehe vordere Stütz¬ 
punkte für das Fussgewölbe sein können.* 

Da nun die beiden Zehen in Wirklichkeit entbehrlich sind, 
„so trennen wir,“ fahrt v. Meyer in seinen Ausführungen fort, 
„beide vollständig (mit ihrem Metatarsusknochen) vom Fusse ab und 
finden, dass nach dieser Operation der Fuss ebenso tragfähig ist 
wie vorher. Untersuchen wir nun die Festigkeit der noch übrigen 
drei mittleren Zehen, so entdecken wir, dass auch die vierte Zehe 
noch eine grosse Beweglichkeit besitzt, und dass selbst die zweite 
Zehe noch ohne Schwierigkeiten eine Hebung ihres Capitulum ossis 
metatarsi von der Unterlage gestattet, ohne dass die Festigkeit des 
Fusses dadurch verliert. Die vierte und zweite Zehe sind also 
ebenfalls nicht vordere Stützpunkte des Fussgewölbes. Sie erscheinen 
deshalb ebenfalls entbehrlich und können aus diesem Grunde ent¬ 
fernt werden. 

Die dritte Zehe bleibt nun allein übrig und der Fuss besitzt 
noch eine ungestörte Tragfähigkeit. Somit ist also anerkannt, dass 
das Metatarsusköpfchen der dritten Zehe der einzige vordere Stütz¬ 
punkt des Fussgewölbes ist.“ 

V. Meyer hat ferner das longitudinale Fussge wölbe auf die 
einfachste Form gebracht und nur diejenigen Knochen, welche das¬ 
selbe zusammensetzen, gesucht und in dem Metatarsus III (a) 
(cfr. Fig. 3), im Os cuneiforme III (6), im Cuboid. (c) und im Cal- 
caneus (d) gefunden. Es ist nun in der That richtig, dass Meta¬ 
tarsus III ziemlich fest mit dem Os cuneiforme IH und mit den 
übrigen vorgenannten tarsalen Knochen verbunden ist; doch ist die 
Verbindung eine keineswegs so starke, von der Fixation der übri¬ 
gen Metatarsalia so vollständig abweichende, dass der Knochen, der 
für solch eine Leistung doch etwas zu gracil gebaut wäre, die 
auf den einzelnen Fuss entfallende Last auf sich nehmen könnte, 
der starke Metatarsus I und der relativ kräftige Metatarsus V aber 
nur dazu dienen sollten, als „seitliche Streben das Umkippen nach 
seitwärts“ zu verhüten. Zweifellos ist allerdings, dass die Beweg¬ 
lichkeit VOQ Metatarsus V eine sehr grosse ist; das geht schon, 
wie V. Meyer mit Recht betont, aus der Form der Gelenkfläche 
hervor, die eine rundliche Hohlfläche trägt, zugleich aber in manchen 
J'ällen, und das ist besonders bemerkenswertb, das damit artikulirende 


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Die vorderen Stützpunkte des Fusses unter normal, u. pathol. Verhältnissen. 45 

Cuboid. am dorsalen Ende eine Hemmungsfurche zeigt; auch der 
Metatarsus I zeigt eine etwas freiere Beweglichkeit und gestattet 
auch geringe Bewegungen nach seitwärts. Allein ^die Beweglichkeit 
dieser Knochen (Metatarsus I, II, IV und V) hält sich,“ wie 
Meyer selbst eingestehen muss, „immerhin innerhalb gewisser 
Grenzen und erfahrt namentlich bei Bewegung der Zehen nach auf¬ 
wärts — Zehe hier mit Einschluss des Mittelfussknochens gemeint 
— eine straffe Hemmung.“ 

Gerade diese Hemmung der Aufwärtsbewegung ist für Meta¬ 
tarsus I und V von hervorragender Bedeutung und setzt sie in den 


Fig. 3. 



Stand, trotz ihrer etwas grösseren Beweglichkeit nach anderen 
Richtungen hin, die Stützpunkte des Fusses zu bilden. 

Wenn nun auch, wie zugestanden werden muss, die Beweg¬ 
lichkeit der äusseren und inneren Metatarsalknochen, namentlich des 
y. eine etwas grössere im unbelasteten Zustande des Fusses 
ist, so verschwindet dieser Unterschied der Beweglichkeit sofort, 
sobald der Fuss belastet wird. Es ist nicht richtig, wie schon 
früher des genauem ausgeführt wurde, wenn v. Meyer behauptet, 
die Metatarsalköpfchen würden ebenso fest an den Boden gedrückt 
als wie die Ferse; es könnten die beiden äusseren und die beiden 
inneren Metatarsalia als nicht belastet auf dem Boden leicht hin 
und her geschoben, Metatarsus III allein nicht verschoben werden. 
Fürs erste kommt bei diesem Versuche einmal sehr viel auf die 
Grösse der Last an — sie ist, da die Experimente von Meyer am 
abgeschnittenen Unterschenkel angestellt wurden, unbekannt —, eine 
schwere Last wird auch die vorderen Stützpunkte fester am Boden 
fixiren als eine leichte, dann aber auch auf die Art der Belastung. 


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46 


Ludwig Seitz. 


Ruht die Körperlast bei senkrechter Stellung auf beiden Füssen, so 
kann man sich durch die Untersuchung überzeugen, dass der ganze 
Yorderfuss in toto, also auch mit Einschluss des III. Metatarsus 
infolge der geringen auf ihn entfallenden Last leicht hin und her 
geschoben werden kann, dass daraus also weder für die eine noch 
für die andere Theorie der Stützpunkte Beweise gefolgert werden 
können. Erst bei Zunahme der Belastung, so beim Stehen auf 
einem Beine, beim Vorwärtsneigen des Körpers werden die Meta- 
tarsalköpfchen fester am Boden fixirt; dann ist es aber auch nicht 
mehr möglich, zu erkennen, welches die Hauptstütze ist. 

Eines muss bei Meyer’s Versuchen noch hervorgehoben 
werden, das ist die vollständige Ausserachtlassung der so wichtigen 
Muskelthätigkeit. Inwieferne und welche Muskeln hiebei hauptsäch¬ 
lich in Betracht kommen, haben wir schon erwähnt. Diese fixiren 
hauptsächlich Metatarsus I und V am Boden und charakterisiren sie 
so als Hauptstützen. Es zieht zwar auch an die Basis metatarsi III 
eine Sehne vom Tibial. postic., die denselben etwas plantarwärts zu 
flectiren vermag (v. Meyer), doch ist diese gegenüber den stärkeren 
Muskeln des Metatarsi I und V ohne besondere Bedeutung. 

Da uns die bisher angewendeten Untersuchungsmethoden nicht 
genügend erschienen, suchten wir xur leichteren Klärung der 
schwebenden Frage nach einem neuen Verfahren, das, sollte es zu¬ 
verlässige Resultate liefern, natürlich nur am lebenden, am func- 
tionirenden Fusse angestellt werden durfte. Am lebenden allein 
sind alle Faktoren, welche die Form und Stellung des Fusses unter 
Umständen verändern, wie individuelle Körperlast, die Art der Be¬ 
lastung, die Muskelfunction, die Spannung der Bänder u. s. w. ent¬ 
sprechend berücksichtigt. 

Indess liegt es mir gänzlich ferne, die hervorragenden Ver¬ 
dienste H. V. Meyer’s um die Anatomie des Fusses zu verkleinern, 
ich glaube nur, dass derselbe durch die etwas zu starke und 
ausschliessliche Betonung der rein anatomischen Verhältnisse ohne 
genügende Berücksichtigung des fiinctionirenden Organs unrichtige 
oder, besser gesagt, einseitige Schlüsse betreffend die vorderen 
Stützpunkte gezogen. Vielleicht sind der Versuche zu wenige ge¬ 
wesen — von einer grösseren Versuchsreihe finde ich keine Er¬ 
wähnung — und die Untersuchungen an nicht ganz normalen Füssen 
angestellt worden. 

In seiner hochinteressanten Arbeit „Zur Morphologie des Fuss- 


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Die vorderen Stützpunkte des Fusses unter normal, u. pathol. Verhältnissen. 47 


skelets* vertritt S. P. Lazarus (Morphol. Lehrbuch 1896. Bd. 24 
S. 127) die Ansicht, dass das Köpfchen des Metatarsus II den Stütz¬ 
punkt bildet, nicht des IIL, der nur der seitliche Stützpfeiler von 
II sei. Er begründet seine Behauptung damit, dass Metatarsus II 
viel länger ist als III, dass er in den übrigen Dimensionen etwas 
.stärker ist und dass er an seinem basalen Theil ziemlich fest fixirt 
ist; ferner gehe der eigentliche Scheitel des Fussgewölbes durch 
Metatarsus II, das Fussgewölbe sei innen höher gespannt als aussen; 
,die innere Partie des Fusses ist massiver und concaver als die 
äussere und von ihr wird auch die Hauptlast des Körpers getragen; 
Lazarus führt zur Stütze seiner Theorie auch die Art der Entstehung 
des Fussgewölbes an. Beim Neugeborenen ist die Gwölbebildung 
wenig ausgesprochen, »die Mittelfussknochen liegen noch fast in 
einer Ebene. Erst späterhin erfolgt aus der supinirten Stellung die 
pronirte, die Zusammenziehung des Fusses zu einem Gewölbe, der 
innere Fussrand und mit ihm der Metatarsus I wird gesenkt und 
der zweite Mittelfussknochen bildet den Scheitel des Gewölbes.“ 

Ich erblicke gerade in der Länge des II. Metatarsus keine 
Eigenschaft, die ihn zu einem Stützpunkte besonders brauchbar 
machen würde; der Knochen ist zwar eine Spur stärker, als Meta¬ 
tarsus III, aber doch nur so unbedeutend, dass man mehrere Skelete 
vergleichen muss, um zu sicherer Erkenntniss dieser Eigenschaft zu 
gelangen. Von grösserer Wichtigkeit scheint mir die Fixation zu 
sein. Allein man darf nicht in den Fehler verfallen, rein anato¬ 
mische Analyse zu üben, man muss vielmehr noch eine Reihe von 
anderen Umständen, die die grösste Bedeutung haben, ins Auge fassen. 

Wie strittig gerade noch in competenten Kreisen die Frage 
der Stützpunkte ist, scheint mir aus der Aeusserung Gegen bau er’s 
(Lehrbuch der Anatomie des Menschen 1892) hervorzugehen, der 
gewissermassen drei verschiedenen Metatarsalia einzeln die Rolle 
des Stützpunktes zutheilt und damit zum Theil wenigstens auch die 
thatsächlichen Verhältnisse richtig erkennt. Er schreibt: »Lateral 
stützt sich das Fussgewölbe mit einer längeren Strecke des Mittel- 
fusses auf den Boden als medial, wo erst das Capitulum metatars. I 
den vorderen Stützpunkt zu bilden scheint. Da aber dieses Meta- 
tarsale weniger fest mit dem Tarsus verbunden ist, als das IL, 
dessen Basis in dem Tarsus sich einkeilt, hat man den vorderen 
Stützpunkt am Capitulum des II. Metatarsale zu suchen, wenn 
er nicht dem IIL Metatarsale entspricht.“ 


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48 


Ludwig Seitz. 


Bevor ich auf die von mir angewandten Untersuchungsmethoden 
übergehe, sei es mir gestattet, noch kurz die anatomischen Ver¬ 
hältnisse im Bau der Metatarsusknochen zu betrachten. 

Wenn man ein richtig zusammengestelltes — man findet der¬ 
gleichen übrigens selten — Skelet eines normalen Fusses ansieht, 
so fällt neben dem longitudinalen Gewölbe das transversale auf, das 
nicht allein den Tarsus umfasst, sondern sich auch noch auf den 
Metatarsus erstreckt, ganz deutlich ausgesprochen an der Basis, 
weniger stark, wenn auch immer noch gut erkennbar, an den 
Capitula metatarsi (Fig. 4). ,Die Mittelfussknochen*, sagt Hyrtl 

in seiner topographischen Anatomie, „liegen 
nicht in einer horizontalen Ebene neben 
einander, indem der Mittelfussknochen der 
grossen Zehe und noch mehr der der kleinen 
Zehe niedriger zu stehen kommen, als der 
der zweiten, der Fussrücken wird deshalb von aussen nach innen 
convex erscheinen.“ 

Auffallend ist von vorneherein die ausserordentliche Stärke 
des Metatarsus I, besonders mit seinem kräftig entwickelten Capitu- 
lum, das noch durch zwei unten angebrachte Sesambeinchen er¬ 
höht oder richtiger erniedrigt wird und daher schon von Natur 
aus hervorragend geeignet erscheint, einen Stützpunkt zu bilden. 
Auch der fünfte Mittelfussknochen ist, da die Metatarsalknochen 
von der medialen zur lateralen Seite an Stärke im allgemeinen ab¬ 
nehmen, verhältnissmässig kräftig gebaut und mit einem stärkeren 
Köpfchen ausgerüstet. 

Auf Transversaldurchschnitten durch die Metatarsusgegend 
(Gefrierschnitte) erkennt man deutlich das nach oben convexe Ge¬ 
wölbe der Metatarsusknochen, sehr klar bei ganz frontal geführten 
Schnitten, weniger stark ausgeprägt, wenn die Projection durch die 
Köpfchen selbst gelegt ist. Bei solchen Gefrierschnitten kann auch 
nicht der Einwurf erhoben werden, dass etwa eine falsche Zu¬ 
sammenstellung der einzelnen Knochenstücke künstlich den transver¬ 
salen Bogen erzeugt habe, da hier ja alle Theile in ihrer natürlichen 
Lage zu übersehen sind. Aus dieser Form der Mittelfussknochen 
und ihrer gegenseitigen Anordnung ergibt sich ganz naturgemäss, 
dass ein skeletirter Fuss, den man auf eine ebene Unterlage auf¬ 
setzt, nur mit den Köpfchen des Metatarsus I und V die Unter¬ 
lage berührt, normale Verhältnisse vorausgesetzt. 


Fig. 4. 

QOOOo 


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Die vorderen Stützpunkte des Fusses unter normal, u. pathol. Verhältnissen. 49 


Man kann sich auch am Lebenden durch Palpation durch die 
Weichiheile hindurch leicht überzeugen, dass meistens die Köpfchen 
des Metatarsus I und V am deutlichsten zu fühlen sind.! 

ln der jüngsten Zeit schien uns durch die Röntgenphotographie 
ein Verfahren gewonnen zu sein, das mit Klarheit und Sicherheit 
uns den Bau des Fusses, speciell das Verhalten des Metatarsal- 
bogens zu zeigen im Stande wäre. Allein es steben diesem directen 
Sehen des Gewölbes ausserordentliche Schwierigkeiten entgegen; 
denn das Skiagramm projicirt alle Gebilde nur auf eine Ebene und 
das Erkennen von Niveauunterschieden ist nahezu unmöglich; kann 
man ja doch die palmare Ansicht der Hand von der dorsalen nicht 
durch den Gewölbecharakter, sondern erst durch die anatomischen 
Differenzen der Knochenseiten unterscheiden. 

Aber immerhin lassen sich Röntgenaufnahmen zur Untersuchung 
des transversalen Metatarsalgewölbes verwerten; denn bei dem Ueber- 
gang vom unbelasteten zum belasteten Fuss müssen nothwendig ' 
Stellungsveränderungen an den Knochen vor sich gehen, welche sich 
durch das Skiagramm fixiren lassen und eventuell Rückschlüsse auf 
den Gewölbebau gestatten. 

Das von uns angewandte Verfahren war folgendes: die Röhre wurde 
senkrecht über dem unbelasteten, leichtauf die Unterlage aufgelegt 
ten Fass (Entfernung von der Röhre 20 cm) aufgestellt und 2 Minuten 
lang durchleuchtet, sodann ganz genau in der nämlichen Weise der* 
selbe Fuss, nunmehr aber in belastetem Zustande photographirt. 

Die gewonnenen Photographien (cfr. S. 58) wurden nun sorg¬ 
fältig mit einander verglichen und die Maasse der Entfernung der 
einzelnen Knochen von einander genommen. Die erhaltenen Re¬ 
sultate sind diese: 



Fuss un- 
belastet 

Fuss be¬ 
lastet 

Differenz 

Entfernung vom Capitulum metatarsi I und 
CapiMum metatarsi V (Weichtheile) . 
Entfernung vom Capitulum metatarsus I und V 
(Knochen). 

cm 

11 

9,2 

cm 

12 

10,3 

cm 

+ 1,0 
i +U 

Entfernimg Tom Capitolam metatarsi I u. II 
. . . . II . III 

, . . , III , IV 

. , . . IV . V 

ppop 

1,0 

0,2 

0,5 

0,9 


Summa 

1,35 

2,6 

1,25 


Z«itochrlft für orthopSdische Ohimrgle. Vni. Band. 4 


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50 


Ludwig Seitz. 


Die Zahlen beweisen einmal zur Evidenz, dass eine Verbrei¬ 
terung des vorderen Theiles des Fusses bei der Belastung eintritt, 
die, mit den Weichtheilen gemessen, ein Plus von 1 cm, die Ent¬ 
fernung der Knochen selbst von einander sogar noch etwas mehr, 
1,1 cm, beträgt. Die Verbreiterung erscheint vielleicht etwas ge¬ 
ringer, als man so gemeinhin anzunehmen geneigt ist; vielleicht 
hängt es zum Teile damit zusammen, dass die transversale Wölbung 
des photographirten Fusses wenig ausgeprägt war. 

Interessant ist das Verhältniss, in welchem die einzelnen 
Mittelfussknochen sich von einander entfernen. Am weitesten rückt 
von einander Metatarsus I und II ab, (0,5 cm). Mittelfussknochen 
n und III, deren Köpfchen sehr nahe an einander liegen, entfernen 
sich nur um 0,2 cm, mehr wiederum III und IV (0,4), nur in ge¬ 
ringem Orade Metatarsus IV iuiii-A^4U45 cm). 

Was lehrt dieses Metatarsalköpfchen? 

Ich glaube, man kann ai'^^diese~T!rs%heinun^'mcht anders erklären, 
ab durch Abflachung eines c^Q^nt^aer nach oben con¬ 

vex oder nach oben conlhv sein müsste. Das/letztere entspräche 
nicht den Gesetzen der .^H;c^^^i^*^S^.^t,^oviel ich weiss, auch 
nie behauptet worden. A)^ik --^nvexe Gewölbe erklärt 

alle die Veränderungen ungezwungen, der Scheitel des Gewölbes, 
Metatarsus III, bleibt an Ort und Stelle, die inneren Mittelfuss¬ 
knochen rücken im ganzen um 0,7 cm auseinander, wobei natürlich 
auf den Metatarsus I infolge seiner Fähigkeit, sich etwas seitwärts 
zu bewegen, der Hauptantheil fällt; die äusseren um 0,55 cm; bei 
letzteren ist die Entfernung von III und IV die grössere als zwischen 
IV und V, weil nämlich IV und V ziemlich innig mit einander ver¬ 
bunden sind, und sich daher die Dislocation hauptsächlich zwischen 
III und IV geltend machen muss. 

Bei der Abflachung dieses Gewölbes erklärt sich recht wohl 
die Verbreiterung; wie aber, möchte man mir entgegenhalten, ver¬ 
hält es sich mit der Entfernung der Köpfchen? Diese können doch 
nicht auseinander weichen, ohne den Bogen zum Einsturz zu brin¬ 
gen? Gewiss, wenn ihre Stütze in den Köpfchen selbst sässe, wenn 
diese durch Aneinanderliegen der Knochen, wie die an einander 
liegenden Steine den romanischen Bogen, das transversale Gewölbe 
bildeten! Dieses Gewölbe ist aber durch die Anordnung, die Fixa¬ 
tion der Basen der Mittelfussknochen bedingt, und das Auseinander¬ 
weichen der Köpfchen beim Belasten des Fusses wird sich nach der 


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Die vorderen Stützpunkte des Fusses unter normal, u. pathol. Verhältnissen. 51 


Befestigung und der Lage an der Basis, nach der Länge des Knochens, 
richten müssen. 

Wenn wir Metatarsusköpfchen KI als Stützpunkt annehmen, 
I und y als seitliche Streben, so kann von einem Gewölbe nicht 
mehr gut die Rede sein, ich kann mir aber auch nicht erklären, 
wie das unbestreitbare Auseinander weichen der Knochen (um 1,1 cm) 
zu Stande kommen soll. 

Ein Punkt in der oben angeführten Messung bedarf noch der 
Besprechung, das ist die Breitenausdehnung des belasteten Fusses 
(10,3) und die Entfernung der einzelnen Köpfchen von einander; 
bei der ersteren beträgt das Plus gegenüber dem Unbelasteten 
1,1 cm, bei letzteren die Summe der Entfernungen, also der Zwischen¬ 
räume dagegen 1,25 cm, es ergibt sich also eine Differenz von 
0,15 cm; diese kann nur auf Kosten einer Drehung der Metatar- 
salia gesetzt werden. Bekanntlich haben Metatarsus ü, III und lY 
dreiseitig prismatische Form; es genügt nun bei der Belastung 
schon eine geringe Drehung, um auf dem Skiagramm die schmälere 
Fläche zur Ansicht kommen zu lassen. Dass nun in der That diese 
kleine Drehung der Metatarsalia II, lU und IV stattgefunden, wird 
man deutlich aus dem Betrachten der beiden Röntgenphotographien 
erkennen, bei dem unbelasteten Fusse sind die genannten Knochen 
etwas schief verlaufend und breiter, bei belastetem Fusse gerade 
und schmäler. 

Diese Beobachtungen am belasteten Fusse mittelst Röntgen¬ 
strahlen suchte ich nun dadurch zu vereinfachen und, wie ich hoffte, 
zu bestätigen, dass ich am belasteten Fusse selbst nach Veränderun¬ 
gen forschte, die Rückschlüsse auf die Art der Belastung gestatten 
würden. 

Von diesen Gesichtspunkten ausgehend wurden von mir 100 
Personen ohne weitere Auswahl auf ihre vorderen Stützpunkte ge¬ 
nau untersucht; das untersuchte Material bestand aus Insassen der 
Klinik, zum grössten Theil der arbeitenden Klasse angehörig. 

Wie können nun die Stützpunkte beim Lebenden er¬ 
mittelt werden? Es kann das offenbar auf zweierlei Weise ge¬ 
schehen, entweder dadurch, dass man direct bei einer jeweiligen 
augenblicklichen Belastung die Vorgänge an der Fusssohle be¬ 
obachtet, oder dass man etwa Veränderungen auffindet, welche 
durch eine dauernde Belastung bedingt sind. Erstere äussern 
sich hauptsächlich durch Auftreten von Anämie an den dem 


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52 Ludwig Seitz. 

Drucke ausgesetzten Stellen, letztere durch das Vorhandensein von 
Schwielen. 

Was die Schwielen anlangt, so kann man dieselben als eine 
physiologische Reaction der äusseren Haut auf lange dauernden, 
starken Druck anseh en, um die darunter liegenden Weich teile vor 
den schädlichen Folgen jener mechanischen Einwirkung zu schützen. 
Daher zeigt die Fusssohle eine erheblich verdickte Haut, welche an 
den Stellen am stärksten sein muss, wo die Belastung am grössten 
ist, also an den Stützpunkten. Das sind die Ferse (Tnberositas 
calcanei) und, wie die Mehrzahl der untersuchten Fälle ergeben hat, 
die Capitula des Metatarsus I und V. Die Resultate der Unter¬ 
suchung werden, da sie sich mit denen der zweiten Methode fast 
vollständig decken, zur Verhütung von Wiederholungen erst später 
genau angegeben. 

Bei der zweiten Methode gingen wir von der Ueberlegung - 
aus, dass überall da, wo ein stärkerer Druck auf die Haut einwirkt, 
eine Compression der Blutgefässe und damit eine Anämie eintritt, 
wie man sich jederzeit leicht überzeugen kann, wenn man ein Glas 
gegen die Haut drückt. Dasselbe gilt auch von der Fusssohle bei 
der Belastung durch das Körpergewicht, wie es beim Gehen und 
Stehen stattfiiidet. Beobachtet man nun die Stellen, welche beim 
leichten Aufsetzen des Fusses zuerst anämisch werden, so sind das 
offenbar die Punkte, welche am meisten zu tragen haben und die 
zuerst am Boden aufruhen, nämlich die Stützpunkte. *Um nun diese 
Veränderungen an der Fusssohle gut beobachten zu können und 
zwar bei regelrechter Belastung, wie sie beim Sohlenstand eintritt, 
verfuhr ich folgendermassen: 

Auf den beiden Holzblöcken und 02 (Fig. .5, Querschnitt), liegt 
eine starke Glasplatte h. Der zu Untersuchende legt seinen entblössten Fuss 
leicht und bequem, wie wenn er auftreten wollte, auf die Glasplatte; mit dem 
Spiegel e können nun von unten her leicht die Vorgänge an der Fusssohle be¬ 
obachtet werden. 

Zur Bestimmung der Stützpunkte wird zuerst der Fuss leicht auf die 
Glasplatte aufgesetzt, so dass nicht das ganze Körpergewicht, sondern nur die 
Schwere des Beines selbst darauf ruht. Dabei ist natürlich auf ein richtiges 
Auftreten, also in einer Mittelstellung des Fusses von Dorsal- und Plantar¬ 
flexion, von Pro- und Supination, von Abduction und Adduction zu achten. 

Bei diesem Verfahren sah man nun, dass in siebennnd- 
fünfzig Procent aller untersuchten Fälle zuerst eine einpfennig- 
grosse anämische Stelle am Köpfchen des Metatarsus I auftrat und 


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Die vorderen Stützpunkte des Fusses unter normal, u. pathol. Verhältnissen. 53 


zu gleicher Zeit eine solche etwas kleinere in der Gegend des Meta- 
tarsusköpfchens Y. 

Tritt der Untersuchte stärker auf die Platte, so wird auch 
die Zwischenzone zwischen Metatarsus I und V blutleer, die Anämie 
breitet sich Über alle Metatarsalköpfchen aus. Lässt nun der Unter¬ 
suchte sein ganzes Körpergewicht auf der Glasplatte ruhen, indem 
er mit einem Beine auf 
derselben steht, so wird die 
anämische Zone an den 
Metatarsalköpfchen noch 
grösser, die Endphalangen 
der Zehen, welche ebenfalls 
auf der Unterlage auf¬ 
stehen, werden gleichfalls 
blutleer; verschieden ver¬ 
hält sich der laterale Band 
des Fusses. In einer Min¬ 
derzahl von Fällen mit sehr 
gut entwickeltem Fuss- 
gewölbe blieb ein Mittel- 
atück zwischen Ferse und 
Metatarsusköpfchen V in 
einer Ausdehnung von 4—5 cm frei von Veränderungen, in der 
Mehrzahl, wo das Gewölbe weniger gut ausgeprägt war, war der 
ganze laterale Rand in einer Breite von ca. 2 cm anämisch, bei 
platten Füssen zog die Anämie bis in die Nähe des medialen Randes. 

Wenn wir nun auch noch die Schwielen genauer beachten 
und ihre Lage controlliren, so finden wir, dass sie genau mit der 
Lage der zuerst auftretenden anämischen Punkte zusammenfallen, 
also am Metatarsusköpfchen I und Y zu finden sind. 

Da diese zwei Köpfchen zuerst die Unterlage berühren, so 
müssen wir sie als vordere Stützpunkte des Fusses ansehen. 

Aus all diesen Gründen — anatomische Verhältnisse, Röntgen¬ 
bilder, Lehmabdrücke, Schwielenbildung, Spiegelbetrachtung — kann 
also nicht das Capitulum metatarsi III, wie H. v. Meyer annimmt, 
der Stützpunkt sein, und alle anderen Zehen nur seitlich stützende 
Streben der gewölbebildenden dritten Zehe sein, sondern Metatarsus I 
und V sind bei 57®/o die thatsächlichen stützenden Punkte. 

Bei leichtem Auftreten mit dem Fusse wird zuerst nur Meta- 


Fig. 5. 



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54 


Ludwig Seitz. 


tarsus I und V belastet, bei starker Belastung (Tragen des ganzen 
Körpers) wird das transversale Metatarsalge wölbe in der Weise ab¬ 
geflacht, dass auch die Gapitula aller anderen Metatarsi der Unter¬ 
lage aufliegen (Fig. 6). Die Belastung von Köpfchen I und V ist 
dabei naturgemäss aber immer noch eine stärkere, und das gilt be¬ 
sonders von I. 

Wie ist diese Abflachung des Metatarsalgewölbes möglich? 
Die Köpfchen der Metatarsalknochen sind, wie die Betrachtung des 
Skelettes, die Palpation am Lebenden, die Röntgenbilder lehren, 

nicht so nahe an einander gelegen, 
als dass sie sich nicht leicht gegen 
einander verschieben könnten. Die 
Bänder, welche sich einer Verschiebung 
und damit Veränderung entgegen¬ 
stellen, nämlich die Ligamenta capitulorum und das Ligamentum 
plantare transversum subcutaneum (v. Meyer), stellen leicht dehn¬ 
bare Apparate dar. 

Diese Abflachung tritt bei jedem Schritte, also bei jeder Be¬ 
lastung des Fusses mit dem ganzen Körpergewicht ein; der vordere 
Theil des Fusses wird breiter, die Köpfchen Metatarsi I und V 
rücken weiter aus einander, das Gewölbe wird flacher oder ver¬ 
schwindet ganz. Sobald aber die Entlastung des Fusses erfolgt, 
schnellen die Köpfchen wieder infolge der Elasticität ihrer Bänder 
und des Gewölbebaues des Fusses überhaupt in ihre alte Anord¬ 
nung zurück. 

Verliert nun der Fuss aus irgend einem Grunde seine Elastici¬ 
tät, so verharrt auch nach der Entlastung das Metatarsalgewölbe in 
seiner Abflachung, und es bildet sich dann jener Zustand aus, wo 
der Fuss nicht nur mit Metatarsus I und V, sondern mit sämmt- 
lichen Metatarsusköpfchen zugleich auftritt. 

ln der That finden sich diese Verhältnisse keineswegs sehr 
selten, ich habe sie in 17^/o der untersuchten Fälle gefunden. In 
6*/o handelte es sich dabei um platte Ftisse; hier sind ja die Ver¬ 
änderungen um so leichter verständlich, als hier eine Abflachung 
des ganzen Fassgewölbes, nicht allein des Metatarsalge wölbes vor¬ 
handen war und die normale Elasticität und Festigkeit der Bänder 
verloren gegangen. Die übrigen IP/o waren Füsse mit gut er¬ 
haltenem Gewölbe, ein Beweis dafür, dass Fuss- und Metatarsal¬ 
gewölbe sich nicht immer gleich verhalten müssen. 


Fig. 6. 

Qq.qda. 


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Die vorderen Stützpunkte des Fasses unter normal, u. pathol. Verhältnissen. 55 

Bei diesen Fällen von abgeflachtem transversalem Metatarsal¬ 
gewölbe, wo der Vorderfiiss locker und die Köpfchen leicht an 
einander verschiebbar sind, sah man bei der Spiegeluntersuehung 

— wir wollen das Wort der Kürze wegen gebrauchen — dass die 
Anämie über allen Metatarsalköpfchen zu gleicher Zeit auftrat. Es 
fehlte hier auch eine ausgesprochene, scharf localisirte Schwielen- 
bildnng, die ganze Metatarsalgegend zeigte überall gleich harte Be¬ 
schaffenheit. 

Beschwerden von Seiten der Füsse waren nur in einem Falle 

— es handelte sich dabei um einen Plattfuss — vorhanden, auch 
nach langem und angestrengtem Gehen traten keine Schmerzen auf. 

Es kommen aber auch Fälle vor, in welchen sich der trans¬ 
versale Bogen nicht nur einfach abflacht, sondern wo er thatsäch- 
lich einstürzt in der Weise, dass der Scheitel des Gewölbes, der 
Metatarsus III, sich nach unten senkt; dadurch ist der vordere Theil 
des Fusses neben Metatarsus I und V noch durch Metatarsus III 
(Fig. 7a) gestützt, ja die Senkung des ehemaligen Scheitels kann 
so weit gedeihen, dass das Köpfchen des Metatarsus III die haupt¬ 
sächlichste und fast ausschliessliche Stütze wird (Fig. 7 b). Der 
Fuss Beely's scheint zu jener Kategorie gezählt zu haben, viel¬ 
leicht liess sich auch H. v. Meyer durch solch eine Abart zu 
falschen Schlüssen verleiten. 

Diese Erscheinung ist ziemlich häufig zu beobachten, ich habe 
sie sogar in 20^/o der untersuchten Fälle gefunden. Wie erklärt 
sich nun dieses häufige Vorkommen? Lässt sich dafür eine Ursache 
finden ? 

Einmal ist es auffällig, dass sich gerade bei Leuten, welche 
auf einen „eleganten, gefälligen* Schuh im modernen Sinne etwas 
halten, relativ häufig diese Form der Zehenanordnung zeigt. Diese 
„eleganten* Schuhe verlaufen vorne spitz zu und bieten dadurch 
naturgemäss dem vorderen Theil des Fusses, der an sich schon recht 
breit ist, nur wenig Raum. Dazu kommt noch, dass die innere 
Schuhsohle gewöhnlich nicht ganz eben, sondern an den Rändern 
höher ist, so dass also eine Frontalprojection ungefähr die Form 
der Fig. 8 hat. Die Folge wird sein, dass die erste und fünfte 
Zehe, in dem beschränkten Raume eingeengt, etwas nach oben und 
gegen die Seiten wände gedrängt wurden. Aus diesem Grunde be¬ 
obachtet man die Hühneraugenbildung mit besonderer Vorliebe an 
jenen Stellen, zumal an Zehe V. Der normal nach oben convexe 


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56 


Ludwig Seitz. 


Metatarsoflbogen wird bei der Belastung des Fusses durch das Körper¬ 
gewicht abgeflacht, sinkt, da er auf einer horizontalen Unterlage 
keine Unterstützung findet, sogar schliesslich in eine nach unten 
convexe Wölbung hinein. Eine lange fortgesetzte, sich immer wieder¬ 
holende gewaltsame Veränderung führt zuletzt zur bleibenden Fixi- 
rung der Verhältnisse. 

In 2 Fällen war eine Complication mit Plattfttssen vorhanden; 
eine besondere Disposition scheint also bei Plattfüssen für das Ein¬ 
sinken des transversalen Metatarsusgewölbes nicht zu bestehen. 

Pig. 7. 

Q^aoci, 

OOQOCb 

ln allen untersuchten Fällen bestanden keine Beschwerden, 
auch wenn die Personen viel und andauernd gegangen sind. Es 
scheint hier eine allmähliche Anpassung und Angewöhnung an die 
neuen Verhältnisse einzutreten, das Periost verdickt sich und an der 
äusseren Haut treten Schwielen auf. Aber immerhin kommen auch 
Fälle vor, die erhebliche Schmerzen verursachen, wie in dem zweiten 
Theile der Arbeit gezeigt werden soll. 

Mit der Spiegeluntersuchung nimmt man in den Fällen wahr, 
dass bei sehr stark ausgesprochenen Fällen zuerst Metatarsus III 
anämisch wird, dann I und V; gewöhnlich ist jedoch der Sachver¬ 
halt der, dass I, III und V im gleichen Niveau stehen und daher 
auch zu gleicher Zeit blutleer werden. Die Scbwielenbildung findet 
sich, wie schon oben erwähnt, in scharf ausgeprägten Fällen bei III, 
in weniger ausgesprochenen auch bei I und V. 

Doch ist es nicht immer nur die dritte Zehe, welche herab¬ 
gesunken ist, es finden sich Variationen in der Art, dass neben 
Metatarsus 1 zugleich UI am tiefsten liegt mit entsprechender 
Schwielenbildung (2®/o). 

Manchmal ist neben Metatarsus I nicht Metatarsus V selbst 
und allein, sondern zugleich mit IV, die Schwiele liegt dann auf 
beiden Köpfchen (4®/o). 


Fig. 8. 



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Die vorderen Stützpunkte des Fusses unter normal, u. pathol. Verhältnissen. 57 


Zuletzt muss auch noch die Ansicht, wie sie Hueter, Szy- 
manowsky (y. Meyer selbst hat seine Ansicht in einem späteren 
Aufsätze fallen lassen) aufgestellt haben, als unrichtig zurückgewiesen 
werden, dass nämlich neben Ferse und Metatarsus I der äussere 
Fussrand, besonders die Tuberositas metatarsi Y der Stützpunkt 
sei. Denn bei den untersuchten Personen habe ich auch nicht ein 
einziges Mal Schwielenbildung an der Tuberositas metatarsi V be¬ 
obachtet, was doch nach Analogie bei den übrigen der Fall sein 
müsste, wenn eine sehr starke und dauernde Belastung yorhanden 
wäre. Bei leichtem Auftreten habe ich bei den Spiegelunter¬ 
suchungen niemals Anämie zuerst an jener Stelle auftreten sehen, 
ja sogar in fast V’ der Fälle — es handelte sich dabei um FOsse 
mit gut entwickeltem Fussgewölbe — wurde auch bei Belastung 
mit dem Körpergewicht nicht der ganze laterale Rand des Fusses 
anämisch, wie man nach den Abdrücken auf Russpapier erwarten 
sollte, sondern es blieb eine ungefähr 5 cm lange Zone am lateralen 
Rande ohne Veränderung bestehen. Im Bereiche derselben lag in 
den meisten Fällen die Tuberositas metatarsi V, manchmal bildete 
sie das distale Ende. Mit unserer Anschauung stimmt auch y. Meyer 
fiberein (Statik und Mechanik des Fussgewölbes, S. 49), der noch 
weiter geht, indem er sagt: „Jede Ansicht, welche die Tuberositas 
088 . metatarsi Y als Stützpunkt aufstellt, ist dadurch als unhaltbar 
gezeichnet, dass an einem gesunden Fusse diese Tuberositas nie¬ 
mals den Boden berührt, sondern stets 1—2 cm über demselben 
frei liegt.* 

Mit dieser Ansicht geht y. Meyer offenbar zu weit; denn 
nach meinen Untersuchungen liegt beim Stehen in der Fälle der 
laterale Rand in der ganzen Ausdehnung und damit die Tuberositas 
metatarsi Y am Boden auf, ohne dass man diese Fälle schon als 
pathologisch bezeichnen könnte, richtiger kann man, wenn man 
einmal eine Abweichung yon normalen Verhältnissen annimmt, yon 
einer Variation der Form sprechen. Dazu gehören allerdings nicht 
mehr jene Füsse, bei denen eine breitere laterale Zone belastet ist 
und gar jene, bei denen die ganze Sohle, also auch der mediale 
Rand am Boden aufliegt, hier handelt es sich thatsächlich um patho¬ 
logische Formen, die in yielen Fällen auch Beschwerden oder ver¬ 
minderte Functionsfahigkeit bedingen (Plattfuss und platter Fuss). 

Wenn wir zum Schlüsse die Resultate unserer Untersuchungen 
ZQsammenfassen, so lassen sie sich kurz also präcisiren: 


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58 


Ludwig Seitz. 


I. 1. In 57®/o der Fälle — ich glaube, es entspricht dem 
normalen und ursprünglichen Verhalten — ist ein nach oben con¬ 
vexer, transversaler Metatarsalbogen vorhanden, dessen 


Fig. 9 a 


Fig. 9b. 



Fu 80 unbelastet. 


Fuss belastet. 


Scheitel gebildet wird vom Köpfchen des Metatarsus III 
(vielleicht in manchen Fällen von II), dessen seitliche Stützen 
Metatarsus I und V sind. Für diese Fälle müssen zweifel¬ 
los Metatarsus I und V als vordere Stützpunkte angesehen 
werden. 

2 . Dabei ist der mediale Stützpunkt, Metatarsus I un¬ 
gleich stärker belastet als der laterale (Metatarsus V). 


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Die vorderen Stützpunkte des Fusses unter normal, u. pathol. Verhältnissen. 59 


3. Die Tuberositas metatarsi V ist kein Stützpunkt 
des Fusses, sie liegt in der Fälle auch bei Belastung 
eines Fusses mit dem ganzen Körpergewicht überhaupt 
nicht dem Boden auf, in den übrigen Fällen, abgesehen von 
Plattfüssen und platten Füssen, wird sie nur leicht angedrückt 
gefunden. 

4. Die Ansicht, dass Metatarsus II oder III oder, wie 
einzelne annehmen, beide zusammen, aus dem Orunde, 
weil sie etwas fester, was speciell für II gilt, mit dem 
Tarsus verbunden sind, auch die vorderen Stützpunkte 
sein müssten, ist unrichtig; denn neben der Befestigung 
kommen die Lage (Gapit. metatarsi I und Y als Strebe¬ 
pfeiler des Bogens), das Verhalten der Bänder und ins¬ 
besondere die Function der Muskeln in Betracht. 

5. In diesen Fällen (57®/o) werden nur bei starker Be¬ 
lastung Capit. metatarsi II und III in Anspruch ge¬ 
nommen durch Abflachung des Gewölbes, die Hauptlast 
tragen aber Gapitula metatarsi I und Y. 

II. Von dieser Form der Belastung des vorderen Fusses 
kommen die verschiedenartigsten Abweichungen vor, vielfach be¬ 
dingt durch unzweckmässig gemachtes Schuhwerk. 

1. Sämmtliche Köpfchen der Metatarsi liegen in einer 
Ebene (17^/o), der Bogen ist abgeflacht, die Belastung ver¬ 
theilt sich auf alle Köpfchen annähernd gleich, wenn 
auch Metatarsus I, wie ich glaube, noch einen grösseren Antheil hat. 

2. Das Köpfchen des Metatarsus III liegt am tief¬ 
sten (20^/o), es übernimmt die Hauptlast, I und Y sind 
nur seitliche Streben, wenn sie auch, wie die Schwielen zeigen, 
in manchen Fällen, stark belastet erscheinen. Manchmal hatte es 
den Anschein, als ob das Metatarsusköpfchen II ebenfalls mit her¬ 
unter gesunken wäre. Bei dieser Art der Stützpunkte treten, wie 
der zweite Theil zeigt, manchmal Schmerzen und Störungen in der 
Functionsföhigkeit auf. 

3. Kleinere Variationen kommen vor, so in der 
Weise, dass Metatarsus I und III am tiefsten liegt 
(2®/o), ferner dass neben Metatarsus I nicht Metatarsus V 
selbst und allein, sondern zugleich mit lY (4^/o) aufsteht; 
die Fälle mit dem zuletzt angegebenen Verhalten müssten correcter 
zu den Fällen mit den Stützpunkten I und V gerechnet werden. 


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60 Ludwig Seitz. 

SO dass sich also für diese nicht allein 57^0, sondern sogar 61^0 
ergäben. 

Es liegt mir natürlich ferne, zu glauben, dass die durch diese 
Untersuchungen, gefundenen Verhältnisszahlen stetige und unver¬ 
änderliche seien, sie können natürlich nur ungefähre Angaben über 
das Vorkommen der einen oder der anderen Abweichung und Ano¬ 
malie abgeben. Auch kommen wohl noch andere Variationen vor. 
Vielleicht trägt die Arbeit dazu bei, den wichtigen Veränderungen 
am Vorderfusse mehr Aufmerksamkeit als bisher zu schenken. 

II. Elinisoher Theil. 

Die praktische Wichtigkeit der Kenntnisse der Stützpunkte 
erhellt aus der Thatsache, dass krankhafte Veränderungen zu Stö¬ 
rungen im Gehen und erheblichen Beschwerden Veranlassung geben 
können. Aus den verschiedensten Ursachen kommt es vor, dass ein 
oder mehrere Stützpunkte des Fussgewölbes schmerzhaft werden, und 
daraus eine bedeutende Beeinträchtigung der Functionsföhigkeit des 
Fusses erwächst. 

Soweit aus der Literatur zu ersehen ist, sind diese Zustände 
bisher nicht erkannt und beschrieben worden. Ich selbst wurde 
zuerst durch meinen hochverehrten früheren Chef, Herrn Privat- 
docenten Dr. Fritz Lange, auf diese Verhältnisse aufmerksam ge¬ 
macht; ihm verdanke ich auch die Anregung zum ersten Theile 
meiner Arbeit, der anatomisch-physiologischen Studie über die vor¬ 
deren Stützpunkte des Fusses. 

Im Folgenden halte ich mich an die Eintheilung der Fälle, 
wie er sie gegeben, und wie sie seinen Anschauungen entsprechen; 
besonders verpflichtet bin ich auch für die gütige Ueberlassung der 
Krankengeschichten aus der klinischen und aus der Privatpraxis und 
benütze freudig die Gelegenheit, hier öffentlich meinen verbindlkh- 
sten Dank für das liebenswürdige Entgegenkommen und die freund¬ 
liche Unterstützung auszusprechen. 

Wenn wir den Ursachen der Beschwerden nachgehen, so können 
dieselben einmal bedingt sein durch eine willkürliche Stellungs¬ 
veränderung des Fusses, wodurch als Stützpunkt des Fusses Stellen 
in Anspruch genommen werden, die an eine Belastung nicht mehr 
gewöhnt sind. Man kann die Beobachtung sehr leicht an sich selbst 
machen; wenn man in veränderter Fussstellung, z. B. in Valgus- 


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Die vorderen Stützpunkte des Fusses unter normal, u. pathol. Verhältnissen. 61 

stellang der Beine, eine Zeit lang geht, so schmerzen nicht allein 
die in Betracht kommenden Bänder und Muskeln, sondern in noch 
höherem Orade auch die innere Seite des Fusses, speciell der seit¬ 
liche Theil des Metatarsusköpfchens 1. Ein sehr lehrreiches Beispiel 
dürfte der folgende Fall sein: 

L., Arzt, hatte die Gewohnheit, mit parallel gestellten Füssen 
zu gehen. Er wurde wegen seines Ganges geneckt, und gewöhnte 
sich nun an, mit auswärts rotirten Füssen zu gehen. Der linke 
FuftB ertrug es gut, am rechten Fusse aber bildete sich innerhalb 
weniger Tage am Metatarsusköpfcben I eine schmerzhafte Druck¬ 
stelle. Objectiv war keine Veränderung, keine Röthung, keine 
Schwellung zu constatiren, nur jeder Druck auf diese Stelle war 
schmerzhaft, Patient konnte infolge dessen kaum länger als eine 
Viertelstunde hinter einander gehen. Das Gehen auf ebenem Boden 
war ausserordentlich erschwert, am besten konnte er noch gehen, 
wenn er auf dem abschüssigen Theile des Fahrweges ging, so dass 
der Fuss in Supinationsstelluug auftrat. Durch Tragen einer dicken 
Filzsohle, die an der Stelle des Metatarsusköpfchens I ein Loch hatte, 
wurde sofort schmerzfreies Gehen ermöglicht. Innerhalb 6 Wochen 
gingen die Entzündungserscheinnngen so weit zurück, dass Patient 
auch ohne Einlage gehen konnte; doch ist eine Empfindlichkeit des 
Metatarsusköpfchens I zurückge'blieben, die sich namentlich bei 
längerem Gehen auf dem Strassenpflaster störend geltend macht. 

Die Ursache der Schmerzen lag in der Aenderung der vorderen 
Stützpunkte. Während beim Gehen mit parallelen Füssen haupt¬ 
sächlich der laterale Theil des Fusses, speciell Metatarsusköpfchen V 
belastet ist, trägt beim Gehen mit auswärts rotirtem Fusse das Köpf¬ 
chen des Metatarsus 1 die Hauptlast. Hier war offenbar zuerst das 
Weichtheilpolster zu gering, es trat eine Reizung der Beinhaut, eine 
Periostitis auf. Aehnliche Erscheinungen sehen wir ja vielfach bei 
Mangel eines genügenden Weichtheilpolsters an anderen Körper¬ 
stellen auftreten; so vermag der vordere Theil des Darmbeinkammes, 
der arm an Weichtheilen ist, keinen Druck auszuhalten, während 
die hinteren Partien mit dickem Muskellager das Gewicht von Appa¬ 
raten ohne Reaction ertragen. Hier hat sich am Köpfchen des 
Metatarsus I innerhalb der 6 Wochen ein Anpassungsprocess voll¬ 
zogen, der in einer allmählichen Verdickung der Hornschicht (stärkere 
Ausbildung der Schwiele) und in einem reichlicheren Fettpolster 
bestand, wodurch die Knochenhaut vor Druck geschützt wurde. 


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Ludwig Seitz. 


Auch die 17 Fälle (von 100, siehe erster Theil) mit abge- 
flacbtem Metatarsalge wölbe und die 20 mit nach unten convexen 
Bogen (also Metatarsusköpfchen III am tiefsten), bei denen gute 
Function und vollständige Schmerzlosigkeit des Fusses bestanden, 
müssen durch eine allmähliche Accommodation, die sich natürlich um 
so leichter ausbilden kann, je langsamer die Veränderungen eintreten, 
erklärt werden. Diese Anpassung geschieht thatsächlich, wie ich 
mich durch wiederholte Untersuchungen an Leichen bei ähnlich ge¬ 
lagerten Fällen überzeugen konnte, durch die genannte starke An¬ 
lagerung von Fett und durch Schwielenbildung. 

Eine zweite Gruppe umfasst die operirten Spitz- und 
Klumpfüsse. Durch das Redressement werden andere Stützpunkte 
geschaffen, diese sind zu solcher Function noch nicht genügend vor¬ 
bereitet, es fehlt die gehörige Polsterung und die Folge ist eine 
Reizung und Schmerzhaftigkeit des Periostes, vielleicht auch eine 
directe Compression der Nervenäste. Als Belege dafür, wie be¬ 
trächtlich die Beschwerden nach Bildung von neuen Stützpunkten 
sein können, erlaube ich mir folgende Fälle anzuführeu: 

I. Fall. Georg E., 42 Jahre; rechtsseitiger paraljrtischer 
Spitzfuss. Im Jahre 1893 wurde das Redressement des Spitzfusses 
und die Tenotomie der Achillessehne ausgeführt und eine annähernd 
normale Stellung erzielt. Trotzdem war die Leistungsfähigkeit des 
Fusses nach der Operation schlechter als vorher. Vor der Opera¬ 
tion war Patient mit der vorderen Fläche der Metatarsalköpfchen 1 
und V aufgetreten, es standen die Phalangen senkrecht zu den Meta- 
tarsalia, nach dem Redressement waren die unteren Flächen der 
Metatarsalköpfchen I und V die Stützpunkte geworden; auf diesen 
sehr empfindlichen Stützpunkten konnte Patient nur ganz kurze 
Strecken gehen. Durch Verordmmg einer einfachen Filzsohle mit 
Löchern am Metatarsusköpfchen I und V wurde völlig schmerzfreies 
Gehen ermöglicht, und seit 1897, in welchem Jahre die Verordnung 
der Einlage stattfand, vermag er 4—5 Stunden ohne alle Schmerzen 
zu gehen. Der Erfolg der Therapie beweist in diesem Falle klar, 
dass es sich nur um eine grosse Druckempfindlichkeit der neuen 
Stützpunkte am Metatarsusköpfchen I und V gehandelt haben kann, 
und dass die Unfähigkeit zu gehen nicht etwa durch Unregelmässig¬ 
keiten im Gewölbebau des Fusses oder andere Veränderungen be¬ 
dingt gewesen ist. 


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Die vorderen Stützpunkte des Fasses unter normal, u. pathol. Verhältnissen. 63 


II. Pall. Frau R., 33 Jahre; Pes varo-equinus, seit 1890 
bestehend, im Anschluss an Rheumatismus entstanden. Tenotomie 
und Redressement im Februar des Jahres 1899. Nach der Abnahme 
des Verbandes im April 1899 zeigte sich, dass Köpfchen des Meta¬ 
tarsus I so schmerzhaft war, dass Patientin zuerst nicht mit voller 
Sohle auftreten konnte. Infolge ihres Pes varo-equinus war sie fast 
9 Jahre lang gezwungen, mit dem äusseren Fussrande aufzutreten; 
der nach der Operation plötzlich zum Stützpunkte geschaffene Meta¬ 
tarsus I hatte kein genügendes Polster, um den Druck aushalten 
zu können. Erst durch Benutzung einer Filzcelluloideinlage, welche 
das Köpfchen des Metatarsus I entlastete, wurde schmerzfreies Oehen 
ermöglicht. 

III. Fall. Fräulein W., 18 Jahre; rechtsseitiger angeborener 
Spitzklumpfuss. Tenotomie und Redressement im März 1899; Ver¬ 
bandabnahme am 9. Mai; der Fuss in ausgezeichneter Stellung, der 
Verband war ohne alle Beschwerden ertragen worden. Als aber 
Patientin mit einem gewöhnlichen Schuhe zu gehen begann, stellte 
sich Schmerzhaftigkeit des Metatarsusköpfchens 1 ein, dieselbe 
steigerte sich in den nächsten Tagen immer mehr, und als Patientin 
trotzdem das Gehen erzwingen wollte, kam es zu einem Decubitus 
an der entsprechenden Stelle der Fusssohle, der ca. 6 Wochen zu 
seiner Ausheilung brauchte. Patientin wurde erst durch eine Filz¬ 
celluloideinlage schmerzfrei. Offenbar ist bei diesem Falle der De¬ 
cubitus nur deshalb entstanden, weil eine genügende Polsterung am 
Köpfchen des Metatarsus I fehlte. 

IV. Fall. Frau E., 36 Jahre; schwerer paralytischer Klump- 
fuss. Durch Tenotomie und Redressement wurde normale Fuss- 
stellung erzielt. Trotzdem hatte Patientin keinen besonderen Nutzen, 
weil das Köpfchen des Metatarsus III und IV so hochgradig auf 
der Fusssohle vorsprang und so ausserordentlich empfindlich war, 
dass Patientin nur eine geringe Strecke zu gehen vermochte. Auch 
hier wurde durch eine Filzsohle völlige Schmerzlosigkeit erzielt. 

An die erwähnten Fälle von Klump- und Spitzfüssen schliesst 
sich passend folgende Krankengeschichte an: 

Maria W., 53 Jahre, Fabrikarbeiterin aus Sch., gibt an, vor 
8 Jahren am inneren Knöchel links ein varicöses Geschwür gehabt 
zu haben; es hat sich allmählich eine Narbe gebildet, die den Fuss 


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Ludwig Seitz. 


nach innen zog. Patientin gewöhnte sich, um die schmerzhafte Narbe 
möglichst wenig zu reizen, mit dem Aussenrande des Fusses aufzu- 
zutreten. Am Köpfchen des Metatarsus V entstand eine starke 
Druckschwiele, die sehr schmerzhaft war, so dass Patientin nur mehr 
eine Viertelstunde lang gehen konnte. Um die schmerzhafte Stelle 
am Metatarsus V vom Drucke zu entlasten, trat eine Dauercontractur 
der Muse, extens. digiti IV und V auf. Durch eine Filzcelluloid- 
einlage wurde schmerzfreies Gehen ermöglicht. Ob sie dauernd 
schmerzfrei geblieben ist, kann, da sie sich nicht mehr vorgestellt 
hat, leider nicht berichtet werden. 

III. Gruppe: Schmerzhaftigkeit der Metatarsalköpf- 
chen ohne Veränderung der Belastung infolge von 
rheumatischen Anomalien. Die Ursachen der Schmerzhaftig¬ 
keit liegen in Form Veränderungen an den Stützpunkten selbst. 
Sie beruhen hauptsächlich auf Verdickungen und Wucherungen des 
Knochens und des Periostes, auch die Weichteile können verändert 
sein und stellen sich meist im Verlaufe einer Arthritis deformans 
ein. Da im höheren Alter öfters eine Druckempfindlichkeit, nament¬ 
lich des Metatarsusköpfchens I gefunden wird, so lässt sich ver- 
muthen, dass auch jene Veränderungen auf ähnliche Processe zuröck- 
geführt werden können. 

Die folgende Krankengeschichte stammt von einer 49jährigen 
Patientin Leocardia H. Sie litt seit 5 Jahren au Rheumatismus. 
An Fingern und Händen lassen sich die typischen Veränderungen 
der Arthritis deformans nachweisen. Es bestehen ausserdem seit 
einem Vierteljahre Schmerzen an den Füssen, entsprechend den Köpf¬ 
chen des Metatarsus II, III und IV. Ueber diesen und dem V. sieht 
man starke Druckschwielen, während bei Metatarsus I nicht die 
geringste Andeutung davon zu bemerken ist; auch beim Auftreten 
berührt derselbe den Boden nicht. Bemerkenswerth ist hier noch, 
dass der Schmerz sofort nachliess, wenn man durch Händedruck 
die Convexität des transversalen Metatarsalgewölbes wieder herstellte. 
Im Momente, wo der Druck nachliess, traten die Schmerzen wieder 
auf. Die Erklärung für diese letztere Erscheinung ist wohl auf 
eine directe Nervencompression zu beziehen. Bekanntlich theilen 
sich diejenigen Aeste der Nerv, plantares ext. und intern., welche 
zwischen je zwei Metatarsalia verlaufen, gerade zwischen den Köpf¬ 
chen der Metatarsalia in der Weise, dass der eine an die Aussen-, 
der andere an die Innenseite zweier benachbarten Zehen zieht. Diese 


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Die vorderen Stützpunkte des Fusses unter normal, u. pathol. Verhältnissen. 65 


Theilungsstelle war in unserem Falle vermuthlich einmal durch die 
Dickenzunabme der Köpfchen, dann durch das Einsinken des Bogens, 
das noth wendig Lage Veränderung zur Folge haben muss, gedrückt 
und eingeklemmt worden. 

Auch dieser Patientin wurde eine Filzcelluloideinlage verordnet, 
die durch Hohllegen der schmerzhaften Stellen Gehen ohne Schmerzen 
ermöglichte. 

Ausser den drei schon erwähnten Arten der Schmerzhaftig¬ 
keit der Metatarsalköpfchen lässt sich noch eine vierte Gruppe 
aufstellen, bei der man eine Ursache im einzelnen Falle 
nicht nachweisen kann. Es handelt sich meist um Patienten, 
die jahrelang schon an dieser Schmerzhaftigkeit gelitten haben und 
bei denen man eine genauere Anamnese nicht erheben kann. 

Fall 1. Herr K., Forstmeister; bei demselben bestehen in den 
letzten Jahren beiderseits am Metatarsalköpfchen I und V schmerz¬ 
hafte Druckschwielen; während er früher ein ausgezeichneter Fuss- 
gänger war und seinen Dienst anstandslos erfüllen konnte, wurde 
er in seiner Gehfähigkeit so behindert, dass er die Absicht hatte, 
sich pensioniren zu lassen. Durch einfache Filzsohlen mit Ent¬ 
lastung des Metatarsus I und V wurde vollständig schmerzfreies 
Gehen erzielt; Patient konnte 8 Stunden im Tage schmerzfrei gehen 
und seinem Berufe wieder vollständig nachkommen. 

Fall 2. Mathias L., Plakatanschläger, leidet seit ca. ^/2 Jahre 
an starken Schmerzen beim Gehen, so dass er nur ganz kurze Zeit 
gehen kann und als arbeitsunfähig angesehen werden musste. Der 
Schmerz war auf Metatarsusköpfchen II und III beiderseits localisirt; 
durch Verordnung einer Einlage verschwanden die Schmerzen im 
einen Fusse vollständig, im anderen wurden sie erheblich gebessert. 

Fall 3. Herr 0., 50 Jahre alt; eine ganze Reihe von Meta¬ 
tarsalköpfchen schmerzten beim Gehen und Stehen, so dass Patient 
in seinem Berufe sehr behindert war. 

Fall 4. Georg L., 15 Jahre alt; Schmerzhaftigkeit am Meta¬ 
tarsusköpfchen V rechts. 

Fall 5. Wilhelm St., 46 Jahre alt; Druckschwiele am Meta¬ 
tarsus III rechts. 

Fall 6. Simon A., 21 Jahre alt; Schmerzhaftigkeit am Meta- 
tarsQs 1. 

Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. VIII. Band. 5 


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CG 


Ludwig Seitz. 


Fall 7. Georg W., 42 Jahre alt; Schmerzhaftigkeit am Meta¬ 
tarsus I links. 

Fall 8. Margarete F., 22 Jahre alt; Schmerzhaftigkeit am 
Metatarsus II links. 

Fall 9. Frau E., 40 Jahre alt; Schmerzhaftigkeit am Meta¬ 
tarsus I links und I und’ III rechts. 

Mit dieser letzten Gruppe von Fällen hat ein schon bekanntes 
Krankheitsbild eine gewisse Aehnlichkeit, ich meine die sogen. 
Morton’sche Krankheit oder die Metatarsalgie. Doch ehe wir dar¬ 
auf genauer eingehen, reihen wir zuerst die Besprechung der 
Therapie an. 

Die Behandlung der Schmerzhaftigkeit der Meta- 
tarsalköpfchen. Die Aufgabe derselben ist, die schmerz¬ 
haften Stellen möglichst vor Druck zu bewahren. Wenn 
es sich nur um einen Metatarsus handelt, so genügt eine einfache 
Filzsohle oder besser eine Filzcelluloidsohle. Bei der einfachen Filz¬ 
sohle wird guter, dicker Filz nach der Sohle zurecht geschnitten 
und genau an der Stelle, welche dem druckempfindlichen Meta¬ 
tarsusköpfchen entspricht, ein Loch angebracht. Zu dem Zwecke 
bestreicht man die schmerzhafte Stelle an der Sohle mit etwas Fett, 
lässt den Kranken auf weisses Papier treten und zeichnet die 
äusseren Contouren des Fusses genau auf; darauf erhält man in 
zuverlässiger Weise die Form und Grösse des Fusses und den Ort 
der schmerzhaften Stelle und kann darnach leicht die Sohle zu¬ 
schneiden. Bei der Herstellung der Filzcelluloideinlage werden zwei 
Filzsohlen genommen, die untere aber durch Imprägnirung mit 
Celluloid fester und widerstandsfähiger gemacht. Statt des unteren 
Filzes kann man auch Matratzengurt, mit Celluloid getränkt wählen, 
der eine längere Haltbarkeit gewährleistet. Ist durch die zwei 
Lägen von Filz und das eingeschnittene Loch das Metatarsus¬ 
köpfchen noch nicht genügend vor Druck geschützt, so kann zwi¬ 
schen die beiden Lagen noch zweckdienlich ein Filzring ein¬ 
geschoben werden. 

Schwieriger ist die Behandlung, wenn es sich um Fälle handelt, 
wo der ganze Metatarsus oder wenigstens mehrere Köpfchen zu¬ 
sammen schmerzhaft sind. In solchen Fällen muss man auf die 
Benützung der vorderen Endpunkte des Gewölbes überhaupt ver- 


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Die vorderen Stützpunkte des Fusses unter normal, u. pathol. Verhältnissen. (}7 


zichten und statt dessen am Fussgewölbe selbst angreifen. Die 
Einlage muss eo beschaffenem, dass sie den ganzen Fuss unter¬ 
stützt, also im Gewölbe stark erhöht ist, sie muss also eine nach 
oben convexe Wölbung haben, auf der das nach unten concave 
Fussgewölbe aufruht und auf der alle Punkte desselben eine'Stütze 
finden, die Gegend des schmerzhaften Metatarsalköpfchens aber vom 
Drucke vollständig befreit bleibt. 

Die Art der Wirkung der Einlage kann man sich am besten 
durch einen Vergleich mit dem Bogen in der Architektur klar 
machen. Ein Bogen braucht, um nicht einzusttirzen, wenigstens 
zwei Stützpunkte, die sogen. Widerlager (Fig. 10, 1 a und h). Will 
man nun einen der Stützpunkte, sagen wir 
b, von dem auf ihm ruhenden Drucke ent¬ 
lasten, so muss der Bogen zur Verhütung 
des Einsturzes an mehreren Stellen Unter¬ 
stützung (Fig. 10, J2^ Punkte c, d, a . . , z) 
finden. Dieses Princip ist auch bei der Ein¬ 
lage durchgeführt, an'Stelle der zwei Stütz¬ 
punkte sind eine Reihe von solchen getreten, 
auf die sich, annähernd in gleicher Weise, 
die Last vertheilt, die schmerzhaften Meta- 
tarsalköpfchen, die im Vergleiche mit dem 
architektonischen Bogen dem Punkte h ent¬ 
sprechen , bleiben vom Druck verschont. 

Die Stelle, an der sie auf liegen, wird natürlich durch Polsterung 
noch besonders dazu präparirt. Um die Einlage genau den indivi¬ 
duellen Verhältnissen anzupassen, muss dieselbe nach dem Gipsab¬ 
guss gearbeitet sein. 

Durch derartige Einlagen gelang es in allen Fällen, schmerz¬ 
freies Gehen bei Patienten, die in ihrem Berufe schwer gestört 
waren, zu erzielen und sie dadurch wieder vollständig erwerbsfähig 
zu machen. Man sieht daraus die ungemein praktische Bedeutung, 
welches dieses an sich unscheinbare, aber doch so schwere und 
störende Leiden hat, sowohl für den, der daran leidet, als auch für 
den Arzt, der berufen ist, es zu beheben und das mit so einfachen 
Mitteln erreichen kann. 

Zum Schlüsse sei es mir noch gestattet, einiges von der 
Metatarsalgie oder Morton’schen Krankheit zu erwähnen, die, wie 
oben schon erwähnt, eine gewisse Aehnlichkeit mit den Fällen der 


Fig. 10. 


I 



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Ludwig Seitz. 


Gruppe IV zu haben scheint. Genaueres Eingehen auf das inter¬ 
essante Krankheitsbild mag auch aus dem Grunde einigermassen 
gerechtfertigt erscheinen, als diese Krankheit in Deutschland noch 
wenig bekannt zu sein scheint und in unserer Zunge, soweit mir 
die Literatur bekannt ist, nur von C. Devrient in der Peters¬ 
burger medicinischen VS^ochenschrift 1894 und 1895 zwei Artikel 
veröflFentlicht sind (C. Devrient, Ein Beitrag zu Thomas S. K. 
Morton’s Metatarsalgie 1894, S. 463 und 1895, 12. Januar). 

Die Krankheit ist nach Thomas G. Morton benannt, der 
sie im Jahre 1876 (American Journal of the Medical Sciences, 
January) zum erstenmale beschrieb unter dem Titel: „A peculiar 
Aflfection of the fourth Metatarso-phalangeal Articulation“. Es ist 
das eine nach längerem Gehen, Spielen, Tanzen und nach anderen 
Bewegungen plötzlich auftretende heftige Schmerzhaftigkeit am 
Köpfchen des vierten Metatarsalknochens; die Schmerzen sind wie 
bei einer Neuralgie, von stechendem, reissendem Charakter und von 
derartiger Intensität, dass die Kranken gezwungen sind, stille zu 
stehen und, um Erleichterung ihres Schmerzes zu erlangen, die 
Schuhe auszuziehen, vielfach ohne Rücksicht auf die Umgebung zu 
nehmen. Erleichterung von den Schmerzen verschafft auch das 
Massiren des Vorderfusses. Der Fuss kann zeitweise ganz frei von 
Schmerzen sein; so findet man häufig, dass Morgens keine Schmerzen 
vorhanden sind; dass im Laufe des Tages, beim Gehen sich der 
unliebe Gast gleich wieder einstellt. In manchen Fällen sind die 
Beschwerden keine so grossen, der Schmerz ist mehr dumpf, bohrend. 

Die Ursache erblickt Th. G. Morton darin, dass ein Zweig 
des äusseren Plantarn er v en, der zwischen dem vierten und fünften 
Metatarsalknochen verläuft, zwischen den Köpfchen dieser beiden 
Knochen zusammengedrückt wird. Das Zusammenpressen kann durch 
seitlichen Druck, wie das bei engen Schuhen der Fall ist, geschehen, 
kann durch irgend eine fehlerhafte Bewegung veranlasst werden. 
Bei der Betrachtung der anatomischen Lage der zwei in Frage 
kommenden Metatarsalia wird man das relativ häufige Vorkommen 
an dieser Stelle leicht begreifen. Es steht nämlich das Köpfchen 
des fünften Metatarsus etwas weiter (^8 — ^/2 englischen Zoll) gegen¬ 
über dem vierten zurück, als das vierte vom dritten, dieses vom 
zweiten und das zweite vom ersten Metatarsalköpfchen. Wird daher 
durch seitlichen Druck die kleine Zehe medialwärts gedrängt, so 
wird die Phalanx und das Metatarsalköpfchen V gegen das Köpfchen 


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Die vorderen Stützpunkte des Fusses unter normal, u. pathol. Verhältnissen. 69 


und gegen den Knochen des Metatarsus IV gedrückt, und hierbei 
wird der dazwischen liegende Nervenast gequetscht. Dies veran¬ 
lasst die Neuralgie. 

Neben dieser Morton’schen Auffassung der Entstehung der 
Metatarsalgie vertritt Poullosson eine andere Theorie, welche er 
sich für die Fälle zurecht gelegt hatte, für welche die Erklärung 
von Th. G. Morton nicht genügend war. So erzählt er einen Fall 
von Metatarsalgie bei einem Arzte, bei dem der Schmerz nachliess, 
wenn er die Köpfchen der mittleren Mittelfussknochen eine Zeit 
lang mit den Fingern nach oben drückte. Liess er mit dem Druck 
nach, so trat der Schmerz wieder auf. Die Erklärung dieser Er¬ 
scheinung sah Poullosson in einer gewissen ErschlaflFung der 
transversalen metatarsalen Bänder, welche theilweise einen Einsturz 
des transversalen vorderen Gewölbes bedingt; dabei wird ein Köpf¬ 
chen, hauptsächlich das dritte, nach abwärts dislocirt und dadurch 
die Nerven, die den Knochen auf beiden Seiten begleiten, zusammen¬ 
gedrückt. 

E. H. Bradford^) bekämpft Poull osson und lässt nur die 
Auffassung des ersten Beschreibers Thomas G. Morton gelten. 
Auch der Namensgenosse des Letzteren, Thomas S. K. Morton^) 
schliesst sich dieser Ansicht an; er untersuchte die zum Zwecke 
der Heilung excidirten Stücke sorgfältig mikroskopisch, vermochte 
aber in keinem Falle irgend welche Veränderung am Gelenke oder 
am Nerven aufzufinden. 

L. G. Guthrieäussert sich über die Entstehung des Uebels 
in folgender Weise: ,Unter dem Einfluss des langen Stehens oder 
Gehens in engen Schuhen werden die Ligamente des einen oder 
mehrerer Gelenke, Metatarsalgelenke oder Phalangealgelenke allein 
gezerrt, eine leichte Subluxation tritt ein, die Nerven werden ge¬ 
dehnt und von dem theilweise dislocirten Knochen gedrückt; auf 
diese Weise entsteht der charakteristische Schmerz.“ 


Province med. 1889, Febr. August Poullosson, De la Metatars¬ 
algie anterieure. 

*) E. H. Bradford, Metatarsal Neuralgia or Morton’s Affection of the 
Foot. Boston medic. and surgical Journal 1891, Nr. 3. 

*) Thomas S. K. Morton, Metatarsalgia with an account of six cases 
cured by Operation. Annals of Surgery 1893, Vol. XVII. 

*} L. G. Guthrie, On a form of painful Toe. Lancet 1892. Vol. I p ♦32'^. 


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Ludwig Seitz. 


Edward F. Grün^), der selbst an Metatarsalgie litt, glaubt, 
dass die Krankheit durch Einsinken des tarsalen Gewölbes, welches 
von der Verlängerung des Fusses und der Verbreiterung nach der 
äusseren Seite begleitet wird, hervorgerufen wird. „Fällt das Körper¬ 
gewicht auf das Bein, so wird der Fuss ausserordentlich breit, die 
Schuhe sind aber nicht so gemacht, um eine Verbreiterung des 
Fusses zu erleichtern; die Folge davon ist der schreckliche krampf¬ 
hafte Schmerz, der die Patienten veranlasst, die Schuhe auszuziehen. 

In den Annals of Surgery 1898 ist nun von A. H. Tubby 
und Robert Jones eine ausserordentlich wichtige und inter¬ 
essante Veröffentlichung über die Frage der Metatarsalgie erschienen. 
Die Verfasser geben an der Hand von 30 Fällen eine genaue 
Schilderung der Symptome der Krankheit und theilen aus prakti¬ 
schen Gründen dieselbe in drei Grade. Zu dem ersten Grade zählen 
sie die Fälle, bei denen der Schmerz nur gelegentlich aus Anlass 
von besonderen Bewegungen in der Gegend des Metatarsalgelenkes 
verspürt wird; beim zweiten Grade treten die charakteristischen 
Symptome entweder bei den ersten Gehversuchen nach einem Trauma, 
infolge plötzlicher und unerwarteter Bewegungen u. s. w. auf, und 
endlich der dritte Grad ist ausgezeichnet durch so anhaltenden und 
manchmal so heftigen Schmerz, dass die Kranken zum Gebrauch 
des Fusses vollständig unfähig sind. 

Die Ursache bei den Erkrankungen zweiten Grades erblicken 
die Verfasser in dem Nachgeben und Einsturze des Metatarsalbogens 
an irgend einer Stelle, die zu einer Nervencorapression Veranlassung 
gibt. Unter den einschlägigen Fällen ist auch eine Kranken¬ 
geschichte angeführt, wo, wie in unserem Fall (Leonardie H., 
Gruppe III), eine nach unten convexe Wölbung des Metatarsalbogens 
vorhanden war, und wo mit Herstellung des normalen Gewölbes 
mittelst Fingerdruck die Schmerzen sofort verschwanden. Bei fast 
allen Fällen wird erwähnt, dass durch forcirte Plantarflexion des 
Fusses, die bekanntlich mit einer stärkeren nach oben convexen 
Wölbung des transversalen Metatarsalbogens einhergeht, die paroxys¬ 
malen Schmerzen sich bessern oder verschwinden. Für die Minder¬ 
zahl der Fälle nehmen die Autoren, wie die früheren, als direct 

Edward F. Grün, Metatarsal Nenralgia. Boston medical and surgical 
Journal 1891, Vol. II p. 52. 

A. H. Tubby and Robert Jones, Metatarsalgia or Morton’s Disease. 
Annals of Surgery 189S, p. 297. 


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Die vorderen Stützpunkte des Fusses unter normal, u. pathol. Verhältnissen. 71 


veranlassendes Moment eine Contpression der Nerven zwischen den 
einzelnen Knochen an, doch sei die Mehrzahl durch ein directes 
Gedrücktwerden des Nerven zwischen Metatarsalköpfchen und Boden 
bedingt. Die Erklärung für die Thatsache, dass der Sitz der 
Schmerzhaftigkeit am häufigsten am Metatarsusköpfchen III und IV ist, 
suchen sie durch das Vorhandensein eines quer über das Metatarsus¬ 
köpfchen IV ziehenden Communicationszweigchens vopi Nerv, plant, 
ext und int. zu erklären. In einigen Fällen waren allerdings auch 
andere Köpfchen entweder allein oder in Verbindung rnit dem dritten 
und vierten schmerzhaft. 

Gicht, Rheumatismus, Hysterie konnten als Krankheiten, welche 
Affectionen des Fusses häufig bedingen, in den Fällen mit Sicher¬ 
heit ausgeschlossen werden, desgleichen konnte auch Plattfuss nicht 
die Ursache abgeben. Als wichtig erscheint mir, dass in 2 Fällen 
an den exstirpirten Metatarsalknochen deutlich eine Verdickung des 
Köpfchens mit osteophytischen Wucherungen, dass ferner in 2 Fällen 
eine ausgesprochene Entzündung mit Röthung und Verdickung der 
Digitalnerven sich nach weisen Hess, in einem Fall ein Fibrom der 
Plantarfascie, in einem anderen ein sehr starker Gallus nach Fractur 
in der Nähe des Köpfchens die Ursache der Neuralgie war. Das 
Krankheitsbild der Metatarsalgie Morton hat zweifellos eine gewisse 
Aehnlichkeit mit den von uns namentlich unter Gruppe IV ge¬ 
schilderten Fällen. Aber ein Symptom, durch das die Morton’sche 
Krankheit hauptsächlich charakterisirt ist, fehlt ganz und gar in 
unserer Beobachtungsreihe, das ist das anfallsweise Auftreten, das 
Paroxysmale der Affection, kurz, die typische Neuralgie. Daran 
haben alle Beschreiber der Morton’schen Krankheit als wichtigstes 
Symptom festgehalten und erblicken darin den Typus der Krankheit. 

Insoferne ist es in unseren Fällen wohl berechtigt, von einem 
von der Morton’schen Krankheit verschiedenen Krankheitsbilde zu 
reden und es vorläufig, nachdem uns eine exacte, einheitliche patho¬ 
logisch-anatomische Aetiologie noch mangelt, kurzweg als „Schmerz¬ 
haftigkeit der Metatarsalköpfchen“ zu bezeichnen. Freilich 
ist es nicht ganz auszuschliessen, dass es sich in der Morton’schen 
Metatarsalgie um ausserordentlich starke Grade unserer Erkrankung 
handelt, also unsere Fälle nur leichte Abarten der Morton’schen 
Affection, bei denen es nicht zu paroxysmalen Anfällen gekommen 
ist, darstellen. Dafür scheinen einigermassen die Krankengeschichten 
der ersten Gruppe von Tubby und Jones zu sprechen. Vielleicht 


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72 


Ludwig Seitz. 


gelingt es später, wenn weitere und genauere Untersuchungen nach 
pathologisch-anatomischen Gesichtspunkten und zahlreichere Beob¬ 
achtungen gemacht sind, die Fälle einheitlich in einem Krankheits¬ 
bilde zusammenzustellen. 

Noch auf die Therapie, die von Tubby und Jones angewandt 
wurde, kurz einzugehen, möge mir gestattet sein. In den leichteren 
Fällen empfehlen sie neben Massage und Bädern nur Schuhe mit 
breiten und dicken Sohlen zu tragen, ausserdem die Sohle ein wenig 
hinter den Köpfchen der Metatarsalknochen etwa um —^/2 Zoll 
höher zu machen, eventuell auf dem vorderen Theil des Fusses eine 
Lederkappe aufzusetzen. Bei den Neuralgien dritten Grades hilft 
einzig und allein die Entfernung des vierten Metatarsalknochens. 
Bandagen und Einlagen, wie sie von den zwei Autoren gemacht 
worden sind, gewähren keinen Nutzen. Vielleicht gelingt es auch 
in solchen Fällen noch durch eine nach unseren Principien her¬ 
gestellte Sohle, die Schmerzen zu beseitigen und so einer Ver¬ 
stümmelung des Fusses vorzubeugen. Eines Versuches wenigstens 
wäre die Sache wohl werth. 

Die Untersuchungen, die hier über die vorderen Stützpunkte 
des Fusses mitgetheilt sind, haben auch Beziehungen zu der Frage: 
Soll man bezw. darf man bei Erkrankungen die Metatarsen vom 
Fusse entfernen? Vielfach besteht eine Scheu, den ersten Mittel- 
fussknochen als den wesentlichsten Stützpunkt des Fussgewölbes zu 
entfernen. Bardenheuer hat, von dieser Furcht geleitet, eine 
Operation vorgeschlagen und ausgeführt, die durch Spaltung des 
zweiten Metatarsalknochens einen Ersatz für den ersten zu schaflFen 
sucht. Wir glauben, diese Befürchtungen sind gegenstandslos; in 
den meisten Fällen wird der zweite Metatarsus als Ersatz eintreten. 
Geschieht das nicht, dann kann man durch eine passende Einlage 
das Bogengewölbe stützen und sogleich darauf ein sicheres und 
schmerzfreies Gehen ermöglichen. Auch bei den Fällen von Tubby 
und Jones, die durch Exstirpation des vierten Metatarsalknochens 
behandelt wurden, stellten sich durch den Wegfall dieser Knochen 
keine Störungen in der Functionsfähigkeit des Fusses ein. 

Nachtrag. Eine Arbeit von E. H. Bradford^) über »Irri- 

71. Naturforscher- u. Aerzteversammlg. München 1899, Chirurg. Abthlg. 

E. H. B r a d f 0 r d - Boston, Irritationsexostosen des menschlichen Fusses. 
Philadelphia med. Journal 29. Juli 1899. Ref.: Münch, med. Wochenschr. 1899, 
Nr. 46 S. 1546. 


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Die vorderen Stützpunkte des Fusses unter normal, u. pathol. Verhältnissen. 73 

tationsexostosen des menschlichen Fusses“, die mir leider nur im 
Referat zugängig war, konnte wegen Abschluss der Arbeit nicht 
mehr genügend berücksichtigt werden. E. H. Bradford zeigt an 
einer Reihe von Skiogrammen das Vorhandensein von Exostosen; 
es fand sich Druckerapfindlichkeit des Knochens und entzündliche 
Reizung der Haut, welch letzteres Symptom wir in unseren Fällen 
nie beobachten konnten. E. H. Bradford fand die Exostosenbildung 
am häufigsten am ersten und fünften Metatarsophalangealgelenk,^ 
dann aber auch an den dorsalen Gelenkflächen des Os cuneiforme 
und des ersten Metatarsalknochens, endlich die Prominenz an der 
hinteren Fläche des Os calcanei. Die Exostosen treten nach seiner 
Ansicht au den Stellen hauptsächlich auf, an welchen die Belastung 
am stärksten und die Fettpolsterung am schwächsten ist, es stimmen 
also E. H. Bradfor d’s ätiologische Anschauungen mit den unsere» 
überein, es unterscheiden sich aber, gleiche Symptomatologie vor¬ 
ausgesetzt, unsere Fälle doch insofern von den seinen, als bei uns 
eine Exostose nie nachzuweisen war, der Process vermuthlich auf 
Reizung des Periostes beschränkt blieb. 

Im Octoberhefte der „Sammlung klinischer Vorträge“ (v. Volk¬ 
mann) dieses Jahres, gerade zu einer Zeit, wo das Manuscript der 
vorliegenden Arbeit fertig gestellt war, erschien eine Arbeit von 
G. Muskat: „Die Brüche der Mittelfussknochen in ihrer Bedeutung 
für die Lehre von der Statik des Fusses“, die auf Grund klinischer 
Erfahrungen die Richtigkeit der Theorie, Metatarsusköpfchen II 
und III seien die vorderen Stützpunkte des Fusses, zu beweisen sucht. 

Verfasser zählt die Namen der Verfechter der Zweistütz¬ 
punkttheorie (Metatarsus I und V) auf, und hält diesen dann die 
Anschauungen der Anhänger der Einstützpunkttheorie, wie wir 
die erstgenannte Ansicht kurz nennen wollen, entgegen und führt 
speciell die auch in unserer Abhandlung zum Theil erwähnten Ex¬ 
perimente von Beely und H. v. Meyer als Beweise an, ohne sich 
indess in eine Kritik der Untersuchungen näher einzulassen. 

Seine Untersuchungen über die Fracturen der Metatarsal¬ 
knochen ergab in Bezug auf die Häufigkeit der indirecten Brüche 
der Einzelknochen folgende Verhältnisse (155 zusammengestellte 
Fälle): 


84mal der zweite 
57 „ „ dritte . 


Mittelfussknochen = 54,5‘’’o 
fl = 36,8 „ 


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74 


Ludwig Seitz. 


4mal der vierte . . . . Mittelfussknochen = 2,5 ®/o 

1 „ fünfte ..... „ = 0,6 „ 

4 , n zweite und dritte „ = 2,5 „ 

5 „ „ dritte und vierte = 3,1 , 


Auf den ersten Blick hat die grosse Häufigkeit der Brüche 
des zweiten und dritten Mittelfussknocheus gewiss etwas Bestechendes, 
und man kann sich sehr leicht zu der Ansicht verleiten lassen, die 
Mittelknochen II und III brechen so oft, weil sie die normalen 
Stützpunkte des Fusses darstellen. Aber man sehe die „feile Dirne 
Statistik“ etwas genauer an! und man wird finden, dass der häu¬ 
figere Bruch des Metatarsus II und III eine Thatsache ist, dass 
damit aber für die eine oder andere Theorie der Stützpunkte nichts 
bewiesen wird. 

Wenn wirklich das häufige Vorkommen der Fracturen von 
Metatarsus 11 und III in ihrer Eigenschaft als vordere Stützpunkte 
begründet wäre, so müsste die Verhältuisszahl zwischen den Brüchen 
des Metatarsus II und III eine andere sein, der Bruch des Meta¬ 
tarsus III müsste der weitaus häufigere sein. Denn die zwei Autoren, 
deren Theorie Muskat mit seinen Berechnungen zu stützen sucht, 
nehmen als vorderen Stützpunkt hauptsächlich den Metatarsus III 
an, H. V. Meyer ausschliesslich, Beely ebenfalls in erster Linie 
den III., erst in zweiter Metatarsus II. Dieses MivSsverhältnLss der 
Brüche an Metatarsus II und III hat Muskat auch sehr wohl ge¬ 
fühlt und geht daher über die Anschauungen der beiden vorher er¬ 
wähnten Autoren hinaus, indem er wörtlich sagt: „Wenn nur der 
dritte Mittelfussknochen der vordere Stützpunkt des Fusses wäre 
und der zweite, ebenso wie die übrigen, nur seitliche Stützen, wäre 
es undenkbar, dass der zweite in 54,5^/o, der dritte aber nur in 
36,8‘^/o der Fälle brechen sollte. Wäre der zweite nur eine seit¬ 
liche Strebe, wie der vierte, so müsste die Betheiligung beider eine 
annähernd gleiche sein. In Wirklichkeit aber verhalten sich die 
Procentzahlen wie 54,5 : 2,5. Wir müssen also aus diesen Zahlen 
nothgedrungen auch dem zweiten Mittelfussknochen eine Hauptrolle 
als Stützpunkt zuerkennen.“ Die Beweisführung scheint mir nicht 
ganz zutreffend zu sein; denn man darf aus der Häufigkeit der 
Fracturen doch noch nicht den Schluss ziehen, dass die Metatarsi II 
und III nur deswegen brechen, weil sie die Stützpunkte sind. Ich 
erblicke die Ursache hauptsächlich in anderen anatomischen Ver- 


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Die vorderen Stützpunkte des Fusses unter normal, u. pathol. Verhältnissen. 75 

kältnissen. Bekanntlich ist Metatarsus II weitaus der längste aller 
Mittelfussknochen, davon kann man sich durch Messung jederzeit 
überzeugen, darin stimmen auch alle Lehrbücher der Anatomie 
überein^ und zeichnet sich ausserdem noch durch einen gracilen Bau 
aus. Es ist nun von vorneherein klar, dass ein langer und schwacher 
Knochen leichter und häufiger brechen wird als ein kurzer und 
starker; daher ist in der Statistik auch keine einzige Fractur des 
kräftigen Metatarsus I erwähnt. Ausserdem ist die Basis des Meta¬ 
tarsus II zwischen dem Os cuneiforme int. medial und dem Os 
cuneiforme extern, und der Basis des Metatarsus III lateral ziem¬ 
lich fest eingekeilt, so dass es einem von unten erfolgenden starken 
Anprall nur wenig ausznweichen vermag. Ich gebe gerne zu, dass 
ein Einsinken des transversalen Metatarsalgewölbes, wie es sich in 
20^/o der von mir untersuchten Fälle ergab, disponirend zu Frac- 
turen des zweiten Mittelfussknochens wirkt, aber doch nur eine sehr 
untergeordnete Holle spielt. Wichtiger scheint mir dieses Ein¬ 
stürzen des Gewölbes bei den Fracturen des Metatarsus III zu sein, 
der in solchen Fällen thatsächlich am tiefsten zu liegen kommt, 
doch ist natürlich auch hier die relative Schwäche im Vergleich zu 
Metatarsus I die vorzüglichste Ursache; in Betracht kommt ferner 
noch die geringere Beweglichkeit nach oben durch die ziemlich feste 
Verbindung mit dem Os ciineiforme III und den übrigen Bestand- 
theilen des tarsalen longitudinalen Bogens (v. Meyer). Diese feste 
Verbindung des Metatarsus III ist aber keineswegs identisch mit 
dem vorderen Stützpunkte, wie aus den anfänglichen Ausführungen 
hervorgeht. 

Aus der lockeren Anheftung und der grossen Beweglichkeit 
des fünften Mittelfussknochens erklärt sich auch die Thatsache, dass 
derselbe trotz seines leichten Baues, seiner exponirten Stellung und 
seiner relativ starken Belastung als Stützpunkt so sehr selten frac- 
turirt (0,6V)- Aehnlich ist auch das Verhältniss bei Metatarsus IV 
(2,5V)i der bekanntlich mit V fast gleiche Beweglichkeit theilt. 

Auch aus dem relativ seltenen Vorkommen der Brüche von 
Metatarsus II und III zusammen (2,5 V) ^sieht Muskat unrichtige 


*) S. P. Lazarus (Morphologie des Fussskeletes) findet die Längenver* 
hältnisse der Metatarsi folgendermassen: 

I II III IV V 

60 78 70 67 64 mm. 


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76 


Ludwig Seitz. 


Schlüsse. Er sagt wörtlich (S. 1399): „Wenn der zweite und dritte 
als Ganzes betrachtet werden soll, dann müssten die Verhältniss- 
zablen so liegen, dass ein gemeinsamer Broch beider zusammen 
häufiger beobachtet werden müsste, als des einzelnen zweiten und 
einzelnen dritten. Gemeinsam betroffen sind dieselben aber nur in 
2,5^/o, einzeln in 91,3®/o der Fälle. Wir müssen also den zweiten 
und den dritten Mittelfussknochen, jeden als Einheit anerkennen.* 
Ohne die Selbständigkeit oder Einheit des zweiten oder dritten 
Mittelfussknochens bestreiten zu wollen, — ich erkenne sie voll an, 
wenn auch nicht als vordere Stützpunkte — vermag ich nicht ein¬ 
zusehen, warum Muskat zur Begründung dieser Einheit das ge¬ 
ringe Procentverhältniss dieser Brüche heranzieht; denn, den Meta¬ 
tarsus II und III selbst als zusammengehörig angenommen, würde 
sich kaum eine höhere Frequenz der Fracturen ergeben, da, von 
einer aussergewöhnlichen Gewalteinwirkung abgesehen, der Anprall 
sich durch den Bruch des einen Knochens so weit gemildert hat, 
dass der zweite Knochen in der Regel nicht mit abbricht. 

Nach den Ursachen, denen zufolge nach unserem Dafürhalten 
der indirecte Metatarsalbruch erfolgt, lassen sich die Fälle vielleicht 
in folgende Tabelle zusammenstellen: 

II. Metatarsus 54,5® o. III. Metatarsus 36,8®/o. 

Ursachen: 1. Länge | Ursachen: 1. Schwäche, 

2. Schwäche \ des Knochens, 2. Ai-t der Fixation, 

3. Fixation j 3. Einsinken des Ge- 

4. ev. das Einsinken des transvers. Gewölbes. wölbes. 

I. Metatarsus 0® o. V. Metatarsus 0,6®/o. IV. Metatarsus 2,5®/o. 

Ursachen: Kürze, Beweglichkeit. Geringere Beweglichkeit. 

Stärke, 

Beweglichkeit. 

Die zwei der Arbeit von Muskat beigefügten Röntgenphoto¬ 
graphien lassen sehr deutlich den Sitz und die Art der Brüche 
erkennen, beweisen aber für die Stützpunkte nichts, da man von 
dem vorderen transversalen Fussgewölbe nichts zu erkennen ver¬ 
mag. Es durfte nach meiner Meinung überhaupt äusserst schwer 
halten, mittelst Röntgenaufnahmen, wie ich schon im anatomischen 
Theile ausführte, abgesehen von der deutlich erkennbaren Ver¬ 
breiterung, klare Bilder von dem vorderen transversalen Fussgewölbe 
zu erhalten. Mir ist es wenigstens trotz wiederholter Versuche 
nicht gelungen. Betrachtet man das Bild von oben oder unten, so 


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Die vorderen Stützpunkte des Fusses unter normal, u. pathol. Verhältnissen. 77 


erscheinen alle Knochen wie in einer Ebene liegend. Durchleuchtet 
man von vorne, so wird das Bild unklar, auch das Einstellen von 
irgend einer anderen Richtung führt zu gleich ungünstigen Resul¬ 
taten. Ob am bisherigen Fehlschlagen der Versuche nur meine 
geringe Fertigkeit die Schuld trägt oder ob die Erkennung ziem¬ 
lich feiner Niveauunterschiede am Radiogramm überhaupt unmög¬ 
lich ist, kann ich nicht entscheiden. Auf einen Punkt von Muskates 
Arbeit noch einzugehen, möchte ich mir erlauben, auf die Erklä¬ 
rung der Erscheinung, warum fast ausschliesslich bei Militärper¬ 
sonen diese indirecten Mittelfussknochenbrüche Vorkommen. Ich 
stimme Muskat vollkommen bei, wenn er neben der starken Be¬ 
lastung dem „Factor des Schwunges“ beim „Marscliiren im Tact“ 
und beim „Parademarsch“ eine Hauptrolle zutheilt; aber nicht 
richtig beobachtet ist es, wenn Verfasser meint, es werde beim 
Paradeschritt „die Gegend zwischen zweitem und drittem Mittel- 
fussknochen zuerst aufgesetzt, um dann den übrigen Fuss nach¬ 
sinken zu lassen“. Beim Paradeschritt werden die Zehen lierab- 
gedrückt, der Fuss extrem plantarwärts flectirt, um, wie Muskat 
ganz richtig angibt, zuerst mit der Fussspitze, nicht mit der Hacke, 
wie beim gewöhnlichen Gang, aufzutreten. Bei dieser extremen 
Plantarflexion tritt aber stets eine Erhöhung des normal nach oben 
convexen transversalen Metatarsalbogens ein, wie man sich leicht 
am eigenen Fusse überzeugen kann; daher kann nicht die Gegend 
zwischen zweitem und drittem Mittelfussknochen zuerst aufgesetzt 
werden, sondern die normalen Stützpunkte des Fusses, das sind 
Metatarsusköpfchen I und V. 


Literatur. 

I. Für den anatomischen Theil. 

Bardeleben, Lehrbuch der Chirurgie und Operationslehre IV S. 859. Berlin 
1876. 

Beely, Zur Mechanik des Stehens. Archiv für klinische Chirurgie Bd. 27 
S. 457—471. 

Heule, Handbuch der Knochenlehre des Menschen. 3. Aufl. S. 281. Braun¬ 
schweig 1871. 

Hueter, Klinik der Gelenkkrankheiten II. 2. Aufl. Leipzig 1877. 

Hyrtl, Handbuch der topographischen Anatomie II S. G95. Wien 1871. 


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78 


Ludwig Seitz. Die vorderen Stützpunkte des Fasses etc. 


V. Gerlacb, Handbuch der speciellen Anatomie des Menschen in topographi¬ 
scher Behandlung. München und Leipzig 1891. 

Gegenbaur, C., Lehrbuch der Anatomie des Menschen S. 317. Leipzig 1892. 

Landois, Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Wien 1893. 

Lazarus, S. P., Zur Morphologie des Fussskeletes. Morphologisches Jahrbuch 
(Gegenbaur) 1896, Bd. 24 S. 133 und 138. 

V. Meyer, H., Statik und Mechanik der Gelenke. Leipzig 1873. 

Derselbe, Statik und Mechanik des menschlichen Fusses. Jena 1886. 

Starke, Der naturgemässe Stiefel. Berlin 1880. 

Szymanowski, Archiv für klin. Chirurgie 1861, I S. 859. 

II. Für den klinischen Theil. 

Bradford, E. H., Metatarsal Neuralgia or Morton’s Affection of the foot- 
Boston med. and surgical Journal 1891, Vol. XI p. 52. 

Derselbe, Irritationsexostosen des menschlichen Fusses. Philadelphia med. 
Journal 29. Juli 1899. Heferat: Münch, med. Wochenschr. 1899, Nr. 46 
S. 1546. 

Devrient, Ein Beitrag zu Thomas S. K. Morton’s Metatarsalgie. St. Peters¬ 
burger med. Wochenschr. 1894, S. 463. 

Derselbe, St. Petersburger med. Wochenschr. 12. Januar 1895. 

Grün, Edward F., Lancet 6. April 1889, S. 707. 

Guthrie, L. G., On a Form of Painful Toe. Lancct 1892, S. 6*28. 

v. Meyer, H., Statik und Mechanik des menschlichen Fasses. Jena 1886. 

Morton, G. Thomas, A peculiar Affection of the fourth Metatarso-phalnngeal 
Articulation. American Journal of the Medical Sciences, January 1876. 

Morton, Thomas S. K., Metatarsalgia with an account of six cases cured 
by Operation. Annals of Surgery 1893, Vol. XVII. 

Muskat, G., Die Brüche der Mittelfussknochen in ihrer Bedeutung für die 
Lehre von der Statik des Fusses. Sammlung klin. Vorträge (Volkmann) 
Nr. 258, Oct. 1899. 

Lazarus, S. P., Zur Morphologie des Fussskeletes. Morphologisches Jahrbuch 
(Gegenbaur) Bd. 24 S. 133. 

Poullosson, Lancet 1899, March 2. p. 346. 

Tubby, A. H. and Robert Jones, Metatarsalgia or Morton’s Disease. Annals 
of Surgery 1898, p. 297. 


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IV. 


Aus der chirurgischen Klinik des Herrn Hofrathes 
Prof. Dr. C. Nicoladoni in Graz. 


‘Ueber den Pes verus compensatorius bei Genu valgum. 

Von 

Dr. L. Luksch^ 

Assistent der Klinik. 

Mit 4 in den Text gedruckten Abbildungen. 

Ich hatte mein Studium über die Fussdififormitäten bei Genu valgum 
beendet, als in jüngster Zeit die Monographie von Prof. Albert 
über „die seitlichen Kniegelenk Verkrümmungen und die compensa- 
torischen Fussformen“ erschien. Sie hat manches vorweggenommen, 
ln einigen Punkten kam ich jedoch zu einer von Albert abweichen¬ 
den Ansicht, die ich im folgenden darlegen will. 

Was sich über den in Rede stehenden Gegenstand in der 
früheren Literatur findet, ist wenig, und ist es vollkommen aus¬ 
reichend, kurz darauf hinzu weisen. Bereits Schuh*) kannte die 
Diflformitäten des Fusses bei Genu valgum, Pitha^) spricht aus¬ 
führlicher davon und erklärt den Pes varus aus einer Contractur des 
M. tibial. postic. — Mik ulicz^) unterscheidet zwischen dem Pes valgus 
als einer Combination und dem Pes varus als einer compensatorischen 
Stellungsanomalie bei Genu valgum. 

*) Wien, Hölder 1899. 

*) Schuh, Genu valgum. Zeitschr. der K. K. Gesellschaft der Wiener 
Aerzte 1849, S. 604. 

Pitha, Billroth Bd. 4 I. Abth. Heft 2 S. 288. 

Langenbeck’s Archiv XXIII S. 561 und Verhandlungen der Deutschen 
Gesellschaft für Chirurgie 1884, XIII. Congr. 


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80 


L. Lukscb. 


Was seither darüber publicirt wurde, ist wesentlich nur eine 
Wiederholung dieser Angaben. Erwähnenswerth ist noch die Ansicht 
Hoffa's^), dass ein anfänglicher Pes valgus, indem der Kranke die 
möglichst beste Correctur anstrebt, später in einen Pes varus über¬ 
gehen könne. — Hoffa begründet diese Angabe nicht näher, und 
bezeichnet Nasse“) dieselbe wohl mit Recht als gewiss nur aus¬ 
nahmsweise richtig. Die bedeutendste und ausführlichste Arbeit über 
die Fussdifforraitäten bei Genu valgum ist die erwähnte letzte Arbeit 
von Albert. 

Aus ihr hebe ich zunächst hervor, was Albert auf S. 77 
sagt: „Eine kurze Erwähnung, verdient noch das Verhalten des 
Metatarsus, die hochgradige Plantarflexion und Adduction des Vorder- 
fusses.“ Gerade die Adduction des Metatarsus ist aber ein wesent¬ 
liches Charakteristicum der compensatorischen Fussdiflformität bei 
Genu valgum. Das soll in den folgenden Auseinandersetzungen be¬ 
gründet werden. 

Es wäre zunächst die Frage zu beantworten, bei welchen 
Formen und welchen Graden von Genu valgum die von Albert als 
Pes varus compensatorius bezeichnete Fussdiflformität in ausge¬ 
sprochener Weise vorkommt. Diese Frage zu beantworten bin ich 
vorläufig nicht im Stande, da ich nirgend in der Literatur diesbe¬ 
zügliche Angaben fand, ausgenommen in der angeführten Arbeit von 
Mikulicz, und in den mir zur Verfügung stehenden Krankenge¬ 
schichten bisher auf die Fussdiflformität nicht genügend Rücksicht 
genommen wurde. Soviel lässt sich mit Sicherheit sagen, dass beim 
Genu valgum rhachit. der Kinder es wohl meist zur Ausbildung eines 
Plattfusses kommt, der durch den Rhachitismus an und für sich herbei¬ 
geführt, dessen Entstehung noch dazu durch das Genu valgum und 
die dadurch bedingten abnormen Belastungsverhältnisse begünstigt 
wird. Ob ein anfänglicher Plattfuss später in einen Klumpfuss über¬ 
gehen kann, wie dies Hoffa^) ohne nähere Angaben behauptet, ist 
wohl mit Nasse zu bezweifeln. 

Wann und unter welchen Bedingungen bei den übrigen Formen 
des Genu valgum, insbesondere beim Genu valgum adolescent., es zur 
Ausbildung eines Pes varus kommt, zu sagen, dafür fehlt es an 

Hoffa, Lehrbuch der orthopädischen Chirurgie Bd. 98. 

Nasse, Die chirurgischen Erkrankungen der unteren Extremität. 
Deutsche Chirurgie 1897, Lieferung 66 S. 335. 

1. c. 


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lieber den Pes varus compensatorius bei Genu valgum. 81 

statistischem Materiale, nur soviel glaube ich mit Sicherheit sagen 
zu können, dass die in Rede stehende Fussdifformität deutlich aus¬ 
gesprochen erst beobachtet wird, wenn der Aussenwinkel des Genu 
valgum bis auf 160® oder darunter gesunken. Diese Behauptung 
stützt sich auf die Angaben in der citirten Arbeit von Mikulicz und 
auf einige eigene Beobachtungen. Damit soll aber nur gesagt sein, 
dass erst bei einem derartig hochgradigen Genu valgum die Fuss- 
difformitat ausgesprochen ist, sie ist gewiss auch schon bei gering¬ 
gradigem Genu valgum vorhanden, aber nur mehr oder minder an¬ 
gedeutet. 

Um nun die Fussdifformität bei Genu valgum, die Albert als 
Pes varus compensatorius bezeichnet, klar zu stellen, ist es zweck¬ 
mässig, die Componenten des Klumpfusses, die Supination und Ad- 
duction, getrennt zu betrachten, und zuzusehen, in welchem Maasse 
die eine und die andere vorhanden sind, wo Supination und Ad- 
duction stattfinden und ob diese Componenten eine Fussdifformität 
ergeben, die dem Pes varus aus anderen Ursachen entspricht. 

Betrachten wir zunächst als die wichtigste Componente des 
Pes varus die Supination. Bei Genu valgum befindet sich der Fuss 
in Supinationsstellung, wenn man den Kranken so vor sich hinstellt, 
dass das Genu valgum möglichst augenfällig ist, d. h. mit gestrecktem 
Hüft- und Kniegelenk, die Oberschenkel parallel gestellt, die Fuss- 
spitzen nach vorne gerichtet. So steht und geht aber kein Indi¬ 
viduum mit Genu valgum, wenn es sich selbst überlassen wird. In¬ 
dividuen mit Genu valgum nicht gerade der geringsten Grade stehen 
und gehen immer so, dass sie Hüft- und Kniegelenk beugen, im Hüft¬ 
gelenke nach aussen rotiren und ein Knie vor das andere setzen, 
d. h. eine Adduction im Hüftgelenke ausführen. In dieser Haltung 
müssen wir den Patienten ansehen, wollen wir die thatsächlich vor¬ 
handene Fussdifibrraität erkennen, und dürfen nicht durch er¬ 
zwungene Haltung die Stellung des Fusses verändern. 

Betrachtet man den Fuss eines an Genu valgum höheren Grades 
leidenden Kranken unter dieser Voraussetzung, so sieht man (Fig. 1), 
dass derselbe in der Gegend des Tarsus kaum eine Veränderung 
auf weist, der Fuss steht nur in ganz geringer Supination. Beson¬ 
ders deutlich wird dies Verhalten des Fusses im Bereiche des Tar¬ 
sus, wenn man den Vorderfuss bis zum Lisfranc'schen Gelenke be¬ 
deckt. Von rückwärts her betrachtet zeigt der Vorderfuss ebenfalls 
keine Veränderung, die Achillessehne zieht in normaler Weise zum 

Zoitechrlft für orthopädische Chirurgie. VIII. Band. ß 


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82 


L. Luktcb. 


Fersenböcker, sie weicht nicht wie bei einem Pes varus nach innen 
ab* In dem Sectionsbefunde eines Genu valgum erwähnt Albert 
(S. 89), dass die Achillessehne sogar nach aussen abgewichen ge¬ 
funden wurde* Am Fusse fällt noch auf, dass die Sehne des M. tibial. 
antic. stark vorspringt. 

Eine ausgesprochene Difformität des Fusses sieht man erst im 
Bereiche des Metatarsus. Der innere Fussrand erscheint in der 


Fig. 1. 



Gegend des Gelenkes zwischen 1. Keilbein und 1. Metatarsus nach 
innen abgeknickt. Der Metatarsus ist gegenüber dem Tarsus plantar- 
flectirt, das Fussgewölbe dadurch auffallend hoch, die einzelnen Meta¬ 
tarsalknochen stehen nicht parallel, sondern fächerförmig von ein¬ 
ander ab, wodurch der Fuss in der Gegend der Köpfchen der 
Metatarsalknochen auffällig breit erscheint. Diese Veränderung des 
Fusses hat bereits Eulenburgbeschrieben, es scheint aber diese 

0 Berliner klin. Wochenschr. 1865, Nr. 15. 


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Ueber den Pes varus compensatorius bei Genu valgum. 


83 


Thatsache seither ganz in Vergessenheit gerathen zu sein. Daraus 
ergibt sich nun, dass die Supination des Fusses bei Genu yal- 
gum nur eine ganz geringgradige ist, dass dagegen eine 
auffallende Adduction des M etatarsus yorhanden ist 
(jMetatarsus yarus“). 

Um diese Adduction des Fusses in den Tarsometatarsalgelenken 
nachzuweisen, habe ich folgende Messungen vorgenommen. Zeichnet 
man sich die Unterschenkelachse von der Spina tibiae zur Mitte der 
Malleolengabel und verlängert dieselbe bis zu den Zehen, ferner die 
Verbindungslinie zwischen den Endpunkten der Lisfranc'schen 6e- 
lenklinie und endlich die Achse des Metatarsus primus, so erhält man 
eine Reihe von Winkel- und Längenraaassen, durch welche die be¬ 
sprochenen Verhältnisse deutlich werden. 

Für einen normalen Fuss (Fig. 2) ergaben sich mir aus einer 
Reihe von Messungen folgende Mittelwerthe: Die verlängerte Achse 
des Unterschenkels theilt die Verbindungslinie der Endpunkte der Lis- 
franc’schen Linie fast in zwei gleiche Theile (63 aussen zu 60 innen) 
und bildet mit dieser Linie einen nach vorne aussen offenen Winkel 
von 98 — Die Achse des Metatarsus primus bildet mit der Lis- 

franc’schen Linie einen nach innen vorne offenen Winkel von 81 
— Für die Darstellung dieser Verhältnisse am Fusse bei Genu 
valgum wähle ich einen Fall aus, bei welchem dieselben sehr 
deutlich ausgesprochen waren. Der betreffende Kranke ist 46 Jahre 
alt und hat sein Genu valgum (rhachitic.) in früher Jugend erworben, 
80 dass die Fussdifformität deutlich ausgesprochen und fixirt war. 
Der Grad der Valgität ist durch folgende Maasse gegeben: rechts 
Aussenwinkel 153 Kniebasisfeniurwinkel 87 Kniebasistibiawinkel 
66^; links betrug der Aussenwinkel 147® (Kniebasiswinkel wegen 
Subluxation der Patella nach aussen und Einschränkung der Beugung 
im Kniegelenke durch chronische Arthritis nicht messbar). 

Bei der Messung nach dem angeführten Schema ergaben sich 
folgende Resultate (Fig. 3): Die verlängerte Achse des Unterschenkels 
trifft beiderseits die 4. Zehe, sie theilt rechts die Lisfranc’sche Linie 
in Abschnitte von 7 cm innen, 6 cm aussen, links in Abschnitte von 
7,5 und 5,5 cm. Die Winkel, welche diese Linien nach aussen 
vorne einschliessen, betragen rechts 75 ®, links 81 ®. Die Winkel 
zwischen der Achse des Metatarsus primus und der Lisfranc’schen 
Linie betragen innen vorne rechts 55 ®, links 58 ®. 

Vergleicht man diese Maasse mit den bei normalen Füssen ge- 


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84 


L. Luksch. 


wonnenen, so ergibt sich, dass der Fuss bei Genu valgum im Be¬ 
reiche des Tarsus eine geringe Adduction und Supination ausge¬ 
führt hat, was sich dadurch in den Zahlen ausdrückt, dass die 
Lisfranc'sche Linie in einen kleineren äusseren und grösseren inneren 


Fig. 2. 



Abschnitt getheilt wird, während am normalen Fusse diese Linie 
fast halbirt wird. Der ausgesprochenste Unterschied zwischen einem 
normalen Fusse und dem bei Genu valgum ergibt sich in dem Winkel 
zwischen der Achse des Metatarsus primus und der Lisfranc'schen 
Linie. Dieser beträgt beim normalen Fusse im Mittel 81®, bei der 
in Rede stehenden Fussdiflformität in dem angeführten Beispiele 55 ® 
resp. 58®. Dieser grosse Unterschied zeigt mit Deutlichkeit, dass 
bei Genu valgum der Metatarsus selbst stark adducirt ist. 

Aus diesen Maassen ergibt sich auch der beträchtliche Unter¬ 
schied des Pes varus compensatorius von einem Pes varus aus anderer 



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lieber den Pes varus compensatorius bei Genu valgum. 


85 


Ursache. Bei letzterem finden die wesentlichsten Veränderungen 
im Bereiche des Tarsus statt, während beim Pes varus infolge von 
Genu valgum die charakteristischen Veränderungen die Stellung 
des Metatarsus zum Tarsus betreffen. Diese durch Betrachtung und 

Fig. 4. 


iA 



Messung des Fusses bei Genu valgum gewonnene Erkenntniss wird durch 
Röntgenphotogramme bestätigt. Das Aktinogramm (Fig. 4) des rechten 
Fusses eines 15jährigen Patienten mit Genu valgum, dessen Aussen- 
winkel 157® betrug, zeigt die Veränderungen der Stellung des Meta¬ 
tarsus, wenn auch nicht in hochgradiger, so doch in ganz deutlicher 
Weise. Der Unterschied von einem normalen Fusse ist an ihm 
leicht zu erkennen. 

Es ist nun die Frage zu erörtern, ob dieser Fussdifformität 
Knochenveränderungen zu Grunde liegen und welcher Art dieselben 
sind. Wenn Nasse^) sagt, dass der Varusstellung des Fusses bei 

') Nasse, Chirurgische Erkrankungen der unteren Extremitäten. Deutsche 
Chirurgie Lieferung 66. 


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86 


L. Lnktch. 


Genu valgum keine Enochenyeränderungen zu Grunde liegen, die¬ 
selbe nur eine habituelle Stellungsanomalie sei, welche sich gewöhn¬ 
lich leicht durch Händekraft reduciren lässt, so gilt dies nur für 
Aea Pes yarus compensatorius beim Beginne, in der Entwickelung 
desselben, bei jugendlichen Indiyiduen. Hat das Genu yalgum lange 
bestanden, so lässt sich die Difformität des Fusses auch in Narkose 
nicht durch Händekraft ausgleichen. Albert^) sagt darüber fol¬ 
gendes: „Der Pes yarus compensatorius bietet zwar abnorme Stellungs- 
yerhältnisse der Knochen, also yor allem Gelenkbeziehungen, aber 
keine abnormen Enochenformen. — Er ist sozusagen ein über die 
Grenzen der physiologischen Yarität hinausgehender Fuss, ein yarus 
seiner abnorm grossen Supination wegen/ Auf der folgenden Seite 
dagegen beschreibt er am Talus deutliche Formyeränderungen, darin 
bestehend, dass der Talus medial niedriger, lateral höher entwickelt 
ist und dass seine Eopffläche yerstellt erscheint, die längere Achse 
querer gerichtet, also mit ihrem oberen lateralen Theile niedriger er¬ 
scheint. Diese einem Pes yarus entsprechenden Enochenyerände¬ 
rungen sind nicht hochgradig. Von Veränderungen der Keilbeine, 
des Guboid und der Metatarsen spricht Albert nicht. Ich hatte 
Gelegenheit, an einem Skelete zu sehen, dass den Ergebnissen der 
Betrachtung und Messungen des Pes yarus compensatorius, sowie 
den Röntgenbildem entsprechende Enochenyeränderungen in den 
Keilbeinen, dem Würfelbeine und den Mittelfussknochen bei Pes 
yarus compensatorius yorhanden sind, wenn derselbe lange bestanden 
hat, also bei älteren Indiyiduen. Leider ist es mir nicht gestattet, 
diese Veränderungen zu beschreiben, oder eine Abbildung zu bringen. 
Gewiss finden sich auch in anderen Museen derartige Skelete, und 
hoffentlich werden, nachdem die Aufmerksamkeit darauf hingelenkt 
ist, yon anderer Seite diese Veränderungen der Knochen beschrieben 
werden. — 

In den folgenden Zeilen will ich klarzustellen yersuchen, wie 
die eigenthümliche Fussdifformität bei Genu yalgum entsteht, und 
auch dadurch zeigen, dass die Supination gegenüber der Adduction 
in den Hintergrund tritt. 

Steht ein Kranker mit Genu yalgum mit parallelen Ober¬ 
schenkeln, gestreckten Hüft- und Kniegelenken, die Fussspitzen 
nach vorne gerichtet, dann müsste die Fusssohle, bei Mittelstellung 


') 1. c. p. 78. 


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lieber den Pet vante compeneatorine bei Geno valgum. 


87 


des Fttsiei zwischen Pro« nnd Supination, mit dem Boden einen 
nach aussen offenen Winkel einschliessen, der gleich ist dem Sup« 
plementwinkel des Anssenwinkels des Oeno valgum. Die Planta 
pedis kann den Boden berühren, bei einer diesem Winkel ent¬ 
sprechenden Supination. Diese Stellung ist aber eine erzwungene, 
sich selbst überlassen nehmen mit Oenu valgum behaftete Individuen 
niemals diese Stellung ein. Die Planta pedis kann ohne Supination 
des Fusses mit dem Boden in volle Berührung gebracht werden 
dadurch, dass im Hüftgelenke eine Adduction ausgefflhrt wird, deren 
Winkdmaass gleich ist dem Supplementwinkel des Anssenwinkels des 
Geno valgum. In zu grossem Umfange kann die Adduction nicht aus- 
geführt werden, weil dadurch eine starke Ueberkreuzung der Ober- 
sdioikel entstände, ln geringem Maasse adduciren Leute mit Oenu 
valgum, indem sie ein Knie vor das andere bringen, sowohl beim 
Stehen wie auch beim Gehen. 

Es gibt noch eine zweite Mö^chkeit, die Planta pedis in volle 
Berührung mit dem Boden zu bringen, ohne dass der Fuss supinirt 
wird. Wird die untere Extremität im Hüftgelenke soweit nach aussen 
rotirt, dass die Fussacbsen frontal verlaufen, so ist der wiederholt 
erwähnte FHkhenwinhel zwischen Planta pedis und Boden nach rück¬ 
wärts offen. Er kann jetzt durch eine entsprechende Beugung im 
Hüftgelenke aufgehoben werden. Die Beugung im Hüftgelenke ist 
nothwendg mit der Aussenrotation verbunden, weil ohne Beugung die 
Schwerlinie des Körpers hinter die UnterstQtzungsfläche fallen würde. 
Individuen mit Genu valgum stehen und geben tbati^hlich mit ge¬ 
beugtem Hüftgelenke und stark nach auswärts rotirten Beinen. Die 
Aussenrotation ist nach Albert^) auch im Aufbau des Femur und 
der Tibia ausgesprochen. 

Weder die oben erwähnte Adduction noch die Auswärtsrotation 
im Hüftgelenke werden in dem Maasse ausgeführt, dass durch eine 
dar Bewegungen allein die Planta pedis in voHe Berührung mit dem 
Boden gebracht werden könnte, aber bei der Combination beider Be¬ 
wegungen, wie dieselbe wirklich ausgeführt wird, kommt der Fuss 
in volle Berührung mit dem Boden, ohne dass eine nennenswerthe 
Supination desselben nothwendig ist. Es ist bei der gedachten 
combinirten Haltung der Beine die Supination sogar gehemmt, weil 
wegen gleichzeitig nothwendiger Beugung im Kniegelenke der Fuss 


*) 1. c. p. 34 ff. 


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88 L. Luksch. üeber den Pes varus compensatorius bei Genu valgum. 


in geringe Dorsalfiexion kommt. Die Beugung im Kniegelenke wird 
bei der Aussenrotation nothwendig, damit die Schwerlinie in die 
ünterstützungsfläche falle. Würde die Aussenrotation soweit aus¬ 
geführt, dass die Fussachsen frontal stünden, genügte eine ent¬ 
sprechende Beugung im Hüftgelenke, um das Stehen möglich zu 
machen. Soweit geht aber die Aussenrotation thatsächlich nicht, 
und es muss der Kranke, um das Stehen zu ermöglichen, die Knie¬ 
gelenke beugen. 

Für die Entwickelung der in Rede stehenden Fussdifformität 
ist eine Gomponente der Haltungsanomalie der ganzen unteren Ex¬ 
tremität von besonderer Wichtigkeit: die Auswärtsrotation derselben. 
Durch diese wird die Unterstützungsfläche kleiner, die Gleichgewichts¬ 
lage des Körpers eine labilere. Dem arbeitet der Kranke entgegen, 
und das gelingt ihm durch starke Adduction des Vorderfusses. Der 
Kranke »greift sich auf der Unterlage fest“. Ausgeführt wird diese 
Adduction mit Hilfe des M. tibial. anticus und posticus. Der wich¬ 
tigere von beiden ist vermöge seiner Insertion und seiner Wirkung 
nach Bögle^) der M. tibial. anticus, und wir sehen denselben auch 
bei Genu valgum höheren Grades und ausgebildetem Pes varus com¬ 
pensatorius kräftig entwickelt, seine Sehne am Fussrücken mächtig 
vorspringend. 

Ich hoffe durch diese Auseinandersetzungen dargethan zu haben, 
dass beim Pes varus compensatorius die beiden wichtigsten Compo- 
nenten des Pes varus, die Supination und Adduction, in einem anderen 
Grade vorhanden sind, als bei einem Pes varus aus anderer Ursache. 
Es überwiegt beim Pes varus compensatorius die Ad¬ 
duction des Metatarsus in der Verbindung zwischen 
Tarsus und Metatarsus. Durch sie gewinnt der Pes va¬ 
rus compensatorius seine charakteristische Form. 

') Die Entstehuog und Verbreitung der FusBabnormitäten. München 1893. 


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V. 


Aus der orthopädischen Heilanstalt des 
Dr. med. A. Schanz in Dresden. 


Beitrag zur Casuistik der Spondylitis typhosa. 

Von 

Dr. Max Herz, 

Assistenzarzt der Anstalt. 

Die Veröffentlichung nachstehender Krankengeschichte dürfte 
einiges Interesse erwecken wegen der Seltenheit des betreffenden 
Falles, der sich den von Quincke (Mitteilungen aus den Grenzgebieten 
der Medicin und Chirurgie Bd. 4 Heft 2) und Könitzer (Münch, 
med. Wochenschrift 1899, Nr. 35) bekannt gegebenen als vierter 
anschliesst. 

Frau Dr. W., 36 Jahre alt, wurde am 22. August 1899 in die 
Klinik aufgenommen, nachdem bereits draussen von meinem Chef, 
Herrn Dr. A. Schanz, die Diagnose „Spondylitis“ gestellt war. 

Aus der Anamnese ergibt sich hauptsächlich, dass Patientin 
soeben einen schweren Typhus in der Leipziger Universitätsklinik 
überstanden hat; in früheren Jahren — als Kind — machte sie 
Masern, Scharlach, im Anschluss daran Erkrankung des rechten 
Mittelohres durch. Sie stammt aus kerngesunder Familie, üeber 
den voraufgegangenen Typhus entnehme ich aus der uns gütigst zur 
Verfügung gestellten Krankengeschichte der Leipziger med. Klinik fol¬ 
gende Angaben. Dort ward Patientin am 14. April 1899 mit 
Klagen über Kopfschmerzen, Mattigkeit, Rücken- und Kreuzschmerzen, 
Hitzegefühl, mangelnden Appetit, bei einer Temperatur von 40,2® 
aufgenommen; schon 14 Tage lang fühlte Patientin sich hinfällig 


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90 


Max Herz. 


und matt, seit 8 Tagen hatte sich Fieber eingestellt. Es besteht 
rechtsseitiger eitriger Mittelohrkatarrh mit Perforation des Trommel¬ 
fells. Am Abdomen finden sich massiger Meteorismus, Ileocöcal- 
gurren, wenige blasse Roseolen; am Kreuzbein oberfiächlicher Decu¬ 
bitus. Die Milz ist vergrössert, überragt um knapp 1 Querfinger 
den Rippenbogen. Im Urin keinAlbumen; Diazoreaction ist positiv, 
desgleichen findet sich Indican. Stuhl angehalten. Unter dem 18. April 
findet sich notirt: starke, schmerzhafte Schwellung der Lider des 
rechten Auges: ziemlich erhebliche Protrusio bulbi in der Mittel¬ 
linie, CoTMa ^fltt, gftazend, spiegehid, Iris nicht verfärbt, reagirt; 
Eitersecretion des rechten Ohres hält an. Am 19. April stellt sich 
Schüttelfrost ein, im Anschluss daran Durchfälle. Lidödem und 
Protrusio bulbi gleich; Cornea matt, getrübt, ebenso das Kammer¬ 
wasser, IrkacfvekBuiig verwasehen. Glaskörper staubförmig getrübt, 
Linse klar. Am 25. April besteht subjective Besserung: Oedem 
und Protrusio zurückgegangen. Cornea trüb; Glaskörper wolkig, 
Pupille gibt einen grau-grümUehen Reflex. " Agglutination 1:30 po¬ 
sitiv nach 12 Minuten; 1:60 wenige Häufchen nach 20 Minuten. 
Am 1. Mai wölbt sich die Conjunctiva bulbi dicht hinter dem Limbus 
an ihrer temporalen Seite vor; auf der Höhe schimmert sie gelblich 
md am nächsten Tage kommt der Eiter (etwa ^ji Theelöffel roll) 
ima Aosbruch. Am 3. Mai stellt sich eine geringe Blutung in die 
vordiere Kammer ein; die atrophische Iris scAIiesst die rechte Angen- 
kammer völlig nach hinten ab. Starke Erweiterung der Conjuncti- 
valgefässe. Die Blutung hat sich am 18. Mai resorbirt; Patientin 
ist fieberfrei und entwickelt eine lebhafte Esslust. Die Eitersecretion 
des Auges ist versiecht. Am 26. Mai ist Patientin stundenweise 
ausser Bett, Gehversuche ermüden sehr; sie klagt über leichte 
Schmerzen in den BSeinen und stellt sich mitunter recht ungeschickt 
an. Am 1. Juni verlässt sie die Leipziger Klinik, sie vermag die 
Stufen zur Baracke ohne wesentliche Hilfe zu steigen. Noch ab 
und zu treten geringe Schmerzen in den Beinen auf. 

Unsere Anamnese ist nun in der Lage, obiges Bild in einigen 
flfec uns wichtigen Zügen zu erj^zen. Darnach traten bereits in 
der 3. Woche ihres Erankenhausaufenthaltes reissende, blitzartig 
durchschiessende (lancinirende) Schmerzen im rechten Bmn auf; zu 
Reicher Zeit war der rechte Arm in seinen Functionen geschwächt, 
paretisch; dWzu kamen noch Störungen motorischer Art wie Zucken 
im Beine. Die Fiebereurve ze^ um diese Zeit, d. h. um An&ng 


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Beitrag zur Casuistik der Spondylitis typbosa. 


91 


)(ai keine abnormen Figuren. Die Temperatur bewegt sich um 37^; 
der teilte Anstieg war am 23. Aprü auf 39^^ erfolgt^ bei Heroin- 
dsnrmdiuz^ kam ein Abfall auf 36,8 ^ am 25. AprQ erhob sieb die 
Cmre zum letzten Male auf 38,0% um dann stets normal zu bleiben. 
£kwa in der 5. Woche — das wäre etwas nach Mitte Mai — Tcrspürte 
Patimitin spannende SchmerzeiL in der KrmizbeiiigegeBd; hier will 
Psbeutni auch eine Anackwellung mit der Hand gefühlt haben. Liegen 
konnte Patkotin nur auf dem Rücken; auf die Seite sich zn legen, war 
ihr der intensive Schmerzen wegen unmöglich; nur wenn sie die Arme 
aofstützte, gdang ihr es, sich auf den Bettrand (arit herabhängenden 
Beinen) zu setzen. Bei OehYersuchen, die oben unter dem 26. Mai 
bemerkt sind, hatte PaÜentin unter faeft^en Schmerzen im Kreuze 
zu leidas, die sie jedoch nkderzukämpfaai suchte. 

Nach ihrer Entlassung aus Leipzig hielt Patientin sieh etwa 
4 Wochen zu Hause auf, meist liegend oder sitzend. Indess nahmen 
<he Schmerzaa an Intensität äusserst zu, Schmerzen, die nach dem 
Leihe und beiden Beinmi zu ausstrahlten und grosse Pein remr- 
sachten; auch MuskdUnämpfe in den Beinen stellten sich ein; der 
Appetit, der anfai^ gut war, liess wieder nach, und das Allgemein¬ 
befinden lag schwer darnieder. Die Schmerze« liessan sich zwar 
liq^end beeser ertragen, doch versehwanden sie nie; die Nächte meist 
schlaflos, dazu fortwährend ron furehtbaraa Schmerzen gequält, kam 
Patieotin äusserst herunter. 

Aus der oben erwähnten Chorioiditis suppuratiTa hatte sidi 
eine Phthise des Bulbus entwickelt, der die Enuekation folgte. 
Aus der charakteristischen Haltung der Patimttm stdhe mein Chef, 
dar Patientin bei dieser Operation zuerst sah, die Diagnose: Spon- 
djhtk, dk bk dahin nidat gestellt worden war. Aeussore Vorhält- 
aisse verzögerten dk Aufnahme in dk Klinik, dk dann am 22. Au¬ 
gust 1899 erfolgte. 

Status: Patientin kt klein, schwächlich gebaut, stark abge- 
saagert, äusserst ekmd. Das rechte Auge kt enuelmri Die tiber- 
grosse Empfindlkhkeit und Furcht yar B^ührung, der stark leidende 
Zog in ihrem Gesichte, das matt und eingefallen kt, lässt dk 
Schwere ihrer Schmerzen erratben. Jede Bewegu^ und Ersehütte- 
mng lässt Patientin laut aufst^men. Den Sitz der Schmerzen ver- 
kgt sk m dk Ti^e des Beckens; diese sind neben der Unfähigkeit, 
Bewegungen mit der Wiibekäule und den Beinen auszufahren, ihre 
Hauptklagen. Es bestdit kein Fkber. Dk Wirbelsäule wird toU- 


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92 


Max Herz. 


kommen steif gehalten, die Rückenmuskeln sind strafif contrahirt, 
eine abnorme Vorwölbung oder Schwellung ist nirgends zu ent¬ 
decken; Beklopfen der letzten Lendenwirbeldomfortsätze ist schmerz¬ 
haft. Bei allen Bewegungen, wie auch beim Sitzen, werden die 
Arme benutzt — der rechte wird etwas geschont — die Wirbelsäule 
wird möglichst zu entlasten gesucht. Ursache der Schonung des rechten 
Armes ist eine beträchtliche Contractur der Schulter. An den un¬ 
teren Extremitäten finden sich leichte Spasmen der Adductoren. Die 
Patellarreflexe sind gesteigert. Andere Störungen im Nervensystem 
bestehen nicht — weder An- noch Parästhesien. Die Harnentleerung 
ist normal, der Stuhl ist angehalten, wird auf Klysmen ohne Schwierig¬ 
keiten entleert. Circulations- und Respirationssystem bietet zu be¬ 
sonderen Bemerkungen keinen Anlass; überhaupt sind pathologische 
Erscheinungen an anderen Organen nicht nachzuweisen. 

Am Tage nach der Aufnahme wird auf dem Ne beTschen Schräg¬ 
lagerungsapparat zur Anlegung eines Gipsbettes geschritten, wobei durch 
Erheben der Beine durch einen untergeschobenen kleinen Polsterkeil 
die Lordose der Lendenwirbelsäule zu vermehren erzielt wird. Nach 
Fertigstellung dieses Bettes wird Patientin hineingelagert. — Wie 
mit einem Schlage waren die Schmerzen beseitigt; die feste Unter¬ 
lage, die Lordose, die die erkrankten Wirbelkörper auseinanderdrängt, 
die Unmöglichkeit der Verschiebung hatte Ausserordentliches gewirkt. 
Von diesem Tage ab, dem 4. nach der Aufnahme in die Klinik, 
gestaltete sich der Verlauf der Krankengeschichte äusserst einfach. 
Das Allgemeinbefinden bewegt sich durchaus in aufsteigender Linie; 
die Esslust kehrt zurück, Schlaf stellt sich ein, die Lebenslust er¬ 
wacht wieder, der Humor bricht durch, kurz Patientin fühlt sich 
wie dem Leben neu geschenkt. Die Patellarreflexe werden wieder 
normal, die Spasmen schwinden. Nach 4 Wochen ruhiger Lage 
erfolgt im Beely'schen Stehrahmen die Abnahme eines Corset-Gips- 
modells; nach Ablauf weiterer 3 Wochen bei ruhiger Lage im 
Gipsbett bringt Patientin einige Zeit — allmählich steigend bis zu 
mehreren Stunden — in ihrem darnach angefertigten Leder-Drell- 
corset im Lehnstuhl sitzend zu. 

Bei den grossen Diensten, die uns fortgesetzt das Leder-Drell- 
corset leistet, mögen einige Bemerkungen über die Anfertigung 
erlaubt sein. Ueber dem in üblicher Weise hergestellten Gipsmodell 
wird das Leder gewalkt und zwar werden Rücken und Seiten aua 
einem Stück gearbeitet, so dass ein Stück Leder etwa von der rechten 


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Beitrag zur Casuistik der Spondylitis typhosa. 


93 


Mamillarlinie bis zur linken läuft; durch Stahlstangen in allen wich¬ 
tigen Linien gestützt, findet es nach vorn seinen Abschluss in Drell- 
streifen, die mit SchnUrvorrichtung versehen sind; Armstützen, 
Beckenschluss und Schulterbänder vervollständigen dasselbe; wo es 
indicirt erscheint, wird mit dem Corset natürlich ein Kopfhalter 
ferbunden. 

Nach Vergehen weiterer 14 Tage beginnt Patientin ihre ersten 
Oebversuche, die langsam und bedächtig, aber schmerzfrei vorge- 
nommen werden, anfangs natürlich leicht ermüden; doch kehren 
zusehends Ausdauer und Sicherheit des Ganges zurück. Am 13. No¬ 
vember 1899 verlässt Patientin die Anstalt. Sie ist völlig frei von 
Schmerzen; immer noch leicht ermüdend geht sie sicher im Zimmer 
umher, ohne lästige Empfindungen zu haben. 

Auf Aurathen schont sich Patientin auch heute noch; sie schläft im 
Gipsbett, trägt tagsüber ihr Corset. Auch ausserhalb der Anstalt hält 
und bessert sich das Befinden der Patientin. Seit Weihnachten 
steigt Patientin wieder Treppen und macht kleine Spaziergänge. 
Ein pathologischer Befund ist zur Zeit (Mitte Januar 1900) nicht 
mehr zu erheben, auch die Patellarrefiexe sind normal. 

Es ist ja nun klar, mit apodictischer Bestimmtheit kann aus 
dieser Krankengeschichte der Schluss, diese Spondylitis ist eine 
typhöse, nicht abstrahirt werden; diese Gewissheit würde uns nur 
die pathologisch-anatomische und bacteriologische Untersuchung geben. 
Differentialdiagnostisch Hesse sich einmal der ganze Process als eine 
Pyämie mit Metastasen in die rechte Schulter, Wirbelsäule, in das 
rechte Ohr und rechte Auge auffassen — jedoch ist der Typhus zu 
sicher (Roseolen, positiver Ausfall der Agglutinationsprobe) consta- 
tiert, als dass man an dieser Diagnose zweifeln könnte, zudem fehlen 
uns die charakteristischen, häufigen Schüttelfröste; ein einziger findet 
sich unterm 19. April notirt. Vielleicht hängt mit ihm die Meta¬ 
stase in die Wirbelsäule zusammen. Eine Mischinfection — Typhus 
und Strepto-, Staphylokokken — braucht man auch nicht zur Er¬ 
klärung heranzuziehen, werden doch typhöse Knochenerkrankungen 
oft genug sicher mit Nachweis von Typhusbacillen beobachtet — 
warum soll da die Wirbelsäule immun sein? Endlich käme noch 
Tuberculose in Betracht; nun haben wir auf der einen Seite: vorher, 
d. h. vor dem Typhus — niemals Beschwerden, die die Gegenwart 
einer Spondylitis auch nur ahnen Hessen; weder ist Tuberculose in 
irgend einem Organe nachzuweisen, noch besteht hereditäre Be- 


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Max Herz. Beitrag zur Caaaistik der Spondylitis typhosa- 


lastung — auf der anderen Seite noch während des Typhus entstehen 
die Symptome einer Wirbelkörperaffection; daneben bestehen ander¬ 
weitige Eiterheerde, namentlich im rechten Auge (die Ohrerkrankung 
will ich nicht in Betracht ziehen, weil es ein Aufflackem des nach 
dem Scharlach aufgetretenen Processes sein könnte); wiewohl nnn 
auch bei diesen Heerden ein bacteriologischer Nachweis nichtgeführt 
ist (die Untersuchung des Augeneiters wurde in Leipzig leider nicht 
ausgefüfart, die Prüfung des enucleirten Bulbus blieb ohne bacterio- 
logisches Resultat), so kann man doch kaum umhin, diese Heerde 
nicht als typhöse Metastasen anzusprechen. Ebenso dürfte es hart 
ankommen, den causalen Zusammenhang zwischen dem Typhus und 
dieser Spondylitis zu bestreiten. Darum halte ich den Beweis für 
die Diagnose „typhöse Spondylitis** für erbracht, soweit uns eben 
die klinische Beobachtung ihn zu führen gestattet. 


Nachtrag bei der Correctur am 14. Juni 1900. 

Die Patientin fühlt sich andauernd wohl; sie ist frei von 
Schmerzen und CJnzuträglichkeiten — nur bei starkem Husten oder 
Niesen „spürt“ sie den Ort ihrer früheren Krankheit; das ist die 
einzige Beschwerde und das Letzte, das Patientin an die überstandene 
Erkrankung erinnert. Das Gipsbett hat sie abgelegt, ihr Corset 
trägt sie noch weiter. 


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VI. 

Ein Beitrag zur Lehre der Contractnren und 
Ankylosen im Kniegelenk und deren Behandlung. 

Von 

Dr. Ansnst Blencke, 

Special arzt für Orthopädie in Magdeburg. 

Für die Entstehung der Gontracturen und Ankylosen im Knie¬ 
gelenk haben wir eine ganze Reihe ätiologischer Momente. Wenn 
wir hier von den Fällen angeborener Gontracturen, wie sie Nissen 
aus der Klinik Heineckes, B. Schmidt, Nicoladoni, Wolff, 
Schanz aus der Hoffa'schen, Spitzy aus der Grazer Klinik u. a. 
beschrieben haben, und die vorzugsweise bei Kindern Vorkommen, 
bei denen auch noch sonstige Missbildungen zu finden ^d, ganz 
absehen, da sie ja so selten sind, dass sie, wie König sagt, mehr 
das Interesse einer Guriosität besib.en, so handelt es sich bei den 
erworbenen weitaus in der Mehrzahl der Fälle um Verkrümmungen 
arthrogener Natur, d. h. also um solche, die infolge von Ghelenkent- 
zündungen entstanden sind. Rheumatische, eitrige, osteomyelitische, 
gonorrhoische Entzündungen sind hier zu nennen, vor allem aber 
die Tuberculose. Von 158 Fällen von Deformitätsstellungen im 
Kniegelenk, Uber die ich genauere Angaben in der mir zugänglichen 
Literatur finden konnte, war bei 80 Fällen als Ursache der De¬ 
formität eine vorausgegangene Tuberculose angegeben. Bei 36 Fällen 
fehlte eine exacte Diagnose der vorangegangenen Erkrankung, jedoch 
konnte man aus den näheren Angaben über die Dauer, die Art der 
Erkrankung und aus anderem mehr bei 21 Fällen sicher auf Tu¬ 
berculose schliessen, so dass wir also getrost, wenn wir von den 
Fällen, bei denen sich infolge von Stoss oder Fall eine eitrige Ge¬ 
lenkentzündung eingestellt hatte und die unter der Rubrik „Trauma 


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96 


August Blencke. 


als Ursache“ zu finden sind, absehen, bei 101 Fällen von 158 die 
Tuberculose als Veranlassung der bestehenden Deformität bezeichnen 
können. Ferner waren als Ursache angegeben Imal Narben, 
14mal ein Trauma, 9mal Rheumatismus, 4mal Nervenerkrankungen, 
3mal eitrige Gelenkentzündungen, 3mal andere Infectionskrankheiten 
und 2raal Osteomyelitis. 

Für gewisse derartige Erkrankungen ist das Kniegelenk ge¬ 
radezu prädisponirt; so konnte Bennecke von 56 gonorrhoischen 
Gelenkerkrankungen der chirurgischen Universitätsklinik in der königl. 
Charitö feststellen, dass 31 mal, also weitaus in der Mehrzahl der 
Fälle, das Kniegelenk befallen war. Auch für die sogenannten 
Blutergelenke, die nach Gocht zu den häufigsten Symptomen der 
Hämophilie gehören und die schon meist früh, in der Zeit des 
Gehenlernens auftreten, sind die Kniegelenke ganz besonders beanlagt. 
Fast, ausnahmslos geben Traumen grösserer oder geringerer Art den 
Anlass zu derartigen Gelenkergüssen, die sich dann des öfteren 
wiederholen, nur langsam resorbirt werden und so zu Contractur- 
stellungen Veranlassung geben, aus denen sich dann auch bleibende 
Deformitäten entwickeln können. 

In anderen Fällen ist die Ursache der Kniecontracturen in 
pathologischen Veränderungen nicht im Gelenk selbst, sondern in 
der Umgebung desselben, in den benachbarten Weichtheilen zu suchen. 
Vor allem sind hier zu erwähnen alle die Contracturen, die sich 
infolge von narbigen Verkürzungen der Haut und der periarticulären 
Weichtheile, z. B. nach Verbrennungen, nach anderen grösseren Haut- 
defecten in der Kniekehle, nach ulcerativen Processen u. dergl. m. 
entwickeln. Die Beweglichkeitsbeschränkung durch solches Narben¬ 
gewebe kann nun eine sehr verschiedene sein je nach der Grösse 
der Narbe und vor allen Dingen je nach der Tiefe des ursprüng¬ 
lichen Defectes, da es ja von derselben abhängt, inwieweit die 
Narbe mit unterliegenden Theilen verwachsen oder inwieweit sie gegen 
dieselben verschieblich ist. 

Infolge von Muskelerkrankungen entstehen dann weiter die 
sogenannten myopathischen Contracturen des Kniegelenks. Jene 
können nun primärer und auch secundärer Natur sein; im letzteren 
Falle greifen entzündliche Processe der Nachbarschaft auf dieselben 
über. Es kann auch ein Zerfall der Muskelsubstanz eintreten infolge 
von Circulationsstörungen, nach zu festen Verbänden, nach Unter¬ 
bindung oder Verstopfung der zuführenden Arterie, nach zu lange 


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Ein Beitrag zur Lehre der Gontracturen und Ankylosen im Kniegelenk etc. 97 


angewandter Esmarch’scher Blutleere und es können auf diese 
Weise die sogenannten ischämischen Gontracturen auftreten, bei 
denen es, wie gesagt, zu einem rapiden Zerfall der contractilen 
Mnskelsubstanz kommt, zu einer entzündlichen Infiltration und zu 
narbiger Schrumpfung der Musculatur. Auch die tertiäre Lues 
kann in Form einer diffusen Myositis auftreten oder in Form von 
Muskelgummata, die zerfallen, Narben bilden, und so Contrac* 
tnren herbeiführen; ferner können bei chronischem Muskelrheu¬ 
matismus Contracturstellungen sich einstellen, durch die hierbei sich 
bildenden Muskelschwielen, welche den Muskel als harte, unnach¬ 
giebige Stränge durchziehen und durch die den entzündlichen Pro¬ 
cessen folgende Schrumpfung des intramusculären Bindegewebes ent¬ 
stehen. 

Häufiger als diese myopathischen Gontracturen sind die neu- 
ropathischen infolge von Erkrankungen des Nervensystems. Sie 
zerfallen in reflectorische, spastische und paralytische. Die ersteren 
entstehen dadurch, dass die Patienten bestehende Schmerzen durch 
Contraction der das schmerzhafte Gebiet entlastenden Muskeln nach 
Kräften zu mindern versuchen. Je grösser dabei die Empfindlich¬ 
keit des Patienten ist, um so länger wird er den Gontractionszustand 
seiner Muskeln erhalten und so entwickelt sich allmählich die Gon- 
tractur, d. h. in diesem Fall die nutritive Schrumpfung der dauernd 
contrahirt gehaltenen Muskeln. Näheres darüber findet man im 
Hof falschen Lehrbuch. 

Bei den spastischen handelt es sich nach Delpech im wesent¬ 
lichen um eine Hyperinnervation der Muskeln. Sie kommen ebenso 
gut angeboren wie erworben vor bei zahlreichen Krankheiten des 
Gehirns und Rückenmarks, während die paralytischen besonders 
infolge von Verletzung und Erkrankung der nervösen Gentralorgane 
und der peripheren Nerven entstehen und am Kniegelenk seltener, 
häufiger am Fussgelenk zur Beobachtung kommen. 

Nach Delpech entstehen dieselben durch die Wirkung der 
Antagonisten, während nach Volkmann auch wohl noch die Schwere 
des Gliedes und die Belastung durch das Körpergewicht, also 
mechanische Momente, in Betracht zu ziehen sind. Lorenz ist ein 
entschiedener Verfechter der ersten Ansicht; er hat einen Fall von 
Quadricepslähmung beiderseits mit vollständiger Insufficienz des 
Muskels beobachten können, bei welchem sich kein Genu recurvatum 
mdem eine Beugecontractur beider Kniegelenke entwickelte, ein 

Z«itMbrtft ftr orthopidiaoh« Chirurgie. VIII. Band. 7 


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98 


August Blencke. 


Fall, der doch entschieden ein Beleg für die antagonistische Theorie 
ist; auch einen weiteren Fall, der gleichsam das Gegenstück zu 
jenem ersten bildet und bei dem nach Paralyse der Beuger des 
Kni^elenks bei intactem Quadriceps beiderseits Genu yalgo-recurvatum 
eingetreten war, verwendet Lorenz für die antagonistische Theorie 
mit um so mehr Nachdruck, als alle Belastungseinflüsse vollkommen 
ausgeschlossen waren, da das betreffende Kind seine Beine niemals 
zum Stehen oder Gehen verwendet hatte. Lorenz führt dann noch 
als weiteren Beweis einen dritten Fall in seiner Arbeit an, der zwar 
nicht das Kniegelenk betrifft, der aber doch so recht für diese An¬ 
sicht spricht: er beobachtete auf der einen Seite den hochgradigsten 
paralytischen Plattfuss, auf der anderen hingegen einen ebenso argen 
paralytischen Klumpfuss. [Die nähere Untersuchung ergab, dass 
beim Plattfuss die Extensoren, beim Klumpfuss die Supinatoren intact 
geblieben waren. Bei jenen Fällen, bei denen eine Quadriceps- 
lähmung zum Genu recurvatum führte, handelte es sich nach 
Lorenz’s Meinung nur um Paresen, keineswegs um vollständige 
Paralysen des Muskels. 

Häuflg kommen auch Deformitätsstellungen im Kniegelenk 
nach Operationen in demselben, nach Resectionen und Arthrektomien, 
zur Beobachtung, die sich mitunter noch nach langer Zeit bei den 
anscheinend bestgeheilten Fällen zum Schrecken des Arztes und des 
Patienten einstellen, am öftesten jedoch bei Kindern niederer Stände, 
bei denen nach der Entlassung aus dem Krankenhause jede weitere 
Behandlung und Beobachtung auf hörte und keine feststellenden Appa¬ 
rate bezw. abnehmbaren Verbände noch lange Zeit hindurch ge¬ 
tragen wurden. 

Ich konnte aus der Literatur im ganzen 653 im Kniegelenk 
ausgeführte Operationen, Resectionen sowohl wie Arthrektomien, 
zusammenstellen, die alle nach geraumer Zeit nachuntersucht waren; 
es hatten sich insgesammt 290mal, d. h. also in 44,4 ^/o der Fälle 
Deformitätsstellungen ausgebildet; und zwar waren 609 Resectionen 
mit 271 = 44,5 ®/o Deformitätsstellungen darunter zu verzeichnen 
und 44 Arthrektomien mit 19 = 44,2®/o. Ich habe also keinen 
Unterschied zwischen beiden Operationsmethoden herausgefunden 
ebenso wenig wie Man dry, der für beide 55 ®/o Winkelstellungen 
herausgerecbnet hat. Er ist sogar der Ansicht, dass die Neigung 
zu derartigen Contracturen bei der Arthrektomie noch ausgesprochener 
zu sein scheint, als bei der Resection, während Angerer und 


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Ein Beitrag zor Lehre der Contracturen und Ankylosen im Kniegelenk etc. 99 

Send 1er das beste Mittel, um einer später ein tretenden Beuge- 
contractur nach Arthrektomie vorzubeugen, darin sehen, bei derselben 
ein bewegliches Gelenk durch frühzeitige Bewegungen und Massage 
anzustreben und den Quadriceps so in seiner Thätigkeit zu erhalten. 
Dass dieses nach dieser Operation wohl möglich ist, beweisen die 
Resultate Sendler’s, die er im 30. Band der Deutschen Zeitschrift 
für Chirurgie veröffentlicht hat. Von 18 Fällen erzielte er 11 mal 
active, zum Theil normale oder zum wenigsten fast normale Beweg¬ 
lichkeit. 

Jene oben angeführten Zahlen liessen sich noch entschieden 
etwas vergrössem, wenn wir alle Reseciiten noch einmal nach Jahren 
nachuntersuchen könnten, denn wie manche stehen bei Statistiken 
unter der Rubrik „gerade und gut geheilt*^, bei denen sich später 
noch Contracturen einstellten; so berichtet z. B. Paschen über 
einige Fälle, die König in seiner Arbeit (1868) als gut geheilte 
angeführt hatte. Sechs Jahre darauf hatte er Gelegenheit, einige 
nachzuuntersuchen, und konnte recht bedeutende Contracturen con- 
statiren. 

In der grossen Mehrzahl dieser Fälle ist die Deformität eine 
Flexionsstellung. Nur selten finden sich in der Literatur Angaben 
über Varus- oder Valgusstellungen, die zum Theil mit den Beuge- 
contracturen, zum Theil für sich allein verkommen; so konnte ich 
bei der grossen Anzahl der Fälle von Deforraitätsstellungen, die 
sich nach Operationen ausgebildet hatten, nur 8mal eine Varus- 
stellung, llmal eine Valgusstellung, dann 12mal eine Valgussteilung 
und Imal eine Varusstellung neben der Flexion constatiren. 

Wenn wir uns nun nach den Gründen derartiger falscher 
Stellungen nach Operationen fragen, so war es wohl zunächst der Um¬ 
stand, dass man keine primäre knöcherne Vereinigung der betreffenden 
Theile erreichte, den man dafür verantwortlich machte. Derartige 
Fälle sind z. B. von Paschen veröffentlicht worden, der bei einem 
6 Monate nach der Operation verstorbenen Patienten nur Binde¬ 
gewebe an der Vereinigungsstelle vorfand; auch Hoffa konnte bei 
einem Pall nach 1^* Jahren, Petersen bei einem Falle nach 
5 Jahren nur eine theilweise Ossification constatiren, während be¬ 
sonders an der hinteren Fläche nur Bindegewebe und Knorpel vor¬ 
handen waren. ‘ Wenn nun auch gewiss viele Fälle in Stellungs¬ 
anomalien gerathen, bevor und gerade weil noch nicht Ossification 
erfolgt war, so ist es doch nach Lustig auch andererseits zweifel- 


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100 


August Blencke. 


los, dass sich Beugestellungen auch bei schon knöcherner Vereini¬ 
gung von Femur und Tibia einstellen können. Der Beweis dafür 
wird seiner Meinung nach durch zahlreiche anatomische Präparate 
geliefert, die durch keilförmige Osteotomie gewonnen wurden und 
an denen man stets eine vollkommene Verknöcherung der Vereini¬ 
gungsstelle sehen kann, von der es doch recht gezwungen wäre, 
anzunehmen, dass sie erst nach Eintritt der Beugecontractur ent¬ 
standen sei. Denn wenn überhaupt Enochengewebe gebildet werden 
soll, dann ist die Aussicht darauf jedenfalls besser, so lange noch 
durch die Folgen der Operation oder des Krankheitsprocesses ein 
kräftiger Reiz ausgeübt wird, als später, wenn alles ausgeheilt ist. 

Die Hof falsche Erklärung, dass diese Flexionscontracturen vor¬ 
zugsweise durch das üebergewicht der Flexoren, deren schon an 
und für sich überwiegende Kraft ja allgemein anerkannt und von 
E. Fischer auch anatomisch, von Grützner histologisch nachge¬ 
wiesen worden ist, über die atrophischen Streckmuskeln, die ja über¬ 
haupt viel leichter als die Flexoren zu Atrophien geneigt sind, ent¬ 
stehen, lässt Lustig wohl oft, jedoch auch nicht immer gelten. 
Seiner Ansicht nach ist sicherlich die Muskelwirkung nicht die ein¬ 
zige „causa movens“. Von vornherein kommt sie überhaupt schon 
bei den Fällen gar nicht in Betracht, bei denen knöcherne Vereini¬ 
gung eingetreten ist. Das Zustandekommen dieser Flexionsankylosen 
schreibt er in vielen Fällen hauptsächlich gewissen Wachsthumsano¬ 
malien zu. 

Dem naheliegenden Einwand, dass bei Annahme dieser Theorie 
die Stellungsanomalien sich doch nicht so überwiegend im Sinne 
der Flexion ausbilden würden, tritt er sofort selbst entgegen, ge¬ 
stützt auf einen sehr bedeutungsvollen Befund, den er bei Untersuchung 
der Enieknorpelfuge eines 7jährigen Kindes erhoben hat. An der 
Tibia verläuft nämlich die Knorpelfuge ziemlich ohne Biegung bis 
an die vordere Wand und erst unmittelbar an der Wandfläche sendet 
sie einen Fortsatz nach unten, der natürlich leichter wie die übrige 
Fuge intact bleiben und dadurch zu einseitigem Wachsthum Anlass 
geben kann. 

Diese letzte Theorie wird nach Zenker ferner auch noch 
durch die Thatsache unterstützt, dass sich Flexionsankylosen nach 
Kniegelenksoperationen relativ viel häufiger bei im Wachsthum be¬ 
griffenen, als bei erwachsenen Patienten ausbilden, eine Thatsache, 
die ich nach meinen Zusammenstellungen nur bestätigen kann, da 


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Ein Beitrag zur Lehre der Contracturen und Ankylosen im Kniegelenk etc. 101 

unter meinen sämmtlichen Fällen sich kein Erwachsener befand, alle 
waren unter 12 Jahren, nur eine Patientin war 15, als die Operation 
gemacht wurde. Zenker konnte unter Zugrundelegung der meisten 
dieses Thema betreffenden Arbeiten herausrechnen, dass die Flexions¬ 
ankylosen des Kniegelenks nach Operationen bei Kindern unter 
10 Jahren in 56®/o der Fälle, bei Kindern über 10 Jahren in 40®/o 
auftreten. Demgegenüber war die Zahl der Flexionsankylosen ver¬ 
schwindend klein bei den nach beendigtem Wachstbum operirten 
Patienten. 

Aus dem gleichen Gründe will Zenker auch die Theorie von 
dem üebergewicht der Beuger über die Strecker allein zur Erklä¬ 
rung des Zustandekommens der Difformität nicht gelten lassen, da 
die Beuger bei Erwachsenen ebenso gut wie bei Kindern das üeber- 
gewicht haben und da Recidive der örtlichen Erkrankung sowie 
mangelhafte Festigkeit des operirten Gelenkes bei beiden Vorkommen. 
Da nun nach seiner Ansicht auch statische Momente — ich komme 
noch darauf zu sprechen — nicht ausreichen zur Erklärung der 
Entstehung der Winkelstellung in den einzelnen Fällen, so muss 
man eben pathologische Wachsthumsvorgänge, d. h. ungleichmässiges 
Wachsthum im Bereich der unteren Femur- und oberen Tibia¬ 
epiphyse verantwortlich machen, und dies um so mehr, als man 
auch nicht allzu selten an nicht operirten ankylotischen Kniegelenken 
eine auffällige Tendenz zur Beugecontractur beobachtet, die sich 
nicht ausschliesslich durch Muskelwirkung erklären lässt. 

DafQr, dass in manchen Fällen ein ungleichmässiges Wachs¬ 
thum für die Deformitätsstellungen verantwortlich gemacht wird, 
sprechen nach Lauenstein auch noch andere sicher beobachtete 
Facta; so z. B. die Ausbildung von Genu valgum bei Kindern mit 
einem Erkrankungsheerd im Cond. int. femoris, ferner ein ausge¬ 
sprochenes pathologisches Längenwachsthum des Femur bei Knochen- 
erkrankungen dicht oberhalb des unteren Epiphysenknorpels. 

Zu erwähnen wäre dann noch die König-Paschen*sche 
Drucktheorie. Beide Autoren standen auf dem jetzt ziemlich ver¬ 
lassenen Standpunkt, auf den sich Hu et er zur Erklärung des Genu 
valgum und recurvatum gestellt hatte, dass nämlich der Druck, dem 
besonders die hinteren Theile der Knochen beim Gehen und Stehen 
ausgesetzt sind, ein stärkeres Wachsthum der vorderen Theile, ein 
Zurückbleiben der hinteren veranlassen soll, wodurch natürlich all¬ 
mählich eine Beugestellung der Extremität herbeigefübrt werden muss. 


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102 


August Blencke. 


Beim Genu valgum nimmt man bekanntlich mit Mikulicz andere 
Ursachen an, und noch mehr wird man dies nach Lustig in diesem 
Falle thun müssen, da doch die operirten Kinder gerade nicht so 
besonders viel stehen und laufen werden, und ein zeitweiliger, 
kurzer Druck nicht wohl zu solchen Veränderungen, solchen Un¬ 
regelmässigkeiten im Wachsthum führen kann. 

Aus alledem geht wohl zur Genüge hervor, dass wir für das 
Zustandekommen dieser falschen Stellungen im Kniegelenk nach 
Operationen mehrere Factoren verantwortlich machen müssen: in 
manchen Fällen wird eben die Verbindung zwischen den Sägeflächen 
von Femur und Tibia nicht fest genug sein, um der Action der 
Flexoren, der Belastung durch das Körpergewicht und gewissen un¬ 
günstigen Wirkungen des epiphysären Knochenwachsthums Wider¬ 
stand leisten zu können, in anderen Fällen wieder sind wohl nur 
pathologische Wachsthums Vorgänge an den Deformitätsstellungen 
Schuld. 

Um diesen nun von vornherein vorzubeugen, hat man mancher¬ 
lei gethan und versucht. So grub z. B. Davy, nachdem er einen 
rechtwinkligen Keil aus Femur- und Tibia-epiphyse herausgeschnitten 
hatte, eine Art Zapfenloch in den Tibiakopf, schnitzte das Femur¬ 
ende zapfenförmig zu und drückte dasselbe in das Loch der Tibia¬ 
epiphyse hinein, bis dass Tibia und Femur fest in einander gepresst 
und vollständig in einander fixirt waren. 

Durante bildete einen stumpfen Keil aus dem Tibiakopf 
mit sagittal verlaufender Schneide, der in eine keilförmige Rinne 
zwischen den Oberschenkelcondylen passte. Zur Fixation diente die 
angesägte Patella, die an der angefrischten Tuberositas tibiae ange¬ 
nagelt wurde. 

Poggi trug nun wieder umgekehrt die Gelenkfläche des Femur 
nicht durch einen einfachen transversalen, sondern durch zwei gegen 
einander geneigte Schnitte ab, so dass ein Knochenkeil mit mehr oder 
weniger stumpfem Winkel entstand, der in eine entsprechende Rinne 
des Schienbeins passte. 

Meiner Meinung nach sind alle diese Künsteleien, die auch 
wohl nicht allzu viel Nachahmer gefunden haben dürften, zu umgehen, 
wenn wir nur für eine möglichst rasche Herbeiführung einer festen 
Vereinigung zwischen Femur und Tibia sorgen, was wir in erster 
Linie durch sorgfältige Entfernung alles Krankhaften, sodann durch 
gute Stellung der Knochen zu einander, eventuell durch Nagelung 


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Ein Beitrag zur Lehre der Contracturen und Ankylosen im Kniegelenk etc. 103 

und Kno chennaht, gelegentlich auch durch freie Durchschneidung 
der Sehnen in der Kniekehle erreichen. 

Hahn empfiehlt die Nagelung aufs angelegentlichste und hat 
TOD derselben nie nachtheilige Folgen gesehen. Er nimmt drei 10 cm 
lange Nägel mit 8 mm Durchmesser und treibt dieselben durch die 
die Tibia bedeckende Haut parallel durch Tibia und Femur. . 

Nach K ö n i g^s Ansicht ist es nicht einmal so sehr wichtig, irgend 
etwas für die Fixation des Knochens zu thun, sei es in Gestalt von 
Stiften, sei es durch Nähte, und, falls man durch den Verband für 
exacte Lagerung der Knochenflächen sorgt, absolut gleichgültig, 6b 
man noch eine besondere Fixation der Knochen vomimmt. Er h’ädt 
es auf Grund seiner ausgedehnten Erfahrung irr Knieresectionen für 
nicht schwer, die Knochen nach der Operation in der gewüh^hten 
Lage gegen einander zu erhalten, wenn mau nur so viel ebene 
Fläche einan der gegenüber stehen lässt, dass ein Umkippen nach 
Tom oder hinten wie nach der Seite ausgeschlossen ist. 

Jedenfalls dürfte es sich entschieden empfehlen, die gestreckte 
Stellung auch über die eigentliche Behandlung hinaus, d. h. also 
nach Abnahme des festen Verbandes, durch das Tragen eines ab¬ 
nehmbaren leichteren Verbandes oder eines geeigneten Apparates, 
am besten eines das Kniegelenk feststellenden Schienenhülsenappa¬ 
rates für eine geraume Zeit zu sichern, der es uns auch zu gleicher 
Zeit ermöglicht, täglich eine passende Massage anzuwenden. Auf 
diese Weise dürfte es uns wohl nicht allzu schwer fallen, uns gegen 
die erwähnten üblen Folgen zu schützen und dieselben, wenn auch 
nicht in. allen, so doch in der grossen Mehrzahl der Falle, m ver^ 
meiden. 

Wenn wir nun von den Contracturstellungen, die sich nach 
Operationen im Kniegelenk ausbilden, im speciellen wieder absehen, 
und die Deformitäten dieses Gelenkes insgesammt betrachten, so handelt 
es sich weitaus in der Mehrzahl der Fälle um mehr oder weniger 
erhebliche Beugecontracturen, die nun entweder einfache sein können, 
oft aber auch mit einer Abduction bezw. Adduction oder mit einer 
Rotation des Unterschenkels nach aussen oder mit beiden zusammen 
verbunden sind. Unter 434 Fällen, bei denen ich nähere Angaben 
über die Art und den Grad der Deformitötsstellungen vorfand, handelte 
es sich in 880 Fällen um reine Flexionscontracturen; der Flexions- 
winbel betrug im leichtesten Falle 165®, im schwersten war er so 
spitzt dass der Unterschenkel mit seiner Rückseite vollkommen der 


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104 


Aciguft Blencke. 


Rückseite des Oberschenkels anlag. 12mal fand sich eine Valgus- 
stellnng und lOmal eine Yarusstellung vor; 13mal bestand neben 
der Flexion auch noch eine Valgusstellung, 8mal eine Aussenrotation, 
3mal eine Adduction des Unterschenkels und in 2 Fällen ausser 
der Flexion noch eine Aussenrotation und Valgussteilung. Wir 
sehen aber nicht nur Deformitäten in allen physiologisch möglichen, 
sondern auch in physiologisch nicht möglichen Bewegungsrichtungen 
als Ausdruck der Destruction des Gelenkes. So beschreibt z. B. 
Grant einen Fall von einer rechtwinkUgen Ankylose nach Tom 
(Genu recurvatum) als Folge eines imzweckmässigen Lagerungs- 
apparates. 

Oft gesellen sich dann auch noch wirkliche Verschiebungen 
der Gelenkflächen g^en einander hinzu, selten vollkommene Luxa¬ 
tionen, meist nur Subluxationen der Tibia nach hinten. Ich konnte 
zwar nur in 43 Fallen die Angabe, dass eine Subluxation bestand, 
finden, glaube aber, dass auch noch in vielen FäUen, in denen nur 
die kurze Bemerkung «Flexionscontractur*^ stand, eine Subluxation 
vorhanden war. 

Wie kommen nun diese typischen Contracturstellungen bei den 
Gelenkentzündungen zu Stande? Wir wissen, dass die Gelenkkapsel 
eines jeden Gelenkes in einer gewissen Stellung des Gliedes am 
meisten Flüssigkeit aufnimmt; diese Stellung ist beim Kniegelenk 
eine Flexionsbewegung von 20—30^. Diesen Umstand nun zur 
Entstehung der Flexionscontracturen auszunutzen, dagegen sprechen 
schon von vornherein die höheren Ghrade der falschen Stellungen; 
denn wie will man die Thatsache erklären, dass sich in manchen 
Fällen die einfache Flexion rasch steigert, in extremen Fällen sogar 
bis zum spitzen Winkel. Ferner findet man ja auch bei den granu- 
lirenden Gelenkentzündungen nur in Ausnahmefällen so viel Flüssig¬ 
keit, wie nöthig ist, jene erwähnte Stellung herbeizuführen, und doch 
haben wir dieselbe auch bei diesen Fällen. 

Alle anderen Theorien über das Zustandekommen dieser De¬ 
formitätsstellungen, die auch in gewisser Beziehung und bis zu einem 
gewissen Grade hierbei ihre Anwendung finden, haben wir bereits 
früher besprochen; es dürfte nur noch an dieser Stelle die König- 
sche Ansicht des Näheren ausgeführt werden. 

Nach König nimmt der Patient zunächst die am wenigsten 
schmerzhafte Stellung ein, d. h. eine leichte Flexionsstellung. Steigern 
sich die Schmerzen, so versucht er das Gelenk durch Muskelwirkung 


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Ein Beitrag zur Lehre der Conträcturen und Ankylosen im Kniegelenk etc. 105 

festzustellen und da die Stellung schon nach der Flexionsseite geht, 
so wird auch hier selbstverständlich die Flexionscontractur das Ueber- 
gewicht haben. 

Was nun die Aussenrotation bezw. die Ab- und Adduction 
des Unterschenkels neben der Flexion anlangt, so ist nach König’s 
Ansicht gerade wie beim Hüftgelenk so auch beim Kniegelenk der 
Umstand von Wichtigkeit, ob der Patient sein Bein gebraucht oder 
nicht. Es kommen also hierbei auch äussere Einflüsse in Frage. 
So soll z. B. die Rotation des Unterschenkels nach aussen sicher 
begünstigt werden durch die Lage der Extremität im Bett, mag nun 
der Patient auf der gesunden oder kranken Seite liegen. 

Im letzteren Falle rotirt der Patient nach König, um das 
flectirte Glied auf die Aussenseite auflegen zu können, sein Hüftge¬ 
lenk nach aussen, damit hat schon der Fuss ebenfalls die Tendenz, 
der Schwere nach mit seiner Aussenfläche auf das Lager zu sinken, 
und diese Neigung wird noch befördert dadurch, dass sich zunächst 
die Ferse mit ihrer Aussenfläche resp. die Aussenfläche des Proces¬ 
sus calcanei besonders aufstützt, wodurch die Fussspitze nach der 
entgegengesetzten Seite, Richtung um den Unterschenkel herum oder 
mit demselben im Knie rotirt wird. Dies bedeutet eine Rotation 
des Unterschenkels nach aussen. Liegt nun der Patient auf der 
gesunden Seite, so stützt er sich mit dem inneren Fussrand und zwar 
hauptsächlich mit dem vorderen Theile desselben gegen das Lager auf 
und während das Knie nach innen sinkt, der adducirte Oberschenkel 
eine Stütze auf dem gesunden Bein sucht und findet, wird Fuss und 
Tibia durch diesen Druck in der Richtung von innen nach aussen herum¬ 
gedrängt, indem sich gleichzeitig das Ligamentum internum spannt. 

Die Valgusstellung entsteht nach König, wenn die Kranken 
mit in der Hüfte abducirtem Glied die massig im Knie flectirte 
Extremität zum Gehen benutzen oder auch bei der Lage im Bett 
infolge abnormer hebelartiger Wirkung der Tibia bei stärker 
flectirter Lage, zumal wenn primitive ostale Processe den Gondylus 
extemus zum Schwinden gebracht haben. 

Sehr viel seltener wird ein Genu varum infolge ostaler Processe 
am Condylus internus beobachtet, doch wohl auch als Folge abnormer 
Lage, bei welcher die Druckverhältnisse umgekehrt wie bei Genu 
valgum so statthaben, dass die Theile am inneren Condylus durch 
abnorme Druckerhöhung schwinden, während die am äusseren viel¬ 
leicht durch Druckentlastung ein vermehrtes Wachsthum zeigen. 


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106 


Augiist Blencke. 


Haben wir es mit einer Subluxation zu thun, so haben ent¬ 
weder der Bandapparat oder die Öelenkenden oder beide gelitten. 
Am häufigsten entwickeln sie sich nicht aus gestreckter, sondern 
aus gebeugter und stärker auswärts rotirter Stellung. Ist an den 
hinteren Partien Druckschwund vorhanden, oder sind dieselben durch 
primäre ostale Processe zerstört, so bekommt die Tibia, wenn noch 
bestimmte Ursachen hinzukommen, die Tendenz, auf der schiefen 
Fläche der Condylen nach hinten zu rutschen. Jene bestimmten 
Ursachen liegen nun nach König entweder in der activen Wirkung 
der Flexoren durch tonische oder clonische Contractur oder häufiger 
in den Vorgängen narbiger Schrumpfung, die zur Verkürzung der 
auf der Flexionsseite gelegenen Theile führen. 

Alle diese erwähnten Stellungen pflegen nun mit der Zeit durch 
mannigfache Veränderungen der benachbarten Gewebe bald in mehr 
oder weniger vollständige Fixation tiberzugehen. Wir haben es dann 
— und das ist nach König wohl in der grösseren Mehrzahl der 
Fälle zu beobachten — mit Bewegungshindemissen zu thun, die in 
den verschiedenen Bindegewebslagen auf der Beugeseite des Gelenkes 
liegen. Zu diesen Ursachen kommen dann auch noch weiter die 
Synechien des Gelenkes, die Hemmungen durch Verschränkung von 
periostalen Knochenwucherungen am Rande der Gelenkflächen (selten) 
als wesentliche Bedingungen für die Ankylose. Zum Theil sind es 
knorpelige Synostosen, zum Theil bindegewebige Verwachsungen, 
die nun ihrerseits wieder als solche verharren oder auch verknöchern 
können. Nicht selten verwächst auch die Patella knöchern mit ihrer 
Unterlage. 

Interessant sind auch die Deformitäten, auf die König auf 
dem Gongress 1895 aufmerksam machte, indem er gelegentlich eines 
Vortrages über Kniegelenkstuberculose mittheilte, dass er die Be¬ 
obachtung gemacht hätte, dass Kinder, die arthrektomirt waren und 
bei denen eine secundäre Flexionscontractur im Kniegelenk sich 
entwickelt hatte, bisweilen ein ganz typisches Bild zeigten, insofern 
die Flexionsstellung des Unterschenkels nicht nur durch die Con¬ 
tractur im Kniegelenk, sondern auch durch gleichzeitige Verbiegung 
des Oberschenkels in einer sagittalen Ebene bedingt wird. 

Braun batte Gelegenheit, zwei solcher Fälle „gleichsam in 
ihrer Entstehung zu verfolgen*. Seiner Meinung nach sind diese 
gar nicht so selten, als es nach dem Mangel an literarischen Ver¬ 
öffentlichungen den Anschein hat. Unter den von mir zusammen- 


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Ein Beitrag zur Lehre der Contracturen und Ankylosen im Kniegelenk etc. 107 

gestellten Fällen konnte ich ausser der Eniegelenksdeformität auch 
noch eine Verbiegung des Femur in seinem unteren Ende in sechs 
Fällen angegeben finden. Der eine Fall ist von Salagnier ver¬ 
öffentlicht: neben einer Ankylose im Kniegelenk im Winkel von 135" 
ist auch noch eine Verbiegung des Femur in seinem unteren Ende 
zu constatiren; der untere Schenkel bildet mit der eigentlichen Femur¬ 
achse einen nach vom offenen Winkel von 145 Der zweite Fall 
ist von Piecbaud beschrieben und betrifft ein 14jähriges Mädchen, 
das neben einer rechtwinkligen Flexionsstellung auch noch eine 
Verbiegung des Femur nach aussen in seinem unteren Drittel auf¬ 
zuweisen hatte, so dass eine trapezoide Resection vorgenommen 
werden musste. In den beiden anderen Fällen musste Helferich 
zwei Operationen vornehmen, um die Deformität zu beseitigen; in 
dem ersten wurde neben der bogenförmigen Resection auch noch 
die Osteoklase des verbogenen Femur gemacht und im zweiten wegen 
der neben der Flexion bestehenden Deformität des Oberschenkels 
die doppelte Osteoklase und später noch die bogenförmige Resection. 
Ein weiterer Fall ist von Bofinger aus der chirurgischen Poli¬ 
klinik der Charite veröffentlicht, in dem vorher wahrscheinlich eine 
Arthrektomie wegen Gelenktuberculose vorgenommen wurde, und ein 
ähnlicher von Scharff aus der Vulpius’schen Klinik nach einer 
ausgeführten Resection, in dem es sich um eine Ankylose von 105" 
handelte, bei der das Femur stark nach vom verkrümmt war. Näheres 
hierüber ist im 1. Heft des 7. Bandes dieser Zeitschrift zu finden. 

Braun glaubt, weil der Scheitel der Verbiegung in der nächsten 
Nähe der das Längswachsthum des Femur hauptsächlich vermitteln¬ 
den unteren Epiphysenlinie liegt, dass man wohl nicht fehl geht, 
den Grund der Knochenweichheit in einer Störung der Thätigkeit 
jener, in einer Production nicht genügend verkalkenden Knochens 
zu suchen, nicht etwa in einem Resorptionsprocess am bereits ver¬ 
kalkten Knochen. 

Diese Deformitäten sind jenen Abknickungen der Tibia ätio¬ 
logisch zweifellos ganz an die Seite zu stellen, die mit dem Scheitel 
nach hinten gerichtet in der Nachbarschaft ihrer oberen Epiphyse 
liegen und sich ganz schmerzlos, ohne dass die Patienten zum Liegen 
kommen, ausbilden können, Fälle, wie sie Humphry, Sonnen¬ 
burg, Kirmisson, Salagnier in der Regel gleichfalls bei Pa¬ 
tienten mit Ankylosen und Contracturen im Kniegelenk nach abge¬ 
heilter Gonitis beobachtet und beschrieben haben. 


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108 


August Blencke. 


Alle diese bis jetzt erwähnten Eni^elenksdeformitäten können 
nun, wenn nicht eine zweckmässige und rechtzeitige Behandlung 
eingeleitet wird, oft einen erheblichen Grad erreichen, wie ich schon 
anfangs erwähnt habe. 

Wenn die Contracturstellungen bereits im kindlichen Alter 
entstanden sind, so können wir nach Verlauf längerer Zeit in den 
meisten Fällen eine mehr oder weniger bedeutende Entwicklungs¬ 
hemmung bemerken; die Weichtheile sind welk und atrophisch; die 
Knochen kurz und schmächtig, so dass zwischen den beiden Unter¬ 
schenkeln ein erheblicher Unterschied besteht. 

Je stumpfer der Winkel ist, den der Unter- zum Oberschenkel 
bildet, desto leichter wird auch dem Patienten das Gehen; er tritt 
mit der Fussspitze des kranken Beines auf und gleicht so die be¬ 
stehende Verkürzung aus. Ist der vorhandene Deformitätswinkel 
aber ein grösserer, so müssen die Kranken das gesunde Bein stärker 
biegen, um mit der Fussspitze des anderen den Boden berühren zu 
können, und ist es gar ein rechter oder spitzer, so ist es meist dem 
Patienten überhaupt nicht mehr möglich, ohne hohe Sohle oder ohne 
Sitzstelze oder ohne Krücken zu gehen. 

Ein in dieser Beziehung interessanter Fall ist der von Müller 
beschriebene: Die Patientin war in ihrer Kindheit wegen einer 
rechtsseitigen Kniegelenksentzündung operirt und es hatte sich bei 
ihr nachgerade eine spitzwinklige Ankylose eingestellt. Trotzdem 
sich nun noch in ihrem 32. Jahre eine Gontractur des rechten Hüft¬ 
gelenks in starker Flexion, Adduction und Innenrotation hinzugesellt 
hatte, vermochte sie dennoch das linke Bein in eine dem rechten analoge 
Beugung zu bringen und in zusammengehockter Stellung zu gehen. 

Die Prognose aller dieser Gontracturen und Ankylosen ist 
natürlich sehr verschieden; sie hängt ab vom Grad, von der Art, 
von der Dauer der Entzündung, vom Grad der Deformitätsstellung 
selbst, vom Grad der Destruction der Gelenkoberfläche, von der 
Festigkeit der Verwachsung und dergl. mehr. Erschwert wird auch 
die Prognose durch die Verwachsung der Patella, 

Wie überall, so ist auch hier bei der Behandlung dieser De¬ 
formitäten zunächst mit wenigen Worten der Prophylaxe zu gedenken. 
Wir müssen das Kniegelenk beim Beginn der Behandlung einer 
Krankheit in die Stellung bringen, in welcher wir es für den 
Fall, dass feste Ankylose eintreten sollte, fixirt wissen wollen. Da 
bei Kindern in vielen Fällen eine Verkürzung zu erwarten steht, 


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Ein Beitrag zur Lehre der Contracturen und Ankylosen im Kniegelenk etc. 109 


80 wird man am besten das Knie bei ihnen in Strecksteilung fixiren, 
bei Erwachsenen hingegen in einem stumpfen Winkel, vorausgesetzt 
natürlich, dass im letzteren Falle das steife Bein ebenso lang ist, 
als das gesunde. Denn bei einer Ankylose in gestreckter Stellung 
bei gleich langen Beinen würde der Qang beträchtlich leiden; die 
Patienten würden sehr leicht straucheln und genöthigt sein, beim 
Gehen mit dem steifen Bein einen Bogen nach aussen zu beschreiben 
(Abductionsgang), oder auch die Beckenhälfte der kranken Seite 
stark zu heben (Beckengang). Da indess auch bei Erwachsenen in 
manchen Fällen die unteren Extremitäten mit versteiftem Knie zu¬ 
gleich auch verkürzt sind oder bei Versuchen, die Streckstellung 
durch Operationen herzustellen, verkürzt werden, so ist auch für 
diese Fälle die Strecksteilung des Knies die zweckmässigste. 

Wie schon oben erwähnt, ist die häufigste Ursache aller dieser 
Deformitäten die Tuberculoae des Gelenkes und die zwecks Heilung 
dieser ausgeführte Operation. Ob man nun bei der Behandlung 
der Kniegelenkstuberculose conservativ oder operativ Vorgehen und 
im letzteren Falle die Resection oder die Arthrektomie vornehmen 
solle, darüber bestehen noch sehr getheilte Ansichten. Jedenfalls ist 
man sich aber darüber einig, dass ein Unterschied zwischen Er¬ 
wachsenen und Kindern zu machen sei. 

Das Kniegelenk macht eben eine Ausnahme und nach Henle’s 
Ansicht und Erfahrungen ist der herrschende Standpunkt, den er in 
einer ausführlichen Arbeit, deren Grundlage ein überaus reiches 
Material aus der Breslauer Klinik aus den Jahren 1890—96 bildet, 
vertritt, ein durchaus conservativer betreffs der Behandlung der Ge- 
lenktuberculosen; eine Ausnahme bildet allein das Kniegelenk der 
Erwachsenen, welches in der Mehrzahl der Fälle resecirt ist. Er 
führt als vierten Schlusssatz, nachdem die drei ersten für die con- 
servative Behandlung der Gelenkkrankheiten sprechen, sowohl was 
Heilungen, functionelle Resultate und Mortalität anlangt, den an: 
Nur für das Kniegelenk Erwachsener ist bei fixirter Patella die Re¬ 
section der conservativen Therapie vorzuziehen. 

Es ist dies derselbe Standpunkt, den auch König vertritt, 
der stets für die Nothwendigkeit operativer Eingriffe in gewissen 
Stadien der Erkrankung und im gewissen Alter der Patienten ein¬ 
getreten ist. »Das operative Verfahren soll kein Concurrenzverfahren 
vom conservativen sein, sondern beide sollen sich ergänzen*^. Seine 
Ansicht lässt sich folgendermassen präcisiren: 


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110 


August Blencke. 


Kindliche Kniegelenke werden conservativ behandelt; sind je¬ 
doch dieselben stark fistulös und schwer eitrig, ist der Gelenkmechanis¬ 
mus schwer destruirt oder zeigt die conservative Behandlung abso¬ 
lut keinen Erfolg — nach König gibt es noch entgegen der Ansicht 
vieler anderer Autoren genug Fälle, die trotz aller unblutigen Mass¬ 
nahmen nicht ausheilen —, so wird auch bei Kindern trotz der zu 
fürchtenden Folgen zuweilen operirt und zwar wird die Arthrektomie 
gemacht, eventuell in Verbindung mit Heerdausräumungen, die Re- 
section, wenn möglich, erst nach Abschluss des Wachsthums. 

Gelenke Erwachsener werden im Initialstadium der Erkran¬ 
kung versuchsweise conservativ behandelt wie die kindlichen. Zeigt 
diese Behandlung nicht bald eine günstige Wirkung, oder ist die 
Erkrankung des Gelenks eine schwere, womöglich fistulöse oder 
eitrige, so wird sofort zur Resection geschritten, da man bei Er¬ 
wachsenen auf das Wachsthum keine Rücksicht zu nehmen braucht 
und da ausserdem aus wirthschaftlichen Gründen die Krankheitsdauer 
möglichst abzukürzen ist. 

Auch V. Bergmann ist für die frühzeitige Resection bei älteren 
Leuten. 

Allgemeine Regeln lassen sieb natürlich schwer aufstellen; 
jedenfalls ist einen Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen 
zu machen sehr richtig. 

Allgemein anerkannt, wenigstens von der grossen Mehrzahl 
der Chirurgen, ist jedenfalls die Thatsache, dass bei Kindern die 
Resultate der conservativen Behandlung in Verbindung mit intra- 
articulären Injectionen, Stauung etc. sehr gute sind und dass wir 
nur selten von ihr im Stich gelassen werden. Sie führt in den 
meisten Fällen zur Heilung, wenn gute Luft, Hygiene und kräftige 
Ernährung unterstützend mithelfen. Starke Verkürzungen und Flexions¬ 
stellungen, wie wir sie so häufig nach Operationen beobachten 
können, sind bei gutem Willen der Patienten bezw. ihrer Ange¬ 
hörigen durch zweckmässige Behandlung nicht schwer zu bekämpfen. 
So berichten Galot und Dechert über 100 Fälle, die sie in den 
letzten Jahren glatt zur Ausheilung brachten, ohne auch nur einmal 
resecirt zu haben. Nur eine Amputation war nöthig, aber lediglich 
nur aus orthopädischen Gründen wegen des schlechten Resultates 
einer anderswo ausgeführten Resection. Frank ist der Ansicht, 
dass für diese ausnahmslos guten Erfolge wohl nur die ungewöhn¬ 
lich günstigen klimatischen Bedingungen sprechen, eine Ansicht, 


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Ean Beitrag zur Lehre der Contractureu und Ankylosen im Kniegelenk etc. Hl 


der ich deshalb so ohne weiteres nicht beitreten möchte, da ich die 
Erfahrung gemacht habe, dass solche Resultate auch anderswo er¬ 
reicht werden können, wo solch günstige klimatische Verhältnisse 
nicht vorhanden sind. Eine Resection wegen Kniegelenkstuberculose 
bei Kindern habe ich, so lange ich bei Hoffa arbeiten durfte, nicht 
gesehen. 

Je besser natürlich die consenrativen Mittel ausgebildet sind, 
desto mehr Heilungen werden wir auch erzielen. Dass natürlich 
dabei gute Luft, Hygiene, kräftige Ernährung und vielleicht auch 
ein Aufenthalt in einem Sool- bezw. Seebade ein Uebriges thun, 
das habe ich schon seiner Zeit an anderer Stelle ausgesprochen. 
Und dass dies alles dem Patienten zu Gute kommen kann, das ist 
ja eben der Hauptzweck der ambulanten conservativen Methode. 

Wenn dann aber trotz der sorgfältigsten orthopädischen Be¬ 
handlung, trotz bester Fixation — und diese Fälle werden nur eine 
verschwindend kleine Anzahl bilden — die Schwellung und Schmerz¬ 
haftigkeit nicht entsprechend abnimmt und eine Vereiterung des 
Gelenkes eintritt und dieses eine Tendenz zur weiteren Destruction 
zeigt, dann sollen wir uns hüten vor allzu langem Abwarten, dann 
sollen wir sofort zum Messer greifen, da, wenn später doch noch 
operirt werden muss, sich die Verhältnisse meist noch sehr ver¬ 
schlechtert haben; das sind Rydygier’s Ansichten, denen wir nur 
voll und ganz zustimmen können. 

Wie schon einmal gesagt, handelt es sich bei der Behandlung 
der Eniegelenksdeformitäten zunächst darum, ob wir es mit einer 
Contractur oder mit einer Ankylose zu thun haben. Haupterforder- 
niss ist deshalb zunächst eine exacte und genaue Diagnose. Dass 
diese zu stellen oft gar nicht so leicht ist, dass wir in manchen 
Fällen die Narkose zur Hilfe nehmen müssen und dass wir jetzt 
ein gutes Hilfsmittel in den Röntgenstrahlen besitzen, das alles 
habe ich schon eingehender in meiner Arbeit über Hüftcontracturen 
und -ankylosen auseinandergesetzt. 

Abgesehen von jenen leichten Fällen, die einer Behandlung 
nicht bedürfen, hat man je nach dem Grade und der Art der De¬ 
formität auch verschiedene Eingriffe empfohlen. 

In leichteren Fällen kommen wir schon mit fortgesetzten passiven 
Bewegungen, die entweder manuell oder maschinell ausgeführt wer¬ 
den, mit Massage, mit permanenter Extension zum Ziele, so z. B. 
weichen schon geringe Narbencontracturen, leichte Contracturen nach 


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112 


August Blencke. 


Gelenkrheumatismus und nach langer Ruhigstellung des Gelenks, 
leichte myogene Contracturen u. a. m., einer zweckmässigen und 
entsprechenden mechanotherapeutischen Behandlung. Versagt aber 
diese Methode oder handelt es sich um Contracturstellungen höheren 
Grades, dann versuchen wir es zunächst in geeigneten Fällen — ich 
komme darauf noch zu sprechen — mit portativen orthopädischen 
Apparaten, mit denen wir, vorausgesetzt natürlich, dass dieselben 
nicht, wie so viele Apparate an den bekannten zwei Grundfehlern 
leiden, nur gute Resultate erzielen können. Diese zwei Grundfehler 
sind nach Hoffa die, dass jene erstens keinen genügenden Halt an 
der Extremität haben und dass sie ferner das Kniegelenk als reines 
Chamiergelenk behandeln, während es doch kein eigentliches 
Charniergelenk mit einem constanten Drehpunkt ist. Die Gelenk¬ 
fläche der Condylen setzt sich zusammen aus zwei Curven, deren 
vordere einen grösseren Radius hat als die hintere. Die beiden 
Radien verhalten sich zu einander wie 9 :5. Das Kniegelenk hat 
demnach nicht eine, sondern zwei Drehachsen. 

Die meisten Apparate drücken also vermöge ihrer fehlerhaften 
Bauart, d. h. bei Anwendung eines gewöhnlichen Ghamiers, dessen 
Achse mit der des hinteren Gelenkabschnittes zusammenfällt, die 
Knochen im Kniegelenk, sobald sie sich in dem vorderen Abschnitt 
des Gelenkes bewegen, auf einander und sind deshalb ganz unzweck¬ 
mässig und zu verwerfen. Gar nicht zu gebrauchen sind sie natür¬ 
lich bei allen den Deformitäten, wo wir es auch noch neben der 
Flexion mit einer Subluxation zu thun haben. 

Braatz war der erste, der eine zweckmässige Schiene con- 
struirte; er gab derselben in dem Gelenk genau die Form, wie sie 
der von H. v. Meyer gezeichneten Gelenkcurve des Kniegelenks 
entspricht. Er hat uns den richtigen Weg gezeigt, den wir bei der 
Construction von Kniegelenksapparaten zu befolgen haben, wenn sie 
wirklich rationell wirken sollen, indem er seinen Sector construirte, 
den er ja selbst im 1. Band dieser Zeitschrift näher beschrieben hat 
und vermittelst dessen sich die beiden Theile der Schiene so gegen 
einander bewegen konnten, dass kein Drehpunkt vorhanden war, 
sondern dass ein Schlitz von geeigneter Krümmung die Unter¬ 
schenkelschiene zwang, ihren Drehpunkt im weiteren Vorrücken 
beständig zu ändern und zwar so, dass mit der Streckung des ge¬ 
beugten Gelenks zugleich eine Distraction der Gelenkenden bewirkt 
wird. Diese mit solchen Sectoren versehenen Schienen sollen auch 


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Ein Beitrag zur Lehre der Contracturen und Ankylosen im Kniegelenk etc. 113 

nach Braatz mit jener so häufig vorkommenden Subluxationsstel¬ 
lung rechnen und sie beseitigen, eine Ansicht, der ich nicht ohne 
weiteres ganz beitreten möchte. Für leichtere Fälle von Subluxation 
ist dies wohl möglich, nicht aber bei schweren. Nach Hoffa’s 
Meinung lässt sich durch einen Apparat die Beugestellung des Ge¬ 
lenkes sowohl wie auch die Subluxation nicht beseitigen, zumal da 
es sich ja in der Mehrzahl der Fälle nicht um normale Contouren 
der Knochen handelt, sondern um Knochen, die durch tuberculöse 
Processe zerstört sind. Hoffa hat eine Schiene construirt, mittelst 
der es, wie ich mich des öfteren habe überzeugen können, gelingt, 
nach erreichter Gradestellung des Beines auch noch die starke sub- 
luxirte Tibia in ihre richtige Lage zu bringen. Er benutzt zu 
diesem Zwecke zwei dem Kniegelenk entsprechend rechtwinklig ab¬ 
gebogene Schienen. Der rechte Winkel der Oberschenkelschiene 
schaut nach vorn und trägt einen Schlitz, der der Unterschenkel¬ 
schiene nach hinten und trägt am rechten Winkel eine Schraube, 
an seinem Ende einen Knopf. Die Schiene des Oberschenkels gleitet 
nun auf der des Unterschenkels, indem die am Winkel der Unter¬ 
schenkelschiene angebrachte Schraube als Führung dient. Der Knopf 
dient zur Befestigung eines Gummizuges, dessen anderes Ende an 
dem Kniebügel festgeknöpft wird. So haben wir zwei an einander 
in der Richtung von hinten nach vorn gleitende Schienen, bei welchen 
der Grad der Bewegung durch die Anspannung des Gummis beliebig 
regnlirt werden kann. Es gelingt so ohne Schwierigkeit durch 
Anbringung dieser Vorrichtung an Schienenhülsenapparaten die Tibia 
gegen das Femur nach vorn zu verschieben. 

Diese Aendemng am Apparat wird also erst angebracht, wenn 
die Flexionscontractur mit Hilfe einer starken Feder in Gestalt einer 
alten Schlägerklinge beseitigt ist, ein sehr zweckmässiges Ver- 
fi^Aren, das ja von Hoffa selbst und anderen schon eingehend be¬ 
schrieben ist. 

Während der ganzen Dauer der Streckung, die in leichten 
Fällen 3—4 Wochen, in schwereren 5—6 in Anspruch nimmt, können 
nun die Patienten fleissig herummarschieren. Wenn überhaupt 
Schmerzen vorhanden sind, so sind sie erträglich und zwingen die 
Patienten nicht, sich zu legen, und das ist ja eben der grosse Vor¬ 
theil der Behandlung, dass die Kranken nicht ans Bett gefesselt sind, 
wie das ja bei dem Schede'schen Verfahren der Fall ist, der ja, 
um gegen jene so häufig vorkommende Subluxation anzukämpfen, 

Zeitschrift für orthopädische Chlmrgle. VIII. Band. 


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114 


August Blencke. 


schon früher in gut durchdachter Weise mehrere Zugrichtungen 
combinirt und so gezeigt hat, dass man dabei auch zum Ziele kommen 
kann. Ausser dem erwähnten Nachtheil hat dieses Verfahren noch 
einen zweiten und das ist der, dass nämlich das Gelenk lange ohne 
Bewegung bleibt. Welchen Schaden aber eine Übertrieben lange 
Ruhigstellung des Gelenkes bringen kann, ist bekannt, und Schede 
selbst hat das zugegeben und gelangte auf Grund seiner klinischen 
Erfahrungen zu dem Resultat, dass man nothwendigerweise die 
Extensionsvorrichtung so gestalten müsse, dass der Kranke dabei 
active und passive Bewegungen auszuführen im Stande sei. 

Auf der anderen Seite ist natürlich jenes Verfahren etwas 
kostspieliger wie dieses, aber es ist auch das schonendste und sollte 
seiner anderen Vortheile wegen ja bei allen geeigneten Fällen ange¬ 
wendet werden, da es zugleich auch, was ja bei kosmetischen Ope¬ 
rationen immer und immer wieder nicht genug hervorgehoben wer¬ 
den kann, das ungefährlichste ist. 

Auch von Bonnet, Lorinser, Stromeyer, Bidder u. a. 
sind derartige Maschinen zur allmählichen Streckung solcher Con- 
tracturen angegeben; sie alle kommen aber den oben erwähnten 
nicht gleich. 

Man kann auch aus einem angelegten Gipsverband vorn ein 
querovales Stück herausschneiden und die Rückseite mittelst eines 
Querschnittes durchtrennen. Nachdem dies geschehen, werden in 
den hinteren angebrachten Schnitt Korkstücke geschoben, die man 
allmählich immer grösser nimmt. 

Diesem Verfahren der langsamen Streckung muss aber oft 
genug bei vorhandener Rigidität der Weichtheile eine Durchschneidung 
derselben vorausgehen, die auch in manchen Fällen schon an und 
für sich zur Beseitigung der vorhandenen Deformität führen kann. 
Ich komme noch weiter unten darauf zu sprechen und möchte an 
dieser Stelle erst noch mit wenigen Worten der aus der mir zu¬ 
gänglichen Literatur gesammelten Fälle, die mit Apparaten behan¬ 
delt wurden, Erwähnung thun. Ich fand 12 Fälle, bei denen nähere 
Angaben bezüglich der Ursache und des Grades der Deformität und 
bezüglich der Behandlung etc. gemacht waren. Der jüngste Patient 
war 6 Jahre, der älteste 58*^/4. In 10 Fällen war eine Tuberculose 
vorausgegangen, in 2 ein Rheumatismus. Der Flexionswinkel schwankte 
zwischen 165und 80^; 3mal war eine Subluxation der Tibia nach 
hinten zu constatiren. In allen 12 Fällen wurden recht gute Re- 


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Ein Beitrag zur Lehre der Contracturen und Ankylosen im Kniegelenk etc. 115 

sultate erzielt, nur einmal wurde die Tenotomie in einem von mir* 
behandelten Falle gemacht; der Flexionswinkel betrug 80^: Semi- 
membranosus und Semitendinosus sowie Biceps wurden offen durch¬ 
schnitten und in 3 Wochen war das Bein vollkommen gestreckt. 
Die Behandlungsdauer schwankte zwischen 3 und 10 Wochen. 

Sodann möchte ich als weiteres Verfahren zur Beseitigung der 
Deformitatsstellungen im Knie das der etappenförmigen Gipsver¬ 
bände, wie es Wolff für das Genu valgum angegeben hat, er¬ 
wähnen. Das jedesmal erreichte Resultat der Streckung wird durch 
den Verband fixirt. Am besten bedient man sich hierbei des von 
Krause angegebenen und von Gross beschriebenen Apparates, der 
äusserlich dem bekannten Rizzoli’schen Osteoklasten gleicht, dessen 
Schraube aber nicht durch Druck, sondern durch Zug mittelst zweier 
Bindenzügel auf den Scheitel des Contracturwinkels wirkt. 

Dieser langsamen und allmählichen Beseitigung bestehender 
Contracturen steht nun die brüske, die forcirte Streckung, das Brise¬ 
ment forc^ gegenüber, mit dem man in einer Sitzung das erreichen 
will, was man dort nachgerade zu erreichen suchte. Bei der An¬ 
wendung dieses kann man gar nicht vorsichtig genug sein, da es 
nicht so ungefährlich ist, wie man früher anzunehmen pflegte. 
Jedermann weiss heutzutage, wie nach einem solchen leicht Recidive 
der überstandenen Erkrankung eintreten, wie sich eitrige Entzün¬ 
dungen entwickeln können, und es bei Ausführung derselben leicht 
zu Zerreissungen der Haut, der Nerven, der Gefässe, zu Verletzungen 
der Knochen — findet der Bruch nahe am Gelenk statt, so ist das 
Unglück nicht gross —, zu Epiphysenlösungen u. dergl. m. 
kommen kann. 

Bei Schrumpfung der hinteren Kapsel wand kann das Redresse¬ 
ment auch sehr unangenehme Folgen haben. Denn denken wir uns 
die Tibia an der hinteren Partie der Oberschenkelcondylen fixirt, und 
versuchen wir die Streckung, indem wir den Unterschenkel als Hebel 
benutzen, so muss sich die Tibia um den an den Condylen gewonnenen 
Fixationspunkt drehen und kann nicht nach vorn gleiten. Wenn 
sich nun die hintere Kapsel dehnt, oder wenn sie zerreisst, so muss, 
wie Hueter richtig betonte, eine Subluxation der Tibia eintreten. 
Reisst oder dehnt sich die Kapsel nicht, so drückt der vordere Rand 
der Tibia auf die Oberschenkelcondylen, und es kann auf diese 
Weise, zumal bei Knochen, welche erkrankt oder durch lange Ruhe 
atrophisch geworden sind, leicht zu Zertrümmerungen der Gelenk- 


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116 


August Blencke. 


enden kommen, und zwar trifft dies meist die Tibia, die bis zur 
Tuberositas einknicken kann, seltener die Condylen, wobei dann der 
vordere Rand der Tibia in dieselben eindringt. Die Subluxations¬ 
stellungen sind aber, wie schon erwähnt, sehr ungünstig für den 
späteren Gebrauch des Gliedes. 

Um nun bei vorhandener Subluxationsstellung der Tibia das 
Stehenbleiben derselben an der hinteren Seite des Femur zu verhüten, 
wird man zunächst von der Kniekehle aus alle erreichbaren Hinder¬ 
nisse durch trennen, sodann aber auch bei der Streckung die Tibia 
im Bogen über die Condylen des Femur nach vorn zu heben trachten. 
Dies geschieht nach Heinecke dadurch, dass man, ehe man noch 
den an seinem unteren Ende mit der linken Hand gefassten Unter¬ 
schenkel durch Zug streckt, mit der von hinten her den Unter¬ 
schenkel oberhalb der Wade umfassenden rechten Hand den oberen 
Theil der Tibia kräftig nach vom zieht, ein Verfahren, das nicht 
allzu einfach ist und uns des öfteren bei erheblichen Deformitäta- 
stellungen im Stich lässt. Auch hierbei müssen wir immer be¬ 
rücksichtigen, dass wir nicht einfache Hebelwirkungen auszuführen 
haben, sondern dass dieselben vielmehr mit einem kräftigen Zuge 
am Unterschenkel in der Richtung der verläugerten Oberschenkel¬ 
achse verbunden sein müssen. 

Dass das Brisement forc^, auch noch so vorsichtig und schonend 
ausgeführt, zum mindesten bei durch langes Krankenlager rareficirtem 
und verfettetem Knochensystem durchaus kein so unbedenklicher 
Eingriff ist, wie man früher glaubte, das beweisen am besten die 
von Payr erst kürzlich zusammengestellten Fälle, denen er noch 
einige selbst beobachtete anschliesst, bei denen nach dem Brisement 
forcä der Tod infolge einer durch die Section bestätigten Fettem¬ 
bolie eingetreten war. Deshalb hält es Payr für geboten, vor der 
Anwendung desselben immer auf den Allgemeinzustand zu achten, 
da er einen Zusammenhang zwischen Tod durch Fettembolie und 
Status thymicus seu lymphaticus für nicht unmöglich hält, in¬ 
sofern vielleicht der letztere günstigere Resorptionsbedingungen für 
das Fett auf dem Wege der Lymphbahnen setze, die ja doch, wie 
bekannt sein dürfte, ausser den zerrissenen Venen, auch die Fähig¬ 
keit haben, flüssiges Fett in grossen Tropfen aufzunehmen und zu 
befördern, und zwar sind es erwiesenermassen nicht etwa nur die 
zerrissenen Lymphgefässe in der Umgebung des Verletzungsheerdes, 
sondern auch die unverletzten. 


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Ein Beitrag zur Lehre der Contractoren und Ankylosen im Kniegelenk etc. 117 

Auf nachstehender Tabelle habe ich die in der mir zugäng¬ 
lichen Literatur gefundenen Fälle, in denen der Tod an Pettembolie 
nach einem Brisement eintrat, zusammengestellt. Nicht mitaufgeftihrt 
habe ich den von Wahn kau veröffentlichten Fall, da bei diesem, 
wie der Autor berichtet, absichtlich Infractionen von Knochen herbei¬ 
geführt worden waren, er also zu den nach Fracturen sich ereignen¬ 
den Fettembolien gehört, während die übrigen sich nur auf aus- 
geführte Redressements beschränken. 


Nr. 

Veröffent¬ 
licht von 

Patient 

Ursache und 
Grad der 
Deformität i 

Operation 

Resultat 

1 

1 Ahrens. 

53jährige 

Patientin. 

Fast rechtwink¬ 
lige An^lose 
beider Knie¬ 
gelenke. 

Nach vorange¬ 
gangener Eirten- 
sion Bris. force. 

t 3 Tage post 
operationem an 
Fettembolie bei¬ 
der Lungen. 

2 

Colley. 

26jähriges 

Mädchen. 

Wegen Genu val- 
gum Osteotomie. 
Später Steifheit 
der Kniegelenke. 

Bris. force. 

t 14 Stunden 
post operationem 
an Fettembolie. 

3 

Der* j 
selbe. 

ISjähriges 

Mädchen. 

Nach Tuber- 
culose Hüfte in 
Adduction fizirt; 
Kniegelenk im 
Winkel von 145® 
flectirt und sub* 
luxirt. Fuss in 
Flexionscontrac- 
tur. 

Bris. force der 
Hüfte und des 
Fusses. 

t. Ziemlich ver¬ 
breitete Fett¬ 
embolie der Lun¬ 
gen. 

4 

Eberth. 

19jähriges 

Mädchen. 

An allen Extremi¬ 
täten Contrac- 
turen. 

Bris. forcä bei¬ 
der Kniegelenke. 

t 20 Stunden 
post operationem 
an Fettembolie. 

5 

Lym- 

pius. 

71jährige 

Frau. 

Spitzwinklige 
Contractur bei¬ 
der Kniegelenke. 

Bris. forc^. 

t während der 
Operation. Fett¬ 
embolie der Lun¬ 
gen. 

6 

Payr. 

löjähriges 

Mädchen. 

Osteomyelitis. 
Flexionswinkel 
= 140®. Keine 
Beweglichkeit im 
Kniegelenk. 

Bris. forc4. Am 
14. August 1897. 

t 15. August 
1897. Fett¬ 
embolie der Lun¬ 
gen. 

7 

Der¬ 

selbe. 

15jähriges 

Mädchen. 

Beide Füsse in 
Supinationsstel- 
lung und Plan¬ 
tarflexion. 

Redression der 
Füsse. 

t an Fettembolie. 


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118 


August Blencke. 


Angesichts aller dieser eben genannten Gefahren können wir 
nur dringend empfehlen, diese Operationsmethode nicht mehr anzu¬ 
wenden und sie bei Seite zu setzen, zumal da wir sie vollkommen 
entbehren können, weil wir andere Methoden besitzen, die rasch 
und ebenso gut zum Ziele führen und dabei ungefährlicher sind wie 
jene. Jedenfalls ist es entschieden für alle die Fälle zu verwerfen, 
die sich an eine Entzündung des Gelenks angeschlossen haben und 
vor allen Dingen bei denen, bei denen der ursächliche Process noch 
nicht ganz abgelaufen ist. 

In allen den Fällen hochgradiger Contracturen nun, bei denen 
wir mit Schienen und Extensionen allein nicht zum gewünschten 
Ziele kommen, müssen wir lieber zum Messer greifen und den ope¬ 
rativen Weg einschlagen. 

Bei Narbencontracturen schwereren Grades werden je nach 
der Schwere des betreffenden Falles quere Durchtrennungen, Y-förmige 
Plastiken, Excisionen mit nachfolgenden Thiersch'schen Trans¬ 
plantationen oder Einpflanzungen gestielter Hautlappen aus dem 
anderen Beine ausgeführt, wie dies auch für die Narbencontracturen 
anderer Gelenke schon des öfteren beschrieben ist. Krukenberg 
räth, da ja die transplantirten Hautstücke auch eine starke Neigung 
zur Schrumpfung haben, so dass also sehr leicht Recidive eintreten 
können, vor allen Dingen bei der Operation darauf zu achten, dass 
man eine möglichst ausgiebige Stellungscorrectur vornimmt und 
dafür sorgt, dass das umgebende Gewebe vollständig gelockert ist. 

Sodann ist in vielen Fällen die Durchschneidung der Weich- 
theile, die das Hinderniss abgeben, auszuführen und vor allen Dingen 
die Durchschneidung der Muskeln, d. h. die Teno- bezw. Myotomie 
und zwar die offene. Ihrer absoluten Harmlosigkeit wegen gebührt 
ihr nicht nur vor den übrigen gewaltsamen Geraderichtungen mit 
ihren Gefahren der Neben Verletzungen der Vorzug, sondern auch 
vor der subcutanen Durchschneidung, weil einestheils der neben der 
Bicepssehne liegende Nervus peroneus unter das Messer kommen 
könnte und weil anderentheils fast immer noch verkürzte Fascien- 
partien zu durchtrennen sind, die man von einem kleinen Einstich 
aus nicht gut erreichen kann. Mit diesen Tenotomien sollte man 
nicht allzu sparsam sein und sie des öfteren, wie schon bereits er¬ 
wähnt, mit den anderen Methoden verbinden; sie sind eine kleine 
ungef ährliche Complication der Operation und erleichtern die Nach¬ 
behandlung ungemein. 


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Elin Beitrag zur Lehre der Contracturen und Ankylosen im Kniegelenk etc. 119 

Bei den 158 Fällen wurde 28mal die offene Durchschneidung 
der Weichtheile ausgeführt, und zwar genügte dieselbe in 11 Fällen 
allein, die bestehende Deformitätsstellung zu beseitigen. 17mal 
wurde sie gleichsam als Hilfsoperation einer anderen Operation 
Yorausgeschickt bezw. angeschlossen; von diesen 17 fallen allein 11 
auf 22 bogenförmige Resectionen, die anderen 6 sind auf die übrigen 
Methoden zu vertheilen. Da nun aber in vielen Fällen von diesen 
158 sich nur eine ganz kurze Bemerkung in Bezug auf die Operation 
befindet — Resection, Osteotomie etc. — und jede nähere An¬ 
gabe über die Ausführung derselben fehlt, so dürfen wir wohl ge¬ 
trost annehmen, dass sich noch mehr als 28 Fälle unter diesen 158 
befinden, bei denen daneben auch noch die Tenotomie ausgeführt 
wurde. Meist sind es von den Muskeln der Semimembranosus und 
-tendinosus und der Biceps, die durchschnitten werden müssen. Es 
wird ein Längsschnitt auf die sich anspannenden Muskeln angelegt, 
die Haut zu beiden Seiten weggezogen und die Sehne stumpf heraus- 
präparirt und mit dem Tenotom durchschnitten. Darauf wird die 
Wunde sogleich wieder vernäht. 

Handelt es sich natürlich um wirkliche Ankylosen, so können 
wir die Deformität nur beseitigen, wenn wir den Knochen angreifen 
und ihn durchtrennen. Derartige Operationsverfahren, durch die 
wir dies erreichen können, sind die 0.steoklase, diejineäre und keil¬ 
förmige Osteotomie, die bogenförmige und die Keilresection und die 
eigentliche Resection selbst. 

0liier war wohl der erste, der für Ankylosen mit geringem 
Flexionswinkel die supracondyläre Osteoklase empfahl, jedoch schränkte 
er ihre Anwendung insofern ein, dass die vorangegangenen Processe 
keine infectiösen gewesen sein sollten. Auch wir möchten rathen, 
falls man dieselbe überhaupt noch anwenden will, sie nur bei völliger 
Ausheilung des der Deformität vorangegangenen Krankheitsprocesses 
auszuführen, da sonst die Gefahr besteht, dass die Erankheitskeime 
aus versteckten eitrigen oder tuberculösen Heerden zu neuer Infection 
wachgerufen werden könnten. 

Man führt dieselbe dicht oberhalb der Condylen aus und, da 
man beim manuellen Redressement die Sache nicht so in der Gewalt 
hat und deshalb die Fractur oft früher oder an anderer Stelle, als 
es erwünscht ist, erfolgt, so hat man, um allen diesen Uebelständen 
und Gefahren aus dem Wege zu gehen und um die anzuwendende 
Gewalt reguliren und in den richtigen Bahnen halten zu können. 


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120 


August Blencke. 


die Osteoklase instrumentell zu bewerkstelligen versucht. Mannig¬ 
fache Apparate sind zu diesem Zwecke angegeben worden, die alle 
zu erwähnen mich zu weit führen würde; am besten von allen ist der 
Lorenz'sche Osteoklast; mit demselben ist es uns leicht möglich, 
den Knochen genau an der erwähnten Stelle zu fracturiren. 

Zur Osteoklase hält Lorenz zunächst nur den noch wachsen¬ 
den und deshalb flexiblen, elastischen Knochen der Kinder und halb¬ 
wüchsigen Individuen für geeignet, während er die unelastischen und 
starren Knochen der Erwachsenen nur für die Osteotomie reservirt 
wissen will und zwar aus dem Grunde, weil der auf die Gegend der 
Fracturstelle wirkende, bis aufs höchste gesteigerte Druck zu einer 
Zerreissung und Quetschung der den Knochen bedeckenden Weich- 
theile führen kann. Lorenz prüft erst den zu brechenden Knochen 
in seinem Apparat auf seine Elasticität hin; lässt er sich ohne Mühe 
hin und her federn, so wird die Osteoklase ausgeführt, zeigt er sich 
aber starr und unbiegsam, die Osteotomie. 

Um die vorhin geschilderten Gefahren des Redressements hier¬ 
bei zu vermeiden, rathen Volkmann und König, die Stellungs- 
correctur nicht in einer Sitzung zu forciren; auch 0liier stimmt 
ihnen bei, namentlich wenn es sich um erheblichere Deformitäts- 
Stellungen mit veralteter Retraction der Weichtheile handelt. Häu¬ 
figere, in 8—10 Tagen wiederholte Stellungsverbesserungen führen 
seiner Erfahrung nach am gefahrlosesten zum Ziel. Ollier geht 
aber in seiner Vorsicht nicht so weit, wie Molli^re und Robin, 
die es nicht einmal für gerathen erachten, die nach dem Bruch ge¬ 
schaffene Möglichkeit der Stellungsverbesserung unmittelbar aus¬ 
zunutzen. 

Jedenfalls ist es nicht empfehlenswerth, die Osteoklase, wenn 
man sie überhaupt noch anwenden will, bei Fällen hochgradiger 
Winkelstellung anzu wenden, schon wegen der narbigen Schrumpfungen 
in der Kniekehle, und ferner weil nach dem Bruch durch das Vor¬ 
drehen des unteren Fragmentes eine neue Deformität entstehen und 
durch die Verkürzung der Extremität das functioneile Resultat stark 
beeinträchtigt werden kann, abgesehen davon, dass nach Ollier’s 
Meinung die Calluseinwirkung und die Consolidation gerade hierbei 
nicht immer in unserer Macht steht. 

Gleichzustellen der Osteoklase ist in ihrer Wirkung die Uneäre 
Osteotomie. Nachdem die Extremität hoch auf ein Kissen gelagert 
ist, wird ohne Blutleere ein bogenförmiger Schnitt über die vordere 


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Ein Beitrag zur Lehre der Contracturen und Ankylosen im Kniegelenk etc. 121 


Fläche des Kniegelenks geführt, der überall auf den Knochen dringt. 
Sodann wird ein etwa 6 cm breiter Meissei aufgesetzt und durch 
die Gelenkknochen in schiefer Richtung nach oben und hinten durch¬ 
geschlagen, was namentlich bei malacischem Knochen sehr leicht 
gelingt. Zum Schluss folgt Correctur und Verband. Auch diese 
Operation kann gleichwie die Osteoklase nur Anwendung finden bei 
nicht allzu hochgradigen Winkelstellungen. Unter 11 Kniegelenks¬ 
ankylosen, bei denen die lineare Osteotomie ausgeführt wurde, be¬ 
trug der kleinste Deformitätswinkel 135®; alle anderen waren grösser 
und trotzdem waren unter den 11 aus der Literatur gesammelten 
Fällen 4 schlechte Resultate verzeichnet. 

Für recht- und spitzwinklige Ankylosen hat St. Germain 
eine Methode angegeben, die aber absolut nicht neu ist. Es ist 
die Macewen'sche Operation für Genu valgum mit geringen, sich 
von selbst ergebenden Modificationen bei derartigen Ankylosen. 

Auch eine Osteotomia cuneiformis oberhalb des Gelenkes ist 
wiederholentlich, namentlich in Frankreich, ausgeführt. 

Alle diese Operationsverfahren können wir missen, da uns weit 
bessere zu Gebote stehen, bei denen nicht das Resultat der Operation, 
wie das bei allen jenen der Fall ist, wo die Durchmeisselung ober¬ 
halb des Kniegelenks vorgenommen wird, nothwendig eine Bajonett¬ 
stellung ist und zwar derart, dass der Unterschenkel gegen den 
Oberschenkel nach vom verschoben erscheint, ein Nachtheil, der durch 
die gleich zu erwähnende Keilosteotomie im eigentlichen Kniegelenk 
selbst vermieden wird. Es ist dies ein Operationsverfahren, das 
allen jenen beschriebenen Methoden vorzuziehen ist. Aus dem Winkel 
der Deformität wird ein keilförmiges KnochenstUck entfernt, dessen 
Grösse natürlich von dem Flexionswinkel des ankylotischen Knie¬ 
gelenks abhängig ist; je grösser der letztere, um so breiter und um¬ 
fangreicher muss der zu resecirende Keil sein. Forgue benutzte 
das von einer knöchernen Ankylose gewonnene Skiagramm, um 
mittelst eines darnach angefertigten Pappmodells vor der Operation 
die Grösse des aus dem Knochen auszuschneidenden Keiles festzustellen. 

Schreiber operirte so, dass er den Sägeschnitt durch das 
Femur vor der hinteren Wand dieses Knochens in den darauf senk¬ 
recht geführten Sägeschnitt durch die Tibia und Fibula münden, 
also den Keil nicht sofort in einer Partie herausnehmend, zunächst 
hinten noch eine Knochenbrticke stehen liess. Er hielt diese Vor- 
sichtsmassregel für richtig, um nicht die Arteria poplitea zu ver- 


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122 


August Blencke. 


letzen, wie es vielleicht wohl auch in einem Falle geschehen 
wäre, in dem dieselbe in einer in der Mitte des unteren hinteren 
Randes der Femurfläche sich zeigenden Lücke der Knochensubstanz 
sehr nahe pulsirte. König und mit ihm die meisten sind wohl 
anderer Ansicht und durchschlagen, ohne eine Gefässverletzung zu 
befürchten, mit einem breiten Meissei den Knochen, bis sie den¬ 
selben in der Kniekehle fühlen. Mit einem feineren Meissei wird 
dann nachgeholfen, ln den Fällen, bei denen infolge der starken 
Retraction der Weichtheile trotz Herausnahme des Knochenkeils eine 
vollständige Streckung nicht möglich ist, muss man noch die offene 
Durchschneidung derWeichtheile hinzufügen. Der Zugang zum Knochen 
wird am besten mittelst eines nach unten convexen Bogetischnittes 
gewonnen; die Sägeflächen werden nach Entfernung des betreffenden 
Stückes wie bei jeder gewöhnlichen Kniegelenksresection an einander * 
gelagert und, sei es nun durch Naht und Nagelung oder sei es ohne 
dieselben zur Heilung gebracht. König bekam immer bei fester 
Ankylose des Gelenkes nach der Keilresection ein festes, gut brauch¬ 
bares Gelenk. 

Ich konnte 26 Fälle aus der Literatur zusammenstellen, bei 
denen wegen winkliger Kniegelenksankylose die Keilosteotomie aus¬ 
geführt wurde; bei allen wurde eine feste knöcherne und gestreckte 
Vereinigung erzielt, 3mal wurde eine Knochennaht angelegt, in 
einem Fall wurde der Knochen genagelt, 6mal wurde die Teno- 
tomie angeschlossen, bezw. vorausgeschickt. Die geringste Deformi¬ 
tätsstellung betrug 130®, bei der grössten lag die hintere Seite des 
Unterschenkels der hinteren. des Oberschenkels vollkommen an. Die 
Deformität wurde vollkommen beseitigt und die Patientin, die früher 
nur mit einer Unterstützungsstelze gehen konnte, ging nach der 
Operation „vortreffhch mit einer erhöhten Korksohle“. 

Aehnlich diesem Verfahren ist die eigentliche Resection, d. h. 
also auch die Herausnahme eines Theiles der hinteren Fläche des 
Knochens, um die Knochen ohne Zerrung der oft hochgradigen 
narbigen Schrumpfungen in der Kniekehle adaptiren zu können, ein 
Verfahren, das oft genug angewendet wird. Ich konnte 56 Fälle 
aus der Literatur zusammenstellen, bei denen die Resection wegen 
Kniegelenksdeformitäten, deren Winkel zwischen 140® und einem 
solchen spitzen schwankte, dass der Unterschenkel dem Oberschenkel 
vollkommen anlag, ausgeführt wurde. Es waren sämmtlich gute Re¬ 
sultate, abgesehen natürlich von der bestehenden Verkürzung. Diese 


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Ein Beitrag zur Lehre der Contracturen und Ankylosen im Kniegelenk etc. 123 

beiden Methoden sind ja entschieden den vorher angeführten, der 
Osteoklase und der Osteotomie, vorzuziehen, da wir sie zunächst 
auch bei den hochgradigsten Deformitätsstellungen anwenden können 
und, wie wir gesehen haben mit gutem Erfolg. Sie liefern immer 
ein brauchbares und festes Glied ohne Deformität, sie entfernen noch 
etwa bestehende Krankheitsheerde und corrigiren zu gleicher Zeit 
die so oft vorhandenen Subluxationen. Wenn man eine gute Nach¬ 
behandlung der Operation folgen lässt, so haben wir auch keine 
Recidive zu befürchten. So ganz ohne wesentliche Nachtheile geht 
es aber auch bei ihnen nicht ab, denn durch diese Verfahren lässt 
sich zwar das Bein auch im schwersten Falle in eine vollständig 
gestreckte Stellung überführen, aber immerhin nur mit einem oft 
beträchtlichen Substanzverlust am Knochen, den Hoffa nach einer 
Eeilexcision dadurch wenigstens einigermassen zu ersetzen suchte, 
dass er den herausgenommenen Keil viereckig zustutzte und den¬ 
selben wieder zwischen die Sägeflächen implantirte. Der interessante 
Versuch ist vollkommen gelungen. 

In den meisten Fällen wird also die schon an und für sich 
bestehende Verkürzung der betreffenden Extremität durch den Ein¬ 
griff noch grösser. Besonders verhängnissvoll ist es aber, dass es 
eben sehr schwierig ist, bei der Operation die Epiphysenknorpel zu 
schonen. Durch Verletzung derselben kommt es bei jugendlichen 
Individuen dann noch ausser der schon durch die Operation gesetzten 
Verkürzung zu einer zweiten progredienten Verkürzung durch Wachs¬ 
thumshemmung. Nach Helfe rieh können auch bei ausgedehnter 
Resection zuweilen die Markhöhle des Oberschenkels eröffiiet oder 
ungleich grosse Knochensägeflächen gebildet werden, wodurch natür¬ 
lich dann die Sicherheit einer festen Heilung in Frage gestellt wird. 

Um alle diese erwähnten Nachtheile zu vermeiden, hat Helfe- 
rich ein viel einfacheres Verfahren angegeben, das alle anderen bei 
weitem übertrifPb und daher als ein grosser Fortschritt in der Technik 
der Behandlung aller Kniegelenksdeformitätsstellungen zu betrachten 
ist: es ist dies die Resection eines nur kleinen bogenförmigen 
Knochenkeils, in geeigneten Fällen nebst ausgedehnter offener Durch¬ 
schneidung der spannenden Fascie und Sehnen in der Kniekehle. — 
Kummer will schon ein Jahr vor Helfe rieh eine knöcherne Anky¬ 
lose des Kniegelenks zwischen Condylus internus tibiae et femoris 
mittelst bogenförmigen Schnittes durchtrennt haben, nachdem er 
vorher die verwachsene Patella mit einem Meissei abgeschlagen 


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124 


August Blencke. 


hatte. — Bevor ich jedoch auf diese Operation und ihre Vortheila 
den anderen gegenüber näher eingehe, möchte ich erst noch die 
Fälle einzeln aufzählen, die ich in der mir zugänglichen Literatur 
angeführt gefunden habe. 

Helferich hat an Knochenpräparaten und Bildern der Kranken 
auf dem 22. Chirurgencongress gezeigt, dass selbst in Fallen von 
rechtwinkliger oder gar spitzwinkliger Knieankylose die Entfemui^ 
von ganz schmalen, bogenförmigen Keilstücken genügt, um eine 
Ghradstellung des Beines zu erzielen. Bei den 22 angeführten Fällen 
handelte es sich nur bei zweien um Flexionsankylosen, die grösser 
als ein rechter waren, in allen übrigen um recht- bezw. spitzwink¬ 
lige, die sogar in 2 Fällen so hochgradig waren, dass der.Unter¬ 
schenkel dem Oberschenkel anlag, und trotzdem wurde bei allen 
ein gutes Resultat erzielt: das Bein war vollkommen gestreckt und 
fest, ohne eine wesentliche Einbusse in Bezug auf seine Länge da¬ 
vongetragen zu haben, weil eben nur wenig Knochen entfernt war. 

Was nun die Technik der Operation anlangt, so wird von 
einem breiten Querschnitt aus die ganze Oelenkgegend an ihrer 
Vorderseite frei gelegt und die Knochen entsprechend ihrer einstigen 
Gelenklinie freigemacht. Sodann wird vom Femur entsprechend 
seiner Gelenklinie eine möglichst schmale Scheibe abgesägt, möglichsi; 
nahe der unteren Femurgrenze, desgleichen auch in analoger Weise 
von der Tibia. Am besten benutzt man hierzu eine Bogensäge, 
deren schmales und dünnes Blatt sehr leicht befestigt werden kann, 
und mit welcher die Operation rasch und leicht selbst dann ausge¬ 
führt werden kann, wenn der Knochen ungewöhnlich hart ist. Nur 
hat man vor allen Dingen darauf zu achten, dass der zu durch¬ 
sägende Knochen vertical steht, und die Säge immer horizontal 
führt wird (Helferich). 

Bei dieser Methode ist nach jenem Autor mit ziemlicher Sicher¬ 
heit eine Verletzung des Epiphysenknorpels zu vermeiden und weit 
sicherer auszuschliessen wie bei der Resection. 

ln einem Falle gelang es Helferich allerdings nicht, den¬ 
selben am unteren Femurende ganz intact zu belassen, weil er mit 
den Sägelinien zu hoch aufwärts kam und weil die Knorpelfuge 
auch nach der subperiostalen Freilegung nicht zu erkennen war. 


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Ein Beitrag zur Lehre der Contracturen und Ankylosen im Kniegelenk etc. 125 




Patient 

Ursache und 
Grad der 
Deformität 

Operation 

Resultat 

I 

Kum¬ 

mer. 

Sjähriges 

Kind. 

Nach Eiterung im 
Kniegelenk 
Flexionsankylose 
im Winkel von 
35® mit Valgus- 
stellung, Aussen- 
rotation u. Sub¬ 
luxation des Un¬ 
terschenkels. 

Bogenförmige 

Osteotomie. 

Heilung in 23 Ta¬ 
gen. Längen¬ 
unterschied bei¬ 
der Beine von 
10 cm auf 1 cm 
reducirt. Beide 
Beine wachsen 
gleichmässig. 

2 

Helfe- 

rich. 

Luise 8., 
9 Jahre 
alt. 

Nach Fall links 
spitzwinklige 
Flexionsankylose 
= 65®. Weitere 
Flexion um 15® 
möglich. Sub¬ 
luxation. 

Bogenförmige 
Absägung sär 
dünner Knochen¬ 
scheiben und 
Tenotomie. 

Am 18. Januar 
1895 mit Wasser¬ 
glasverband ent¬ 
lassen. Am 

4. April gerade 
und fest. 

3 

Q. 

4 

Der¬ 

selbe. 

Emst L., 
9 Jahre 
alt 

Nach Scharlach 
Flexionsankylose 
rechts = 40® mit 
Aussenrotation u. 

Femurverbie¬ 
gung; links =80® 
mit Subluxation. 

Rechts bogen¬ 
förmige Resec¬ 
tion mit Teno¬ 
tomie. Links 
bogenförmige 
Resection. Später 
noch Osteoklase. 

Gut. 

5 

Der¬ 

selbe. 

August 

14 Jahre 
alt. 

NachTuberculose 
rechtwinklige 
Flexionsanl^- 
lose. Unterschen¬ 
kel verkrümmt. 

Bogenförmige 
Resection ohne 
Tenotomie mit 
allmählicher 
Gradstreckung. 

Völlig fest und 
gute Stellung. 

6 

Der¬ 

selbe. 

Wilhelm 

G., 

12 Jahre 
alt. 

Nach Osteomye¬ 
litis rechtwink¬ 
lige Flexionsstel¬ 
lung. 

Bogenförmige 
Resection mit 
Tenotomie. All¬ 
mähliche Grad¬ 
streckung. 

Geheilt. 

7 

Der¬ 

selbe. 

Wilhelm 

B., 

13 Jahre 
alt. 

Wegen Tuber- 
culose Resection. 
Danach recht¬ 
winklige 
Flexionsanky¬ 
lose ; Aussenrota¬ 
tion ; Subluxa¬ 
tion; Patella 
fixirt. 

Bogenförmige 
Resection mit 
Tenotomie. 

Feste gestreckte 
knöcherne Anky¬ 
lose. 

8 

Der¬ 

selbe. 

Karl B., 
13 Jahre 
alt. 

Wegen Trauma 
Resection. Später 
spitzwinklige 
Flexion von 70®. 
Aussenrotation. 

Bogenf. Resection 
mit Tenotomie. 
Die minimale 
Flexion in Nar¬ 
kose gestreckt. 

Vollkommen ge¬ 
rade. 


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126 


August Blencke. 





Ursache und 



Nr. 

Operateur 

Patient 

Grad der 
Deformität 

Operation 

Resultat 


9 1 Der¬ 
selbe. 


10 I Der- 
I selbe. 


11 ! Der- 
I selbe. 


12 


15 


16 

bis 

22 


Der¬ 

selbe. 


13 Der- 
u. I selbe. 

14 


Bra- 

mann. 


Braun. 


Wilhel- 
mine K., 
18 Jahre 
alt. 


Pauline N. 


Gustav M., 
18 Jahre 
alt. 


Otto V., 
10 Jahre 
alt. 


Antonie 

K., 

29 Jahre 
alt. 


Emma 

Sch., 

21 Jahre 
alt. 


7 Fälle im 
Alter von 
6-15Jah- 


Nach Tubercul ose 
links starke 
Flexionsstellung, 
so dass sich Ober- 
u. Unterschenkel 
berühren. Sub¬ 
luxation. Patella 
fixirt. 

Fast unbeweg¬ 
liche Flexions¬ 
stellung von 100®. 
Subluxation. 
Patella fest. 
Hochgi’adige 
Flexion nach Tu- 
berculose. Sub¬ 
luxation; Aussen- 
rotation. 
Nach Trauma 
mittelschwere 
Flexion u. wink¬ 
lige Deformität 
des Femur. 
Nach Rheumatis¬ 
mus links spitz¬ 
winklige knö¬ 
cherne Ankylose 
= 50®. Patella 
fest. Aussenro- 
tation, Subluxa¬ 
tion. Links: An¬ 
kylose =60®. Pa¬ 
tella fest. 
Nach Trauma 
rechts starke 
spitzwinklige 
Flexionsstellung; 
die Wade liegt 
dem Femur an. 
Subluxation. Pa¬ 
tella fest. 

Nach Tuberculose 
Ankylosen ln meist 
rechtwinkliger oder 
spitawinkliger 
Flexion. Tibia snb- 
luxirt lind mit der 
Hinterfl&che der Fe- 
murcondylen fest, 
aber nur 2mal knö¬ 
chern verwachsen. 
2mal ausserdem ad- 
ducirt: Imal aussen- 
rotirt. 


Extension; Teno- 
tomie; Resection. 
Knochennage¬ 
lung. 


Durch Extension 
auf 140® reducirt. 
Bogenförmige 
Resection. 

Bogenf. Res. mit 
Tenotomie. Grad¬ 
streckung in 
mehreren Sitzun¬ 
gen. 

Doppelte Osteo- 
klase; später bo¬ 
genförmige Re¬ 
section. 

Bogenförmige 
Resection mit 
Tenotomie bei¬ 
derseits in einer 
Sitzung. 


Abmeisselung der 
Tuberositas 
tibiae u. Patella. 
Bogenförmige 
Resection mit 
Tenotomie und 
Knochennaht. 

Bogenförmige 

Resection. 


In gerader Stel¬ 
lung fest und 
knöchern fixirt. 


Gut. 


Völlig gerade 
Stellung. 


Geheilt. 


Völlige Heilung. 
Hat Lust zum 
Tanzen. 


Im Apparat voll¬ 
ständig gestreckt 
entlassen. 


Mit knöcherner 
Ankvlose in 
Strecksteilung 
geheilt. 


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Ein Beitrag zur Lehre der Contracturen und Ankylosen im Kniegelenk etc. 127 


Br räth deshalb, den bogenförmigen Keil ganz am untersten 
Femurende zu bilden und auch durch flache Meisseischläge an der 
Oberfläche des Knochens die Abwesenheit oder das Vorhandensein 
der Knorpelfuge an dem für die Resection gewählten Knochenbezirke 
festzustellen. Solche oberflächlichen Verletzungen am Rande des 
Intermediärknorpels sind unschädlich, wie sich Helferich am 
Menschen und bei Experimenten überzeugen konnte. 

Unter Umständen genügt in gewissen Fällen schon neben der 
offenen Durchschneidung der Weichtheile eine einfache Durchsägung 
des ankylosirten Knochens mit einer etwas breiten Säge, um die 
Extremität gerade zu stellen. Auf diese Weise ist es dann natürlich 
noch viel leichter, den Intermediärknorpel zu schonen. 

Auch bei der Entfernung von schmalen Knochenscheiben müssen 
wir des öfteren noch die Tenotomie hinzufügen; so wurde unter den 
22 Fällen dieselbe llmal ausgeführt. 

Die Vorth eile dieser Operationsmethode den andern gegenüber 
liegen klar vor Augen: Zunächst wird durch Entnahme eines nur 
schmalen Knochenstückes die Beinlänge nur wenig alterirt und die 
Verkürzung, die ja schon in den meisten Fällen besteht, wird nicht 
noch obendrein vergrössert, wie das ja in hohem Maasse bei der 
Resection der Fall zu sein pflegt; zu alledem haben wir auch keine 
Wachsthumsverkürzung zu befürchten, da sich ja der Epiphysen¬ 
knorpel leicht schonen lässt. 

Ein weiterer Vortheil ist dann der vor der Keilexcision, dass 
man nicht in einer Sitzung die Deformität ganz auszugleichen braucht, 
sondern dass man die Correction bei aseptischem Wundverlauf auf 
mehrere Sitzungen bei Gelegenheit der in Narkose vorgenommenen 
Verbandwechsel vertheilen kann, wie es z. B. in Fall 5, 6, 8 und 
11 ausgeführt wurde. Dadurch wird nach Helferich die Dehnung 
der nicht durchschnittenen Gewebe milder zu Stande gebracht, was 
seiner Meinung nach für die Nerven gleichgültig sein dürfte, nicht 
aber für die Arteria poplitea, welche zwischen den zunächst ab¬ 
gehenden Seitenästen, also auf umschriebenem Gebiete eine unter 
Umständen beträchtliche Dehnung erfahren muss. 

Sodann kommt als nicht zu unterschätzender Vortheil des bogen¬ 
förmigen Schnittes noch der hinzu, dass breitere Flächen mit ein¬ 
ander in Contact kommen, und dass eben diese bogenförmigen 
Flächen mit ihrer breiteren Oberfläche zur knöchernen Verwachsung 
sehr gut geeignet sind und schon bei der einfachen Adaption in 


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128 


August Blencke. 


gestreckter Stellung eine grosse Festigkeit und UnVerschiebbarkeit 
zeigen, die eine viel grössere ist als bei dem einfachen geraden 
Absagen der Knochen. Die Fixation der Enochenenden macht keine 
oder nur ganz geringe Schwierigkeiten. Unangenehme und gefahr¬ 
drohende Verschiebungen der beiden Knochenenden, wie sie bei der 
gradlinigen Anfrischung wiederholt beobachtet werden konnten, sind 
hierbei ausgeschlossen. Das bis zur Streckstellung corrigirte Bein 
hat eine erstaunliche Festigkeit, wenn man nur die Beugung durch 
eine dorsale Schiene zu verhindern sucht; seitliche Neigungen oder 
Verschiebungen sind wegen der bogenförmigen Berührung der 
Knochen unmöglich. 

Wie wir also gesehen haben, bietet dieses letzte Verfahren so 
mancherlei Vortheile den Resectionen gegenüber und dürfte wohl nach 
Helfer ich auch entschieden der von Hoffa in dem einen Falle aus- 
gefühi*ten Methode mit der Wiedereinsetzung des entfernten Keils schon 
deswegen vorzuziehen sein, weil das letztere in Bezug auf die Technik 
bedeutend schwieriger ist. Es bietet ferner geringere Sicherheit für 
einen glatten Verlauf, es opfert unnöthig Knochensubstanz und ist 
noch dazu bei Kindern wegen des Intermediärknorpels überhaupt 
nicht anwendbar; es gestaltet ausserdem die Nachbehandlung viel 
schwieriger, insofern dass das so operirte und redressirte Bein nichts 
von der Festigkeit eines bogenförmig resecirten darbietet. In seiner 
praktischen Bedeutung ist es also dem Helferich'schen nicht 
gleichzustellen. 

Für alle die Fälle jedoch, bei denen es sich um Ankylosen bei 
noch bestehender oder wahrscheinlich vorhandener Tuberculose han¬ 
delt, möchte ich die Resection vorschlagen, weil sie es uns ermög¬ 
licht, alles Krankhafte wegzuschaflFen, desgleichen auch bei Ankylosen, 
bei denen eine erhebliche Luxation der Tibia nach hinten und Genu 
valgumstellung vorhanden ist. Leichtere Fälle von Subluxations¬ 
stellungen der Tibia können wir auch durch die bogenförmige Re¬ 
section beseitigen; ein Blick auf die Tabelle beweist uns dies zur 
Genüge, denn unter den 22 Deformitätsstellungen befinden sich neben 
der Flexion auch noch IGmal Subluxationen der Tibia nach hinten. 

Demnach können wir als das beste Operationsverfahren für 
winklige Ankylosen im Kniegelenk das Helferich’sche empfehlen; 
denn, um noch einmal alles kurz zusammenzufassen, es beeinträch¬ 
tigt nicht die Länge der Extremität, es beeinträchtigt ferner nicht 
das spätere Wachsthum derselben, es gibt uns die Möglichkeit in 


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Ein Beitrag zur Lehre der Contracturen und Ankylosen im Kniegelenk etc. 129 

die Hand, die Geradestellung des Gliedes allmählich zu bewerk¬ 
stelligen, es bürgt infolge seiner bogenförmigen Knochenflächen für 
die Festigkeit und Unverschiebbarkeit der beiden Knochen zu ein¬ 
ander. 

Ersetzt wird dasselbe durch die Resection bei noch bestehen¬ 
der oder wahrscheinlich vorhandener Tuberculose, desgleichen auch 
bei Ankylosen mit erheblichen Luxationsstellungen der Tibia nach 
hinten. 

Die beste Behandlungsmethode für Contracturen im Kniegelenk 
dagegen ist die mittelst portativer Apparate, in geeigneten Fällen 
verbunden mit der offenen Durchschneidung der sich spannenden 
Weichtheile; denn es verlangt keine andauernde Bettruhe, es gibt 
uns die Möglichkeit in die Hand, die Streckung allmählich und 
ohne Schmerzen in verhältnissmässig kurzer Zeit, während der Patient 
herurageht, zu erreichen und es schliesst somit alle Gefahren, die 
das Brisement forcd mit sich bringt, vollkommen aus. 

Handelt es sich aber um Deformitätsstellungen, bei denen ausser 
der Deformität im Gelenk selbst auch noch eine Verkrümmung des 
Femur bezw. der Tibia zu constatiren ist, so muss letztere ausser¬ 
dem noch durch eine Osteoklase bezw. Osteotomie beseitigt werden. 


Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. VIII. Band. 


9 


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VII. 

Aus der orthopädischen Heilanstalt des 
Dr. med. A. Schanz in Dresden. 

Anfangsstadien der Coxa vara. 

Von 

Dr. A. Schanz. 

Das ausserordentliche Interesse, welches das Kxankheitsbild 
der Coxa vara gefunden hat, ernoiöglichte es, dass wir in wenig Jahren 
mit dem neuerkannten Krankheitsprocess vertraut geworden sind. 
Die überraschendste Erfahrung, welche wir dabei gemacht haben, 
ist die, dass die Coxa vara eine recht häufige Deformität von grosser 
praktischer Bedeutung ist. Leider haben sich die therapeutischen 
Massnahmen, welche bis jetzt zur Correctur der Deformität ange¬ 
wendet worden sind, als wenig erfolgreich erwiesen, und es erscheint 
nach Lage der Sache nicht glaubhaft, dass sich bisher unbe¬ 
gangene Wege auffinden lassen, die zu grösseren Resultaten führen. 
Weit günstigere Aussichten hat die Therapie, wenn sie sich als Ziel 
nicht die Correction der Deformität, sondern die Auslöschung des 
deformirenden Processes setzt. Das Resultat dieser Bestrebung kann 
allerdings immer nur ein Einhalten der Deformirung auf dem je¬ 
weiligen Stand der Deformität sein. Mit diesem Resultat können 
wir uns um so leichter begnügen, je geringere Fortschritte der de- 
formirende Process gemacht hat; völlige Heilung bedeutet dieses Re¬ 
sultat, wenn es im ersten Beginn der Erkrankung erreicht wird. — 
Aus alledem geht hervor, von welcher praktischen Wichtigkeit es 
ist, die Coxa vara in ihren ersten Stadien zu erkennen und zu be¬ 
handeln. 


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Anfangsstadien der Coxa vara. 


131 


Ueber die Diagnose der Coxa vara im Frtihstadium haben bis¬ 
her die Autoren geschwiegen, die veröfiFentlichten Krankengeschichten 
behandeln ausschliesslich vollentwickelte Fälle. Die einzigen An¬ 
gaben, welche sich für die Anfangserscheinungen finden, sind Angaben 
in der Anamnese, welche besagen, dass der Patient seit Jahren un¬ 
bestimmte Schmerzen in der erkrankten Hüfte habe, oder es findet 
sich der Vermerk, dass der Fall früher für eine tuberculöse Coxitis 
gehalten worden ist. Sichere Zeichen und charakteristische Initial- 
erscheinungen werden, wenn nicht ein Trauma eine Rolle spielt, 
niemals angegeben. 

Wenn diese Umstände es von vornherein als nicht gerade 
leicht erscheinen lassen, eine Frühdiagnose der Coxa vara zu stellen, 
der Versuch muss doch gemacht werden. Man kann sich aus unserer 
Kenntniss der fertigen Deformität und ihrer Aetiologie eine grobe 
Skizze des Bildes, welches das Initialstadium bieten muss, wohl 
machen. Die erste Frage ist da die, in welcher Zeit kann eine Coxa 
vara beginnen? Die Antwort darauf gibt die Definition der Coxa 
vara als Belastungsdeformität. (Die Coxae varae aus anderer Ursache, 
z. B. Trauma, kommt hier nicht in Frage.) Ist also die Coxa vara 
die Folge eines Missverhältnisses zwischen statischer Leistungsfähig¬ 
keit und Inanspruchnahme des Schenkelhalses, so ist die Entwickelung 
der Coxa vara so lange möglich, als diesem Missverhältniss entstehen 
kann, d. h. so lange der Mensch überhaupt geht und steht. Be¬ 
sonders leicht wird jenes ursächliche Missverhältniss entstehen können, 
wenn der Knochen sich normaler oder pathologischer Weise in einem 
Zustand besonderer Weichheit befindet, also z. B. im Wachsthums¬ 
alter, bei Rhachitis, Osteomalacie oder bei schlechter Allgemein¬ 
constitution. Kommen dazu noch besondere erhöhte Ansprüche an 
die Tragfähigkeit etwa durch ein Gewerbe, so wird das Leiden um so 
leichter entstehen können. Sehen wir ab von Rhachitis und Osteo¬ 
malacie und ähnlichen Processen, so bleibt uns als Prädilectionszeit 
für den Beginn der Coxa vara das Wachsthumsalter, und in diesem 
werden wiederum eine besonders begünstigte Zeit sein die Jahre, in 
denen die jungen Leute in ihren Beruf eintreten, also ungefähr das 
14. Jahr. Die bisher bekannt gegebenen Anamnesen bestätigen 
im allgemeinen diese Annahme. Ausgeschlossen ist damit aber auf 
keinen Fall die Möglichkeit eines früheren oder späteren Beginns. 
Man kann sogar mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit auf einen häu¬ 
figeren früheren Beginn rechnen, wenn man sich überlegt, dass die 


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132 


A. Schanz. 


Cöxa vära ein .Process derselben Natur wie die Skoliose ist. Die 
Skoliose aber findet den Körper eines 14jährigen bedeutend wider¬ 
standsfähiger, als den eines 6jährigen. Von dieser Ueberlegung aus 
müsste man auch die Coxa vara beim weiblichen Geschlecht häufiger 
erwarten als beim männlichen. Wenn uns die bis jetzt vorliegende 
Statistik auch nur oder fast nur Männer verzeichnet, so ist das 
gegen jene Annahme kein Gegenbeweis. Denn bis jetzt sind in der 
Statistik der Coxa vara nur die schweren und schwersten Fälle ver¬ 
treten, und es wäre wohl möglich, dass das weibliche Geschlecht 
gerade nur unter diesen nicht oder besonders wenig vertreten sei, 
weil dasselbe den excessiven Schädlichkeiten, die zur Erzeugung der 
schwersten Formen gehören, weniger ausgesetzt ist. In einer Sta¬ 
tistik, die, jener entgegengesetzt, nur die leichten Fälle enthielte, 
könnte sehr wohl ein Ueberwiegen des weiblichen Geschlecht« denk¬ 
bar sein. Jedenfalls dürfen wir, wenn wir nach dem Initialstadium 
der Coxa vara fahnden, das weibliche Geschlecht und das Alter, in 
welchem wir die Skoliose am liebsten beginnen sehen, nicht ausser 
Acht lassen. 

Welches sind nun die Symptome, welche wir im Initialstadium 
der Coxa vara erwarten können? 

Objective Symptome können wir nur in Fällen erwarten, welche 
über den ersten Beginn schon hinaus sind. Der Hochstand der 
Trochanterspitze, welcher das charakteristische objective Symptom 
der entwickelten Deformität ist, kann für die beginnende Deformität 
diese Bedeutung nicht haben. Der deformirende Process beginnt 
bei normaler Stellung des Trochanters und er muss schon recht 
bedeutende Fortschritte gemacht haben, ehe der Trochanter einen 
Hochstand erreicht hat, dem eine pathognomonische Bedeutung zu¬ 
kommt. Die Punkte, welche wir zur Bestimmung des Trochanter¬ 
standes benutzen, sind so grob und so variabel und so versteckt, 
dass wir von Trochanterhochstand nicht sprechen können, so lange 
das Maass desselben nicht wenigstens 1 cm ist. 

Früher als der Trochanterhochstand wird sich wohl eine Hal¬ 
tungsanomalie des befallenen Gelenkes bemerkbar machen, und zwar 
als Adductions- und Aussenrotationsstellung. Freilich wird letztere 
nicht in allen Fällen auftreten, wie wir sie nicht in allen Fällen der 
entwickelten Deformität finden; und ersterer wird das Bestreben des 
Patienten entgegenarbeiten, die entstehende Verkürzung und Adduction 
durch Beckensenkung und Abduction auszugleichen. 


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Anfangsstadien der Coxa vara. 


133 


Eine Atrophie der Hüftmusculatur, die wir beim fertigen Fall 
oft finden, wird das Initialstadium nicht erwarten lassen. 

Objective Veränderungen des Ganges fordern die groben ana¬ 
tomischen Veränderungen erst, wenn sie einen recht beträchtlichen 
Grad erreicht haben. Wir wissen z. B. von unseren Repositionen der 
angeborenen Hüftverrenkung, dass recht beträchtliche Varusstellungen 
des Schenkelhalses unter sonst günstigen Verhältnissen ein Hinken 
nicht bedingen. 

Bessere Anhaltspunkte für die Frühdiagnose lassen die sub- 
jectiven Symptome erwarten, d. h. wenn solche überhaupt auftreten. 
Denn es ist durchaus wahrscheinlich, dass sich eine Coxa vara so gut 
wie ein Plattfuss und eine Skoliose entwickeln und hohe Grade er¬ 
reichen kann, ohne jemals subjective Beschwerden zu machen. 
Andererseits ist es aber auch wahrscheinlich, dass ein gewisser Pro¬ 
centsatz charakteristische, subjective Symptome erzeugt, in einer Zeit, 
in welcher objective Symptome noch nicht vorhanden sind. Das 
würde dann den Rückenschmerzen, die den Beginn einer Skoliose 
ankündigen, den Plattfussbeschwerden bei noch völlig normalem 
Fussgewölbe entsprechen. 

In den Fällen, welche subjective Beschwerden machen, werden 
sich diese wohl zuerst zeigen bei Einwirkung der ursächlichen Schäd¬ 
lichkeit, d. h. die Beschwerden werden auftreten, wenn der Patient 
seinen Schenkelhals über dessen Leistungsfähigkeit hinaus belastet. 
Der Patient wird bei längerem Gehen und Stehen, beim Lastentragen 
Beschwerden empfinden, die in der Ruhe wieder verschwinden. Die 
Beschwerden werden wohl als Ermüdungsgefühl beginnen und sich 
bis zu ausgesprochenen, ja bis zu unerträglichen Schmerzen steigern 
können. Nach der Beobachtung, dass sich bei der entwickelten De¬ 
formität häufig Zustände finden, welche dem entzündlichen und dem 
contracten Plattfuss analog sind, und unter der Kenntniss, dass der 
entzündliche und der contracte Pattfuss auch im Frühstadium des 
Plattfusses auftreten können, dürfen wir erwarten, dass jene Zustände 
unter Umständen auch im Frühstadium der Coxa vara auftreten 
können. In diesem Fall würde sich eine Druckempfindlichkeit der 
Gelenkgegend und auch zuweilen eine verschieden starke, musculäre 
Fixation des Gelenkes finden. 

Sobald diese hier beschriebenen Zustände auftreten, werden 
sich diese auch im Gang markiren. Die Patienten werden, wenn 
die Ermüdungsgefühle auftreten, schwerfällig gehen, sie werden aber 


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134 


A. Schanz. 


nicht das charakteristische Latschen des Plattfüssigen, sondern das 
Wiegen des Oberkörpers sehen lassen, welches die Ermüdung und 
die Schwäche der Hüftmusculatur charakterisirt. Werden aus den 
Ermüdungsgefühlen Schmerzen, so werden die Patienten anfangen 
zu hinken. Der Grad des Hinkens wird dann nicht sowohl durch 
die Schwere der anatomischen Veränderungen, als durch die Heftig¬ 
keit der Schmerzen bedingt sein. 

Diese letzteren Fälle werden der beginnenden Coxitis ähnlich 
sein wie ein Ei dem andern; es wird in diesen Fällen die Diagnose 
nur eine längere Beobachtung nach der einen oder nach der anderen 
Seite entscheiden können. Es ist mir nur ein Symptom denkbar, 
welchem diflferentialdiagnostische Bedeutung zukommen kann, das 
ist das gleichzeitige Auftreten der Beschwerden auf der einen oder 
auf beiden Seiten. Während die Coxa vara in den meisten Fällen 
beide Seiten befallen wird, wird die tuberculöse Coxitis nur durch 
einen unberechenbaren Zufall zu gleicher Zeit doppelseitig auftreten. 
Darnach würde unter allen Umständen doppelseitiges Auftreten der 
Beschwerden für die Diagnose Coxa vara sprechen, einseitiges Auf¬ 
treten derselben die Diagnose Coxitis wahrscheinlich machen. Aller¬ 
dings müssen wir beachten, dass die Einseitigkeit der Beschwerden 
die Coxa vara nicht ausschliesst. Denn es ist natürlich möglich, 
dass sich der Coxa vara-Process wenigstens zuerst nur auf einer Seite 
etablirt, oder infolge uns unbekannter Verhältnisse gerade nur auf 
einer Seite Beschwerden macht. 

Ich habe unter diesen Gesichtspunkten nach dem Initialstadium 
der Coxa vara gesucht und glaube dasselbe in einer Reihe von Fällen 
auch gefunden zu haben. Es sind chronologisch geordnet folgende: 

1. Der erste hierher gehörige Fall, den ich zu untersuchen 
Gelegenheit hatte, betraf einen 8jährigen Bauernsohn aus Weibers- 
brunn im Spessart. Der Knabe wurde mir am 11. Juli 1895 in 
Bad Sodenthal, wo ich damals die Zweiganstalt der Prof. Hof fa¬ 
schen Klinik leitete, vorgestellt. Der schlecht genährte schwächliche 
Patient zeigte linkerseits die ausgesprochenen Symptome einer Coxa 
vara mit einem Hochstand der Trochanterspitze von 2 cm. . Er 
hinkte charakteristisch nach der linken Seite. Aber er klagte über 
Schmerzen, welche von der rechten Hüfte nach dem Knie ausstrahlten. 
Erst auf besonderes Fragen gab er an, auch linkerseits Schmerzen, 
aber wesentlich geringer zu haben. Ein objectiver Befund war an 
der rechten Hüfte nicht zu ersehen, üeber die Zeit des Krankheits- 


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Anfangsstadiea der Coxa vara. 


135 


beginns konnte ich nichts Genaues erfahren, nur die Thatsache, dass 
der Knabe, als er laufen lernte, nicht gehinkt habe, war festzu¬ 
stellen. Die Diagnose der linksseitigen Coxa vara wurde von meinem 
hochverehrten Lehrer, Herrn Prof. Hoffa, dem ich den Patienten 
vorstellte, bestätigt. 

Ich wusste mir damals die auffällige Angabe des Patienten, 
dass er bei diesem Befund über Beschwerden der rechten Seite 
klagte, nicht zu erklären und nahm an, dass sich der Patient selber 
täusche, oder dass die Schmerzen der Ausdruck einer besonderen 
Anstrengung des rechten Beines seien, infolge der Schonung des 
erkrankten linken. 

Ich legte dem Patienten linkerseits einen entlastenden Gips¬ 
verband an unter Einstellung der Hüfte in Abduction. Ich entliess 
den Patienten mit der Weisung, wenig zu gehen. Nach 4 Wochen 
wurde er mir wieder vorgestellt. Seine Beschwerden waren ver¬ 
schwunden. lieber das spätere Schicksal des Knaben habe ich leider 
trotz verschiedener Versuche nichts erfahren können. 

Es unterliegt mir heute keinem Zweifel, dass ich diesen Fall 
seiner Zeit in Bezug auf die Erscheinungen an der rechten Hüfte 
falsch beurtheilt habe. Ganz gewiss handelte es sich um eine Coxa 
vara dextra incipiens, bei der sich die subjectiven Symptome eher 
entwickelt hatten, als objective Veränderungen nachweisbar waren. 

Der Erfolg meiner Therapie beweist diese Annahme. Der 
an die linke Extremität gelegte Verband sorgte dafür, dass der Pa¬ 
tient auch dem rechten Gelenk die verordnete Ruhe gemessen 
liess. Der Patient wurde zu den schweren landwirthschaftlichen Ar¬ 
beiten, die er vorher leisten musste, nicht mehr herangezogen. Die 
übermässige statische Inanspruchnahme des Schenkelhalses wurde so 
beseitigt, und mit der Beseitigung des ursächlichen Momentes ver¬ 
schwanden die Folgen. So hatte eine auf falsche Voraussetzungen 
gegründete Therapie einen vollen Erfolg. 

Der zweite Fall, den ich hier anführen will, betrifft ein damals 
9jähriges Mädchen A. G. aus Dresden, Tochter eines Klempner¬ 
gehilfen, welches mir am 19. Februar 1897 vorgestellt wurde. Das 
Kind soll seit früher Jugend hinken. Seit einiger Zeit sei das 
Hinken stärker geworden, zugleich seien Schmerzen im linken Knie 
hinzugekommen, die sich einstellen, wenn das Kind länger als eine 
Viertelstunde auf den Beinen ist. 

Objectiv: Die Symptome einer Coxa vara sinistra . massigen 


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136 


A. Schanz. 


Grades. Der Trochanter markirt sich stärker als rechts. Die 
Trochanterspitze 1—1V» cm über der rechten R.-N.-Linie. Abduction 
leicht beschränkt. Geringe Atrophie der Gesäss- und Oberschenkelmus- 
culatur. Doppelseitiger Plattfuss, keine Andeutung früherer Rhachitis. 

Therapie: Schonung der Hüfte. Massage und Gymnastik der 
Gesäss- und Oberschenkelmusculatur. Die Beschwerden der Pa¬ 
tientin waren bald völlig beseitigt. Das Hinken wurde geringer. 
Bei einer Nachuntersuchung am 10. September 1897 war es nur noch 
für den Kundigen bemerkbar. 

Unterliegt in diesem Fall die Diagnose keinem Zweifel, so ist 
es andererseits nicht leicht für den Fall die richtige Unterabtheilung 
der Coxa vara zu bestimmen. Es könnte dieser Fall eine angeborene 
Deformität vorstellen, es könnte eine rhachitische sein. Wie sich 
das auch verhalte, zu mir führte die Patientin jedenfalls eine Ver¬ 
schlimmerung des Leidens. Die Thatsache, dass solche ohne be¬ 
sondere erkennbare Ursache in diesem Lebensalter Vorkommen, ist 
wichtig festzustellen, denn so gut wie die Verschlimmerung ist in 
diesem Alter und unter diesen Umständen die Entstehung des Leidens 
möglich. Es ist dies ein sehr wichtiger Fingerzeig, den uns dieser 
Fall gibt, und aus diesem Grund führte ich ihn hauptsächlich an. 

3. Fall. Am 22. November 1897 wurde mir Frl. v. L. aus 
Dresden vorgestellt. Die Patientin, ein 17jähriges junges Mädchen, 
stammt aus gesunder Familie, sie präsentirt einen ihrem Alter ent¬ 
sprechenden Allgemeinzustand ohne irgend welche auffälligen Er¬ 
scheinungen. Seit ^/i Jahr hinkt sie, eine Ursache kann nicht be¬ 
zeichnet werden. Im Gang der Patientin zeigt sich ein leichtes, aber 
deutliches linksseitiges Hüfthinken. Dasselbe soll bei längeren Wegen 
deutlicher werden. Objectiv lässt sich nichts nachweisen. Bei 
Aussenrotation der linken Hüfte wird eine Empfindung am linken 
Knie angegeben. 

Die Diagnose musste zwischen Coxitis und Coxa vara incipiens 
schwanken. Nach den geschilderten Fällen schien mir die Diagnose 
Coxa vara wahrscheinlicher. Ich verordnete Vermeidung von An¬ 
strengung der Hüfte durch Gehen und Stehen, sowie Gymnastik 
der Hüftmusculatur. Das Hinken verschwand darauf allmählich 
vollständig. Der Hausarzt theilt mir mit, dass Patientin im Winter 
1900 sehr viel getanzt habe, Beschwerden von Seiten der Hüfte 
seien nie wieder aufgetreten. 

Der 4. Fall betrifft die 13jährige Tochter eines Schuhmachers. 


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Anfangsstadien der Coxa vara. 


137 


Sie wurde mir am 2. Mai 1898 gebracht mit der Angabe, dass sie 
seit Monaten über Schmerzen klage, welche von der Hüfte nach 
dem Knie strahlten; die Schmerzen treten auf, wenn Patientin geht 
und steht, sie schwinden in der Ruhe. 

Die Patientin ist für ihr Alter schon sehr entwickelt. Sie zeigt 
beträchtlichen Fettansatz, breite Hüften, ziemlich starke Mammae, 
menstruirt ist sie noch nicht. Der ganze Körper macht einen ge¬ 
wissen schlaffen Eindruck. 

Objective Veränderungen sind an den Hüften nicht sicher 
nachweisbar. Die rechte Trochanterspitze scheint etwas höher zu 
stehen als die linke, das rechte Bein etwas kürzer. Doch ist die 
Differenz noch innerhalb der Messfehlergrenze. Die Abductions- 
Tähigkeit der rechten Hüfte ist etwas geringer als die der linken. 
Tiefer Druck auf die Gelenkgegend wird beiderseits als empfindlich 
angegeben, ebenso excessive Abductions- und Aussenrotationsbewe- 
gung. Rechts ist die Empfindlichkeit wesentlich stärker. 

Der Gang der Patientin erinnert an einen functionell günstigen 
Fall von doppelseitiger Hüftluxation. Das Schwanken des Ober¬ 
körpers ist nach der rechten Seite stärker. 

Ich legte der Patientin einen fest sitzenden Gipsverband an, 
der Becken und rechten Oberschenkel umfasste, und gab die An¬ 
ordnung, dass Patientin nur wenig gehen und stehen sollte. Phos- 
phorleberthran. Die Schmerzen schwanden rasch. Nach 6 Wochen 
wurde der Verband abgenommen, dann folgte für einige Wochen 
Massage, Gymnastik und Elektrisation der Glutäalmusculatur. Der 
Gang der Patientin wurde rasch normal, sie konnte auch wieder 
längere Wege ohne jede Beschwerde gehen. 

Im Herbst 1898 bekam Patientin ein Recidiv, welches nur die 
linke Hüfte betraf, und welches einer Wiederholung derselben Thera¬ 
pie wich. Patientin ist seitdem gesund geblieben. Bei einer Wieder¬ 
untersuchung am 6. März 1900 lässt sich die geringe Beschränkung 
der Abductionsfähigkeit der rechten Hüfte wieder constatiren. Pa¬ 
tientin bekommt nach besonders langem Stehen leichte Schmerzen 
im rechten Oberschenkel. Stärkere Schmerzen traten bei einem 
Versuch Schlittschuh zu laufen auf. Gang jetzt völlig normal. 

5. Fall: 14. September 1898. A. L., 10 Jahre, Kaufmanns¬ 
tochter aus Dresden. Seit einiger Zeit fällt der Mutter der Gang 
des Kindes auf, jetzt klagt das Kind über Schmerzen in der linken 
Hüfte beim Gehen und Stehen, bei Ruhe schwinden dieselben sofort. 


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138 


A. Schanz. 


Aehnliche Beschwerden waren früher einmal rechterseits vorhanden. 
Sie verschwanden ohne ärztliche Behandlung. Eine Verletzung ist 
nicht vorausgegangen. Hereditäre Belastung bezüglich Tuberculose 
ist nicht vorhanden. 

Objectiv an den Hüften kein sicherer Befund. Die rechte 
Trochanterspitze scheint etwas höher zu stehen als die linke. Starke 
Abductionsbewegungen erzeugen links leichte Schmerzen. Im Gang der 
Patientin zeigt sich ein leichtes Hüfthinken nach der linken Seite. 
Der Allgemeinzustand der Patientin zeigt eine dem Alter entsprechende 
Körperentwickelung, erheblichen Fettansatz und eine gewisse Schlafiflieit. 

Ordination: Vermeidung von längerem Gehen und Stehen. 
Als nach 14 Tagen eine Aenderung noch nicht eingetreten war, 
legte ich der Patientin einen Gipsverband an, welcher Becken und 
Oberschenkel umfasste. Patientin konnte mit diesem Verband sofort 
massige Strecken gehen ohne Schmerzen zu bekommen. Nach 
6 Wochen wurde der Verband abgenommen. Es folgte Massage, 
Gymnastik und Elektrisation der Glutäalmusculatur. Das Hinken 
verschwand völlig. Patientin gebrauchte die Hüfte allmählich immer 
mehr, ohne jemals wieder Schmerzen zu bekommen. Sie ist bisher 
recidivfrei geblieben, obgleich seit ^/4 Jahr auf jede Schonung ver¬ 
zichtet wird. 

Der 6. Fall ähnelt sehr dem 4. Es handelt sich um die 
9jährige Tochter eines verstorbenen Coli egen, die mir am 13. Mai 
1899 in Behandlung gegeben wurde. Das Kind litt seit fast 3 Jahren 
an Beschwerden von Seiten der Hüfte. Ein namhafter Chirurg 
hatte vor über Jahresfrist die Diagnose Coxitis gestellt. Die von 
ihm verordnete Extensionsbehandlung hatte nur vorübergehenden 
Erfolg gehabt. In letzter Zeit waren wieder stärkere Schmerzen 
aufgetreten. Dieselben stellten sich schon bei kurzem Gehen und 
Stehen ein. Sie strahlen von der Hüfte nach dem Knie zu aus. 
Meist sind sie nur auf der rechten Seite vorhanden, doch stellen sie 
sich bei irgend grösseren Anstrengungen in minderem Grade auch 
links ein. 

Die Untersuchung ergibt eine leichte Adductions- und Aussen- 
rotationshaltung des rechten Beines. Der rechte Trochanter steht 
vielleicht etwas höher als der linke. Die Differenz liegt jedoch 
noch in der Grenze der Messfehler. Die Hüftbewegungen sind un¬ 
behindert, starke Abduction und Aussenrotation sind etwas empfind¬ 
lich. Tiefer Druck auf die Gelenkgegend und Schlag gegen den 


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Anfangsstadien der Coxa vara. 


139 


Trochanter machen Empfindung, aber auch linkerseits. Der Gang 
der Patientin ist etwas schwerfällig, ohne deutliches Hinken. 

Der Allgemeinbefund ergibt normale Körpergrösse, das Kind 
ist blass, hat starken Panniculus adiposus. 

Eine 3 Jahre ältere Schwester der Patientin wurde mir zu 
gleicher Zeit vorgestellt. Bei derselben hatte sich im Laufe einiger 
Jahre eine habituelle Luxation der Patellae entwickelt; dabei hatte 
dieselbe ziemlich beträchtliche Genua valga. 

Ich hielt die Diagnose Coxitis, unter der mir das Kind ge¬ 
bracht wurde, nicht für zutreffend. In der Zeit, welche seit dem 
Beginn des Leidens verstrichen war, hätte eine Coxitis höchst wahr¬ 
scheinlich schon deutlichere Symptome producirt. Vor allem sprach 
mir aber die Doppelseitigkeit der Beschwerden für die Diagnose 
»Anfangsstadium der Coxa vara“. 

Ich verordnete demgemäss Ruhe, Massage und Gymnastik der 
Hüftmusculatur und Phosphor. Die Beschwerden schwanden unter 
dieser Behandlung sehr rasch. Eine darauffolgende Soolbadekur in 
Sodenthal bekam der Patientin sehr gut. Nach ihrer Rückkehr 
waren keinerlei Beschwerden mehr vorhanden. Bei wiederholten 
Nachuntersuchungen konnte ich mich von dem Bestand der Genesung 
überzeugen. Allerdings ermüdet die Patientin bei längeren Wegen 
auch jetzt noch schneller als ein gesundes Kind, sie soll darum noch 
jede üeberanstrengung meiden. 

Ein 7. Fall war dem eben beschriebenen ziemlich ähnlich, nur 
mit geringeren Beschwerden. Es handelt sich um die 7jährige 
Apothekerstochter L. S., welche am 29. August 1899 in meine 
Behandlung kam. Die Mutter gab an, dass ihr Kind seit längerer 
Zeit einen eigenthümlich schwerfälligen Gang zeige, dass dasselbe 
schon bei ganz kurzen Wegen über starke Ermüdung klage („die 
Beine thun weh“), das Kind sei ausserordentlich gehfaul geworden. 
Die Ermüdungsschmerzen verlegt das Kind in die Hüftgegenden. 

Die Untersuchung ergibt an den unteren Extremitäten keinen 
pathologischen Befund. Das Kind ist für sein Alter ganz auffällig 
gross und schwer, aber schlaff. Nebenbefund eine leichte Skoliose. 

Ruhe, Massage und Gymnastik der Hüftmusculatur, w^ie in den 
anderen Fällen, schafften entschieden Besserung, so dass die Patientin 
jetzt wieder leicht geht und auch bei grösseren Wegen nicht über¬ 
mässig ermüdet. Ich habe in diesem letzten Fall lange meine Dia¬ 
gnose für zweifelhaft gehalten; erst die andauernde Beobachtung und 


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140 


A. Schanz. 


der Vergleich mit den vorhergehenden Fällen hat mir dieselbe so¬ 
weit als gesichert erscheinen lassen, dass ich den Fall hier anführe, 
lieber jeden Zweifel erhaben kann freilich die Diagnose .nie sein, 
wenn es sich um ein so frühes Anfangsstadium handelt und wenn 
eine Weiterentwickelung des Leidens nicht stattfindet. 

Als 8. Fall könnte ich die Krankengeschichte eines 17j*ährigen 
Gymnasiasten anführen. Aber die Zeit der Beobachtung ist noch 
zu kurz, als dass der Fall sicher beurtheilt werden könnte. Wesent¬ 
liche neue Gesichtspunkte würde derselbe voraussichtlich auch nicht 
bringen. 

Halten wir einen Ueberblick über die geschilderten Fälle, so 
kann zunächst die Diagnose im Fall 1 und 2 keinem Zweifel unter¬ 
liegen. Wir haben in diesen Fällen die sicheren objectiven Sym¬ 
ptome der Coxa vara, wenn sie auch lange nicht so weit entwickelt 
sind, wie in den bisher beschriebenen Fällen allgemein. Es kann 
aber auch keinem Zweifel unterliegen, dass im ersten Fall die 
Diagnose Coxa vara incipiens für das rechte Gelenk, welches objective 
Symptome nicht bot, zutreffend ist. Gerade die Beobachtung der 
objectiv sicher nachweisbaren Deformität und der charakteristischen 
Initialsymptome an einem Patienten ist von hervorragender Wichtig¬ 
keit und sie gibt den Schlüssel für die Beurtheilung der Fälle, 
welche die charakteristischen objectiven Symptome noch nicht zeigen. 
Der Vergleich dieser Fälle mit jenem wird auch bei vorsichtigster 
Beurtheilung Zweifel an der Diagnose kaum bestehen lassen. 

Es dürfte auch schwer sein, jene Fälle unter ein anderes 
Krankheitsbild einzureihen. Die in erster Linie in Betracht kommende 
Coxitis tuberculosa ist durch den Verlauf der Fälle ausgeschlossen. 
Rheumatismus und Gelenkneurose sind wohl die einzigen Diagnosen, 
die sonst noch in Frage kommen. Ich finde für diese beiden Diagnosen, 
die ja auch mehr Worte als Begriffe sind, keine Anhaltspunkte. 

Auf eine eigenthümliche Erscheinung möchte ich noch hinweisen, 
das ist das Ueberwiegen des weiblichen Geschlechtes unter den zu¬ 
sammengestellten Fällen. Ob es sich hier um einen Zufall handelt, 
ob etwa die besondere Vertheilung der Bevölkerungsclassen in meiner 
Praxis, ob andere Momente, wie ich solche oben anführte, eine Rolle 
spielen, lasse ich dahingestellt. Die Zahl der Beobachtungen ist zu 
gering, als dass diesbezügliche Schlüsse daraus gezogen werden 
könnten. 

Ein gewisses Urtheil über die Häufigkeit des fraglichen Krank- 


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Anfangsstadien der Coxa vara. 


141 


heitsbildes wird die Angabe ermöglichen, dass sich die zusammen¬ 
gestellten Fälle auf ca. 1500 orthopädische Patienten vertheilen. 

Für die Frage nach der Therapie der Coxa vara incipiens gibt 
uns die Definition dieses pathologischen Processes eine klare Ant¬ 
wort. Als beginnender Process stellt die Coxa vara die Indication 
der werdenden Deformität. Die Indication der fertigen Deformität 
kommt noch nicht in Frage. Der werdenden Deformität gegenüber 
sind wir in der glücklichen Lage, eine causale Therapie treiben zu 
können. Wir können das causale Missverhältniss zwischen statischer 
Inanspruchnahme und Leistungsfähigkeit des Schenkelhalses aus- 
gleichen, entweder durch Verminderung der Inanspruchnahme oder 
durch Erhöhung der Leistungsfähigkeit oder schliesslich durch eine 
Combination dieser beiden Massnahmen. Die statische Inanspruch¬ 
nahme des Schenkelhalses können wir vermindern durch die Vermeidung 
andauernden Gehens und Stehens, durch stützende Verbände und 
Apparate. Ich bin in letzterer Beziehung mit Oipsverbänden, welche 
Becken und Oberschenkel umfassen, ausgekommen. In schweren 
hartnäckigen Fällen würden entlastende Reitapparate vorzuziehen sein. 

Die Erhöhung der Leistungsfähigkeit des Schenkelhalses ist 
eine Aufgabe, welche wir weniger vollkommen erfüllen können. 
Wir können durch Besserung der Körperconstitution hoflFen, auf den 
localen Process günstig zu wirken. Mehr noch wird Massage und 
Gymnastik der Hüftmusculatur leisten. Wir befördern dadurch die 
Lebensprocesse an der Stelle der Erkrankung und können wohl er¬ 
warten, dass dieselben im gewünschten Sinne corrigirend wirken. 
Ich habe von meinem 2. Fall an bewusst diese Therapie getrieben, 
und habe in allen Fällen von derselben einen vollen Erfolg erhalten. 

Dieser Erfolg gibt in Bezug auf die Prognose eine wichtige 
Lehre insofern, als er besagt, dass es möglich ist, den Process der 
Coxa vara, wenn er frühzeitig erkannt und entsprechend behandelt 
wird, zu völliger Heilung zu bringen. 


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VIII. 


Ein neuer Projectionszeichenapparat für Skoliose 
und gewisse Contracturen. 

Von 

Dr. J. Gerard Milo^ Arzt, 

Orthopädist im Haag. 

Mit 2 in den Text gedruckten Abbildungen. 

Wenig wissenschaftlich en Werth lege ich auf das Messen 
oder Zeichnen einer Skoliose. 

In dieser Hinsicht stehe ich nicht allein^). 

Höchstens für fixirte Skoliose will ich erkennen, dass Messung 
oder Zeichnung einen wissenschaftlichen Werth besitzt. 

Der skoliotische Habitus, sowie die mobile Skoliose, lassen sich 
nicht genau messen; meiner Erfahrung gemäss liegt dies einerseits 
an der Thatsache, dass eine mobile Skoliose oder ein skoliotischer 
Habitus keine absolut bestimmte Form zeigt, andererseits liegt es an 
der Messmethode. 

Weder der Messapparat von Zander, noch der von SchuIt¬ 
hess oder von Heinleth, von welchen dreien der grösste Ruf der 
Genauigkeit ausgeht, und die am meisten bekannt sind, können 
meiner Meinung nach auf diesen Ruf Anspruch nehmen. 

Bei allen dreien (um andere Apparate nur nicht zu erwähnen)*) 
wird der Patient durch Beckengürtel und Pelotten oder Kopfbügel 
mehr oder weniger fixirt. 

’) Prof. Dr. J. Wolff, Auf dem Congress der Deutschen Gesellschaft 
für Chirurgie, April 1897. — Dr. Dolega, Zur Pathologie und Therapie der 
kindlichen Skoliose. (Leipzig, Vogel,) 

Vergl. Prof. Dr. Hoffa, Lehrbuch der orthopädischen Chirurgie. 
(Stuttgart, Enke.) S. 374. 


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Ein neuer Projectionszeichenapparat für Skoliose. 


143 


Dies ist der erste Grund von Fehlern. Ist doch der natürliche 
Ruhestand schon beeinflusst. — Die Messung nimmt wenigstens 
4—5 Minuten bei Zander, 15—20 Minuten bei SchuIthess in 
Anspruch: ein zweiter Grund von Fehlern und — last not least — 
der Patient wird längs seiner Contouren mit Zeichenstift oder Maass¬ 
stäbchen touchiert. — Der bewegliche Skolioticus dreht und ringt 
sich hierbei reflectorisch in Krümmungen, die in seinem natürlichen 
Ruhestand gewiss nicht bestehen. 

Ueberflüssig zu bemerken, dass dieser dritte Grund das Maass 
voll macht. 

Die Messung oder Zeichnung eines skoliotischen Habitus oder 
einer mobilen Skoliose hat mit diesen 3 Apparaten nicht nur keinen 
wissenschaftlichen, sondern sogar keinen praktischen Werth. 

Die Erfahrung hat mich dies reichlich gelehrt. Für die 
fixirten Torsionserscheinungen hat mir Beely’s Stäbchen-Cyrtometer 
bisher ziemlich gute Dienste geleistet. 

Seit langer Zeit benütze ich eine andere Methode, die stereo¬ 
skopische Photographie, welche ich zum Festlegen als Erinnerungsbild 
orthopädischer Fehler nicht genug empfehlen kann. Diese Methode 
ist jedoch auf die Dauer weitläufig, kostet viel Zeit und ist ziemlich 
kostspielig. Sie ist aber wissenschaftlich, und mit Gewissheit kann 
gesagt werden, dass das Bild wenigstens nicht eine pathologische 
Unmöglichkeit darstellt, wenn es eine Momentaufnahme gilt. 

Es hat sich mir aber nothwendig gezeigt, neben dieser Methode 
für täglichen Gebrauch eine andere auszudenken. 

Die folgenden Bedingungen mache ich bei der Darstellung 
des Skolioticus: 

1. Patient in seinem natürlichen Ruhestand, 

2. sehr kurze Messungszeit, 

3. Nachziehen der Körpercontouren und anderen Linien, ohne 
dabei den Patienten zu berühren, 

4. unmittelbare willkürliche Verkleinerung des Bildes. 

Dies alles glaube ich gefunden zu haben in meinem Apparat, 
den ich beschreiben will, und dessen Herstellung mit Inbegriff aller 
zusammenstellenden Theile nur 4 Gulden = Mark 7.— kostet. Hier¬ 
bei erinnere ich noch, dass, wenn ich mich nicht irre, der Preis der 
Apparate von Zander, Schulthess und Heinleth variirt von 
1000—3000 Mark. 

Mein Apparat liefert ein Projectionsbild auf willkürlich ver- 


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144 


J. Gerard Milo. 


kleinerter Scala, und ich benütze bei der Anfertigung die einfachsten 
Gegenstände ^). 



Die Ingredientien, welche ich benütze, sind: Ein hölzernes 
Brettchen, einen Pantographen, eine beinerne Häkelnadel (deren Haken 
entfernt ist) von 25 cm, ein Griff, ein Bleistift und — — eine 
Glasthüre. 


*) Vergl. in dieser Hinsicht: Ein Apparat zur Behandlung des path. Pes 
excavatus und der Plantarcontractur des Klumpfusses von J. Gerard Milo, 
Arzt. Nederl. Tijdschrift v. Geneesk. Deel I Nr. 9. 


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Ein neuer Projectionszeichenapparat für Skoliose. 


145 


An der linken Leiste der Olasscheibe wird das Brett mittelst 
Holzschräubchen gegen das Glas befestigt. Der feste Drehungspunkt 
des Pantographen befindet sich auf dem Brettchen, indem rechts 
vom Drehungspunkt hinreichender Raum bleiben muss, um einen 
Carton, der das verkleinerte Bild aufnehmen muss, mittelst Reiss¬ 
brettnägeln zu befestigen. Der Carton fällt selbstredend innerhalb 
des Cirkelgebietes des Zeichenstiftes. 

Als Stift zum Nachziehen der Contouren der Körper, Schulter¬ 
blatt u. 8. w. wende ich die weisse beinerne Häkelnadel an. Dieses 
erfordert eine nähere Erklärung. 

Durch eine Glasscheibe kann man die Gegenstände, die sich 
hinter derselben befinden, deutlich wahmehmen, zugleich aber zeigt 
das Glas die Eigenschaft, Gegenstände, die vor dasselbe hingestellt 
sind, zu reflectiren. 

Ein Gegenstand, vor eine spiegelnde Platte hingestellt, befin¬ 
det sich scheinbar so viel hinter derselben, als die Entfernung 
des Gegenstandes bis zur Platte beträgt. Der weissbeineme Stift, 
vor das Glas gebracht, zeigt sich also ebenfalls scheinbar hinter dem 
Glas; zu gleicher Zeit sind Einfalls- und Ausfallswinkel gleich gross. 

Bewegt sich der Stift senkrecht über Glas, so befindet sich 
das Spiegelbild immer in der Verlängerung. 

Um nun den Stift immer senkrecht auf das Glas halten zu 
können, liess ich mir einen Griff machen mit breiter Grundfläche. 
Der Stift, senkrecht auf die Grundfläche dieses Griffes befestigt, 
kann nur senkrecht über die Glasplatte geschoben werden. 

Die beiden Eigenschaften der Glasplatte: Durchlassung 
und Reflexion, benützte ich bei meinem Apparate. 

Ich bin also im Stande, einen Patienten, der sich hinter der 
Scheibe befindet, mit dem Spiegelbilde meines Stiftes zu 
touchiren, allen seinen Linien zu folgen, und zu gleicher Zeit 
mittelst des Pantographen, an welchen der Stift verbunden ist, auf 
den Carton in jeder beliebigen Verkleinerung mit dem Zeichenstift 
in Bild zu bringen. 

Hiermit glaube ich die vollkommenste Methode gefunden zu 
haben, um sozusagen, ohne Mitwissen der Patienten, die Contouren 
und Linien, die uns beim Skolioticus am meisten interessiren, ver¬ 
kleinert zu projectiren. 

Die Fehler, welche den gebräuchlichsten Messapparaten an- 
kleben: Fixirung des Patienten und die Berührung seines Körpers 

Zeitschrift für orthop&discbe Chirurgie, vni. Band. 20 


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146 J« Gerard Milo. Ein neuer Projectionszeichenapparat für Skoliose. 

mit dem Zeichenstift, habe ich yennieden; und was die Zeit betrifft 
zur Darstellung, diese beträgt 1 Minute bis 1 Minute 15 Secunden. 

Will man noch weiter gehen und den Garton in regelmässige 
Fächer eintheilen, so kann man durch Zählung der Fächer zu gleicher 
Zeit die wirklichen Maasse ablesen. Will man ein Bild auf der 
natürlichen Grösse anfertigen, so muss der Garton in Felder von 
2x2 mm eingetheilt sein, und entspricht ein Feldchen zu 4 mm^ 
auch 1 cm’ der wirklichen Frontalfläche. 

Ich habe geglaubt, diesen Zeichenapparat in weiteren Kreisen 
bekannt machen zu müssen, weil ich meine, es sei nothwendig, dass 
der Hausmedicus, der seine skoliotischen Patienten anderen zur Be¬ 
handlung übergibt, selber im Stande sein muss, den Success der 
Behandlung controUiren zu können. 

Der Apparat ist so einfach und kostet so sehr wenig, dass 
Anfertigung oder Ankäufen davon für Niemand eine Beschwerde 
sein kann. Dann erst werden Scheinbesserungen und leeres Gerede 
wortreicher Therapeuten, mit Beweisen in der Hand, wenn auch 
nicht wissenschaftlich, dennoch praktisch widerlegt werden können. 
Dann erst wird die Verkennung vom Nutzen einer Skoliosetherapie, 
welche noch bei vielen besteht, wahrscheinlich für immer verschwinden. 

Diesen Artikel schrieb ich und sandte denselben an die Re¬ 
daction dieser Zeitschrift. Seitdem habe ich für mich selbst mit 
Beibehaltung des Essentiellen an Apparaten, das Holzbrettchen, wo¬ 
rauf der feste Drehungspunkt des Pantographen und des Gartons 
zur Aufnahme des Bildes sich beflndet, befestigt an die Leiste einer 
eingerahmten Spiegelglasscheibe von Im’. 

Diese Scheibe kann mittelst Faden und Gatrollen in einem 
grösseren Rahmen auf- und niedergescboben werden. 

Durch diese Einrichtung kann der Apparat für jeden Skolio- 
ticus willkürlicher Grösse gebraucht werden, ohne das Brettchen 
umzuschrauben. Auch bin ich jetzt nicht mehr an den Platz ge¬ 
bunden. Der Preis ist aber bis auf 30 Gulden = 50 Mark gestiegen. 

Weiter bin ich noch damit beschäftigt, mit Hilfe desselben 
Grundsatzes: Reflexion und Durcblassung, anterio-posteriore, 
sowie Horizontalkrümmungen zu zeichnen. 

Auch dieses ist mir schon gelungen. 

Der Apparat eignet sich sehr gut zur Projection von Gontrac- 
turen und Difformitäten von Ellbogen- und Kniegelenk. 


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♦ IX. 


Ans dem St. Johanneshospital zu Boi^ 

(Chirurgische Abtheilung, Chefarzt Herr Geheimrath Prof. Schede.) 


Eine Vervollkommnung des Schede’schen Extensionstisches 
zur Behandlung der Spondylitis. 

Von 

Dr. Karl Togel, Assistenzarzt. 

Mit 1 in den Text gedruckten Abbildung. 

Der von Schede construirte und auf dem mittelrheinischen 
Aerztetag zu Offenbach am 31. Mai 1897 demonstrirte Tisch zur 
Anlegung des Gipscorsets mit Kopfstütze bei Spondylitis ist im 
wesentlichen von ihm in der hiesigen chirurgischen Klinik und dem 
St. Johanneshospital bis jetzt in derselben Form benutzt worden und 
hat seinen Zweck so vollkommen erfüllt, dass eine Aenderung nicht 
angestrebt zu werden brauchte. Ein fühlbarer Mangel trat nur in 
der Art zu Tage, wie der Kopf des Patienten resp. die diesen um- 
schliessende Kopfkappe in dem Tische fixirt wurde. Es geschah 
dies durch Schnüre, die jederseits am Hinterhaupts- und Kinntheil 
der Kopfkappe angriffen und andererseits am vordersten Querrahmen 
des Tisches um einen Zapfen geknotet wurden. Durch diese Schnüre 
wurde der Kopf nach Möglichkeit so gestellt, dass der vom Hinter- 


0 Veröffentlicht in der »Zeitschrift für praktische Aerzte“ 1898, Nr. 14. 


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Karl Vogel. 


hauptsstück der Kappe abgehende, gleichsam dem Zahn des Epi- 
stropheus entsprechende Zapfen sich möglichst zwanglos in die Hülse 
der in den RumpfgipsTerband aufgenommenen Eisenspange einfügt. 
Diese Eisenspange wurde während der Anlegung des Gipsverbandes, 
bis sie selbst fest in denselben aufgenommen war, manuell gegen 
das Hinterhauptsstück angedrängt, um die Fixation dieses Gestänges 
am Gipsverband in möglichst grosser Extensionswirkung auf den 
Kopf zu sichern. 

Wurden dann nach Fertigstellung des Gipsverbandes die Kinder 
aus dem Tisch herausgenommen und auf die Füsse gestellt, so konnte 
trotz vorheriger sorgfältigster Adaption der einzelnen Theile des Ver¬ 
bandes doch nicht selten durch eine einfache Nickbewegung des 
Kopfes der Hinterhauptszapfen einfach aus der Hülse des Rücken- 
theils herausgehoben werden. Wir mussten mehrfach aus diesem 
Grunde das Corset wieder entfernen und bei stärkerem Zug resp. 
richtigerer Einstellung des Kopfes ein neues anlegen. Der Grund 
hierzu ist offenbar ein zweifacher: erstens ist die Befestigung des 
Kopfes am Tisch mit Hilfe der einfachen Schnüre eine mangelhafte. 
Ist es schon an sich nicht immer leicht und stets ziemlich zeitraubend, 
die vier Schnüre in das richtige Spannungsverhältniss zu bringen und 
so dem Hinterhauptszapfen die passende Richtung zu geben, so 
kommt dazu, dass die nicht narkotisirten Patienten — wohl weniger 
aus wirklichem Schmerz, als aus Angst und Unzufriedenheit mit der 
unbequemen Lage — nicht ruhig liegen bleiben und so leicht den 
mühsam zurechtgestellten Kopf in eine andere Stellung bringen. 
Die Folge ist, dass nachher die Stellung des Zapfens zu der ihn 
aufnehmenden Hülse eine fehlerhafte ist und ersterer aus letzterer 
durch einfache Nickbewegung herausgehoben werden kann. 

Ein zweiter Grund für letztere Erscheinung ist wohl der Um¬ 
stand, dass die Streckung der Wirbelsäule nur durch Extension an 
den Beinen geschieht, während Kopf und Arme fixirt sind. Die 
ganze an den Füssen angreifende Zugkraft wirkt also nur auf die 
Lumbal- und untere Dorsalwirbelsäule, von da ab aufwärts vertheilt 
sich der Zug auf die Arme einerseits und die obere Dorsal- und 
Halswirbelsäule andererseits. Der obere Theil der ganzen Wirbel¬ 
säule wird also wesentlich weniger extendirt als der untere, unterhalb 
der Arme gelegene, und es ist leicht möglich, dass nach Fertigstel¬ 
lung des Verbandes das Kind durch active Streckung des Halses und 
Nichtbewegung des Kopfes den Zapfen heraushebelt. 


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Eine Vervollkommiiung des Schede*schen Extensionstisches etc. 149 


Ist nun gar die Halswirbelsäule selbst der Sitz der Erkrankung, 
so ist der Nacbtheil der alten Befestigung von Kopf und Armen 
doppelt gross. 

Herr Bandagist Eschbaum hier hat nun nach meinen Angaben 
einen einfachen Apparat construirt, der zwischen Kopf und vorderen 
Tischrahmen eingeschaltet wird und sowohl die Extension am Kopf 
als die Regulation der Stellung des Hinterhauptszapfens im Sinne 
der Nickbewegung ermöglicht. 

Die Vorrichtung ist folgende: In der Mitte der vorderen Quer¬ 
stange des Schede’schen Tisches ist eine kurze cylindrische Schleif- 
hOlse angebracht (s. Fig.), die in beliebiger Höhe über dem Rahmen 
feststellbar ist und deren Längsachse der Längsrichtung des Tisches 
entspricht. In dieser Hülse, in der Längsrichtung gegen sie ver¬ 
schieblich und durch eine Schraube fixirbar, sitzt die zweite Röhre 
die ihrerseits als Schraubenmutter für eine lange Schraube (c) dient, 
die in ihr durch zwei am peripheren Ende angebrachte Flügel vor- 
nnd zurückgeschraubt werden kann und bei ihrer Bewegung den an 
ihrem centralen Ende befestigten eigentlichen Kopfstellapparat mit¬ 
nimmt — Dieser selbst besteht in folgender Einrichtung: zwei 
Spangen, d und e, die die Form von Halbkreisen mit demselben 
Radius haben, sind mit ihren freien Enden chamierartig verbunden, 
so, dass die Verbindungslinie der beiden Charniere in den gemein¬ 
schaftlichen Durchmesser der beiden Halbkreise fällt. In der Ruhe 
steht der erste Halbkreis ((0 horizontal, mit der OeflFnung nach dem 
Patienten zu, der zweite (e) vertical, senkrecht auf jenem, mit der 
Oeffhung nach dem Boden hin. Dieser zweite verticale Halbkreis 
besitzt beiderseits über das Charnier hinaus eine geradlinige Ver¬ 
längerung von etwa l^s Zoll, an deren Ende aussen ein kleines 
Knöpfchen aufsitzt. Ein gleiches Knöpfchen sitzt auf demselben 
Halbkreis beiderseits etwa P /2 Zoll oberhalb des Charniers. So 
fuDgiren also die beiden Seiten des senkrechten Halbkreises je als 
ein zweiarmiger Hebel, als dessen Drehpunkt das Charnier, als dessen 
Endpunkte die beiden Knöpfchen gelten. 

Der obere, also mittlere Theil des verticalen Bogens be¬ 
deutet nur die Verbindung der beiden Hebel zum Zwecke ihrer 
gleichmässigen Bewegung und hat ausserdem die Bestimmung, 
den ganzen Verticalbogen in beliebiger Winkelstellung zum un¬ 
beweglichen horizontalen festzustellen, indem er mit einer auf 
seiner Höhe angebrachten Oese über einer dritten bogenförmigen 


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Karl Vogel. 


Stange f gleitet und auf ihr mit einer Flügelschraube fixirt werden 
kann. 

Der Gebrauch des Apparates ist nun folgender: Das Kind wird, 
mit der Eopfkappe versehen, auf den Tisch gelegt. An jener wer¬ 
den 4 Schnüre wie früher befestigt, die aber nach oben sich in 



durchlöcherte Lederriemen fortsetzen. Letztere werden mit diesen 
Löchern an den Knöpfchen des verticalen Bogens befestigt, vor¬ 
läufig ohne besondere Extension. Dann wird die Röhre h in der 
Hülse a soweit nach vorn gezogen, dass die Schnüre sich spannen. 
Nachdem nun noch Arme und Füsse in der früher beschriebenen 
Weise befestigt sind, die Arme jedoch nur locker, werden gleich¬ 
zeitig die Kurbeln, die die Beine extendiren und die Flügelschraube, 
die den ganzen Kopfstellapparat nach vorn verrückt, angedreht und 
so der Zug auf die ganze Wirbelsäule gleichraässig vertheilt. Ist 
die nöthige Extension erreicht, so wird der Bogen e in diejenige 
Winkelstellung gegen den Bogen d gebracht, die der richtigen Stel¬ 
lung des Hinterhauptszapfens entspricht. Denn es ist klar, dass bei 


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Eine Vervollkommnung des Schede'schen Extensionstisches etc. 151 


Drehung des Bogens e um das Gfaarnier nach links (s. Fig.) der 
Kopf eine Nickbewegung nach der Brust zu, bei Drehung nach rechts 
eine Elevation nach dem Nacken hin macht. Die gewünschte Stel¬ 
lung wird durch die am Bogen e angebrachte Schraube fixirt. Jetzt 
wird der Oipsverband angelegt und in diesen in der früheren Weise 
das Rückenstück auf genommen. Letzteres ist in allerletzter Zeit 
mehrfach mit Gr^maill^re zum späteren allmählichen Höherstellen 
des Kopfes versehen worden. 


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Referate 


S ch u b e r t, Ueber Steilschrift und Schrägschrift. Bericht über die vergleichen¬ 
den Untersuchungen zwischen Steilschrift und Schrägschrift in den 
Schulen Nürnbergs vom Jahre 1890—97, erstattet an das kgl. bayerische 
Ministerium des Innern. 

Sch u bert stellte auf ministerielle Verordnung hin seine Untersuchungen 
an einem vollen Jahrgang der Nürnberger Volksschulen an in der Weise, dass 
er den im Herbst 1890 in die Schule eingetretenen Jahrgang bis zum Austritt 
aus der Volksschule im Juli 1897 durch alle Classen hindurch beobachtete. 
Es handelte sich darum, festzustellen, ob die schräge Mittellage des Heftes mit 
Schrägschrift, oder die gerade Mittellage mit Steilschrift für Wirbelsäule und 
Auge zuträglicher sei. Die Frage: Seitwärtslage des Heftes oder Mittellage? 
ist für den Verfasser bereits definitiv durch die Congresse etc. in den 80er 
Jahren zu Gunsten der Mittellage entschieden. Da bei beiden Arten der Me¬ 
dianlage des Heftes die Grundstriche senkrecht zum Pultrand aus der Feder 
fliessen, vereinfachte sich die zu lösende Aufgabe kurz dahin, zu untersuchen, 
«welchen Einfluss der Zeilenverlauf auf die Körperhaltung und das Auge des 
Schreibenden ausübt“. Auf einfache, aber sehr zweckentsprechende und präcise 
Weise wurde die Neigung von Kopf und Schulter nach links oder rechts und 
sodann die Vorbeugung von Kopf und Rumpf gegen das Heft gemessen mit 
folgenden Ergebnissen: Symmetrische Kopfhaltung wird bei Steilschrift etwa 
2 V 2 nial so oft gefunden als bei Schrägschrift und bei letzterer bewahrten kaum 
symmetrische Schulterhaltung, während dies bei mehr als der Hälfte der steil¬ 
schreibenden Kinder der Fall war. Die Schulterhaltung war übrigens in beiden 
Gruppen besser als die Kopfhaltung. Bei der Kopfhaltung Hess sich nicht 
nur die grössere Häufigkeit, sondern auch ein höherer Durchschnittsgrad der 
Linksneigung bei Schrägschrift eruiren. Was die Vorbeugung anlangt, so er¬ 
gab sich auch hier ein Unterschied zu Gunsten der Steilschrift, bei welcher 
die Augen einen grösseren Arbeitsabstand zeigten, als bei der schrägen Mittellage. 

Die Untersuchungen auf Kurzsichtigkeit ergaben Folgendes: Die Kinder 
mit reiner Steilschrift wiesen 11,7 j^^e mit reiner Schrägschrift 15,3 und 
die mit wechselnder Schreibweise 12,8% Myopie auf. Verfasser gibt dann für 
diese verschiedenen Folgen der Steil- und Schrägschrift noch scharfsinnige 


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Referate. 


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Erklärangen, berücksichtigt auch in umfassender Weise die Ergebnisse ander¬ 
weitig Torgenommener ähnlicher üntersnchungen und anerkennt zum Schlüsse 
als eine berechtigte Forderung der Schulgesundheitspflege ^ dass die gerade 
Mittellage mit Steilschrift wegen der mit ihr verbundenen besseren Schreib- 
baltung zur allgemeinen Einführung gelange. 

Eine vollständige Literaturzusammenstellung ist der interessanten Arbeit 
beigefügt. E h e b a 1 d -Würzburg. 

Polyarthritis chronica villosa und Arthritis deformans. Von Professor Dr. Max 

Schüller in Berlin. Berliner klinische Wochenschrift Nr. 5—7, 1900. 

Verfasser hält es für durchaus unberechtigt, wie Bänmler es thut, 
beide Krankheiten zusammenzuwerfen, da sie sowohl ätiologisch wie patho- 
logisch anatomisch, wie nach ihren therapeutischen Indicationen durchaus von 
einander zu trennen sind. 

Die Polyarthritis chronica villosa hält Schüller für eine durch 
einen hantelförmigen Bacillus verursachte Infectionskrankheit. Er wies diese 
Bacillen in sämmtlichen 20 von ihm operirten Fällen an ausserordentlich zahl¬ 
reichen Präparaten mikroskopisch in Zotten und in dem Synovialgewebe nach. 
Er cultivirte diese Bacillen und es gelang ihm, bei Kaninchen den gleichen 
zottenbildenden Krankheitsprocess zu verursachen durch directe Injection von 
Culturen dieser Bacillen in das Kniegelenk. 

Bei der Arthritis deformans sind die Verhältnisse der Pathogenese ganz 
andere. Der Process spielt sich nicht an der Synovialis ab, sondern an den 
Belagknorpeln der Gelenkenden. 

Die Krankheit wird nicht durch Bacillen verursacht, wenigstens wurden 
bisher niemals Mikroorganismen gefunden. Der Arthritis deformans liegt viel¬ 
mehr eine StofTwechselstörung zu Grunde, die zum Theil ihren Ausdruck flndet 
in einer abnormen Ausscheidung und Localisirung der Kalksalze in den 
knorpelig-knöchernen und weichen Theilen der Gelenke wie in der auffällig 
herabgesetzten Kalkausscheidung im Harne. Schüller weist zum ersten¬ 
mal auf mikrochemischem Wege an zahllosen vergleichenden Präparaten diese 
Kalkablagerung nach. Seine Untersuchungsmethoden müssen im Original 
nacbgelesen werden. 

In der Behandlungsweise sucht Schüller bei der Arthritis deformans 
durch geeignete Diät, kalkarme Nahrung, wenig Milch, im Gegensatz zu Min¬ 
kowski, die Kalkausscheidung durch den Urin zu steigern, und erreichte 
auch nach 4 Monaten z. B. eine Steigerung von 0,0796 g pro die auf 0,255 g 
pro die! So wurde selbst in hochgradigsten Fällen stets eine Besserung er¬ 
zielt. Während die gleiche Behandlung bei Polyarthritis chronica villosa voll¬ 
kommen versagte. 

Bei dieser Erkrankung empflehlt Schüller sterilisirte Injectionen von 
Guajakol-Jodoformglycerin zu machen. In vielen Fällen erzielte er eine Jahre 
lang andauernde Besserung. Die operative Behandlung habe den Nachtheil, 
dass ihr Erfolg nur gesichert wird durch eine langwierige systematische Nach¬ 
behandlung. In letzter Zeit wurde statt des Guajakol Thiocoll für die Injec¬ 
tionen verwandt, mit ebenfalls gutem Erfolg. Diese Injectionsbehandlung bei 
Arthritis deformans angewandt, versagte vollkommen. Dr. Peter-Bade. 


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Referate. 


Chronischer QelenkrheumatUmus und Arthritis deformans. Von Dr. Ernst 
Müller in Stuttgart. Medicinisches Correspondenzblatt des württem- 
bergischen ärztlichen Landesvereins, Bd. 69 Nr. 47 und 48. 

Verfasser bespricht eingehend die beiden Krankheitsgruppen von der 
klinischen, anatomischen und ätiologischen Seite. 

Er kommt zum Resultat, dass eine scharfe Scheidung beider Krankheiten 
nöthig sei, aus wissenschaftlichen und praktischen Gründen. 

Der chronische Gelenkrheumatismus gehöre in die Behandlung der 
inneren Mediciner und Badeärzte. 

Die Arthritis deformans müsse mehr «äusserlich** mit zweckmässiger 
Gymnastik behandelt werden. Di*. Peter-Bade. 

Eulenburg, Neues Instrumentarium zur Anwendung der Vibrationsmassage. 
Deutsche medicin. Wochenschrift 1900 Nr. 10 S. 165. 

Eulenburg hat einen neuen Apparat zur Ausführung der Vibrations¬ 
massage angegeben, welcher besser als die bisherigen einen allmählichen An¬ 
trieb gewährleisten und sowohl rotirende wie stossende Bewegungen der Achse 
ermöglichen soll. Der rotirende Körper wird bei dem Apparat durch einen 
nur wenig excentrischen Hohlraum gebildet, in dem sich ein bestimmtes Quan¬ 
tum Quecksilber dicht abgeschlossen beündet, welches sich beim Inbetriebsetzen 
vom Boden des Hohlraums allmählich seitlich an den änssersten Punkt der 
Peripherie desselben fortbewegt. Die stossenden resp. rotirenden Bewegungen 
werden dadurch möglich gemacht, dass man die verschiedenen Ansatzflächen 
in jedem beliebigen Winkel zur Achse anbringen kann; zur Abschwächung der 
Bewegungen dienen Ansätze mit elastischem Stiel. Als Betriebskraft werden 
am zweckmässigsten Elektromotoren verwandt. Der Apparat ist von W. A. 
Hirschmann, Berlin, angefertigt und arbeitet völlig geräuschlos. 

A h r e n s -W ürzburg. 

Wolf*Köln, Ueber traumatische Epiphysenlösungen. Deutsche Zeitschrift für 
Chirurgie 1900, Bd. 54 S. 278. 

Auf der sogen. „Fracturenstation“ des Kölner Bürgerhospitals (Ge¬ 
heimrath Bardenheuer) wurden in den letzten 27* Jahren neben anderen 
525 subcutane Fracturen der grossen Knochen der Extremitäten behandelt. Die 
Diagnostik derselben hat besonders durch die Röntgenuntersuchung in erster 
Linie eine Förderung erfahren. Von diesen 525 Brüchen fallen 424 auf die 
Zeit jenseits des 18. Jahres, also auf eine Zeit, wo keine Epipbysenlinien mehr 
bestehen. 121 betreffen die Wachsthumsperiode und unter diesen 121 befinden 
sich 34 Epiphysenlösungen. Das Verbältniss der Epiphysenlösung zum Dia- 
physenbruch in der Wachsthumszeit stellt sich demnach wie 1:4. Was die 
Häufigkeit der Epiphysenlösungen für sich betriflTt, so steht der Ellenbogen 
mit der Zahl 15 obenan, die untere Tibiaepiphyse folgt mit 7, die obere des 
Humerus und die untere des Radius mit je 5, während die übrigen nur 1- oder 
2mal constatirt sind. Directe Gewalt ist in der Regel die Entstehungsursache, 
indirecte Gewalt nur ausnahmsweise, also umgekehrt, wie man bisher meist 
annabm. Es werden sodann die klinischen Symptome eingehend gewürdigt. Es 
müssen dazu alle in Betracht kommenden Momente in Erwägung gezogen 
werden: Alter, Art der Gewalt, Kenntniss des Verlaufs und der Ossificationszeit 


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Referate. 


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der Epiphysen, Verhalten des benachbarten Gelenks, Verschiebung, abnorme 
Beweglichkeit, Art der Crepitation, Druckschmerz. Da die Ossification der 
Epiphysen bei den jüngeren Individuen noch so wenig entwickelt ist, sind die* 
gelben rOntgographisch nicht darstellbar. Der Satz: „daraus erklärt sich die 
Thatsache, dass Verletzungen der Epiphysenlinien bei kleinen Kindern mit dem 
Rdntgenverfahren nicht nachweisbar sind'% ist nicht ganz streng zu nehmen. 
Es gibt viele Ausnahmen. Trotzdem hat das Röntgenverfahren dem Verfasser 
werthvolle Aufschlüsse gegeben und die Diagnose unterstützt und ergänzt. 

Bei Besprechung der Therapie im allgemeinen werden, unter Hervor¬ 
hebung, dass die Prognose der Epiphysenlösungen als durchaus gut zu be* 
zeichnen ist, als die zwei Bedingungen für gute Heilung hingestellt: 1. Genaue 
Reposition der dislocirten Fragmente; 2. eine ezacte Retention der reponirten 
Fragmente durch geeignete Verbände. 

Im Folgenden werden an der Hand von Krankengeschichten und 30 Rönt- 
genbildem, bei denen durch Retouche die Abnormitäten sehr gut deutlich ge¬ 
macht sind, die Einzelheiten in 6 Kapiteln dargethan. 

1. Die Epiphysenlösung am oberen Ende des Humerus, welche bei Kindern 
fast ebenso häufig ist, wie der Bruch in der oberen Hälfte der Diaphyse. Sie 
bildet hier das Aequivalent für die Luxation, welche bei Kindern so gut wie 
gar nicht beobachtet wird. 

2. Die Epiphysenlösung am unteren Humerusende, von denen 

1. Epiphysenlösung der Epicondylen 6mal, 

2. Lösung sämmtlicher Epiphysen zusammen 6mal, 

8. Lösung der Trochlea mit dem Epicondylus extemus Imal, 

4. Lösung der Rotula mit dem Epicondylus internus Imal 
beobachtet wurde. 

Genaue Reposition der Fragmente, eventuell in Narkose, geeignete Re¬ 
tention mittelst Extension, und keine zu lange Ruhigstellung des Gelenkes 
werden mit Recht als die 3 Momente bezeichnet, von denen die Prognose der 
Verletzung abhängt, die im allgemeinen ungünstig ist. 

3. Die Epiphysenlösung am unteren Radiusende, welche bezüglich der Häufig¬ 
keit zum typischen Radiusbruch während der Wachsthumszeit sich wie 1:3 verhält. 

4. Die Epiphysenlösung des Oberschenkelhalses, von denen 2 Fälle zur 
Beobachtung kamen. 

5. Die Epiphysenlösung am unteren Femurende, 1 Fall 

6. Die Epiphysenlösung am unteren Ende der Tibia, welche 80 Vo darstellte 
unter den Knochenverletzungen, welche die untere Hälfte des Unterschenkels 
zwischen dem 1. und 18. Jahre treffen. 

Wir wollen noch bemerken, dass das Genauere hier nicht angeführt 
werden kann und wir verweisen bezüglich der Einzelheiten auf die auch für 
den praktischen Arzt sehr empfehlenswerthe Arbeit. Gocht-Würzburg. 

Küttner-Tübingen, Die Osteomyelitis tuberculosa des Schaftes langer 

Röhrenknochen. Beiträge zur klinischen Chirurgie 1899 Bd. 24 S. 449. 

An der v. Bruns’schen Klinik kamen auf 2127 klinisch behandelte 
f^e von Knochen* und Gelenktuberculose an Extremitäten nur 6 Fälle von 
Osteomyelitis tuberculosa langer Röhrenknochen = 0,28 7o* 


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Referate. 


Küttner unterscheidet zwischen einer primären, im Mark der Dia- 
phjse entstandenen Tuberculose und einer secundären, welche von er* 
krankten Gelenken oder von Spongiosaheerden ausgehend auf den Markkanal 
übergreift. 

Dementsprechend behandelt der 1. Theil der Arbeit die primäre Osteo¬ 
myelitis tuberculosa, ausgehend von einem selbst beobachteten und operirten 
Fall bei einem 12jährigen Mädchen; der Verdacht auf Tuberculose wurde erst 
im Verlaufe der Operation rege. Diese Form der Knochentuberculose gehört 
zu den seltensten; an der v. Bruns'schen Klinik machte sie nur 0,05^/o oller 
Fälle von Knochen* und Gelenktuberculose an den Extremitäten aus; doch muss 
man annehmen, dass mitunter eine solche Osteomyelitis nicht als tuberculös 
erkannt worden ist. 

Das pathologisch-anatomische Bild der primären Osteomyelitis tuberculosa 
ist sehr verschiedenartig. Es gibt eine Form, die in circumscripten Heerden 
auftritt, eine zweite, die den ganzen Markkanal durchsetzt. Ferner tritt sie 
unter dem Bilde des tuberculösen Knochenabscesses in Erscheinung oder 
recht selten als Spina ventosa der langen Röhrenknochen. 

Ausserdem gibt es auch Processe, die der infiltrirenden progressiven 
Tuberculose König’s zuzurechnen sind und ausgesprochene Neigung haben, 
auf die Epiphysen und Gelenke überzugehen. 

Klinisch ist kurz Folgendes zu bemerken: Die Erkrankung betrifft meist 
kleine Kinder im Alter von 2—6 Jahren, die in der Regel erblich belastet 
und mit multiplen Tuberculösen behaftet sind. 

Das Schwierigste ist eine exacte Diagnose, da die Aehnlichkeit mit der 
im Gefolge der acuten Osteomyelitis auftretenden Nekrose eine sehr grosse 
sein kann. 

Für die Prognose ist der Allgemeinzustand und die tuberculöse Natur 
in Betracht zu ziehen. Therapeutisch muss hier ebenso vorgegangen werden, 
wie bei der acuten infectiösen Osteomyelitis in ihren späteren Stadien. 

Der 2. Theil behandelt die secundäre (fortgeleitete) Osteomye¬ 
litis tuberculosa. Diese Erkrankungen gehören entweder der König* 
sehen Caries camosa an oder aber der infiltrirenden progressiven Tuberculose 
Königs. Die erstere kommt fast nur an der Schulter vor und nimmt von 
der Schulter ihren Ausgang. Bei der zweiten handelt es sich um die selteneren 
Formen, bei denen grosse Strecken des Marks diffus befallen werden. 

In der v. Bruns’schen Klinik sind in den letzten 25 Jahren 5 ausge¬ 
sprochene Fälle dieser Art beobachtet worden. Es entspricht das 0,23 ® o aller 
Fälle, ein Beweis für die Seltenheit der Affection. 

In allen diesen Fällen handelte es sich um Männer in vorgeschrittenem 
Lebensalter (41—54 Jahre). Es kann aber auch bei Kindern verkommen. Der 
Ausgangspunkt war hier stets eine Gelenkerkrankung, bei drei derselben handelte 
es sich um einen ziemlich acut entstandenen Fungus des Kniegelenks mit üeber* 
greifen auf das Femur, je einmal um eine Tuberculose des Fuss* bezw. Schulter- 
gelenkes mit Erkrankung der Tibia resp. des Humerus. Die Gelenkerkrankung 
ging hier, wie bei den Fällen von König, mit Eiterung und zwar mit offener 
Eiterung einher. 

Anatomisch findet sich der Gelenkknorpel in der Spongiosa schwer ver* 


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Reforate. 


157 


ändert and erkrankt, und von hier aus setzt sich der Process meist ohne 
Grenze auf den Markcylinder fort. Das Knochenmark ist weithin in eine sulzige 
fungOse Granulationsmasse umgewandelt, mit Eiterheerden durchsetzt. 

Die Bedeutung dieser Form liegt nicht auf diagnostischem Gebiet, son¬ 
dern viel wichtiger ist der Einfluss dieser seltenen Complication einer Gelenk- 
und Knochentuberculose auf die Prognose und Therapie. Nur ausnahmsweise 
gelingt es, das Glied zu erhalten. 

Küttner schliesst seine interessante Arbeit mit dem Wort Königes: 
^Es ist ein Glück für conservative Chirurgie und Lebenserhaltung, dass solche 
Formen von Ergriffensein des Schaftes grosser Röhrenknochen nur sehr selten 
Vorkommen.* Gocht-Würzburg. 

Reisch, Die pathologische Anatomie des Caput obstipum musculare. Inaug.- 

Dissertation, Würzburg 1899. 

Das obige Thema ist vor 3 Jahren von Kader in den Beitrügen zur 
klinischen Chirurgie erschöpfend behandelt worden. Auf Grund von 8 in der 
Hof falschen Klinik operativ mit Excision des erkrankten Kopfnickers behan¬ 
delten Fällen hat Reisch die von Kader gemachten Beobachtungen einer 
Nachuntersuchung unterzogen, welche die früheren Untersuchungen im wesent* 
liehen bestätigt. Es handelte sich auch hier um eine Myositis interstitialis 
fibrosa. Besonders schön war in den Präparaten Reisch's die directe Um¬ 
wandlung der Muskelfaser in einen bindegewebigen Strang und die Atrophie 
der Nerven im Gebiete der erkrankten Muskelpartien zu beobachten. 

A b r e n s -W ürzburg. 

Kalmus-Prag, Zur operativen Behandlung des Caput obstipum spasticum 

(Torticollis spasmodicus). Beitriige zur klinischen Chirurgie Bd. 26 
S. 189, 1900. 

Auf Grund eines einschlägigen Falles aus der Klinik von Prof. Wölfl er 
hat Verfasser eine sehr ausführliche Zusammenstellung von 95 operativ behan¬ 
delten Fällen von spasmödischen Torticollis gegeben. Nach Würdigung der 
klinischen Symptome und genauen anatomisch-physiologischen Erläuterungen 
vnirden der Aetiologie, die dunkel ist, und der Prognose, die als eine ungünstige 
bezeichnet wird, wenige Worte gewidmet, um dann ausführlich die Therapie 
zu besprechen; Innere Mittel darnach nutzlos; Anwendung von Elektricität, 
sachkundig ausgeführter Massage corabinirt mit orthopädischer und elektrischer 
Behandlung manchmal erfolgreich, so in 2 Fällen des Verfassers. Haben diese 
Verfahren zu keinem Ziel geführt, so traten die operativen Massnahmen in ihr 
Recht, und zwar entweder Muskeloperationen; Durchschneidung und Resection 
d^ M. stemocleidomastoideus, oder Durchschneidung der Cervicalmuskeln nach 
Kocher, oder aber Nervenoperationen: 

1. Dehnung des N. accessorius, 

2. die einfache Durchschneidung und die Ligatur des N. accessorius, 

3. die Nervenresection und zwar 

a) die Resection des Accessorius allein, 

b) die Resection der Cervicalnerven allein, 

c) die combinirte Resection des Nervus accessorius und der Cervical- 
nerven. 


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Referate. 


Ad den 95 zusaDimeDgestellten, operativ behandelten Fällen spaemodischer 
Torticollis sind 118 Operationen ansgeführt worden. Von 11 Fällen, in denen 
bloss die Dehnung des N. accessorius vorgenommen wurde, kamen 3 zur Heilung. 
Von den 68 Fällen von Accessoriusresection kamen 28 nach dieser Operation 
zur Heilung, 20 zeigten eine grössere oder geringere Besserung, 4 hatten nur 
sehr geringen Erfolg und 1 starb an Wunderysipel. 

In 15 Fällen wurden nach der Accessoriusresection noch weitere Opera¬ 
tionen ausgefährt. In 13 Fällen wurde die Durchschneidung der Cervicalnerven, 
in 2 Fällen die Durchschneidung des M. stemocleidomastoideus gleichzeitig mit 
nochmaliger Zerstörung des Accessorius vorgenommen. Von den Cervicalnerven- 
durchschneidungen wurden 10 geheilt, 3 mehr oder weniger gebessert. Die 
beiden nochmaligen Accessorius- bezw. Stemocleidomastoideus-Resectionen führten 
ebenfalls zur Heilung. Ferner noch 2 Fälle von Resection der Cervicalnerven 
ohne vorausgegangene Accessoriusresection; von diesen wurde 1 geheilt, 1 ge¬ 
bessert. Es wurden darnach im ganzen 15mal die Cervicalnerven resecirt und 
dadurch 11 Fälle geheilt. 

Vergleicht man dies mit dem von Kocher durch seine Muskeldurch- 
schneidungen erzielten Resultate, so scheint es, dass die Cervicalneirenresection 
namentlich in Combination mit der vorausgehenden Accessoriusresection bessere 
Resultate liefert. Doch sind weitere Erfahrungen nothwendig, um ein bestimmtes 
Urtheil über die zweckmässigste Methode geben zu können. 

Eine tabellarische Uebersicht der 95 operativ behandelten Fälle und ein 
eingehendes Literaturverzeichniss beschliesst die Arbeit Gocht-Würzbnrg. 


Gross, Der erworbene Hochstand der Scapula. Beiträge zur klinischen Chi¬ 
rurgie 1899, Bd. 24 S. 810. 

Gross theilt einen einschlägigen Fall mit, den er in der Poliklinik des 
städtischen Krankenhauses zu Altona beobachtet hat. Derselbe bot im wesent¬ 
lichen die von Kölliker gefundenen charakteristischen klinischen Erschei¬ 
nungen. Ein 3 Jahre altes Mädchen (Rhachitis) kommt wegen Gebrauchsun¬ 
fähigkeit des rechten Armes nach einem Fall in Behandlung und dabei wird 
neben der Traumalaffection ein Hochstand der rechten Schulter constatirt, der 
nach der bestimmten Versicherung der Mutter erst seit einem Jahre spontan 
entstanden war. Der Eindruck der hohen Schulter wurde erweckt durch einen 
auffallend hohen Stand der rechten Scapula. Dieselbe lag zwischen dem 5. Hais¬ 
und 4. Brustwirbel. Der obere Winkel sprang buckelartig scharf nach oben 
und vomen vor; er war dicht unter der Haut palpabel und musste die Fasern 
des Cucullaris auseinandergedräpgt haben. Er überragt die Clavicula um reich¬ 
lich 1 cm. Eine Photographie und ein Röntgenbild illustriren den geschilderten 
Befund. Wie K ö 11 i k e r nimmt Gross auch für diesen Fall einen rhachitischen 
Ursprung an, da das Kind auch sonst Zeichen schwerer Rhachitis bot 

Um der Deformität zu steuern, hat das Kind (analog dem Vorgehen 
Kölliker's) einen elastischen Gurt bekommen, der am Tuber ischii derselben 
Seite angreift und den medialen oberen Rand der Scapula nach unten zieht 

G 0 c h t-Wörzburg. 


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Referate. 


159 


Hon seil, Doppelseitiger Hochstand der Schulterblätter. Beiträge zur klini* 

sehen Chirurgie 1899, Bd. 24 S. 815. 

Honseil berichtet über einen Fall, der an der v. Bruns'schen Klinik 
zur Beobachtung kam. Bei einem 41jährigen Mann wurde constatirt, dass beide 
Schulterblätter höher als normal standen. Linkerseits fand sich die Spina 
Scapulae in Höhe des 7. Halswirbels, der untere Winkel in Höhe des 5. Brust¬ 
wirbels. Auf der rechten Seite ist der Schulterblatthochstand weniger aus¬ 
gesprochen. Die Scapula reicht hier von der Höhe des 1. bis zu der des 
6. Brustwirbels. In anamnestischer Beziehung ist von Wichtigkeit, dass die 
Missbildung des Patienten bereits nach der Geburt aufgefallen war. Ein 
ähnlicher Fall ist erst einmal von Milo in dieser Zeitschrift Bd. 6 Heft 2 
beschrieben worden. Da es sich hier um einen Patienten in vorgerücktem 
Alter handelt, nimmt Verfasser mit Recht an, dass die SprengeTsche Dif- 
formität sammt den sie begleitenden resp. von ihr abhängigen Störungen 
einen stationären für das ganze Leben des Patienten gleichbleibenden Zustand 
bedeutet. 

G 0 c h t -Würzbnrg. 

Riedinger, Die Varität im Schultergelenk. Deutsche Zeitschrift für Chirurgie 

Bd. 54 Heft 5 und 6. 

An einem Präparat von rechtwinkliger Ankylose des Ellbogens, welche 
anscheinend infolge chronisch rheumatischer Entzündung entstanden ist, findet 
Riedinger folgende auffallende Veränderungen des Humerus: Die Gelenkfläche 
des Kopfes sieht von vom betrachtet mehr nach seitwärts als nach oben, so 
dass die Knorpelgrenze fast senkrecht und parallel zum Schaft des Humerus 
verläuft; zwischen Kopf und Schaft des Knochens besteht eine deutliche Ab- 
knickung und eine Verkrümmung, deren Convezität nach aussen und oben ge¬ 
richtet ist; der Kopf in toto ist scheinbar herabgesunken. Wie Riedinger 
weiter ausführt, ist die Deformität dadurch entstanden, dass der Schaft gegen 
den Kopf in der Sagittalebene nach rückwärts abgeknickt ist; ersterer weist 
Abduction, Strecksteilung und Einwärtsdrehung auf. Riedinger hat diese 
Deformität daher als Humerus varus bezeichnet und erklärt sich dieselbe als 
Belastungsdeformität, die sich auf Grund der durch die Ankylose bedingten 
vexiüaderten Haltung des Arms speciell der mangelhaften Pronationsfähigkeit 
desselben entwickelt hat. 

Für die auch früher schon beobachtete traumatische Varusstellung des 
Oberarms nach difform geheilter Fractur unterhalb des Collum Chirurg., bei 
welcher der Humerusschaft im Schultergelenk eine Adductionsstellung einnimmt, 
während die meist abgeflachte Gelenkfläche parallel mit der Sagittalebene ver¬ 
läuft, schlägt Riedinger zur Unterscheidung die Bezeichnung Humerus varo- 
adductus vor. 

Anschliessend theilt Riedinger noch eine Beobachtung über eine Be¬ 
wegungsstörung im linken Schultergelenk eines 13jährigen Schülers mit, die 
es ihn wahrscheinlich erscheinen lässt, dass als Analogon zur Coxa vara auch 
ein Humerus varus adolescentium verkommen kann. 

A h r e n s -W ürzburg. 


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160 


Refei-ate. 


Dr. R. Froelich, De Tepaole ballante chez Tenfant. Revue mens, des Mal. 

de TEnfance, Februar 1899. 

Verfasser berichtet über 2 Fälle von Scblottergelenk der Schulter, von 
denen der eine, durch eine Kinderlähmung im 3. Lebensjahre verursacht, bei 
einem 6jährigen Knaben beobachtet wurde. Der andere Fall betraf einen 
4jährigen Jungen, der ein Jahr vorher einen Fall auf die rechte Schulter er¬ 
litten hatte mit nachfolgender Lähmung der Musculatur, so dass sich auch hier 
ein vollständiges Schlottergelenk ausgebildet hatte, wie der Verfasser annimmt 
infolge einer stattgehabten Epiphysenlösung. An der Hand dieser Fälle erörtert 
Froelich die Frage, ob die Arthrodese des Gelenkes vorzunehmen sei oder 
ob man eine Bandage anzulegen habe. In den bisher veröffentlichten Fällen 
von Wolf, Albert und Anderen ist es nicht gelungen auf operativem Wege 
eine wirkliche Fixation des Humerus am Akromion oder an der Gelenkfläche 
zu erzielen, indem stets nur eine bindegewebige Verbindung sich herstellte, 
die keine dauernde bessere Function des Oberarmes zu bewirken im Stande 
war. Deshalb zieht Froelich es vor, zunächst einen Apparat tragen zu lassen, 
der den Oberarm möglichst gegen das Schulterblatt und am Akromion fixirt, 
und eine Gelenkverbindung mit dem Unterarm hat, wie wir ihn auch in ähn¬ 
licher Weise anzuwenden pflegen. Daneben wird fleissig massirt und elektrisirt. 
Diese Behandlung muss bis zur Dauer von 2 Jahren fortgesetzt werden, um 
irgend welchen Erfolg zu erzielen. Als letzte Zuflucht bliebe noch im Fall 
des Misslingens dieser Therapie ein Versuch, die Arthrodese oder wenigstens 
die Arthrorrhaphie auszuföhren. Lilienfeld-Würzburg. 

Gumpertzy Isolirte Lähmung eines M. triceps brachii nach Trauma. Aerztl. 

Sachverständigen-Zeitung 1900 Nr. 5. 

Es handelt sich im vorliegenden Falle um einen 20jährigen Arbeiter, 
welcher vor einem Jahre beim Sturz vom Pferde auf den linken Arm zu liegen 
kam. Ausser einer beträchtlichen Atrophie des ganzen Arms fanden sich die 
der Lähmung entsprechenden Functionsstörungen, im Gebiete des M. triceps 
Entartungsreaction. Eine geringe active Streckung des Arms konnte unter 
Zuhilfenahme des besser erhaltenen Anconaeus quartus bewirkt werden. 

A h r e n 8 -W ürzburg. 

Sehrwald, Klimmzuglähmungen. Deutsche medic. Wochenschr. 1900 Nr. 6. 

Sehrwald hat seit seiner ersten Veröffentlichung über dieses Thema 
(Deutsche medic. Wochenschr. 1898 Nr. 30) 2 neue Fälle von Klimmzuglähmungen 
gesehen, von denen besonders der eine ein typisches Bild darbot. Es war bei 
dem betreffenden Patienten, einem 21jährigen, mässig kräftigen Soldaten, der 
gesamrote Plexus brachialis des linken Arms betroffen, soweit er unter der 
Clavicula hindurchzieht, somit einschliesslich der Nervi thoracici anteriores und 
der Nervi subscapulares. Die Folgen bestanden hauptsächlich in Störungen 
des Bewegungsapparates und zwar in Abmagerung und Parese der betreffenden 
Muskeln. Von sensiblen Störungen sind ausser dem anfangs geklagten Taub¬ 
heitsgefühl hauptsächlich die dauernd zurückgebliebenen Schmerzen im ganzen 
Arm und der äusseren Hälfte des Schultergürtels zu erwähnen. Was die Ur¬ 
sache anbelangt, so glaubt Sehrwald, dass es nicht der Elimmzug an sich 


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Referate. 


161 


ist, der die Lähmung verursacht, sondern der Langhang vor und nach den 
Klimmzügen, und zwar der energielose, passive Langhang, während der mit 
kräftiger Fixirung des Schultergürtels ausgeführte active Langhang unge^r- 
lieh sei. Beim passiven Langhang soll das äussere Ende des Schlüsselbeines 
nach rück* und aufwärts treten und sich zugleich um seine Längsachse drehen. 
Dadurch werden zunächst die 5. und 6. Cervicalwurzel gegen die erste Rippe 
gepresst, bei weiterer Erhebung der Schulter auch die abwärts folgenden Rücken¬ 
markswurzeln. Das Charakteristische der Klimmzugslähmung, die an sich eine 
Hjrperextensionslähmung des Plexus brachialis vorstelle, sei die Mitbetheiligung 
des Nervus thoracicus longus mit dem M. serratus anticus major. 

Der Verfasser giebt zum Schlüsse noch einige praktische Winke für die 
Ausführung der Klimmzüge. Ehebald-Würzburg. 

Rieth US, Ueber Verletzungen des N. radialis bei Humerusfracturen und ihre 

operative Behandlung. Beiträge zur klinischen Chirurgie 1899 Bd. 24 S. 703. 

Der Arbeit ist das Material der Leipziger Klinik zu Grunde gelegt, und 
zwar umfasst dasselbe alle Fälle von Oberarmfracturen, die während der Jahre 
1860—96 zur Behandlung kamen, abgesehen von den Fällen, wo wegen aus¬ 
gedehnter Zermalmung der Weichtheile eine Erhaltung des Armes aussichtslos 
war und die Amputatio humeri vorgenommen werden musste. Im ganzen sind 
es 819 Fälle, von denen es sich in 35,4 um eine Fractur des oberen Endes, 
in 83,6 ^/o um eine Fractur im Bereich des Hnmerusschaftes, in 31,0 um eine 
Fractur im unteren Drittel handelte. 

Wie in 4,1 7» &Uer Humerusfracturen kam es bei den Beobachtungen 
der Leipziger Klinik zu Lähmungen des N. radialis, und es ergibt sich, dass 
die Radialisverletzungen durch Humerusfractur am häufigsten bei Brüchen im 
Bereich des mittleren Drittels verkommen, dass dagegen die Fractur im Bereich 
des unteren und besonders des oberen Drittels seltener durch eine Läsion des 
N. radialis complicirt ist. 

Rieth US sondert dann die Leipziger Fälle in zwei grosse Gruppen: in 
primär aufgetretene Lähmungen und in secundär entstandene. 

A. Den primären Radialislähmungen können folgende Ursachen 
zu Grunde liegen: 

1. die Continuität des Nerven ist erhalten: 

a) directe Contusion der Nerven durch das Trauma, 

b) Zerrung oder Quetschung des Nerven durch die dislocirten Fragmente, 

c) Interposition des Nerven zwischen die Fragmente; 

2. die Continuität des Nerven ist aufgehoben, der Nerv ist zerrissen oder 
zerschnitten. 

Acht hierher gehörige Fälle werden nach allen Richtungen hin ausführ¬ 
lich besprochen. 

B. Als Ursache der secundären Radialislähmung wird man immer 
einen Druck verantwortlich machen müssen. 

1. Der Nerv verläuft über einen an der Fracturstelle abnorm reichlich 
entwickelten Callustumor und wird dadurch emporgehoben und gedehnt. 

2. Der Nerv verläuft stark abgeknickt über die Kanten dislocirter Frag¬ 
mente und ist fest durch Narbengewebe gegen den Knochen fixirt. 

ZeiUohrifc für orthopädiaobe Chimrgle. VIII. Band. j j 


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162 


Referate. 


3. Der Nerv ist an der Bruchstelle durch derbes Narbengewebe circolär 
umschnürt. 

4. Der Nerv ist in einen von Callusmasse und Narbengewebe gebildeten 
Tunnel eingebettet und wird an einer Stelle oder in der ganzen 
Ausdehnung stark comprimirt. 

Neun solche Fälle beschreibt Verfasser aus der Leipziger Klinik und schlieast 
mit einer Uebersicht von 36 bisher veröffentlichten operativ behandelten pri¬ 
mären und secundären Radialislähmungen. 

Die aus den Leipziger Beobachtungen resultirenden wichtigsten Gesichts¬ 
punkte für die Behandlung der bei Humerusfracturen auftretenden Radialis- 
lähmungen fasst er in folgenden Sätzen zusammen: 

1. Primäre Paresen können, so lange keine Steigerung der Lähmungs- 
erscheinungen beobachtet wird, exspectativ behandelt werden. 

2. Da es kein absolut sicheres Merkmal gibt, bei primären Paralysen zu 
entscheiden, ob eine Continuitätstrennung des Nerven vorliegt oder nicht, so 
muss der Nerv freigelegt werden, wenn die Lähmung nicht in wenigen Tagen 
zurückgeht. 

3. Bei Continuitätstrennungen des Nerven muss womöglich sofort nach 
dem Unfall die Nervennaht ausgeführt werden. 

4. Die Verkürzung des Humerus durch Resection, wie sie in den letzten 
Fällen der Leipziger Klinik zur Anwendung kam, ist immer zu empfehlen, 
wenn die Distanz zwischen den Nervenenden eine so grosse ist, dass die Ver¬ 
einigung der angefrischten Nervenenden ohne Spannung nicht möglich ist. 
Die Anfrischung muss eine so ergiebige sein, dass der Querschnitt der Nerven¬ 
enden eine normale Beschaffenheit zeigt. 

5. Jede secundär aufgetretene Radialislähmung indicirt, zumal wenn eine 
Steigerung der Lähmungserscheinungen beobachtet wird, sofort den operativen 
Eingriff. 

6. Die Resultate der Operation sind sowohl nach den von uns beobach¬ 

teten Fällen, als auch nach den Angaben in der Literatur als absolut günstig 
zu bezeichnen. G o c h t -Würzburg. 

Bräuninger, Ueber einen seltenen Fall von Radialislähmung, geheilt durch 

Freilegung und Dehnung des Nerven. Münchener medic. Wochenschrift 

1900 Nr. 9. 

Bei einem 16jährigen Patienten hat sich im Laufe der Ausheilung einer 
schweren Transmissionsriemenverletzung am rechten Oberarme (Luzatio humeri) 
durch Einbettung des N. radialis in derbes Narbengewebe eine complete Ra¬ 
dialislähmung allmählich entwickelt. Freilegung und Auslösung des Nerven 
aus dem Narbengewebe hatte allmählichen Rückgang aller Lähmungserschei¬ 
nungen zur Folge. Graet zer-Würzburg. 

S u d e c k - Eppendorf, üeber den schnellenden Finger. Beiträge zur klinischen 

Chirurgie Bd. 26 S. 311. 

Sud eck berichtet ausführlich über einen Fall von schnellendem Finger, 
den er im Eppendorfer Krankenhaus beobachtet und operirt hat. Es handelte 
sich um einen 23jährigen Kaufmann, der 9 Wochen nach seinem Eintritt beim 


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Referate. 


163 


Militär Bewegungsstörungen seines linken Ringfingers bekam. Die Beugung 
des Fingers ging ohne Störung von statten, doch fühlt Patient in einer gewissen 
Stellung des Fingers etwas Abnormes, ein üebergleiten ohne bemerkbaren 
Widerstand. Bei Streckung des gebeugten Fingers bleibt dieser immer in der* 
selben Bewegungsphase — halb gestreckt — plötzlich stehen und kann nur mit 
äusserstem Kraftaufwand gestreckt werden. Die Streckung geht dann plötzlich, 
schnellend vor sich. Man erkennt, dass der Sitz der Hemmung die Endpbalanx 
betrifft. Die Operation besteht in einer Freilegung der Beugesehnenscbeide in 
ihrem centralen Ende nach Längsincision über der Handtellerfingerfalte des 
linken Ringfingers. Da sich berausstellt, dass das Schnellen mehr distal gegen 
die Mitte der Grundphalanx hin in der Gegend der Sublimisgabel entsteht, 
wird die Sehnenscheide nun vom centralen Ende beginnend, in einer Aus¬ 
dehnung von ca. 2 cm gespalten. Das Schnellen ist damit verschwunden und 
es stellt sich heraus, dass die Profundussehne gerade an der Strecke, die bei 
der Beugung durch den Sublimisschlitz hindurchgeht, nach dem distalen Ende 
zu eine ziemlich plötzlich eintretende auf die Hälfte zu schätzende Verdünnung 
erfährt; sie sieht hier grau und glasig durchscheinend aus. — Die Sehnen¬ 
scheide wird offen gelassen, Hautnaht und Naht des subcutanen Gewebes mit 
Seide. Nach 5 Wochen ist alles verheilt und der Finger functionirt vollkommen 
normal. — Die mechanische Erklärung des Schneilens in diesem Fall ist sehr 
einfach. Beim üebergang von der Beugestellung in die Streckstellung stemmt 
sich die plötzlich dicker werdende Partie (d. h. das Dickerwerden ist hier 
normal, nur der distale Theil ist zu dünn geworden) der Sehne gegen den 
Sublimisschlitz und erfährt hier einen Widerstand, der nur mit vermehrtem 
Kraftaufwand und dann in schnellender Bewegung überwunden wird. 

An diesen sehr interessanten Fall knüpft Verfasser kritisirende Bemer¬ 
kungen, und geht besonders auf die von Schulte beobachteten und zusammen¬ 
gestellten Fälle aus der deutschen Armee ein. Wie dieser nimmt er ätiologisch 
die Wirkung oft wiederholter Insulte an. Gocht-Würzburg. 

Steudel, Die Trommlersehne und ihre Behandlung. Deutsche militärärztliche 

Zeitschrift 1899. 

Die «Trommlerlähmung*, ein hauptsächlich bei Tambouren auftretendes 
plötzliches Unvermögen, das Nagelglied des linken Daumens zu strecken, ist 
in der Armee seit ca. 20 Jahren bekannt. Verfasser gibt uns auf Grund eines 
von ihm beobachteten und operirten Falles ein ausführliches Bild dieser Militär¬ 
gewerbekrankheit. Aus der Krankengeschichte des vorliegenden Falles ist zu 
erwähnen, dass es sich um eine Zerreissung der langen Strecksehne des Daumens 
ungefähr in der Höhe der Basis des Metacarpus handelte; die 10 Tage später 
vorgenommene Sehnennaht war, trotzdem ein reichlich 1 cm langes ausgefasertes 
Stück der Sehne abgetragen werden musste, von gutem functionellen Resultat 
gefolgt; dennoch musste Patient später als Halbinvalide entlassen werden. 
Ueber das excidii’te Sehnenstückchen wird ein genauer anatomischer Bericht 
erstattet. Verfasser ist auf Grund der bisher beschriebenen Fälle der Ansicht, 
dass es sich stets um eine partielle oder totale Zerreissung der betreffenden 
Daumensehne handelt; meist gebt derselben eine Entzündung der Sehnenscheide 
voraus. Therapeutisch ist die Sehnennaht der gegebene Eingriff, der allerdings. 


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164 


Referate. 


wie aus den bisher derartig behandelten 6 Fällen hervorgeht, infolge der 
Localisation der Verletzung und der vorausgegangenen Entzündung auf erheb* 
liehe technische Schwierigkeiten stossen kann. Für solche Fälle empfiehlt 
Steudel die bisher 3mal ausgeführte Implantation des peripheren Sehnen¬ 
stumpfes in die Sehne des Eztensor indicis resp. des Extensor carpi radialis 
longus oder noch besser in die des Extensor pollicis brevis. 

A h r e n s -Würzburg. 

R. Fick, Bemerkung zur Mechanik der Wirbelsäule. Verhandlungen der ana¬ 
tomischen Gesellschaft auf der 13. Versammlung zu Tübingen, 21. bis 
24. Mai 1899. 

Mit Rücksicht auf den Ausdruck „statisch compensatorische Krümmungen“ 
der Wirbelsäule glaubt Verfas-ser, dass derselbe durchaus nicht auf alle Krüm¬ 
mungen passt. Wenn z. B. bei einer primären, übertriebenen Lordose der 
Lendenwirbelsäule eine entsprechend verstärkte Brustkyphose auftritt, so könnten 
wir diese gewiss zum Theil als eine statische Compensation betrachten, um einem 
Hintenüberfallen des Körpers, das durch die Verlagerung des Schwerpunktes 
veranlasst werden könnte, vorzubeugen. In solchen Fällen tritt aber ausserdem 
auch noch eine übertriebene Halslordose auf, offenbar nicht als statische, 
sondern, wie Fick glaubt und sagt, als „ortbooptische* Compensation, 
wenn dieser Ausdruck gestattet ist, d. h. um den Kopf aufzurichten, die Blick¬ 
ebene in die horizontale Stellung zu bringen. — Etwas verwickelter werden 
nach dem Verfasser die Verhältnisse, wenn z. B. bei Schiefhals eine primäre 
Halsskoliose nach einer Seite eintritt. Hier muss in der Brustsäule eventuell 
eine bedeutende orthooptische Compensation nach der anderen Seite eintreten. 
Diese compensirt natürlich auch zugleich statisch und wird bei der Massigkeit 
des Brustabschnittes leicht in statischer Beziehung über das Ziel hinausschiessen. 
Deshalb könne uns der Eintritt einer Gegencompensation in der Lendenwirbel¬ 
säule, d. h. eine Neigung in gleichem Sinne wie am Hals, nicht verwundern. 
Diese Compensation bezeichnet er dann als rein statische, denn in orthooptischer 
Beziehung wirkt sie ungünstig. Es komme Überhaupt in solchen Fällen oft zu 
einem Widerstreit der statischen und orthooptischen Bedürfnisse, wobei gewiss 
oft wenigstens zeitweise das orthooptische Interesse siegt und das durch die 
erzwungene Geraderichtung der Blickebene erzeugte Uebergewicht des ver¬ 
krümmten Körpers durch active Muskelspannungen balancirt wird. Die 
temporäre Geraderichtung der Blickebene werde in solchen Fällen am einfachsten 
durch Bewegungen im Hüftgelenk oder durch Biegung der Wirbelsäule im 
ganzen erzeugt, wobei der Körper durch active Muskelspannungen in Stellungen 
festgehalten werden kann, die auf die Dauer statisch unmöglich sind. 

Goch t-Würzburg. 

Senator, Ueber chronische ankylosirende Spondylitis. Berliner klinische 
Wochenschrift 1899 Nr. 47. 

Senator unterscheidet mit B r a u n 2 verschiedene Formen der chronisch 
deformirenden Spondylitis. Bei der ersten Form erkranken primär die Inter¬ 
vertebralknorpel, die zerfasern und allmählich zu Grunde gehen, während weiterhin 
von den Faserringen und Randwülsten der Wirbelkörper supracartilaginäre 
Exostosen aufwachsen, die sich mit denen der angrenzenden Wirbel oft zu knö- 


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Referate. 


165 


ehernen Spangen verbinden; die Wirbelkörper atrophiren, und später pflegt auch 
der Bandapparat der Wirbelsäule zu verknöchern. 

Bei der zweiten, viel häuflgeren Form geht der Process mehr von den 
Seitentheilen der Wirbel, namentlich den Querfortsätzen und insbesondere dem 
Bandapparat und dem Periost aus; es kommt zu einer periostalen Knochen¬ 
wucherung, Verkalkung der Gelenkbänder, Wucherung und Verwachsung der 
Synovialis. 

Dies ist die eigentliche Arthritis ankylopoötica und meist rheumatischen 
Ursprungs. Senator vertritt weiterhin die Ansicht, dass die chronisch anky- 
losirende Wirbelsäulenentzündung, über die jetzt so viel geschrieben wird, 
längst bekannt ist, meistens unter der Bezeichnung Arthritis deformans, die 
wohl zu Missdeutungen und Verkennung der Krankheit Anlass gegeben hat. 
Die Verschiedenheiten, welche durch die Localisation der Deformität und 
Steifigkeit der Wirbelsäule, durch die ungleiche Betheiligung der Extremitäten¬ 
gelenke, durch das Vorhandensein oder Fehlen von Störungen im Bereich des 
Nervensystems bedingt werden, sind nicht von wesentlicher Bedeutung und be¬ 
rechtigen nicht dazu, von einander gesonderte Typen aufzustellen. Sie hängen 
von den verschiedensten Ursachen ab, unter denen rheumatische Schädlichkeiten 
obenan stehen. Auch in Senator’s Fall liegt Rheumatismus zu Grunde. Die 
ganze Wirbelsäule ist steif und unbeweglich; nur der Hals hat noch einen ge¬ 
ringen Grad von Beweglichkeit, indem Patient den Kopf ganz wenig nach 
hinten und nach den Seiten beugen kann; die Wirbelsäule ist in ihrem oberen 
Theile leicht lordotisch, vom 5. Brustwirbel ab bis zum Lendentheil kyphotisch. 
Von den Gelenken ist nur noch die rechte Schulter betheiligt. Im Röntgogramm 
können die einzelnen Wirbel nicht von einander unterschieden werden. 

Gr aetze r-Würzburg. 

Heiligenthal, Beitrag zur Kenntniss der chronischen ankylosirenden Ent¬ 
zündung der Wirbelsäule. Deutsche Zeitschrift für Nervenheilkunde Bd. 16. 

Neben einer kritischen Würdigung der in der Literatur verzeichneten 
Fälle von chronisch ankylosirender Wirbelsäulenentzündung bringt Heiligen¬ 
thal 5 neue Fälle von Wirbelsäulenerkrankung, die Verfasser der chronisch 
ankylosirenden Wirbelsäulenentzündung zurechnet. Gemeinsam ist denselben 
die mehr oder weniger starke, bis zur völligen Ankylosirung führende Verstei¬ 
fung der Wirbelsäule, die gleichzeitige Betheiligung anderer Gelenke und der 
schleichende, progrediente, ohne stärkere Schmerzen einhergehende Verlauf. 
Dagegen ist die Art der Ausbreitung eine verschiedene; in 2 Fällen handelt 
es sich um eine absteigende, in 3 Fällen um eine aufsteigende Versteifung; 
einmal trat Ankylose in Strecksteilung, sonst in Kyphose ein. Das Auftreten 
oder Ausbleiben einer kyphotischen Krümmung ist nach Heiligenthal mit 
von statischen Verhältnissen abhängig, wobei Bettruhe oder Umhergehen in 
aufrechter Körperhaltung eine grosse Rolle spielen. Die Aetiologie war eine 
verschiedene. 

Heiligenthal kommt zu folgendem Schluss: 

Die chronische Steifigkeit der Wirbelsäule mit Betheiligung der grossen 
Gelenke ist ein Symptomencomplex, der im Verlauf verschiedener, zu chronischen 
Gelenkveränderungen führender Krankheitsformen sich ausbilden kann, und 


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Referate. 


stellt somit keine in sich abgeschlossene, von anderen nach Aetiologie, Verlauf 
und Localisation streng zu scheidende Krankheit dar. 

Graetzer -Würzburg. 

0. D a m s c h, üeber die chronische ankylosirende Entzündung der Wirbelsäule 
und der Hüftgelenke (Strümpell). Zeitschrift für klin. Medicin 
38. Bd. Heft 4-5. 

Unter kritischer Beleuchtung der einschlägigen Literatur sucht Damsch 
der Verwirrung zu begegnen, welche bei der Stellung der Diagnose auf anky¬ 
losirende Entzündung der Wirbelsäule Platz gegriffen hat. Er warnt vor der 
Verwechselung der letzteren mit chronischen, rheumatischen, gonorrhoischen und 
luetischen Processen der Wirbelgelenke, und verlangt scharfe Trennung der 
chronischen ankylosirenden Entzündung von den secundären Verkrümmungen und 
Versteifungen der Wirbelsäule, die als Folge der paretischen Zustände der 
Musculatur am Thorax und Rücken bei allen möglichen Nervenerkrankungen 
Vorkommen. Zum Symptomencomplex der chronischen ankylosirenden Wirbel¬ 
säulenentzündung gehört vor allem eine knöcherne Verbindung der Wirbel 
unter einander, wie dies die Röntgenaufnahmen, die eine Differenzirung der 
einzelnen Wirbelkörper nicht erkennen lassen, beweisen. Hierbei ist der Band¬ 
apparat hervorragend betheiligt. Damsch bereichert die Literatur der chro¬ 
nischen ankylosirenden Entzündung um einen t 3 rpischen Fall. Es handelt sich 
um einen Patienten von 42 Jahren, bei dem die Versteifung der Wirbelsäule 
am Genick in der Mitte der 20iger Jahre begann und ganz allmählich nach 
unten weiter absteigend, im Verlauf von 10 Jahren zu einer völligen Ver¬ 
steifung der Wirbelsäule führte. Das Röntgenbild zeigt den oben geschilderten 
Charakter. Die Beweglichkeitsbeschränkung im Hüftgelenk blieb in mässigen 
Grenzen. Seit Kindheit besteht recidivirender Rheumatismus im linken Knie und 
eine nach Mumps entstandene Schwerbeweglichkeit der Kiefer. Der ursäch¬ 
liche Zusammenhang dieser Erscheinungen mit dem Hauptleiden wird offen 
gelassen. Graetzer-Würzburg. 

Radilowski, Beitrag zur Therapie schwerer Skoliosen. Inaug.-Dissertation. 
Königsberg 1900- 

Radilowski berichtet über einen Fall von rechtsseitiger mobiler 
Skoliose mittleren Grades bei einem 13jähiigen wenig entwickelten Mädchen, 
welches während einer Dauer von 11 Wochen einer Weir-MitcheU’schen Kur 
unterzogen wurde. (Dass Patientin im Laufe derselben bei einer FJüssigkeits- 
Zufuhr von 3 Litern täglich neben entsprechender fester Diät und bei 2mal 
täglich je eine halbe Stunde lang geübter Bauchmassage an plötzlichem Er¬ 
brechen erkrankte, erscheint gewiss nur dem Autor auffallend.) Die im Mess¬ 
bild constatirte Besserung der Skoliose dürfte wohl hauptsächlich auf das 
gleichzeitig verordnete Streckbett zu schieben sein; im übrigen sieht auch 
Radilowski selbst diese Art der Behandlung nur als eine vorbereitende 
für eine spätere energischere Behandlung der Skoliose an. Ob die Empfehlung 
Radil 0 wski*8, Skoliotische im Corset zu suspendiren, viele Nachahmer finden 
wird? Störend wirken die vielen Druckfehler der Arbeit. 

A h r e n s -Würzburg. 


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Referate. 


167 


Fr oel ich-Nancy, Du traitement de la scoliose. Revue m^dicale de TEst 1899. 

Froelich constatirt zunächst, dass man in Frankreich die Behandlung 
der Skoliose bis in die letzte Zeit hinein etwas sehr vernachlässigt habe, im 
Gegensatz zu Deutschland und Amerika. 

Ausgehend von den pathologisch-anatomischen Befunden schildert Ver¬ 
fasser dann an der Hand von 13 Abbildungen das von ihm in der orthopädi¬ 
schen Klinik der Universität zu Nancy geübte Verfahren, das sich in keinem 
wesentlichen Punkte von den uns bekannten therapeutischen Massnahmen 
unterscheidet. Wir sehen da unter anderem die BarweH'sche Schlinge, den 
Wolm nach Lorenz und Dolega, den Detorsionsapparat nach Beely etc. 
Bezüglich der Corsetfrage steht er auf einem bejahenden Standpunkt. Le 
corset ne redresse rien, il aide 4 maintenir le redressement obtenu par les 
exercices orthopödiques. 

Am Schluss betont er die Bedeutung des Röntgenverfahrens für die 
Prognose und zur Controlle der Behandlungsresultate. Gocht-Würzburg. 

S. Schwander,Du Traitement de la Scoliose des Adolescents. Thöse. Nancy 1899. 

Verfasser gpbt die genauen Krankengeschichten von 29 Fällen von Sko¬ 
liose, die in der Klinik des Herrn Froelich behandelt worden sind. Darunter 
waren 26 Mädchen und 3 Knaben von 5 bis 18 Jahren. Eine rechtsseitig^ 
Dorsalskoliote bestand 22mal, eine linksseitige 6mal. In 3 Fällen soll eine 
vollständige Correction nach 6wöchentlicher Behandlung möglich gewesen sein, 
hier bestand die Erkrankung erst einige Monate bis zu einem Jahr. In 3 
weiteren Fällen war kein Erfolg zu verzeichnen, während die übrigen 20 alle 
merkliche Besserung aufzuweisen hatten. Die Behandlung fand statt durch 
Apparate, durch active und passive Bewegpingen verbunden mit Gymnastik. 
Verfasser kommt zu folgenden Schlüssen: 

1. Die Skoliose des Kindesalters setzt sich zusammen aus einer spiral¬ 
förmigen Torsion der Wirbelsäule. 

2. Sie wird hervorgerufen durch eine specifische Erkrankung des Knochens, 
die als Spätform der Rhachitis und mit dieser identisch aufzufassen ist, und 
zwar in der Reihenfolge der Erweichung, der Deformirung und der Sklerose. 

3. Die Entwickelung dieser Form der Rhachitis an den Wirbelkörpem 
dauert gewöhnlich 5—15 Jahre, Ausnahmsweise werden die 3 Stadien der 
Entwickelung in 3 Jahren vollzogen. 

4. Mit Hilfe der Radiographie kann man sich genaue Aufschlüsse über 
den Grad der Rückgratsverkrümmung verschaffen, auch prognostisch ist sie 
von Bedeutung. 

5. In einigen wenigen Fällen wird die orthopädische Behandlung, wenn 

sie methodisch und ausdauernd durchgeführt wird, völlständige Heilung er¬ 
zielen, bei der grossen Mehrzahl der Fälle wird man sich mit einer merklichen 
Besserung begnügen müssen. Lilienfeld -Würzburg. 

Bernhard Roth, The Treatment of Lateral Curvature of the spine. H. K. 

Lewis, 136 Gower street W. C. London. 

Verfasser berichtet über 1000 consecutive Fälle von seitlicher Verkrüm¬ 
mung der Wirbelsäule, die er innerhalb des Zeitraumes von 7 Jahren, 1885 bis 
1892, in der Privatpraxis behandelt hat. Das Wesentliche bei der Behandlung 


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besteht darin, dass Roth nur gymnastische Uebnngen verbunden mit leicht 
redressirenden Manipulationen ohne irgendwelche Ausübung von Gewalt an> 
wendet (Posture and Exercise). Die Patienten müssen lernen zunächst mit Hilfe 
des Arztes, der einen Theil derUebungen selbst leitet, ihre schlechte Haltung 
selbst zu corrigiren und auch bei ihren täglichen Verrichtungen immer die 
beste Stellung der Wirbelsäule einzunehmen. Die erste Aufgabe des Arztes 
ist es, den Patienten beizubringen, in welcher Weise der beste Ausgleich der 
verkrümmten Wirbel zu geschehen hat und stets darauf hinzuwirken, dass der 
Patient diese Stellung (Keynote) immer länger beizubehalten lernt. Verfasser 
verwirft im allgemeinen jede Anwendung von Stützapparaten, Gorseten u. s. w. 
und erkennt ihre Berechtigung nur in den Fällen an, wo eine vollständige 
Lähmung der Rückenmusculatur besteht, so dass die Patienten nicht im Stande 
sind, irgend welche Correction der Wirbelsäule auch nur für einige Secunden 
aufrecht zu erhalten. 

Im günstigsten Falle könne man durch Stützapparate verhüten, dass die 
knöcherne Deformität weiter schreite, eine wirkliche Heilung könne man auch 
in leichteren Fällen dadurch nicht erzielen. 

Da Verfasser beobachtet hat, dass in 56,5 Vo seiner Fälle ausgesprochener 
Flachfuss bestand, so verlangt er in diesen Fällen auch eine Behandlung des 
Letzteren, die er durch sehr zweckmässige Uebungen der Füsse einleitet. Ver¬ 
fasser legt ferner viel Gewicht auf Bewegungen im Freien (Spaziergänge, 
Tennisspiel u. s. w.) und auf eine zweckmässige, vor allem nicht einschnürende 
Bekleidung. Im allgemeinen erstreckt sich die Dauer der Behandlung auf 
3 Monate mit Y 4 stündlichen täglichen Uebungen, und will Verfasser dadurch 
in den Fällen, wo noch keine knöcherne Deformität besteht, fast stets Heilung 
erzielt haben, während bei Vorhandensein von knöchernen Veränderungen eine 
merkliche Besserung erreicht wird. Um die letztere dauernd zu gestalten, 
verschreibt Roth eine Reihe von täglichen Uebungen im Sinne der Correction 
der Verkrümmung und hat dann bei einer ganzen Reihe von Fällen nach 
Jahren (1—6) sich davon überzeugen können, dass kein Recidiv eingetreten ist. 

Als ursächliches Moment für die seitlichen Verkrümmungen der Wirbel¬ 
säule spielen nach dem Verfasser constitutionelle Schwächezustände eine grosse 
Rolle, bei der ärmeren Bevölkerung vorwiegend die Rbachitis. Auf hereditäre 
Belastung legt Roth ebenfalls viel Grewicht und führt unter seinen 1000 Fällen 
297 an, die erblich belastet sein sollen. Prädisponirend wirkt im wesentlichen 
die schlechte Haltung beim Schreibact. 

Wenn wir auch nicht mit dem Verfasser darin übereinstimmen, dass bei 
der Behandlung der Skoliose jeder Apparat und jedes Corset zu entbehren 
sind, so müssen wir doch anerkennen, dass er durch sehr einfache Mittel, wie 
es scheint, sehr gute Resultate erzielt hat. Auffallend ist es für uns, dass der 
Verfasser, welcher mit Recht so viel Gewicht auf eine Wiederherstellung der 
geschwächten Muskelthätigkeit setzt, sich gänzlich des doch allgemein als 
günstig bekannten Einflusses der Massage enthält. Lilienfel d-Würzburg. 

Krecke, Ueber Skoliosis ischiadica. Münch, medic. Wochenschrift 1900 Nr. 1 . 

Bei einem an linksseitiger Ischias leidenden 34jährigen Arbeiter stellt 
sich allmählich eine Verbiegung des Oberkörpers nach'der rechten Seite ein; 


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mit der 2^it lernt Patient seinen Körper auch nach der linken Seite verbiegen. 
Die Untersuchung ergibt: Druckpunkt am linken Foramen ischiadicum, ausser¬ 
dem entweder Concavität nach rechts, Contractur des linken Sacro-lumbalis, 
Beckensenkung links (heterologe Skoliose), oder Concavität nach links, Contractur 
des rechten Sacro-lumbalis, Beckensenkung rechts (homologe Skoliose). Der 
Symptomencomplex lässt sich nach den von Erben aufgestellten Thesen leicht 
erklären. Um den linken Ischiadicus möglichst zu entlasten, beugt Patient 
den Rumpf nach rechts und senkt das Becken auf der kranken Seite. Um die 
Wirbelsäule nach rechts geneigt zu halten, muss er eine andauernde kräftige 
Contraction des linken Sacro-lumbalis ausführen. Durch die starke Muskelcon- 
traction werden die hinten an der Lende austretenden Hautnerven dauernd 
gedrückt; nach einiger Zeit wird dem Patienten der Druck zu stark, und durch 
Verkrümmung der Wirbelsäule in die homologe Form wird der linke Sacro- 
lumbalis schlaff, und der Druck auf die Nerven hört auf. Dafür stellt sich 
wieder der Schmerz am Foramen ischiadicum ein, und so wiederholt sich das 
Spiel immer wieder von vom. Graetzer-Würzburg. 

Milo, £en nieuw projectieteekenapparad voor skoliose. Medisch Weekblad 

20. Jan. 1900. 

Milo beschreibt einen von ihm erfundenen Messapparat zum Aufzeichnen 
der Contouren des skoliotischen Rumpfes. Der Patient steht hinter einer Glas¬ 
platte. Der Zeichnende fährt die Contouren mittelst des Spiegelbildes 
eines senkrecht auf die Glasplatte aufgesetzten Stiftes nach. Dieser Stift ent¬ 
wirft durch einen sogen. Storchschnabel (Pantograph), also ein sich ver¬ 
schiebendes Parallelogramm, eine Verkleinerung der Contouren auf ein seitlich 
befestigtes Stück Papier. 

Milo nimmt für seinen Apparat die Vorzüge in Anspruch, dass er sehr 
billig ist, dass er den Patienten in keine gezwungene Stellung bringt, die 
Messung in sehr kurzer Zeit ermöglicht (1—IV 4 Minute) und dass der Patient 
nicht während des Zeichnens durch Berührungen mit dem Stift zu reflectorischen 
Bewegungen veranlasst wird. Wie man sieht, gestattet er aber nicht das An¬ 
fertigen von Horizontalcurven und steht deshalb hinter den complicirten Appa¬ 
raten von Schulthess etc. zurück, wenn er auch seinen Zweck, schnell ein 
exactes verkleinertes Bild der Eörpercontouren zu geben, offenbar gut erfüllt. 

Engels. 

Hahn, Ueber die acute infectiöse Osteomyelitis der Wirbel. Bruns'sche 

Beiträge Bd. 25 S. 176, 1899. 

Hahn hat schon im Jahr 1895 im 14. Bd. der Beiträge 12 Fälle (wo¬ 
runter 1 eigener) von acuter primärer Osteomyelitis der Wirbel zusammenge¬ 
stellt und als Erster ein vollständiges Krankheitsbild dieser nicht häufigen 
Localisation gegeben, das nun in vorliegender Arbeit noch vervollständigt wird. 
Seit 1895 wurden 27 weitere einschlägige Fälle veröffentlicht, wozu wieder 
2 eigene Beobachtungen des Verfassers kommen, so dass sich das heutige 
Material dieses seltenen Leidens aus 41 Fällen zusammensetzt, die sämmtlich in 
vorliegender Arbeit im Auszug aufgeführt werden. Das Doppelte der Erkran» 
kungen an acuter Wirbelosteomyelitis fand sich beim männlichen Geschlecht, 


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Referate. 


die überwiegende Mehrzahl der Fälle kam auf die zwei ersten Decennien. Alle 
Abschnitte der Wirbelsäule, mit Ausnahme des Steissbeines, fanden sich er¬ 
griffen: am häufigsten die Lendenwirbel, dann folgen die Brustwirbel, am 
seltensten das Kreuzbein, ohne dass jedoch ein oder mehrere bestimmte Wirl>el 
besonders häufig sich ergriffen zeigten. Die Wirbelkörper waren 14inal, die 
übrigen Abschnitte des Wirbels zusammen genommen ISmal ergriffen. Der 
Process beschränkte sich meist nur auf einen Wirbel. Die bacteriologische 
Untersuchung ergab gewöhnlich Staphylokokken, einmal auch Streptokokken 
und einen dem Diphtheriebacillus ähnlichen Bacillus. Verfasser kommt zu fol¬ 
genden Ergebnissen seiner Untersuchungen: 

1 . Die acute Osteomyelitis der Wirbel nimmt keine Ausnahmestellung 
ein gegenüber der anderer Knochen, was Vorkommen, Aetiologie und Verlauf 
betrifft; jedoch weist dieselbe in vielen Fällen schwere Complicationen auf, 
bedingt durch das Uebergreifen der Eiterung auf die benachbarten Körper¬ 
höhlen und die nervösen Centralorgane. 

2. Die Diagrnose kann in den meisten Fällen gestellt werden; unüber¬ 
windlichen Schwierigkeiten kann sie begegnen durch frühzeitiges Uebergreifen 
auf Rückenmark und Gehirn oder sonstige Complicationen, sowie durch früh¬ 
zeitig einsetzende Pyämie. 

3. Die Prognose ist ernst, abhängig vom Charakter der Infection und 
dem Allgemeinzustand des Patienten, vom Sitz an den einzelnen Abschnitten 
der Wirbelsäule und den verachiedenen Theilen der Wirbel, vom frühen Erkennen 
und Eingreifen. 

4. Die Therapie greife so frühzeitig ein, als die Schwierigkeit der 

Diagnosenstellung es im einzelnen Falle erlaubt, und sei möglichst activ. Sie 
hat jedoch da ihre Grenzen, wo der Process schon weit Übergegriffen hat auf 
die Centralorgane, oder wo sonstige schwere Complicationen bestehen, nament¬ 
lich bereits Pyämie eingetreten ist. Ehebald-Würzburg. 

Ab4e, Ueber Anwendung eines Herzstützapparates bei Herzaffectionen, ins¬ 
besondere bei cardialer Dyspnoe. Deutsche medicin. Wochenschrift 

1900 Nr. 4. 

Abee berichtet über 29 Fälle von Herzerkrankungen, in denen er die 
subjectiven Beschwerden der Patienten, insbesondere die dyspnoischen und des 
Gehvermögens, durch das Anlegen einer herzförmig gestalteten Pelotte beseitigt 
oder wesentlich gebessert hat. Durch den Apparat wird eine Emporhebung 
des Herzens, verbunden mit einer Acbsendrehung bewirkt. Indem nun das 
verlagerte, vergrösserte Herz zurecht gerückt wird, tritt eine Erleichterung der 
Herzarbeit, sowohl der Diastole wie der Systole ein; und hiermit ist auch das 
Verschwinden der subjectiven Symptome zu erklären. Graetzer-Würzburg. 

Bruns und Hon seil, Ueber die acute Osteomyelitis im Gebiete des Hüft¬ 
gelenks. Beiträge zur klinischen Chirurgie 1899 Bd. 24 S. 41. 

In der Tübinger Klinik sind innerhalb der letzten 40 Jahre 106 Fälle 
von Hüftosteomyelitis beobachtet worden, im Gegensatz zu 500 Fällen, die in 
der gleichen Zeit an Osteomyelitis des unteren Femurendes behandelt wurden. 


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ln nur 3 dieser Fälle wurde die Erkrankung auf eine Erkältung zurück- 
geführt; 15mal wurde als Gelegenheitsursache ein Trauma, wie Schlag, Fall 
auf die Hüfte, Ausgleiten u. s. w. angegeben. Bei Beginn des Leidens waren 
12 Patienten im Alter von 1—5 Jahren, 25 im Alter von 5—10 Jahren, 43 im 
Alter von 10—15 Jahren, 23 im Alter von 15—20 Jahren, 2 im Alter von 
20—25 Jahren und nur 1 Patient 26 Jahre alt. Das männliche Geschlecht 
wird etwas häufiger betroffen, dagegen besteht kein Unterschied in der Häufig¬ 
keit des Befallenwerdens der beiden Seiten. 48mal war die Erkrankung rechts¬ 
seitig, 46mal linksseitig und 12mal doppelseitig. 

Pathologische Anatomie. Die osteomyelitische Coxitis kann 
ihren Ausgang sowohl vom Femur, als von der Hüftpfanne nehmen. 

Was zunächst den Ausgang vom Femur anlangt, so ist eine rein epi- 
phy^re Localisation sehr selten (W. Müller, Jordan, Lannelongue). 
Häufiger findet man ausschliesslich das obere Diaphysenende, den 
Schenkelhals mit oder ohne Trochanterpartie erkrankt, meist aber werden 
Diaphyse und Epiphyse gleichzeitig ergriffen; dabei kann ausserdem der 
Femurschaft noch ganz oder theilweise an der Erkrankung theilnehmen. 
Am besten ist es nach Jordan, Müller, Schede und Stahl, v. Bruns 
und Honsell, die Erkrankung des ganzen oberen Femurtheiles bis zur Höhe 
des Trochanter minor als epiphysäre im weiteren Sinne zu bezeichnen. 

Das Charakteristische dieser epiphysären Osteomyelitis im Gegensatz zu 
der diaphysären besteht im allgemeinen darin, dass die einzelnen Entzündungs¬ 
heerde lange Zeit umschrieben bleiben. Aus den Heerden entwickeln sich 
einzelne oder auch multiple Knochencavemen, welche mit Eiter oder Granula¬ 
tionen gefüllt sind und meistens kleinere, von der Spongiosa, seltener von der 
Rindenschicht stammende Knochenpartikelchen als Sequester enthalten. Diese 
Sequester können allmählich resorbirt werden, können sich aber auch noch nach 
Jahren in solchen Höhlen vorfinden. In der Umgebung der Entzündungsheerde 
kommt es selten zu einer ausgedehnteren Knochenneubildung. Das Endresultat 
der osteomyelitischen Entzündung der Epiphysen ist vielmehr meistens eine 
Atrophie und Verkleinerung der betheiligten Knochenpartie. 

Wie V. Volkmann und Levöque zuerst beschrieben und v. Bruns 
and Honsell neuerdings bestätigt haben, kommt es am oberen Femurende 
gelegentlich zu einer mehr diffusen eitrigen Infiltration der Spongiosa. In der 
Regel findet man aber auch hier mehr einzelne Infiltrations- resp. Eiterheerde, 
die über den Kopf-, Hals- und Trochanterentheil zerstreut sind. Diese Knochen¬ 
höhlen enthalten meistens keine Sequester mehr. Hier und da kommen auch 
ausgedehntere Nekrotisirungen vor. So war z. B. in einem Falle von v. Bruns 
und Honsell das ganze obere Femurende von der Linea intertrochanterica 
an in einen Sequester verwandelt, der nur noch lose mit dem Schafttheil in 
Zusammenhang stand. 

Die Entzündung kann innerhalb des Knochens zum Stillstand kommen, 
ohne dass die Heerde nach aussen durchbrechen. Meistens aber schreitet der 
Prooets weiter. Liegen die Heerde nahe der Knochenoberfiäche, so erfolgt nach 
Zerstörung des Gelenkknorpels resp. des Periostes ein Durchbruch in das 
Gelenk oder in die periarticulären Weichtheile; es entstehen auf diese Weise 


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Referate. 


an der Circumferenz des Kopfes, Halses und der Trochanteren buchtige Sub- 
stanzverluste von bald grösserer, bald geringerer Ausdehnung. Sind diese 
Defecte sehr zahlreich, so können sie dem Knochen ein ähnliches Aussehen wie 
bei tuberculöser Coxitis geben, zumal dann, wenn sie sich mit schlaffen gelb- 
liehen Granulationen bedecken (W. Müller). 

Liegen die Heerde vorzugsweise in der Tiefe des Knochens, so können 
sie doch schliesslich direct oder dadurch, dass sie sich in oberflächlichen Hobl- 
räumen befinden, ebenfalls die Rindenschicht durchbrechen. So kann es zu 
erheblichen Substanzverlusten, ja zur völligen Zerstörung des Kopfes und selbst 
des Halses kommen. 

Eine besondere Bedeutung kommt den in nächster Nähe der Epiphysen- 
linie gelegenen Heerden zu. Die Knorpelfuge bildet einen gewissen natürlichen 
Schutz gegen die weitere Ausbreitung der Entzündung. Sie wird daher nur 
selten in grösserer Ausdehnung durchbrochen. Um so häufiger aber geht die 
Entzündung längs der Epiphysengrenze hin und führt zunächst eine Lockerung^, 
dann eine Lösung der Epiphyse von der Diaphyse herbei. Die gelöste 
Epiphyse kann vollständig nekrotisiren. Man findet dann den Kopf als freien 
Körper im Gelenk. Die abgelöste Epiphyse kann aber auch wieder theils am 
Femur, theils an der Pfanne anwachsen. Ebenso wie die Kopfepiphysen können 
auch die Epiphysen des Trochanter major und minor gelockert und gelöst 
werden. Ausserdem kommen aber auch noch Continuitätstrennungen 
vor, die zum Theil oder ganz ausserhalb der Epiphysenlinie durch die Knochen¬ 
substanz des Schenkelhalses verlaufen. 

Geht die Hüftosteomyelitis von der Hüftpfanne aus, so haben wir 
die sogen. Pfannenosteomyelitis vor uüs. Diese Pfannenosteomyelitis kann 
aber auch secundär entstehen. Unter den 106 Fällen der Tübinger Klinik 
fanden sich Veränderungen an der Pfanne 23mal, unter 18 Fällen W. Müller*s 
war die Pfanne 7mal ergriffen. Man findet im Knorpellager der Pfanne ent¬ 
weder nur kleine Defecte, erweichte und verfärbte Stellen, oder aber es sind 
grössere Partien des Knorpels zerstört und der darunter liegende Knochen 
erscheint rauh, usurirt und von Granulationen durchwachsen; oder schliesslich 
es finden sich tiefere Substanzverluste, Nekrose und Perforation der Pfannen¬ 
wand und ihrer Ränder. Gelegentlich kann auch bei Erkrankung der Becken¬ 
knochen ein periostitischer Abscess in das Hüftgelenk perforiren, ohne dass der 
ursprüngliche Knochenheerd selbst bis in das Hüftgelenk reicht. 

Mit dem Befallenwerden der Knochen geht Hand in Hand eine Ent¬ 
zündung der Synovialis des Hüftg^elenkes. Der Grad dieser Entzündung wech¬ 
selt von einer leichten adhäsiven, serösen oder katarrhalischen Entzündung bis 
zur völligen Vereiterung und Verjauchung des Gelenkes. Durchbruch eines 
grösseren Knochenheerdes oder eines periarticulären Abscesses in das Gelenk 
dürfte wohl unbedingt zu einer Vereiterung schwerster Form mit Zerstörung 
der Knorpelflächen, des Ligamentum teres und der Kapselwand führen. Die 
leichteren Formen der Entzündung dagegen werden wir dann finden, wenn es 
sich um kleine ostale Heerde handelt, die schon längere Zeit bestanden und 
so vor ihrer Perforation zu einer gegenseitigen Verwachsung der Gelenkhäute 
geführt haben. 

Tritt nun im Laufe der Zeit eine endgültige Heilung ein, so findet sich 


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stets eine Veränderung der Knochengestalt, welche für den Gebrauch 
des Beines von grösster Bedeutung ist. 

Nicht selten findet sich eine heerdweise oder diffuse Sklerosirung im 
Bereich der erkrankten Partien, und noch häufiger findet sich eine ausge¬ 
sprochene Atrophie des oberen Femurendes. Abhängig von dem Grad der 
vorhandenen Zerstörung, von dem Verhalten des Epiphysenknorpel und den 
Zug- und Druckverhältnissen an der erkrankten Partie sind die Formverände- 
mngen, die man in mannigfachster Weise an dem Gelenk findet. Charakte¬ 
ristisch ist zunächst am G e 1 e n k k o p f ein Einsinken der Gelenkwölbung gegen 
die Epiphysenlinie, die öfters einhergeht mit einer gleichzeitigen Verbreiterung 
des Kopfes. Man gewinnt dann den Eindruck, als ob der Kopf dem Halse 
wie ein Pilz hutfÖrmig aufsitzt. Auch das Umgekehrte kann beobachtet wer¬ 
den. Der Kopf erscheint dann schmäler als normal, und Hals und Kopf haben 
eine mehr cylindrische, ovale oder kegelförmige Gestalt. 

Noch häufiger als am Schenkelkopf finden sich Formveränderungen am 
Schenkelhals. Da haben wir zunächst Verkürzungen des Schenkelhalses, 
die so hochgpradig sein können, dass der Kopf gewissermassen dem Trochanteren- 
theil aufsitzt. Ausserordentlich häufig sind dann Verbiegungen des Schenkel¬ 
halses. Nach V. Bruns und Hon s eil lassen sich 8 Typen der osteomyelitischen 
Schenkelhalsverbiegung unterscheiden. 1. haben wir eine Einwärts- und 
Abwärtsbiegung des ganzen oberen Femurendes einschliesslich 
der Trochanterpartie; 2. eine Einknickung des Halses an seiner 
Basis; 8. ein Einrollen des Eopfhalstheiles gegen die Spitze des 
kleinen Trochanters zu. Schliesslich können auch Verbiegungen des 
Femurs im Bereich des Schafttheiles sich finden. 

Im Gegensatz zum oberen Femurende reagirt die Pfanne bei osteomye¬ 
litischen Processen mit ausgiebigster Knochenneubildung. Auch Pfannen- 
Wanderungen, wie wir sie bei der tuberculösen Coxitis so häufig beobachten, 
sind nicht selten. 

Orientiren wir uns nun noch über die Ausgänge der Entzündung, 
so werden im allgemeinen die definitiven Aenderungen im Gelenke der Dauer 
und vor allem der Intensität des entzündlichen Processes proportional sein. 
War nur eine leichtere Entzündung vorhanden, so werden sich nach Resorption 
des Exsudates schliesslich von der Synovialis her Adhäsionen zwischen Theilen 
der Kapsel und den Knorpelfiächen ausbilden, welche eine mehr minder hoch¬ 
gradige Störung der Beweglichkeit zur Folge haben. Waren schwere Zer¬ 
störungen innerhalb des Gelenkes eingetreten, so entstehen ausgedehnte Ver¬ 
löthungen der Gelenkenden, eine Umwandelung der Kapsel und der periaiüculären 
Weichtheile in derbes, schwartiges Narbengewebe, das Gelenk ankylosirt. 
Dass auch gelöste Epiphysen Verwachsungen mit der Pfanne eingehen können, 
ist bereits erwähnt worden. 

Im Anschluss hieran werden die Symptome besprochen. Der erste Beginn 
der Hüftosteomyelitis ist in der Regel ein ganz plötzlicher. Bis dahin ganz 
gesunde Individuen^ meistens Kinder oder blühend aussehende junge Leute, 
erkranken plötzlich von einem Tag auf den anderen mit hohem Fieber, oft 
verbunden mit Schüttelfrösten und schweren Bewusstseinsstörungen. Zugleich 
werden lebhafte spontane Schmerzen in der befallenen Extremität geklagt, 


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Referate. 


welche theils in die Hüfte selbst, theils wie bei tuberculöser Coxitiä ins Knie 
localisirt werden. Die Schmerzen nehmen bei Druck auf den Trochanter und 
die Fusssohlen, sowie bei den geringsten Bewegungsversuchen an Intensität zu 
und machen damit von vornherein jeglichen Gebrauch des Beines unmöglich, 
so dass Patient in der Regel vom ersten Tage an das Bett hüten muss. Bald 
gesellt sich zu diesen Symptomen eine flache gleichmässige Schwellung der 
Hüfte, besonders der Glutäalgegend, von teigig^ödematöser Beschaffenheit, über 
welcher erweiterte Venennetze hinziehen. Die Anschwellung beschränkt sich 
in der Regel nicht auf die Hüfte allein, sondern erstreckt sich vielmehr meistens 
Über den ganzen Oberschenkel hin bis zum Knie und öfters noch weiterhin 
nach abwärts. Betheiligen sich die Beckenknochen an der Erkrankung, so kann 
auch eine Schwellung innerhalb des Beckens von der Spina anter. super, 
herab bis zur Symphyse zu Tage treten. 

Der weitere Verlauf der Hüftosteomyelitis gestaltet sich verschieden, je nach¬ 
dem der Gelenkerguss die Kapsel perforirt und nach aussen durchbricht oder nicht. 

Der Verlauf ohne offene Gelenkeiterung ist kein so seltener. 

Unter den 106 Tübinger Fällen fanden sich 20 solcher Fälle, darunter 
3 doppelseitige Hüftaffectionen. Die schweren Allgemeinerscheinungen dauern 
in diesen Fällen etwa 3—6 Wochen lang fort, dann tritt langsame, aber stetige 
Besserung ein, die Schmerzen hören auf, dann das Fieber, die Schwellung geht 
zurück, und nach 4—6 Monaten ist die Heilung eingetreten. 

Es bleiben dann nur die durch die Krankheit gesetzten Formverände¬ 
rungen am Knochen und die dadurch bedingten Functionsstörungen zurück. 

Weit schwerer ist der Verlauf bei den Fällen mit offener Gelenkeiterung. 
Auch in diesen tritt meistens innerhalb von 1—8 Monaten ein Nachlass der 
schwersten allgemeinen Erscheinungen, vielleicht theilweise im Zusammenhang 
mit dem Durchbruch der Kapsel ein. Im Übrigen wird hier der Gang der 
Krankheit im wesentlichen bestimmt durch die Dauer und Intensität der Fistel¬ 
eiterung. Ehe der Eiter die Haut durchbricht, entstehen in der Regel Sen¬ 
kungen in die Glutäal- und Adductorengegend mit ausgedehnten Infiltrationen 
der Weichtheile. Bis der Eiter die Haut spontan perforirt, dauert es durch¬ 
schnittlich 6 Monate. Die Eiterung wird vielfach nicht nur vom Gelenk aus, 
sondern auch von extraarticulär gelegenen Knochenheerden mit oder ohne 
Sequesterbildung unterhalten. Die Periode der Fisteleiterung ist ausserordent¬ 
lich langwierig, und es erliegen ihr noch eine grosse Anzahl von Patienten, 
welche das acute Stadium überstanden haben. Es dauert durchschnittlich 
3 Vs Jahre, bis die Fisteleiterung sistirt. 

ln Fällen ohne offene Eiterung tritt innerhalb eines Jahres, bei solchen 
mit offener Eiterung durchschnittlich nach 8—4 Jahren, falls die Kranken über¬ 
haupt am Leben bleiben, ein definitiver Abschluss der Krankheit — eine 
Heilung — ein. Eine völlige Restitutio ad integrum erfolgt aber nur in den 
allerleicbtesten Fällen, in der Regel bleiben entsprechend den an Knochen und 
Gelenk entstandenen Veränderungen gewisse Störungen in der Gebrauchsfähig¬ 
keit des betreffenden Gliedes zurück; in erster Linie haben wir da Contrac- 
turstellungen des Beines. 

ln den meisten Fällen wird aus den ursprünglichen Contracturstellungen 
früher oder später eine feste Ankylose des Hüftgelenkes. 


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Eine verhältnissmässig geringe Rolle spielen die Verkürzungen bei den 
mit Glelenksteifigkeit aasgeheilten Fällen. Die Verkürzung zeigt sich in der 
Regel durch einen Hochstand des Trochanters. Ihre Ursache ist entweder eine 
Atrophie des oberen Femurendes, eine Verbiegung des Schenkelhalses oder eine 
Ausweitung des oberen Pfannenrandes. 

Ausserordentlich häufig, nahezu in einem Drittel aller Fälle beobachtet 
man Spontanluxation des Gelenkes. Es handelt sich fast ausschliesslich 
um Luxationen nach hinten und nach oben. In der Regel tritt die 
Luxation erst nach längerem Bestand des Leidens ein auf geringfügige äussere 
Veranlassung hin. Die Gebrauchsfähigkeit des luxirten Beines ist in der Regel 
recht beschränkt, namentlich da die Beweglichkeit desselben eine geringe zu 
sein pfiegt. 

Sehr selten erfolgen Spontanluxationen nach vorn, als Luxatio 
obturatoria und ileopubica. 

Häufig kommt es zu Epiphysenlösungen. Die Beine stehen nach erfolgter 
Lösung nach aussen oder innen rotirt und dabei häufiger gebeugt als gestreckt. 
Bei frischer Epiphysenlösung besteht natürlich abnorme Beweglichkeit. Später 
jedoch pfiegt eine mehr oder weniger erhebliche Ankylose einzutreten. Ge¬ 
legentlich bleibt die Möglichkeit, den Trochanter auf- und abwärts zu schieben, 
bestehen. Kommen solche Fälle dann lange nach Ablauf der Erkrankung zur 
Behandlung, so können Verwechslungen mit congenitaler Hüftgelenksluxation 
Vorkommen. Die Fractur sitzt zuweilen nicht in der Epiphysenlinie, sondern 
im Schenkelhals. Die Diagnose kann man dann nur durch das Röntgenbild 
stellen. Ist die Erkrankung ausgeheilt, so kann doch noch nach Jahren ein 
Recidiv sich einstellen. Von 106 Fällen der Tübinger Klinik sind 15 gestorben. 
Bei 4 derselben war eine Resection resp. Exarticulation vorgenommen worden. 

Für die Prognose der Hüftgelenksosteomyelitis ergeben sich folgende 
Leitsätze: 

Im Beginn des Leidens ist der Zustand des Kranken fast ausnahmslos 
ein äusserst schwerer. 

Bei Kranken, die erst im weiteren Verlauf des Leidens, nach Ablauf der 
schwersten Erscheinungen, zur Untersuchung kommen, ist die Prognose im 
ganzen wesentlich besser, sie richtet sich in der Hauptsache darnach, ob eine 
seröse oder katarrhalische Coxitis (ohne Aufbruch) oder eine schwere Gelenk- 
Vereiterung (mit Durchbrach der Kapsel und der äusseren Haut) besteht. Im 
ersteren Falle darf die Prognose quoad vitam günstig gestellt werden; im 
letzteren Falle kann immer noch früher oder später infolge septischer oder 
pyämischer Allgemeininfection, Entkräftung durch lange, copiöse Eiterabsonde- 
rang, amyloide Degeneration der Unterleibsorgane der Exitus erfolgen. . 

Nach Ablauf der Krankheit sind meistens die Vei-änderungen an der 
Hüfte sehr erhebliche, indessen besteht doch Aussicht, dass die Kranken mit 
der Zeit, selbst für den Fall, dass eine Luxation oder Lösung der Epiphyse 
vorliegt, wieder arbeitsfähig werden. 

Recidive nach abgelaufener Hüftosteomyelitis werden zwar, wie bei 
Osteomyelitis Überhaupt, ab und zu beobachtet, sind aber doch so selten, dass 
sie für die Prognose nur unerheblich ins Gewicht fallen. 

Bei Stellung der Diagnose einer Osteomyelitis des Hüftgelenkes muss 


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Referate. 


man vor allen Dingen die tnberculöse Coxitis ansschliessen, und die Entechei' 
dang ergibt sich ohne weiteres bei acutem Auftreten der Osteomyelitis. 
Schwerer dagegen ist sie, wenn die Osteomyelitis subacut aufbritt, zumal wenn 
die Erkrankten erst im späteren Stadium oder nach Ablauf des Leidens zur 
Beobachtung kommen. Hierbei würde in Betracht kommen das Auftreten des 
Leidens bei vollkommen gesunden Personen im Wachsthumsalter, der Spontan- 
luxation, Epiphysenlöstmg oder einer gleichzeitigen Osteomyelitis an anderen 
Körpertheilen. 'Neben diesem klinischen Verhalten kommt als weiteres diagnos¬ 
tisches Hilfsmittel die bacteriologische Untersuchung in Betracht, die 
in allen Fällen von Osteomyelitis Eiterkokken, vor allen den Staphylococcus 
pyogenes aureus, seltener den Streptococcus oder den Pneumococcus ergibt 
Wichtig ist auch die Untersuchung mit Röntgenstrahlen, die namentlich in 
älteren Fällen die Diagnose mit Bestimmtheit stellen lässt. 

Therapie. Wenn man auch gelegentlich nach einfacher Arthrotomie 
eine Ausheilung gesehen hat, so möchten wir doch als einzig wirksame Ope¬ 
ration, dann, wenn eine acute Gelenkvereiterung eingetreten ist, die Resection 
des Hüftgelenkes empfehlen, denn nur die Resection allein kann nicht nur die 
unmittelbaren, sondern auch die später noch durch langandauemde Eiterung 
drohenden Gefahren beseitigen. In der Tübinger Klinik wurde die Resection 
14mal ausgefübrt, nur 2 Patienten sind im Anschluss an die Operation zu 
Grunde gegangen; alle Übrigen haben sich erholt und sind nach Verlauf von 
2—3 Monaten entlassen worden. 

Die nach Ausheilung der Erkrankung zurückgebliebenen Deformitäten 
werden wie die Hüftdeformitäten Überhaupt behandelt. Gocht* Würzburg. 

Sprengel, Ueber einen operirten und einen nicht operirten Fall von Coxa 

vara traumatica. Langenbeck's Archiv 59. Bd. S. 986, 1899. 

Sprengel vertritt die Ansicht, dass das statische Moment in der 
Aetiologie der Coxa vara bisher allzusehr betont worden ist und glaubt, dass das 
so häufig schmerzhafte Anfangsstadium der Coxa vara, das „acute Stadium* 
Ho fmei ster’s, in vielen fallen am zwanglosesten durch ein Trauma erklärt wer¬ 
den kann. Als Beispiel hierfür und zur Ergänzung zweier operirter Fälle, die 
Sprengel auf dem Deutschen Cbirurgencongress 1898 demonstrirt hatte und 
bei denen die traumatisch gelöste Eopfepiphyse des Femur sich mit dem 
Schenkelhals an abnormer Stelle wieder vereinigt hatte, stellte er dem letzt¬ 
jährigen Cbirurgencongress einen weiteren noch nicht operirten Fall vor und 
begründete an demselben seine auf Coxa vara traumatica gestellte Diagnose, 
zunächst das Vorhandensein der Coxa vara durch die classischen Coxa vara-Sym- 
ptome: Reelle Verkürzung (Hochstand des Trochanter), Aussenrotation und Ad- 
duction bei einem männlichen Individuum am Ende der Wachsthumsperiode. 
Für die traumatische Aetiologie sind nach Verfasser sodann folgende 4 Punkte 
wichtig: 

1. Das plötzliche Auftreten der Krankheit, das Trauma selbst braucht 
nicht besonders prägnant zu sein. 2. Das Bestehen heftiger Schmerzen im An¬ 
fang der Erkrankung und relativ schnelles Verschwinden derselben. 3. Die 
Einseitigkeit der Affection. 4. Das Fehlen sonstiger Belastungsdeformitäten. — 
Für den speciellen Fall kam noch dazu die absolute klinische üebereinstimmung 


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Referate. 


177 


des vorg^estellten Falles mit den beiden früheren vom Verfasser beobachteten 
und anatomisch untersuchten Füllen. Das der Arbeit beigefügte ROntgenbild 
zeigt das eigentliche .hlzhutartige* Ueberragen des unteren Eopfrandes g^gen 
den Schenkelhals bei völlig unverändertem Schenkelhalswinkel (Coxa vara in 
Eocher'schem Sinn). Mehrere beigegebene Photographien des Patienten illu- 
striren die typische Haltung des verkürzten Beines. Zum Schluss stellte 
Sprengel noch einen der von ihm resecirten Fülle vor: das Resultat war in 
orthopüdischem Sinne tadellos, was die Function anbelangt nicht völlig be- 
friedigend. Ehebald-Würzburg. 

Kr edel, Ueber den Zusammenhang von Trauma, Epiphysenlösung und Coxa 

vara. Deutsche Zeitschrift für Chirurgie Bd. 54 S. 161, 1900. 

Er edel bringt einen weiteren Beitrag zu der neuerdings so viel venti- 
lirten Frage der Coxa vara traumatica. Es handelt sich in seinem Fall um ein 
4 'l 2 fihngea Mädchen mit Zeichen von Rhachitis. Ohne jede Veranlassung 
begann dasselbe seit Jahre zu hinken. Das linke Bein war V/ 2—2 cm 
kürzer wie das rechte, dabei waren alle Bewegungen in der Hüfte frei. Aus 
dem beigefügten Röntgenbilde diagnosticirt der Verfasser eine Continuitüts- 
trennung genau der Epiphysenlinie folgend, nach unten sich schrüg etwas in 
die Diaphyse hinein fortsetzend. Das Röntgenbild zeigt in der That eine so 
deutliche Verschiebung der Fragmente, dass in diesem Falle mit Sicherheit 
eine Epiphysenlösung angenommen werden darf, und derselbe ist wohl in Ana¬ 
logie zu setzen mit den SprengeTschen Füllen, bei denen die Epiphysen¬ 
lösung an den durch die Resection gewonnenen Prüparaten direct nachgewiesen 
werden konnte. Dagegen scheint uns bei dem Fall von Joachimsthal, den 
Kredel als weiteres Beispiel anführt, eine wirklich stattgefundene Lösung 
der Epiphyse nicht mit absoluter Bestimmtheit nachgewiesen worden zu sein. 
Kredel hebt ferner die gute Beweglichkeit in seinem Fall hervor und das 
Fehlen irgend eines Traumas. Das Kind hatte nie über Schmerzen geklagt, 
nie das Bett gehütet. Die Lösung der Knorpelfuge muss also spontan oder 
durch eine ganz geringfügige Ursache und jedenfalls unbemerkt eingetreten 
sein. Verfasser ist der Ansicht, dass hier wie auch in den Füllen von Spren¬ 
gel, Kirmisson, Joachimsthal und Hofmeister die Trennung der 
Knorpelfuge an den schon vorher kranken Schenkelhälsen stattfand, meist 
durch ein, allerdings nur ganz geringfügiges Trauma. Diese Fälle sind zu 
trennen von der eigentlichen traumatischen Form der Coxa vara, die 
repi-äsentirt wird durch die Fülle von Sud eck und Alsberg, die theil weise 
auch Erwachsene betreffen, welche durch ein Trauma einen Schenkelhalsbruch 
erlitten haben, nach kurzem Krankenlager wieder henimgehen und bei denen 
es nun nachträglich zur Belastungsverbiegung kommt. 

Ehebald-Würzburg. 

Busse, Ein Beitrag zur Coxa vara. Dissertation, Erlangen 1899. 

Busse veröffentlicht 2 Fälle von Coxa vara aus der chirurgischen 
Klinik in Erlangen. Es handelt sich im ersten Fall um ein löjähriges Mädchen, 
das seit ^1* Jahren hinkte, im anderen um einen IGjährigen Patienten, der seit 
47^ Monaten Beschwerden beim Gehen hatte und sein Leiden auf ein leichtes 

2^it8chrift für ortbopädlacbe Cbirtirgie. VIII. Baud 22 


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178 


Referate. 


Trauma zurückfQhrte. In beiden Fällen wurde die Resection ausgefährt und 
zwar schief von der Mitte des Trochanter major aussen nach unten und innen. 
Verfasser rechnet beide Fälle zu der Gruppe der Coxa vara adolescentium sive 
statica und geht besonders hei dem zweiten Falle des Näheren auf die Diffe- 
reniialdiagnose ein gegenüber Coxitis, Arthritis deformans, nervöse Coxalgie, 
Luxation, Epiphysenlösung und Schenkelhalsfractur, welch letztere Aetiolo^e 
man sehr leicht hätte versucht sein können, in diesem Falle anzunehmen. 
Nachdem Verfasser die beiden gewonnenen Resectionspräparate genau be¬ 
schrieben hat (einige schematische Zeichnungen sind beigegeben), stellt er das 
ganze Krankheitsbild der Coxa vara, wie es sich nach den Ansichten der ver¬ 
schiedenen Autoren darstellt, in kurzer übersichtlicher Weise zusammen. 

E he b al d-Würzburg. 

Lu88^ Anatomische Beiträge zur Coxa vara. Inaugural-Dissertation, Würz¬ 
burg 1899. 

Da die einzige Möglichkeit für die Adductionsstellung am Oberschenkel 
einen zahlenmässigen Ausdruck zu finden, sich in dem Verhältniss der Basis 
der überknorpelten Gelenkfläche des Schenkelkopfea zur Femurachse biete, hat 
Lass, um die normalen Verhältnisse zu finden, an 48 Femura des anatomischen 
Instituts in Würzburg den sogen. Hoffa'schen Richtungswinkel des pro¬ 
ximalen Femurendes gemessen. Bei der Ausführung der Messung wurde so 
vorgegangen, dass die Achse des Femur mit dem Augenmass bestimmt und die 
beiden Knorpelendpunkte des Femurkopfes in der Frontalobene direct an den 
einen Schenkel des Winkelmessers angelegt wurden. Als Mittelwerth des Rich¬ 
tungswinkels ergab sich 42®, als Grenzwerthe 30® und 52®. Hierauf stellte 
Vert'asser dieselben Untersuchungen an 107 Oberschenkelpräparaten des Würz¬ 
burger pathologischen Instituts an. Diese sämmtlichen Fälle werden einzeln 
aufgefülirt. Weitaus die meisten dieser Präparate halten sich in den Mittel- 
werthen. Darunter blieb ein Präparat einer Schenkelhalsfractur mit einem 
R.-W. von 18®. eine Schenkelnekrose mit R.-W. von 11®, eine Coxarthrocacc 
mit einem solchen von —12® und —5®, endlich eine Coxitis mit einem Winkel von 
—8®. Zwei Präparate übersteigen den Maximalwerth, ein Schenkelhalsbruch (78®) 
und eine Hyperostose (65®). Hierauf werden die anatomischen Verhältnisse der 
Coxa vara noch des weiteren besprochen. Bei allen auf den verschiedensten Ur¬ 
sachen beruhenden Coxa vara-Fällen sei der Richtungswinkel kleiner als normal, 
mit alleiniger Ausnahme der Arthritis deformans, bei welcher Krankheit oft 
trotz ausgesprochener Veränderungen im Sinne der Coxa vara, der Richtungs¬ 
winkel normal oder sogar vergrössert sei. Ehebald-Würzburg. 

Joachimsthal-Berlin, Ueber Coxa vara traumatica infantum. Archiv für 

klinische Chirurgie 1900 Bd. 60 S. 71. 

Verfasser theilt einen Fall mit, in dem ein öV^jähriges Mädchen plötzlich 
nach einem Sprung durch einen Reifen über heftige Schmerzen in der rechten 
Hüfte klagte, die sie indessen nicht hinderten, noch die beiden zur Wohnung 
ihrer Eltern führenden Treppen ohne Unterstützung hinaufzugehen. Die Be¬ 
schwerden liegen nach 2 Tagen nach, der Gang blieb aber dauernd ein hinken¬ 
der. Den klinischen Erscheinungen nach handelte es sich — 7 Monate nach 


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Referate. 


179 


dem Travima fand die Untersuchung statt — um eine rechtsseitige Schenkel- 
halsverbiegung in der Richtung nach abwärts, und dementsprechend ergab das 
zur Sicherung der Diagnose angefertigte Röntgenbild als Ursache der Schenkel- 
halsdeformitat eine Lösung in der Kopfepiphyse des Femur mit nachti^licher 
Wiederverwachsung in deformer Stellung. Dass man, wie Joachimsthal 
sagt, in Uebereinstimmung mit wenigen bisher in der Literatur niedergelegten 
analogen Fällen, nicht nur gegen das Ende der Wachsthumsperiode, die man 
bisher för besonders geeignet zur Entstehung von Epiphysenlösungen am oberen 
Femurende geheilten hat, in einer solchen Trennung ein gelegentliches ursächliches 
. Moment für das Zustandekommen einer Coza vara traumatica zu sehen hat, 
sondern dass man auch schon in den früheren Jahren mit der Möglichkeit einer 
derartigen Entstehung zu rechnen hat, unterliegt gar keinem Zweifel und 
stimmt ganz mit unseren Beobachtungen überein. Gocht-Würzburg. 

Muskat, Die congenitalen Luxationen im Kniegelenk. Archiv für klinische 

Chirurgie Bd. 54 Heft 4. 

Muskat hat die bisher in der Literatur bekannt gegebenen Fälle von 
angeborener Kniegelenksluxation zusammengestellt und dieselben einer ein¬ 
gehenden Kritik unterworfen. Das Resultat seiner Untersuchungen ist, dass es 
sich in weitaus den meisten Fällen um keine wirkliche Luxation handelt, — 
nur in 7 von den angeführten 82 Fällen —, sondern um eine angeborene Hyper¬ 
extension im Kniegelenk, ein Genu recurvatum congenitum. (Drehmann kommt 
in seiner neuerdings in dieser Zeitschrift veröffentlichten Arbeit über das gleiche 
Thema bekanntlich zu einem wesentlich hiervon abweichenden Resultat. Ref.) Auch 
in einem von M us ka t in der B e rg m an naschen Klinik beobachteten und zur Sec- 
tion gekommenen Falle handelte es sich um letztere Affection; desgleichen bei einer 
grösseren Anzahl secirter Fälle, die im Auszug mitgetheilt werden. Hervor¬ 
zuheben wäre aus demselben die stets vorhandene Verkürzung des M. quadriceps 
und das nur scheinbare Fehlen der Patella, die bei der Autopsie fast immer 
aufgefunden werden konnte. Muskat führt die Entstehung der Deformität 
auf abnorme Druckverhältnisse in utero zurück. Als Therapie wird Massage 
eventuell Redressement forcö in narcosi empfohlen, nöthigenfalls operativer Ein¬ 
griff. Ähren 8-Würzburg. 

Lotheisen, Ueber Zerreissungen im Streckapparat des Kniegelenks. Beiträge 

zur klinischen Chirurgie 1899 Bd. 24 S. 673. 

Verfasser theilt die genannten Zerreissungen nur in die der Patella und 
in solche, die oberhalb und unterhalb der Kniescheibe gelegen sind. 

Am häufigsten sind die Fracturen der Patella, von welchen v. Bruns 
schon 1886 eine Zahl von 524 zusammensteilen konnte, eine Statistik, die 
sicher nicht vollständig ist, da viele Fälle dieser Art nicht veröffentlicht werden. 
Für sie bietet besonders die Behandlungsmethode ein praktisches Interesse. 
Anders steht es mit den Zerreissungen des M. quadriceps und seiner Sehne, 
sowie des Ligamentum patella^. Daran schliesst sich als seltenste Verletzung 
der Rissbruch der Tuberositas tibiae, an welcher sich das Kniescheibenband 
ansetzt. 


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Referate. 


Lotheiten bespricht eingehend den Entstehungsmechanitmns dieser 
Verletzungen, sowie die klinischen Erscheinungen und die Diagnose, um eodann 
zu der Behandlung überzugehen. Zu diesem Zweck sondert er die Kniescheiben¬ 
brüche von den Sehnenzerreissungen. 

Auf Qrnnd der Erfahrungen, die man an verschiedenen Orten gemacht 
hat, verwirft er die Massage und mechanische Behandlungsmethode, nnd em¬ 
pfiehlt als die beste Methode, die immer zu guten Heilungen führt, die offene 
Naht der Kniescheibe. Dabei bespricht er die verschiedenen Arten der 
Ausführung der Naht. . 

Bei den Zerreissungen der Quadricepssehne und des Ligamentum patellae 
unterscheidet er ebenfalls die mechanische und die operative Behandlung. Bei 
der Prüfung der Behandlungsdauer und der Resultate bei der Methode ergibt 
sich, dass die operative Behandlung um die Hälfte weniger Zeit erfordert, ein 
Umstand, der besonders für die klinische Behandlung wichtig ist. Die Resultate 
der mechanischen Behandlung ergeben für Quadricepsruptur etwa 63 V> 
vollständige Heilungen, für Ligamentruptur etwa 69 ^/o, dagegen ergeben die 
Resultate der operativen Behandlung lOO^o Heilungen. 

20 Krankengeschichten dienen zur Illustration der bisherigen Ausführungen. 

Zum Schluss werden die Rissfracturen der Tuberositas tibiae besprochen. 
Die 12 bisher beobachteten Fälle werden mitgetheilt. Alle betreffen männliche 
Individuen, 11 Fälle Leute im Alter zwischen 15 und 20 Jahren. Diese Fracturen 
entstehen in der Regel durch Muskelaction, sind also wirkliche Rissfracturen. 

Bezüglich der Therapie bemerkt Verfasser, dass in den Fällen, in 
welchen sich das Fragment leicht reponiren und in dieser Stellung festhalten 
lässt, die mechanische Behandlung ausreichend ist, sonst ist die Operation am 
Platze, besonders auch in veralteten Fällen mit schwerer Functionsstörung. 
Die Endresultate waren bei frischen Fällen und beiden Behandlungsmethoden 
stets gut. 

Ein ausführliches Literaturverzeichniss bildet den Beschluss. 

Goch t-Würzburg. 

Schlosser, Zur Osteoplastik bei Defecten der Tibia. Bruns'sche Beiträge 

Bd. 25 8. 76, 1899. 

Schlosser hat bei einer nicht consolidirten Fractur der Tibia, bei 
der nach Anfrischung der beiden Fragmente ein Defect von 1 cm zwischen 
denselben entstanden, und ausserdem an der Hinter- und Aussenfläche des 
Knochens noch ein bewegliches, breites, keilförmiges Stück ausgebrochen war, 
durch einen MüHerrschen Haut-Knochenlappen den an der vorderen inneren 
Fläche der Tibia bestehenden Defect überdeckt. Der Lappen vmrde an der 
Innenfläche des Unterschenkels, knapp unterhalb der Fracturstelle, 8 cm lang, 
4 cm breit mit hinterem Stiele gebildet und trug an seiner Spitze eine 4 cm 
lange, 3 cm breite, die ganze Corticalis umfassende Knochenlamelle. 6 Wochen 
nach der Operation war eine feste Consolidation eingetreten. Ein im folgen¬ 
den Jahre aufgenommenes Röntgenbild ergab eine erhebliche Verdickung des 
übeipflanzten Knochenlappens, eine Erfahrung, die auch anderweitig schon 
gemacht wurde und die von massgebender Bedeutung für die Indicationsstellung 
zu dieser Operation ist, weil sie beweist, dass auch Knochenstücke von relativ 


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Referate. 


181 


geringer Dicke hinreichen, um eine feste Vereinigung herbeisuführen. Nach¬ 
dem Verfasser in kurzem alle übrigen plastischen Operationsmethoden zur Behand¬ 
lung von Pseudarthrosen und Defecten der langen Röhrenknochen (unter anderen 
wird auch ein von Wölf 1er operirter Fall berichtet, bei welchem die resecirte 
Fibula an die beiden sehr kurzen noch vorhandenen Tibiafragmente angelagert 
wurde, mit schliesslichem guten Enderfolg) abgehandelt hat, kommt er zu dem 
Ergebniss, dass der MülleFschen Plastik bei der operativen Behandlung von 
Pseudarthrosen der Tibia ein weiteres Feld offen steht, als ihr bisher einge- 
i^umt wurde. • Ehebald-Würzburg. 

Maskat-Berlin, 1. Beitrag zur Lehre vom menschlichen Stehen. Archiv für 
Anatomie und Physiologie, Physiologische Abtheilung 1900 S. 285. — 
2. Die Brüche der Mittelfussknochen in ihrer Bedeutung für die Lehre 
der Statistik des Fusses. Sammlung klinischer Vorträge 1899 Nr. 258. 
Nachdem mit Hilfe der Röntgenstrahlen ein grosses einwandfreies Ma¬ 
terial dafür geschaffen ist, dass es sich bei der besonders in den militärärztlichen 
Kreisen unter dem Namen .Fussgeschwulst“ bekannten Erkrankung der Soldaten 
fast immer um einen Bruch eines der Mittelfussknochen handelt, und dass diese 
Fracturen ohne directe Gewalteinwirkung zu Stande kommen, dass ferner in 
fast allen Fällen der zweite oder dritte Mittelfussknochen betroffen wird, hat 
Verfasser diese unbestreitbare Thatsache herangezogen, um damit der Lehre 
von der Statik des Fusses zu dienen, d. h. um seinerseits durch diese Be¬ 
obachtungen die Lehre zu stützen, dass die Stützpunkte des Fusses, der vom 
Körper belastet ist, dreifacher Art sind: 

Calcaneus, 

Capitulum metatarsi II, 

Capitulum metatarsi III. 

Auch Röntgenaufnahmen brachte Verfasser zur weiteren Sicherung dieser 
von Beely hauptsächlich aufgestellten Lehre. Gocht-Würzburg. 

Hahn, lieber die Tuberculose der Knochen und Gelenke des Fusses. (Auf 
Grund von 704 Fällen der v. Bruns'schen Klinik.) Beiträge zur klini¬ 
schen Chirurgie 1900 Bd. 26 S. 525. 

Verfasser liefert einen Beitrag zur Statistik der Fusstuberculose an der 
Hand des reichen Mateiials der v. Bruns'schen Klinik. Die Untersuchung er¬ 
streckt sich auf das Vorkommen der Krankheit mit Bezug auf Alter und Ge¬ 
schlecht, auf die Bedeutung der Heredität, des Berufs und insbesondere des 
Traumas auf ihre Entstehung. Ausserdem wurde namentlich der Sitz und 
Ausgangspunkt der Erkrankung untersucht. Die eigentliche klinische Seite ist 
in der Arbeit nicht berücksichtigt worden. 

Die Ergebnisse der Arbeit sind in.folgenden Schlusssätzen niedergelegt: 
1. Die Tuberculose der Knochen und Gelenke des Fusses verhält sich 
ebenso wie die Tuberculose anderer Knochen und Gelenke hinsichtlich der 
Vertheilung auf das Geschlecht — die Männer zu 62 7o betroffen — der Bevor¬ 
zugung des jugendlichen Alters, insbesondere der Pubertätszeit, ferner im Hin¬ 
blick auf Heredität, auf die Beeinflussung durch die Berufsthätigkeit, durch 
die sociale Lebensstellung überhaupt. 


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Referate. 


2. Die Entstehung des Leidens ist in 13 unserer Fälle auf ein voraus- 
gegangenes Trauma als Gelegenheitsursacbe zurückzuführen. 

3. Das Auftreten der Tuberculose im Anschluss an ein Trauma betrifft 
theils vorher bereits anderweitig tuberculöse Personen, theils vorher anscheinend 
gesunde Individuen. 

4. Die zwischen Trauma und erstem Auftreten der Tuberculose, resp. 
der Zeit, wo die Diagnose einer solchen möglich war, verstrichene Frist wechselt 
zwischen einer Woche und Monaten. Ein Charakteristicum im Verlauf, das 
uns einen früheren Hinweis lieferte, eine verbindende. Brücke zwischen Ver¬ 
letzung und dem Manifestwerden der tuberculösen Affection konnten wir nicht 
nachweisen; jeder Fall ist für sich zu prüfen. 

5. Eine wesentliche Zunahme der auf einen Unfall zurückgeführten Er¬ 
krankungen seit Einführung des Unfallversicherungsgesetzes ist aus unseren 
Fällen nicht zu entnehmen (12: 14 ®/o). 

6. Bezüglich des Sitzes der Tuberculose an den einzelnen Fnssabschnitten 
nimmt die Häufigkeit der Erkrankung bei den einzelnen Knochen und Gelenken 
ab, je weiter distalwärts vom Fussgelenk dieselben gelegen sind. Die Frequenz 
nimmt ab — im Gegensatz zur Belastungsiheorie — mit der Menge der Spongiosa. 

7. Von den einzelnen Knochen ist am häufigsten der Calcaneus erkrankt, 
der überhanpt eine gesonderte Stellung unter den Fusswurzelknochen bean¬ 
sprucht; er ist in 839 Fällen, also fast in der Hälfte aller Fälle betheiligt. 
Dann folgt der Talus mit 291, der Cuboides mit 154 Erkrankungen, sodann 
die übrigen Knochen. 

8. Von den grösseren Gelenken ist das Fussgelenk am häufigsten erkrankt, 
dann folgt das ChoparPsche und L isfranc*sche Gelenk. 

9. In 3I7o der Fälle von Fussgelenkstuberculose handelt es sich um 
primären Synovialfungus, in 697o um einen primären Knochenheerd. 

G o c h t-Würzburg. 

Blencke, Ueber orthopädische Apparate. Deutsche Praxis 1900 Nr. 5. 

In anschaulicher Weise macht Blencke den praktischen Arzt mit den 
wichtigsten portativen orthopädischen Apparaten, den Principien ihrer Con- 
struction, der Art ihrer Anwendung und ihren Indicationen vertraut. Bezüg¬ 
lich der Einzelheiten muss auf die Arbeit selbst verwiesen werden. 

Graetzer -Würzburg. 


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X. 

Die orthopädisclie Chirurgie. 

Antrittsrede zur Eröffnung des orthopädischen Curses der 
Eönigl. Universität Bologna (Lehrjahr 1899—1900). 

Von 

Prof. Dr. Cesare Ghillini. 

Es gereicht mir zur grossen Ehre, den orthopädischen Cursus 
an der hiesigen Universität zu eröffnen, wie es mir auch stets eine 
theure Erinnerung sein wird, das orthopädische Institut Rizzoli 
chirurgisch eingeweiht zu haben. 

In dem von mir 1897 veröffentlichten klinischen Bericht der 
orthopädischen Chirurgie schrieb ich: 

„Ich widme diese Arbeit über orthopädische Chirurgie dem Ge- 
dächtniss des berühmten Mitbürgers Prof. Francesco Rizzoli, 
welcher grossmüthig sein ganzes Vermögen der Provinz Bologna zur 
Gründung eines orthopädischen Institutes vermachte, damit, wie er 
sagte, das Vermögen, welches er an Kranken verdiente, der leidenden 
Menschheit wieder zu gut käme/ 

„Aus Dankbarkeitsgefühl, weil ich in dem Institut Rizzoli 
die erste Operation einer angeborenen Hüftgelenksverrenkung 
ausführte, und zwar an einem jungen Manne, welcher durch Ver¬ 
wandtschaft mit derselben Patrizierfamilie verbunden ist, in welcher 
Rizzoli vor 50 Jahren (am 27. April 1847) ein Mädchen, mit der¬ 
selben Deformität behaftet, operirte, bei welcher Gelegenheit er zum 
ersten Male seinen Osteoclastus an wandte.*" 

Um weitere Erinnerungen aufzufrischen, erlaube ich mir her¬ 
vorzuheben, dass gleichzeitig mit der für die Wissenschaft so frucht¬ 
baren Streitfrage, welche sich Ende des verflossenen Jahrhunderts 

Zeltoohrlft fdr orthopädische Chirurgie. VIII. Bsnd. |3 


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Cesare Ghillini. 


zwischen Galvani und Volta auf dem Gebiet der Physik und 
hauptsächlich der Elektricität erhob, — eine andere ebenso wichtige 
Frage auf dem Gebiet der Medicin und hauptsächlich der Orthopädie 
zwischen den Universitäten von Bologna und Pavia verfochten wurde. 

Galvani bevorzugte unter seinen Studien dasjenige über das 
Knochengewebe. 

Gelegentlich der Einweihung des Denkmals für Galvani sprach 
der Physiologe Vella folgende ^orte. 

„Eine physisch - medicinisch - chirurgische Thesis ,über die 
Knochen‘ (De ossibus), welche Galvani mit grossem Verständniss 
öffentlich im Archivgymnasium vortrug, und in welcher er über die 
chemische Zusammensetzung, den Bau, die Bildung, die Form der 
Ernährung und der Krankheit dieser Organe sprach, trug ihm so 
grosse Ehre ein, dass ihm trotz seiner grossen Jugend der Lehrstuhl 
der ,Notomia umana‘ sowohl an der Universität als au dem Institut 
der Wissenschaften anvertraut wurde.“ 

Die Streitfrage auf dem Gebiete der Medicin wurde von Gal¬ 
vani aufgeworfen, welcher den Anatomen Scarpa des Plagiates 
beschuldigte. 

Vannoni sagt (Opere dello Scarpa): Um gewisse Vor¬ 
kommnisse aus dem Leben Scarpa's zu erhellen, gebe ich im Drucke 
einige Berichte wieder, welche zwischen einem Manuscript des ver¬ 
storbenen Prof. Carminati gefunden wurden, und die hauptsächlich, 
soweit es sich um Scarpa handelt, sich darauf beschränken, den 
Ursprung der Streitfrage festzustellen, welche sich 1772—1773 
zwischen Bologneser, Modeneser, Paduaner und Paveser Professoren 
entwickelte, welche Streitfrage dann im Jahre 1776 zwischen dem 
berühmten Prof. Galvani und Scarpa ausgefochten wurde. 

Diese Polemiken der Universität von Pavia und der von Bologna 
wurden noch zwischen dem Anatomen Scarpa und Medici, Professor 
der Physiologie unserer Universität, fortgesetzt. 

Eine Aufzeichnung des Dr. Speranza, Schüler von Scarpa, 
schliesst mit folgenden Worten: 

. man kann kühn behaupten, dass die Lehre, aufgestellt 
Von dem berühmten Physiologen Bolognas, den ich, obgleich ich 
nicht seiner Meinung beistimme, verehre und hochachte, nicht genügt, 
auch nur zum kleinsten Theil die klare Theorie über die innere 
Knochenstructur des grossen Anatomen, berühmten Prof. Scarpa 
zu zerstören. . . .“ 


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Die orthopädische Chirurgie. 


185 


Gerade in dieser Zeit macht sich die Orthopädie von dem 
Empirismus, der dieselbe beherrscht, frei, um mehr einen wissen¬ 
schaftlichen Charakter anzunehmen. Die Deformitäten werden von 
da ab auf Grund der Anatomie und Physiopathologie studirt. 

Die Geschichte der Orthopädie ist alt, ich werde dieselbe kurz 
zusammenfassen. 

Hypokrates beschäftigte sich mit den Verkrümmungen der 
Wirbelsäule und dem Klumpfuss, und empfahl für die Gesunden 
Gymnastik und für die Verkrüppelten Maschinen. 

Galen spricht über Eiterung der Halswirbel, behandelt die 
SkoUose mit Athmungsübungen, Singen und Rumpf verbänden, und gab 
die Namen Kyfose, Lordose, Skoliose, welche noch heute im Ge¬ 
brauche sind. 

Bis zu Ambrois Par^, 1561, zehrte die Orthopädie nur noch 
an Erinnerungen. 

Par^ erfindet einen Apparat aus Eisen für die Verkrümmung 
der Wirbelsäule und für den Klumpfuss. 

Der Spanier Arceo, ein Zeitgenosse des Pare, construirt eben¬ 
falls zwei Apparate für den Klumpfuss. 

Fabricius d’Hilden gibt 1614 die erste Zeichnung einer 
Skoliose und behandelt die Deformität mittelst Maschinen. 

Andere, wie Salomone Alberti (1594), Vido Vidio {1596), 
Severino Pineo (1641) und Riolano (1641) beschäftigten sich 
ebenfalls damit. 

Gegen Ende des Jahres 1600 veränderte Rauchin den Hypo- 
kratischen Stuhl, um die berühmte buckelige Madame de Montmorency 
gerade zu richten. 

Glisson wendet im Jahre 1660 die Suspensation mittelst eines 
Apparates, ähnlich dem von Sayre, Charcot an. 

Nück construirt ein Halsband für den Schiefhals. 

Von der Mechanik geht man zu operativen EingriflFen über. 

Minius ist im Jahre 1641 der erste, welcher den Schnitt des 
Kopfneigemuskels bei einem Schiefhals ausfUhrte. Meckrin und 
Blasius folgen ihm nach, und zwar stets mit offenem Einschnitt 
mittelst Aetzen. 

Allein da alle diese Proben ohne wissenschaftliche Grundsätze 
ausgeführt waren, so hielten sie nicht Stand. 

An dry sammelte zuerst 1741 die verschiedenen Meinungen, 
welche damals über die Deformitäten herrschten, und veröffentlicht 


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186 


Cesare Ghülini. 


eine Abhandlung über die Kunst, Körperdeformitäten bei Kindern 
Yorzubeugen und dieselben zu verbessern, und gab dieser Kunst den 
Namen Orthopädie. 

Nach An dry hört man, wie ich schon bemerkte, nichts mehr 
von derselben, bis zu Ende des vergangenen Jahrhunderts. Dann 
gewinnt die Orthopädie wieder Leben durch das Verdienst von Ita¬ 
lienern, an deren Spitze Scarpa mit seinen Studien über den Klump- 
fuss steht. 

Delpech, welchem der Name Orthopädie zu eng gefasst er¬ 
scheint, verändert denselben 1828 in Orthomorfia. Brichetau 
1833 in Orthosomatia und Bigg 1862 in Orthoprassia. 

Venel gründet 1780 in Orbe, Kanton Vaux, das erste ortho¬ 
pädische Institut. 

Die medicinische Gesellschaft in London stiftet auf Anrathen 
von Hunter einen Preis für die Orthopädie und stellt 1822 als 
Preisfrage das Thema auf: „Die Verkrümmung der Wirbelsäule*. 

Bamfield bekam den ersten Preis und seine Arbeit wurde 1824 
veröffentlicht. 

Die Akademie der Wissenschaften in Paris folgte dem Beispiel 
der medicinischen Gesellschaft in London und eröfilhete im Jahre 
1830 einen orthopädischen Concurs mit dem Thema: „lieber die 
Behandlung der Deformität mittelst Mechanik und Gymnastik*. 
3mal blieb der Concurs ohne Erfolg, und erst 1836 wurde Gu^rin 
der erste Preis mit 10000 Francs zuertheilt, einen zweiten Preis 
von 6000 Francs erhielt Bouvier. 

Durch den Schweden Ling (1813) erlangte die Gymnastik 
bei Heilung der Deformitäten eine grosse Bedeutung, und Lachaise 
errichtete auf Grund derselben 1827 in Montpellier die grösste An¬ 
stalt in Frankreich. 

Einen grossen Fortschritt machte die orthopädische Chirurgie 
durch den subcutanen Sehnen- und Muskelschnitt. 

Die Tenotomie wurde zuerst von Delpech und Stromeyer 
ausgeführt, die Miotomie von Dupuytren. 

Durch das Wirken tüchtiger Chirurgen, wie Bouvier, Little, 
Detmold, Guerin, welche annahmen, dass alle diese Deformitäten 
von Muskelschrumpfung herrührten, fanden diese Operationen grosse 
Verbreitung. 

Guerin machte in einer Sitzung 42 subcutane Muskel-, Sehnen- 
und Bänderschnitte, um eine Wirbeldeformität zu verbessern. 


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Die orthopädische Chirurgie. 


187 


Von der Theorie der Muskelschrumpfung geht man, durch das 
Verdienst von Duchenne, zu derjenigen über, die Erschlafiung 
durch Lähmung als Grund der Entwickelung der Deformitäten an- 
ninimt, und deren Behandlung nun nicht mehr eine chirurgische 
sein durfte, sondern sich auf die Etegeneration der atrophischen 
Muskeln mittelst Faradisation, Massage und Bäder richtete. (Bonnet, 
Robert, Verneuil). 

Von der. Theorie, welche die Ursache der Deformitäten aus¬ 
schliesslich in Verletzung der Weichtheile suchte, gelangte man 
dahin, primitive Veränderungen des Skelets anzunehmen, und be¬ 
gann man infolgedessen mit den Brüchen, den Einschnitten, den Re- 
sectionen und dem Ausschaben der Knochen. 

Der amerikanische Chirurg Barton führte 1826 zu erstenmal 
die Osteotomie des Femurs bei Ankylose der Hüfte aus, und der 
Amerikaner Wilcon die Resection der Hüfte. 

Bei der grossen Bewegung, welche sich überall in der Ortho¬ 
pädie bemerklich macht, nimmt Italien einen hervorragenden Platz 
ein. Gittadini, Portal, Gherardi, Petrali, Bertani, Palas- 
ciano und Bruni führten bedeutende Operationen aus. 

Garbonai eröffnet 1840 in Florenz nach dem Muster anderer, 
in Europa schon bestehender, das erste orthopädische Institut. 

,Allein derjenige, welcher wirklich als leuchtender Punkt in 
der Geschichte der Orthopädie jener Zeit hervortrat, war Rizzoli. 
Er stellte die Osteoclastica als allgemeine Methode der orthopädischen 
Behandlung auf, und bereicherte das chirurgische Arsenal durch die 
Knochenbrechmaschine (,machinetta ossifraga^), welche noch heute 
die erste Stelle unter den Osteoclasten durch Einfachheit, Erafk und 
Sicherheit bei der Ausführung einnimmt. ^ 

Diese Worte las ich in dem Bericht über die erste ortho¬ 
pädische Vorlesung an der Universität zu Pavia (Panzeri 1884). 

Betreffs des Osteoclastus von Rizzoli möchte ich an seinen 
Schüler, den verstorbenen Dott. Nicoli (Ghirurg in Grevalcore) er¬ 
innern, welcher an der Klinik zu Wien das Erstlingsrecht dieser 
Erfindung dieses Instrumentes für Rizzoli zurückforderte, welche 
Erfindung Billroth einem anderen zuschrieb. 

Die Resultate der Inanspruchnahme des Erfindungsrechtes sind 
folgende: 

Gussenbauer, damals Assistent von Billroth und nun sein 
Nachfolger an der Klinik, veröffentlichte in jener Zeit eine Arbeit 


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188 


Oesare Ghillini. 


über «Die Methode der künstlichen Theilung der Knochen und ihre 
Anwendung in der Orthopädie* und sagte: 

Rizzoli war der erste, welcher den Gedanken erfasste, einen 
normalen Knochen zu orthopädischem Zwecke zu zerbrechen, und in 
einer Arbeit über eine neue Methode, das Hinken zu heilen, erklärte 
er die Ursache, welche ihn dazu yeranlasste, seinen Osteoclastus zu 
construiren. 

1845, infolge einer zufölligen Beobachtung, hob er die un¬ 
gleiche Länge der Beine eines Individuums durch Uebereinander- 
schieben der Bruchstücke eines Oberschenkels auf. Ich will hier 
den Fall wiederholen. 

Ein Mann von 48 Jahren, bei welchem infolge von Ueber- 
einanderschieben der Bruchstücke eines Knochenbruches, welchen 
er vor 20 Jahren erlitten, das linke Bein kürzer war als das rechte, 
erlitt einen anderen einfachen schrägen Knochenbruch des rechten 
Oberschenkels. 

Rizzoli, dem die Heilung anvertraut war, benützte die Weich¬ 
heit der Narbe, um die Bruchstücke des rechten Oberschenkels über¬ 
einander zu schieben, um auf diese Weise eine Verkürzung zu er¬ 
zielen, welche derjenigen der linken Seite gleichkam, und somit die 
Beine auf eine gleichmässige Länge brachte. Der Erfolg entsprach 
vollständig der Erwartung. 

Diese Beobachtungen erweckten in Rizzoli den Gedanken, in 
ähnlichen Fällen einen künstlichen Knochenbruch herbeizuführen und 
die Bruchstücke übereinander zu schieben, und er bemerkte dabei: 

«Nicht lange darauf bot sich mir eine passende Gelegenheit dar, 
und ich versäumte nicht, mich sofort damit zu beschäftigen, auf 
welche Weise sich am besten der ersehnte Erfolg erreichen Hesse. 

Bei einem reizenden Mädchen von 9 Jahren, aus angesehener 
achtbarer FaniiUe der Stadt, bemerkte man von dem Augenblick an, 
als es Gehen lernte, dass es hinke; ein Hinken, das sich mit den Jahren 
immer verschlimmerte, so dass jedermann, der das Kind sah, Mitleid 
mit ihm hatte, und welches schHesslich die Eltern dazu bewog, einen 
Arzt zu Rath zu ziehen, damit das immer zunehmende Gebrechen 
geheilt würde. 

Doch das, was mich dabei am meisten beschäftigte,* fügte 
Rizzoli hinzu, «war, die Art zu finden, den Oberschenkel möglichst 
schräg zu brechen, damit es leichter wäre, die beiden Bruchstücke 
übereinander zu schieben und den Bruch so zu Stande zu bringen, 


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Die orthopädische Chirurgie. 


189 


ohne an den zunächst liegenden Weichtheilen eine Wunde oder 
sonstige Verletzung hervorzurufen; aber auch weit genug von den 
Gelenken entfernt, so dass eine Versteifung oder eine Ankylose der¬ 
selben yerhtttet werden konnte. Ueberhaupt um eine Verletzung 
zu Stande zu bringen, welche in ihrer Art jede Verantwortlichkeit 
und Gefahr ausschloss; etwas, das bisher noch von Niemand aus- 
geftihrt worden war. Dies alles erzielte ich zum Glück durch meine 
Knochenbrechmaschine ,Osteoclastus^ ^ 

So erzählt Rizzoli. 

Die Wirkung der Revolution, welche das Lister’sche Verfahren 
in der Chirurgie henrorrief, machte sich auch auf dem Gebiet der 
Orthopädie fühlbar, und blutige Operationen wurden in ausgedehntem 
Massstabe ausgeführt. 

Heute wird nur die Aseptik angewandt, und da bei der ortho¬ 
pädischen Chirurgie die operirten Deformitäten selten eine bacterio- 
logische Pathogenese aufweisen, so wird dieselbe ausserordentlich 
gepflegt. 

Schwerwiegende Folgen würde der orthopädische Chirurg auf 
sich laden, der wegen mangelhafter Technik ein Glied, anstatt es. in 
die richtige Form zu bringen, amputiren wollte. 

Zahlreich waren die Forschungen auf Grund der pathologischen 
Anatomie und der Untersuchungen. 

Volkmann gründete die Lehre der Druckdeformitäten. 

Wolff stellte die Theorie der functionellen Anpassung auf und 
versuchte mit Hilfe der statischen Gesetze des Mathematikers Cul¬ 
mann die Theorie von Volkmann zu bekämpfen. 

Seit 1891 habe ich durch experimentale Forschungen die Patho¬ 
genese der DeformiilLten studirt und konnte ich die Wichtigkeit des 
Druckes bei der Bildung von Deformitäten feststellen. 

Mit Hilfe des an dem hiesigen Polytechnikum angestellten 
Mathematikers Canevazzi konnte ich feststellen, dass Wolff, die 
statischen Gesetze auf die Entwickelung der Deformitäten angewandt, 
nicht immer richtig ausgelegt hat. 

Die Polemik zwischen Wolff und mir dauert noch immer 
fort, und nehmen Roux, Korteweg, Lorenz, Schede, Hoffa und 
Bähr daran Theil. 

Ich möchte nim die Aufmerksamkeit auf die für die Orthopädie 
so wichtigen Arbeiten über die Verrenkungen von Fabbri, Loreta 
und Poggi lenken. 


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190 


Cesare Ghillini. 


Das Verfahren der Einrenkung der Httftgelenksyerrenkung, wie 
Fabbri es lehrte, wird heute noch von einigen Chirurgen bei an¬ 
geborener Hüftgelenksverrenkung als eigenes Verfahren ausgef&hrt. 

Auch die Arbeiten von Hueter, Langenbeck, Virchow, 
Bidder sollen nicht unerwähnt bleiben. 

Auf dem Gebiet der Versuche erinnere ich an die klassische 
Abhandlung von Olli er „Feber die Regeneration des Knochens 
und die künstliche Herstellung des Enochengewebes*; — an die 
Studien von Leser, Friedleben, Riedinger, Nore-Josserand, 
Joachimsthal, Schanz, Lange u. A. 

Ich selbst konnte auf experimentalem Wege an Thieren die 
verschiedensten Deformitäten, welchen man beim Menschen begegnet, 
erzielen. 

Die Mechanik ist bei Herstellung der Apparate ebenfalls eine 
grosse Hilfe für die Orthopädie. 

Wenn jedoch die operative Orthopädie einen bemerkenswerthen 
Aufschwung genommen hat, so blieb die mechanische Orthopädie, 
welcher fHlher eine so grosse Bedeutung beigelegt wurde,, sozusagen 
stille stehen. 

Die Annahme, dass die Apparate idlein genügend seien, die 
Deformitäten aufzuheben, musste gerechterweise der weichen, dass 
die Apparate nur als mächtige Hilfe bei der orthopädischen Therapie 
zu betrachten seien. 

Heine, den Gründer des orthopädischen, mechanischen Insti¬ 
tutes zu Würzburg, trifft der gerechte Vorwurf, die Orthopädie nach 
und nach in die Hände der Apparatefabrikanten gegeben zu haben. 

Unter diesen ist heute der Mechaniker Hessing, Director des 
orthopädischen Institutes in Göggingen bei Augsburg, der bekannteste. 

Zahlreiche orthopädische Institute, Kliniken, Gesellschaften, 
Zeitschriften entstanden in Europa und hauptsächlich in Amerika. 

Italien blieb auch darin nicht zurück und ausser einem ortho¬ 
pädischen Institut, Kliniken, Zeitschriften und Gesellschaften, besitzt 
es verschiedene Institute für Rhachitische. 

Da diese Institute dem Zweige der Orthopädie angehören und 
unser Stolz sind, so möche ich eingehender über dieselben sprechen. 
Sie entstanden bald nach den Schulen für Rhachitische^ 

„Die Geschichte dieser Einrichtung ist ebenso bescheiden (sagt 
Pini, Gründer des Institutes für Rhachitische in Mailand) wie ihre 
Entstehung, welche auf das Jahr 1871 zurückzuführen ist/ 


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Die orthopädische Chirurgie. 


191 


Graf Ernesto Riccardi diNetro, Beamter des öffentlichen 
Schulwesens in Turin, war der erste, dessen Aufmerksamkeit auf 
die grosse Anzahl der durch Rhachitis verkrümmten Kinder aus dem 
Volke, denen die Aufnahme in die öffentlichen Schulen versagt war, 
gelenkt wurde. Bewegt durch das Schicksal so vieler Unglücklichen, 
welche schon in so zartem Alter dem Schmerz geweiht waren, fasste 
er den Gedanken, dieselben in ein besonderes Asyl aufzunehmen, 
wo man, ausser der Erziehung ihres Geistes, durch hygienische und 
therapeutische Mittel auch für ihre physische Wiedergeburt Sorge 
tragen würde. 

«Am 1. Mai 1872 erö&ete man in Turin ein bescheidenes 
Asyl, zur Heilung der von Rhachitis befallenen armen Kinder, 
der Stadt. ** 

Ende 1875 zählte Turin in den meistbevölkerten Stadttheilen 
schon drei Schulen für Rhachitische. 

«Pini aus Mailand, unbewusst dessen, was man schon in Turin 
gethan, schlug im Jahre 1873 seinen Mitbürgern vor, zu Gunsten 
dieser Unglücklichen ein Asyl zu gründen, welches geeignet wäre, 
die Kinder des Volkes und des Elends, die am meisten durch Rha¬ 
chitis befallen, aufzunehmen. Am 1. Januar 1875 entstand in Mai¬ 
land die erste Schule für Rhachitische.* 

«Die Schule nahm bald die Form und Bedeutung eines Insti¬ 
tutes an. Inzwischen wurde zum Zwecke, mit geringen Mitteln eine 
grössere Anzahl Kinder zu unterstützen, und mit der Absicht, soweit 
es möglich wäre, der Verbreitung des Rhachitismus vorzubeugen, 
indem man denselben bei seinem ersten Sichzeigen bekämpfe, ein 
Ambulatorium gegründet zum besten der Kinder, welche aus irgend 
einer Ursache nicht in die Schule aufgenommen werden konnten. 

Diese besondere Abtheilung trug nicht wenig dazu bei, die 
Wichtigkeit dieser Institution hervorzuheben, welche derart zunahm, 
dass jedes Jahr einer grösseren Anzahl Kinder geholfen werden 
konnte.* 

«Hier verdient erwähnt zu werden, wie durch die staunens- 
werthen Fortschritte in der Chirurgie die Möglichkeit gegeben war, 
die kühnsten Operationen auszuführen, an welche man sich einige 
Jahre früher nicht gewagt hätte. 

Auch auf die Behandlung rhachitischer Deformitäten sollte 
dieser Fortschritt seinen Einfluss geltend machen; denn da wo früher 
ein langes und geduldiges Tragen von orthomorphischen Apparaten 


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192 


Cesare Ghillini. 


nothwendig war, war Gelegenheit gegeben, die schwersten Deformi¬ 
täten in kürzester Zeit einzurichten, indem man die neuen operativen 
Methoden anwandte, wie die Osteotomie und die Reduction force. 

Nachdem unsere Chirurgen sich die Praxis dieser Operationen 
angeeignet hatten und dieselben sich als durchaus U|3geföhrlich be¬ 
wiesen, so erfolgte daraus, dass man anstatt zu anderen, zu diesen 
Mitteln greifen müsse bei der Behandlung der Deformitäten der 
Beine, da dieselben eine raschere Heilung zusichern. 

Allein für operative Eingriffe in schweren Fällen war ein 
entsprechender Raum nothwendig, da ^s nicht immer möglich ist, 
die Kinder sofort am Tage der Operation den Müttern, die meisten- 
theils ohne Mittel sind und sich in ungesunden Wohnungen befinden, 
zurück zu^ schicken. 

Aus diesem Grunde schien es angezeigt, dem Institut ausser 
dem Asyl und der Ambulanz noch eine dritte Abtheilung beizufügen, 
welche als Krankenhaus dienen sollte, in welchem diejenigen Kinder 
Aufnahme finden konnten, welche von schwerer Deformität befallen, 
sich Operationen von einer gewissen Bedeutung unterziehen mussten. 

Angesichts dieser Notfawendigkeit fasste man den kühnen 
Entschluss, ein wirkliches Institut zu gründen, welches, wie seine 
Verfassung sagt, den Zweck hat, der Entwickelung des Rhachitismus 
vorzubeugen, und für die Behandlung und Erziehung armer Kinder 
beiderlei Geschlechtes, welche von Rhachitis befallen, zu sorgen.* 

Man muss daher genau unterscheiden zwischen einem Institut 
für Rhachitische und einem orthopädischen Institut, dessen Thätig- 
keitsfeld viel ausgedehnter ist. 

Das orthopädische Institut hat alle Deformitäten, in welchem 
Alter der Kranke auch steht, und welches die Ursache sein mag, 
aufzunehmen. 

Rizzoli, welcher die grosse Bedeutung derselben für Italien 
kannte und dem die orthopädischen Institute Europas nicht fremd 
waren, wollte — den grossen Aufschwung, den die orthopädische 
Chirurgie nehmen würde, voraussehend — sein grosses Vermögen 
der Provinz Bologna zur Gründung eines orthopädischen Institutes 
hinterlassen, welches, wie er in seinem Testament sagte, sich zum 
Nutzen und zur Ehre der Nation entwickeln sollte. 

Der Begriff der orthopädischen Chirurgie darf jedoch nicht zu 
weit ausgedehnt werden, er darf sich nicht, wie viele annehmen, 
auf alle körperlichen Gebrechen, wie Hasenscharte, Wolfsrachen, Ver- 


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Die orthopädische Chirurgie. 


193 


änderungen der Geschlechtsorgane ausdehnen, sondern sich nur auf 
die Deformitäten der Beweglichkeitsorgane beschränken. 

Ehe ich zum Schlüsse komme, will ich noch auf eine Erfindung 
hinweisen, welche für die orthopädische Chirurgie mehr als für alle 
anderen Zweige der Medicin grosse Vortheile gebracht hat, ich meine 
damit die Entdeckung Röntgen’s. 

Kein Gewebe unseres Organismus wird besser examinirt und 
reproducirt durch die Röntgenstrahlen als das Knochengewebe. 

Und nun rufe ich noch einmal zum Schlüsse die edlen Kämpfe, 
für welche uns unsere grossen Meister vorbereitet haben, in das 
Gedächtniss zurück. 

Auch ich werde fortfahren zu kämpfen, frei von jeder Schule, 
unabhängig, einzig nur geleitet für das Wohl der Menschheit und 
für den Fortschritt der Wissenschaft. 


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XI. 


Einige Bemerkungen über Snbluxaüonsstellnng bei 
Lnxatio coxae congenita. 

Von 

Wilhelm Rager, Arzt. 

Mit 2 in den Text gedruckten Abbildungen. 

Im Laufe einer Untersuchung der reichen Sammlung von 
Luxationsbecken des pathologischen Instituts in Wien, die ich mit 
der liebenswürdigen Erlaubniss des Herrn Prof.. Weichselbaum 
Ende 1899 gemacht habe, habe ich Gelegenheit gehabt, eine ßeihe 
von Präparaten zu untersuchen, welche gleichzeitig auf der einen 
Seite das Bild einer congenitalen Hüftluxation, auf der anderen das 
einer Coxa vara boten. 

Ausserdem habe ich dort ein Präparat mit Subluxation des 
linken Oberschenkels untersucht, während der rechte Oberschenkel 
eine Coxa vara-Stellung zeigt. 

Ich habe gemeint, dass die Beschreibung dieses Präparates 
gegenwärtig interessiren könnte, da die Combination von Coxa vara 
und Luxatio coxa congenita vor kurzem von Herrn Prof. Albert 
(in Coxae vara und Coxa valga, Wien 1899) gestreift wurde, und 
später von Herrn Dr. Alsberg (in Zeitschrift für orthopädische 
Chirurgie 1899, Bd. 7 S. 369—374 mit einer Krankengeschichte 
sammt Röntgenbild). Es handelt sich hier um einen 17jährigen 
jungen Mann mit „angeborener Verkürzung* des linken Beines, be¬ 
handelt mit einer hohen Sohle; erst in der letzten Zeit fühlte er 
sich leichter ermüdet, klagte auch bisweilen über leichte Schmerzen 
im rechten Knie, niemals aber über Schmerzen im rechten Hüft¬ 
gelenke; Beweglichkeitsbeschränkung desselben ist auch niemals be- 


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Einige Bemerkungen über Subluzationsstellung bei Luzatio cozae congenita. 195 

merkt worden. Die klinische Untersuchung gibt nun eine doppel¬ 
seitige Hüftgelenksluxation, das Röntgenbild aber eine Luxatio iliaca 
simstra und an der rechten Seite eine kleine Beugung des Schenkel¬ 
halses und Subluxationsstellung mit ausgeprägtem Pfannendach zur 
Stütze des Kopfes. 

Dr. Alsberg spricht die Vermuthung aus, dass der rechte 
Schenkelkopf ursprünglich an der oberen hinteren Kante geritten, 
es sich also um eine Subluxation gehandelt habe (Parise, Albert, 
Heusner, Sainton, Lorenz, Hoeftmann, Zenker), die aber — 
im Gegensatz zu diesen Beschreibungen in der Literatur — nicht im 
Laufe der Zeit eine complette Luxation wurde, sondern die Pfanne 
sich allmählich über den subluxirten Schenkelkopf wie ein Dach nach 
oben erweitert hat. Die Pfanne ist also grösser geworden und der 
Schenkelkopf hat sich excentrisch nach oben und ein wenig nach 
auswärts gestellt, wie das erwähnte Röntgenbild vermuthen lässt. 

Wenn Dr. Alsberg, um die Subluxation zu erklären, am 
meisten geneigt ist, zu glauben, dass die Coxa vara-Stellung die 
primäre gewesen ist — wie Hoeftmann am deutschen Chirurgen- 
congresse 1896 yermuthete —, so stimmt dies nicht mit meinem 
Funde; ich konnte nämlich keine Verkleinerung des Schenkelhals¬ 
winkels der subluxirten Seite constatiren. 

Dagegen ist auf der anderen nicht luxirten Seite eine zweifel¬ 
lose Coxa yara yorhanden. 

Was ich zu betonen wünsche, ist, dass hier ein anatomisches 
Bild yon einer gewiss spontanen Heilung einer wahrscheinlich conge¬ 
nitalen. Subluxation des Hüftgelenkes yorliegt. Leider kennt man 
die zugehörige Krankengeschichte nicht, aber das Beckenpräparat, 
das die Museumsnummer 4363 und die Sectionsprotokollnummer 
80289 — 3. April 1884 — hat, ist einregistrirt unter die Bezeich¬ 
nung: Pelyis asymmetricus cum subluxatione femoris sinistri yon 
einem 14jährigen Knaben; darnach folgt eine kurze Beschreibung 
des Präparates; ausserdem findet man anderswo in der Sammlung 
das hydrocephale Cranium desselben Knaben, aber nirgends in dem 
Katalog ist nur eine Andeutung dayon, dass die Subluxation durch 
eine postfötale Hüftgelenkskrankheit yerursacht ist, oder dayon, 
dass die Subluxation bei Lebzeiten behandelt und also die Heilung 
nicht spontan gewesen ist. 

Diese letztere Möglichkeit kann sicherlich deswegen ausge¬ 
schlossen werden, weil ein so guter Beweis einer wohlgelungenen 


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196 


Wilhelm Rager. 


Behandlungsmethode schon damals — 1884 — ohne Zweifel publi-*^ 
cirt geworden wäre. 

Die erste Möglichkeit, dass die Subluxation durch eine Hilft- 
gelenksentzUndung mit Pfannewanderung verursacht worden wäre^ 
kann ausgeschlossen werden, denn das Präparat zeigt keine Spur^ 


1 - 



Aiymmetrie des ganzen Beckens. 


hiervon; aus demselben Grunde können auch chronische Destructions- 
processe wie Arthritis deformans ausgeschlossen werden — gegen 
welche ja auch das Alter des Individuums spricht. 

Ist meine Erklärung von diesem Becken richtig, so hat man 
hier den anatomischen Beweis der Richtigkeit der ganz seltenen 
klinischen Beobachtungen von Spontanheilungen der Luxatio oder 
lieber Subluxatio coxae congenita. 

Ausserdem bietet das Präparat noch etwas interessantes, näm¬ 
lich eine Coxa vara dextra ohne andere Missbildung dieses Gelenkes. 

Eine haltbare Erklärung über den Zusammenhang zwischen 
den zwei Phänomenen zu geben, bin ich nicht im Stande, will micli 


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Einige Bemerkungen über Subluxationsstellung bei Luxatio coxae congenita. 197 

aber beschränken, auch die grosse Verschiedenheit in dem anatomischen 
Bild der Luxatio coxae congenita zu betonen; jedenfalls kann man 
sicherlich noch nicht auf Grundlage der vorliegenden Untersuchungen 
bloss annähernd bestimmte Regeln fttr das Verhältniss zwischen 
Goxa vara und Luxatio coxae congenita aufstellen. 


Fig. 2. 



Verschiedenheit ln dem Hoohstand der zwei Oelenkköpfe im Verhältniss zn der Epiphysenllnie 
zwischen Os llel nnd Os pnbis. 


Infolge der klinischen und anatomischen Untersuchungen findet 
man zwar, dass der Schenkelhalswinkel in mehreren, vielleicht den 
meisten Fällen von Luxatio coxae congenita verkleinert ist, dass aber 
in anderen Fällen der Schenkelhals nur verkürzt oder vielleicht ganz 
normal ist; in einigen Fällen endlich ist der Schenkelhalswinkel 
vergrössert; kommen noch dazu die verschiedenen Grade der Beugung 
nach vom oder hinten, gibt es hier allein eine grosse Verschiedenheit- 
Möglicherweise hat Hoeftmann Recht, wenn er vermuthet, 
dass die Beugung des Schenkelhalses in gewissen Fällen vielleicht 
prädisponirend ist, und dass die Luxation bei Gelegenheit complet 
wird, wenn die ursprüngliche Subluxation nach und nach, aber doch 
früh, unter dem Einfiusse des Körpergewichtes und des Gehens sich 
zu einer vollständigen Luxation entwickelt. 

Aber, da die meisten anatomischen Untersuchungen der Hüft- 


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198 


Wilhelm Rager^ 


gelenkslusatioDen bei ganz kleinen Kindern wohl nur Veränderungen 
in der Ferm der Gelenksschale und des Schenkelkopfes und nicht 
des Schenkelhalses gezeigt haben, kann vielleicht die entgegengesetzte 
Erklärung mit ebenso grossem Rechte Platz haben, nämlich dass 
die Beugung des Schenkelhalses auch in diesen Fällen secundär nach 
der Luxation aufgetreten ist. Das Körpergewicht wirkt nämlich 
mehr senkrecht an dem Halse eines luxirten Schenkels als an dem 
eines normalen Gelenkes, indem der Körper an den Schenkelkopf 
und -hals mittelst der Kapsel und anderen Weichtheilen auf¬ 
gehängt ist. 

In einer zweiten Reihe von Fällen trifft die Beugung des 
Schenkelhalses die nicht luxirte Seite, und zu dieser Gruppe gehört 
das Praparat, von welchem ich im folgenden eine Beschreibung 
geben will. 

Das abgebildete Becken (Wiener Museumsnummer 4363, Sec- 
tionsnummer 80289, 3. April 1884) hat die Bezeichnung: Pelvis 
asjmmetricus cum subluxatione femoris sinistri von einem 14jährigen 
Knaben, worauf eine kurze Beschreibung des subluxirten Gelenkes 
und der Beckendeformität folgt; ausserdem findet man in der Samm¬ 
lung das hochgradig hydrocephalische Cranium desselben Knaben. 

Das Präparat besteht aus dem nicht macenrten Becken mit 
den dazu gehörigen zwei untersten Lendenwirbeln, sammt den oberen 
Enden der zwei Oberschenkel. Die Kapsel fehlt vollständig am 
rechten Hüftgelenke, ist aber an der linken Seite theilweise erhalten, 
so dass man die normale Insertion längs der Pfannenkante und am 
Oberschenkel sieht. Die Epiphjsenlinien sind deutlich vorhanden. 

Die zwei Lumbalwirbel weisen eine geringe rechtsconvexe Seiten¬ 
krümmung mit Rotation auf, so dass die Dorn Vorsätze nach links stehen. 

Das Becken ist asymmetrisch, indem die linke Darmbein¬ 
schaufel mehr senkrecht steht als die rechte und dabei höher ist; 
ausserdem ist das Becken in der rechten Seite — am meisten in 
Apertura inferior sehr verengt, während die Schambeinfuge nach 
links verschoben ist und gleichzeitig nach derselben Seite neigt. Die 
vordere Beckenwand ist auch nicht symmetrisch, sondern niedriger 
in der linken Hälfte, und die einzelnen Knochen sind hier gradier, 
als an der rechten Seite. 

Die Linea terminalis zeigt rechts eine unregelmässige 
Krümmung, indem sie an der Articulatio sacro-iliaca beinahe recht¬ 
winklig und dann weiter bis zur Schambeinfuge ungefähr gerade 


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Einige Bemerkungen Über Subluxationsstellung bei Luxatio coxae congenita. 199 

verläuft; hier begegnet sie unter einem rechten Winkel der nicht 
stark, sondern regelmässig gekrümmten linken Hälfte. Die Ebene 
der Linea terminalis ist vor dem linken (zweiten) Schrägdiameter 
nach unten gebogen. 

Das Kreuzbein ist auch asymmetrisch, indem der ganze 
rechte Flügel ein wenig schmäler ist als der linke; ausserdem neigt 
das oberste Segment nach links und sein rechter Flügel ist stärker 
gekrümmt als der linke, während die übrigen Segmente wagrecht 
stehen. 

Die rechte Darmbeinschaufel ist niedriger und ragt ein 
wenig mehr nach rückwärts als die linke, die höher und kürzer 
ist; die rechte steht ausserdem mehr und die linke weniger sagittal 
als normal; die linke ist von vorn rückwärts weniger gebogen, wo¬ 
durch die Spina ilei ant. sup. sin. bedeutend mehr lateral als die 
rechte Spina steht. Die vordere Kante der linken Darmbeinschaufel 
ist nicht normal gekrümmt, sondern gerade, dick und kurz, indem 
der obere Rand der Pfanne die Spina ilei ant. inf. in sich auf¬ 
genommen hat. 

Die Schambeinfuge ist verschoben und neigt nach links, ist 
aber ausserdem so um ihre senkrechte Achse gedreht, dass die 
obere Hälfte der Vorderseite ein wenig nach rechts sieht. 

Der linke wagrechte Schambeinast ist um seine Längen¬ 
achse gedreht, so zwar, dass die hintere Fläche nach oben sieht; 
der Schambeinast ist übrigens kürzer als der rechte, mit welchem er 
einen rechten Winkel bildet. 

Der Schambogen ist spitzwinklig. 

Der linke Sitzknorren steht mehr lateral als der rechte und 
ist nach vorne umgebogen; das linke Foramen obturatorium, 
das kürzer und breiter als das rechte ist, steht auch mehr wagrecht 
als dieses, was dem entspricht, dass die linke Hälfte der vorderen 
Beckenwand niedriger als die rechte ist. 

Das rechte Hüftgelenk ist normal gebildet, nur steht die 
Aequatorebene des Kopfes mehr wagrecht und die Linea inter- 
trochanterica mehr senkrecht als normal, so dass sie ziemlich stark 
nach aufwärts convergiren; die Gelenkfläche des Kopfes wird ein 
wenig an der Oberseite des Schenkelhalses fortgesetzt. 

Dieser ist nicht verkürzt, und die Länge ist vorn (von Linea 
intertrochanterica nach der Kante des Kopfes) 3 cm; hinten ist sie 3,5 cm. 

Der Schenkelhalswinkel ist 100^ während der obere Rand 

Zeitschrift für orthopädische Chirargle. vni. Band 14 


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200 


Wilhelm Rager. 


ein wenig concav ist und der untere kurz und sehr stark und un¬ 
gefähr rechtwinklig in den Schenkelschaft übergeht. 

Die Spitze des Troch. major und der höchste Punkt des Ober¬ 
schenkelkopfes stehen in derselben wagrechten Ebene. 

Troch. minor sitzt mehr nach rückwärts als normal, wodurch 
der Gedanke an eine Drehung des oberen Theiles des Schenkel¬ 
schaftes nahegelegt wird; man findet auch an der äusseren Seite 
des Oberschenkels einen Troch. tertius lateral und ein wenig unter¬ 
halb des Troch. minor. 

Der Oberschenkelstumpf zeigt ca. 9 cm unterhalb der Spitze 
des Troch. major eine leichte Krümmung auswärts und nach vorne, 
aber keine Atrophie. 

Die linke Hüftgelenkpfanne ist nach oben und hinten er¬ 
weitert, und der Kopf stützt sich gegen die obere, wohlgebildete 
Kante, die wie ein Pfannendach in der Gegend der Spina ilei ant. 
inf. hervorragt; die Spina wird dadurch vollständig verborgen. 

Die Pfannenkante ist überall normal und gut entwickelt, und 
weder im Umkreise derselben noch am Schenkelkopfe siebt man 
Spuren von Arthritis deformans oder anderen Destructionsprocessen 
(Coxitis etc.). 

In der oberen Hälfte der Pfanne und sonst, soweit die Kapsel 
eine Untersuchung erlaubt, findet man nichts Abnormes im Inneren 
der Pfanne, die glatt und mit normalem Knorpel überzogen ist; die 
Kapsel ist überall normal inserirt und liegt stramm gespannt über den 
unbewohnten untersten Theil der Pfanne. 

Die obere, hintere Pfannenkante und also auch der Schenkel¬ 
kopf steht — im Verhältniss zu der Epiphysenlinie zwischen Os ilei 
und Os pubis — 1,5 cm höher als an der rechten Seite. 

Der Schenkelkopf ist normal geformt, nicht verkleinert, und 
die Gelenkfläche ist überall glatt und mit Knorpel bekleidet, nicht 
usurirt oder mit Exostosen besetzt, nur die Aequatorebene steht 
mehr horizontal als normal und convergirt dadurch nach oben zu 
mit der normal verlaufenden Linea intertrochanterica. 

Trochanteres major et minor, sammt Fossa trochanterica sind 
wohl gebildet. 

Der Schenkelhalswinkel ist hier ca. 125®, also etwas steil, 
und der untere Rand des Schenkelhalses steht sehr schräg gegen 
die Diaphyse und geht allmählich in diese über. 

Die Diaphyse ist im selben Sinne gekrümmt wie die rechte, 


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Einige Bemerkungen über Subluxationsstellung bei Luxatio coxae congenita. 201 


aber bedeutend stärker und gleichzeitig ist sie flach gedrückt in 
der Richtung von vom nach hinten; im ganzen ist die Diaphjse etwas 
graciler als die rechte. 

Von den Maassen können die folgenden angegeben werden: 

Dist. spin. il. ant. sup.. 20,0 om 

„ crist. ilei. . . . 20,5 „ 

Diameter transversus . 10,0 „ 

, conjugatus . 9,0 „ 

„ obliquus dext. 10,5 , 

„ „ sin. . 9,5 „ 

Apertura inferior: Diam. transversus.7,0cm 

(zwischen den zwei Tubera ischii) 

Diam. sagittalis.9,0 „ 

(zwischen Os coccygis und unterer Kante der Symph. pubis) 

Abstand von der Spitze des Os coccygis biszumTub. ischii dext. 6,0 „ 

• »1» nun n n n n n Sin. . 5,0 „ 

Foramen obturat. dext. ist 5,0 cm breit und 2,7 cm hoch 
n n sin. „ n n n 3,0 „ „ 


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XII. 


Mittheilungen aus dem orthopädischen Institute von 
Dr. A. Lüning und Dr. W. Schulthess, Privat- 
docenten in Zürich. 

XVII. 

lieber die Wirkungen des orthopädischen Corsets bei Skoliose'). 

Von 

Alfred Hfissy, med. pract. 

Mit 13 in den Text gedruckten Abbildungen. 

„Seit der Erfindung des Corsets sind Throne errichtet und ge¬ 
stürzt worden; Industrie, Handel, Wissenschaft und sociales Leben 
haben gewaltige Revolutionen durchgemacht — der Herzkäfer von 
Corset aber hat sich behauptet und ist schon deswegen beachtens- 
werth.“ 

Sollte dieser Sonderegger’sche*) Ausspruch nur für das all¬ 
gemein gebräuchliche Damencorset Geltung haben oder könnte man 
nicht dasselbe mit ebenso viel Recht auch von den zur Heilung der 
Skoliose bestimmten Corsets aussagen? 

Immer und immer wieder erscheint das orthopädische Corset 
in neuer Modification und wird bis in die neueste Zeit als Heilmittel 
empfohlen. Unwillkürlich drängt sich daher die Frage auf; 

Was wird denn mit diesem so viel gerühmten Heilmittel in 

*) lieber den hauptsächlichsten Inhalt der vorliegenden Untersuchungen 
wurde schon von Herrn Dr. W. Schulthess in der chirurgischen Section der 
Naturforscherversammlung in München am 22. September 1899 referirt. 

*) Sonderegger, Vorposten der Gesundheitspflege. 


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üeber die Wirkungen des orthopädischen Corsets bei Skoliose. 203 

praxi wirklich erreicht, und lässt sich eine solche Behandlungsart 
durch die damit erzielten Resultate überhaupt rechtfertigen? 

Die in der Literatur niedergelegten Ansichten der verschiedenen 
Autoren weichen sehr von einander ab; eindringliche Empfehlung 
der Methode von der einen, scharfe Verurtheilung von anderer Seite. 

Es erschien mir deswegen sehr interessant und dankbar, an der 
Hand des im orthopädischen Institute der Herren Privatdocenten 
Dr. Lüning und Dr. Schulthess in Zürich im Verlaufe der Jahre 
angesammelten Materials von Krankengeschichten und dazu gehörigen 
zahlreichen Maasszeichnungen einen Beitrag zur Discussion dieser 
für die orthopädische Praxis so hochwichtigen Frage liefern zu 
können. 

Dem Versuche, die Einwirkung der Corsetbehandlung auf den 
Gesammtorganismus wie auch auf die locale Deformität einer all¬ 
gemeinen Besprechung zu unterwerfen, möchte entgegen gehalten 
werden, dass er scheitern müsse an der Verschiedenheit des Con- 
structionsprincips der Corsets, an den Unterschieden im technischen 
Können der verschiedenen Therapeuten. Dieser Einwurf ist bis zu 
einem gewissen Grade begründet; ein starker Einfluss der citirten 
Factoren auf die Resultate lässt sich in der That nicht in Abrede 
stellen. Was aber die allgemeine Besprechung trotzdem ermöglicht, 
das ist das Princip, welches allen Constructionsarten zu Grunde liegt: 
Es ist das orthopädische Corset durchweg ein in mehr 
weniger grosser Ausdehnung dem Rumpfe dicht an¬ 
liegendes Kleid, das den Zweck verfolgt, die deformirte 
Wirbelsäule zu redressiren oder in bestimmter Stel¬ 
lung zu erhalten und dadurch die normale Figur wieder 
herzustellen oder zu erhalten. 

August Blencke^) hat mir durch seine Arbeit: „Einige 

Bemerkungen über die Herstellung orthopädischer Corsets* die Mühe 
abgenommen, auch kurz auf die Herstellungsweise der verschiedenen 
Corsetarten eingehen zu müssen. 

Trotzdem sehe ich mich genöthigt, zur Einführung einiges 
weitere aus der Geschichte der Orthopädie der Rückgratsverkrüm¬ 
mungen, speciell der Corsets, nochmals beizubringen, und im An¬ 
schlüsse daran werde ich hauptsächlich in Bezug auf die Resultate 
noch nähere Angaben aus der Literatur zusammenstellen. 


’) Zeitschr. f. orth. Chir. Bd. 7 S. 237. 


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Alfred Hüssy. 


Die Mittheilung, durch die 1575 Ambroise Pare\l die ärzt¬ 
liche Welt in Kenntniss setzte, dass ein Corset aus Eisenblech ge¬ 
eignet sei, ein Heilmittel der seitlichen RUckgratsverkrümmungen 
darzustellen, war epochemachend. Seit dieser Empfehlung hat die 
Behandlung der Skoliose mit dünnen Metallcorsets eine grosse Rolle 
gespielt und soll dies in Frankreich selbst bis in die neuere Zeit 
noch thun. — »Pour r^parer et cacher tel vice“ lässt Par^ sie tragen. 
Wenn wir nach dem Grunde fragen, warum diese Behandlungsart 
in immer neuen Modificationen angepriesen wurde, so müssen wir 
uns wohl vorzüglich an den zweiten Theil dieses Ausspruches halten. 
Denn schon frühzeitig regte sich die Opposition anderer Autoren, 
welche durch die damit erzielten Resultate nicht befriedigt waren, 
wie z. B. Bonetus*) 1679. 

Andere erklärten sich nur in gewisser Hinsicht mit dieser Be¬ 
handlungsmethode einverstanden. So sah Gerber®), 1735, den Haupt¬ 
vortheil derselben darin, dass diese „Brustpanzer“ dadurch gute 
Dienste zu leisten vermöchten, dass sie den Ballast der Weiber¬ 
kleidung tragen helfen. 

Eine scharfe Anfeindung wurde auch den durch Jungcken*) 
1691, als Heilmittel der Skoliose empfohlenen, mit Fischbein ver¬ 
stärkten steifen Schnürbrüsten zu Theil. Schon damals wurde von 
anderer Seite das Schnüren der jungen Mädchen als das Haupt¬ 
moment in der Aetiologie der Skoliose angesehen und auf die durch 
das Schnüren verursachte Atrophie der Rückenmusculatur auf¬ 
merksam gemacht (Portal)®), natürlich ohne Erfolg, denn diese 
Fischbeincorsets galten Jahrhunderte lang, sei es als Heilmittel, sei 
es als Prophylacticum der Skoliose. 

Eine ähnliche Rolle spielte die Unmenge der corsetähnlich 
wirkenden Portativapparate, die angegeben wurden, um die promi- 
nirenden Partien der Wirbelsäule und der Rippen eindrücken, die 

*) Oeuvres compl^tes ed. par Malgaigne, Torae II p. 611, Chapitre VIII. — 
De ceux qui sont voüt^s ayant l'espine dorsale courb^e. Paris 1840. (Nach 
Fischer, Geschichte der seitlichen Rückgratsverkrümmung 1885, S. 24.) 

2) De Gibbositate-Sepulchretum sive anatomia practica. Fol. p. 712—20. 
Genevae 1679. 

*) De thoracibus. In Platner opuscula, T. I. Dissertationes p. 65—152. 

■*) Jungcken, Compendium chirurgiae manualis absolutum 1691, p. 490. 

*) Portal, Memoire oü Ton prouve la necessit^ de recourir ä Part pour 
corriger et pr^venir les difformites de la taille etc. 1776. Seconde partie p. 468 
bis 481. 


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lieber die Wirkungen des orthopädischen Corsets bei Skoliose. 205 

fehlerhafte seitliche Verbiegung corrigiren zu können. Die grosse 
Zahl dieser Erfindungen ist der sprechendste Beweis dafür, dass 
keine ihrer Aufgabe nur annähernd gerecht wurde, ob sie nun durch 
Druck, Inclination, Extension oder Detorsion zu wirken berufen war, 
und trotzdem sich in den meisten Fällen der betreffende Autor von 
der Wirkung seiner Erfindung vollauf befriedigt erklärte. Von 
diesen Portativapparaten verschwand trotz „der zweckentsprechenden“ 
Construction einer nach dem anderen von der Bildfiäche. 

In Bezug auf die Wirkungsweise dieser Apparate ist Lorenz^) 
der Meinung, „dass es nicht möglich ist, dem Seitendrucke des ge- 
wissermassen in sich zusammensinkenden Körpers das Gegengewicht 
zu halten. Wollte man den Feder- oder Schraubendruck bei nur 
einigermassen vorgeschrittenen Skoliosen dieser Anforderung ent¬ 
sprechend wirken lassen, so müsste der auf eine relativ kleine Fläche 
wirkende Druck in kürzester Zeit Gangrän zur Folge haben.“ Der¬ 
artige unglückliche Fälle findet man denn auch wirklich in der 
Literatur verzeichnet, so berichtet nach Busch*) Bouvier von einem 
solchen traurigen Ereignisse. 

„Man ist wohl ziemlich überall darüber einig, dass von irgend 
einer correctiven Wirkung eines derartigen Mieders nichts zu er¬ 
warten ist, und man tröstet sich einigermassen mit der Meinung, 
dass durch Stützung des skoliotischen Rumpfes dennoch etwas ge¬ 
leistet sei. Jedenfalls fand man eine Beruhigung darin, die Difformität 
mit einer Hülle zugedeckt zu haben und durch ihre weitere Zunahme 
nicht fortwährend alarmirt zu werden.“ (Lorenz.)^) 

Eine noch schärfere Verurtheilung finden diese Apparate durch • 
Dr. Ch. Heath^): „Les appareils destin^s ä guörir la 
scoliose n'ont jamais servi qu'ä enrichir les mödicins qui 
les ordonnent et les ouvriers qui les fabriquent.“ 

Eine neue Aera in der Skoliosecorsettherapie begann mit der 
Einführung der Contentivverbände. Um einen verstärkten Druck 
auf die seitliche Ausbiegung der Wirbelsäule zu erzielen, wurden 
noch gewisse Abänderungen getroffen, so Hess z. B. Bernhardi, 

*) Lorenz, Pathologie und Therapie der seitlichen Rückgratsverkrüm- 
mangen. Wien 1886, S. 161. 

Busch, Allgemeine Orthopädie in Ziemssen’s Handbuch Bd. 2, 82. 

®) Lorenz 1. c. S. 161. 

*) Referirt in: Revue d’orthopedie Tome VII p. 167. — Heath, Le^ons 
cliniques sur la scoliose (aus The British medical Joum. 16. March 1895). 


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Alfred Hüssy. 


der den ersten Contentivverband in Form eines Pappverbandes an¬ 
gab, in diesen kleine Polster einnähen (eine ähnliche Anregung war 
schon 1735 von T. Gerber für eine andere Corsetart gemacht 
worden). 

Einen höchst bedeutungsvollen Beitrag zur Corsettherapie der 
Skoliose lieferte Sayre durch Einführung seines in Suspension an¬ 
gelegten Gipscorsets, das in der Folge eine so weitgehende An¬ 
wendung fand. In diesen vorerst für längere Zeit unabnehmbar 
verfertigten Corsets liess Sayre nun „die bedauernswürdigen Kinder 
Monate lang schmachten.“ (Lorenz.)^) 

Als ein bedeutsamer Fortschritt wurde deshalb die wenige Jahre 
später erfolgte Einführung der abnehmbaren Gipscorsets betrachtet, 
deren Technik ebenfalls Sayre lehrte. 

Es sei hier ausdrücklich betont, dass Sayre von diesem Gips- 
corset nur verlangte, dass es ein Unterstützungsmittel der Turn¬ 
übungen sei, welche die Heilung der Difiormität erzielen sollten. 

Auch diese verbesserte Auflage des Gipscorsets hat, wie 
Lorenz^) sich ausdrückt, nicht unbedeutende Mängel; denn nur in 
Fällen vollständiger Mobilität der skoliotischen Wirbelsäule werde 
durch Suspension ein völliger Ausgleich der Krümmungen erzielt. 
Bei nur einigermassen entwickelter Rigidität aber würden die Krüm¬ 
mungen wohl etwas verflacht, keineswegs aber ausgeglichen. Im 
Gipsverbande aber gehe nach Unterbrechung der Suspension selbst 
diese mangelhafte Correctur theilweise wieder verloren. Die Torsions¬ 
veränderungen aber würden durch den Verband nicht nur unbeeinflusst, 
sondern geradezu fixirt; es werde dadurch jede Möglichkeit einer 
Beeinflussung im Sinne einer späteren Correctur undenkbar. 

Gleichwohl bildeten diese Suspensionsgipscorsets lange Zeit 
einen orthopädischen Modeartikel. 

Auf die zum Zwecke der Gewichtsverminderung, der Erhöhung 
der Eleganz etc. versuchten Materialien, vom Ghittaperchacorset 
Schildbach’s bis zum Filzmieder W. Adams, das für die Kinder 
„den Aufenthalt in einer wahrhaften Dampfkammer bedeutete, sie 
appetitlos machte und körperlich herunterbrachte“, und auf die 
modernsten Versuche mit Celluloiddrill, Homleder etc. will ich nicht 
weiter eingehen. Ich verweise auf die oben citirte Arbeit von 


*) Lorenz 1. c. S. 163. 
*) Lorenz 1. c. S. 165. 


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Bieneke. Auch sie alle haben ihre grossen Nachtheile; so sind 
sie wie das Gipscorset nicht den Wachsthumsveränderungen des 
Rumpfes oder den Veränderungen der Skoliose entsprechend modificir- 
bar; hemmen die Ausdünstung u. a. m. Die Technik kann diese üebel- 
stände nicht völlig abstellen. Dagegen sind die aus diesen Materialien 
construirten Corsets wohl geeignet, hochgradige Difformitäten der 
skoliotischen Wirbelsäule und Rippen vortrefflich ohne starke Ge¬ 
wichtsbelastung zu cachiren. 

Eine eigenartige Stellung in der modernen Technik nehmen 
die Stoff corsets ein, deren Typus, das Hessin g’sche Corset, durch 
vorzügliche Adaptierung an die Körperform und exact gearbeitete 
Hüftbügel sich auszeichnet. 

Oben ist das abfällige Urtheil citirt worden, das Lorenz über 
die in einfacher Suspension angelegten Corsets ausspricht. Dieser 
Einsicht gemäss, dass die Suspension allein ein absolut ungenügendes 
Mittel zur Correction der skoliotischen Wirbelsäule darstellt, geht 
die Tendenz der Orthopäden schon längere Jahre dahin, in redressirter 
Stellung Corsets anzupassen, um derart den Körper in der redres- 
sirten Stellung möglichst lange zu erhalten, eine Gewöhnung an 
diese Stellung zu garantiren, wenn möglich eine Veränderung der 
Knochen in diesem Sinne zu bewirken. Oder wie neuerdings 
V. Ley^) sich ausdrückt: „Die Behandlung strebt an, die normale 
Körperform wieder herzustellen. Dies erreichen wir dadurch, dass 
wir die Wirbelsäule umzukrümmen suchen und in dieser neuen Lage 
(Ümkrümmung) zu erhalten streben, in der die bisher belasteten 
Theile des Wirbels entlastet, die ausser Thätigkeit stehenden durch 
den Druck des Kopfes und Oberkörpers belastet werden und so um¬ 
geformt werden durch die Druck- und Zugkräfte, die auch sonst die 
Architectur des Knochens bedingen“ (Transformationsgesetz). Um 
dieser Forderung zu genügen, ersann Lorenz den Seitenzugverband 
und den Gürtelverband; eine ganze Reihe ähnlicher Redressionscorsets 
wurden in der Folge empfohlen. Heutzutage wird meist eine mög¬ 
lichst intensive Mobilisirung der Wirbelsäule mit der seitlichen Sus¬ 
pension oder mit Detorsionsapparaten des einen oder anderen Systems 
vorausgeschickt. Von dem detorquirten Rumpfe wird ein Gipsmodell 
verfertigt. Durch weiteres Modelliren an letzterem suchen einzelne 


*) V. Ley, Zur Skolioseubehaudluug. Münchener medic.* Wochenschr. 
1899, S. 552. 


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Autoren prominente Knochen und empfindliche Weichtheile vor einem 
starken Drucke seitens des darnach aus irgend einem Materiale ge¬ 
arbeiteten Corsets zu schützen und anderseits die deforme Wirbel¬ 
säule noch stärker durch Druck auf die Rippen corrigirend zu be¬ 
einflussen. 

Viel früher schon ging für die nicht abnehmbaren Gipscorsets 
eine ähnliche Anregung von Volkmannaus. Er versah die 
concave Seite des Thorax mit einem Wattepolster, das nachher 
wieder durch ein Fenster aus dem Gipsverbande herausgezupft wurde. 
Die convexe Seite sollte unter einem das Wachsthum hemmendeü 
Drucke stehen, während der concaven Seite Gelegenheit gegeben 
war, frei in die nun hohlen Corsetabschnitte hineinzuwachsen. 

Schade nur, dass die ,Patienten nie den Gefallen erweisen, 
in die hohl gelassene Partie hinein ihren deformen Thorax auszu- 
fiehnen!“ (Nebel.) 

Sehr viele Orthopäden geben einer solchen Constructionsweise 
den Vorzug, andere versuchen noch z. B. durch Pelotten, die mit 
dem Corset (z. B. Hessingcorset) vermittelst Federn verbunden sind, 
den Rippenbuckel günstig zu beeinflussen, oder durch Achselkrücken 
der Wirbelsäule die Last des Schultergürtels abzunehmen; Abände¬ 
rungen, die doch aufs Haar den bei den früher besprochenen Por¬ 
tativapparaten getroffenen Vorrichtungen gleichen und über die schon 
lange der Stab gebrochen wurde. Speciell was die Achselstützen 
anbetrifiFt, sei auf die Aeusserung von Lorenz^) verwiesen: „Man 
weiss wirklich nicht, soll man sich mehr über die Toleranz des 
Axillarplexus und der Axillargefässe gegenüber dem Belastungsdrucke 
des obem Rumpfabschnittes wundern oder über die wohlmeinende 
Absicht der Erfinder.“ 

Hoffa empfiehlt dem praktischen Arzte in der letzten Auf¬ 
lage seines Lehrbuches der orthopädischen Chirurgie (p. 440) nur, 
das durch Gymnastik erzielte Resultat aufrecht zu erhalten, die 
Wirbelsäule zu entlasten durch einen wirklichen Stützapparat; zu 
diesem Zwecke sei das beste und einfachste Mittel das bei genügender 
Detorsion angelegte Sayre’sche Gipscorset. Um ein Wiederzu- 

0 Nach Fischer 1, c. S. 136. 

*) Nebel, Deutsche medic. Wochenschr. 1887, Nr. 26—31. ^Betrach¬ 
tungen über Skoliose, anknttpfend an eine Besprechung der L o r e n z’schen 
Monographie.“ 

*) Lorenz 1. c. S. 162. 


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üeber die Wirkungen des orthopädischen Corsets bei Skoliose. 209 

sammensinkeu der Wirbelsäule in demselben zu verhindern, sei eine 
extendirende Kopfstütze nöthig. 


In neuerer Zeit mobilisirt Hoffa die Wirbelsäule derart, dass die 
Patienten ihre Skoliose selbst umzukrUmmen vermögen; in dieser 
umgekrümmten Haltung und in bestimmter Stellung der Beine wird 
der Rumpf des Kindes eingegipst und zudem noch der rechte Ober¬ 
schenkel des Kindes in den Verband einbezogen. Dabei legt er 
Werth darauf, die Lordose der Lendenwirbelsäule künstlich herbei¬ 
zuführen, verzichtet aber wieder auf die Extension vom Kopfe aus, 
weil die Wirbelsäule nichts von ihrer Länge einbüsse, sobald das 
Kind dieselbe in Selbstredression zu halten gelernt habe. Habe der 
Verband, eventuell eine zweite Auflage, längere Zeit gelegen, so 
halte sich das Kind unwillkürlich 8—10 Tage in der deskoliosirten 
Haltung, und diese Zeit diene dazu, ein Hessingcorset anzupassen, 
womit dann auch länger diese Haltung garantirt werde. 

Lorenz dagegen machte, wie Hoffa anführt, in der Hospital¬ 
praxis Versuche, bei hochgradigen habituellen Skoliosen jüngerer 
Kinder mit noch recht nachgiebigen Thoraxwänden, inamovible De- 
torsionscorsets anzulegen. Diese „Experimente“ scheinen aber, wie 
zu erwarten war, nicht von grossem Erfolge begleitet gewesen zu 
sein; denn im Artikel: „Rückgratverkrümmungen“ in Eulenburg's 
Realencyclopädie der gesammten Heilkunde, 3. Auflage, 1899, berührt 
Lorenz diese Versuche überhaupt nicht. 

Noch jüngeren Datums ist das forcirte Redressement in Narkose 
mit nachherigem Anlegen eines Gipsverbandes, wie es von Delore 
1895 empfohlen und von Calot, Redard, Noble Smith, Hoffa etc. 
ebenfalls versucht wurde. 

Ich möchte nicht unterlassen, beizufügen, dass die Mehrzahl 
der Autoren neben der Corsetbehandlung noch therapeutische Be¬ 
einflussung durch Gymnastik, Massage, redressirende Apparate ver¬ 
langt und den dringenden Wunsch ausspricht, dass die ganze Be¬ 
handlung, wenn immer die Verhältnisse es gestatten, in einer ge¬ 
schlossenen Anstalt stattfinde. 


Wenn wir die neuere Literatur über die Therapie derSkoliosezu Rathe 
ziehen und dabei sehen, wie die grosse Mehrzahl aller Publicationen 
das Tragen von orthopädischen Stützcorsets in dieser oder jener 


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Alfred Hüssy. 


Constructionsweise empfiehlt, so erscheint es uns um so auffallender 
und befremdender, wie selten genaue statistische Angaben über 
Heilresultate zu finden sind, wie spärlich die Autoren bildliche Dar¬ 
stellungen, Maasszeichnungen oder in Zahlen ausgedrUckte Mes¬ 
sungsresultate als Belege für ihre meist optimistischen Behauptungen 
bringen. Meist sprechen sie sich nur in ganz allgemein gehaltenen 
Lobsprüchen über ihre Erfolge aus oder geben jeweils einige wenige 
Krankengeschichten wieder, die zu Gunsten des speciell von dem 
betreffenden Autor erfundenen oder doch wenigstens empfohlenen 
Corset zu sprechen scheinen. 

Einer ernsthaften Kritik über die Augenscheinlichkeit der Bes¬ 
serung der betreffenden Fälle dürften aber selbst einzelne der eben¬ 
falls ziemlich seltenen Photographien nicht Stand halten. 

So bemerkt man bei näherer Betrachtung gewisser photo¬ 
graphischen Reproductionen „gebesserter“ Fälle, wie der Patient auf 
dem ersten Bilde ganz nachlässig dasteht, während auf dem zweiten 
leicht ersichtlich ist, dass der Patient sich Mühe gibt, für den Mo¬ 
ment eine möglichst stramme Haltung anzunehmen, mit anderen 
Worten, dass Patient auf dem zweiten Bilde ein gewisses Selbst¬ 
redressement vornimmt. Auf anderen Reproductionen zeigt der Pa¬ 
tient auf dem zweiten Bilde eine eigenthümlich steife, erkünstelte 
Haltung, die ihm durch das Corset aufgezwungen wurde; die aber 
weit genug von einer natürlichen ungezwungenen Haltung abweicht. 
Oder es erfolgte die photographische Aufnahme sofort nach Ab¬ 
nahme des Corsets, der Patient ist demnach noch gewohnt, eine ge¬ 
wisse Haltung zu bewahren, die innezuhalten ihm Uber kurz oder 
lang nicht mehr möglich sein wird, weil er „zusammenklappt“. 

Wieder in anderen Fällen sind es überhängende Formen, die 
wohl auf dem zweiten Bilde eine bessere Luftfigur, d. h. ein weniger 
starkes „üeberhängen“ zeigen, bei denen aber trotzdem auf den 
ersten Blick erkennbar ist, dass schon die Seitendeviation nur ein 
äusserst geringes Maass von Besserung aufweist. 

Wohl wird das Laienauge, das vor allem die Luftfigur be¬ 
obachtet, leicht eine auch unbedeutende Besserung derselben schätzen; 
aber der Orthopäde, der auch die anderen Veränderungen der Sko¬ 
liose ins Auge fasst, kann doch gar oft kaum eine reelle Besserung 
erkennen. 

Sehen wir von allen diesen Mängeln ab, so hat aber so wie 
so die Photographie den grossen Fehler, dass sie uns wohl ein gewisses 


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üeber die Wirkungen des orthopädischen Corsets bei Skoliose. 


Bild der Seitendeviation, nie aber exact die Grösse der Niveau¬ 
differenz, der so überaus wichtigen Torsion geben kann. 

Da wir aber auf der Berücksichtigung der Torsion bei solchen 
Messungen und Resultatangaben durchaus bestehen müssen, so kann 
die Photographie in keiner Weise mit den in dieser Hinsicht so exact 
die Verhältnisse wiedergebenden Skoliosemess- und Zeichnungs¬ 
apparaten von W. Schulthess und Zander in Concurrenz treten. 

«Nur eine mit rationellen Maassen ausgestattete Kranken¬ 
geschichte verdient den Ruf der Wissenschaftlichkeit, während der 
leider noch sehr verbreitete Mangel exacter Angaben nur allzusehr 
Enthusiasten und gewissenlose Streber mit ihren modernen Methoden 
begünstigt.“ (W. Schulthess)^). 

In der Vernachlässigung solcher exacter Methoden zur Fest¬ 
stellung des Status vor und nach der Behandlung einer Skoliose, wie 
sie selbst in bedeutenden orthopädischen Instituten leider vorkommt, 
scheint nur der Grund für die langandauernde Corsetbegeisterung 
zu liegen, obwohl es nicht an Stimmen gefehlt hat, die sich dagegen 
ausgesprochen haben. 

Malgaigne erklärte einst: Niemals habe er eine geheilte 
Skoliose gesehen, trotzdem ihm von verschiedenen Orthopäden viele 
Falle angeblicher Heilung demonstrirt worden seien. 

Sollte uns ein solcher Ausspruch des berühmten französischen 
Chirurgen nicht auch bei der Beurtheilung der in der Literatur der 
Corsetbehandlung der Skoliose derzeit erwähnten Fälle von Heilung 
und Besserung skeptisch machen? 

Einen Vergleich mit der Sicherheit der in anderen Gebieten 
der Chirurgie statistisch erhärteten Resultate halten die in der 
Skoliosetherapie angegebenen Erfolge bisher in keiner Weise aus; 
denn ausser den ausführlichen statistischen Angaben über die Re¬ 
sultate, die das hiesige Institut erzielte und einigen ausführlicheren 
Statistiken von Zander^) und seinen Schülern, die ja alle nicht 


*) W. Schulthess, Ein neuer Mess- und Zeichnungsapparat für Rück¬ 
gratsverkrümmungen. Centralbl. f. orth. Chir. und Mechanik 1887, Bd. 4 S. 25. 

*) Mittheilungen aus dem orthopädischen Institute von Dr. A. Lüning 
und Dr. W. Schulthess, Privatdocenten in Zürich. IV. Aerztlicher Bericht 
Über den Zeitraum von der Gründung des Instituts im September 1883 bis Ende 
des Jahres 1890. Zeitschr. f. orth. Chir. Bd. 1. VII. Aerztlicher Bericht über 
den Zeitraum vom 31. December 1890 bis zum 81. December 1894, ebenda Bd. 5. 
— G. Zander, üeber habituelle Skoliose. Stockholm 1894. — Hasebroek, 


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Alfred Hüssy. 


speciell oder gar nicht die Corsetbehandlung der Skoliose berück¬ 
sichtigen, findet sich in der Literatur nirgends eine ausführliche 
statistische Angabe über die Heilerfolge der Corsetbehandlung an 
Hand eines grösseren Materials. Nicht wissenschaftlich exact be¬ 
obachtetes Material liefert die Grundlage für die Angaben der 
Autoren; diese geben einfach die allgemeinen Eindrücke wieder, die 
jeder betreffende Autor über die Frage gewonnen hat. 


Um einen gewissen üeberblick über die vorherrschende Ansicht 
der Orthopäden über Zweckmässigkeit oder ünzweckmässigkeit der 
Corsettherapie bei Skoliose zu gewinnen, stelle ich im Folgenden 
die Meinungsäusserungen einer Anzahl Autoren zusammen — über 
ihre Resultate, Indicationsstellung etc. in dieser Frage. 

Eine reinliche Scheidung der Urtheile der Autoren in die 
einzelnen Punkte, auch z. B. über die verschiedenen Corsetarten, Hesse 
sich, wenn sie überhaupt bei den spärlichen Angaben möglich wäre, 
jedenfalls nicht ohne recht willkürliches Auseinanderreissen der Citate 
bewerkstelligen. Ich ziehe vor, die Ansichten der Autoren, soweit 
mir die Originalabhandlungen zu Gebote stehen, im Wortlaute wieder¬ 
zugeben. So wird denn dieser Abschnitt weniger ein einheitliches 
Ganzes denn eine Citatensammlung darstellen. 


Geben wir vorerst dem Erfinder der Gipscorsetbehandlung, 
Sayre^), das Wort: 

„Es kann nothwendig werden, in einigen Fällen, in welchen 
der Process weiter vorgeschritten ist, eine künstliche Stütze anzu¬ 
legen, um die durch Selbstsuspension erlangte verbesserte Stellung 
zu bewahren. Zu diesem Zwecke ist aber kein Hilfsmittel erfunden 
worden, das in der Leichtigkeit der Anlegung und Sicherheit zur 
Erlangung des gewünschten Erfolges je mit der Gipsjacke zu ver¬ 
gleichen wäre, vorausgesetzt, dass letztere richtig angelegt wird.“ 


Bericht über die Wirksamkeit im Jahre 1889 des Hamburger medico-mechani- 
sehen Instituts. — Derselbe, Mittbeilungen aus dem Hamburger medico^ 
mechanischen Institute vom Jahre 1891. — Nebel, Bewegungskuren mittelst 
schwedischer Heilgymnastik und Massage. Wiesbaden 1889. 

*) Sayre, Vorlesungen Über orthopädische Chirurgie und Gelenkkrank¬ 
heiten. Deutsch von Dumont. Wiesbaden 1886, S. 343. 


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üeber die Wirkungen des orthopädischen Corsets bei Skoliose. 213 


Auch an anderer Stelle zeigt er^) sich sehr entzückt von den 
Erfolgen seiner Metliode: ^Rücken vollkommen gerade“ — »Wuchs 
tadellos“ — »Bedeutende Besserung“. Das sollen die mitgetheilten 
Fälle zeigen. »Sayre macht keine übertriebenen Ansprüche an die 
therapeutischen Erfolge einer consequent durchgeführten Behandlung. 
Auch die in den ausführlicher mitgetheilten Fällen berichteten Re¬ 
sultate bieten nichts überraschendes; dass die Patienten sich »wohler 
fühlen“, »schmerzfrei werden“, »es ihnen in jeder Beziehung besser 
geht“ (Fall V, p. 110, Fall I, p. 103 etc.) kann man auch nach 
Anlegen anderer Stützapparate, die manche Nachtheile der Sayre- 
schen Gipsjacke nicht haben, sehen. Dass man es mit solchen etwas 
unbestimmt gehaltenen Bezeichnungen nicht allzu genau nehmen 
darf, zeigt ein Blick auf Tafel III, Fig. 8c. »Ihre Figur war voll¬ 
kommen gerade“, sagt Balkwell von der daselbst photographirten 
Patientin.“ 

So die Kritik des Referenten des Centralblattes für ortho¬ 
pädische Chirurgie, 1884. 

In der That, wenn wir diese Photographie näher betrachten, 
so sehen wir, dass wohl das »Ueberhängen“ etwas sich vermindert hat, 
dass dagegen noch dieselbe starke seitliche Deviation der Wirbelsäule 
und daneben ein stark ausgeprägter Rippenbuckel sich zeigen. 

Sayre veranstaltete in neuerer Zeit eine internationale Enqußte 
über die Resultate seiner Behandlungsart*): Von 48 Antworten 
waren 6 gegen, 7 theilweise für, 35 ganz für die Sayre'sche Corset- 
behandlung. Leider finde ich in dem mir allein zugänglichen Referate 
keine Unterscheidung getroffen zwischen den bei Skoliose und den 
bei Spondylitis erhaltenen Resultaten. 

Was Petersen®) berichtet, klingt bedeutend weniger enthu¬ 
siastisch : 

»Viele von 39 mit Gipscorsets (in der BarwelFschen Schlinge 
angelegt) behandelte Fälle begnügten sich mit einem geringen Erfolge; 

0 L. A. Sayre, Die Spondylitis und die seitlichen Verkrümmungen der 
Wirbelsäule und deren Behandlung durch Suspension und Gipsverband. Deutsch 
von Gelbke. Leipzig 1883, und Referat im Centralblatt für orthopädische 
Chirurgie 1884. 

*) Sayre, The History of the treatment of spondylitis and Scoliosis etc. 
New York Medical Journal 1895. Referat in der Zeitschr. f. orth. Chir. Bd. 4 
S. 123 durch Zenker. 

*) F. Petersen, Arch. f. klin. Chir. 1885, S. 182: „üeber Gipspanzer¬ 
behandlung. ** Referat im Centralbl. f. orth. Chir. 1885, S. 89. 


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Alfred Hflssy. 


in vielen wurde aber eine bedeutende Besserung erzielt; vollkommene 
Heilung hat Petersen dagegen bei Skoliosen zweiten Grades nie 
gesehen, von solchen dritten Grades ganz zu schweigen. 

JoachimsthaP): »Der unmittelbare Effect ist, wie ich das 
an einer Reihe von Fällen in der Klinik und Poliklinik des Herrn 
Prof. Wolff zu beobachten Gelegenheit gehabt, gleich nach dem 
Erhärten des Gipses ein ganz überraschender. 

Haben wir die Wirbelsäule in die normalen statischen Ver¬ 
hältnisse zurückgebracht und dieses für die Dauer durch einen Gips¬ 
verband (in Seitenlage) erreicht, so muss der Rippenbuckel auch 
ohne unser Zuthun schwinden, es muss sich die Normalform wieder 
herstellen; denn sie ist die functionelle Anpassung an die normale 
statische Inanspruchnahme.^ 

Es hat fast den Anschein, als ob selbst diesen bestimmt ge¬ 
stellten Anforderungen gegenüber die Skoliosen des Autors sich nicht 
sehr fügsam gezeigt haben; denn von wirklichen Schlussresultaten 
dieser Corsetbehandlung ist in der Dissertation nirgends die Rede. 
In neuerer Zeit bevorzugt er bei frischen Fällen ausschliesslich gym¬ 
nastische Behandlung, meint aber, schwere Skoliosen müssen gestützt 
werden*). 

C. H. Golding Bird*) hatte unter 33 Fällen im ersten 
Stadium 26 Heilungen (= 80^)^ 1 Recidiv, 6 Besserungen. Bei 
den 26 Geheilten dauerte die Kur bei 19 mindestens 1 Jahr, bei 
4 Fällen 1—2 Jahre, in 3 Fällen mehr als 2 Jahre. 

Was das zweite Stadium anbetrifft, so erklärt der Autor, dass 
eine Besserung nicht mehr statt hat, wenn der Status des Patienten 
durch mindestens 3 Monate stationär bleibe. Vor allem sei hier 
das Recidiv zu befürchten. In 12 Fällen des zweiten Stadiums 
besserte sich der Zustand 5 Monate lang beständig; von 10 anderen 
Fällen wurden 6 nach einer Behandlung von 9—24 Monaten bleibend 
gebessert; 4 Fälle recidivirten nach rascher Besserung infolge Ver¬ 
nachlässigung der verordneten Behandlung. 

*) Joachimsthal, Zur Pathologie und Therapie der Skoliose. Inaug.- 
Dissertation. Berlin 1887, S. 26. 

*) Discussion über den Vortrag von W. Schulthess: lieber die Wir¬ 
kungen des orthopädischen Coi-sets. 7. Versammlung Deutscher Naturforscher 
und Aerzte zu München 1899. Referat im Centralbl. f. Chir. 1899, Nr. 50. 

Golding Bird, Sur la valeur de la methode de Sayre dans le trait- 
ment des scolioses. Revue d’orthop4die 1890, Nr. 1. Referat von Motta im 
Archivio di ortopedia 1891, p. 89. 


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Ueber die Wirkungen des o^hopädischen Corsets bei Skoliose. 215 

Lövinson^): «Geradehalter oder Stützcorsets sind in den 
Anfangsstadien der Skoliose eher schädlich als nützlich, bei so vor« 
geschrittenen Fällen aber, wo von der gymnastischen Behandlung 
eine Form Verbesserung nicht mehr erwartet werden kann, zur Ver¬ 
meidung des Zusammensinkens allerdings nicht zu entbehren. . . . 

... In allen diesen Fällen wurde ausser Besserung der seitlichen 
Deviation auch eine solche der seitlichen Rumpfcontouren sowie der 
Gesammthaltung erreicht.“ 

Jens Schon*) berichtet, dass aus seinen Messungen hervor¬ 
gehe, dass die durch verticale Suspension erreichte Höhenzunahme 
respective Correction sich durch Corsetbehandlung „theilweise“ be¬ 
wahren lasse und dass diese vorübergehende Höhenzunahme nach 
und nach als eine wahre Zunahme der Körperhöhe gewonnen wird. 
Resultate in Bezug auf Torsion und Deviation werden nicht an¬ 
gegeben. 

Länderer®): «Ein gutsitzendes, redressirendes und extendi- 
rendes Corset ist für die Behandlung des zweiten Stadiums der 
Skoliose fast unentbehrlich und einer der wirksamsten Bestandtheile 
der Therapie.“ 

Nebel^): „Ein gut angelegtes Gipscorset vermag den Status 
quo zu erhalten, weiteres Einsinken des Rumpfes freilich nicht immer 
aufzuhalten“, und an anderer Stelle: 

„Nach den im Hospital®), sowie auch in der Poliklinik gemachten 
Erfahrungen können die Resultate als zufriedenstellende bezeichnet 
werden. Sie berechtigen uns, den Gebrauch des nur am Tage zu 
tragenden, stets im Schwebehang anzulegenden Gipscorsets zu em¬ 
pfehlen, aber nur in Verbindung mit heilgymnastischen Bewegungen.“ 

König®): „Am meisten Aussicht auf erfolgreiche Kur hat man 

*) E. Lövinson, Mittheilungen aus dem Berliner medico-mechanischen 
Institute. • Berlin 1893. „Bemerkungen Über habituelle Skoliose. “ 

*) Jens Schon, Ueber Skoliosenbehandlung. Hospitalstidende. Kopen¬ 
hagen 1889. Heferat von Sigfred Levy im Centralblatt für orthopädische 
Chirurgie und Mechanik 1890, S. 14. 

*) Länderer, Mechaüotherapie. Leipzig 1894, S. 287, 

Nebel, Betrachtungen über Skoliose. Deutsche medic. Wochenschr. 
1887, Nr. 26 S. 27. 

*) Nebel, Die Behandlung der Rückgratsverjcrümpiungen mittelst des 
Sayre’schen Gipscorsets und Jurymasts und im Holzcuirass des Dr. Phelps. 
Volkmann's Sammlung klinischer Vorträge Nr. 277—78 S. 2592. Leipzig 1886. 

•) König, Lehrbuch der speciellen Chirurgie 1894# Bd. 3 S. 85. 

Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. VIII. Baud. 15 


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216 


Alfred Hüesy. 


bei der Behandlung jugendlicher rhachitischer schwerer Formen von 
4—8 Jahren; auch die nicht zu schweren Formen älterer Individuen 
sind, falls die Skoliotischen kräftig, der Behandlung durch das 
(Gips)corset zugänglich. ... Den Glauben haben wir wenigstens, 
dass man, wenn man mit dem in Suspension angelegten Gips- oder 
Filzcorset nichts erreicht, mit keinem anderen Mittel etwas er¬ 
zielen wird.“ 

Tillmanns ^): „Gar nicht zu entbehren sind bei der Behand¬ 
lung der Skoliose die Corsets z. B. nach Sayre etc.“; „in leichten 
Fällen genügen Corsets aus Drell“. 

Vogt*) meint, das Gipscorset biete für viele Fälle leicht er¬ 
sichtliche Vortheile, vor allem wenn schmerzhafte Druckpunkte bei 
der Untersuchung der Wirbelsäule gefunden werden. 

Etwas unbestimmt drückt sich Staffel*) über seine Re¬ 
sultate aus: 

„Ohne irgend einen Portativapparat, sei es ein Schienencorset 
oder sonstiger Stützapparat, komme ich selten aus. Wenn ich ge¬ 
fragt werde, wie lange die Portativapparate getragen werden sollen, 
so pflege ich zu sagen: so lange die Patienten mit dem Apparat 
gerader aussehen als ohne denselben.“ An anderer Stelle meint er^): 

„Die Skoliosenverbände wird man als einen schätzenswerthen 
Nothbehelf, nicht aber als das Non plus ultra der Portativapparate 
ansehen dürfen.“ 

Lorenz*) hebt hervor, dass ein gut angelegtes Gipsmieder das 
beste Stützmittel für den skoliotischen Rumpf darstelle, es habe ge¬ 
nügende Widerstandskraft, um die corrigirte Rumpfstellung zu er¬ 
halten, ohne an einer eng umschriebenen Stelle einen unerträglichen 
Druck auszuüben. 

Anderwärts erläutert er®) die Wirkung seiner Skoliosen verbände 
leider nur an einigen Beispielen und nicht an der Hand seines gesammten 
Materiales, wie es so wünschenswerth gewesen wäre. Die Besse¬ 
rungen beziehen sich, wie er betont, nur auf die Inflexion; „an der 


*) Tillmaans, Lehrbuch der speciellen Chirurgie 1897, S. 705. 

*) Vogt, Moderne Orthopädik 1883, S. 159. 

•) Staffel, Heber die Behandlung der Skoliose. Deutsche medicinische 
Wochenschr 1888, S. 342. 

*) Staffel 1. c. S. 340. 

*) Lorenz 1. c. S. 165. 

Lorenz 1. o. S. 192. 


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Ueber die Wirkungen des orthopädischen Corsets bei Skoliose. 217 


Krümmungsverminderung der concavseitigen und Krümmungsver¬ 
mehrung der convexseitigen Rippenwinkel vermochte ich bisher nichts 
zu ändernLorenz betrachtet hauptsächlich die Verbesserung der 
Seitencontouren als von ausserordentlichem Werthe, da es unmöglich 
sei, asymmetrische Seitencontouren durch die Kleidung zu cachiren, 
wohl aber bis zu einem gewissen Grade Niveaudifferenzen* 

Die Erfolge, die Lorenz in seinen Krankengeschichten auch 
in Form von Photographien vorweist, erscheinen dem Beobachter 
übrigens nicht als über jede Kritik erhabene; fast alle Patienten tragen 
noch einen Druckverband zur Zeit der photographischen Aufnahme, 
man kann also kaum annehmen, dass sie, sobald der Verband längere 
Zeit weggelassen war, noch die auf den Photographien ersichtliche 
Haltung dargeboten haben. 

Es war das Gipscorset vor allem, über das die oben citirten 
Autoren ein fast durchweg günstiges Urtheil fällten. Es ist des¬ 
wegen wohl auch hier die richtige Stelle, solche Autoren sprechen 
zu lassen, die im allgemeinen speciell auf die Gips- und Filzcorset- 
behandlung weniger gut zu sprechen sind. 

Auffallend scharf zieht Drachmann^) gegen diese zu Feld: 
»Die mechanische Wirkung, welche die Sayre’sche Jacke auf die 
Skoliose ausübt, ist gleich Null. Sie sei so genau angelegt wie mög¬ 
lich und gleichviel aus welchem Stoffe (Gips, Filz, Leder, Späne etc.) 
verfertigt; die durch Suspension erreichte Gorrection wird sie doch 
niemals erhalten können, sondern binnen kurzem ausnahmslos nur 
einen steifen unelastischen Panzer rings um den Thorax repräsentiren. 
Höchstens würde sie in ungünstigen Fällen die Weiterentwickelung 
der Deformität verhindern können, nie aber einen activen Effect 
auf sie ausüben; zudem muss sie oft hemmend auf die Respiration 
wirken. Wenn jetzt viele der Jacke den Vorzug vor der Feder¬ 
druckbandage (der Drachmann übrigens auch jeden Werth ab¬ 
spricht) geben, rührt dieses davon her, dass die erstere besser die 
Deformität zu verdecken vermag (kosmetischer Vortheil); dass 
sie billiger ist (pekuniärer Vortheil) und dass sie vom Arzte 
selbst angefertigt werden kann (praktischer Vortheil), keines¬ 
wegs aber, weil sie therapeutisch etwas leistet. 


A. G. Drachmann. Moderne Orthopädie. Ugeskrift f. Läger V. XIX. 
6. 7 u. 8. Kopenhagen. Referirt im Centralbl. f. orth. Chir. u. Mechanik 1889. 
S. 61, durch Sigfred Levy. 


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218 


Alfred Hüssy. 


Aehnlich Judson'): »Un corset est bien peu puissant pour 
r^dufre une scoliose avec rotation, son application est plus pr^judiciable 
qu'utile.“ 

Genzmer^): ^Recht ungünstige Skoliosen können auch im 
Filzcorset rasch zunehmen.“ 

W. Schulthess: «Die Corsetfälle haben meist die bedenkliche 
Eigenschaft, dass ihre Krümmungen sehr steif sind. Der Rippen¬ 
buckel wird statt wie gewöhnlich abgerundet, seitlich abgeplattet.“ 

«Aus eigener^) Erfahrung müssen wir betonen, dass diejenigen 
Fälle von seitlichen Rückgratsverkrümmungen, die längere Zeit Cor- 
sets und Portativapparate getragen haben, ohne dass dabei eine 
mechanische Behandlung (Gymnastik und Massage) streng durch¬ 
geführt wurde, in Bezug auf ihre Weiterentwickelung zu den aller¬ 
traurigsten gehören.“ 

Dollinger^): «In einer langen Serie von Fällen, die mit 
Gipspanzer behandelt wurden, sah ich nach kurzer Zeit den Brust¬ 
korb abmagem, seine Musculatur schwach werden, so dass die 
Patienten nach Abnahme des Verbandes sich nur mit Mühe aufrecht 
erhalten; die Skoliose aber hat in den meisten Fällen während des 
Tragens des Verbandes zugenommen. 

Einige Patienten, die seit längerer Zeit Gipspanzer oder poro- 
plastische Filzmieder trugen, kamen zu mir mit der Klage, dass, als 
sie endlich diese Apparate beiseite legten, die Skoliose plötzlich 
zunahm.“ 

Auch R e d a r d ist nicht begeistert von seinen Erfolgen:«En resum^ 
le corset plätre nous parait surtout agir comme agent de soutien apr^s 
que la mobilisation du rhachis rigide a et^ obtenue par des exercices 
de redressement methodique. L'experience nous a; demontre qu*il 
n'agit pas sur la deformation des cötes et sur la torsion du rhachis. 
Les mensurations precises ne nous ont jamais indiqu^ la moindre 

‘) A. B. Judson, Deductions pratiques tir^es d’observations cliniques 
sur la scoliose. Revue d’orthop^die 1896, Tome VII p. 337. 

*) Genzmer, Lehrbuch der speciellen Chirurgie als Einführung in die 
chirurgische Praxis 1884. Referat im Centralbl. f. orth. Chir. 1885, Nr. 3 S. 28. 

’) Schulthess, lieber eine neue Behandlungsmethode der Rückgrats¬ 
verkrümmungen mit redressirenden Bewegungsapparaten. Therapeutische Monats¬ 
hefte 1897, Nr. 10. 

D o 11 in ge r, Messungen zur Gipspanzerbehandlung der Skoliose. Wiener 
medic. Wochenschr. 1886, S. 1306. 

Redard 1. c. S. 412. . 


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lieber die Wirkungen des orthopädischen Corsets bei Skoliose. 219 


amelioration par le corset plätre dans les scolioses, dans lesquelles 
il existe dejä des däformations costales.... Adjoutons que certains sujets 
reprennent sous le corset plätre leur attitude vicieuse et que Tinflexioii, 
laterale n’est pas toujours raodifice.“ 

'Wie Sayre, Vogt u. A. meint er dagegen; „Le corset plätrö 
nous a rendu de grands seryices dans les scolioses tr^s marquees 
avec douleurs, gene de la circulation et de la respiration.... Nous 
n’employons pas le corset plätr^ dans les scolioses au debut,“ 

Bidder^): Bei Totalskoliosen rhachitischer Kinder können 
Oipscorsete unter gewissen Bedingungen mehr nützlich als schädlich 
sein bei Möglichkeit der Uebercorrection. 

Diesem bedingten Zugeben der Möglichkeit einer Besserung 
durch Corsets bei bestimmten Fällen steht im übrigen ein zweiter 
Ausspruch desselben Autors gegenüber: 

„Diese Apparate (Corset»s) können das Gewünschte schon des¬ 
halb nicht leisten, weil sie nie so fest angelegt werden dürfen, dass 
die physiologischen Athmungsbewegungen der Rippen unterdrückt 
werden. “ 

üeber die Behandlung mit nach Hessing’schem Principe con- 
struirten Corsets und über die Resultate der modernsten Methoden 
der Corsetbehandlung nach forcirtem Redressement, die im geschicht¬ 
lichen Abschnitte dieser Arbeit schon kurz berührt wurden, finden 
wir folgende Angaben: 

Der Ehrenpreis für vorzügliche Erfolge bei Skoliose durch 
Hessingcorsetbehandlung gebührt wohl Roth*); kein anderer Autor 
weiss sich solcher Wunder an Resultaten zu rühmen. Seine Corsets 
bewirken „ideale“, „wesentlich ideale“, „vollkommene“, „voll¬ 
ständige“ etc. Heilungen. 

Dolega*) gibt leider keine ausführlichen Resultate an; dagegen 
erwähnt er von einem Falle: „Der Effect einer solchen orthopädischen 


*) Bidder, Eine einfache elastische Pelottenbandage gegen Skoliose und 
einige Bepaerkungen*.zu diesem'.Leiden. Deutsche medic. Wochenschr. 1893, 
S.* 1381. 

*) Roth, Das Geheimniss der Hessing’schen Apparatotherapie, Berlin 1890. 
Derselbe, Hessing's Heilmethode als epochale Revolution auf dem Gebiete der 
Orthopädie. Budapest 1889. 

’) Dolega, Pathologie und Therapie der kindlichen Skoliose. Leipzig 
1897, S. 127. 


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220 


Alfred Hüssy. 


Gorsetbehandlung (neben entsprechender Apparat- und orthopädisch¬ 
gymnastischer Behandlung) ist der, dass von einer Zunahme der 
Skoliose keine Rede ist, die dem ganzen Charakter derselben nach 
wohl unausbleiblich gewesen wäre, da diese noch in gewissen Grenzen 
mobil ist, und dass der Patientin erst durch den Apparat die an¬ 
dauernde Tragfähigkeit ihres Körpers wiedergegeben wurde, ab¬ 
gesehen von der ausserordentlichen Verbesserung der Figur im 
Ganzen.“ 

„Zum Schlüsse aber darf ich behaupten^): ein gut gearbeitetes 
Stützcorset schadet dem Gesammtorganismus in keiner Weise.“ 

Auch Hoffa versichert, dass bei seinem Vorgehen von einer 
irgendwie erheblichen Muskelatrophie unter dem Verbände nicht die 
Rede ist. 

Hoffa*) schien sehr entzückt von seiner Behandlung: Anlegen 
eines Gipscorsets mit Einbeziehung des Oberschenkels in selbst- 
redressirter Stellung, übercorrigirter Haltung des Patienten und nach¬ 
folgender Behandlung mit Stützcorset. 

„Ich habe dann selbst bei schweren Fällen eine tadellose Hal¬ 
tung des Oberkörpers erreicht. Die Wirbelsäule ist wieder nahezu 
gerade geworden und selbst am Rippenbuckel lässt sich eine deut¬ 
liche Besserung nach weisen.“ 

In der Folge haben sich aber die Erwartungen, die Hoffa an 
diese Behandlungsmethode stellte, offenbar nicht erfüllt; denn er 
schliesst die Abhandlung über habituelle Skoliose in der letzten 
Auflage seines Lehrbuches der orthopädischen Chirurgie mit den 
wohl nicht besonders optimistischen Worten: 

„Die Flinte in das Kom zu werfen, ist gerade jetzt nicht an 
der Zeit, wo unsere Resultate früheren Zeiten gegenüber doch merk¬ 
lich bessere geworden sind.“ 

Immerhin meint auch Lorenz*): „Die Mobilisirung und nach- 
herige Fixirung der activ umkrümmten Wirbelsäule mittelst inamo- 
viblen Gipsverbandes nach Hoffa scheint jedenfalls erfolgver¬ 
sprechender als das passive Redressement hochgradiger Skoliosen 
mittelst forcirter Extension in Narkose.“ (Delore, Calot.) 


*) Dolega 1. c. S. 182. 

*) Hoffa, Das Problem der Skoliosenbehandlung. 
Wochenschr. 1897, S. 67. 

*) Lorenz, Realencyclopädie, l. c. S. 105. 


Berliner klinische 


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lieber die Wirkungen des orthopädischen Coi-sets bei Skoliose. 221 


lieber diese Methode giebt auch Hoffa in seinem Lehrbuche 
der orthopädischen Chirurgie noch kein Urtheil ab, sondern bemerkt 
einfach, dass er bei seiner Modification noch keine Nachtheile ge¬ 
sehen habe. 


Interessant ist es zu beobachten, wie für Fälle, die nur ambu¬ 
lant oder gar nicht unter beständiger Aufsicht behandelt werden 
können, von einer Reihe von Autoren die Gorsettherapie sehr intensiv 
als indicirt empfohlen wird, während sie von anderer Seite geradezu 
perhorrescirt wird. 

So erklärt z. B. König ^): ,Falls dem Kinde nicht die 
nöthige Pflege mit Massage etc. zukommt und es lernen muss, halte 
ich während der Schulstunden das Tragen eines Apparates, eines 
Filz- oder Gipscorsets für unerlässlich.*^ 

Staffel*): „Den Nachtheil des Schulbesuches kann man 
durch einen Portativapparat auf ein geringes Maass zurückführen 
und ihn durch sonstige Behandlung mit Gymnastik und Liegen aus- 
gleichen.“ 

Dolega*): „Man muss bei der Tendenz der Skoliose zur Ver¬ 
schlimmerung die schädlichen Einflüsse der fehlerhaften Belastung 
für die vielen Stunden des Tages, in welchen diese zur Geltung 
kommt, durch einen passenden Stützapparat auszugleichen suchen.“ 
Und Haudek^), ein begeisterter und überzeugter Anhänger 
der Gorsettherapie schreibt: „Ist eine Behandlung nicht durch¬ 
führbar, so ist natürlich das Gorset erst recht indicirt und gleich¬ 
falls ganz unschädlich. . . . Von dem Tragen eines Gorsets abzusehen, 
ist man eigentlich nur dann berechtigt, wenn das Kind der schäd¬ 
lichen Einwirkung des Schulbesuches und des langen Sitzens fem- 
gehalten und durch eine Vor- und Nachmittags durchgeführte Be¬ 
handlung gegen die Anomalien der Haltung angekämpft wird. . . . 
Jedenfalls muss entschieden darauf gedrungen werden, dass ein Gorset 
getragen wird, wenn sich trotz 4—6wöchentlicher Behandlung 
keinerlei Besserung zeigt, wenn es sich also herausstellt, dass die 


‘) Lehrbuch der epeciellen Chirurgie 1894, Bd. 8 8. 85. 

•) Staffel 1. c. S. 342. Deutsche medic. Wochenschr. 1888, Nr. 17. 

*) Dolega 1. c. S. 132. 

Haudek, Der gegenwärtige Stand der Skoliosetherapie. Wiener klin 
Rundschau 1898, Nr. 37—39. Sonderabdruck S. 158 und ff. 


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222 


Alfred Hüssy. 


Behandlung nicht genügt, die äusseren schädlichen Einflüsse zu 
überwinden. . . • In vorgeschrittenen Fällen muss natürlich ein 
Corset getragen werden (auch neben der Anstaltsbehandlung). 

Nach Hoffa^) erreicht man bei ambulant Behandelten durch 
ein Stützcorset einzig und allein, dass keine Verschlechterung des 
Zustandes eintritt. Eine Besserung der Skoliose einzig und allein 
durch Tragen eines Stützapparates gehört zu den Seltenheiten.“ 
Resignirt meint er: „Man kann ihnen ein Stützcorset anfertigen.“ 
Anderwärts stellt er*) fest: »Die Skoliose lässt sich auch einfach 
ambulant mit dem besten Willen nicht heilen.“ 

Schärfer tönt das ürtheil von Bidder^): „Corsetten, den 
ganzen Tag getragen, bessern die Skoliose in der Regel nicht, 
sondern lassen sie eher schlimmer werden.“ 

Länderer^) aber erklärt: „Eine einseitige Corsetbehandlung 
führt zu einer deletären Atrophie der Musculatur. Lässt man 
schliesslich das Corset weg, so verschlimmert sich die Verkrümmung 
sehr rasch. Die Kinder klappen förmlich in sich zusammen.“ 


Ausdrücklich möchte ich nochmals daran erinnern, dass die 
wenigsten der hier wiedergegebenen Meinungsäusserungen, die doch 
zum Theil so diametral entgegengesetzte Standpunkte vertreten, auf 
exacten Messungen der Skoliosen basiren, dass sie vielmehr nur den 
allgemeinen Eindruck wiedergeben, den die betreffenden Autoren 
im Verlaufe der Behandlung mit Corsets gewonnen haben. 

Ohne exacte Messung und Aufzeichnung des Messungsresultates 
ist es aber bei den langsamen Veränderungen, die die Skoliosen 
während der Behandlung durchmachen, entschieden äusserst schwierig, 
ein objectiv richtiges ürtheil über die Behandlungsart zu gewinnen. 

Die oben angegebenen Resultate und Ansichten gewisser Autoren 
scheinen aber doch sehr entschieden die Aufforderung zu begründen, 
dass endlich einmal die Nothwendigkeit einer Corsettherapie der 
Skoliose auch durch exacte Messungen bewiesen werde. 

*) Hoffa, Lehrbuch der orthopädischen Chirurgie 1898, S. 455. 

*) Hoffa, Das Problem der Skoliosenbehandlung. Berliner klin. Wochen¬ 
schrift 1897, S. 67. 

») Bidder 1. c. S. 1379. 

*) Länderer, Mechanotherapie 1894, S. 287. 


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üeber die Wirkungen des orthopädischen Corsets bei Skoliose. 223 


Naditbeilige Wirkungen der Gorsetbekandlnng. 

^Es ist geradezu tragikomisch, welche weit verbreitete Furcht 
in Laien- wie in ärztlichen Kreisen vor einem orthopädischen Stütz¬ 
apparat oder einem sogenannten ,Panzer‘, wie er so häufig bezeichnet 
wird, herrscht und welch schädliche Wirkung auf Organe und All¬ 
gemeinbefinden demselben zur Last gelegt wird.“ So Dolega!^) 

Wir gedenken im folgenden zu untersuchen, wie weit diese 
Kritik begründet oder unbegründet ist, und ob nicht vielmehr 
diese „Furcht des Publikums“ (die allerdings nach den hiesigen 
Erfahrungen lange nicht so gross ist, wie Dolega angibt) schon 
in der Wirkungsweise des Corsets eine wohl begründete Recht¬ 
fertigung findet. 

Wenn wir diese Wirkungsweise des orthopädischen Corsets bei 
der Skoliose zergliedern wollen, so müssen wir zunächst auseinander¬ 
halten: 

1. Die allgemeine Wirkung des Corsets auf den Gesammt- 
organismus und 

2. die specielle Wirkungsweise gegenüber den skoliotischen 
Veränderungen der Wirbelsäule und der Rippen. 

Die erstere fällt theilweise zusammen mit derjenigen des ge¬ 
wöhnlichen Damencorsets. 

Allgemeinwirkungen der redressirenden Immobilisation vermittelst 
des orthopädischen Corsets auf den Organismus. 

Das, was wir bei allen chinirgischen Verbänden beobachten, 
die eng umschliessend einen Körpertheil für längere Zeit immobili- 
siren,. nämlich eine nach einiger Zeit sich zeigende Atrophie der 
Haut, des ünterhautzellgewebes und der Musculatur, lässt sich auch 
bei den den Thorax immobilisirenden orthopädischen Verbänden er¬ 
warten. Am augenscheinlichsten zeigt sich diese Erscheinung, wenn 
längere Zeit bei Spondylitis unabnehmbare Stützcorsets getragen 
werden. Au den Stellen, die die Stützpunkte des Corsets bilden, wo 
dieses also mit einem gewissen Drucke wirkt, atrophirt infolge von 
Ernährungsstörungen die Haut stark, sie ist dünne, trocken, rauh, 
die Epidermis wird in Schuppen abgestossen; das Unterbautfettgewebe 
ist verschwunden, die Musculatur deutlich geschwächt. Nicht unwahr- 

*) Dolega 1. c. S. 130. 


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Alfred Hüssy. 


scheinlich ist es, dass auch eine gewisse Atrophie des Knochengerüstes 
und der Bänder eintritt. Das Zusammenklappen nach Entfemimg 
unabnehmbarer Corsetverbände wäre jedenfalls mit dieser Annahme 
leichter erklärbar. 

Diese Erscheinung nun sehen wir auch in ähnlichem Grade 
anftreten, wenn wir unabnehmbare Verbände bei Skoliose längere 
Zeit tragen lassen, in etwas geringerem Maasse, aber immerhin noch 
deutlich genug bei abnehmbaren orthopädischen Verbänden, wenn 
nicht sehr intensiv daneben Gymnastik getrieben wird. 

Es ist einerseits der directe Druck des redressirenden Ver¬ 
bandes, der die hier geschilderten Veränderungen hervorbringen 
hilft; Veränderungen, wie sie auch von anderer Seite bestätigt 
werden. 

„Le corset plätr4 a le grand inconv4nient d'exercer une pression 
sur les muscles et de g^ner en partie le d^veloppement du thorax* 
(Redard)^); auch Shaw macht auf dieses Factum aufmerksam und 
Nönchen^) meint: „Bei den Gipscorsets ist leider ein ganz erheb¬ 
licher Druck auf die Musculatur des Rumpfes nicht zu vermeiden; 
unter diesen Umständen sahen wir die Musculatur oft arg atro- 
phiren (besonders wenn nicht gleichzeitig Gymnastik getrieben wird).“ 

Dieser directe Druck spielt wohl eine etwas kleinere Rolle bei 
den einfach in Suspension angelegten Corsets, eine um so grössere 
dagegen, je energischer das Redressement vorgenommen wurde, das 
durch das StUtzcorset erhalten werden soll. 

Das zweite Moment aber, das die Schwächung der Musculatur 
und der Wirbelsäule herbeiführen hilft und das die Wirkung des 
directen Druckes an Wichtigkeit weit übertriflft, ist die durch die 
Immobilisation bedingte Inactivität der Musculatur. 

Es handelt sich wesentlich um eine active Atrophie; infolge 
der ausfallenden Arbeitsleistung nehmen auch die nutritiven Vorzüge 
ab: die nicht gebrauchten Gewebe werden unterernährt. 

„Wenn man die Rückenmuskeln durch Substituirung eines 
künstlichen Stützapparates mehr oder minder ausser Thätigkeit setzt, 
dann werden sie mehr weniger atrophisch.“ (Meinert.)*) Man 

*) Redard 1. c. S. 413. 

*) Nönchen, Zur typischen Skoliose. Centralbl. f. orth. Chir. Bd. 7 S. 78. 

•) Meinert, Der Einfluss des Schnürens auf die Entstehung der seit¬ 
lichen Rückgratsverkrümmungen und seine Darlegung durch den Anatomen 
SÖmmering. Zeitschr. f. orth. Chir. Bd. 1 S. 422. 


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üeber die Wirkungen des orthopädischen Corsets bei Skoliose. 225 


handelt also durch die Fixation und das Ausseractivitätsetzen der 
Musculatur gegen die ,wichtigste antiskoliotische Vorschrift“, die 
fordert: „Active Innehaltung einer normalen Rumpfstellung in allen 
seinen Theilen.“ (Eulenburg.) 

Dieser Ausspruch galt allerdings dem gewöhnlichen Schnür- 
corset; aber wir können ihn jedenfalls mit ebensoviel Berechtigung 
auf die Skoliosenstützcorsets beziehen. 

Hoffa*) meint zwar bei der Besprechung der Lorenz’schen 
Versuche, inamovible Detorsionscorsets anzulegen, die Pflege der 
Musculatur könne später bei Anwendung amovibler Verbände leicht 
nachgeholt werden. — Dass es dann noch möglich ist, die Inactivi- 
tätsatrophie so schnell wieder zum Verschwinden zu bringen, dass 
ein Recidiv verhindert werden könnte, ist doch zum mindesten recht 
zweifelhaft. Wenn man wirklich mit dieser Behandlung einen vollen 
Erfolg erzielen würde, könnte man zur Noth diese Nachtheile ris- 
kiren. Aber das ist offenbar nicht der Fall. Im übrigen ist über 
die Wirkung der unabnehmbaren Gipscorsets in dieser Beziehung 
schon in den 80er Jahren der Stab gebrochen worden. 

Dollinger®) z. B. meint: „Wird der Gipspanzer fleissig ge¬ 
tragen und endlich entfernt, so steht der Brustkorb und die Wirbel¬ 
säule der künstlichen Stütze beraubt, mit noch mehr geschwächtem 
natürlichen Stützapparat seiner Schwere überlassen da und sinkt nun 
in jene Richtung weiter fort, in welcher zu verkrümmen das Skelet 
schon Neigung hatte, als die Musculatur noch nicht so geschwächt 
war.“ ... Eine skoliotische Wirbelsäule ist nach einem Jahr Gipscorset- 
behandlung ebenso weich und haltlos als vorher, ja man kann wohl 
sagen, sie ist weicher und haltloser als zuvor, da sowohl ihre 
knöchernen als die musculären Theile erheblich durch die lange 
Ruhe an Widerstandsfähigkeit eingebüsst haben, und dadurch geht 
sehr bald der Vortheil wieder verloren, welchen die Behandlung mit 
dem Gipsverbande etwa geschaffen haben sollte. (Busch.) 

„Das Corset ist eine förmlich unmittelbare Hemmung der Muskel- 
thätigkeit in Betreff der Rückgrats-, Scapula-, Respirations- und 

Eulenburg, Realencyclopädie etc. 1. Aufl. „Rückgratsverkrüm- 

mungen.* 

*) Hoffa, Lehrbuch der orthopädischen Chirurgie 1898, S. 450. 

- •) Dollinger 1. c. S. 1.306. 

Busch, Allgemeine Orthopädie, Gymnastik und Massage. In Ziemssen’s 
Handbuch der allgemeinen Therapie. 82. 


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226 


Alfred Hüssy. 


Abdominalmusculatur. (Eulenburg.)Daher hindern die Corsets 
neben ihrer verhältnissmässigen Wirkungslosigkeit einzelne Be¬ 
wegungen, machen andere unmöglich, unnöthig, erzeugen oft eine 
perniciöse Muskelatrophie.“ (Länderer,)*) ... 

„Noch am wenigsten sind diese Nachtheile dem redressirenden 
abnehmbaren Corset zu eigen.“ 

Diesen ungünstigen, Atrophie der RUckenmusculatur herbei¬ 
führenden Einfluss der Skoliosencorsets constatiren auch Autoren in 
den 90er Jahren: so Egon Hoffmann*). 

„Sie hindern die freie Bewegung des Rumpfes und die Er¬ 
nährung der Gewebe durch Herbeiführung künstlicher Inactivität.“ 
(Bidder.)^) 

Auch Vulpius*) gibt einen „beengenden und die Musculatur 
gewiss schädigenden“ Einfluss durch Feststellung des Thorax zu und 
wendet deshalb seine Cellulosecorsets nur bei schwereren Formen 
an, bei denen „eine Mobilisirung der Wirbelsäule bis zu einem gewissen 
Grade gelungen und damit die Möglichkeit einer nützlichen Correctur 
der Körperform durch ein festes Mieder gegeben war.“ 

Im Gegensatz zu diesen Ansichten mejnt Staffel®): „Die 
behauptete Schwächung der Musculatur durch die Stützapparate lässt 
sich durch die täglichen gymnastischen Uebungen von nur halb¬ 
stündiger Dauer nach meinen Erfahrungen völlig ab wenden.“ 

Neben der Atrophie verursachenden Einwirkung auf die Weich- 
theile und eventuell das Knochengerüst zeitigen die Corsets aber 
noch mechanische Einflüsse auf andere Körpertheile. 

Das Gipscorset, speciell das Detorsionsgipscorset hat die Auf¬ 
gabe , den Thorax in einer möglichst umkrümmten Haltung zu 
fixiren, die Torsion, den Rippenbuckel zu beseitigen. Um dieser 
Aufgabe zu genügen, muss es so angelegt werden, dass es auf den 
Rumpf einen ganz bedeutenden Druck auszuüben vermag, soll es 

*) Eulenburg 1. c. 

*) Länderer, Mechanotherapie S. 277. 

*) Egon Hoffmann, Zur Behandlung der beweglichen Skoliose. Berliner 
Klinik 1897, Heft 106. 

*) Bidder 1. c. S. 1379. 

Vulpius, Erster Jahresbericht der Ambulanz für orthop. Chirurgie. 
Zeitschr. f. orth. Chir. 1894. 

«) Staffel 1. c. S. 342. 


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Ueber die Wirkungen des orthopädischen Corsets bei Skoliose. 227 

der Tendenz der Wirbelsäule und Rippen, in ihre ursprüngliche 
Lage zurückzukehren, genügenden Widerstand leisten. 

Dickinson^) berechnet den Totaldruck eines gewöhnlichen 
Schnürcorsets auf 30—80 Pfund, bei lose geschnürtem Corset auf 
etwa 35 Pfund, bei festem Corset auf 65 Pfund. Die Ausdehnungs¬ 
fähigkeit der Brust werde durch das Corset auf ihres gewöhn¬ 
lichen Umfanges beschränkt. 

Einen kaum viel kleineren, wenn nicht gar noch grösseren 
Druck übt das Detorsionscorset aus mit demselben Effect: Die Aus¬ 
dehnungsfähigkeit des Thorax wird durch einen solch intensiven 
Druck, selbst wenn er nur vorzüglich in einer Richtung wirkt, stark 
beschränkt. Das ist aber gleichbedeutend mit: Behinderung der 
Respiration. 

Eine ausgiebige Respiration ist selbstverständlich nur möglich 
bei allseitiger gleichmässiger Erweiterungsfähigkeit des Thorax. 
Sobald ein gewisser beträchtlicher Druck diese in einer Richtung 
beschränkt, so ist die natürliche Folge eine gewisse Verminderung 
der Lungencapacität. Der Thorax wird sich, wenn er nur in einer 
Diagonalen gepresst wird, wohl kaum so prompt in der anderen 
partiell stärker ausdehnen können. Aber selbst wenn, wie bei ein¬ 
zelnen Corsetarten, die Thoraxyorderwand frei ist, so ist das noch 
lange nicht gleichwerthig einer vollen Freiheit der Athmung. 

Einzelne Autoren wollen in der Praxis nun das gerade Gegen- 
theil dieser theoretischen Annahme beobachtet haben. 

So berichtet Sayre*) über den Fall Dr. V., dass dessen Lungen¬ 
capacität durch Dr. Stephen Smith bestimmt worden sei auf: 

Exspiration Inspiration 

vor der Suspension . . . . . . 140 . . 100 Cubikzoll 

nach Application der Gipsjacke . . 180 . . 130 „ 

Das wäre also eine ganz enorme Besserung. Eine solche Ver¬ 
mehrung der Lungencapacität ist jedenfalls möglich, wenn es sich 
z. B. um eine schmerzhafte Skoliose handelt, d. h. wenn man durch 
Stützung des skoliotischen Rumpfes die Schmerzen zum Verschwinden 

DickinsoU, The Corset. Questions of Pressure and Displacement. 
New York Medical Journal 1887. Referat im Centralbl. f. orthop. Chirurgie 
und Mechanik- 1888, S. 79. 

*) Sayre, Spondylitis und die seitlichen Verkrümmungen der Wirbel¬ 
säule. Deutsch von Gelpke 1883, S. 104. 


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228 


Alfred Hüsay. 


gebracht hat und dadurch selbstverständlich die Respiration aus¬ 
giebiger werden lässt. 

Leider ist bei dem citirt^n Falle nicht genauer beschrieben, ob 
es sich um diese Eventualität handelt. 

Drachmann^) dagegen constatirt wirklich eine die Respiration 
hemmende Wirkung der Gipsjacke — und Willy Meier*) — (unter 
Madelung) schreibt: 

„Das einzige, worüber fast sämmtliche unserer Patienten nach 
dem ersten Anlegen klagten, war die behinderte Athmung; dieselbe 
muss in dem Panzer hauptsächlich mit dem Zwerchfell stattfinden. 
Sie wird deshalb von den Mädchen, die ja mit dem oberen Theile 
des Thorax die Hauptfithemexcursionen machen, mehr empfunden 
als von den fast nur mit dem Zwerchfell athmenden männlichen 
Personen." 

Beely^) sagt von seinem doch offenbar dem Hessing'sch^ 
Corset sehr ähnlichen Stützapparat: „Fest darf das Gorset in der 
Gegend der Taille, im mittleren Drittel, sowie im Beckentheil ge¬ 
schnürt werden, nur relativ lose über den Schulterblättern, weil sonst 
die Brust eingeengt, die Mammae gedrückt und die Schulterblätter 
mit den Schultern nach oben gedrängt werden." 

Es wird hier klar genug ausgedrückt, dass in der Taille fest 
geschnürt werden muss, um überhaupt eine Wirkung zu erzielen! 

Aehnliche Verhältnisse finden sich auch bei den Gipscorsets, 
seien sie nun einfache Suspensions- oder Detorsionscorsets; auch 
bei diesen muss die Taille möglichst ausgearbeitet werden, sollen sie 
den erstrebten Zweck einigermassen erfüllen. 

Es involvirt aber dieses Vorgehen einen ziemlich starken Druck 
auf die Bauchdecken und die Eingeweide. Diese werden nach oben 
und unten gedrängt; oben drücken sie auf das Zwerchfell, unten 
auf das Perineum. Letzteres wird z. B. bei gewöhnlichen Corsets 
durch festes Schnüren um 0,9 cm nach unten gedrängt. (Dickinson.)^) 


*) Dracbmann 1. c. S. 61. 

*) Willy Meier, Behandlung der Skoliose nach Sayre'schem Princip 
mit Zuhilfenahme von Jacken aus plastischem Filz. Inaug.-Diwertation. Bonn 
1880, S. 18. 

Beely, Stützapparat für die Wirbelsäule. Centralbl. f. orthop. Chir. 
und Mechanik 1888, S. 3. 

Dickinson 1. c. S. 80. 


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lieber die Wirkungen des orthopädischen Corseta bei Skoliose. 229 


Das Zwerchfell wird aber so wie so durch Annäherung seiner 
seitlichen Insertionspunkte infolge des Corsetdruckes auf den Thorax 
erschlafft. 

Durch diese concurrirenden Einflüsse wird also dem Zwerchfell 
beständig eine gewisse Ausathmungsstellung aui^ezwungen. Nicht 
nur die costale, sondern auch die abdominale Athmung werden des¬ 
wegen nur in geringerer Ausgiebigkeit möglich sein. 

Wir sehen, auch hier zeigt sich wieder eine Begründung einer 
gewissen Verminderung der Lungencapacität durch das Tragen eines 
Corsets; wenn wir auch den Beweis dafür nicht zu geben vermögen^ 
dass beim Tragen eines orthopädischen wie bei dem eines gewöhn¬ 
lichen Schnürcorsets 20—34 ^/o weniger Luft eingeathmet werden, 
als wenn kein Corset getragen wird. 

Durch diesen Druck auf das Abdomen leidet aber ausser der 
abdominalen Respiration vor allem auch die Function der Eingeweide, 
die Verdauung. 

Das bewies uns z. B. die Angabe derjenigen Patienten des 
Züricher orthopädischen Institutes, die mit abnehmbaren Detorsions- 
gipscorsets behandelt wurden, dass sie weniger Appetit hätten, 
weniger essen könnten, wenn sie das Corset tragen, dass sie aber 
auch nach dem Essen eine gewisse Beengung und Druck in der 
Magengegend verspürten. 

Auch andere Autoren machten ähnliche Beobachtungen y so 
Länderer^): «Indem die Skoliosestützapparate Becken, Bauch und 
Brust einschnüren, schädigen sie die Entwickelung der inneren Organe 
und beeinträchtigen somit die Gesundheit.^ 

Und Haudek’): «Bei Corseten aus Gips, Filz, GeUulose etc«, 
die in der Taillengegend stark eingezogen, auf dem Becken eine 
flächenhafte Unterstützung suchen, leidet der Patient selbst, indem 
diurch die bei der TaiUirung nothwendige Einschnürung die Ein¬ 
geweide des Abdomens zusammengepresst werden.^ Dagegen be¬ 
hauptet er, dass sich in dieser Beziehung das Hessingcorset vor- 
theilhaft vor allen anderen unterscheide, jede Bewegung des Brust¬ 
korbes und jedweder Druck auf die Eingeweide werde dabei vermieden 
und durch die auf das Stoffcorset aufgenähten Stahlfedern zu starkes 
Schnüren verhindert. 


‘) Länderer 1. c. S. 277. 
*) Haadek 1. c. S. 12. 


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230 


Alfred Hüasy. 


„Die Kinder erfreuen sich trotz des Tragens eines Corsets eines 
vortrefflichen Appetits und dementsprechenden Aussehens® ^). 

Hoffa*) bedarf bei seinem Stützcorset zweier über den Bauch 
und die unteren Theile des Rückens gehende Riemen; „die das Vor¬ 
dringen des Bauches verhindern®. 

Warum drängt sich denn der Bauch vor? Doch offenbar nur, 
weil auch sein* Corset auf gewisse Partien des Abdomens einen 
ziemlichen Druck ausübt. Wenn aber ein solcher Druck statt hat, 
dann lässt sich eine die Function der Eingeweide beeintrachtigende 
Einwirkung nicht abstreiten. 

Selbst die nach Hessing'schem Principe construirten Corset- 
arten sind demgemäss in dieser Hinsicht nicht einwandfrei, wenn auch 
jedenfalls in bedeutend geringerem Grade als z. B. Detorsionsgips- 
corsets. 

Auf einen weiteren Uebelstand der Hessing corsets, der aber wohl 
zum Theil noch in vermehrtem Grade für die meisten anderen Corset- 
arten gilt, weist Gramer^) hin: „Die Patienten, die das Hessing- 
corset benützen, klagen viel über Hitze und Schweissproduction, 
die eintreten muss, weil das Corset völlig geschlossen ist.® 

Auch Busch^) betont speciell die Gefährdung des Abdomens 
und des Beckens durch unabnehmbares Gipscorset: „Eine feste, 
mehrere Vierteljahre Tag und Nacht durchgeführte Umschnürung 
kann allerdings das Wachsthum des Beckenringes hemmen und dadurch 
den Grund zu späteren schweren Geburtshindernissen legen; jeden¬ 
falls in viel höherem Grade als der Beckengürtel eines Corsets, 
welches zur Nachtzeit abgelegt wird. Die ganze Entwickelung der 
inneren Geschlechtstheile aber, die bei skoliotischen Mädchen schon 
ohnedies so oft gestört ist, was sich durch Menstruationsanomalien 
zu erkennen gibt, wird schwerlich dadurch gefördert, dass ein fester 
Qipspanzer das ganze Abdomen bis zum oberen Rande der Scham¬ 
beinfuge umschliesst.® 

Endlich sei noch auf einen anderen Mangel der Corsetbehand- 
hing aufmerksam gemacht. Die Nichtberücksichtigung der Ver- 


*) Haudek 1. c. S. 15. 

*) Hoffa, Lehrbuch der orthop. Chirurgie S. 456. 

*) Gramer, ^Ein neuer GeradehalterDeutsche medic. Wochenscbr. 
1895, S. 93. 

Busch 1. c. S. 199. 


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lieber die Wirkungen des orthopädischen Corsets bei Skoliose. 231 


Bchiedenheit der anteroposterioren ErÜmmungsyerhältniase der Wirbel« 
Säule beim Stehen und beim Sitzen. 

W. Schulthess^) sagt in seinen «Untersuchungen Über die 
Wirbelsäulenverkrümmung sitzender Kinder”: «Im ferneren . lehren 
unsere Untersuchungen sehr eindringlich, dass die wohl schon aus¬ 
gesprochene, aber kaum durchgedrungene Ansicht, es sei unmöglich, 
im Sitzen gleiche VerkrümmungsVerhältnisse an der Wirbelsäule zu 
schaffen wie im Stehen, durchaus richtig sei. ... 

Das Sitzen hebt im Eindesalter jede an der Bückenkrümmung 
sichtbare Andeutung einer Lendenlordose auf. . . • Oelingt es aber, 
die Kinder zum Aufrechtsitzen zu bringen, eo schaffen wir zwar Yer- 
hältnisse, welche für Athmung und Circulation günstiger sind, aber 
veranlassen eine Form der Wirbelsäulenkrümmung, welche, wenn 
sie sich consolidirt, sich ebensosehr von der Norm entfernt, wie die 
oben bezeichnete Erümmungsform (gemeint ist der Schuhmachertypus). 
Nach der allerdings noch nicht durch exacte Messungen gestützten 
Ansicht verschiedener Autoren würde diese Form in hohem Grade 
zu Skoliose disponiren.” 

Wenn wir nun ein Gipscorset, das im Stehen angelegt ist, auch 
beim Sitzen tragen lassen, so setzen wir uns einfach über diese That- 
sache weg und erzwingen geradezn eine solche anormale Krümmungs¬ 
form der Wirbelsäule. 

Setzt sich das Kind mit seinem in Suspension angelegten Gips¬ 
corset, so hat selbstverständlich die Wirbelsäule die Tendenz, die 
Lendenlordose aufzuheben. Die Lendenwirbelsäule drückt demgemäss 
energisch gegen die entsprechende Partie des Corsets. Da diese 
ja nicht nachgibt, so wäre die natürliche Folge ein starkes Nach- 
vomdrängen des Bauches. Aber auch dieser Tendenz tritt das 
Corset, das eng dem Abdomen anliegt, entgegen. Es werden daher 
die Eingeweide gezwungen, auszuweichen, wie oben schon geschildert 
wurde. Daraus folgt auch hier eine Verminderung der abdominalen 
Respirationsfähigkeit und Hinderung der Verdauung. 

Schliesslich sei mir gestattet, die Schlussfolgerungen in Er¬ 
innerung zurückzurufen, die Jach^) aus seinen «Klinischen Studien 
über das Verhalten der Torsion bei Skoliose“ zieht. 

*) W. SchulthesB, Untersuchungen über die Wirbelsäulenverkrümmung 
sitzender Kinder, ein Beitrag zur Mechanik des Sitzens. ^eitschr. f. orth. Chir. 
Bd. 1 S. 22. 

•) Jach, Zeitschr. f. orth. Chir. Bd. 1 S. 44. 

Zeitschrift für orthopädisobe Chlrargle. YIII. Band. 26 


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232 


Alfred Hüssy. 


Jach hebt die ungeheure Wichtigkeit der Ausbildung der 
physiologischen Krümmungen der Wirbelsäule für die heran wachsende 
Jugend herror und macht darauf aufmerksam, dass durch die wieder¬ 
holte verticale Suspension die Wirbelsäule ihre normale kyphotische 
Krümmung verlieren müsse, dass darauf durch das Anbringen eines 
anschliessenden Gipscorsets bei der Suspension vollends die geschaffene 
Abflachung fixirt werde und demgemäss, sobald das Corset abgelegt 
werde, mit Sicherheit Verschlimmerung eintreten müsse. 

In der Praxis scheint allerdings diese durch Suspension hervor¬ 
gerufene Abflachung • deswegen keine allzugrosse Rolle zu spielen, 
weil infolge der Atrophie des Dnterhautfettgewebes das Corset sehr 
bald nicht mehr so eng anliegt, sondern dem Rumpfe und dadurch 
der Wirbelsäule eine gewisse Beweglichkeit gestattet und so die 
durch Suspension bewirkte Abflachung, wenn nicht illusorisch macht, 
so doch mindestens bedeutend vermindert. 

Locale Wirkungen des Corsets auf die skoliotische Deformität der 
Wirbelsäule und Rippen. 

Ein orthopädisches Corset wird zu dem Zwecke verordnet, ent¬ 
weder eine durch irgend welche andere Methode erzielte redressirte 
Stellung zu erhalten oder selbst eine solche Redression oder Detorsion 
zu veranlassen. 

Braucht nun der redressirte detorquirte Körper ein Corset, um 
in seiner redressirten Stellung erhalten zu werden, so müssen wir 
schlechterdings eine Tendenz desselben annehmen, in die fehlerhafte 
Stellung, die ihm offenbar durch seine anatomischen Verhältnisse 
gegeben ist, zurückzukehren. Diese Tendenz ist nun sog^ ausser¬ 
ordentlich gross. Das ist schon aus den bedeutenden Kräften zu 
ersehen, die man bei den stehenden Detorsionsapparaten anwenden 
muss, um bei einigermassen fixirten Skoliosen überhaupt eine de¬ 
torquirte Stellung der Wirbelsäule zu erzwingen und längere Zeit 
zu erhalten, und zwar ist es eine Tendenz sowohl zur Deviation 
als noch in bedeutenderem Grade zur Torsion. 

Ein Corset würde diesen Kräften erst unter der Bedingung 
Widerstand leisten, dass es der Technik gelingen würde, ihm eine 
sehr breite Grundfläche zu geben, auf der es vollkommen sicher und 
absolut unverrückbar ruhen würde, und von der aus der gesammte 
obere Theil des Rumpfes ebenso unverrückbar fixirt würde, so dass 


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üeber die Wirkungen des orthopädischen Gorsets bei Skoliose. 233 

seihst die Veränderungen der Thoraxstellung durch die Respirations- 
beir^rongen dahinfallen würden. 

Dem Gorset kommt aber eine fatale Eigenschaft zu, die den 
fixen Detorsionsapparaten abgeht. Während diese die Ausgangs¬ 
punkte für die wirkenden Kräfte durchweg ausserhalb des mensch- 
lidten Körpers suchen, findet das Gorset sie am Rumpfe selbst. 
Einzig die feste Knoohenverbindung des Beckengtirtels kann ihm ein 
einigermassen sicheres Fundament bieten, von dem aus es den Rumpf 
fixiren könnte. Dieses Fundament ist stellenweise recht schmal und 
wenig geeignet, eine sehr sichere Grundlage zu gewähren. Die 
Osst ilea bieten durch ihr leichtes Ueberhängen eine etwas geeignetere 
Stützfläche und damit auch einen etwas stärkeren Halt, als das Gorset 
sie vom und hinten findet. Es kann demgemäss momentan am 
ehesten die seitliche Deviation der Wirbelsäule und noch mehr das 
sogen. »Ueberhängen* des Rumpfes nach der einen oder anderen 
Seite durch die mechanische Einwirkung eines Gorsets mit dieser 
Stützfläche beeinflusst werden. 

Noch grössere Schwierigkeiten macht die Adaption eines Gorsets, 
das auch in anteroposteriorer Richtung festsitzen soll; erschwerend tritt 
hinzu die Beweglichkeit des Schultergürtels und die beim Wechsel 
zwischen Stehen und Sitzen stetsfort stattfindende Bewegung zwischen 
Becken und Wirbelsäule. 

Ein Gorset anzufertigen, das einen exact dosirten, redressirenden 
Druck in dieser Richtung auf die Niveaudifl'erenzen des Rückens 
aasübt, ist ausserordentlich schwierig. 

Ein sogen, „gut sitzendes* Gorset ist demgemäss fast ein 
Ding der Unmöglichkeit, es sei denn, dass es den Rumpf an dieser 
oder jener Stelle beengt und dadurch schädigt. Mit der Verbesserung 
der Technik sind allerdings diese üebelstände geringer geworden; 
einen Beweis dafür, dass sie immer noch existiren, finden wir in dem 
Bestreben gewisser Orthopäden, durch Einbeziehung des einen oder 
gar beider Oberschenkel in das Gorset, diese Einflüsse auszuschalten. 
Dass es schwer ist, sie zu umgehen, erscheint uns auch begreiflich, 
wenn wir bedenken, welch kurzen Hebelarm der schmale Becken¬ 
gürtel darstellt, von dem aus der übrige Theil des Gorsets als langer 
Hebelarm der gewaltigen Torsionstendenz des skoliotischien Rumpfes 
sich entgegenstellen soll. Halten sich diese einander entgegen¬ 
wirkenden Kräfte nicht an allen Punkten vollkommen das Gleich¬ 
gewicht, so wird je nach dem einzelnen Falle in gewissen Richtungen 


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234 


Alfred Hüssy. 


ein Drucküberschuss sich geltend machen und daraus folgerichtig 
eine SteÜungsveränderung des ganzen Corsets resultiren. Dadurch 
wird selbstverständlich die Entlastung nicht irgend einer beliebigen 
Stelle eintreten, sondern gerade derjenigen, welche man zu beein¬ 
flussen gedachte. 

Wie verhält sich nun der skoliotische Rumpf, speciell seine 
Torsion gegenüber dem Versuche des Corsets, ihn in detorquirteir 
Stellung zu erhalten? 

Infolge der Torsionstendenz des detorquirten Rumpfes werden 
die der Torsionsseite entsprechenden Corsetpartien nach hinten 
gedrängt, soweit das die Gorsetconstruction zulässt; es presst sich 
demgemäss die vordere Corsethälfbe an die unteren Partien der ent¬ 
sprechenden Seite des Thorax und des Abdomen. 

Wirken nun umgekehrt dieser Torsionstendenz Pelotten, Ver¬ 
bindungsstücke der Krücken und der Hüftbügel oder die detor- 
quirenden Wände des Detorsionscorsets entgegen, so äussert sich 
die Torsionstendenz durch Druck am. Beckengürtel unterhalb der 
Spinae oss. il., Und da der Rippenbuckel am Ausweichen nach hinten 
gehindert ist, wird der Thorax nach vorn gedrängt; denn vom sind 
die nachgiebigen Partien des Thorax und des Abdomen, die nur 
wenig Widerstand leisten und sich bis zu einem gewissen Grade ver¬ 
drängen Ifiwsen. Die für den Rippenbuckel bestimmte Kraft wirkt 
also vorzüglich auf diese Partien und die beabsichtigte Wirkung tritt 
nur in geringem Grade ein. 

Der Rippenbuckel kann aber auch noch dadurch Platz machen, 
dass er den ganzen Rumpf unter Abflachung, eventuell Lördosen- 
bildung der benachbarten Wirbelsäulenabschnitte und unter Zurück¬ 
schieben des Schultergürtels vermittelst der Achselkrücken nach vom 
dislocirt. 

Es kommt nun noch ein theoretisches Moment hinzu, das zeigt, 
dass ein Detorsionscorset oder einfaches Stützcorset nicht nur oft 
den Rippenbuckel unbeeinflusst lässt, sondern geradezu eine Ver- 
m^hrnng desselben herbeiführen kann. 

Selbst wenn ein Kind gelernt hat, activ seine Wirbelsäule um¬ 
zukrümmen, BO ermüdet es schnell und wird deshalb die Innehaltung 
der detorquirten Lage sehr bald vollständig dem Corset überlassen. 
Die Wirbelsäule sucht wieder die vorher innegehabte, seitlich ver¬ 
krümmte Stellung einzunehmen. Es legt sich demgemäss die Thorax- 
seitenfläohe kräftig an die des Corsets an. Dieses Wälzt sich um 


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lieber die Wirkungen des orthopädischen Corsets bei Skoliose. 235 

seine untere Kante, bis auch hier die Construction es verhindert. 
Jetzt erst tritt das Corset in Th^tigkeit, und zwar wesentlich mit 
einem seitlichen Gegendruck auf die Rippen der convexen Seite. 
Eine mehr weniger ausgeprägte Abknickung derselben ist die Folge 
und damit eine schärfere Ausbildung des aus ihrer Summe bestehenden 
Rippenbuckels. Denn es ist ja der Angulus costerum gerade derjenige 
Punkt der Rippen, der von vornherein bei der Skoliose durch die Torsiön 
nach hinten geschoben wird und eine stärkere Krümmung erfährt. 

Schreger^) constatirte schon 1810 diese Wirkungsart der 
Skoliosenapparate; „der seitliche Druck auf die Rippen biege diese 
an den ohnehin schon mehr spitzen Winkeln noch mehr spitzig zu*).“ 

Wir müssen im ferneren bedenken, dass wenn die pathologische 
Wachsthumstendenz grösser ist als die Widerstände, sie dieselben über¬ 
windet; ja es wäre denkbar, dass die den Buckel bildenden Rippen- 
theile durch den Gegendruck zu einer Vermehrung ihres Wachs¬ 
thums und dadurch einer Verstärkung des Rippenbuckels veranlasst 
würden. 

Wie wir sehen, richtet sich eine ganze Reihe von Bedenken 
sehr ernster Art gegen die Corsetbehandlung, sowohl wegen ihrer 
allgemeinen als auch localen Wirkungsweise. Was speciell die 
Folgen der ersteren anbetrifft, so ist einzuräumen, dass nicht alle 
Bedenken durch entsprechende Erfahrungen im Institute bestätigt 
werden können; es erklärt sich das zum Theil wenigstens aus der 
Art und Weise, wie hier vorgegangen wurde. 

Gleichwohl ergibt sicli aus meinen Auseinandersetzungen 
folgende Thatsache: Es verdient die sogen. Furcht des Publicuins 
vor der Behandlung mit einem orthopädischen Corset nicht die Be¬ 
zeichnung „tragikomisch“; sie ist vielmehr zum grossen Theile 
berechtigt. 

Seheu wir nun, wie die Resultate, die im Institute erhalten 
wurden, durch Corsetbehandlung beeinflusst werden; erst dann können 
wir deflnitiv unsere Entscheidung in dieser Frage treflen! 

0 Fischer 1. c. S. 64. 

*) Anmerkung bei der Correctur: Die Richtigkeit der Schalthess’schen 
Behanptnng, dass die orthopädischen Corsets vor allem durch Seitendruck wirken 
und demgemäss die Gefahr der Vermehrung der Torsion vorliege, wird durch 
die Vulpius’schen Bilder (Vo 1 k.mann’scher Vortrag Nr. 276 „lieber den 
Werth des orthopädischen Stützcorsetes* von Oskar Vulpius. Leipzig 1900) 
von neuem bestätigt. 


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236 


Alfred Hüssy. 


Beobaohtrmgen fiber die Wirkung der ortbopädisoheu 
Corsetbebaudlung im Institute. 

Wenn ich die Aufgabe übernahm, die Frage der orthopädischen 
Gorsetbehandlung bei Skoliose gestützt auf das im orthopädischen 
Institute der Herren Docenten Dr. Lüning und Dr. Schulthess 
im Verlaufe der Jahre angesammelte Material kritisch zu würdigen, 
über die Erfahrungen, die dort gemacht wurden, zu berichten, so 
war ich mir der Schwierigkeit einer solchen Prüfung wohl bewusst. 

Das Material, auf das meine Untersuchungen basiren, ist reiatiy 
klein (134 Fälle), obwohl sämmtliche in Behandlung stehende Sko¬ 
liosen in regelmässigen Zeitinterrallen gemessen werden. Es rührt 
dies davon her, dass Herr Dr. W. Schulthess seit längerer Zeit 
sich des Eindrudces nicht erwehren konnte, dass die Erfolge der 
Gorsetbehandlung denn doch wenig den zuversichtlichen Erwartungen 
entsprachen, die so viele Autoren auf sie setzten. 

Anderseits ist das Material insofern nicht ganz gleichwerthig, 
als die Behandlung, die neben dem Gorset in Verwendung kam, mit 
der Zeit eine starke Veränderung insofern erlitt, als in den letzten 
Jahren in stets zunehmendem Maasse die Schulthess'schen redres- 
sirenden Skoliosenübungsapparate daneben oder ausschliesslich ver¬ 
wendet wurden* Infolge dieses starken Vorwiegens der maschinellen 
neben der Gorsetbehandlung, bot die Beurtheilung einzelner Fälle 
eine gewisse Schwierigkeit: es war oft nicht leicht zu entscheiden, 
wieviel von dem positiven oder vor allem negativen Resultate dem 
Gorset allein zuzuschreiben war; denn gewiss wurde im allgemeinen 
ein guter Theil des Schadens, den die Gorsets stifteten, wieder wett¬ 
gemacht durch die sonstige Behandlung. 

Auch das verwendete Gorsetmaterial ist, wie ich unten aus¬ 
einandersetzen werde, ziemlich verschieden. Es kann sich deshalb, 
da die Zahl der Fälle eine so relativ beschränkte ist, im Laufe der 
Arbeit nicht darum handeln, dem oder jenem Gonstructionsprincip 
aus den Resultaten procentuarisch den Vorrang zuzuschreiben, sondern 
nur darum, zu entscheiden, in welcher Weise sieh der Einfluss 
des Gorsets in den Veränderungen der beobachteten Fälle fühlbar 
machte. 

Gleichwerthig hingegen ist das Material in einer Hinsicht: Die 
der Arbeit zu Grunde liegenden Maasszeichnungen und die dazu ge- 


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Ueber die Wirkungen orthopädischen Corsets bei Skoliose. 237 

hörigen Untersuchungen mit dem Nivellirtrapeze und dem Nivellir- 
zirkel wurden alle durch Herrn Dr. W. Schulthess eigenhändig 
ausgeführt, die ersteren gewann er vermittelst seines Zeichnungs¬ 
apparates ^). 

Ich berücksichtige in meinen Untersuchungen vorwiegend die 
Torsion bezw. den Rippenbuckel, die bedeutsamsten Aeusse- 
rungen der skoliotischen Deformität, und das um so mehr, als nach 
den oben gegebenen theoretischen Auseinandersetzungen das Gorset 
im Verdachte stand, den Rippenbuckel zu vermehren. 

Wegen der geringen Zahl der Fälle verzichte ich aber darauf, 
procentuale Angaben zu machen über Beeinflussung der einzelnen 
Deviationsformen und andere Fragen, deren Beantwortung an Hand 
eines grösseren Materials recht dankbar wäre. 

Zur Prüfung der Frage: «Wie wirkten die Corsets bei den 
Skoliosen des Instituts?*", habe ich das gesammte Material an Zeich¬ 
nungen und den dazu gehörigen Krankengeschichten durchgesehen 
und die in meine Arbeit einschlägigen Fälle in folgende Gruppen 
vertheilt: 

1. Vor dem Eintritt ins Institut auswärts mit Gorset 
Behandelte. 

II. Vor dem Eintritt ins Institut auswärts ohne Gorset 
anderweitig Behandelte. 

111. Bisher nicht Behandelte. 


') Da auch in neuester Zeit und besonders bei Anlass des Vortrages des 
hier behandelten G^enstandes in München von Yulpius Zweifel über die Zu¬ 
verlässigkeit der Messungen geäussert wurden, so seien dem ünterzeichneten 
hier einige specielle Bemerkungen gestattet. Keiner der Zweifler hat sich bis 
jetzt über während längerer Zeit fortgesetzte Messungen ausgewiesen, auch 
nicht Jagerink, der zwar nicht meine, sondern Zander's Messungamethode 
in einem Ton angegriffen hat, den ich für diese Zeitschrift aufs höchste be- 
daaere. Der Inhalt seines Briefes ist in dieser Zeitschrift bereits widerlegt. In 
Bezug auf das hier verarbeitete Material müssen wir darauf hinweisen, dass 
1. die hier verwertheten Bilder von Patienten mit meistens schwerer Skoliose 
ztammen, somit von solchen Individuen, welche sich für die Messung der rela¬ 
tiven ünveränderlichkeit ihrer Krümmungen wegen sehr gut eignen; 2. dass 
die Torsions Zeichnungen jeweilen durch die Messungen mit dem Nivellir- 
trapez in Vorbeugehaltung controllirt wurden. Gerade auf die Ergebnisse 
dieser Messung basiren die wichtigsten Schlüsse der vorliegenden Arbeit. Ich 
hoffe, dass diese Arbeit nicht die letzte Gelegenheit sein wird, welche geeignet 
kt, den Werth eonsequent fortgesetzter Messungen ins riohtige Licht zu stellen 
oad der Methode immer neue Anhänger zu sichern. Dr. W. Sch ult best. 


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238 


Alfred Hflssy. 


IV. In der Anstalt mit Corset Behandelte. 

Y. Mit Corset Entlassene und später controllirte bezw. 
nur ambulant Behandelte. 

VI. Im Institute ohne Corset Behandelte. 

Die Gruppen I und II sind selbstverständlich klein, sie sind 
deshalb möglichst vollständig aufgeführt. Dagegen sind die Categorien 
m und VI recht gross; in diese wurden deswegen nur diejenigen 
Fälle aufgenommen, die sowohl eine verhältnissmässig grosse Deviation 
als auch Torsion aufwiesen; nur so wurde eine Vergleichung dieser 
Gruppe mit der der vorher schon behandelten Fälle möglich. Ich 
ging dabei derart vor, dass ich von der letzten Joumalnummer an, 
rückwärts gebend, alle Fälle, die über 10® Torsion in der Brust- 
oder Lendenwirbelsäule im Aufrecbtstehen oder in Vorbeugehaltung 
aufwiesen oder sonst bemerkenswerth waren, in die Tabellen ein¬ 
reihte, bis ich eine gewisse Zahl von Fällen zusammen gestellt hatte; 
von da an weiter zurück wurden nur noch die Fälle mit besonders 
starker Torsion berücksichtigt. 

Demgemäss findet man in diesen Gruppen durchweg complicirte 
Dorsalskoliosen. 

Bei der Zusammenstellung der Tabellen berücksichtigte ich 
folgende Punkte: 

1. Journalnummer. 

2. Alter und Geschlecht. 

3. Datum der ersten, und bei den Gruppen IV, V und VI 
der Untersuchungen vor, während und nach der Behandlung. 

4. Allgemeinstatus; er ist leider in den früheren Aufzeich¬ 
nungen im allgemeinen zu wenig genau verzeichnet, um statistische 
Schlussfolgerungen zu ziehen, und wird deswegen nur in wenigen 
Gruppen berücksichtigt, in den beigedruckten TabeUen aber weg¬ 
gelassen. 

5. Behandlungsart. 

6. Charakteristik der Skoliose bei der ersten, eventuell 
zweiten und dritten Messung. 

Diese Charakteristik erstreckt sich auf folgende Punkte: 

a) Seitenabweichung. Um genaue, in Zahlen ausgedrückte 
Maasse aus den Zeichnungen zu erhalten, ging ich in folgender 
Weise vor (Fig. 1): Hatte ich z. B. die Zeichnung einer mehr¬ 
fachen Skoliose vor mir, so wurde an der Stelle, wo die Lenden- 


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üeber die Wirkungen des orthopädischen Corsets bei Skoliose. 239 


Fig. 1. 


Wirbelsäule Ton einer auf die Mitte des Kreuzbeins fallenden Vertir 
calen ab wich, eine Tangente an den zweitfolgenden Scheitelpunkt 
(z. B. 6") gezogen und nun die JBöhe des ersten Scheitels von dieser 
Tangente gemessen {ßdT ); eine zweite, eventuell dritte Tangente von 
dem nächsten Scheitel (d) ging entweder an den zweit¬ 
folgenden Scheitel (C) oder an die Vertebra prominens 
(FJJ), und auch hier maass ich die Scheitelhöhe. 

Bei den * überhängenden“ Formen wurden die 
Grösse (a — VII) und die Richtung des „Ueberhängens“ 
angegeben. Als „überhängend“ bezeichnen wir solche 
Fälle, bei denen die Vertebra prominens seitwärts von 
einer auf die Mitte des Kreuzbeins errichteten Senk¬ 
rechten fällt ^). 

b) Torsion, a) Das Maass der Torsion beim 
Aufrechtstehen erhielten wir aus den drei bekannten 
Horizontalprojectionscurven (vide Zeichnung). 

Ich habe aber nicht wie Jach und Steiner 
die Differenz des Abstandes der zwei am meisten vor¬ 
springenden symmetrischen Punkte der Curven von der 
punktirten Linie der Zeichnung angegeben, welche die 
Richtung einer durch die Spinae anter. super, gelegten 
Verticalebene zeigt. Um das Resultat besser mit dem 
Torsionsmaass in Yorbeugehaltung vergleichen zu kön¬ 
nen, schien es mir günstiger, den Winkel zu bestimmen, 
welchen eine an die zwei prominentesten Punkte ge¬ 
legte Tangente mit der Verbindungslinie der Spinae ant. superior. 
bildet. Dieser Winkel wurde mit einem in 400® getheilten Trans¬ 
porteur geihessen. 

ß) Die Torsion in Vorbeugehaltung ist wie oben an¬ 
gegeben mit dem Schulthess’schen Nivellirtrapeze (Fig. 2) 
gemessen worden. Die Resultate findet man in den Kranken¬ 
geschichten. 



c) Die Form des Rippenbuckels wurde theils aus der eben¬ 
falls in den Krankengeschichten verzeichneten Rubrik, theils wo diese 


’) Hess, Weitere Beiträge zur Pathologie der Totalskoliose, 
f. orth. Öhir. Bd. 6. 


Zeitschr. 


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240 


Alfred Hüssy. 


Angabe in einzebien Fällen fehlte, aus der Form der Horizontal** 
curven entnommen. 

7. Angabe des Corsettypus. Es fanden Verwendung Oipa-, 
orthopädische und Hessing’sche Corsets. 


Fig. 2. 



Die orthopädischen Corsets wurden, wie schon im ersten ärzt¬ 
lichen Bericht über den Zeitraum 1883—90 erwähnt, in ähnlicher 
Weise wie das Beely’sche construirt, nur wurden meistens die 
Achselkrücken weggelassen. 

Die Corsets nach dem Hess in gaschen Typus wurden vom 
Bandagisten angefertigt, selbstverständlich unter intensivster ärzt¬ 
licher Controlle; sie stehen jedenfalls in keiner Weise aus anderen 
Instituten hervorgegangenen Hessing corsets in Bezug auf exacte 
Anpassung nach. Zuweilen versuchte man mit einer unter dem 


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lieber die Wirkungen des orthopädischen Gorsets bei Skoliose. 241 


Drucke einer schiefen Feder stehenden Pelotte einen gewissen Druck 
auf den Rippenbuckel auszuüben. 

Die Oipscorsets wurden früher nach der Sayre'schen Technik 
in Suspension angelegt; dagegen sind alle seit ca. 3 Jahren ver¬ 
fertigten Gipscorsets sogen. .Detorsionsgipscorsets“. Sie wurden 
folgendennassen hergestellt entweder im NebeFschen Rahmen oder 
in Yerticalsuspension: 

Bei Fixation des Beckens durch einen Gurt wurde vorerst aus- 
probirt, in welcher Richtung und mit welcher Gewichtsbelastung 
ein Detorsionsgurt wirken müsse, um eine möglichst vollständige 
Detorsion der vorher mobilisirten Wirbelsäule herbeizuführen. Darauf 
wurden in üblicher Weise rasch über einem Tricot die Gipsbinden 
umwickelt und vor und während des Erstarrens des Verbandes mit 
den Händen die Detorsion möglichst stark herbeigeführt; die detor- 
quirende manuelle Wirkung wurde gleichzeitig durch den darüber 
gelegten belasteten Detorsionsgurt noch bedeutend vermehrt. 

Nach dem Erstarren des Verbandes wird vorn in der Mitte 
ein Streifen von nicht ganz Handbreite herausgeschnitten, darauf 
das Corset vom Körper abgehebelt und vom Bandagisten mit einer 
Schnürung versehen (Fig. 3). Dieses Detorsionscorset wird nun 
täglich in Suspension angelegt und gewissermassen übungsweise 
ca. 4 Stunden lang getragen, in der Zeit, da keine andere Behand¬ 
lung statthat. Nach ca. 2 Monaten wird es eventuell erneuert. Von 
den Schäden, die dieser Technik vorgeworfen werden, wie Schmerzen 
oder gar Decubitus durch Faltenbildung, wurde nie das Geringste 
bemerkt. 

Herr Dr. Schulthess konnte aus der Literatur nie die Ueber- 
zeugung gewinnen, dass irgend ein anderes der zahlreich an¬ 
gegebenen Detorsionscorsets mehr leiste, als das hier geschilderte^ 
und hält stets die verstärkte manuelle Redression bei der Adaption 
des Gorsets für die weitaus wirksamste. 

Es sei noch beigefUgt, dass auch die Patienten, denen eine An¬ 
staltsbehandlung nicht weiter möglich war und die man mit anderen 
Gorsets nach Hause entliess, in letzter Zeit stets die Anweisung er¬ 
hielten, das Gorset nicht den ganzen Tag zu tragen, und daneben 
selbst die gelernten gymnastischen Hebungen zu machen, eventuell 
auch einige Zeit auf dem Streckbette zu liegen etc. 

Die sonstige Behandlung, die neben der Gorsetbehandlung 
ausgeführt wurde, wird zum Theil geschildert in dem ärztlichen Be- 


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242 


Alfred Hüssy. 


richte über den Zeitraum 1890—94^); über die Neuerungen, die 
seither eingeführt wurden, speciell über die neuen Schulthess'schen 
Skoliosenübungsapparate wird in dem binnen Kurzem erscheinenden 


Fig. 3. 



Bericht über die letzten 4 Jahre referirt werden. Die nähere Be¬ 
trachtung der verschiedenen Gruppen ergibt nun folgende That- 
sachen: 

I. Vor dem Eintritt in das orthopädische Institut 
auswärts mit Corset Behandelte. 

Nur mit der kleinen Zahl von 11 Fällen, 8 weiblichen, 
3 männlichen Geschlechts, fand ich diese Categorie unter den Pa- 

Zeitschr. f. orth. Chir, Bd. 5. 


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Tabelle I. 

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Vor dem Eintritt ins Institut auswärts mit Corset behandelte Fälle. 

(11 Falle.) 


üeber die Wirkungen des orthopädischen Gorsets bei Skoliose. 


243 



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‘) Lumbodorsal. 




244 


Alfred Hüasy. 


tienten des Institutes vertreten. Klein an Zahl, aber nichtsdesto¬ 
weniger interessant ist diese Gruppe, und es verlohnt sich wohl, 
sie etwas eingehender zu betrachten. Die Mehrzahl der Patienten 
dieser Groppe zeigt laut Journal eine schwächliche Constitution. ^ 


Fig. 4. 



Die Tabelle I zeigt, dass die Patienten ganz verschiedenartig con- 
struirte Corsets getragen haben, es dominirt aber das Gipscorset. 
Laut Anamnese fand in verschiedenen Fällen Jahre lang eine con- 
sequente Corsetbehandlung statt, besonders bei zwei der schwersten 
Fällen. In einzelnen Fällen fanden daneben auch noch andere Be¬ 
handlungsmethoden Anwendung. 

Es sind durchweg complicirte Dorsalskoliosen, die eine recht 
bedeutende seitliche Deviation besonders in der Brustwirbelsäule auf¬ 
weisen, bis zu 64 mm. Diese durch starke Deviation charakterisirten 
Fälle zeigen daneben sehr hohe Torsionsgrade, auch hier die stärksten 
in der Brustwirbelsäule; eine Ausnahme hiervon macht einzig Fall 
Nr. 1410, der trotz 19® dorsaler Torsion in Vorbeugehaltung nur 
22 mm dorsale Deviation aufweist. 


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üeber die Wirkungen des orthopädischen Corsets bei Skoliose. 245 


Bei diesen 11 Fällen finden wir in der Rubrik: Charakteristik 
des Rippenbuckels, 9mal Eammform angegeben, und zwar in ver¬ 
schieden hohem Grade, vom beginnenden bis ztnn ausgesprochen 
firstartigen Kamme. 

Einzig Patient Nr. 1840, der erst seit 5 Monaten ein Gips- 
corsei trug und Nr. 1514, der einige Zeit mit Ledercorset behandelt 
wurde, zeichnen sich aus durch weniger ausgeprägten Rippenbuckel: 
^beginnender Kamm“ und „ziemlich fiach“. 

Um einen übersichtlichen Vergleich über das Verhältniss zwischen 
Torsioiisgrad und Form des Rippenbuckels zu ermöglichen, stellte 
ich Tabelle II zusammen. 


Tabelle II. 

Auswärts mit Corset behändste Fälle. 

(11 Fälle.) 


Torsion 

Form des Rippenbuckels 

Stark 

kammförmig 

Runder 

Kamm 

Leicht 

kammförmig 

Ziemlich 

flach 

10-20® 

2 


3 

1 

21-30® 

2 

— 

— 

— 

31-40® 

3 

— 

— 

— 


Deviation (in Millimeter). 


20—30 mm | 

; 31—40 mm 

41—50 mm 

! 51—60 mm 

61—70 mm 

4 1 

1 

4 

1 

1 


Ueberhängen (in Millimeter). 


1—5 mm 

6—10 mm 

11—20 mm 

21—30 mm 

31—40 mm 

2 

1 

6 

1 

1 


Es fällt dabei auf, wie oft schon bei relativ geringer Torsion 
sich mässig bis stark kammförmige Rippenbuckel zeigen. 

II. Auswärts ohne Corset behandelte Fälle. 

Sie repräsentiren eine noch kleinere Gruppe. Sechs an Zahl, 
zeigen sie alle relativ geringe Torsionsgrade (keine über 10^), auch 
die Deviation ist im allgemeinen ziemlich gering; immerhin consta- 
tiren wir noch dorsale Deviationen bis zu 30 mm. Unter der Rubrik: 
iForm des Rippenbuckels" figurirt 5mal die Bezeichnung leicht kamm- 
formig; Imal fiach. 


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246 


Alfred Hüssj. 



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Vor dem-Eintritt ins Institnt auswärts ohne Gorset behandelte Fälle. 


Ueber die Wirkungen des orthopädischen Corsets bei Skoliose. 247 


III. Bisher nicht behandelte Fälle. 

Es ist schon oben ausgeführt worden, wie ich bei der Zu¬ 
sammenstellung dieser Gruppe vorgegangen bin. Wie aus der Tabelle IV 

Fig. 5. 



- blau 

Joarn.'Nr. 24G0. Bisher nicht behandelt. 


hervorgeht, ist trotz des bedeutend grösseren Materials dieser Gruppe 
(52 Fälle) der scharfe kammfÖrmige bis firstartige Rippenbuckel 
verhältnissmässig bei weitem nicht so häufig vertreten wie bei 
Gruppe I. Ein einziger Patient (Nr. 1836), dessen Skoliose sich 
durch eine aussergewöhnlich starke Torsion (über 30®) auszeichnet, 
zeigt diese Form des Rippenbuckels. Dazu ist zu bemerken, dass 
nicht einmal eine vorherige Corsetbehandlung sicher ausgeschlossen 

Zeitschrift für orthopädische ChinirRie. VIIL Bund. 17 


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248 


Alfred Hüssy. 


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üeber die Wirkungen des orthopädischen Corsets bei Skoliose. 249 


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250 


Alfred Hüssy. 


werden kann. Die Anamnese lässt uns da im Stiche, eine direkte 
Anfrage bei dem Patienten blieb unbeantwortet. 

Im übrigen habe ich bei den 52 hier eingereihten Patienten 
6mal einen runden Kamm verzeichnet gefunden, 17mal einen leicht 
kammförmigen Rippenbuckel, trotz der relativ hohen Torsions- und 
Deviationszahlen, die hier verzeichnet sind. Es ist immerhin zu 
bemerken, dass sich, trotzdem wir ja niur schlechtere Fälle in diese 
Gruppe aufnahmen, hier ein viel geringerer Procentsatz von Fällen 
mit hochgradiger Torsion findet als bei Gruppe I. Auch die Deviations¬ 
zahlen zeigen nichts besonders Charakteristisches; eine ganze Reihe 
von Fällen zeigt ziemlich starke seitliche Deviation. Ebenso verhält 
es sich mit dem Ueberhängen. Auch in dieser Hinsicht bemerken 
wir nur einen geringen Unterschied gegenüber anderen Gruppen 
(Tabelle V). 

Tabelle V. 

Bisher nicht behandelte Fälle. 

(52 Fälle.) 


Torsion | 

Form des Rippenbuckels 

Stark 

kämm' 

förmig 

Runder 

Kamm 

Leicht 

kamm- 

förmig 

Ziemlich 

flach 

Flach 


0-10» 



7 

4 

8 


11—20" 

— 

3 

10 

7 

6 

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21-30» 

1 

2 

1 

1 

1 

— 

81—50" 

1 

— 

— 

— 

— 

— 


Deviation (in Millimeter). 


0-10 mm 

1 11-20 mm 

21-30 mm 

31-40 mm 

41-50 mm 

51-60 mm 

61-80 mm 

4 

! 22 

14 

5 

2 

4 

1 


Ueberhängen (in Millimeter). 


1-5 mm 1 

6-10 mm 

11-20 mm 

21-30 mm 

31-40 mm 

41-50 mm 

71-80 mm 

9 

11 

22 

5 

2 

2 

1 


Die grosse Mehrzahl der Patienten dieser Gruppe zeigt ziem¬ 
lich kräftige Constitution, nur bei wenigen figurirte die Classification: 
„schwächlich“ im Gegensatz zu Gruppe I, wo diese fast durchweg 
sich findet. 


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lieber die Wirkungen des orthopädischen Corsets bei Skoliose. 251 


IV. In der Anstalt mit Corset behandelte Fälle. 

Wir konnten hier nur die relativ kleine Zahl von 17 Fällen 
einordnen. Einige, die auch hierher gehören würden, zeigten nach 
Beginn der Corsetbehandlung keine Angaben mehr, so dass uns zur 


Fig. 6. 



a) Status beim Eintritt: 1. Februar 1898. 


Vergleichung mit der ersten Messung eine zweite nicht mehr zur 
Verfügung steht. 

Die Gruppe besteht zum Th eil aus solchen Fällen (15 Fälle), 
welche eine Zeitlang ohne Corset behandelt wurden, bei denen dann 
jm Verlaufe ein Corset eingeschaltet wurde; dazu kommen im zweiten 
Theile wenige Fälle (2 Patienten), wo gleich von Anfang an mit 
Corset behandelt wurde. Ich habe deshalb, soweit es mir möglich 
war, wie Tabelle VI zeigt, die Erfolge der Behandlung angegeben, 
die vor der Einschaltung des Corsets erreicht wurden, um ein mög¬ 
lichst genaues Urtheil über die Corsetwirkung zu ermöglichen. 


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In der Anstalt theilweise mit Gorset behandelte Fälle. 

(17 Fälle.) 


252 


Alfred Hüssy. 


Form des 
Rippenbuckcla 

Deutlich kämm förmig. 
Eher etwas flacher. 
Kamm ausgeprägter. 
Leichter Kamm. 
Ziemlich flacher, 
id. 
id. 

Flach. 

Etwas weniger flach. 
Flacher. 

Ziemlich stark kamm¬ 
förmig. 

Etwas flacher. 

Flacher. 

Leichter Kamm. 

id. 

id. 

Leichter Kamm. 

Etwas flacher. 

Ziemlich kammförmig. 
Flacher. 

Wieder deutl. kammf. 

Torsion bei 
Vorbeuge- 
haltung 

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03 

Brust¬ 

wirbel¬ 

säule 

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Torsion bei 
Aufrechtfltehen 

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Curve 

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II. 

Curve 

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Seitenabweichung 

über- 

hän- 

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13 1. 
30 1. 

0 

1 r. 

3 r. 

8 r. 

8 r. 

12 1. 

5 1. 
18 1. 

26 1. 
38 1. 

10 r. 

5 r. 

4 1. 

2 r. 

2 r. 

30 1. 

11 1. 

0 

cervi- 

cal 

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dorsal 

i 030003 00b0b0b*^0bc-00 C-OOOO^O’^ObCDOO-^^ 

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lum¬ 

bal 

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03 03 03 03 03 Ol 

Art und Beginn 
der Corset- 
behandlung 

i 

Gipscorset 

11. 3. 99. 

Gipscorset. 

16. 11. 98. 

Gipscorset. 

9. 1. 99. 

Gipscorset 

10. 9. 98. 

Orthopädisches 

Corset. 

18. 8. 98. 
Orthopädisches 
Corset. 5. 98. 
Redressirendes 
Gipscorset. 

18. 2. 99. 

Datum 

der 

Messung 

3. 2.99 

15. 3.99 

6. 5.99 
9. 9.98 

25. 11.98 

24. 2.99 

28. 8.99 

16. 8.98 

16.12.98 

29. 3.99 

2. 6.98 

16. 8.98 

25.11.98 
1. 4.98 

12. 8.98 

25. 4.99 

7. 5.98 

8. 7.98 

1. 2.98 

3. 2.99 
24. 4.99 

pan 

g ^ -5!. . ^ -51. . ^ ^ 

03 CO 

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2452 

2375 

2285 

2278 

2234 

2195 

2165 


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2162 I 14'/i. 122.12.97 | Orthopädisches || 7 l 


üeber die Wirkungen des oi-thopädischen Corsets bei Skoliose. 253 






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Anmerkung. Das 1. Datum bezeichnet jeweils den Tag des Beginns der Anstaltsbehandlung (ohne Corset), unter dem 
2. Datum findet man das letzte Resultat vor Einschaltung des Corsets in die Behandlung verzeichnet, unter dem 3. Datum findet 
man das Resultat einer spMteren Controllraessung. 

















254 


Alfred Hüssy. 


Die Tabelle VII zeigt aus dem angegebenen Grunde in den 
Rubriken: »vor Corset“ und »nach Corset“ nicht übereinstimmende 
Zahlen, gestattet aber gleichwohl einen Vergleich zwischen den 
beiden Rubriken. Zur Erklärung der Tabelle sei noch beigefügt. 


Fig. 7. 



- blau 

Joarn.-Nr. 2165. In der Anstalt thellweise mit Corset behandelt, 
b) Letzte Controllzelchnnng vor Beginn der Corsetbehandlnng: S. Febmar 1899. 


dass die Zeichen — und 0 eine Vermehrung, eine Verminderung 
und ein Unverändertbleiben der Abweichung der Wirbelsäule von 
der Norm bedeutet. 

Beim Betrachten der Tabelle VII fällt sofort auf die maximale 
Verschiedenheit der Resultate in einzelnen Rubriken, welche die 
Behandlung ohne und diejenige mit Corset zeitigt. Während wir 
in der Zeit der corsetlosen Behandlung in allen Rubriken, einzig 
die der lumbalen und der cervicalen Deviation ausgenommen, ein 
Plus von guten Erfolgen zu verzeichnen haben, weisen 7 Rubriken 
nach Einschaltung des Corsets in die Behandlung ein Plus von Miss¬ 
erfolgen auf. Besonders auffallend ist die Umkehrung der Resultate 


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Ueber die Wirkungen des orthopädischen Corsets bei Skoliose. 255 


in den Rubriken: Dorsale Deviation, II. Curve im Aufrechtstehen, 
Torsion der Brustwirbelsäule in Vorbeugehaltung und endlich in der 
Rubrik: Form des Rippenbuckels. 

Keine irgendwie charakteristische Thatsache ergeben die 


Fig. 8. 



Jouru.-Nr. 2165. ln der Anstalt theUweise mit Corset behandelt, 
c) Spätere Controllzelchnnng nach Einschaltung des Corsets in die Behandlung: 21. April 1899. 

Rubriken: üeberhängen, Torsion der Lendenwirbelsäule im Auf¬ 
rechtstehen und in Vorbeugehaltung. 

V. Mit Corset Entlassene und später Controllirte, 
bezw. nur ambulant mit Corset Behandelte. 

Die 26 Kranken, welche diese Gruppe bilden, wurden nach 
oder ohne vorausgegangene Behandlung mit einem Corset entlassen. 
Bei der Mehrzahl der ersteren konnte ich das Resultat der vor¬ 
herigen Behandlung ohne Corset anführen, nur wenige Patienten 
mussten ohne weitere Behandlung sofort mit einem Corset entlassen 
werden. Eine ganze Anzahl weiterer solcher Fälle konnte ich leider 
nicht in die Tabelle VIII aufnehmen, weil nach Entlassung mit einem 


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’) Resultat von 15 Fällen vor Einschaltung des Corsets. 

*) Dazu 2 Fälle, die schon zu Beginn der Behandlung Corsete erhielten. 


256 


Alfred Hüssy 



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Im Institut mit Corset behandelte Fälle. 



Ueber die Wirkungen des orthopädischen Corsets bei Skoliose. 257 

Corset die Patienten sich nicht mehr zur Controlle vorstellten und 
deswegen ein Resultat nicht erhältlich ist. 

Dass die Patienten die Weisung erhielten, das Corset nur 
einige Stunden täglich zu tragen, im übrigen aber so gut wie mög- 


Fig. 9. 



Jonrn-oNr. 2192. Mit Corset enUMten und später controlllrt. 
a) SUtuB Yor Beginn der Anstaltsbehandlung ohne Corset: IS. Januar 189S. 


lieh mit den im Institute erlernten gymnastischen Hebungen fort¬ 
zufahren, wurde schon erwähnt. 

Wie Tabelle IX beweist, hat nun gerade diese Corsetbehandlung 
ohne streng controllirte maschinelle Redressionsgymnastik im all¬ 
gemeinen noch viel schlechtere Resultate gehabt, als die, welche wir 
in der vorigen Gruppe constatirt haben. Vor allem fällt sofort der 
aussergewöhnlich ungünstige Einfluss auf den Rippenbuckel ins Auge. 


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Tabelle VIII. 


1 


258 




lieber die Wirkungen des orthopädischen Corsets bei Skoliose. 


259 




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') 1, Datum: Messungsresultat bei Beginn der Anstaltsbehandlung. 2. Datum: letzte Controlle vor Entla.ssung mit Corset. 
L Datum: spätere Controlle. Wo nur 2 Daten angegeben sind, fand keine Anstaltsbehandlung statt. 







260 


Alfred Hüsay. 



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Ueber die Wirkungen des orthopädischen Corsets bei Skoliose. 


261 



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*) 1. Datum: Messungsresultat bei Beginn der Anstaltsbehandlung. 2. Datum: letzte Controlle vor Entlassung mit Corsct. 
Datum: spätere Controlle. Wo nur 2 Daten angegeben sind, fand keine Anstaltsbehandlung statt. 



) Vor Entlassung mit Corset, in der Anstalt ohne Corset behandelt: 16 Falle. 
') Ohne vorherige Anstaltsbehandlung mit Corset entlassen; 10 Fälle. 


262 


Alfred Hüssy. 



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Tiibelle IX. 

Mit Corset entlassene nnd später oontroUirte, bezw. nnr ambulant mit Corset behandelte Fälle. 

(26 Fälle.) 


üeber die Wirkungen des orthopädischen Coi-sets bei Skoliose. 263 


Bei den 26 Fällen haben sich nach der Entlassung mit Corset volle 
22 Rippenbuckel verstärkt, und 2 sind unverändert geblieben, während 
bei der vorherigen corsetlosen Behandlung immerhin eine bedeutende 
Mehrzahl der Fälle gebessert wurde oder wenigstens unverändert 


. Fig. 10. 



Journ.-Nr. 2192. Mit Corset entlassen und später controllirt. 
b) Letzte Zeichnung vor Entlassung mit Corset: 8. Juli 1898. 

blieb. Ein ähnliches Verhältniss weist die Torsion der Brustwirbel¬ 
säule in Vorbeugehaltung auf: Ohne Corset in der Anstalt behandelt: 
13 Besserungen gegen 1 Verschlimmerung; nach Entlassung mit 
Corset: 20 schlechte Resultate gegen 5 gute. Was die vorige Gruppe 
in geringerem Maassstabe zeigt, nämlich eine gewisse ungünstige 
Beeinflussung der Deviation, das zeigt sich hier in bedeutendem 
Grade. Aber nicht nur die Gesammtzahl der Verschlimmerungen 
ist verhältnissmässig viel grösser, als bei Corsetbehandlung in der 

Zeitschrift für orthopädlnche Chirurgie, vni. Band. Jg 


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204 


Alfred Hüssy. 


Anstalt; es zeigen sich vor allem relativ bedeutend ausgepragtere 
quantitative Veränderungen, besonders auch des Rippenbuckels. 

Einzig die Rubriken „Ueberhängen“ und „Torsion der Lenden¬ 
wirbelsäule in Vorbeugebaltung'^ zeigen auch nach Entlassung mit 
dem Corset noch ein kleines Plus von günstiger Beeinflussung. 


Fig. 11. 



Journ.'Nr. 2192. Mit Corset entlassen und später oontrollirt. 
o) Controllzelolinung nach Entlassung mit Corset: 12. Mal 1899. 

lieber die Resultate, die die einzelnen Corsetarten bewirkten, 
berichtet dieselbe Tabelle IX. Sie erlaubt keine charakteristische 
Schlussfolgerung. 

VI. Im Institute ohne Corset behandelte Fälle. 

Ich stellte mir für diese Gruppe 22 Fälle zusammen, die fast 
durchweg complicirte Dorsalskoliosen sind und ziemlich hohe 


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üeber die Wirkungen des orthopädischen Corsets bei Skoliose. 265 


Torsions- und Deviationsgrade zeigen. Es soll diese Gruppe eine 
Ergänzung bieten zu den schon in den beiden letzten Gruppen theil- 
weise angegebenen Elesultaten der corseÜosen Periode der Be¬ 
handlung. 

Keine einzige Rubrik der Tabelle XI, die aus der Tabelle X 


Fig. 12. 



Journ.-Nr. 2365. Im Institut ohne Oorset behandelt, 
a) Statns vor Beginn der Behandlung: 30. August 1898. 


zusammengestellt wurde, bietet ein Plus von negativen Resultaten, 
wie wir sie bei den Gruppen IV und V in der zweiten Periode der 
Behandlung finden. Bemerkenswerth sind auch hier die guten Re¬ 
sultate bei der Torsion und Form des Rippenbuckels. Allerdings 
sind eine grosse Zahl in dieser Hinsicht unverändert geblieben. Nicht 
überall konnte die Behandlung eine Vermehrung der Skoliose ver¬ 
hindern, in vereinzelten Fällen trat im Verlaufe der Jahre trotz allem 
eine raässige Vermehrung der Torsion ein. Diese Fälle bilden aber 


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Im Institut ohne Gorset behandelte Fälle. 















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Ueber die Wirkungen des orthopädischen Corsets bei Skoliose. 


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268 


Alfred Hüssy. 



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Im Institut ohne Corset behandelte Fälle. 




























lieber die Wirkungen de^i orthopädischen Corsets bei Skoliose. 269 

glücklicherweise eine grosse Ausnahme. Das aber ersehen wir aus 
Tabelle X, dass einigermassen schwere complicirte Dorsalskoliosen 
immer noch der Behandlung Schwierigkeiten darbieten und in vielen 
Fällen nur sehr langsame, wenn auch beständige Besserung zeigen. 


Fig. 13. 



. rot 

- tflau 

Joarn.-Nr. 2365. Im Institut ohne Corset behandelt, 
b) Letzte Zeichnung vor dem Austritt aus dem Institut: 2. Februar 1899. 

Auch die Deviation und das Ueberhängen zeigen zum Theil 
recht hübsche Plus von gebesserten Fällen bei dieser Behandlungs¬ 
methode. 


Die Beantwortung folgender für die Behandlung der Skoliose 
mit Corset fundamental wichtiger Fragen, suchen wir aus unseren 
Zusammenstellungen zu erhalten: 

1. Vermehrt oder vermindert das orthopädische Corset die 
Torsion, bezw. den Bippenbuckel? 


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270 


Alfred Hüssy. 


2. Vermehrt oder vermindert das orthopädische Corset die 
seitliche Deviation? 

3. Ist die Behauptung der einen gemässigten Standpunkt in 
der Corsetfrage einnehmenden Orthopäden richtig, dass ein ortho¬ 
pädisches Corset das festhalten kann, was durch die übrige Behand¬ 
lung gewonnen wurde? 

Auf die erste Frage: Vermehrt oder vermindert das 
orthopädische Corset die Torsion bezw. den Rippenbuckel? 
ergibt die vergleichende Zusammenstellung der Ergebnisse der ein¬ 
zelnen Gruppen folgendes: 

üeberall existirt eine Tendenz zur Torsionsvermehrung! Dass 
diese aber bei Corsetträgern in bedeutend stärkerem Maasse sich 
zeigt, als bei überhaupt nicht Behandelten, ergibt die Vergleichung 
der Gruppen I und IIL Dort alle überhaupt in das Institut auf¬ 
genommenen auswärts mit Corset behandelten Fälle, hier nur eine 
Auswahl von ausgesucht schweren Fällen in bedeutend grösserer 
Zahl. Und doch fällt der Vergleich entschieden zu üngunsten der 
Gruppe I aus. Nicht nur sind die Torsionszahlen durchschnittlich 
bedeutend höher als bei Gruppe III; es fällt vor allem auch auf, 
dass die Rippenbuckel der letzteren nicht annähernd in so hoher 
Procentzahl einen auffallend scharf kammförmigen, ja firstartigen 
Charakter zeigen, während wir bei Gruppe I diesen Charakter des 
Rippenbuckels schon bei Fällen mit relativ geringer Torsion wahr¬ 
nehmen. Dass wir bei Gruppe III selbst diesen Typus so wenig 
häufig vertreten finden, scheint uns recht bedeutsam vorerst dafür 
zu sprechen: dass auch trotz Unterbleiben einer Corset- 
behandlung die Skoliose und vor allem der Rippenbuckel 
nicht allzu hohe Grade erreichen muss. 

Wenn wir unsere Schlüsse noch schärfer formuliren, ja ohne 
weiteres behaupten: Lange Corsetbehandlung scheint den 
Rippenbuckel zu vermehren; ihr ist auch in der Haupt¬ 
sache die scharf kammförmige Entwickelung desselben 
zur Last zu legen! so können wir uns kurzweg daneben noch auf 
die Ergebnisse der Gruppen IV und V stützen: Sie demonstriren ohne 
weiteres den schädlichen Einfluss der Behandlung mit Corset ad oculos! 

Der fast totale Umschwung von guten zu schlechten Resultaten, 
speciell bei der Rubrik: dorsale Torsion in Vorbeugehaltung, und 
fast in gleich starkem Maasse der Rubrik: Rippenbuckel, lässt keine 
andere Deutung zu. 


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Ueber die Wirkungen des orthopädischen Corsets bei Skoliose. 271 


Bedeutend weniger beeinflusst wird allerdings die lumbale 
Torsion, ja, wir finden für diese bei der Gruppe IV sogar eher ein 
positives Resultat. Dabei ist aber zu bedenken, dass die dorsale 
Torsion infolge des durch sie bedingten Rippenbuckels eine viel 
grössere Rolle spielt. 

Diesen schlechte Resultate gebenden Gruppen können wir 
nun zudem noch die Gruppen II und VI gegenüberstellen. 

Jene lässt in uns schon die Vermuthung aufkommen, dass 
gerade in dem Fehlen einer Corsetbehandlung die Ursache liegt, 
dass diese Skoliosen weder so hohe Torsionsgrade, noch so stark 
kammformige Rippenbuckel aufweisen, wie die auswärts mit Corset 
behandelten Fälle. Gruppe VI dagegen liefert uns den die Resultate 
der Gruppen IV und V ergänzenden Beweis, dass eine rationelle 
gymnastische und maschinell redressirende Behandlungsmethode allein 
durchschnittlich viel bessere Resultate ergibt, selbst bei schwereren 
Fällen, als eine solche, die mit Corsetbehandlung verbunden ist. 

Es ist ferner zu constatiren, dass zwischen den einzelnen 
Corsetarten kein grosser Unterschied besteht in Bezug auf Beein¬ 
flussung der Torsion. 

Bei der im Institute geübten Behandlungsmethode nimmt die 
Torsion fast durchweg ab, bei Einschaltung des Corsets in diese 
anderweitige mechanische Behandlung dagegen nimmt sie entweder 
nicht mehr im selben Maasse ab, wie sie vorher abgenommen hatte, 
oder vermehrt sich gar. 

Wird die Behandlung mit Corset allein fortgesetzt, so nimmt 
die Torsion fast in allen Fällen zu (Gruppe V). 

Die Antwort auf unsere Frage lautet also: 

Die Corsetbehandlung übt in der grossen Mehrzahl 
der Fälle einen höchst ungünstigen Einfluss aus auf die 
Torsion bezw. den Rippenbuckel! 

Wie verhält es sich nun mit der Beeinflussung der seitlichen 
Deviation durch das Corset? 

Bei den ersten 3 Gruppen finden wir nicht das typische Ver¬ 
halten, das wir für die Torsion constatirt haben; die Differenz 
zwischen ihnen ist bei weitem nicht so auffallend gross. Immerhin 
finden wir auch hier, speciell bei der ersten Gruppe, recht starke 
Deviationsgrade verzeichnet, wie sie von der Mehrzahl der Fälle der 
zweiten Gruppe nicht entfernt erreicht werden. Bei der dritten Gruppe 
dagegen zeigen verschiedene Fälle recht starke seitliche Deviation, 


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272 


Alfred Hüssy. 


procentuarisch immerhin eine bedeutend kleinere Zahl als bei der 
ersten Gruppe, trotzdem in der dritten Gruppe ja nur ausgesucht 
schlechte Fälle verzeichnet sind. . . . 

Bei der Gruppe IV zeigt die Rubrik Deviation schon einen 
ziemlichen Misserfolg durch Einschaltung dieser Behandlungsart. 

Bei der fünften Gruppe zeigt sich diese ungünstige Beeinflussung 
der Deviation durch die Corsetbehandlung in noch gesteigertem 
Maasse; während vorher bei Behandlung ohne Corset relativ gute 
Resultate erzielt worden waren, wie sie auch Gruppe VI bei dieser 
Behandlungsart aufweist. 

Die Antwort auf die zweite Frage wäre demgemäss: 

Auch die seitliche Deviation nimmt im allgemeinen 
nach Einschaltung des Gorsets in die Behandlung zu, 
nachdem sie ohne diese vorher entschieden Besserung 
zeigte. Aber es ist das Ueberwiegen der schlechten Resul¬ 
tate nicht so bedeutend, wie bei der Beeinflussung der 
Torsion durch das Corset. 

Unsere Zusammenstellungen liefern, was das sogen. Ueberbängen 
anbetrifit, keine wichtigen entscheidenden Resultate weder für noch 
.gegen die Corsetbehandlung. Diese scheint sogar eher einen ge¬ 
wissen günstigen Einfluss auf diese Eigenschaft der Skoliosen aus¬ 
zuüben. 

Ohne weiteres lässt sich aus den Antworten auf die ersten 
zwei Fragen diejenige auf die dritte Frage ableiten: 

Ein orthopädisches Corset kann das, was durch 
die übrige Behandlung gewonnen wurde, in der grossen 
Mehrzahl der Fälle nicht festhalten; vielmehr trägt 
es geradezu zur Vermehrung der Skoliose bei. 

Den Beweis für diese Behauptung leistet schon die Gruppe I; 
es sind lauter Skoliosen, die laut den Aussagen der Patienten selbst 
oder deren Eltern, trotz der Corsetbehandlung steisfort zugenommen 
haben. Wie wir schon oben auseinandersetzten, sind in dieser Beziehung 
besonders bemerkenswerth die Fälle 2192 und 606, die längere Zeit zu 
verschiedenen Malen in einer Anstalt mit Hessingcorsets aus bester 
Quelle behandelt wurden und deren Skoliosen trotzdem auffallend 
stark Zunahmen und sich durch firstartigen Rippenbuckel auszeichnen. 
Sie zeigen deutlich genug, wie unberechtigt die Behauptung 
ist, dass ein richtig angepasstes Hessing’sches Corset im 
Stande sei, eine Skoliose, in deren Tendenz zuzunehmen. 


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lieber die Wirkungen des orthopädischen Corsets bei Skoliose. 273 


aufzuhalten. Sie widerlegen andererseits aber auch schlagend den 
eventuellen Einwurf, dass die Corsetconstruction schuld sei an der 
theilweise so ungünstigen Antwort, die speciell Gruppe V auf die 
gestellte Frage ertheilt. Die dort erhaltenen Resultate wären kaum 
geeignet, dem Orthopäden den Eltern eines zu behandelnden Patienten 
gegenüber die Zusage zu ermöglichen, dass bei ambulant behandelten 
Fällen durch ein Stützcorset erreicht würde, „dass keine Verschlech¬ 
terung des Zustandes eintrete“. Und ebensosehr w^ird die Behaup¬ 
tung in Frage gestellt, dass „natürlich“ „erst recht“ ein Corset 
indicirt sei, falls eine Behandlung in einem Institute aus äusseren 
Gründen nicht durchführbar ist. 


Die Ergebnisse unserer Zusammenstellungen zeigen, dass die 
Bedenken, die eine ganze Reihe von Autoren gegen eine Corset- 
behandlung der Skoliose erheben, die aber nur zum kleinen Theile 
auf Messungen beruhen, zum Theil vorwiegend theoretischer Natur 
sind, in der Hauptsache auch durch wissenschaftlich exacte Mes¬ 
sungen ihre Begründung finden. 

Die Antworten, die wir auf die von uns gestellten Fragen er¬ 
halten, lauten gerade ungünstig genug für die Corsetbehandlung, 
um eindringlich davor zu warnen, gedankenlos und kritiklos 
jeder sich vorstellenden Skoliose ein Corset zu verordnen. 

Speciell die ungünstige Beeinflussung der Torsion, die ja die 
schwerste durch die Skoliose herbeigeführte Veränderung bedeutet 
und zu unheilvoller Verlagerung der innem Organe führt, wird den 
gewissenhaften Orthopäden zwingen, nur mit äusserster Reserve sich 
der Wirkungsweise eines orthopädischen Corsets gegenüber zu ver¬ 
halten. 

Die hier mitgetheilten Ergebnisse der Corsetbehandlung scheinen 
mir eindringlich die Forderung zu stellen, dass die Corsetbehand¬ 
lung der Skoliose bedeutend zurückzudrängen ist zuGunsten 
anderer bedeutend günstiger wirkender Behandlungs¬ 
methoden. 

Indicirt halten auch wir selbstredend die Corset¬ 
behandlung, wenn es sich um schmerzhafte Skoliosen 
handelt, bei denen die Neuralgien durch Stützung des Rumpfes 
wenigstens zeitweilig zum Verschwinden gebracht werden können. 


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274 


Alfred Hüssy. 


und indicirt ist sie auch bei ganz schweren Skoliosen, bei denen 
durch Stützung des deformen Thorax die respirationshemmende 
Wirkung der Skoliose vermindert werden kann. Aber auch in 
diesen Fällen erscheint uns eine anderweitige supplementäre redres- 
sirende gymnastische Behandlungsmethode eine conditio sine qua 
non, soll der Patient nicht noch weiteren Schädlichkeiten ausgesetzt 
werden. 

Bei nicht schmerzhaften, doch immerhin ziemlich schweren 
Skoliosen, ist eine Behandlung mit Corset nur dann nicht contra- 
indicirt, wenn die Skoliose durch das Corset in übercorrigirter 
Stellung erhalten werden kann. Da dies aber nur für kurze Zeit 
durchführbar ist, die anfänglich redressirte Stellung im Corset sich 
vielmehr ziemlich bald ändert und somit der Auffrischung bedarf, 
so ist es zweckmässig, in solchen Fällen das Corset nur sozu¬ 
sagen übungsweise während einiger Stunden tagsüber 
tragen zu lassen. 

Auch eine solche eingeschränkte Corsetbehandlung darf nur in 
Verbindung mit einer consequenten orthopädischen Cur unter strenger 
ärztlicher Controlle stattfinden, will man nicht dem Patienten directen 
Schaden zufügen. 

Unsere Zusammenstellungen ergeben im ferneren, dass Corset¬ 
behandlung contraindicirt ist bei poliklinischen Fällen, 
denen eine weitere gymnastische Behandlung nicht zu¬ 
gänglich ist. 

Es ist zwar recht bequem, in der Verlegenheit zu diesem Aus¬ 
hilfsmittel zu greifen; aber wir möchten mit Langebetonen: 
„Ein Corset ohne Hebungen ist ein Kunstfehler!“ 

Eine weitere Contraindication bilden leichte Fälle, diese 
dürfen auf keine Weise durch ein Corset fixirt werden. 

Es ist ja leider eine traurige Thatsache, dass die therapeutische 
Beeinflussung einer irgendwie schwereren Skoliose ein äusserst wunder 
Punkt der orthopädischen Praxis ist, ja dass sie ohne consequente 
Anstaltsbehandlung während einiger Zeit, derzeit geradezu eine illu¬ 
sorische zu nennen ist, nachdem selbst die Corsetbehandlung, wie 
ich glaube bewiesen zu haben, hier vollständig versagt. 

Um so eindringlicher stellt diese Thatsache die Forderung, dass 


Münchener Discussion, referirt im Centralblatt für Chirurgie 1899, Nr. 50. 


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lieber die Wirkungen des orthopädischen Corsets bei Skoliose. 275 


der Prophylaxe der Skoliose von Seiten der Aerzte- als auch der 
Laienwelt eine grössere Aufmerksamkeit geschenkt wird. Es bleibt 
in dieser Hinsicht ja noch unendlich viel zu thun. 


Meinem hochverehrten früheren Chef, Herrn Dr. W. SchuIt¬ 
hess, sage ich für die gütige Ueberlassung des Materials, wie auch 
für die mir bei der Bearbeitung desselben zu Theil gewordene Unter¬ 
stützung meinen herzlichen Dank. 


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XIII. 


Aus Prof. Dr. A. Hoffa’s chinirgisch-orthopädiselier 

Privatklinik. 

Die Coxa vara. 

Eine zusamraenfassende Betrachtung über den heutigen Stand 

dieser Frage. 

Von 

Dr. Max Wagner, 

Specialarzt für Orthopädie in Hamburg, ehemal. Assistenzarzt der Klinik. 

Mit 19 in den Text gedruckten Abbildungen. 

Nachdem so zahlreiche und werthvolle Arbeiten über die Coxa 
vara erschienen sind, in denen die Chirurgen fast aller Culturvölker, 
allen voran aber die deutschen Chirurgen, ihre Anschauungen und 
Erfahrungen niederlegten, und welche davon zeugen, welch grosses 
Interesse diese eigenartige Deformität wachgerufen hat, erscheint es 
wohl möglich, eine Uebersicht über das bisher Erreichte zu geben. 

Naturgemäss beschäftigten sich die anfänglichen Arbeiten mit 
der Coxa vara im allgemeinen, dem Wesen, der Entstehung, der 
Anatomie, der Erkennung und der Behandlung derselben. Zusammen¬ 
fassende Arbeiten hierüber sind ja bereits geschrieben worden. Die 
nicht geringen Veröffentlichungen der letzten Jahre hingegen gingen 
den einzelnen, noch unaufgeklärten Fragen nach, und suchten Klar¬ 
heit in das Bild der einzelnen Formen zu bringen. Indem ich vor¬ 
nehmlich die Erscheinungen dieser letzten Zeit zusammenfassend be¬ 
trachten will, habe ich es mir zur Aufgabe gestellt, in dem ersten 
Theile dieser Arbeit ein klares und umfassendes Bild von dem 


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Die Coxa vara. 


277 


heutigen Stande der Coxa-vara-Frage zu geben, und im Anschluss 
hieran, in einem zweiten Theile, die Erfahrungen der Prof. Hof falschen 
Heilanstalt an der Hand der behandelten Fälle zu veröffentlichen 
und zu verwerthen. 


Erster Theil. 

Von dem Begriff^ dem Wesen, der Entstehung, der Anatomie der 
Erkennung, der Behandlung und der Vorhersage der Coxa vara. 

Auf die Geschichte der Coxa vara hier des näheren einzugehen, 
erscheint mir überflüssig, da die bewusste Erkenntniss derselben 
kaum mehr wie ein Jahrzehnt hinter uns liegt. Selbstverständlich 
kam diese Erkrankung auch vor dieser Zeit in gleicher Häufigkeit 
vor, sie ist auch gelegentlich als seltenes Vorkommniss beschrieben 
worden, doch geschah dies allerdings nicht in voller Würdigung des 
Krankheitsbildes, und zudem geriethen diese Mittheilungen bald in 
Vergessenheit. Es genügt wohl hier, auf die geschichtlichen Ueber- 
blicke in der 3. Auflage des Hof falschen Lehrbuches der ortho¬ 
pädischen Chirurgie und in der Arbeit von de Quervain hinzu¬ 
weisen. 


1. Was verstehen wir heute unter Coxa vara? 

Schon der Name zeigt uns an, dass wir es mit einer fehler¬ 
haften Stellung im Hüftgelenke zu thun haben, die in ihrer Fehler¬ 
haftigkeit der anderer Gelenke entspricht, so dem Genu varum, dem 
Pes varus, dem Cubitus varus u. s. w. 

Von der Varusstellung eines Gelenkes sprechen wir für ge¬ 
wöhnlich dann, wenn das distale Glied sich infolge einer Veränderung 
in der Knochengestalt in einer zur Medianebene des Körpers addu- 
cirten Stellung befindet. Beim Kniegelenk und Ellenbogengelenk 
liegt die Sache insofern einfach, weil eine derartige Stellung des 
distalen Theiles sich ^ in der Strecksteilung des normalen Gelenkes 
durch Muskelkraft nicht herstellen lässt. Der normale Bau des 
Hüftgelenkes hingegen erlaubt eine Abduction und eine Adduction, 
deshalb genügt es nicht, dass das Bein sich in Adductionsstellung 
befindet, um von einer Coxa vara zu sprechen. Aus diesem Grunde 
verlangt Kocher von der Coxa vara den Syraptomencomplex: 


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278 


Max Wagner. 


Streckstellung, Auswärtsrotation und Adduction, indem er beim Pes 
varus eine Analogie sucht in der Trias: Plantarflexion, Supination und 
Adduction. Wie Kocher schon bald nach seinen VeröflFentlichungen 
wenig Anhänger seiner Ansicht fand, so sprechen sich auch zwei 
neuere Arbeiten von Alsberg und Albert, die dieser Frage 
eingehende Erörterungen schenken, dahin aus, dass diese Analogie 
nicht zutreffend sei. Albert bemerkt, man dürfe bei der Discussion 
eines nicht übersehen, jene Trias der Symptome, die Kocher beim 
Pes varus berücksichtigt, um eine analoge Trias bei der Coxa vara 
herzustellen, betreffe den reinen Pes varus gar nicht, sondern den 
equino-varus. Die Varitas des Klumpfusses ist ja soviel wie Supi¬ 
nation mit der die Supination begleitenden Adduction. Eine reine 
Supination gibt es nicht, sondern eine Adduction-Supination, und 
diese, in pathologischer Form vorhanden, bildet eben die Varitas. 

Das Wesentliche bei der Coxa vara sind die veränderten ana¬ 
tomischen Verhältnisse am oberen Ende des Femurs; das Charak¬ 
teristische dieser Erkrankung liegt in der Verbiegung des Schenkel¬ 
halses nach unten und in der dadurch hervorgerufenen Verkleinerung 
des Schenkelhalsneigungswinkels. Entsprechend den Mikulicz’schen 
Messungen beträgt dieser Neigungswinkel im Mittel 125—126^. 
Alsberg hat den Versuch unternommen, den Begriff der Varus- 
stellung des Hüftgelenkes zahlenmässig festzulegen. Er schreibt: 
„Betrachtet man ein in Mittelstellung befindliches Hüftgelenk auf 
dem Frontalschnitt, am besten z. B. einen Gefrierschnitt, wie er etwa 
im anatomischen Atlas von Toldt oder anderen entsprechenden 
Werken wiedergegeben ist, so findet man, dass in dieser Frontal¬ 
ebene das Ende des Knorpelüberzugs vom knöchernen Pfannenrand, 
resp. der Brücke des Lirabus cartilagineus proximal und distal un¬ 
gefähr gleich weit entfernt ist. 

Verbindet man nun diese beiden Knorpelendpunkte 
durch eine Linie, und verlängert man diese Linie bis zum 
Schnittpunkte mit der Oberschenkelachse, so gewinnt man 
einen Winkel, welcher das von uns gewünschte Maass dar¬ 
stellt. Je kleiner der Winkel, desto grösser die Varus- 
stellung (s. Fig. 1 u. 2). 

Stehen die Gelenkflächen des Kopfes und der Pfanne 
in normaler Mittelstellung zu einander, so steht bei einem 
vergrösserten Winkel zwischen der Basis der Gelenkfläche 
und dem Schenkelschaft die Diaphyse des Oberschenkels 


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Die Ooxa vara. 


279 


in Abduction, also Valgussteilung, und bei einem abnorm 
Terkleinerten oder gar negativ gewordenen Winkel in 
Adduction, also Varusstellung. Da eben im Hüftgelenk Ab- 
und Adductionsbewegungen möglich sind, müssen wir die Mittel¬ 
stellung als massgebend ansehen. Den mehrfach näher präcisirten 

Fig. 1. Fig. 2. 


/ 

/ 



Winkel möchte ich der Kürze halber als den „Richtungswinkel“ 
des proximalen Femurendes bezeichnen. 

Wenn wir diese Leitsätze Alsberg’s einer näheren Untersuchung 
unterziehen, so finden wir, dass wir es bei Messungen eines der¬ 
artigen Winkels mit zwei wechselnden Grössen zu thun haben, der 
wechselnden Richtung der Gelenkfläche des Schenkelkopfes und dem 
verschieden grossen Neigungswinkel des Schenkelhalses. Die Unter¬ 
suchung der Wechselwirkung dieser beiden Grössen in Bezug auf 
den Richtungswinkel führt zu folgendem Ergebniss: 

Eine nach aufwärts gerichtete Gelenkfläche bei 
verkleinertem Schenkelhalsneigungswinkel muss also 
bewirken, dass die Varusstellung nicht so stark aus¬ 
fällt, als sie der Gestaltung des Schenkelhalses nach 
zu erwarten wäre, während andererseits eine nach ab- 

ZeiUchxift für orthopädische Chimrgle. VIII. Band. 29 


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280 


Max Wagner. 


I 


wärts gerichtete Geleiikfläche die Varusstellung ver- 
grössern muss. 

B^i der Wichtigkeit dieser Feststellungen erschien eine Nach¬ 
prüfung durch Messungen an anatomischen Präparaten nicht un¬ 
wesentlich; solche wurden von Luss vorgenommen; in seiner 
Inaugural-Dissertation legt er die Ergebnisse von Messungen an 
48 Oberschenkeln des Würzburger anatomischen Institutes und an 
107 Oberschenkeln des Würzburger pathologischen Institutes nieder. 
Er fand darnach als Mittelwerth des Richtungswinkels der erst¬ 
erwähnten 48 Oberschenkel 42® und Grenzwerthe von 30® und 62^. 
Die Ergebnisse der Alsberg’schen Messungen waren ein Mittel¬ 
werth von 41,5®, ein geringster Werth von 25® und ein grösster 
Werth von 54®. Weitaus die Mehrzahl der Winkelgrössen hielt sich 
dicht an den Mittelwerth. 

Als Ursache der Schwankungen in der Grösse des Richtungs¬ 
winkels ist wohl die Verschiedenheit der Neigung, welche die seit¬ 
liche Beckenwand und mit ihr die Pfanne gegen die senkrechte 
Ebene besitzt, anzusehen. Wenn man mehrere Becken daraufhin 
betrachtet, so fällt sofort auf, dass die PfannenöfiFnung das eine Mal 
mehr wagrecht, das andere Mal mehr senkrecht steht. Entsprechend 
den Alsb erg'schen Ausführungen gehört zur ersteren ein grösserer, 
und zur letzteren ein kleinerer Richtungswinkel, wenn die Normal¬ 
stellung dieselbe sein soll. 

Bei der Untersuchung von anatomischen Präparaten können 
wohl alle diejenigen als Urheber einer Coxa vara angesehen werden, 
deren Richtungswinkel beträchtlich kleiner als 25® ist. Dem ent¬ 
sprechend fand Luss unter den 107 Oberschenkeln des Würzburger 
pathologischen Institutes 5 Oberschenkel, welche sich in Varus¬ 
stellung befunden haben mussten; ihre Richtungswinkel betrugen 18^ 
11®, —5®, —8® und —12®. 

Hoffa beschreibt in der 3. Auflage seines Lehrbuches der 
orthopädischen Chirurgie Alsberg’s Richtungswinkel, indem er sagt: 
„Alsberg geht von der Mittelstellung des Hüftgelenkes aus, bei 
welcher eine durch die Basis der überknorpelten Schenkelkopffläche 
gelegte Ebene annähernd parallel der äusseren Pfannenapertur ver¬ 
läuft. Diese Ebene bildet mit der Längsachse des Oberschenkel¬ 
schaftes einen Winkel, welcher in der Norm durchschnittlich 41® 
beträgt und den wir als Richtungswinkel bezeichnen wollen.“ 
Albert macht nun darauf aufmerksam, dass in der Alsberg'schen 


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Die Coxa vara. 


281 


Veröffentlichung und der Wiedergabe im Hoffa'schen Lehrbuch 
verschiedene Auffassungen vorlägen. Hoffa legt eine Ebene durch 
die Eopfbasis und misst den Winkel, den diese Ebene mit der 
Achse des Schenkelschaftes einschliesst. Alsberg dagegen misst 
den Winkel, den die von ihm gezogene und auf die frontale Ebene 
projicirte gerade Linie mit der Achse des Schenkelschaftes bildet. 
Nach Albert sind dies zwei verschiedene Dinge. Da der über- 
knorpelte Schenkelkopf eine unregelmässige Begrenzung aufweist, 
so dass man nicht ohne weiteres einen Kopfäquator durch dieselbe 
legen kann, legt er eine Ebene durch den freien Rand des Limbus 
der Pfanne, welche nahezu eine Halbkugel vorstellt. Erst wenn man 
den überknorpelten Theil des Schenkelkopfes vollkommen gleich- 
massig in die Pfanne hineinpasst, kann man die zuletzt gelegte 
Ebene auch als Aequatorebene des Kopfes ansprechen; dieser Kopf¬ 
äquator entspricht der Hoffa’schen Ebene. Sie liefert uns zu¬ 
gleich noch die Möglichkeit, genau festzustellen, um wieviel das 
überknorpelte Kopfgebiet sich nach vorwärts oder rückwärts gedreht 
hat. Solche Verschiebungen kommen bekanntlich sehr häufig vor. 
Die Hof falsche Ebene kann sich nun um die gerade Linie Als- 
berg*s drehen, also verschiedene Lagen annehmen. 

Man kann aber wohl Albert darin kaum Recht geben, wenn 
er sagt, dass aus diesem Grunde das von Hoffa gemeinte Princip 
mit jenem von Alsberg gewählten nicht übereinstimme, denn bei 
der Bildung des Richtungswinkels kommt eben nur diejenige Linie 
der Hof falschen Ebene in Betracht, um welche sie sich dreht 
(Alsberg). 

Albert denkt sich auf die Aequatorebene irgend eine Senk¬ 
rechte gezogen, so, dass dann der Winkel, den diese Senkrechte mit 
der Schenkelschaftachse bildet, genau gemessen werden kann. Als¬ 
berg weist an der Hand zweier Zeichnungen nach, dass dieser 
Winkel AlberPs stets um 90® grösser ist, als sein Richtungs¬ 
winkel. 

Aus dem Vorangegangenen ist ersichtlich, dass 
die heutigen Bestrebungen dahin gehen, die Coxa vara 
als einen anatomischen Begriff aufzufassen und zu er¬ 
klären. In diesem anatomischen Sinne erklärt, kann 
sie natürlich nur als ein Symptom aufgefasst werden 
und dieses Symptom ist eben die Verbiegung des Schenkel¬ 
halses nach unten. 


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282 


Max Wagner. 


2. Von dem Wesen der Coxa vara. 

Das Bild einer Coxa vara ist zur Zeit ja so bekannt und durch 
zahlreiche Mittheilungen einschlägiger Fälle so eingehend beleuchtet 
worden, dass wir wohl heute ein völlig abgeschlossenes Urtheil 
hierüber haben. Ich kann mich daher in der Schilderung des typi¬ 
schen Erankheitsbildes kurz fassen. 

Schon bei der blossen Betrachtung der Patienten sehen wir, 
dass die Gesäss- und Oberschenkelmusculatur der erkrankten Seite 
schwächer ist als die der gesunden, manchmal ist die Atrophie sogar 
in sehr erheblichem Maasse ausgesprochen. Wir sehen ferner, dass 
die Trochantergegend dieser Seite deutlicher hervorspringt wie auf 
der anderen Seite. Charakteristisch ist eine tiefe Furche, die sich 
zwischen dem hervorragenden Trochanter major und der Gesäss- 
musculatur befindet. Ziehen wir die Roser-Nelaton'sche Linie, 
so finden wir die Spitze des Trochanter major durchschnittlich 
2—3 cm über derselben stehen; oft ist derselbe auch nach hinten 
verschoben. Beim Abtasten der Gelenkgegend finden wir manch¬ 
mal einen knochenharten Vorsprung (Hoffa), der den nach vorn 
luxirten Kopf Vortäuschen kann, thatsächlich aber dem deformirten 
Halse angehört. Eine Schwellung dieser Gegend ist nicht vorhanden. 
Die Bewegungen in dem kranken Hüftgelenke sind, soweit ihnen 
durch die Umbildung des Schenkelhalses oder des Schenkelkopfes 
keine Grenzen gesetzt sind, vollkommen frei und schmerzlos, vor¬ 
ausgesetzt, dass das Leiden nicht in ein acutes Stadium eingetreten 
ist, welches im Verlaufe der Krankheit, meist bald nach dem Beginn 
derselben, gern einzutreten pflegt, wie durch zahlreiche Beobachtungen 
bestätigt ist. 

Das Bein steht in Adductionsstellung; bei geringen Graden 
von Coxa vara kann es auch parallel zur Längsachse des Körpers 
stehen, doch ist stets die Möglichkeit, dasselbe zu abduciren, mehr 
oder weniger verringert, während die Adduction, soweit sie über¬ 
haupt möglich ist, ausgeführt werden kann. In manchen Fällen 
finden wir eine Schrumpfung und Contractur der Adductoren, die 
der Abductionshemmung weiteren Vorschub leistet. 

Neben dieser Adductionsstellung finden wir häufig noch eine 
Auswärtsdrehung des kranken Beines, derart, dass die Fähigkeit, 
das Bein einwärts zu drehen, eingeschränkt ist, und eine Streckung 
des Hüftgelenkes, derart, dass die Beugung in demselben behindert 


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Die Coxa Tara. 


283 


ist. Diese Trias der Symptome ergibt das Bild der typischen Coxa 
vara Kocher's, für welches allein er den Namen Coxa vara gelten 
lassen will. 

Die Streckung des Hüftgelenkes, d. h. also dessen Beuge¬ 
behinderung, gehört jedoch nicht unbedingt zum Bilde einer Coxa 
vara. Wiederholt sind schon bei der Coxa vara leichte Beuge- 
contracturen beobachtet worden, theils verbunden mit einer Beuge¬ 
behinderung, theils ohne dieselbe. Oft ist die Beugung anscheinend 
stark behindert, sie wird aber sofort frei, wenn man das Bein 
stark nach aussen dreht. Hofmeister bezeichnet die Möglichkeit 
der Beugung bei gleichzeitiger Äussendrehung geradezu als eines 
der hervorstechendsten Symptome der Fälle von Coxa vara, welche 
überhaupt noch eine nennenswerthe Beweglichkeit im Hüftgelenk 
besitzen. 

Neben Fällen von Coxa vara mit Beugestellung des Hüftgelenkes 
sind auch Fälle, in denen eine Einwärtsdrehung des Beines vorhanden 
war, bekannt gegeben worden; das Grunderforderniss der Coxa vara, 
die Adductionsstellung war jedoch stets vorhanden, welcher sich 
nur jene anderen Stellungen zugesellten. 

Ist die Coxa vara ausgebildet, so ist ein äusserst kennzeich¬ 
nendes Symptom folgendes: Liegt der Patient auf dem Rücken, und 
fordert man ihn auf, das kranke Bein im Hüft- und im Kniegelenke 
zu beugen, so beobachten wir, dass das kranke Bein das gesunde 
überkreuzt. 

Neben den einseitigen Formen finden wir auch solche, bei 
denen auf beiden Seiten eine Verbiegung des Schenkelhalses im 
Sinne der Varitas besteht, ein Befund, der durchaus nicht zu den 
Seltenheiten gehört; die Verbiegung braucht jedoch nicht gleich 
stark zu sein. In derartigen Fällen besteht eine beträchtliche Lordose 
und ein ganz charakteristischer Gang. Die Patienten werden durch 
die Adduction und die etwa vorhandene Auswärtsdrehung der Beine 
genöthigt, beim Gehen das eine Bein unter Hebung der entsprechenden 
Beckenseite im Bogen um das andere herumzuführen und vor dem¬ 
selben niederzusetzen; dadurch kommt eine Aehnlichkeit mit dem 
Gange bei spastischer Spinalparalyse zu Stande. Auch an den Gang 
bei angeborener Hüftverrenkung kann der Gang bei doppelseitiger 
Coxa vara erinnern, infolge der ähnlichen Musculaturverhältnisse, 
welche durch das Hinaufrücken des Trochanters gegeben werden. 

Aus dem gleichen Grunde beobachten wir auch an den Coxa- 


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284 


Max Wagner. 


vara-Patienten das Trendelenburg’sche Symptom. Eine eingehende 
Besprechung der Musculaturverhältnisse behalte ich mir für den Ab¬ 
schnitt, betrefiPend die Anatomie der Coxa vara, vor. 

Hierdurch ist kurz aber erschöpfend der typische Befund einer 
Coxa vara geschildert. Wie wir aus den vorangegangenen Aus¬ 
führungen ersahen, ist nach Ansicht einiger Autoren (Alsberg, 
Albert) Coxa vara nur als ein Symptom aufzufassen, und muss 
demgemäss eine Theilerscheinung einer oder mehrerer Krankheiten 
sein. Thatsächlich sehen wir sie bei einer ganzen Reihe von Krank¬ 
heiten in Erscheinung treten. 

Nach Alsberg kann eine Coxa vara auftreten: 

A. als angeborenes Leiden 

1. in Verbindung mit angeborenen Deformitäten anderer 
Gelenke, 

2. als Theilerscheinung einer Luxatio coxae congenita. 

B. als postfötal erworbenes Leiden infolge von 

1. Rhachitis, 

2. einer noch nicht sicher zu bestimmenden Erkrankung 
des Wachsthumsalters, 

3. Osteomalacie, 

4. Ostitis fibrosa, 

5. Osteomyelitis, 

6. Tuberculose, 

7. Arthritis deformans, 

8. äusseren Qewalteinwirkungen. 

Klinisch beansprucht am meisten Interesse die Coxa vara ado- 
lescentium. Sie tritt während des Wachsthumsalters in Erscheinung. 
Der Beginn und der weitere Verlauf bieten jedoch grosse Verschieden¬ 
heiten. Meistens beginnt sie allmählich, ohne nennenswerthe Be¬ 
schwerden für den Patienten, und erst die eingetretenen Gebrauchs¬ 
störungen infolge der ausgebildeten Schenkelhalsverbiegung führen 
dieselben zum Arzt. In einigen Fällen dagegen treten schon zeitig 
schmerzhafte Zustände auf, ein acutes Stadium der Erkrankung, das, 
wie wii* später sehen werden, den Verdacht auf eine entzündliche 
Erkrankung des Gelenkes lenken kann. In anderen Fällen stellen 
sich bei anfangs latentem Verlaufe nach einem zufällig die erkrankte 
Hüfte treffenden Trauma heftige Schmerzen ein, so dass die Patienten 
erst von diesem Augenblick ab zum Bewusstsein ihres Leidens 
kommen und jenes Trauma als den Urheber beschuldigen; doch auch 


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Die Coxa vara. 


285 


ohne ein solches Trauma, ganz spontan, kann die bereits bestehende 
Coxa vara adolescentiura in das schon erwähnte acute Stadium ein- 
treten, das man schon vielfach in Parallele zu den Erscheinungen 
des sog. entzündlichen Plattfusses gestellt hat. Die Patienten fangen 
allmählich zu hinken an, zunehmend mit der sich stärker geltend 
machenden Coxa vara. Infolge der zunehmenden Muskelatrophie 
stellt sich auch eine leichte Ermüdbarkeit beim Gehen ein. Im 
acuten Stadium jedoch vermögen die Patienten nur in absoluter 
Bettruhe zu bleiben, da ihnen eine jede, auch die kleinste Bewegung 
heftige Schmerzen verursacht. Bezüglich der Zeit des Entstehens 
der Coxa vara adolescentium sind neuerliche Beobachtungen zu ver¬ 
zeichnen, in welchen der Anfang des Leidens durch die Anamnese schon 
in die frühe Kindheit verlegt wird (Hoffa, Rüdinger, Hofmeister, 
Kümmell, Rosen heim). Objectiv trifft wohl durchweg der oben 
geschilderte Befund zu. Erwähnt sei nur noch, dass die betroffenen 
Individuen, meist junge Männer, sehr schnell gewachsen sind, ge¬ 
wöhnlich groben Knochenbau und eine mangelhafte Ausbildung der 
Musculatur aufweisen, möglicherweise auch Störungen im Gefäss- 
system erlitten haben, da sie ziemlich regelmässig blau verfärbte 
Hände und Füsse zeigen. 

Der Verlauf der übrigen Formen von Coxa vara ist so sehr 
von der sie verursachenden Krankheit beeinflusst, dass eine Schilde¬ 
rung aller vorkommenden Verschiedenheiten den Rahmen dieser 
Arbeit weit überschreiten würde; oft tritt ja auch klinisch die Coxa 
vara als solche gar nicht in den Vordergrund, da die übrigen Krank¬ 
heitserscheinungen das Bild vollkommen beherrschen. Im grossen 
und ganzen aber entspricht auch hier der objective Befund dem 
oben geschilderten typischen. Nur auf einige klinisch bemerkenswerthe 
Thatsachen möchte ich noch hinweisen: 

Dass Coxa vara auf der einen Seite mit einer anders gearteten 
Erkrankung der Hüfte der anderen Seite gleichzeitig vorkommt, 
davon zeugen einige Beobachtungen und Mittheilungen der neuesten 
Zeit. Vordem war die Beobachtung Lauenstein's bekannt, nach 
der bei ein und demselben rhachitischen Skelet der Schenkelhals¬ 
neigungswinkel rechts auf 185® vermindert, links aber auf 155® ver- 
grössert war, es bestand also neben einer rechtsseitigen Coxa vara 
eine linksseitige Coxa valga. In letzter Zeit berichtet Albert von 
zwei von ihm untersuchten Präparaten des Wiener Museums, in denen 
beide Male bei einer linksseitigen Luxatio congenita eine rechtsseitige 


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286 


Max Wagner. 


Coxa vara nachzuweisen war. Von einem ganz analogen Falle be* 
richtet im vorigen Hefte dieser Zeitschrift Alsberg. 

Auch in der Hof falschen Klinik wurde ein Fall von Luxatio 
coxae congenita auf der einen, mit einer Coxa vara der anderen Seite 
combinirt, beobachtet, dessen Röntgenaufnahme ich hier wiedergebe. 


Fig. 3. 



Derartige Fälle werden sich vermutlilich bei erhöhter Auf* 
nierksamkeit auf dieselben als gar nicht so selten herausstellen; denn 
die Schwäche und die geringere Gebrauchsfähigkeit des luxirten 
Beines werden eine grössere Inanspruchnahme des anderen Beinea 
zur Folge haben, die bei Vorhandensein von Rhachitis zu einer Ver¬ 
biegung des Schenkelhalses führen kann. 

Wiederholt sind ferner die sehr interessanten Beobachtungen 
von Fällen gemacht worden, in denen Coxa vara adolescentium zu¬ 
gleich mit anderen Belastungsdeformitäten vorkam; so berichtet 
neuerdings auch Hofmeister von Fällen, in denen neben der 
Schenkelhalsverbiegung ein Genu valgura, oder ein Plattfuss, oder 
aber beide zusammen auftraten. Schliesslich sei noch eines ausser- 
gewöhnlichen Falles gedacht, von dem Whitman berichtet. Es 


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Die Cox*a vara. 


287 


handelte sich um ein rhachitisches Kind mit beiderseitiger Coxa vara 
und einer Skoliose im Gefolge seiner Rhachitis. 3^2 Jahre nach 
seiner ersten Untersuchung stellte sich das Kind wieder vor. In¬ 
zwischen hatten die Beschwerden auf der linken Seite zugenommen, 
das linke Bein, welches vordem schon ®/4 Zoll länger als das rechte 
war, war jetzt bereits 1 Zoll länger. Der Oberschenkel zeigte nach 
vorn und aussen eine Zunahme des Umfanges; die Abductionsmög- 
lichkeit war fast ganz aufgehoben. Bei der Operation, die eine 
keilförmige Osteotomie der Basis des Trochanters beabsichtigte, zeigte 
sich ein cystischer Tumor im Knochen unterhalb des Trochanters, 
welcher die Zunahme der Veränderungen auf der linken Seite er¬ 
klärlich erscheinen Hess. 

Motta macht auf die Beziehungen der Coxa vara zur seitlichen 
Verkrümmung der Wirbelsäule aufmerksam; er fand wiederholt als 
Ursache einer statischen Skoliose Schenkelhalsverbiegungen, oder 
genauer gesagt, die Beckensenkung, welche durch die Coxa vara 
veranlasst wird. Eine gewiss für die Behandlung derartiger Skoliosen 
wichtige Thatsache. 

Zum Schlüsse dieses Abschnittes möchte ich noch einige be- 
merkenswerthe Auslassungen Albert’s wiedergeben. Die Thatsache, 
dass das Grunderfordemiss einer Coxa vara stets die Adductions- 
stellung ist, zu der sich die übrigen Stellungen gesellen, führte ihn 
dazu, die Varitas der Hüfte klinisch zu determiniren. »Wie lässt 
sich die Varitas klinisch determiniren? Selbstverständlich wieder 
nur als Symptom. Da man klinisch selbst bei Röntgen’scher Auf¬ 
nahme des Falles nicht immer jene Klarheit haben wird, die man 
am Präparate vorfindet, da die Aufnahme auch nicht überall durch¬ 
führbar ist, so macht sich das Bedürfniss nach einer klinischen De¬ 
termination auch geltend. Zudem gibt es auch Fälle folgender Art: 
Es gibt Tumoren, die an der lateralen Fläche des Darmbeines 
herauswachsen und die Abduction behindern; ich sah es schon einige¬ 
mal. In solchen Fällen existirt anatomisch gar keine Veränderung 
am oberen Femurende, und doch ist in der Function des Beines 
eine analoge Störung vorhanden, wie bei der Coxa vara im ana¬ 
tomischen Sinne. 

Ich glaube, dass die Auffassung der Störung als einer Ad- 
ductionscontractur auf alle Fälle passt. Will man auch bei 
dieser klinischen Betrachtung ein Maass zur Verfügung haben, so 
lässt sich ein solches ganz gut gewinnen. Man muss dann auf den 


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Max Wagner. 


Excursionskegel zurückgreifen und bestimmen, in welcher Weise er 
eingeschränkt ist.“ — „Erhebungen solcher Art lassen sich mit dem 
Perimeter unschwer ausführen.“ — „Schon aus dem bis nun er¬ 
hobenen casuistischen Materiale geht hervor, dass die Bewegungs¬ 
beschränkung bei den verschiedenen Arten der Coxa vara eine ver¬ 
schiedene ist. Und selbst wenn man nur die Coxa vara adolescentium 
im Auge hat, so kann man, wie es Hofmeister zuerst gethan hat, 
verschiedene Typen unterscheiden. Als das allen Typen gemein¬ 
same Symptom erscheint die Abductionshemmung.“ 

Endlich müssen wir noch jener Krankheitsform gedenken, die 
infolge ihrer ähnlichen Symptome leicht Gelegenheit zu Verwechs¬ 
lungen mit der Coxa vara gibt, es ist dies ein zuerst von Kir- 
misson geschildertes Krankheitsbild: Es werden uns manchmal 
stark rhachitische Kinder zugeführt, welche auf den ersten Blick das 
Bild einer Coxa vara darzubieten scheinen, die nähere Untersuchung 
ergibt einen leichten Hochstand des Trochanter major, eine Be¬ 
schränkung in der Abduction des Beines und eine Stellung desselben 
in Aussendrehung; die betreffende Extremität kann verkürzt werden, 
jedoch nicht in hohem Grade. 

Schon bei genauerem Zusehen und aufmerksamer Untersuchung 
des oberen Femurendes, besonders aber im Röntgenbilde erkennen 
wir (wie ich gleich hier bemerken will), dass es sich nicht um eine 
Verbiegung des Schenkelhalses, sondern um eine Verbiegung der 
Femur-Diaphyse knapp unterhalb des Trochanter handelt. Diese 
„falsche Coxa vara“, wie ich sie nennen möchte, ist stets rhachi- 
tischen Ursprungs und kommt einseitig, in der Mehrzahl der Fälle 
aber doppelseitig vor. 

3. Wie entstellt die Coxa vara? 

Entsprechend der Zahl der Veröffentlichungen, in denen die 
einzelnen Forscher ihre Beobachtungen einschlägiger Fälle bekannt 
gaben, wuchs auch die Erkenntniss der Entstehungsursachen und 
der Entstehungsmöglichkeiten, so dass wir heute bereits eine beträcht¬ 
liche Reihe von Krankheiten als Verursacher der Coxa vara, ent¬ 
sprechend dem Alsberg'schen Schema haben. Wie oben hervorgehoben 
wurde, ist die Coxa vara dabei als ein Symptom aufgefasst worden. 
Betrachten wir uns diese Reihe von Krankheiten, so sehen wir sie 
alle unter dem Gesichtspunkte dieses einen, ihnen allen gemeinsamen 


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Die Coxa vara. 


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Symptomes der Verbiegung des Schenkelhalses zusammengestellt. 
Es ist dadurch die Frage der Coxa Tara nach Albert „in ein 
Stadium der Wendung“ gelangt. Thatsächlich liegt zur Zeit eine 
grosse Zahl Ton Arbeiten vor, welche sich mit den Entstehungs¬ 
ursachen der Coxa vara beschäftigen. 

Wie andere Deformitäten angeboren sind, war es auch zu er¬ 
warten, dass Fälle von angeborener Coxa vara beobachtet werden 
würden. Wir kennen auch heute, wenn auch nur einige wenige, 
sicher nachgewiesene Fälle derselben. Bekannt sind die Beobach¬ 
tungen Kredel's, in denen in nicht zu bezweifelnder Form der 
intrauterine Ursprung der Schenkelhalsverbiegung nachgewiesen wurde; 
die Coxa vara trat hier in Gesellschaft anderer angeborener Ver¬ 
bildungen auf, und zwar war sie jedesmal mit gleichseitigem Genu 
valgum und Pes equino-varus verbunden. Als Ursache ihrer Ent¬ 
stehung ist wohl intrauteriner Raummangel anzusehen. Es ist mög¬ 
lich und sehr wahrscheinlich, dass wir in Zukunft ähnlichen Be¬ 
obachtungen begegnen. In neuester Zeit beschreiben Mouchet und 
Aubion einen Fall von doppelseitiger 'und einen Fall von links¬ 
seitiger angeborener Coxa vara. 

Wie wir aus dem Schema Alsberg's ersehen, rechnet er unter 
die angeborenen Formen von Coxa vara auch jene Fälle, in denen 
es unter dem Einflüsse einer angeborenen Hüftverrenkung zu 
einer Flachlegung des Schenkelhalses kommt. Derartige Fälle sind 
bekannt, werden aber neuerdings, so auch von Lorenz, be¬ 
stritten. 

Demgegenüber bin ich in der Lage, im zweiten Theile dieser 
Arbeit über mehrere Präparate von Fällen dieser Art, die aus der 
reichen Sammlung des Herrn Prof. Dr. Hoffa stammen, zu berichten. 
Ob wir dabei wirklich von einer Coxa vara sprechen dürfen, bleibt 
dahingestellt. Alsberg selbst hegt Bedenken, indem er schreibt: 
„Es ist ja eigentlich falsch, von einer Coxa vara zu sprechen, so 
lange der Schenkelkopf nicht im Contact mit der Pfanne steht, und 
man dürfte aus diesem Grunde in streng logischer Weise überhaupt 
nicht von einer Coxa vara bei angeborener Luxation reden. Es 
möge mir aber dieser Fehler der Logik verziehen werden, da wir 
ja heute häuflg genug in die Lage versetzt werden, nach gelungener 
blutiger oder unblutiger Reposition mit der nunmehr thatsächlich 
bestehenden Coxa vara zu rechnen.“ 

Wie bekannt, richtete sich von vornherein die grösste Auf- 


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Max Wagner. 


merksamkeit der Autoren auf die Entstehung der Coxa vara ado- 
lescentium; doch wissen wir auch heute noch nicht mit Bestimmt¬ 
heit zu sagen: diese oder jene Erkrankung des Enochengewebes 
führt zur Coxa vara adolescentium. Kocher kam nach njikro- 
skopischen Untersuchungen zu dem Schlüsse, dass es sich hierbei um 
eine besondere Form von juvenaler Osteomalacie bandle. Von einer 
grossen Anzahl Autoren dagegen wird eine, sich auf den Schenkel¬ 
hals localisirende Spätrhachitis als Ursache angesprochen. 

Bis jetzt ist aber diese Hypothese von einer muthmasslichen 
Spätrhachitis unbewiesen geblieben. Kirmisson und Charpentier 
meinen, dass es sich in den meisten Fällen um eine Arthritis de- 
formans handle, Whitman hinwiederum glaubt, dass nur eine 
ausserordentliche Steigerung eines ganz normalen Vorganges vor¬ 
liege, da ja stets gegen Ende des Kindesalters eine Verkleinerung 
des Schenkelhalsneigungswinkels statthabe. Hoffa glaubt, dass wir 
es bei der Coxa vara adolescentium überhaupt nicht mit einer ein¬ 
heitlichen Affection zu thun haben, sondern dass eine Anzahl der 
verschiedenartigen Krankheitsprocesse, wie sie eben angeführt wurden, 
bei Einwirkung derselben äusseren Schädlichkeiten eine De- 
formirung des proximalen Femurendes im Sinne der Coxa vara her¬ 
beiführen können. 

Bezüglich dieser äusseren Schädlichkeiten bezeichnet er die 
Körperlast selbst als diejenige, welche unzweifelhaft die Deformi- 
rung hervorrufe. Darnach handelt es sich also um eine statische 
Deformität. 

Schon Kocher wies in seinen Fällen von Coxa vara nach, 
dass eine andauernde Stellung mit gespreizten und stark auswärts 
rotirten Beinen besonders geeignet sei, bei abnorm nachgiebigen 
Knochen eine dreifache Deformität zu erzeugen, nämlich eine Ab¬ 
biegung des Schenkelhalses nach unten, nach hinten und eine Drehung 
um die Längsachse. Die Entstehung dieser Deformität ist so zu 
erklären, dass bei längerem Verweilen in dieser Stellung, die active 
Muskelkraft ausgeschaltet wird und den Bändern und knöcheimen 
Hemmungen die Feststellung des Gelenkes überlassen bleibt, sodass 
das Körpergewicht an den vorderen Partien der Kapsel und dem 
Ligamentum Bertini hängt. Kocher nannte die Coxa vara, da er 
sie hauptsächlich bei landwirthschaftlichen Arbeitern, und unter 
diesen besonders den Käsern, beobachtete, geradezu eine Berufskrank¬ 
heit des Wachsthumsalters. 


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Die Coza vara. 


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»Nun hat sich freilich,“ schreibt Hoffa, „bei der Vermehrung 
des Beobachtungsmaterials herausgestellt, dass die Erkrankung bei 
den verschiedensten Berufsarten verkommen kann, und dass sich 
nicht in allen Fällen eine derartige schädigende Beinstellung nach- 
weisen lässt. Sicher aber ist, dass für eine relativ grosse Zahl 
der Fälle eine fehlerhafte Belastung die schädigende Ver¬ 
anlassung darbietet.“ Ein Analogon hierzu kennen wir im 
Genu valgum der Bäcker und Schriftsetzer, sowie im Plattfuss der 
Kellner. 

Während hier die fehlerhafte Belastung nur für eine verhält- 
nissmässig grosse Zahl der Fälle, im übrigen aber unter Mitwirkung 
verschiedenartiger Krankheitsprocesse als Urheber der Coxa vara 
adolescentium bezeichnet wird, geht neuerdings Sudeck noch einen 
Schritt weiter. 

Aus den bisherigen Veröffentlichungen hat sich ergeben, dass 
die Umbiegung des Schenkelhalses bei der Coxa vara adolescentium 
in einer grossen Anzahl von Fällen, mit einer gewissen Gesetz¬ 
mässigkeit an einer und derselben Stelle stattfand, und zwar der 
Gegend der Epiphysenlinie. Die Biegungsstelle ist, wie aus Sudeck's 
Untersuchungen hervorgeht, durch einen leistenartigen Knochen¬ 
vorsprung gekennzeichnet; es ist dies die von Hofmeister an¬ 
geführte gratartige Erhebung, welche in dessen Röntgenbildern 
die obere Begrenzung des Halses unterbricht, und von der aus der 
Umriss gegen den Kopf hin fortlaufend abfällt oder wenigstens 
nicht mehr ansteigt, während der distal davon gelegene Halstheil 
zum Schaft normale Neigung aufweist. Ferner hielt es Sudeck 
nicht für unwahrscheinlich, dass auch der folgende Satz aus dem 
Hof falschen Lehrbuche auf die hervorspringende Biegungslinie hin- 
weise: „In hochgradigen Fällen (der Coxa vara adolescentium) fühlt 
man in der Gelenkgegend einen knochenharten Vorsprung, der den 
nach vorne luxirten Gelenkkopf Vortäuschen kann, thatsächlich aber 
dem deformirten Halse angehört.“ Sud eck untersucht zunächst die 
bezeichnete Stelle anatomisch und kommt zu dem Schlüsse, dass bei 
Erwachsenen eine Einrichtung bestehe, die durch vermehrte Ab¬ 
lagerung von Knochensubstanz in dem Zugbälkchensystem die Zug¬ 
festigkeit des Schenkelhalses erhöht, in Gestalt einer äusserlich sicht¬ 
baren Knochenleiste, die sich vom oberen Gelenkknorpel des Schenkel¬ 
kopfes über die Mitte des Schenkelhalses erstreckt und in ihrer 
ganzen Ausdehnung den Höhepunkt des Zugbogens bezeichnet. Diese 


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Max Wagner. 


Verstärkungsleiste stellt einen regelmässigen und nur individuell ver¬ 
schiedenen Befund dar. Bei jugendlichen Individuen ist dieselbe 
nicht vorhanden, ihre Bildung fällt in die Pubertätszeit. Bei Kindern 
bleibt nämlich der ursprünglich knorpelig angelegte Schenkelhals in 
seinem vorderen oberen Umfang noch lange knorpelig, d. h. an dieser 
Stelle ist die Epiphysenlinie, die an den übrigen Schenkelhalstheilen 
durch Verknöcherung bereits in 2 Theile, die Epiphysenlinie des 
Trochanter major und die des Kopfes getrennt ist, in ihrem Zu¬ 
sammenhang bestehen geblieben. Während der Pubertätszeit trägt 
der Schenkelhals noch an seiner kopfwärts gelegenen Seite einen 
Knorpelüberzug, der mit dem Knorpel des Qelenkkopfes zusammen¬ 
hängt. Durch Verknöcherung dieses Knorpels entsteht nun die Ver¬ 
stärkungsleiste des Zugbogens, und zwar gleichzeitig mit der Ver¬ 
knöcherung der Epiphysenlinie. Die Verstärkungsleiste ist im Grunde 
als eine epiphysäre Bildung anzusehen. Auf geeignet angelegten 
Frontalschnitten der vorderen Hälfte des coxalen Femurendes erkennt 
man demgemäss nicht nur die Verstärkungsleiste, sondern überhaupt 
fast die ganze Epiphysenlinie als einen Theil und eine wesentliche 
Verstärkung des Zugbogens. 

Das Knochenbälkchensystem des Oberschenkelhalses, das dem 
Oberschenkel die Festigkeit verleiht, der Zugbogen, verläuft nicht 
nur in frontaler Richtung, sondern auch in der schrägen Frontal¬ 
ebene von hinten unten nach oben vorne. Darnach bestehen Ein¬ 
richtungen , die normalerweise den Oberschenkelhals gegen eine 
Verbiegung nach unten und nach hinten schützen. Sudeck weist 
nun nach, dass aus physiologischen Gründen eine hypothetische In- 
sufficienz dieses Zugbogens zu einer Verbiegung nach unten und 
nach hinten führen muss, und dass die Verbiegungsstelle in der 
Nähe des Schenkelkopfes an der durch die spätere Verstärkungsleiste 
bezeichneten Linie liegen muss. 

Da nun bei der Coxa vara adolescentium die Verbiegung in 
diesen beiden Richtungen und zwar an der nachweislich am meisten 
beanspruchten Stelle des Zugbogens eintritt, so kann diese Er¬ 
krankung als der Ausdruck ehtar InsnfScienz des gesammten Zug- 
bogensystems bezeichnet werden. 

Diese ungenügende Leistungsfähigkeit kann durch zweierlei 
Arten von Einflüssen hervorgerufen werden. 1. Es kann sich um 
eine krankhafte Veränderung der Knochensubstanz, die das Zugbogen¬ 
lamellensystem bildet, handeln, so dass dieses schon der normalen 


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Die Coxa vara. 


293 


Beanspruchung erliegt. 2. Kann die Insufficienz durch eine abnorm 
hohe Beanspruchung bei normalem Verhalten des Knochens ver¬ 
ursacht sein. Wie wir bereits oben sahen, haben die bisher ge¬ 
lieferten genauen makro- und mikroskopischen Beschreibungen von 
frischen Coxa vara-Fällen eine pathologisch-anatomische Grundlage, 
die ätiologische Aufklärungen geben könnte, nicht geliefert, sondern 
im Gegentheil festgestellt, dass besonders Rhachitis nicht die Ursache 
sein kann. Das einzige ungünstige Moment, das man der Beschaffen¬ 
heit des Knochens selbst etwa anrechnen könnte, wäre eine mangel¬ 
hafte Ausbildung, sozusagen ein unsolider Bau des Knochens, 
der durch allzu rasches Wachsthum erklärt wäre, und der auf eine 
Stufe mit der schlechten Ausbildung der Musculatur und vielleicht 
auch mit den Störungen im Gefässsystem (blaue Füsse und Hände), 
die die betroffenen Individuen mit gewisser Regelmässigkeit zeigen, 
zu stellen wäre. 

Es ist an sich durchaus erklärlich, dass die Insufficienz des 
Zugbogens, in der das Wesen der Coxa vara besteht, ohne eine 
pathologisch-anatomische Veränderung der Knochensubstanz einfach 
durch eine relative üeberbeanspruchung des Zugbogens zu 
Stande kommen könne, d. h. also z. B. dadurch, dass dem jugend¬ 
lichen Schenkelhals die Functionen des erwachsenen Schenkelhalses 
zugemuthet werden, denen er aus den erörterten physiologischen 
Gründen nicht gewachsen sein kann. 

Sudeck erwähnt wiederholt, dass fast ausschliesslich Jünglinge 
betroffen sind; thatsächlich finden wir aber, wie schon im vorigen 
Abschnitte bemerkt wurde, gar nicht allzu seltene Fälle, in denen 
die Verbiegung des Schenkelhalses schon im zarten Jugendalter be¬ 
gonnen hatte. 

Nach Hofmeister wird in solchen Fällen die Wachsthums¬ 
richtung des Schenkelhalses schon von der Wurzel an verändert, und 
wir können nach Jahren einen Schenkelhals finden, der in toto sogar 
einen spitzen Winkel zum Schaft bildet. Vielleicht dürfte es auch kein 
Zufall sein, dass in den Fällen, wo der Neigungswinkel unter einem 
Rechten gefunden würde, die Anamnese bezüglich des Beginnes der 
Krankheit auf die frühe Kindheit hinweist. Mich deucht, auch diese 
Beobachtungen Hessen sich recht gut im Sinne der Sudeck’schen 
Anschauungen erklären. 

Ob diese Erklärungen Sudeck’s für jeden Fall Gültigkeit be¬ 
sitzen und völlig ausreichend sind, muss zur Zeit dahingestellt 


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Max Wagner. 


bleiben. Das Eine jedoch können wir feststellen, dass wir nunmehr 
auf dem Wege sind, die Entstehungsursache der Coxa vara ado- 
lescentium in der unverhältnissmässigen Ueberbeanspruchung der den 
erhöhten Anforderungen nicht gewachsenen Knochengewebe des 
Schenkelhalses, ohne Heranziehung irgend einer Erkrankung des¬ 
selben, zu suchen, d. h. mit anderen Worten, sie als reine Belastungs¬ 
deformität aufzufassen. 

Dass eine pathologische Erweichung des Enochengewehes des 
Schenkelhalses zu einer Verbiegung desselben führen kann, erscheint 
von vornherein einleuchtend. Betrachten wir uns die Entstehung 
einer derartigen Knochenverkrüramung, so müssen wir 2 Momente 
ins Auge fassen, die dieselbe hervorrufen: 

1. Den Process, durch den der Knochen erweicht wird, 

2. die Kräfte, die den erweichten Knochen biegen. 

Zu 1. Unter die Processe, welche zu einer Erweichung des 
Schenkelhalsknochengewebes führen können, ist bis jetzt, entsprechend 
den bisherigen Beobachtungen, zu zählen: Rhachitis, Osteomalacie, 
Ostitis fibrosa, Osteomyelitis, Tuberculose und Arthritis deformans. 

Es ist erklärlich, dass es zur Zeit, da die Coxa vara anfing, 
das lebhafte Interesse der Chirurgen wachzurufen, nahe lag, bei der 
Verkrümmung des Schenkelhalses eine Analogie in der Verkrümmung 
der übrigen Knochen des Skelets zu suchen und auch hier zunächst die 
Rhachitis als Ursache zu beschuldigen. Es hat sich jedoch heraus¬ 
gestellt, dass die Coxa vara rhachitica durchaus kein so häufiges Leiden 
darstellt, wie von vornherein anzunehmen. Viele Fälle stellen sich 
auch bei näherer Untersuchung als „falsche Coxa vara“ heraus, von 
der ich schon im vorigen Abschnitte sprach. Fig. 4 gibt das 
Röntgenbild eines in der Hoffa'schen Klinik beobachteten Falles 
von doppelseitiger Coxa vara rhachitica wieder. 

Ueber Osteomalacie als Ursache der Coxa vara liegen zur 
Zeit noch verhältnissmässig wenig Berichte vor, dies mag wohl zum 
Theil darin seine Begründung finden, dass bei der Schwere des 
Grundleidens die Schenkelhalsverbiegung weniger ins Gewicht fallt 
und auch darum kein praktisches Interesse bietet. Alsberg be¬ 
richtet in ausführlicher Weise über einen in mehr als einer Hinsicht 
interessanten Fall von Osteomalacie, die auch zur Coxa vara führte. 
Auch Albert beobachtete unter den Präparaten des Wiener patho¬ 
logisch-anatomischen Museums einen Fall von doppelseitiger osteo- 
malacischer Coxa vara. 


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Die Coxa vara. 


295 


Bezüglich der übrigen Krankheiten als Urheber der Coxa vara 
vermag ich aus der neuesten Litteratur nichts wesentlich Neues bei¬ 
zubringen. 

Zu 2. Als diejenigen Kräfte, welche den einmal erweichten 
Knochen zu biegen im Stande sind, kommen in Betracht: Der 
Muskelzug und die Belastung. 

Schon im Krankenbette sehen wir gelegentlich solche, nur 
durch den Zug der Muskeln zu Stande gekommenen Verbiegungen 
durch Osteomyelitis (Scharff), Osteomalacie oder Rhachitis er¬ 
weichter Knochen. Zu diesem Muskelzug tritt später noch die er¬ 
heblich stärker wirkende Belastung durch den Körper. Diese Ver¬ 
hältnisse treffen auch für die Coxa vara zu. 

Ein ganz besonderes Interesse wird seit geraumer Zeit dem 
Trauma, als ätiologischem Momente beim Zustandekommen einer 
Coxa vara gewidmet. Zunächst möge an dieser Stelle besonders hervor¬ 
gehoben werden, dass in weitaus den meisten Fällen von den Patienten 
ein Trauma als Ursache ihrer Erkrankung angeschuldigt wird, ob¬ 
gleich wohl mit ziemlicher Sicherheit anzunehmen ist, dass bereits 
vorher eine Verbiegung des Schenkelhalses bestand, die erst von dem 
Zeitpunkte des Traumas an Schmerzen und Beschwerden verur¬ 
sacht hat. 

Wir wissen heute, dass nach einer Fractur oder Infraction 
des Schenkelhalses oder nach einer traumatischen Epiphysen¬ 
lösung eine Coxa vara entstehen kann. Wir benennen eine derartige 
Form nach dem Vorgehen Sprengel’s mit dem Namen Coxa vara 
traumatica. Bei einer Fractur kann einmal die deforme Anheilung 
des proximalen Theiles, ferner die allzu frühe und zu starke Be¬ 
lastung des Callus, oder Beides zusammen, zur Coxa vara führen. 
Aehnliche Verhältnisse liegen auch beim Zustandekommen derselben 
infolge einer Infraction des Schenkelhalses vor. Auf alle Fälle wird 
durch eine Infraction eine Stelle geringer Widerstandsfähigkeit ge¬ 
schaffen. Namentlich der letzten Form, der traumatischen Epiphysen¬ 
lösung, wurde in letzter Zeit grössere Aufmerksamkeit geschenkt. 

So veröffentlicht Sprengel 2 Fälle, in denen an der Hand 
der Präparate in unzweifelhafter Weise eine traumatische Kopf- 
epiphysenlösung nachgewiesen wurde; beide boten vor der Operation 
das Bild einer typischen Coxa vara mit ihren Symptomen, so dass 
Coxa vara diagnosticirt worden war. Die beiden Präparate zeigten 
jedoch weiter, dass eine nachträgliche deforme Wiederverwachsung 

ZeiUohrlft für orthopädische Chirurgie. VIII. Band. 20 


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Max Wagner. 


in der Kopfepiphyse des Femur stattgefunden habe; zudem entsprachen 
sie in hohem Grade den bisherigen Coxa vara-Präparaten. Aus diesem 
Befunde können wir ersehen, dass das Bild der Coxa vara nicht 
bloss durch Verbiegung im Bereiche der Epiphysenlinie, sondern 
auch durch echte Epiphysenlösung und nachfolgende Wiederver¬ 
wachsung in deformer Stellung zu Stande kommen kann. Es ist 
wahrscheinlich, dass zwischen der traumatischen vollkommenen Epi¬ 
physenlösung und der durch ein Trauma bedingten Verschiebung 
des Schenkelkopfes eine Reihe von üebergangsstufen Vorkommen. 
Je vollkommener die Lösung ist, um so mehr wird sie sich klinisch 
und anatomisch dem Bilde der statischen Coxa vara nähern. Zu¬ 
gleich erhält die zuerst von Kocher aufgestellte und dann ein¬ 
gehender von Sud eck begründete Lehre, dass das Bild der echten 
statischen Coxa vara durch Verbiegung in der Gegend der Kopf¬ 
epiphysenlinie zustande kommt, durch diese Fälle Spreng eTs eine 
weitere Stütze. 

Wie bereits gesagt, gab Sprengel seinen Fällen den Namen 
Coxa vara traumatica. Er begründet dies damit, dass nach seiner 
Vorstellung unter Umständen ein einzelnes Trauma dieselbe Wirkung 
ausüben, also Coxa vara erzeugen könne, wie sie vom Gesichtspunkt 
der Belastungsdeformität durch die Belastung, d. h. durch eine Reihe 
von sich wiederholenden Traumen erfolgt. 

Wir müssen nach den bisherigen Beobachtungen annehmen, 
dass die Epiphysenlinie bis an das Ende des Knochenwachsthums 
ein Gebiet geringen Widerstandes bildet, das allenfalls auch schon 
nach einem geringen oder in ganz besonders günstiger Richtung auf¬ 
tretenden Trauma nachgeben kann. „Vielleicht“, schreibt Sprengel, 
„wird gerade das Ende der Wachsthumsperiode als relativ günstig 
für das Zustandekommen der statischen oder traumatischen Coxa 
vara zu betrachten sein, weil dem noch nicht völlig ausgebildeten 
Skelet nach Form und Dauer ungewöhnliche Belastungen, oder aber 
durch die Wucht des Körpergewichtes verstärkte Traumen zugemuthet 
werden.“ 

Nach SprengeTs Erfahrungen müssen wir annehmen, dass 
die traumatische Kopfepiphysenlösung auch bei jugendlichen Individuen 
durchaus nicht so selten ist, wie bisher angenommen wurde ^). 

Dass Coxa vara auch als Belastungsdeformität nach einem 


*) Ich verweise diesbezüglich noch auf die Tnaug-Diss. von Gerstle. 


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Die Coxa vara. 


297 


Trauma entstehen kann, davon gibt uns ein von Sud eck veröflFent- 
lichter Fall Zeugniss. Er fasst denselben als unvollkommenen, 
intrakapsulären Schenkelhalsbrucli mit nachträglicher Belastungs¬ 
deformität auf. 

Vom ätiologischen Standpunkte höchst bemerkenswerth sind jene 
Fälle, in denen schon vor dem Trauma lange Zeit Beschwerden be¬ 
standen, die auf eine bereits beginnende Coxa vara schliessen lassen, 
welche das Entstehen einer Epiphysenlösung nach einem ganz gering¬ 
fügigen Trauma begünstigt. Hofmeister berichtet von derartigen 
Fällen, in denen schon lange vor dem Trauma, das zur Epiphysen¬ 
lösung führte und sehr geringer Natur war, die Diagnose auf Coxa 
vara gestellt worden war. Von nicht geringem Interesse ist es, die 
oben aufgestellte Lehre von dem Zustandekommen der Coxa vara 
infolge eines Locus minoris resistentiae in der Gegend der Epiphysen- 
linie mit der Thatsache in Verbindung zu bringen, dass gerade 
in den Fällen von Coxa vara eine Epiphysenlösung be¬ 
sonders leicht zu Stande kommt. Das Eine erklärt das 
Andere. 

Wie wir wissen, findet sich an Präparaten von Genu valgum 
und varum eine Aenderung in der Grösse des Neigungswinkels, die 
sich aus functionellen Gründen erklären lässt. Joachimsthal sah 
an einer Anzahl von Fracturpräparaten, bei denen das untere Frag¬ 
ment schief und sehr deform im Sinne einer Adduction an das obere 
angeheilt war, fern von der Bruchstelle eine wesentliche Verkleinerung 
des Schenkelhalsneigungswinkels. Auch Albert kennt solche Prä¬ 
parate. Auch in diesen Fällen bildet sich lediglich aus functionellen 
Gründen diese Deformität. 

Zum Schlüsse dieses Abschnittes möchte ich als Ergebuiss der 
bisherigen Veröffentlichungen zusammenfassend feststellen: 

1. Abgesehen von den wenigen, bisher beobachteten und sicher 
festgestellten Fällen von angeborener Schenkelhalsverbiegung 
ist die Coxa vara stets als eine Belastungsdeformität auf¬ 
zufassen ; 

2. der Schenkelhals büsst seine normale Widerstandsfähigkeit 
durch 

a) eine Reihe von Krankheitsprocessen, die zu einer Er¬ 
weichung seines Knochengewebes führen (als solche wurden 
bisher Rhachitis, Osteomyelitis, Osteomalacie, Tuberculose, 
Athritis deformans und Ostitis fibrosa beobachtet), 


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Max Wagner. 


b) eigenthümliche Wachsthumsverhältnisse und ein Miss- 
verhältniss zwischen Ausbildungsstadium und Bean¬ 
spruchung des jugendlichen Schenkelhalses, 

c) ein Trauma (Fractur oder Infraction des Schenkelhalses 
und Kopfepiphysenlösung), 

d) ein (wenn auch nicht gleichzeitiges) Zusammenwirken 
der Ursachen unter b) und c) 

ein. 

3. Vorzüglich die Epiphysenlinie stellt ein Gebiet geringerer 
Widerstandsfähigkeit dar (Coxa vara adolescentium und 
traumatische Epiphysenlösung); 

4. die Zeit bis zum Ende des Knochenwachsthums ist als ver- 
hältnissmässig günstig für das Zustandekommen der stati¬ 
schen oder traumatischen Coxa vara anzusehen. 

Bei der Betrachtung dieser Aufstellung lässt sich die oben 
wiedergegebene Behauptung, dass die Coxa vara nur als Symptom 
aufzufassen sei, nicht mehr gut aufrecht erhalten, höchstens triflPt 
dies noch für die unter 2. a) zusammengestellten Fälle zu. Ich sehe 
in der Coxa vara ein Krankheitsbild für sich. 

4. Die Anatomie der Coxa vara. 

Die Untersuchung einer Anzahl sehr lehrreicher Präparate, die 
durch Resection der einzelnen Fälle gewonnen worden sind, ergibt 
zunächst eine mehr oder weniger erhebliche Verkleinerung des 
Schenkelhalsneigungswinkels, dessen durchschnittliche normale 
Grösse etwa nach Mikulicz 125—126^ nach Lauenstein 126—129® 
beträgt. Der Sitz der Richtungsänderung ist ein verschiedener: wir 
beobachten entweder eine Verbiegung des Schenkelhalses in toto, 
d. h. eine reine, wirkliche Verkleinerung des Neigungswinkels, oder 
eine Verbiegung im Laufe desselben; oder es ist der eigentliche 
Neigungswinkel nicht verkleinert, sondern der wirkliche Sitz der 
Deformität ist in der Epiphysenlinie des Kopfes gelegen. 

Abgesehen von diesem verschiedenen Sitz der Verbiegung 
sehen wir noch eine grosse Mannigfaltigkeit in der Form; dieselbe 
kann eine reine Adductionsverbiegung sein, sie kann sich aber auch 
mit einer einfachen Rückwärtsbiegung, einer einfachen Vorwärts¬ 
biegung, oder Rückwärtsbiegung mit einer Torsion des Schenkel¬ 
halses um seine Längsachse verbinden; das letzte Bild entspricht 


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Die Coxa vara. 


299 


der Coxa vara im Ko che raschen Sinne. Die Verbiegung kann 
manchmal eine bedeutende sein, wobei sich die Form des Gelenk¬ 
kopfes und sein Verhältniss zu dem gleichfalls umgestalteten 
Schenkelhals verändert. So beträgt z. B. in dem bekannten Prä¬ 
parate Hoffa's der Neigungswinkel des Schenkelhalses nicht mehr 
wie 60®; der Schenkelkopf, welcher normalerweise ^/g einer Kugel 
ausmacht, ist atrophisch und bildet kaum die Hälfte eines solchen, 
und dabei steht er mit seiner unteren Hälfte gar nicht mehr in Ver¬ 
bindung mit dem Schenkelhälse, sondern liegt vielmehr mit derselben 
dem Trochanter rainor auf. Auch Hofmeister berichtet von einem 
Fall, in dem das Röntgenbild eine hochgradige Atrophie beider 
Schenkelköpfe und der Schenkelhälse zeigt. Sie sind im Verhältniss 
zum Schaft und Trochanter viel zu klein und zu kui*z. Im Hof fa¬ 
schen wie in diesem Hofmeister sehen Falle reicht der Beginn des 
Leidens in die Kinderjahre zurück. Dies frühe Auftreten und der 
lange Bestand der Krankheit in diesen Fällen ist für die Entwicke¬ 
lung des Kopfes gewiss nicht belanglos. Diese atrophischen Vor¬ 
gänge sind wohl secundärer Natur, da sie an Stellen gefunden werden, 
welche von Druck entlastet sind, und wo dementsprechend auch der 
Knorpel dünn ist oder ganz fehlt. Hofmeister glaubt ähnliche 
Befunde auch auf den Röntgenbildern der im Jünglingsalter ent¬ 
standenen Schenkelhalsverbiegungen gefunden zu haben. 

Ein weiterer Befund ist häufig die Verdrehung des Gelenk¬ 
kopfes, sie kann so hochgradig sein, dass bei einer normalen 
Mittelstellung der Gelenkflächen von Pfanne und Kopf eine aus ana¬ 
tomischen Rücksichten undenkbare Adductionsstellung des Ober¬ 
schenkels zu Stande kommen würde. Der Kopf verlässt infolge 
dessen mit einem mehr oder weniger grossen Theil seiner über- 
knorpelten Fläche die Pfanne, es tritt eine compensirende Sub¬ 
luxation ein (Alsberg). Andererseits findet bisweilen als Ersatz 
für die verloren gegangene Articulationsfläche eine Fortsetzung des 
Knorpelüberzuges auf die proximalen Theile des Schenkelhalses statt. 
Ein weiteres bemerkenswerthes Verhalten findet sich in dem pilz¬ 
hutförmigen Ueb er wuchern des Schenkelkopfes über den 
Hals, ein Zustand, der auch auf den Röntgenbildern sehr häufig 
deutlich hervortritt, und aus dem der Rückschluss zu ziehen ist, dass 
die Knorpelfuge zwischen Hals und Kopf der eigentliche Sitz der 
Erkrankung sei. Während nun die Form des Schenkelhalses im 
einzelnen von Fall zu Fall beträchtlich variirt, hat sich als gemein- 


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Max Wagner. 


sames Charakteristicum die Einrollung und Verkürzung des 
unteren Schenkelhalsrandes ergeben, die dazu führen kann, 
dass Kopf und Trochanter minor sich direct berühren (Hoffa). Daraus 
ergibt sich eine hochgradige Verkürzung der unteren und 
hinteren Halspartien. Der obere Schenkelhalsrand ist 
manchmal verlängert. In keinem einzigen Falle finden 
wir eine Verlängerung des ausserhalb der Pfanne gelegenen 
Halsabschnittes im Vergleich zur gesunden Seite (Hofmeister). 

Der Knorpelüberzug des Gelenkkopfes ist meist intact, 
bisweilen aber auch an wenigen Stellen usurirt. Finden sich eburnirte 
Stellen und SchlifFflächen, so dürfte der Fall mit Sicherheit der 
Arthritis deformans zuzurechnen sein. Die Knochensubstanz wird von 
einzelnen Beobachtern als leichter eindrückbar, von anderen als ab¬ 
norm hart bezeichnet. 

Die Structurverhältnisse am oberen Femurende erleiden 
nach dem J. Wolffsehen Transformationsgesetze entsprechende Ver¬ 
änderungen. 

Von Hofmeister wird noch eines pathologischen Befundes 
gedacht, der Asymmetrie des Beckens, im Sinne einer vermin¬ 
derten Querspannung der kranken Seite, die sich nach länger be¬ 
stehender einseitiger Coxa vara zu entwickeln pflegt; auch eine ver- 
hältnissraässige Verkleinerung des ganzen unteren Becken- 
theiles samrat dem Foramen obturatorium konnte er feststellen. 

V^on den anatomischen Beobachtungen Sudeck's berichtete ich 
schon im vorigen Abschnitte, ebenso von den Sprengel'schen Coxa 
vara-Präparaten nach traumatischer Epiphysenlösung. Nur sei hier 
noch zu dem Sudeck'schen Befunde bemerkt, dass auch Hofmeister 
das Hinabrutschen der Epiphyse, das sich in dem pilzhutförmigen 
Ueberstehen des unteren Kopfrandes kennzeichnet, aus einer über¬ 
mässigen Nachgiebigkeit der Epiphysenlinie erklärt. 

Interessant erscheint es mir, auch der Frage nachzugehen: In¬ 
wiefern wird durch die Verringerung des Neigungswinkels die Be¬ 
weglichkeit des betreffenden Hüftgelenkes beeinflusst? 

Wie bei der klinischen Betrachtung der Coxa vara erwähnt 
wurde, ist als das allen Formen gemeinsame Symptom die Abduc- 
tionshemmung anzusehen. Eine derartige Hemmung kann nun so¬ 
wohl durch die Bänder, wie durch die Muskeln bedingt sein. 
Eingehende Untersuchungen hierüber verdanken wir Albert. Be¬ 
züglich der Einwirkung des verminderten Neigungswinkels auf das 


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Die Coxa vara. 


301 


hier in Frage kommende Y-förmige Band liegen die Verhältnisse 
derartig, dass bereits im normalen Zustande, in der Ausgangslage 
betrachtet, weder eine Abduction noch eine Adduction dasselbe stärker 
anspannen kann; tritt nun der Trochanter major in die Höhe, so 
werden die Verhältnisse für die Entspannung sich noch günstiger 
gestalten; besonders dann, wenn dazu noch eine Verkürzung des 
Schenkelhalses tritt. 

Unter den Muskeln, welche durch das Höherrücken des 
Trochanter major eine Veränderung in ihrer Thätigkeit erleiden 
könnten, kommen hier vorzüglich zwei Muskelgruppen in Betracht: die 
Adductoren und die vom Trochanter zum Becken ziehenden Muskeln. 
Betrachten wir zunächst die Gruppe der Adductoren, so müssen wir 
zunächst bei der Beurtheilung der Frage, inwieweit bei der der 
Coxa vara eigenen Abductionshemmung die Adductoren betheiligt 
sind, vorerst das Moment Muskelschrumpfung, die einer be¬ 
stimmten jahrelangen Stellung zu folgen pflegt, ausschliessen; that- 
sächlich beobachten wir ja auch im Gefolge der Coxa vara eine 
Adductorenverkürzung, doch müssen wir stets im Auge behalten, 
dass sie nur secundärer Natur ist. Hier kommt es darauf an, zu 
entscheiden, ob schon durch den geringeren Neigungswinkel als solchen 
eine Hemmung der adducirenden Muskeln eintritt. Die Verhältnisse 
gestalten sich in diesem Falle so, dass mit dem Höhertreten des 
Trochanter major auch die Muskelansätze der Adductoren höher rücken, 
die letzteren also schlaffer werden müssen; auf diese Erschlaffung 
wirkt dann noch vermehrend die mehr convergirende Stellung des 
Halses. 

Bei den pelvitrochanteren Muskeln liegen die Verhältnisse 
derart, dass infolge des Höhertretens des Trochanter major sich Ur¬ 
sprung und Ansatz dieser Muskeln in ihrer Lage zu einander ver¬ 
ändern, ein Vorgang, der durch ein etwaiges Rückwärtstreten des 
Trochanters und vermehrte Beckenneigung bei lordotischer Einstellung 
der Wirbelsäule verstärkt wird. An der Hand von anschaulichen 
Zeichnungen wies Alsberg nach, dass in fast allen Stellungen die 
abducirende Componente der Muskelkraft sich verringert. In diesen 
Vorgängen findet auch das Trendelenburg'sche Symptom, welches 
wir so häufig bei Patienten mit ausgesprochener Coxa vara be¬ 
obachten, seine Erklärung. 

Wir ersehen nun aus diesen Ausführungen, dass die Abductions¬ 
hemmung nicht in der durch die veränderte Stellung des Halses 


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302 


Max Wagner. 


bedingten Beeinflussung der Bänder und Muskeln begründet ist. Die 
Bewegungsbeschränkung muss vielmehr aus der Verschiebung des 
Articulationsgebietes erklärt werden (Hofmeister). Während aber 
dieser Autor nach dem damaligen Stande der Kenntniss der Coxa 
vara nur die Knickung des Halses als Ursache für dieselbe ansprach^ 
können wir heute nach Albert folgende Ursachen für die Ver¬ 
schiebung des Excursionsgebietes anführen: 

1. Die Stellung der Gelenkpfanne. Entsprechend der 
mehr frontalen oder sagittalen Stellung derselben beobachten 
wir auch eine vermehrte Einwärts- oder Auswärtsdrehung 
des Beines; und stellt sich die Pfanne mehr senkrecht oder 
wagerecht, so werden wir dementsprechend auch eine starke 
Abduction oder Adduction finden. Stärkere Beckenverände¬ 
rungen dieser Art finden sich bekanntlich im Gefolge von 
Osteomalacie und Rhachitis, Krankheiten, bei denen wir ja 
wiederholt Coxa vara beobachtet haben; demnach ist die 
Stellung der Pfanne stets im Auge zu behalten. 

2. Die Verbiegung oder Knickung des Schenkel¬ 
halses. 

3. Die Verstellung oder Gleitung der Kopfkappe. 
Hier besteht die Hauptveränderung in einer Veränderung 
der Lage der Articulationsfläche zum Halse. 

Von Albert’s Maass für den Grad der Coxa vara und dessen 
Verhältniss zum Alsberg’schen Richtungswinkel war bereits im 
1. Abschnitte die Rede. 

Zu all diesen Ursachen für die Verschiebung des Excursions¬ 
gebietes können in besonders hochgradigen Fällen von Coxa vara 
noch verschiedene Formen von Knochenhemmungen treten, 
indem z. B. der Schenkelhals an den oberen Pfannenrand anstösst 
u. dgl. ra. 

5. üeber die heutigen Hilfsmittel zur Erkennung der Coxa vara und 
ihrer verschiedenen Formen. 

Nachdem durch die zahlreichen Veröffentlichungen das Bild 
einer Coxa vara so eingehend erforscht worden ist, dürfte die Er¬ 
kennung derselben namentlich unter Zuhilfenahme unserer modernen 
Hilfsmittel wesentlich leichter sein als vor einer Reihe von Jahren. 
Eine wichtige Rolle spielt zunächst die Anamnese, die vor allen 


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Die Coza vara. 


303 


Dingen nach früheren Erkrankungen, wie Rhachitis, Qelenkleiden 
und besonders etwaigen Traumen, zu forschen hat; auch die Zeit des 
Beginnes der Krankheit und der ersten Schmerzen ist von hervor¬ 
ragender Bedeutung. Eine derartige sorgfältige Anamnese im Verein 
mit dem genau erhobenen örtlichen Befunde sichern uns in hohem 
Grade die Diagnose. 

Zur Bestimmung des Standes des Trochanter major wird im 
allgemeinen die Ros er-N Platonische Linie angewandt; vonOgston 
wird an ihrer Stelle ein anderes Messverfahren, das sogenannte 
Bryant'sche Dreieck, empfohlen. Dasselbe erhält man, wenn man 
den Patienten auf eine horizontale harte Unterlage legt; nun wird 
von der Spina ant. sup. ein Loth auf die Unterlage gefällt und von 
der Trochanterspitze eine Senkrechte auf die so erhaltene erste Linie 
gezogen; verbindet man die Spina ant. sup. mit der Trochanterspitze, 
so soll man bei normalen Verhältnissen ein gleichschenkliges, recht¬ 
winkliges Dreieck erhalten. Aus den verschiedenen Längen der 
Schenkel dieses Dreiecks sollen die verschiedenen Lagen des Tro¬ 
chanters erkannt werden, und zwar so, dass, wenn die Senkrechte 
von der Spina verlängert oder verkürzt ist, eine Auswärts- oder 
Einwärtsdrehung des betreffenden Beines vorliegt, oder wenn die 
Trochanterlinie verkleinert ist, der Trochanter selbst höher steht. 
Joachimstbal schreibt, dass es sich ihm selbst sowohl bei Kranken 
mit Schenkelhalsverbiegungen, wie auch bei der Untersuchung von 
Patienten mit anderweitigen Erkrankungen der Hüfte, namentlich 
mit angeborenen Hüftverrenkungen, vielfach nützlicher erwiesen habe, 
als die Bestimmung der Ros er-NPlaton’schen Linie. Ich bin aber 
der Meinung, dass die Bestimmung der letzteren nach wie vor voll¬ 
kommen ausreichend und zweckdienlich ist und dabei noch den Vor¬ 
zug hat, erstens einfacher bezüglich ihrer Herstellung zu sein 
und zweitens nicht so viel Fehler auf kommen zu lassen, wie das 
Bryanfsche Dreieck. Hofmeister zeigt an der Hand von drei 
schematischen Zeichnungen in sehr klarer Weise, wie in dieser Form 
angewandt die Bryant'sche Methode zu den schwersten Irrthümern 
führen kann. Ganz abgesehen von jeder Veränderung im Stande 
der Trochanterspitze kann schon die kleinste Veränderung der 
Neigung des Beckens zum Ausgleiche abnormer Beuge- oder 
Streckstellungen der Hüfte das gleichschenklige Dreieck umgestalten; 
derartige Verschiedenheiten in der Beckenneigung sind ja bekanntlich 
nichts Seltenes. Gleichschenklig kann das Dreieck bei normalem 


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Max Wagner. 


Hochstand des Trochanters nur dann sein, wenn die Linie von der 
Spina zum Trochanter mit der Wagerechten einen Winkel von genau 
45® bildet. Will man das Dreieck überhaupt an wenden, so muss 
man darnach einen Vergleich zwischen der Länge der Linien auf 
beiden Seiten ziehen, ohne Rücksicht darauf, ob die gefundenen 
Dreiecke gleichschenklig sind oder nicht. Sind nun aber doppel¬ 
seitige Erkrankungen der Hüfte vorliegend, so ist das Verfahren 
eo ipso unbrauchbar. Kommt zu alledem noch eine der so häufigen 
Rotationsanomalien, die bisher noch nicht in Betracht gezogen 
wurden und zu beträchtlichen Fehlschlüssen führen können, so dürfte 
die völlige Unbrauchbarkeit der Bryant*schen Messung dar- 
gethan sein. 

Unter allen diagnostischen Hilfsmitteln aber gebührt der Vor¬ 
rang dem Röntgenbilde, welches, eine richtige Deutung voraus¬ 
gesetzt, die vorher gestellte Diagnose bestätigen und sichern soll, 
oder dieselbe berichtigen wird. Zum Zwecke der Aufnahme wird 
der Patient, entsprechend den Hofmeister'schen Vorschriften, stets 
in Bauchlage auf der Platte festgelegt; diese Lage wird entweder 
durch Sandsäcke oder durch zwei Riemen befestigt. Die Beine müssen 
möglichst symmetrisch und, wenn möglich, gerade aufgelegt werden, 
da die bestehenden Rotationsstellungen Projectionsfehler hervorrufen 
können. Die Entfernung der Platte von der Röhre soll 60 cm be¬ 
tragen, um Verzeichnungen zu vermeiden. Der Platinspiegel muss 
für sich genau horizontal und ebenso genau senkrecht über dem 
Kreuzungspunkt der Körperachse mit der Verbindungslinie der beiden 
Trochanter stehen. Nach Hofmeister ist diese Aufnahme in Bauch¬ 
lage für das Studium des Schenkelhalses und seiner Veränderungen 
unbedingt geboten, weil bei der Aufnahme in Rückenlage infolge 
der Stellung der Schenkelhälse dieselben gewöhnlich in starker Ver¬ 
kürzung projicirt werden, so dass Theile des Kopfes und des Halses 
im Bild sich überlagern. 

Wie wichtig eine richtige Einstellung der Lampe ist, haben 
die Hofmeister'schen Versuche erwiesen, welche er anstellt, um 
zu erforschen, in welcher Weise eine Stellungsänderung derselben 
die Projectionsfigur der oberen Femurpartien beeinflusst; dadurch 
kann man gegebenen Falles noch aus dem Röntgenbilde selbst 
beurtheilen, welche Stellung das Bein zur Zeit der Aufnahme inne¬ 
gehabt hat und inwieweit das Bild der wahren anatomischen Form 
entspricht. Mit Berechtigung kann man darnach sagen, dass bei 


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Die Coxa vara. 


305 


ganz genauer Einstellung der Lampe nach obigen Vorschriften die 
Röntgenphotographie recht zuverlässige Auskunft über die Form 
des oberen Femurendes zu geben vermag. 

Es erübrigen noch einige Bemerkungen über die unter¬ 
scheidende Diagnose. Die Erkennung der einzelnen Formen der 
Coxa vara wird durch die Vorgeschichte, Berücksichtigung des all¬ 
gemeinen Körperzustandes und unter Umständen auch durch das 
Röntgenbild gesichert. 

Die Coxa vara rhachitica lässt sich als solche leicht aus dem 
Befunde weiterer Zeichen von Rhachitis des betreffenden Kindes er¬ 
kennen, und vor Verwechselung mit der falschen Coxa vara 
rhachitica wird uns das Röntgenbild schützen, auf dem wir dann 
sehen, wie die Verbiegung nicht im Schenkelhälse, sondern im 
Schafte dicht unterhalb des Trochanters stattgefunden hat. Unschwer 
wird sich auch in den übrigen Fällen, in denen Coxa vara als Symptom 
(vergl. die Fälle unter 2 a im 3. Abschnitt) auftritt, die entsprechende 
Diagnose stellen lassen. Schwieriger gestaltet sich die Diagnose 
zwischen einer reinen Arthritis deformans und einer Coxa vara; 
die Unterscheidungsmerkmale bedürfen einer näheren Besprechung, 
da die Vorgeschichte und der Befund viele Aehnlichkeiten miteinander 
zeigen, die zu Verwechselungen führen können, so der Beginn im 
jugendlichen Alter, theils spontan, theils unter der Mitwirkung eines 
Trauma, so die öfters vorhandene auffallend grosse Statur und der grobe 
Knochenbau. Beide Erkrankungen beginnen derart schmerzhaft, dass die 
Thätigkeit des Gelenkes fast aufgehoben erscheint. Ebenso vermag die 
fehlerhafte Stellung zu täuschen. Bei beiden beobachten wir Ad- 
ductionsstellung mit Aussenrotation des Beines, Verkürzung desselben, 
Hochstand und Vorspringen des Trochanters, ausgesprochene Atrophie 
der Hüft- und Schenkelmusculatur. Maydl macht auf die Aus¬ 
nützung des folgenden Maasses aufmerksam: vergleicht man die beiden 
Hälften des Hüftenumfanges, so wird während der ersten Entwicke¬ 
lung einer Coxa vara, der Umwandlung des stumpfen Neigungs¬ 
winkels in einen rechten, die befallene Seite verbreitert erscheinen, 
während bei Arthritis deformans infolge des zunehmenden Schwundes 
der Kopfepiphyse eine Verminderung des Umfanges um den Tro¬ 
chanter gemessen stattfinden wird. Für den Fall, dass der Nei¬ 
gungswinkel spitz wird, dürfte dieses Maass keine Verwendung mehr 
finden. Ferner lässt sich als Unterscheidungsmerkmal beider Er¬ 
krankungen nach Maydl noch jener Umstand heranziehen, dass bei 


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Max Wagner. 


Coxa vara die Bewegungen nach Ueberwindung des acuten Stadiums 
meist wieder frei werden, während Derartiges bei der Arthritis 
deformans kaum jemals beobachtet wurde. Da wir Coxa vara auch 
mit Arthritis deformans vermengt Vorkommen sehen, wird uns in 
solchen Fällen wieder die Röntgenaufnahme vor einer Verwechse¬ 
lung schützen ^). 

Die Unterscheidung der statischen Coxa vara gegen Ver¬ 
biegungen des Schenkelhalses infolge Coxitis, bietet häufig Schwie¬ 
rigkeiten, besonders dann, wenn die letztere ohne Eiterung einher¬ 
geht. Hier kann uns eine genau aufgenommene Vorgeschichte, die 
Berücksichtigung des gesammten Körperzustandes und das Röntgen¬ 
bild die Diagnose sichern. 

Wiederholt schon ist die Coxa vara mit einer angeborenen 
Hüftverrenkung verwechselt worden. Auch hier muss auf eine 
genaue Vorgeschichte und eine gründliche örtliche Untersuchung 
hingewiesen werden; vor allen Dingen müssen wir darauf unsere 
Aufmerksamkeit richten, dass sich der Kopf in der Pfanne be¬ 
finden muss. 

Kirmisson schreibt hierzu: „Zweifellos hat man in den 
letzten Jahren, namentlich in Deutschland, mit der rhachitischen 
Schenkelhalsverkrümmung einen ziemlichen Missbrauch, meiner An¬ 
sicht nach, getrieben. Obwohl ich mit der grössten Sorgfalt in allen 
Fällen nach ihr geforscht habe, so habe ich sie jedoch noch lange 
nicht so häufig wie meine ausländischen Collegen gefunden. Ich 
glaube, dass man in vielen eine Verwechslung mit der angeborenen 
Luxation nicht vermieden hat. Indessen wäre dies noch kein Orund, 
um das Vorkommen dieser Verbiegung in Abrede zu stellen. In 
beiden Fällen gibt es einen Hochstand des Trochanter major über 
die Roser-Nölaton*sche Linie, bei der rhachitischen Schenkel¬ 
halsverbiegung kann man sich indessen leicht überzeugen, dass sich 
der Kopf an seiner Stelle befindet und das Centrum der Ge¬ 
lenkbewegungen recht deutlich der Pfanne entspricht, 
was bei der angeborenen Luxation nicht der Fall ist.“ Für die er¬ 
worbene Luxation gelten die gleichen Unterscheidungsmerkmale. 

Im Vorangehenden sahen wir, welche Bedeutung der sorg¬ 
fältigen Anamnese bei der Diagnosenstellung der Coxa vara zukommi. 


Schanz bezeichnet das Malum coxae senile als eine Coxa vara senilis; 
dem ist wohl unter Würdigung des bisher Angeführten zu widersprechen. 


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Die Coxa vara. 


307 


Wie viel weniger zuverlässig dieselbe jedoch bei der Unterscheidung 
der typischen, statischen Coxa vara von der traumatischen 
Coxa vara ist, dies beweisen uns so manche Fälle, in denen 
entschieden auf ein erhebliches Trauma als die Ursache des Leidens 
hingewiesen wird, indem der Befund und das Röntgenbild die Diagnose: 
traumatische Coxa vara aber nicht bestätigen. Andererseits sehen 
wir Fälle von erwiesener traumatischer Coxa vara, in denen das 
Trauma, das oft schon viele Jahre zurückliegt, in der Vorgeschichte 
wegen seiner Geringfügigkeit verneint oder erst auf eingehendes Be¬ 
fragen zugestanden wird. Der Befund bietet so viel Ueberein- 
stimmungen zwischen beiden Erkrankungen, dass wir auch hier 
wieder zum Röntgenbilde unsere Zuflucht nehmen; wie sich aber nach 
den Beobachtungen der letzten Zeit gezeigt hat, hat sich auch dieses 
sonst so zuverlässige Hilfsmittel als nicht völlig ausreichend er¬ 
wiesen (Sprengel, Hofmeister). 

Sprengel legte sich folgende Fragen vor, um der Diagnose 
auf Coxa vara traumatica in einem von ihm auf dem Chirurgen- 
congress 1899 vorgestellten, nicht operirten Falle nahe zu kommen: 

I. Was spricht im vorliegenden Falle für Coxa vara im all¬ 
gemeinen? 

1. Der Umstand, dass es sich um ein männliches Individuum 
am Ende der Wachsthumsperiode handelt, 

2. das Vorhandensein der classischen Coxa vara-Symptome, 
Hochstand des Trochanter, Aussenrotation und Adduction. 

II. Lässt sich der Sitz der Veränderung im Schenkelhälse ge¬ 
nauer präcisiren? Ja, es handelt sich um eine Veränderung 

an der Stelle der subcapitalen Epiphysenlinie. Dafür spricht: 

1. Die Hochgradigkeit der Contractur, die um so stärker 
sein muss, je näher die Veränderung dem Gelenke ist, 

2. das im Röntgenbilde deutlich erkennbare pilzartige Ueber- 
ragen des unteren Kopfrandes, 

3. das normale Verhalten des Schenkelhalswinkels. 

III. Was spricht für Coxa vara traumatica? 

1. Die absolute klinische Uebereinstimmung mit den früher 
beobachteten und anatomisch untersuchten Fällen, 

2. der Nachweis des Trauma. 

Der springende Punkt für die endgültige Unterscheidung ist 
nach Sprengel das Trauma. In den Fällen, wo ein solches in 


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308 


Max Wagner. 


der Vorgeschichte nicht deutlich hervortritt, sprechen folgende Punkte 
für die traumatische Entstehung: 

1. Das plötzliche Auftreten der Krankheit, 

2. das Bestehen heftiger, bald verschwindender Schmerzen zu 
Anfang derselben, 

3. die Einseitigkeit der Erkrankung, 

4. das Fehlen sonstiger Belastungsdeformitäten. 

Wir ersehen hieraus, welche Schwierigkeiten im gegebenen 
Falle die Unterscheidung einer statischen Coxa vara von einer 
traumatischen bieten kann, ja, es dürfte wohl Fälle geben, in denen 
mit unseren bisherigen Hilfsmitteln eine streng genaue Diagnose 
nicht zu fallen ist, namentlich dann, wenn das vom Patienten an¬ 
gegebene Trauma lange Zeit zurückliegt; denn alle oben angeführten 
Punkte können auch unter Umständen, wie aus den bisherigen 
Ausführungen zu entnehmen ist, einer statischen Coxa vara ent¬ 
sprechen. 

Zum Beweise dafür, wie richtig bei der Diagnosenstellung das 
Köntgenbild und seine richtige Deutung ist, diene ein neuerdings 
von Joachirasthal veröffentlichter Fall von angeblicher Coxa 
vara traumatica infantum. Es handelte sich um ein 5jähriges 
Mädchen, das, wie ausdrücklich hervorgehoben wird, keinerlei Zeichen 
überstandener Rhachitis darbietet. Dasselbe soll nach einem Sprung 
durch einen Reifen über heftige Schmerzen in der rechten Hüfte 
geklagt haben, sie konnte aber ohne Unterstützung die Treppen in 
die Höhe gehen, nach zwei Tagen waren die Schmerzen verschwunden, 
der Gang seitdem hinkend. 

Die Untersuchung ergab eine Coxa vara mit blosser Abduc- 
tionshemmung. 

„Das zur Sicherung der Diagnose gefertigte Röntgenbild ergab 
als Ursache der Schenkelhalsdeformität eine Lösung in der Kopf¬ 
epiphyse des Femur mit nachträglicher Wiederverwachsung in 
deformer Stellung.“ 

„Rechterseits erweist sich zunächst der Oberschenkelschaft 
leicht adducirt; der Trochanter befindet sich mit seiner Spitze 
ca. 2 cm oberhalb einer durch die Rollhügelspitze der entgegen¬ 
gesetzten Seite gezogenen horizontalen Linie. Im Gegensätze zu 
diesem Hochstand des Trochanters ist der Kopf und zwar nament¬ 
lich seine untere Partie in auffallender Weise nach abwärts gesunken. 
Dieses Tiefertreten ist durch eine deutlichst erkennbare Ver-^ 


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Die Coxa vara. 


30^ 


Schiebung in der Knorpelfuge veranlasst; gleichzeitig hat eine 
derartige Drehung des Kopfes stattgefunden, dass die Mitte seiner 
Gelenkffäche statt wie unter normalen Verhältnissen in der Mittel¬ 
linie des Gelenks nach innen und oben, jetzt nach innen und fast 
nach abwärts schaut, während sein äusserer, mit der gelösten 
Epiphysenlinie zusammenfallender Rand sich in einer dem 
Schenkelschaft annähernd parallel verlaufenden Linie erstreckt. Die 
Bestimmung des Richtungswinkels ist demnach unmöglich; der 
Schenkelhalswinkel zeigt eine Grösse von etwa 65®. Die obere 
Contour des Collum und Caput femoris weist an der Stelle der Epi¬ 
physenlinie eine starke Einbiegung auf. Die obere Partie der 
Articulationsfläche am Kopf ist von dem entsprechenden Abschnitte 
der Pfannenapertur durch einen weiten Zwischenraum getrennt. Unten 
liegt ein grosser Theil der Gelenkfläche des Caput femoris ausser 
Contact mit der Pfanne. Der Oberschenkel hat nach erfolgter 
deformer Wiedervereinigung mit dem Kopfe, umseine durch 
die Abbiegung des coxalen Endes bedingte Adductionsstellung zu 
compensiren, eine bis nahezu an die physiologische Grenze dieser 
Bewegung reichende Abduction vollftihrt, die trotz der scheinbaren 
Adductionsstellung des Schaftes bei der Betrachtung der Stellung 
des Kopfes zum Becken ohne weiteres hervortritt. . . .“ 

Meines Erachtens kann man sich nicht ohne weiteres mit der 
Deutung des Bildes und den daraus und aus der Vorgeschichte ge¬ 
zogenen Schlussfolgerungen einverstanden erklären. Bei unbefangener 
Betrachtung des Bildes lese ich aus demselben bezüglich des Schenkel¬ 
halses folgenden Befund heraus: Der Schenkelhalsneigungswinkel 
ist wesentlich verkleinert, — jedenfalls dürfte 65® nicht zu gering 
gemessen sein —, der Schenkelhals zeigt in seinem Verlaufe eine 
Abknickung, und zwar in der Epiphysenlinie, demgemäss ist der 
Kopf unter der oben beschriebenen Drehung tiefer getreten, so dass 
die untere Hälfte der Gelenkfläche desselben sich ausserhalb der 
Gelenkpfanne befindet. Dieser Vorgang bedingt das pilzhutförmige 
Ueberragen der untersten Partie des Kopfes. Nach alledem handelt 
es sich auf diesem Bilde um Coxa vara, und zwar um eine jener 
schon häufig veröffentlichten Form, bei der der Neigungswinkel er¬ 
heblich verringert ist und eine Knickung im Gebiete der Epiphysen¬ 
linie stattgefunden hat; wenn in dem vorliegenden Falle der Krüm- 
mungsscheitel, die bekannte gratartige Erhebung, nicht sichtbar ist, 
so liegt das an dem jugendlichen Alter des Patienten, in dem es 


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Max Wagner. 


noch nicht zur Verknöcherung der Epiphysenlinie gekommen ist 
(Sudeck), was sich auch an der noch deutlich sichtbaren Trochanter¬ 
epiphysenlinie zeigt. Aber aus dem Röntgenbilde zu ersehen, 
dass eine „deutlichst erkennbare Verschiebung“, d. h. Lösung 
in der Knorpelfuge mit nachträglicher deformer Wieder¬ 
vereinigung des Kopfes mit deip Halse stattgefunden 
habe, ist schon aus dem Grunde nicht möglich, weil eine 
derartige Wiedervereinigung nur knöchern zu Stande 
kommen kann und in diesem Falle keine Knorpelfuge 
mehr sichtbar wäre. Auf dem Bilde ist dieselbe jedoch 
unzweifelhaft deutlich sichtbar. Dazu kommt noch, dass 
auch der klinische Befund und die Vorgeschichte die auf eine 
Coxa vara traumatica gestellte Diagnose unwahrscheinlich machen. 
Die Angabe über ein Trauma sagt nur von einem Sprunge durch 
einen Reifen, in dieser Form kann es doch nur sehr geringer Natur 
sein; auch haben die Angaben des kleinen Kindes über die Heftig¬ 
keit der Schmerzen kaum volle Gültigkeit, das beweist, dass das 
Kind hinterher noch mehrere Treppen hoch gehen konnte. 

Joachimsthal bezieht sich in seiner Arbeit auf einen ähn¬ 
lichen Fall, den Kirmisson beschrieben und abgebildet hat; dieser 
Fall hat aber meiner Ansicht nach noch weniger Anrecht auf die 
Diagnose: Coxa vara traumatica; auch hier ist wieder ein Spalt 
sichtbar, was nicht der Fall sein würde, wenn eine „Anheilung“ 
vorausgegangen wäre; dazu kommt aber, noch, dass der Kopf dem 
Halse in normaler Weise aufsitzt. Wäre eine Trennung in der Epi¬ 
physenlinie erfolgt, so hätte der Kopf unbedingt tiefer treten müssen 
infolge der Körperlast, Auch in diesem Fall Kirmisson's handelt 
es sich um eine statische Coxa vara. 

Neuerdings berichtet Kredel in einer Auslassung über den 
Zusammenhang von Trauma, Epiphysenlösung und Coxa vara über 
einen ähnlichen Fall, in dem er gleichfalls die Diagnose auf Coxa 
vara traumatica infantum stellte. Ich glaube, dass auch in diesem 
Falle die Annahme einer stattgehabten Epiphysenlösung nicht zu 
Recht besteht. Das Bild zeigt auch hier eine erhebliche Ver¬ 
kleinerung des Neigungswinkels, der Schenkelhals verläuft fast hori¬ 
zontal, der Kopf hat sich gedreht; es ist .deutlich sichtbar ein Spalt, 
den ich als Epiphysenlinie anspreche. Auch hier ist nur eine 
statische Coxa vara vorliegend. Hätte es sich thatsächlich um ein 
Trauma gehandelt, dann müsste sich doch bei einer Wiederver- 


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Die Coxa vara. 


311 


einigung ein Callus gebildet haben, der, weil er knöchern ist, nie¬ 
mals einen Spalt auf dem Bilde hinterlassen kann. 

In allen 3 Fällen sprechen ferner noch gegen die Diagnose 
einer traumatischen Coxa vara die vorhandene gute Beweglichkeit 
und der Mangel einer Verletzung, wie Kr edel selbst zugibt. Nach 
Sprengel ist aber gerade die starke Contractur dififerentialdia- 
gnostisch wichtig für die Coxa vara traumatica. 


6. Die Behandlung der Coxa vara. 

Die Behandlung der Coxa vara kann unblutig, erhaltend 
oder blutig sein. Unsere Kenntnisse von den Entstehungsmöglich¬ 
keiten und der Anatomie dieses Leidens ermöglichen uns jedoch 
auch manchmal in vorbeugendem Sinne thätig zu sein. Richtige 
Leerung der Beine, allenfalls Streck verbände, Verhütung zu frühen 
und zu vielen Laufens und Stehens sind als derartige vorbeugende 
Massnahmen angezeigt, namentlich bei denjenigen Krankheiten, 
die zu einer Erweichung des Knochens zu führen pflegen, Rhachitis 
und Osteomalacie. Hand in Hand damit geht eine Behandlung des 
Grundleidens. Wie für die beiden eben genannten Leiden, so 
gilt dies ganz besonders für die Arthritis deformans; hier liegt in 
der Behandlung des Grundleidens geradezu die vorbeugende Thätig- 
keit des Arztes; denn, wenn wir das Eintreten der Adduction ver¬ 
hüten können, erreichen wir auch, dass der Kopf oder der den Kopf 
ersetzende Halstheil mit ihrem oberen Umfange in Berührung mit 
der Pfanne bleibt. Hierdurch werden wir wohl kaum die Bildung 
einer Abwärtsbiegung des Halses als solche verhindern, wohl aber 
das Endergebniss bezüglich der Gebrauchsfäbigkeit günstig beein¬ 
flussen, indem dadurch der Richtungswinkel vergrössert wird (Als¬ 
berg). Wir müssen demnach durch Massage, active und passive 
Bewegungen die Abductionsmusculatur zu kräftigen suchen und ge¬ 
gebenen Falles einen Schienenhülsenapparat mit einer Abductions- 
vorrichtung tragen lassen. 

Die erhaltende Behandlung kommt im grossen und ganzen 
dann in Betracht, wenn wir noch nicht veraltete Fälle von Coxa vara 
vor uns haben. Eine Vorbedingung hierzu ist aber eine frühzeitige 
Diagnosenstellung; leider erscheinen die Patienten aber in der 
Mehrzahl der Fälle erst dann, wenn das Fortschreiten des Leidens 

ZeiUchrift für orthopädische Chirurgie. VIII. Baud. 21 


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Max Wagner. 


ZU einer erheblichen Deformität geführt hat. Doch auch in solchen 
Fällen werden wir es zunächst mit den im folgenden zu schildernden 
Massnahmen versuchen: Im acuten schmerzhaften Stadium ist un¬ 
bedingte Ruhe und dauernde Streckbehandlung geboten, hierzu tritt 
noch als drittes Heilmittel die Massage, welche sich auf die Hüft- 
musculatur und die gesammte Oberschenkelmusculatur zu erstrecken 
hat. Diese Behandlung muss so lange fortgesetzt werden, bis die 
Schmerzen geschwunden sind; es bedarf allerdings manchmal vieler 
Geduld, sowohl von Seiten des Arztes wie des Patienten, denn oft 
gehen Monate darüber hin, bis die Beschwerden weichen; in den 
weitaus meisten Fällen werden wir aber die Genugthuung haben, 
unseren Patienten geholfen zu haben, nicht nur bezüglich ihrer 
Beschwerden, sondern auch in der Gebrauchsfähigkeit des 
betreffenden Gliedes. 

Gerade die letztere ist es ja, auf deren Besserung jede Art 
von Behandlung zunächst hinstreben muss, besonders aber die un¬ 
blutige Behandlung. Allerdings sind angeblich (Bayer und Whit- 
man) durch dieselbe auch die bestehenden Verkürzungen unter 
Anwendung einer dauernden Streckung gebessert worden, doch stehen 
diese Beobachtungen noch vereinzelt da, wenngleich sie zu weiteren 
Versuchen in dieser Richtung anregen. Wir erreichen das gesetzte 
Ziel in einer auf die Kräftigung der Abductionsmusculatur hin¬ 
zielenden Behandlungsweise, denn gerade die Abductionsfähigkeit ist 
es, die durch das Höhertreten des Trochanters geschwächt worden. 
Wir stärken dieselbe durch tägliche, allenfalls zweimalige Massage 
der atrophischen Glutäal- und Oberschenkelmusculatur. Hieran 
sollen sich activ-passive und active Bewegungen (wenn möglich mit 
gesetzten Widerständen) des kranken Hüftgelenkes schliessen, etwa 
in folgender Weise: in Rückenlage wird der Patient aufgefordert, 
das Bein der kranken Seite selbst möglichst zu abduciren, wobei 
nöthigenfalls passiv nachgeholfen werden muss; das Becken wird 
dabei von uns festgestellt; in Seitenlage muss das Bein, während 
wir selbst das Becken seitlich auf die Unterlage drücken, seitlich 
gehoben werden; ob wir hierbei Widerstände entgegensetzen, hängt 
von den Kräften des Patienten ab, meist wird es zunächt nicht mög¬ 
lich sein. Darauf heben wir selbst das Bein so hoch wie möglich 
in Abduction und fordern den Patienten auf, dasselbe so hoch zu 
halten; Spreizübungen im Stehen schliessen sich daran, derart, dass 
der Patient, wenn er die grösstmögliche Abduction erzielt hat, ver- 


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Die Coxa vara. 


313 


suchen muss, den Rumpf nach der kranken Seite überzubeugen. 
Zum Schlüsse werden üebungen ausgeführt, welche zum Ausgleiche 
der Verkürzung die möglichste Senkung des Beckens auf der kranken 
Seite bezwecken: sowohl auf dem Rücken liegend, als auch mit dem 
gesunden Beine auf einer erhöhten Unterlage stehend, muss der 
Patient bei völlig gestrecktem gesunden Beine, das andere hinunter¬ 
drücken, so dass der innere Knöchel der kranken Seite möglichst 
tief unter den inneren Knöchel der gesunden Seite zu stehen kommt. 
An diese Hebungen schliessen sich die gymnastischen Hebungen an 
den entsprechenden Pendelapparaten an. 

Dadurch erreichen wir erstens, dass die Abductionsfähigkeit 
gehoben wird, zweitens, dass sich allmählich die Oelenkflache 
nach oben aus weitet, wodurch der Richtungswinkel vergrössert 
und dadurch die Varusstellung gebessert wird (Alsberg), und 
drittens verhindern und bessern wir eine Schrumpfung und Con- 
tractur der Adductoren, die wir dann ebenfalls der Massage 
unterwerfen müssen. 

Sind gerade derartige Schrumpfungen und Contracturen der 
Adductoren vorherrschend, so tritt noch die oflTene oder subcutane 
Durchschneidung derselben als heilender Factor zu den obigen 
Massnahmen, wie sie von Vulpius, Zehnder, und neuerdings 
auch von Hoffa mit gutem Erfolge ausgeführt wurde. 

In denjenigen Fällen jedoch, die der lange fortgesetzten, syste¬ 
matischen Massage- und Qymnastikbehandlung trotzen, also in den 
sogen, schweren Fällen, kommt die blutige Behandlung, die 
Operation in Frage. Diese kann in einer Resection oder der neueren 
Osteotomie bestehen. Die letztere kann wieder den Schenkelhals 
und den Schaft desselben zum Angriffspunkt haben. 

Sowohl die von Kraske vorgeschlagene keilförmige Osteotomie 
des Halses, wie auch die gerade Durchmeisselung desselben nach 
Rüdinger haben sich nicht zu bewähren vermocht, auch sind die 
damit erzielten Erfolge nicht derart, dass sie zu weiteren derartigen 
Versuchen anregen könnten, zumal die Gefahren einer, bei einer 
derartigen Operation manchmal nicht zu umgehenden Gelenkseröff¬ 
nung nicht unwesentlich sind. 

Hofmeister schlug deshalb die Osteotomia intertrochanterica 
vor, um bei der Besserung der Stellung auch auf die Aussendrehung 
des Beines durch Einwärtsdrehen desselben einwirken zu können, 
wobei dann zugleich der Trochanter minor nach hinten und somit 


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314 


Max Wagner. 


weiter vom Becken entfernt werde. Praktische Erfahrungen mit 
diesem Verfahren liegen zur Zeit jedoch noch nicht vor. 

Wohl aber liegen sehr günstige Erfolge mit der gegenüber 
den obigen Operationsarten wesentlich ungefährlicheren schiefen 
subtrochanteren Osteotomie vor, dieHerr Prof. Hoffa, seitdem er 
sie zum erstenmal mit so günstigem Ergebnisse ausgeführt hat, in einer 
grösseren Zahl von Fällen mit demselben guten Erfolge angewendet 
hat. Diese Operation, die Hoffa schon wiederholt und auch neuer¬ 
dings wieder empfohlen hat, bietet folgende Vortheile: Die Ad- 
ductionsstellung wird ausgeglichen durch eine Feststellung des Beines 
in starker Abduction; die etwa dabei bindernden Adductoren 
müssen allenfalls durchschnitten werden. Will nun der Patient nach 
erfolgter Anheilung in dieser Stellung gehen, so muss er das Bein 
adduciren, dadurch wird der Trochanter tiefer gerückt. Der Schenkei¬ 
halsneigungswinkel ist vergrössert worden und mit ihm der Rich¬ 
tungswinkel; durch das erwähnte Tiefertreten des Trochanter major 
werden die HUftmuskeln derart günstig beeinflusst, dass die abdu- 
cirende Componente ihrer Kraft vermehrt wird. Die Wahl der 
schrägen Schnittrichtung erfolgte deshalb, weil dieselbe eine starke 
Streckung und dadurch bewirkte Entfernung der Knochenenden 
von einander erlaubt. Schliesslich kann man eine etwa bestehende 
Aussendrehung durch stärkeres Einwärtsdrehen des Beines aus- 
gleichen. Diesen, durch die schiefe subtrochantere Durchmeisselung 
ermöglichten Massnahmen entsprechen auch die angestrebten Erfolge: 
die Patienten vermögen das kranke Bein viel besser zu 
spreizen, das Trendeleuburg’sche Symptom wird schwinden^ 
d. h. sie werden nicht mehr hinken, indem sie mit den Glutaen 
der kranken Seite nunmehr das Becken bei erhobenem gesunden 
Beine zu heben vermögen, und durch die erzielte Verlängerung 
des Beines wird der Gang vollends zu einem normalen. 
Eine Voraussetzung ist allerdings eine entsprechende Nach¬ 
behandlung,. die in Massage und gymnastischen Hebungen in der 
weiter oben geschilderten Weise zu bestehen hat. 

Die Resection, welche in einer Anzahl von Fällen ausgefübrt 
worden ist, kommt wohl nur in den hochgradigsten Fällen in Be¬ 
tracht, in denen die Gebrauchsfähigkeit des Beines fast ganz auf¬ 
gehoben ist. . . . Hier wird uns das Röntgenbild wesentlich in unserer 
Entscheidung unterstützen, indem es uns das Bestehen vorgeschrittener 
secundärer Veränderungen des Kopfes, wie starke Ueberstülpung 


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Die Coxa vara. 


315 


oder Atrophie desselben, zu zeigen vermag, die uns eine etwaige 
Osteotomie als unzweckmässig und aussichtslos erscheinen lassen. 
Der Erfolg dieser Operationen wird in den meisten VeröfiFentlichungen 
als ein befriedigender hingestellt. Dass auch hier wieder eine ge¬ 
eignete Nachbehandlung zur Erzielung und Erhaltung desselben 
unbedingt nöthig ist, ist wohl selbstverständlich. 

Bevor ich diesen Abschnitt beende, möchte ich nicht unter¬ 
lassen, noch einmal darauf hinzuweisen, dass stets, selbst in den 
Fällen hochgradigster Gebrauchsstörungen eine lange durchzuführende, 
schonende und, wenn möglich, orthopädische Behandlung einzuleiten 
ist, bevor man Oberhaupt an eine Operation denkt. Wann dieselbe 
angezeigt ist, darüber soll der nächste und letzte Abschnitt Auskunft 
ertheilen. 

7. Ueber die Vorhersage der Goxa vara und die Anzeigen zur 
operativen Behandlung derselben. 

Wiederum ist es Hofmeister, dieser verdienstvolle Forscher 
auf dem Gebiete der Coxa vara-Frage, der uns zum erstenmal über 
diesen für unsere Kenntniss derselben, wie für die Behandlung gleich 
wichtigen Gegenstand höchst bemerkenswerthe Aufschlüsse gibt. 
Ausgehend von dem Satze, dass eine möglichst gründliche und um¬ 
fassende Kenntniss des spontanen Ablaufs der Krankheit 
und ihrer Endstadien die nothwendige Vorbedingung für 
die Aufstellung präciser Indicationen zum operativen Ein¬ 
greifen sei, stellt er eingehende Forschungen darüber an, was denn 
aus all den Schenkelhalsverbiegungen geworden ist, die nicht operirt 
wurden. Wir begegnen soviel Coxa vara-Fällen bei jugendlichen 
Individuen, hören aber sehr selten von solchen bei Erwachsenen. 
Was wird aus diesen Fällen? 

Betrachten wir zunächst die für die Arbeitsfähigkeit des Patienten 
am meisten in Betracht kommenden persönlichen Beschwerden. 
Wie anfangs hervorgehoben wurde, begegnen wir in vielen Fällen 
dem sogen, acuten Stadium, das, wie wir oben sahen, die 
Patienten wegen der grossen Schmerzhaftigkeit jeglicher Bewegung 
in dem erkrankten Gelenke gewöhnlich an das Bett fesselt; dieses 
Stadium schwindet in weitaus den meisten Fällen, jedenfalls kehrt 
die Arbeitsfähigkeit wieder, und die Schmerzen schwinden gänz¬ 
lich, oder kehren bei Einzelnen nur nach Anstrengungen wieder, 


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316 


Max Wagner. 


schwinden aber bald nach stattgehabter Ruhe, so dass ein Berufs¬ 
wechsel nur in wenigen Fällen nöthig wird. 

Die Dauer des schmerzhaften Stadiums schwankt 
zwischen mehreren Monaten und mehreren Jahren, nur in Aus¬ 
nahmefällen bleiben zeitweilig auftretende Schmerzperioden bis in 
das spätere Mannesalter hinein bestehen. 

Bezüglich der Besserung der fehlerhaften Stellung 
sehen wir zuerst die Beugung, dann die Einwärtsdrehung und erst 
zuletzt die Abductionshemmung schwinden. Selbst in Fällen mit 
völliger Ankylose werden die Gelenke wieder mehr oder weniger frei, 
so dass derartige Patienten ihrem Berufe wieder nachgehen können. 

Im allgemeinen sind die Aussichten auf eine Besserung um 
so grösser, je mehr die subjectiven Beschwerden im Krankheitsbilde 
vorherrschen. Eine Schätzung darüber, wie weit eine Besserung zu 
erhoffen ist^ erlaubt uns manchmal die Narkose. Wie bekannt, sind 
die Qebrauchsstörungen bei manchen Patienten durchaus nicht ent¬ 
sprechend den anatomischen Veränderungen, mit Recht kann man 
in solchen Fällen nach Analogie mit dem contracten Plattfuss von 
einer Coxa vara contracta sprechen. Die in solchen Fällen infolge 
von Muskelspannungen auftretenden Gelenksteifigkeiten schwinden 
auch in diesem schmerzhaften Stadium in der Narkose völlig, da¬ 
gegen würden dies durch gewaltige anatomische Veränderungen 
hervorgerufene Gelenksteifigkeiten nicht thun; doch müssen die in 
früheren Abschnitten erwähnten Muskelschrumpfungen ausgeschaltet 
werden. 

Nach alledem lässt sich sagen, dass die Besserungen in der 
Gebrauchsfähigkeit zunächst auf das Schwinden der Muskel¬ 
hemmungen zurückzuführen sein werden; es ist jedoch bei besonders 
auffallenden Besserungen der Gedanke an die Möglichkeit einer 
allmählichen Umformung des Knochens nicht von der Hand 
zu weisen, so etwa die Neubildung einer Gelenkverbindung mit den 
in der Pfanne liegenden Halstheilen, während die unthätigen Kopf¬ 
abschnitte dem Schwunde anheimfallen. 

Wir dürfen also die Vorhersage der Coxa vara als 
günstig bezeichnen. 

Hofmeister kommt, wie mir scheinen will, nicht mit Unrecht 
zu der Ansicht, dass in manchen der Fälle, in denen von grossen 
chirurgischen Eingriffen berichtet wurde, diese mit Unrecht (natür¬ 
lich ist dies nur im Lichte unserer heutigen Erkenntniss zu be- 


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Die Coxa vara. 


317 


haupten) vorgenommen wurden, da sie meist zur Zeit der grössten 
subjectiven Beschwerden und gerade ihretwegen gemacht worden 
sind; und vergleicht man die schönen Erfolge der unblutigen ortho¬ 
pädischen Behandlung in Fällen, die gleich schwer wie die ver¬ 
öffentlichten operirten Fälle waren, so wird man ihm zustimmen 
müssen, dass der Grad der subjectiven Beschwerden und der 
Gebrauchsstörungen im acuten Stadium nicht bestimmend 
sein darf für den Entschluss zu einem operativen 
Eingriff. 

Ich erhob am Schlüsse des vorigen Abschnittes bereits nach- 
drücklichst die Forderung, dass selbst bei den Fällen, die den Ein¬ 
druck kaum auf solche Weise besserungsfähiger Gelenkstörungen 
hervorrufen, doch stets die schonende, unblutige Behandlung längere 
Zeit durchzuführen sei. Bevor an einen grösseren blutigen Eingriff 
gedacht werden darf, muss als eine weitere Forderung die Prüfung 
in Narkose auf eine in derselben freiere Beweglichkeit 
hinzugefügt werden. Ist eine solche vorhanden, so ist es zur 
Operation zu früh; bestehen Adductorenspannungen, so müssen 
dieselben durch Tenotomie derselben beseitigt werden^). 

Wenn es uns gelungen ist, die Schmerzhaftigkeit zu beheben, 
aber noch erheblichere Gebrauchsstörungen bestehen, würde eine 
weitere, längerdauernde orthopädische Behandlung unter Umständen 
mittelst eines Schienenhülsenapparates mit Vorrichtungen zum gleich¬ 
zeitigen Verbessern der Stellungen nöthig sein. 

Wie weit man Hofmeister darin Recht geben darf, wenn 
er einen operativen Eingriff nur in ganz seltenen Fällen mit that- 
sächlich dauernder Gebrauchsstörung und starker, wirklicher Ver¬ 
kürzung, vorgenommen wissen will, das wird die Zukunft lehren. 

Es bleibt aber doch zu erwägen, ob wir einen Patienten, der 
schon ein Jahr lang starke Schmerzen hat, oder einen, der seine 
Beine, infolge deren fehlerhafter Stellung, nach dieser Zeit noch 
nicht zweckmässig gebrauchen kann und dadurch immer noch in 
der Ausübung seines Berufes zur Wahrung seines Unterhaltes be¬ 
hindert ist, ob wir solche Patienten noch weiter vertrösten und ab¬ 
wartend behandeln sollen, oder ob wir ihnen nicht durch einen 
operativen Eingriff in absehbarer Zeit zu einer entschiedenen 


*) Ich verweise auf ein ähnliches Vorgehen in einem Falle aus der 
Hoffa'schen Klinik. 


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318 


Max Wagner. 


Besserung ihrer Beschwerden verhelfen sollen, trotzdem wir wissen, 
dass auch ohne Operation einmal eine Besserung eintreten wird. 
Und da wir in der von Hoffa mehrfach mit ausgezeichnetem Erfolge 
(in der oben angegebenen Weise) ausgeführten schrägen sub- 
trochanteren Osteotomie ein zuverlässiges Heilmittel be¬ 
sitzen, möchte ich es für derartige Fälle von Coxa vara nochmal» 
entschieden empfehlen, sowohl wegen des vorzüglichen Ergebnisses 
für die Oebrauchsfäbigkeit des kranken Beines, wie auch wegen 
der thatsächlichen Stellungsbesserung und Verlängerung* 
derselben. 

Diese Erörterungen beziehen sich in erster Linie auf die sta¬ 
tische Coxa vara, doch treffen sie wohl im grossen und ganzen 
auch auf die übrigen Fälle, namentlich solche, in denen das Krank- 
heitsbild nicht zu sehr von der Grundkrankheit beherrscht wird, zu. 
Dass die Coxa vara rhachitica eine sehr gute Vorhersage bietet, 
bedarf wohl keiner Erwähnung; von dem günstigen Einfluss der 
orthopädischen Behandlung der Coxa vara bei Arthritis deformans 
sprach ich schon weiter oben. Schwieriger gestaltet sich die Frage 
bei der eine angeborene Hüftverrenkung begleitenden Schenkel¬ 
halsverbiegung. Ich bin aber der Ansicht, dass da, wo schon durch 
die ungünstigen Grundbedingungen an und für sich eine mangelhafte 
Stellung des Beines vorhanden ist, sehr wohl ohne weiteres die 
Berechtigung einer operativen Verbesserung der diese erste noch 
verschlechternden zweiten fehlerhaften Stellung vorliegt, zumal so 
allenfalls noch auf die erstere zweckentsprechend eingewirkt werden 
kann. Die hier in Frage kommende Operation ist wiederum die 
schräge subtrochantere Osteotomie. Die in diesen Fällen von Hoffa 
mit gutem Erfolge ausgeführten Operationen berechtigen mich dazu, 
für die ersteren eine günstige Vorhersage abzugeben. Darüber, wie 
sich dieselbe für die Coxa vara traumatica gestaltet, liegen noch 
wenige Erfahrungen vor; doch dürfte hier die Stärke der Deformität 
und der durch sie bedingten Gebrauchsstörungen ausschlaggebend sein; 
jedenfalls müssen wir auch in solchen Fällen zunächst eine länger 
durchgeführte orthopädische Behandlung eintreten lassen, und da 
wir Grund haben, anzunehmen, dass so manche Fälle hochgradiger 
statischer Coxa vara nichts anderes wie auf traumatischem Wege 
entstandene Schenkelhalsverbiegungen sind, so dürfte sich auch für 
diese Fälle die Vorhersage ziemlich günstig stellen lassen. Wegen 
der meistens recht bedeutenden Störungen wird wohl auch die Frage 


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Die Coxa vara. 


319 


der Operation einer Coxa vara traumatica entsprechend häufiger 
an uns herantreten. Ob auch hier die schiefe subtrochantere Osteo¬ 
tomie dieselben günstigen Erfolge liefern würde, darüber liegen zur 
Zeit noch keine Erfahrungen vor, doch ist nicht einzusehen, weshalb 
sie sich nicht auch hier bewähren sollte. 

Den hier niedergelegten Erfahrungen verdanken wir es, wenn 
wir den um seine Zukunft, um Brot und Arbeit bangenden Coxa 
vara-Patienten voll Zuversicht auf einen günstigen Ablauf seines 
Leidens zu trösten vermögen. Dank unserer Behandlung aber werden 
wir die Freude haben, ihn seinem Berufe wiederzugeben. 


Zweiter Theil. 

Einige Beobachtungen aus der Hoffa’schen Klinik. 

Bei der Durchsicht der schönen Präparatensammlung Prof. 
Hoffa’s, meines hochverehrten Lehrers, dem ich an dieser Stelle 
meinen aufrichtigen Dank für die liebenswürdige Ueberlassung des 
Materials ausspreche, spielte mir ein glücklicher Zufall mehrere Coxa 
vara-Präparate in die Hände. Von grossem Interesse für mich ist 
ein vollständiges Hüftpräparat, ein Becken mit beiden oberen Femur¬ 
enden , deren eines eine ausgebildete Coxa vara zeigt. Beide 
Hüften waren vordem angeboren verrenkt, wie folgende Kranken¬ 
geschichte zeigt. 

Fall 1. Pfister, Willy, 4 Jahre alt, Dienerskind. Doppel¬ 
seitige angeborene Hüftgelenksverrenkung. Eintritt in die Klinik: 
30. December 1889. 

Patient steht seit einem Jahre in Behandlung und war während 
dieser Zeit mit Landerer’schen Verbänden, Gewichtsextension nach 
Volkmann und portativen Apparaten kein Erfolg erzielt worden. 
Es besteht der für doppelseitige angeborene Hüftgelenksverrenkung 
charakteristische Gang und eine bedeutende Lordose der Lenden¬ 
wirbelsäule. Die Trochanteren stehen G cm über der Roser- 
Nelaton sehen Linie. Die Musculatur der Glutäalgegend ist ziem¬ 
lich atrophisch. Operation der linken Seite. 31. December 1889. 
Mit Langenbeck’schem Resectionsschnitt wird die Kapsel ausgiebig 
eröffnet und dann die am grossen Trochanter inserirenden Muskel¬ 
ansätze subperiostal und mit einer dünnen Knorpelschichte abgetrennt. 


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Max Wagner. 


Der Schenkelkopf wird in die Wunde luxirt und das Ligamentum 
teres mit der Scheere abgetragen. Im Grunde der Wunde fühlt man 
die kleine dreieckige Pfanne, die vollkommen mit hypertrophischem 
Bindegewebe erfüllt ist. Der hintere und untere Rand der Pfanne 
wird bogenförmig Umschnitten und der Pfannengrund mit dem Ele- 
vatorium nach oben abgehebelt. Der Versuch, den Kopf in das 
Niveau der Pfanne herabzuziehen, gelingt nicht vollständig, da «die 
sehr stark verkürzten Weichtheile an der Vorderseite des Gelenks 
noch Widerstand leisten. Nach Tenotomie der Fascia lata unter¬ 
halb der Spina anterior inferior wird der Kopf in die genügend 
vertiefte Pfanne reponirt. Der Pfannenlappen wird wiederum über 
den Schenkelkopf geklappt und mit den Muskelansätzen vom 
Trochanter vernäht. Drainage des Gelenks. Das Bein wird in Ab- 
duction im Gipsverband fixirt. In den ersten Tagen keine Temperatur¬ 
steigerungen. 

Am 4. Januar 1890. Operation der rechten Seite. Dieselbe 
wird genau wie auf der anderen Seite vorgenommen und dann 
beide Beine in Abduction mit Heftpflastergewichtszug extrahirt. 

Drei Tage nach der zweiten Operation bekam Patient Influenza, 
die gerade um diese Zeit in Wtirzburg ihren Höhepunkt erreicht 
hatte. Infolge dessen fanden sich vom 7.—11. Januar fortwährend 
Temperaturen von 38,5®—39,5®, welche veranlassten, die nahezu 
vollständig geschlossenen Wunden wieder zu öffnen. Es ergibt sich 
keine Infiltration der Theile, im Gegentheil sind die Wunden rein 
und in der Tiefe gut granulirt. Am 12. Januar steigt die Tem¬ 
peratur über 40®, es ergeben sich die Symptome einer doppelseitigen 
Pneumonie, welcher Patient am 14. Januar 1890 erlag. 

Aus der Section heben wir hervor, dass die Wunden vollkommen 
intact waren, dass dagegen sich die von Ribbert beschriebene typische 
Influenzapneumonie mit Bildung zahlreicher Knötchen in der Lunge 
vorfand. Ausserdem war in der linken Niere noch ein kleiner Heerd 
vorhanden. Die bacteriologische Untersuchung ergab das Vorhanden¬ 
sein von Streptokokken. Es unterliegt demnach wohl keinem 
Zweifel, dass der Tod des Kindes durch die schwere Influenza er¬ 
folgte. 

An dem nachher in toto der Leiche entnommenen Präparate 
ergibt sich folgendes: 

Die beiden Schenkelköpfe stehen sehr fest in ihrer 
neuen Pfanne und es bedarf einer gewissen Anstrengung, um die- 


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Die Coxa vara. 


321 


selben heraus zu luxiren. Die Scbenkelköpfe selbst haben dieselben 
Gonfigiurationeu, die sie bei der Operation zeigten, bewahrt. Der 
Knorpeltiberzug derselben ist auf der linken Seite yollkommen intact, 
auf der rechten Seite an zwei Stellen etwas usurirt und schimmert 
hier der Knochen durch. Am grossen Trochanter präsentirt sich da, 
wo die Muskelansätze abgetragen sind, eine granulirende Fläche. 

Die neue Pfanne ist rundlich, sehr gross und tief, 
sie nimmt das ganze erste Glied des Daumens bequem auf. Sie ist 
bis auf eine etwa kirschkemgrosse Stelle im Grunde — entsprechend 
der Ansatzstelle des Ligamentum teres — mit Knorpel tiberzogen. 
An dem Defect tritt granulirender Knochen zu Tage. Die Reposi¬ 
tion des Kopfes gelingt sehr leicht. Die Bewegungen im linken 
Gelenke gehen noch nicht ganz frei vor sich, weil durch eine noch 
vorhandene Deformirung des Schenkelkopfes und Schenkelhalses die 
Hemmung zu frtihe eintritt. 

Um die anatomischen Details kennen zu lernen, wird die eine 
Seite sorgfältig präparirt. Nach Wegnahme der Haut, welche in 
einer Ausdehnung von 6 cm von dem Schnitte getroffen ist, präsentirt 
sich der Glutaeus maximus. Er ist genau in seinem Faserverlauf, 
zwischen vorderem und mittlerem Drittel durchtrennt. Schlägt man 
diesen Muskel zurtick, so ist unter ihm der Glutaeus medius zwischen 
mittlerem und hinterem Drittel ebenfalls in seinem Faserverlauf ge¬ 
troffen. Unter diesem hinwiederum ist der Glutaeus minimus quer 
durchschnitten. Die Incisionswunde reicht in der Tiefe bis auf 2,5 cm 
an den Nervus ischiadicus heran. 

Legt man die Glutäen zurtick, so tibersieht man das Hüft¬ 
gelenk. Der Kopf des Femur steht in der Pfanne und ist tiberdacht von 
dem Pfannen- und Trochantermuskellappen. Klappt man diese beiden 
auseinander, so sieht man, dass der Schenkelkopf zu zwei Dritteln 
die Pfanne ausftillt, welche er bei keiner Bewegung verlässt. Der 
Trochantermuskellappen enthält, wie durch die Präparation ersicht¬ 
lich wird, die Ansätze des Glutaeus medius und minimus, des Pyri- 
formis, der beiden Gemelli, des Obturator internus und des Qua- 
dratus femoris. Das obere Femurende wird nun abgesägt, der Grund 
der Wundhöhle zeigt sich dann allenthalben von der Gelenkkapsel 
gebildet, die nirgends Defecte zeigt. 

Auffallend bei der Betrachtung dieser Krankengeschichte ist, 
welch geringer Werth damals noch dem Befunde „einer Deformirung 
des Schenkelkopfes und Schenkelhalses* beigelegt wurde. An der 


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Max Wagner. 


Hand der folgenden Abbildungen lasse ich eine eingehende Beschrei¬ 
bung dieses Präparates folgen. Zum Zwecke einer Vergleichung 
habe ich das Präparat der rechten Seite mit abgebildet. 

Fig. 5. 

1 

Der Schenkelhalsneigungswinkel beträgt links 105®, rechts 140® 

„ Richtungswinkel „ „ 15®, , 50® 

Der linke Schenkelhals ist von seinem Ursprung ab gleich- 
massig nach abwärts verbogen, der Schenkelkopf ist beträchtlich 
verkümmert und in der Epiphysenlinie nach abwärts gerutscht. 

Fig. 7. 

Betrachten wir die beiden Knochen von oben, so sehen wir 
den linken Schenkelhals nach hinten abgebogen, so dass der Tro¬ 
chanter im Gegensatz zur rechten Seite erheblich über dem Niveau 
der Epiphysenlinie nach hinten vorspringt. Die Verbiegung hat, wie 
deutlich zu sehen ist, erst in der äusseren Hälfte des Halses statt¬ 
gefunden. Eine Annäherung des Trochanter major zur Epiphysen¬ 
linie, also eine Verkürzung des Schenkelhalses, hat nicht stattgefunden. 
Da der links schärfer vorspringende Trochanter eine eigenartige Stellung 
nach aussen und hinten eingenommen hat, so ist eher eine Ver- 


Fig. 6. 




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Die Coxa vara. 


323 


grösserung dieses Abstandes nachzuweisen. Die Länge des 
Halses hat trotz der Verbiegung fast um cm gegen¬ 
über der normalen Seite zugenommen. 


Fig. 8. Fig. 9. 



Bei einer Vergleichung der Rückansicht der beiden oberen 
Femurenden fällt sofort die veränderte Stellung des Trochanter minor 
zum Trochanter major auf. Während der letztere auf der normalen 
Seite schräg nach aussen und oben vom Trochanter minor steht, ist 
er auf dem vorliegenden Coxa vara-Präparat fast gerade über den¬ 
selben verschoben worden. Ich sage: verschoben, denn man hat 
sofort bei einer vergleichenden Betrachtung den Eindruck, als hätte 
von der Seite her ein Druck gewirkt, der die Trochanterpartie nach 
hinten und innen gepresst und dabei noch den Schenkelhals in seiner 
äusseren Hälfte mit nach hinten verbogen hat; für diese Annahme 
spricht auch der Umstand, dass die äussere Seite der Trochanter¬ 
gegend geradezu eine viereckige plattgedrückte Fläche bildet, die 
nach unten in den Schaft übergeht. Die beiden schmalen und spitzen 
Trochanteren springen mit der Linea intertrochanterica wie eine 
Leiste vor. Der sonst runde Schenkelschaft ruft ebenfalls den Ein¬ 
druck hervor, als wäre er von der Seite her flachgedrückt worden,* 
derart, dass die Linea aspera auf einer nunmehr entstandenen hin¬ 
teren Kante verläuft. Diese Flachlegung des Schaftes erfolgt bis auf 
eine Strecke von 10 cm unterhalb des Trochanter minor, von da ab 
geht der Schaft wieder unter leichter Drehung nach vorn in seine 
normale Rundung über. 

Ein zweites Präparat stammt von 

Fall 2. Ella I., 10 Jahre, aus Lahr. Doppelseitige angeborene 
Hüftluxation. Starke Lordose. 


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324 


Max Wagner. 


28. October 1893. Operation der linken Seite: Subcutane 
Durchschneidung der Musculatur am Schambein, an der Spina ant. 
sup. und am Tuber iachii. Typische Operation. Ligamentum teres 
fehlt. Die vorhandene Pfanne lässt sich gut erweitern. Reposition 
noch nicht möglich. Die Pfanne wird darum mehr nach oben ver¬ 
legt durch Entfernen von Knochensubstanz vom oberen Pfannen- 


Fig. 10. 



rande. Reposition gelingt jetzt gut. Tamponade mit Jodoformgaze. 
Stehbett. 

29. October: Tagsüber ist Patientin gänzlich apathisch. Rectum- 
teraperatur 41,3^’. 

30. October: Vormittags 10 Uhr Exitus. 

Das gewonnene Präparat zeigt eine deutliche Abwärtsbiegung 
des Schenkelhalses. Der Neigungswinkel beträgt 100®. Der Epi¬ 
physen- und Kopfknorpel fehlt. 

Von oben gesehen, verläuft der Schenkelhals zunächst ganz 
gerade und ist erst in seinem äusseren Drittel nach hinten verbogen. 
Auch hier muss wieder ein seitlicher Druck stattgefunden haben, 
denn die äussere Seite des Trochanter major ist ganz flach und dieser 
selbst nach hinten und innen gedrückt worden. 

Dadurch ist er noch mehr wie im vorhergehenden Falle senk¬ 
recht über den Trochanter minor getreten; der letztere springt scharf 
vor; beide sind auffallend spitz; die Linea intertrochanterica ist jedoch 
weniger scharf ausgebildet. Der Bogen, den die hintere Schenkel¬ 
halsseite bildet, ist bedeutend flacher wie bei dem vorigen Präparat. 
Der Schenkelhals ist gegen andere Schenkelhälse gleichen Alters 
entschieden nicht verkleinert. Auch hier zeigt das viel kürzer als 
im vorigen Falle erhaltene Stück des Schaftes in seinem Durch- 


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Die Coxa Tara. 


325 


schnitt eine erhebliche Flachlegung und soweit die Linea aspera 
sichtbar ist, verläuft sie auch hier auf der hinteren Kante des Femur. 

Ein dritter Fall von Schenkelhalsverbiegung bei angeborener 
Hüftverrenkung kann die beiden vorhergehenden Beobachtungen ver¬ 
vollständigen. 

Fall 3. Else S., IV* Jahre, aus Zweibrücken. Linksseitige 
angeborne Hüftluxation. 

20. October 1893 Operation: Typische Operation ohne Muskel- 
durchschneidungen. Flache Pfanne lässt sich gut erweitern. Exstir¬ 
pation des Ligamentum teres. Schenkelkopf eigenthümlich nach 
vom verbogen. Reposition leicht. Kopf sitzt fest in der neuen 
Pfanne. Tamponade mit Jodoformgaze. Stehbett. 

23. October: Abendtemperatur 39®. Deshalb am 24. October 
Verbandwechsel. Wunde sieht tadellos aus. Tamponade mit 
steriler Oaze. 

Auftreten von acutem Magen- und Darmkatarrh, dem das Kind 
am 30. October erliegt. 

Das durch die Section gewonnene Präparat sehen wir in den 
folgenden Abbildungen. 

Fig. 12. 

Fig. 13. 

s* 


Der Schenkelhals ist in toto geneigt. Der Neigungswinkel be¬ 
trägt 115®. Der Knorpelüberzug fehlt vollständig. 

Man sieht auch hier das Herumbiegen des Trochanter major, 
wenn auch nicht so ausgesprochen, demgemäss ist auch der Tro¬ 
chanter major noch nicht so steil über den Trochanter minor ge¬ 
treten. 

Wenn in der Krankengeschichte steht: „Der Schenkelkopf 
eigenthümlich nach vorne gebogen“, so müssen wir das nach den 
heutigen Kenntnissen der Coxa vara dahin umdrehen, dass wir sagen: 
Der Schenkelhals ist eigenthümlich nach hinten verbogen. 




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Max Wagner. 


Der Trochanter major ist nicht so spitz und scharf her?or- 
tretend, wie an den beiden vorigen Präparaten; dagegen lässt sich 
sehr leicht die Flachlegung des Schaftes feststellen. 

Vergleicht man nun die Ergebnisse der Untersuchungen dieser 
3 Fälle miteinander, so lässt sich als allen Präparaten gemeinsam 
Folgendes feststellen: Der Schenkelhals ist schon von seinem Ur¬ 
sprung am Trochanter ab gleichmässig nach abwärts gebogen, ohne 
in seinem Verlauf noch eine besondere Knickung nach abwärts .zu 
erleiden; dagegen hat eine Verbiegung desselben nach hinten statt¬ 
gefunden, wobei man den Eindruck hat, dass nicht so sehr der Hals 
selbst nach hinten verbogen sei, als vielmehr die Partie des grossen 
Trochanter, welche, einem seitlichen Drucke nachgebend, nach hinten 
gedreht worden ist, derart, dass derselbe mehr oder weniger steil über 
dem kleinen Trochanter zu stehen kommt und dabei schmäler und spitzer 
wird. Man hat unwillkürlich den Eindruck, als hätte irgend eine Ge¬ 
walt kräftig von der Seite her gegen den Trochanter major gedrückt. 
Thatsächlich sieht man eine Abflachung der Aussenfläche desselben, 
besonders ins Auge fallend im Falle 1. Während sonst der Ueber- 
gang von der Vorderfläche zur Seitenfläche des grossen Trochanter 
eine sanfte Rundung bildet, sind diese beiden Flächen hier fast recht¬ 
winklig kantig gegen einander abgebogen, die Aussenfläche ist völlig 
platt gedrückt. Indem nun der Trochanter major weggedrückt wurde, 
wurde auch der Schenkelschaft von der Seite flachgedrückt, so dass 
die Linea aspera auf der nunmehr nach rückwärts sehenden Kante 
verläuft; doch ist dies nur in der oberen Hälfte des Schaftes der 
Fall, denn nach unten wird der Schaft nach einer leichten Drehung 
wieder im Durchschnitt rund, wie dies an dem ersten Präparat mit 
seinem lang erhaltenen Femur gut zu sehen ist. 

Der Schenkelhals selbst hat an Länge keine Einbusse erlitten, 
wenigstens ist dies im Falle 1, wo die Gegenseite zum Vergleiche 
herangezogen werden kann, mit Sicherheit nachzuweisen, eher ist 
eine kleine Verlängerung festzustellen; in den übrigen Fällen dürfte 
ebenfalls kaum eine Verkürzung des Halses nachzuweisen sein. 

Im Falle Pfister bemerken wir auf der Seite der Schenkelhals¬ 
verbiegung eine auffallend starke Verkümmerung der Kopfepiphyse. 
In den anderen Fällen ist die Epiphyse leider nicht vorhanden. Doch 
ist das Vorhandensein einer stärkeren Atrophie des Kopfes in solchen 
Fällen sehr wahrscheinlich und erklärlich. 

Wie wir sehen, ist diese bisher noch nicht so eingehend er- 


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Die Coxa vara. 


327 


forschte und der angeborenen Hüftverrenkung eigenthümliche Form 
von Coxa vara in einigen Punkten verschieden von der Coxa vara im 
Kocher*schen Sinne. Sie wird demnach als eine (vielleicht gar nicht 
so seltene) Begleiterscheinung der angeborenen Hüftverrenkung an¬ 
gesehen und mit ihr in ursächlichen Zusammenhang gebracht werden 
müssen. 

Ich glaube nun, dass der von mir als Ursache der Rückwärts¬ 
biegung des Trochanter major angenommene seitliche Druck der 
gleiche ist, wie der Urheber der Hüftverrenkung, also der intrauterine 
Druck infolge fehlenden Fruchtwassers. Demnach ist auch diese der 
angebomen Hüftverrenkung eigenthümliche Form der Schenkelhals¬ 
verbiegung als angeboren anzusehen. Wenn unter den vorhandenen 
von angeborener Hüftverrenkung genommenen Präparaten ein solch 
hoher Procentsatz von gleichzeitig bestehender Schenkelhalsverbiegung 
verbunden mit Rückwärtsbiegung des Trochanter major gefunden 
wurde, wenn man ferner in Betracht zieht, dass in der Hoffa’sehen 
Klinik bisher etwa 10 Fälle von eingerenkten Hüften wegen nachträg¬ 
lich sich kundgebender Coxa vara einer entsprechenden Behandlung 
unterzogen werden mussten, so ist wohl anzunehmen, dass die be¬ 
schriebene Deformität weit häufiger als Begleiterscheinung der an¬ 
geborenen Hüftgelenksverrenkung anzutrefifen ist, als bisher ange¬ 
nommen und berichtet wurde. 

Der geschilderte Befund erlaubt vielleicht auch einen Rück¬ 
schluss auf die Behandlung derartiger Fälle von angeborner Hüft¬ 
verrenkung. Würde man nämlich versuchen, das Bein nach erfolgter 
Einrenkung in starker Abductionsstellung und Aussendrehung ein¬ 
zugipsen, so dürfte man in hochgradigen Fällen schon aus anatomi¬ 
schen Gründen auf Widerstand stossen, andererseits würde bei der 
Beibehaltung der Aussendrehung der infolge der bestehenden Atrophie 
mit einer kleinen Gelenkfiäche versehene Kopf leicht nach vorne aus 
der Pfanne springen und zudem würde der fehlerhaften Stellung in 
keiner Weise entgegengearbeitet. Aus diesen Gründen muss sich 
das Vorgehen Hoffa's, eingerenkte Hüften in mässiger Abduction 
und leichter Innendrehung des Beines einzugipsen, gerade für der¬ 
artige Fälle ganz besonders eignen. 

Die sich stark anspannenden Adductoren müssen, falls sie er¬ 
heblichen Widerstand leisten, subcutan oder offen durchschnitten 
werden. Die nach der Einrenkung sich geltend machende Coxa vara, 
wie sie nunmehr mit Fug und Recht genannt werden kann, bedarf 

Zeitschrift für orthop&dlsche Chirurgie, vni. Band. 22 


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Max Wagner. 


natürlich einer entsprechenden Behandlung nach den im ersten 
Theile dieser Arbeit angeführten Grundsätzen. 

Eine derartige Coxa vara in Begleitung einer angeborenen 
Hüftverrenkung nach erfolgter Einrenkung derselben zeigt das fol¬ 
gende Röntgenbild. 


Pig. 14. 



Die Krankengeschichte ist ganz kurz folgende: 

Gertrud E., 3 Jahre alt. Linksseitige angeborene Hüftverren¬ 
kung. Reposition am 24. Juli 1899. Dieselbe gelingt leicht. Gips¬ 
verband bis ans Knie in massiger Abduction und starker Innen¬ 
rotation. 

6. September. Gipsverband gewechselt. Der Kopf steht gut. 

20. October. Verband gewechselt. Der Kopf steht gut. 

Nach 4 Wochen wird der Verband entfernt, das Kind bleibt 
ohne Verband, Massage und Hebungen: Abduction, Innenrotation, 
Strecken der kranken Beckenseite im Liegen und Stehen, Heben der 
gesunden Beckenseite bei Stand auf dem eingerenkten Beine. 

Der Erfolg ist nach Verlauf von 6 Wochen ein sehr zufrieden¬ 
stellender. Der Gang ist recht gut und hat sich nach eingezogener 


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Die Coxa vara. 


329 


Erkundigung weiterhin bis zur vollsten Zufriedenheit der Eltern ge¬ 
bessert. 

Gewissermassen einen Uebergang von der unblutigen zur blu¬ 
tigen Behandlung bildet die Durchschneidung der Adductorensehnen, 
falls dieselben erheblich geschrumpft sind und infolge ihrer Con- 
tracturen einem nennenswerthen Auseinanderspreizen der Beine 
hinderlich sind. Dieser Eingriff wurde mehrfach mit befriedigendem 
Erfolge in der Hof falschen Klinik gemacht. Die Tenotomie wurde 
subcutan ausgeführt und die Beine in stärkster Abduction, Streck¬ 
steilung und Mittelstellung zwischen Innen- und Aussenrotation ein¬ 
schliesslich des Beckens mit einer Querschiene eingegipst. Der 
Verband blieb meist 4—6 Wochen liegen, worauf energische Mas¬ 
sage, active und passive Gymnastik folgte. 

Besonders in dem folgenden Falle lieferte die Tenotomie der 
Adductoren ein ganz ausgezeichnetes Ergebniss. 

Hauptmann . . . r hat als Kind an Rhachitis gelitten, Spuren 
derselben sind noch heute nachweisbar. Zum ersten Male bemerkte 
der Patient beim Turnen in der Schule, dass er Spreizbewegungen 
nicht gut ausführen konnte, jedenfalls nicht so gut wie seine Mit¬ 
schüler. Als Fähnrich machte ihm das Reiten bedeutend stärkere 
Beschwerden als Anderen. Beim Stehen und Marschiren zeigten sich 
nie Schmerzen. Der Gang war unbeeinflusst. Erst als Hauptmanu 
verspürte der Patient eine plötzliche Zunahme der Schmerzen bei 
längerem Reiten, die sich dermassen steigerten, dass das Reiten all¬ 
mählich unmöglich wurde, besonders auf breiten Pferden. 

Kräftig gebauter, muskulöser Herr. Beide Beine stehen in 
leichter Aussenrotation, beide Trochanteren stehen etwa 2 cm höher 
als normal. Die Abduction ist nur in geringem Maasse möglich, 
dabei spannen sich die Adductoren straff an. 

Coxa vara rhachitica (Fig. 15). In Narkose werden rechts und 
links die Adductoren subcutan durchschnitten. Auf dem Schede- 
schen Strecktisch werden beide Beine in grösstmöglicher Abduction 
stark extendirt. In dieser Stellung wird ein Gipsverband um das 
Becken und beide Beine hinab bis zu den Zehen angelegt, wobei 
die Beine möglichst über die Mittelstellung hinaus nach innen rotirt 
werden. 

Der Verband bleibt fast 6 Wochen. Täglich zweimalige Mas¬ 
sage und Hebungen. Sobald der Patient wieder ordentlich gehen 
konnte, schlossen sich Hebungen an den Pendelapparaten an. Der 


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330 


Max Wagner. 


Patient konnte schliesslich seine Beine auch activ wieder so weit 
spreizen wie der normale Mensch. Der Patient hat die letzten, 
grossen Manöver mitgemacht und ist dabei täglich 16—19 Stunden 
ohne jede Beschwerde geritten. 


Fig. 15. 



Wie ich bereits im ersten Theile dieser Arbeit berichtete, hat 
sich in denjenigen Fällen von Coxa vara, die längerer Massage- und 
gymnastischer Behandlung trotzten, die subtrochantere Osteotomie 
besonders gut bewährt, nachdem sich der Versuch, das bestehende 
Leiden durch eine Osteotomie im Schenkelhälse zu heilen, weniger 
erfolgreich erwiesen hatte, wie die folgende Krankengeschichte zeigt. 

Joseph L., 5^/2 Jahre alt, Schlossermeisterssohn aus Ch. Ein¬ 
tritt 5. October 1896. Diagnose: Coxa vara bilater. rhachit. Gesund 
geboren, mit 4^/4 Jahren laufen gelernt. Mit */4 Jahren immer 
krank gewesen, unruhig, viel Hitze, Durst, häufiges Uriniren, immer 
gesessen. Dentition sehr schwer. Status praesens: Kräftig gebaut, 
Drüsen geschwollen. Adenoide Wucherungen, Mandeln hyper¬ 
trophisch. Ohrenfluss, besonders links. Der Trochanter major steht 
beiderseits an anomaler Stelle. Die linke Spina ant. sup. steht 


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Die Coxa vara. 


331 


2 cm höher als die rechte. Stellt man das Becken gerade, so be¬ 
trägt die Entfernung von der Spina ant. sup. bis zum Malleolus 
internus links 43 cm, rechts 41 cm. Die Oberschenkelknochen sind 
stark rhachitisch verkrümmt. Die Beine sind im Hüftgelenk um 90 ® 

Fig. 16. 



nach aussen rotirt und stark adducirt, so dass beim Auftreten das 
eine Bein vor das andere gesetzt wird. Beim Sitzen werden die 
Oberschenkel über einander gekreuzt, die Kniee rechtwinklig gestellt. 

16. November 1896 Operation. Ca. 2 cm unterhalb der Spina 
ant. sup. dextra beginnend wird ein 4 cm langer Längsschnitt nach 
unten geführt. Der Muse, glutaeus medius nach oben geschoben, eine 
starke quer verlaufende Vene nach Abklemmung durchschnitten. 
Extrakapsulär hart am Trochanter aus dem Schenkelhals ein Keil 
herausgemeisselt mit der Basis nach vorn und der Kante nach hinten. 
Tamponade, Wundverband und seitliche Schiene. Bein in Adduction 
und Innenrotation. 7. December 1896 Operation der linken Hüfte 
in gleicher Weise wie an der rechten Hüfte. Qipsverband in der¬ 
selben Stellung. Das rechte Bein steht gut. Die Beweglichkeit 
der Hüften war in den ersten Monaten nach der Operation eine 
geringe; sie hat sich jedoch im Laufe der Jahre wesentlich gebessert. 


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Max Wagner. 


Die hier ausgefUhrte Operation im Schenkelhälse lieferte zwar 
bezüglich der Stellung ein günstiges Ergebniss, doch war die Be¬ 
weglichkeit in den Hüften eine äusserst geringe. 

Dieser Umstand bewog Hoffa, in den späteren Fällen die 
subtrochantere Osteotomie auszuführen. 

Alsberg berichtete bereits über einen Fall, in dem sich diese 
Operation ausgezeichnet bewährt hatte, ein gleich guter Erfolg wurde 
in den beiden folgenden Fällen erzielt. 

E. B. aus W., 10 Jahre. Aufgenommen 27. December 1898. 
Coxa vara sin. Eltern gesund, zwei Schwestern der Mutter an 
Phthise gestorben. Im Alter von ca. 3 Jahren fiel Patient öfter als 
andere Kinder. Jedoch ohne erhebliche Schmerzen zu spüren. Bis zu 
dieser Zeit ging Patient ganz gut, dann stellte sich langsam Hinken 
oin. Ein Arzt, der consultirt wurde, stellte keine genaue Diagnose 
und sagte, dass das Leiden von selbst ausheilen würde; ein zweiter 
Arzt, der bald darauf befragt wurde, stellte Luxation fest und 
meinte, es sei schon alles verwachsen und es sei nichts mehr zu 
thun. Das Hinken nahm immer mehr an Stärke zu, die Verkürzung 
des Beines wurde durch hohe Sohle ausgeglichen, üeber Schmerzen 
hat Patient angeblich nie geklagt. Er konnte springen und laufen 
wie seine Altersgenossen. Patient war scrophulös und die Drüsen 
am Halse waren beiderseits geschwollen, die Schwellungen gingen 
aber bald zurück« Bis auf Purpura hat Patient als Kind keine 
Krankheiten sonst durchgemacht. 

Befund: Ein leidlich wohl aussehender Knabe. Knochenbau 
ziemlich gut entwickelt. Musculatur schwächlich. Der linke Ober¬ 
schenkel und auch der Unterschenkel etwas atrophisch. 10 cm ober¬ 
halb der Patella Umfangsunterschied 1 cm. Grösster Wadenumfang 
links 25 ^/ 2 , rechts 26^2 cm. Die linke Patella steht 4 cm höher als 
die rechte bei gleich hochgestellten Spinen. Dementsprechend steht 
der linke Fuss 4 cm höher als der rechte. Liegt der Knabe glatt 
auf dem Rücken, so steht der linke Trochanter höher und weiter 
nach aussen heraus als der rechte. Dem Aussenstehen des Trochanter 
entspricht bei der ruhigen Lage eine deutliche Vorwölbung der 
ganzen Trochantergegend links. Der linke Trochanter ist auch 
voluminöser als der rechte. Besonders deutlich tritt diese Vor¬ 
wölbung beim Gehen in Erscheinung. Der Trochanter links steht 
4 cm oberhalb der Roser-N^Iatonischen Linie. Hinter dem linken 
Trochanter ist eine deutliche Grube ausgeprägt, die sich beim Gehen 


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Die Coxa vara. 


333 


noch mehr vertieft. Der Feraurkopf ist nicht fühlbar. Bei ruhiger 
Lage steht die linke Crista ilei um etwa IV« cm höher als rechts. 
Dem entspricht der Verlauf der linken Glutealfalte. Auch die Rima 
ani verläuft schräg von rechts oben nach links unten. Maasse: vom 
Trochanter zum Malleolus externus links 68 ^/ 2 , rechts 68^/2 cm; von 
der Spina bis zum Malleolus internus links 68 ^/ 2 , rechts 72V 2 cm; 
von der Spina bis zum oberen Patellarrand links 34, rechts 38 cm. 


Figr. 17. 



Das linke Bein steht in deutlicher Adductiönscontractur. Abduction 
unmöglich, bei Abductionsversuchen folgt das Becken; Schmerzen 
entstehen dabei nicht. Flexion rechts wie links gleichraässig aus¬ 
führbar. Extension beschränkt. Zum Gehen wird links nur die 
Fussspitze aufgesetzt, die Ferse etwa 4 cm erhoben. Beim Gehen 
bemerkt man deutlich ein Vor- und Rückwärtsbewegen des linken 
Trochanters. Die Wirbelsäule verschiebt sich beim Gehen im Lenden- 
theil nach rechts, während der Oberkörper etwas nach links geneigt 
wd. Auch beim Stehen erkennt man eine leicht rechtsconvexe 
Lendenskoliose. Die Linea alba erscheint etwas nach rechts aus¬ 
gebuchtet. 


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334 


Max Wagner. 


Zum Stehen wird der linke Oberschenkel etwas flectirt und 
nach aussen rotirt gehalten. Die linke Inguinalfalte ist stark ver¬ 
tieft. Im Kniegelenk wird ein Winkel von etwa 145 ® gebildet. 
Dem entspricht der grössere Abstand der Ferse vom Boden: 7 cm. 
Der compensatorische Spitzfuss lässt sich activ und passiv bis zum 
rechten Winkel ausgleichen. Bei Bewegung ist Crepitation nicht zu 
hören. Flectirt man das linke Bein in Rückenlage bis zum rechten 


Fig. 18. 



Winkel, so stellt sich der linke Trochanter auf die Unterlage auf. 
Eine Verschiebung des Femur am Darmbein ist nicht ausführbar. 
Stellt sich der Patient auf das linke Bein und hebt er das rechte 
Bein mit gebeugtem Knie, so macht sich deutlich das Trendelen- 
burg'sche Phänomen geltend. 

Wie das Röntgenbild vor der Aufnahme zeigt, bestand bei dem 
Knaben eine hochgradige Abbiegung des Schenkelhalses im Sinne 
der Coxa vara. 

4. Januar 1899 Operation. Osteotomia subtrochanterica leicht 
schief von aussen unten nach innen oben. Gipsverband unter Exten¬ 
sion auf dem Schedetisch in starker Abduction im Becken und Bein. 


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Die Coxa vara. 


335 


11. Januar. Anlegen des inzwischen gearbeiteten Schienen¬ 
hülsenapparates mit Beckengürtel. 

Das Röntgenbild (Fig. 17) zeigt den Erfolg der Operation bezüg¬ 
lich der Stellung des Beines nach der Operation, während Patient in dem 
Schienenhülsenapparat umherging. Nach 2 Monaten wird der Apparat 
fortgelassen. Patient geht nunmehr auf dem in Abduction befind¬ 
lichen Beine recht gut. Der Enderfolg der Operation war ein sehr 
guter, wie auch das Röntgenbild zeigt. 

Das Trendelenburg’sche Phänomen ist nach der Operation 
fast verschwunden. Patient hat keine Beschwerden mehr; die Be¬ 
weglichkeit des Hüftgelenks ist gut. Die volle Verkürzung beträgt 
noch 2 cm. Die Eltern des Patienten sind jetzt, 1 Jahr nach der 
Operation, mit dem Ergebniss derselben ausserordentlich zufrieden. 

Else Schm, aus Mainz, 6 Jahre alt, aufgenommen in die 
Anstalt am 15. Juni 1898. 

Anamnese: Das Kind soll nach Angabe der Eltern immer 
gesund gewesen sein. Vor 1^2 Jahren wollen die Eltern bemerkt 
haben, dass es ein wenig mit dem rechten Bein hinke. Es wurde 
zunächst nicht weiter beachtet, doch zogen die Eltern, als sich das 
Hinken immer mehr verschlimmerte, einen Arzt zu Rathe. Eine 
Diagnose wurde zunächst nicht gestellt und Ruhe und Schonung 
empfohlen. Im Januar 1898 hatte sich der Zustand der Patientin 
verschlimmert. Sie ermüdete leicht und setzte den rechten Fuss 
mehr auswärts als den linken, klagte auch hier und da über 
Schmerzen ira rechten Beine. Die Erkrankung wurde von dem 
einen Arzte für Coxitis erklärt, von anderer Seite nahm man eine 
angeborene rechtsseitige HUftgelenksverrenkung an. 

Am 15. Juni 1898 wurde die kleine Patientin zur Untersuchung 
und, wenn nöthig, gleich zur Behandlung in unsere Anstalt gebracht. 
Es ergab sich folgender Befund: Kräftiges, gesund aussehendes 
Mädchen. Innere Organe ohne besonderen Befund. Geht Patientin, 
so hinkt sie mit dem rechten Beine, auch ist dasselbe ein wenig 
dünner als das linke und erscheint bei der Betrachtung von vorn 
etwas kürzer als das andere. Die rechte Spina anterior superior 
steht etwas höher. Eine Flexionsstellung im rechten Hüftgelenk 
ist nicht vorhanden, hingegen Adductionsstellung und Aus¬ 
wärtsrotation. Die Länge des rechten Beines, gemessen von der 
Spina ant. sup. bis zum unteren Rande des Malleolus extemus, ist 
1'/* cm geringer als auf der linken Seite; dementsprechend befindet 


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336 


Max Wagner. 


sich der Trochanter major etwa IV* cm über der Roser- 
Ndlaton’schen Linie. In Rückenlage hebt Patientin das rechte 
Bein ohne Beschwerden beinahe ebenso hoch wie links; Einwärts¬ 
drehung ist behindert, sucht man das rechte Bein zu abduciren, 
geht sofort die rechte Beckenseite mit hoch und die Adductoren 
spannen sich stark an. Irgend eine Druckempfindlichkeit des 
rechten Hüftgelenkes oder Schmerzen bei Schlag auf die Fuss- 
sohle des ausgestreckten Beines besteht nicht. Sucht man das obere 
Femurende nach oben zu verschieben, so gelingt dieses nicht, auch 
ist an der Stelle, wo sich normalerweise der Schenkelkopf befindet, 
nichts Abnormes zu palpiren. Lässt man die Patientin stehen und 
die Beine spreizen, so wird es besonders in diu Augen springend, 
dass die Abduction nur mit dem linken Beine ausgeführt wird, indem 
die linke Becken hälfte tiefer tritt. 


Fig. 19. 



Röntgenaufnahme: Entsprechend dem klinischen Befund 
ergibt sich, dass der Trochanter major sich auf der rechten Seite 
mit seiner Spitze in der Höhe des Y-Knorpels befindet; der Schenkel¬ 
hals erscheint gedrungener als auf der anderen Seite; während der 


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Die Coxa Tara. 


337 


Schenkelkopf links seine normale schöne Rundung aufweist, ist der¬ 
selbe auf der kranken Seite in der Weise deformirt, dass erstens 
die Epiphysenlinie bedeutend stärker ausgesprochen ist, die sogen. 
Hof falsche Schenkelhalsspitze deutlich in die Augen springt. Der 
Kopf hat die Form eines Längsovals angenommen, ist also im Sinne 
der Schenkelhalsrichtung stark zusammengedruckt. Die Pfanne ist 
in ihrer unteren Hälfte annähernd normal. Das Pfannendach ist 
im Vergleich zur gesunden Seite verlängert und abgeflacht, so dass 
dasselbe eher nach unten convex erscheint. Der Schenkelhalswinkel 
ist verkleinert. 

Behandlung: Patientin wird 2mal täglich massirt und zwar 
besonders die atrophische Oberschenkel- und Glutealmusculatur. 
Hieran schliessen sich active und activ-passive üebungen des kranken 
Hüftgelenkes in folgender Weise: in Rückenlage wird die Patientin 
aufgefordert bei möglichster Feststellung des Beckens das rechte 
Bein activ selbst möglichst zu abduciren, wobei noch passiv nach¬ 
geholfen wird. In Seitenlage muss das Bein, während man selbst 
das Becken seitlich auf die Unterlage drückt, seitlich erhoben werden; 
darauf hebt man selbst das Bein so hoch wie möglich in Abduction 
und fordert die Patientin auf, das Bein so hoch zu halten. Ferner 
werden Spreizübungen im Stehen geübt. Hat die Patientin ihre 
Beine so weit als möglich abducirt, muss sie den Rumpf nach der 
rechten Seite überzubeugen versuchen. Zum Schluss werden noch 
Hebungen ausgeführt, welche die möglichste Senkung des Beckens 
auf der rechten Seite bezwecken: sowohl auf dem Rücken liegend, 
als auch mit dem gesunden Fuss auf einem erhöhten Bett stehend, 
muss die Patientin bei völlig gestrecktem gesunden Beine das rechte 
Bein activ hinunterdrücken, so dass der innere Knöchel des rechten, 
kranken Beins möglichst tief unter den inneren Knöchel des gesunden 
Beines zu stehen kommt. Ausserdem nimmt die Patientin noch täglich 
an den systematischen gymnastischen Hebungen im Turnsaale theil. 

Bei der Entlassung nach knapp öwöchentlicher Behandlung 
ergab sich in der Hauptsache folgendes: Der Gang der Patientin, 
desgleichen die Ausdauer im Gehen haben sich entsprechend der 
allgemeinen Kräftigung der Muskeln bedeutend gebessert. Die 
Patientin kann activ das Becken senken und leichte Abductions- 
bewegungen ausführen, auch die Drehung des Beines nach innen 
ist freier geworden, so dass der Fuss beim Gehen sich in recht 
guter Mittelstellung befindet. 


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338 


Max Wagner. 


Betrachten wir die angeführten Fälle des Näheren und prüfen 
wir sie auf den Erfolg der beschriebenen Operation hin, so kommen 
wir zu folgendem Urtheil: durch die subtrochantere Osteotomie ge- 
lingt es uns, erstens die reelle Verkürzung zu verringern, zweitens 
die Abduction in ausgiebigster Weise zu ermöglichen, drittens das 
Trendelenburg’sche Symptom nahezu vollkommen zum Schwinden 
zu bringen, indem infolge des Tiefertretens des Trochanter major 
die abducirende Componente der Zugkraft der vom Becken zum 
Trochanter verlaufenden Muskeln vergrössert wird. 

So wird es uns gelingen, in schweren Fällen von Goxa vara 
den Patienten ihr vordem unerträgliches Leiden, das zeitlebens 
ihr steter Begleiter sein wird, erträglich und beschwerdefirei 
zu gestalten. Eine sachgemässe Nachbehandlung ist natürlich, wie 
hier nachträglich nochmals hervorgehoben sei, unbedingt erforderlich, 
die Operation allein thut es nicht. 

Zum Schlüsse lasse ich ein so weit, wie es möglich war, voll¬ 
ständiges Literaturverzeichniss folgen, das Zeugniss ablegt von dem 
der Coxa vara entgegengebrachten Interesse und dem Fleisse be¬ 
sonders der deutschen Forscher. 


Literatur. 

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8. Bayer, Joseph, Zur Therapie der Coxa vara. Deutsche Zeitschr. f. Chir. 

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9. Borchard, Zur Symptomatologie und Therapie der Coxa vara. Centralbl. 

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10. B r a u e r, L., Naturhistorisch-medic. Verein Heidelberg, Sitzung vom 16. Nov. 
1897. Münch, medic. Wochenschr. 1897, S. 1489. 


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- Die Coxa vara. 


339 


11. Derselbe, Ueber Coxa vara und die sie begleitende Muskelatrophie. 

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30. Hermann, M. W., Coxa vara. Nowin y lekarskie 1897, Nr. 1 u. 3. Central¬ 

blatt f. Chir. 1897, 8. 1189. 

31. Hendrix, L., De la coxa vara. Journal med. de Bruxelles 1898, Nr. 47. 

32. Henle, Zur Therapie der Coxa vara. Verhandlungen der Deutschen Ge¬ 

sellschaft für Chirurgie 1899 (Discussion 8prengel) S. 67. 

33. Hoffa, A., Coxa vara. Lehrbuch der orthopädischen Chirurgie. 3. Aufl. 

8. 602. 

34. Derselbe, Zur Therapie der Coxa vara. Verhandlungen der Deutschen 

Gesellschaft für Chirurgie 1899 (Discussion Sprengel) 8. 63. 


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840 


Max Wagner. 


35. Derselbe, Die Osteotomie zur Behandlung von Hüftgelenksdeformitaten. 

Festschnft zum 50jäbrigen Jubiläum der physikaliscb-medicinischen Ge¬ 
sellschaft. Würzburg 1900. 

36. Hofmeister, F., Ueber die Scbenkelbalsverkrümmung. Verhandlungen 

der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie 1894, S. 94. 

37. Derselbe, Coxa vara. Eine typische Form der Schenkelhalsverbiegung. 

Beiträge zur klinischen Chirurgie Bd. 12 Heft 1. 

38. Derselbe, Zur Aetiologie der Coxa vara. Beiträge zur klinischen Chirurgie 

Bd. 13 Heft 1 S. 289. 

39. Derselbe, Ueber Coxa vara nach Röntgenaufnahmen. Verhandlungen der 

Deutschen Gesellschaft für Chirurgie 1897, S. 56 (Discussion Nasse). 

40. Derselbe, Zur Pathologie und Therapie der Coxa vara. Beiträge zur 

klinischen Chirurgie 1898, Bd. 21 S. 299—364. 

41. Derselbe, Bemerkungen zur traumatischen Coxa vara. Verhandlungen 

der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie 1899, S. 62—63. 

42. Jaboulay, Lyon medical 1890 und 1891. Province medicale 1891. 

43. Derselbe, Coxa vara et les angles d'inclinaison et de d4clinaison du col 

du femur. Lyon m^ical 1898, Nr. 13. 

44. Derselbe, La hancbe bote et son ost4o-arthrite. Gaz. h^bdom. de mdd. 

et de chir. 1899, Nr. 10. 

45. Joachimsthal, Georg, Ueber Wesen und Behandlung der Coxa vara. 

Sammlung klinischer Vorträge. Neue Folge. Nr. 215 S. 1043. 

46. Derselbe, Ueber Coxa vara traumatica infantum. Verhandlungen der 

Deutschen Gesellschaft für Chirurgie S. 652. Archiv für klin. Chirurgie 
Bd. 60 S. 71. 

47. Keetly, A case of rhachitis adolescentium. Joum. Medic. News 1888, I 

Nr. 7. 

48. Kirmisson, E., L'affaisement du col du femur sous Tinfluence du rachi- 

tisme. Revue d’orthopedie 1894, Nr. 5, 

49. Derselbe, Referat über Zehnder. Revue d’orthopedie Mai 1897. 

50. Derselbe, Nouveaux faits pour servir ä l’^tude de Tincurvation rachitique 

du col f^moral. Coxa vara d’origine congenitale. Revue d’orthopödie 
1897, Nr. 4 p. 302. 

51. Derselbe, Documents pour servir ä l’^tude de l’affaisement du col fdmoral 

(Coxa vara). Revue d’orthop4die 1898, p. 459. 

52. Derselbe, Chirurgische Krankheiten angeborenen Ursprungs. Uebersetzung 

von Deutschland er. Stuttgart 1899, F. Enke. 

53. Derselbe, Maladies des membres, Trait^s de Chirurgie, 2®edition, VIII. 

Coxa vara, p. 928. 

54. Kocher, Ueber Coxa vara, eine Berufskrankheit der Wachsthumsperiode. 

Zeitschr. f. orth. Chir. Bd. 38 Heft 6 S. 521. 

•55. Dei'selbe, Zur Coxa vara. Deutsche Zeitschr. f. Chir. Bd. 40 S. 411. 

56. Derselbe, Zusatz zu den Bemerkungen des Herrn Dr. Müller. Deutsche 

Zeitschr. f. Chir. 1896, Bd. 42 S. 508. 

57. Derselbe, Beiträge zur Kenntniss einiger praktisch wichtigen Fracturformen. 

Basel und Leipzig 1896. 


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Die Coxa vara. 


341 


58. Derselbe, Bemerkungen zur Aetiologie und Therapie der Coxa vara. Ver¬ 

handlungen der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie 1899 (Discussion 
Sprengel) S. 65, 66. 

59. König, Lehrbuch der speciellen Chirurgie. 3. Aufl. 1900. Coxa vara, Bd. 3 

S. 448—449. 

60. Kraske, P., Ueber die operative Behandlung der statischen Schenkelhals¬ 

verbiegung. Centralbl. f. Chir. 1896, Nr. 6. 

61. Kredel, L., Coxa vara congenita. Centralbl. f. Chir. 1896, Nr. 42, S. 969. 

62. Derselbe, Ueber den Zusammenhang von Trauma, Epiphysenlösung und 

Coxa vara. Deutsche Zeitschr. f. Chir. Bd. 54 Heft 1 u. 2 S. 161 ff. 

63. Kümmell, H., Die Bedeutung der Röntgen’schen Strahlen für die Chirurgie. 

Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie 1897, S. 100—116. 

64. Küster, Ueber fibröse Ostitis mit Demonstration. Verhandlungen der Deut¬ 

schen Gesellschaft für Chirurgie 1897, S. 333—341. 

65. Lauenstein, C., Bemerkungen zu dem Neigungswinkel des Schenkelhalses. 

Arch. f. klin. Chir. 1890, Bd. 40 S. 244. 

66. Derselbe, Referat über Ogston. Centralbl. f. Chir. 27. Juni 1896, S. 630. 

67. Derselbe, Demonstration zu dem Thema der Coxa vara. Biologische Ab¬ 

theilung des ärztlichen Vereins Hamburg. Sitzung vom 7. November 
1897. Münchener medic. Wochenschr. 1897, S. 1487. 

68. Derselbe, Bemerkungen zur Coxa vara traumatica. Verhandlungen der 

Deutschen Gesellschaft für Chirurgie 1899 (Discussion S p r e n g e 1) S. 64, 65. 

69. Leusser, J., Ueber Coxa vara (Schenkelhalsverbiegung). Münchener medic. 

Wochenschr. 1895, Nr. 30 u. 31. 

70. Little, E. Minrhead, Remarks on coxa vara. Brit. medic. Joum. 1898, 

Nr. 5 p. 1394. 

71. Lorenz, Adolf, Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung 

auf Grundlage von 100 operativ behandelten Fällen. Wien 1895, S. 18. 

72. Luss, Alfred, Anatomische Beiträge zur Coxa vara. Inaug.-Diss. Würz¬ 

burg 1899. 

73. Mauclaire, Bullet, de la societe anat. 1894, S. 242. 

74. Derselbe, Coxa vara; Coxa valga des scoliotiques. Bullet, med. 14. April 

1895. 

75. May dl, Carl, Coxa vara und Arthritis deformans coxae. Wiener klin. 

Rundschau 1897, Nr. 10—12. 

76. Monks, A case unusual deformity of both hipjoints. Boston medic. and 

Surg. Joum. 18. November 1886. 

77. Motta, Mario, Coxa vara (collum femoris tortum). Accad. di medic. di 

Torina 24. December 1894. 

78. Derselbe, Coxa vara e suoi rapporti colle deviazioni laterali della colonna. 

Archivio di ortopedia. Milano 1898. 

79. Mikulier, Johann, Ueber individuelle Formdifferenzen am Femur und 

an der Tibia des Menschen. Archiv für Anatomie und Physiologie. 
Anatomische Abtheilung 1878, S. 364. 

80. Mouchet, Albert et Pierre Aubion, De la Coxa vara congenitale. 

Gaz. hebdom. de medecine et de Chirurgie 1899, Nr. 41. 


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342 


Max Wagner. 


81. Müller, Ernst, üeber die Verbiegung des Schenkelhalses im Wachsthams* 

alter. Ein neues Erankheitsbild. Beiträge zur klinischen Chirurgie 1888. 
Bd. 4 S. 137. 

82. Derselbe, Zur Frage der Schenkelhalsverbiegung (Coxa vara). CentralbL 

f. Chir. 1. September 1894, Nr. 35. 

83. Derselbe, Zur Coxa vara. Entgegnung auf Prof. Kochers gleichlautenden 

Artikel im 40. Bd. dieser Zeitschrift. Deutsche Zeitschr. f. Chir. Bd. 42 
8. 505. 

84. Müller, Gustav, 3 Fälle von Coxa vara. Inaug. Diss. Kiel 1895. 

85. Müller, W., Zur Frage der operativen Behandlung der ArthritiB deformans. 

Arch. f. klin. Chir. 1894, Heft 3 u. 4. 

86. Nasse, Discussion zu Hofmeisters Erfahrungen in der operativen Be¬ 

handlung der Coxa vara. Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft für 
Chirurgie 1897, S. 60—64. 

87. N41aton, Pathologie chirurgicale Bd. 2 S. 524. 

88. Neudörfer, J., Das Genu valgum. Deutsche Zeitschr. f. Chir. Bd. 24 

S. 369. 

89. Neuschmidt, üeber Coxa vara. Inaug.*Diss. Kiel 1896. 

90. Oberst, üeber Knochenverbiegungen bei acuter Osteomyelitis. Münchener 

medic. Wochenschr. 1890, S. 231 ff. 

91. Ogston, Alex., Coxa vara. Praetitiones. April 1896, S. 347. 

92. de Quervain, De la coxa vara. Semaine m^dicale 1898, Nr. 6. 

93. Rabenau, Beiträge zur Unterscheidung geheilter intracapsulärer Schenkel¬ 

halsbrüche von Malum coxae senile. Inaug.-Diss. Giessen 1865. 

94. Reusun, Coxa vara. Medic. Weckbl. 1894, 1. 253. 

95. Richardson, Deformity of the neck of the thigh hone, simulating fractur 

with ossific. Union. Transactions of the Philadelphia. Pathol. Soc. 1857. 

96. Röser, üeber morbus exarius. Correspondenzbl. des Württemb. ärzU. 

Vereins 1843, Nr. 25. 

97. Rosenbaum, Wilhelm, Actinogramm, als diagnostisches Hilfsmittel 

bei Hüftgelenkserkrankungen. Inaug.-Diss. Erlangen 1897. 

98. Rottcr, Joseph, Ein Fall von doppelseitiger rhachitischer Verbiegung 

des Schenkelhalses. Münchener medic. Wochenschr. 12. August 1890, 
Nr. 32. 

99. Rutgers, M., Coxa vara. Nederl. Tijdschr. voor Geneeskunde 16. Februar 

1895, Nr. 7. 

100. Schanz, A. und E. Mayer. 1000 Patienten. Coxa vara. Zeitschr. f. 

orth. Chir. VIII 1. 

101. Schanz, A., Anfangsstadien der Coxa vara. Zeitschr. f. orth. Chir. VIR 1. 

102. Scharff, A., Knochenverkrümmungen nach entzündlicher Erweichung. 

Zeitschr. f. orth. Chir. Bd. 7 Heft 1. 

102. Schede, M. und Stahl, K., Zur Kenntniss der primären infectiösen 
KnochenmarksentzUndung. Mittheilungen ans der chirurgischen Abthei¬ 
lung des Berliner städtischen Krankenhauses am Friedrichshain 1878. 


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Die Coxa Tara. 


343 


104. Schede, M., Discussion zu Hofmeister’s Vortrag. Verhandlungen der 

Deutschen Gesellschaft für Chirurgie 1894. 

105. Schneider, Johann, Ein Fall von Coxa vara. Pragermedic. Wochenschr. 

1897, Nr. 39 u. 40. 

106. Schnitzler, Demonstration eines Falles von Coxa vara. K. K. Gesell¬ 

schaft der Aerzte Wiens 1894. Wiener klin. Wochenschr. 1894, Nr. 46 
S. 872. 

107. Schoemaker, J., Coxa vara. Nederl. Tijdschr. voor Geneeskunde 1897, 

Nr. 25. 

108. Schultz, Julius, Zur Casuistik der Verbiegungen des Schenkelhalses. 

Zeitschr. f. orth. Chir. Bd. 1 Heft 1. 

109. Sprengel, Ueber die traumatische Lösung der Kopfepiphyse des Femur 

und ihr Verhältniss zur Coxa vara. Verhandlungen der Deutschen Ge¬ 
sellschaft für Chirurgie 1898, S. 510. Arch. f. klin. Chir. Bd. 57 Heft 4. 

110. Derselbe, lieber einen operirten und einen nicht operirten Fall von 

Coxa vara traumatica. Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft für 
Chirurgie 1899, II S. 624 und Discussion. Arch. f. klin. Chir. Bd. 59 
Heft 4. 

111. Starke, Operative Behandlung der Coxa vara. Inaug.-Diss. Kiel 1896 

112. Stoker, Thornley, An Address on coxa vara. Brit. med. Joum. 1898, 

p. 1601. 

113. Strubel, R., Beiträge zur Casuistik der rhachitischen Schenkelhalsver¬ 

biegung. Inaug.-Diss. Heidelberg 1893. 

114. Sudeck, P., Statische Schenkelhalsverbiegung nach Trauma (Coxa vara 

traumatica). Centralbl. f. Chir. 1899, Nr. 13. 

115. Derselbe, Zur Anatomie und Aetiologie der Coxa vara adolescentium. 

Zugleich ein Beitrag zu der Lehre von dem architektonischen Bau des 
coxalen Femurendes. Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft für 
Chirurgie 1894, H S. 381. Arch. f. klin. Chir. Bd. 59 Heft 2. 

116. Tubby, A. H., Coxa vara or deflection of the neck of the femur. Brit. 

med. Joum. 1898, July 23, S. 230. 

117. Vulpius, Aus der orthopädischen Praxis 1897. 

118. Wernher, Beiträge zur Kenntniss der Krankheiten des Hüftgelenks. 

Giessen 1847. 

119. van Wijk, Historisch kritische üebersieht der statischen Schenkelhalsver¬ 

biegung (Coxa vara) und Therapie. Inaug.-Diss. Freiburg 1897. 

120. Whitmann, Royal, Observations on bending of the neck of the femur 

in adolescence. New York medic. Joum. 23. Juni 1894, Tome XXIII p. 769. 

121. Derselbe, Further observations on fracture of the neck of the femur in 

childhood with special reference to its diagnosis and to its more remote 
results. Annals of Surgery 1897, S. 673. 

122. Derselbe, Further observations on coxa vara, with particular reference 

to its aetiology and treatment. New York medica^ Joum. 21. Januar 
1899. 

Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. VIII. Band. 23 


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344 


Max Wagner. Die Coxa vara. 


123. Derselbe, A group of unusual cases. Gase II. — Cyst of the femur 

complicating bilateral coxa vara in a child. Pediatrics 1899, Bd. 7, 
Nr. 4 u. 5. 

124. Wolff, J., Das Gesetz der Transformation der Knochen. Berlin 1892. 

125. Zehn der, üeber Schenkelhalsverbiegung. Centralbl. f. Chir. 6. März 1897, 

Nr. 9. 

126. Zeiss.» Beiträge zur pathologischen Anatomie und zur Pathologie des Hüft¬ 

gelenks. Verhandlungen der Kaiserl. Leopold.-Karol.-Akademie der Natur¬ 
forscher. Breslau-Bonn 1851. 

127. Zesas, Arthritis deformans. Deutsche Zeitschr. f. Chir. XXVIl S. 586. 


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XIV. 

Aus der chirurgisch-ortliopädischen Heilanstalt 
des Prof. Dr. A. Hoffa in Würzbnrg. 

Beitrag zur Lehre und Behandlung der Arthropathia tabica 
mit besonderer Berücksichtigung des Kniegelenks. 

Von 

Dr. A. £. Ahrens, 

Specialarzt für orthopädische Chirurgie in Hamburg, ehern. Volontärarzt 

der Klinik. 

Mit 5 in den Text gedruckten Abbildungen. 

Seitdem Mitchell im Jahre 1831 und wesentlich später Charcot 
Ende der 60er Jahre als die ersten auf das Zustandekommen von 
Gelenkerkrankungen im Verlauf einer Reihe von Rückenmarkskrank¬ 
heiten aufmerksam gemacht haben, hat dieses Thema, speciell in 
Bezug auf Aetiologie und DiflFerentialdiagnose der AflFection, zu 
öfteren wissenschaftlichen Erörterungen in der medicinischen Literatur 
Veranlassung gegeben und ist vornehmlich in den letzten 12—15 Jahren 
ein Streitpunkt gewesen, über den eine Reihe von Autoren zu theil- 
weise sehr von einander differirenden Ansichten gelangt ist. Und 
zwar sind es, zumal in Deutschland, nicht nur die Internen, sondern 
weit mehr noch die Chirurgen gewesen, die bei dem beträchtlichen 
Interesse, welches die genannte AfiFection auch gerade für letztere 
bietet, sich an dem Aufbau der Lehre von der Arthropathia nervosa 
in hervorragender Weise betheiligt haben. Bei diesen Arthropathien 
auf nervöser Basis handelt es sich jedoch fast ausschliesslich um 
diejenigen, welche im Verlaufe der Tabes dorsalis, in zweiter, aber 
weit zurückstehender Linie bei der Syringomyelie und noch einigen 


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34G 


A. E. Ahrens. 


anderen Rückenmarkserkrankungen auftreten, so dass ich mich im 
folgenden auch nur mit der Arthropathia tabica befassen werde. 

Es kann und soll hier nicht meine Aufgabe sein, mich über 
die verschiedenen Theorien und Anschauungen, die für die Ent¬ 
stehungsweise und den weiteren Verlauf dieser Arthropathien auf¬ 
gestellt und verfochten, zum Theil auch schon wieder fallen gelassen 
resp. widerlegt sind, ausführlicher zu verbreiten; ich verweise in 
dieser Beziehung auf die ausgezeichneten Untersuchungen und Ar¬ 
beiten von Volkmann ^), Leyden*), Rotter^), Sonnenburg^), 
Czerny^), Kredel^), Weiszäcker^), Büdinger^), Klemm’) 
und vielen Anderen mehr, welche sich mit der Erforschung dieser 
Erkrankung näher befasst haben. Trotzdem lässt sich nicht in 
Abrede stellen, dass selbst heutzutage z. B. über die Aetiologie 
dieser Gelenkleiden eine völlige Uebereinstimmung noch immer nicht 
erzielt worden ist. Im folgenden beabsichtige ich daher nur eine 
kurze historische üebersicht über die hauptsächlichen bisher auf¬ 
gestellten und die noch bestehenden Theorien der Aetiologie der 
Arthropathia tabica im allgemeinen zu geben, den klinischen Verlauf 
derselben nebst dem anatomischen Bild in kurzen Worten zu schildern 
und ausserdem die Casuistik durch einige in der Hof falschen Klinik 
beobachtete Fälle von Arthropathia tabica genu zu vermehren, 
welche mir Herr Prof. Hoffa zur Veröffentlichung zu überlassen 
die Güte hatte und die mir die Anregung zu der vorliegenden Arbeit 
gegeben haben. Am Schlüsse werde ich auf die therapeutischen 
Bestrebungen zur Heilung dieser Gelenkentzündungen, hauptsächlich 
soweit das Kniegelenk von denselben betroffen wird, etwas ausführ¬ 
licher eingehen. 

Charcot®), der, wie bereits erwähnt, die Erkrankung zuerst 
ausführlich in klassischer Weise beschrieben hat, lässt die Arthro¬ 
pathia tabica abhängig sein von einer Affection trophischer Centren 
in den Vorderhörnern des Rückenmarks, nachdem er in einem Fall 


Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie 1886 u. 1887, 
*) Deutsche medic. Wochenschr. 1885, Nr. 50. 

3) Arch. f. kün. Chir. ßd. 36. 

*) Volkmann’s Sammlung klin. Vorträge Nr. 309. 

Die Arthropathia bei Tabes. Dissert. Tübingen 1887. 

®) Beiträge zur klin. Medicin u. Chirurgie Heft 14. Wien 1896. 

Deutsche Zeitschr. f. Chir. Bd. 39. 

®) Archives de physiologie 1868, S. 161 If. 


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Beitrag zur Lehre und Behandlung der Arthropathia tabica etc. 347 

von Omarthritis tabica Atrophie des grauen Vorderhoms derselben 
Seite in der Gegend der Halsanschwellung des Rückenmarks nach¬ 
gewiesen hatte. Dass das in der Regel nicht der Fall ist, geht aus 
der von einer Reihe von Autoren gemachten Nachprüfung dieser 
Behauptung hervor; fast durchweg fand dieselbe keine Bestätigung. 
Speciell Leyden') hat in einem genau mikroskopisch untersuchten 
Pall völlig normale Verhältnisse der betreflFenden Abschnitte des 
Rückenmarks vorgefunden. Abgesehen von allem anderen aber 
müsste dann, wenn Charcot's Ansicht wirklich zu Recht bestünde, 
die Arthropathie ja auch eine gewissermassen constante Begleit¬ 
erscheinung der Poliomyelitis anterior acuta sein, was bekanntlich 
nicht der Fall ist. 

Dieser Ansicht Charcot's trat denn auch schon sehr bald nach 
deren Bekanntwerden Volkmann entgegen und behauptete, die 
tabischen Gelenkerkrankungen seien nichts anderes als eine Art 
deformirender Gelenkentzündung, verursacht durch die infolge der 
Ataxie stattfindenden Zerrungen der Gelenkkapsel und der Bänder. 
Auch 1882 schreibt Volkmann*) noch: „Ich kann nichts besonderes 
in der Arthropathia tabica finden; bei Zusammenhang mit Rücken¬ 
markserkrankung liess sich dieselbe theils aus der zerstörten Function 
(abnorme Art der Belastung), theils aus der Inactivität, theils aus 
Combination beider erklären. “ Ich glaube nicht, dass wir diese An¬ 
sicht Volkmann's, in solcher Verallgemeinerung vorgetragen, als 
zu Recht bestehend annehmen können, denn es finden sich in der 
Literatur immerhin doch eine erkleckliche Anzahl Fälle, in denen 
die Arthropathie eine Reihe von Jahren vor dem Auftreten irgend 
welcher Anzeichen von Ataxie gewissermassen als Initialsymptom 
der Tabes auftritt, und andererseits leidet doch auch nur ein ge¬ 
ringer Procentsatz auch der hochgradigst ataktischen Tabiker an 
Arthropathien. 

In neuerer Zeit haben Rotter*) und Büdinger*) geglaubt 
die Arthropathia tabidorum als eine echte Arthritis deformans auf¬ 
fassen zu sollen; wie letzterer annimmt, verursacht durch die bei 
Tabes häufig zu beobachtende Degeneration der betreflFenden peri¬ 
pheren Nerven. Es ist mir nicht bekannt, dass sich diese Degene- 

1. c. 

») Centralbl. f. Chir. 1882, S. 174. 

3) 1. c. 

*) 1. c. 


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348 


A. E. Ahrens. 


ration als constante Begleiterscheinung bei der Arthritis deformans 
vorfindet und die Veranlassung zur Entstehung derselben bildet; ich 
habe wenigstens in der Literatur vergeblich nach positiven Angaben 
hierüber gesucht. Andererseits muss zugegeben werden, dass zwischen 
der Arthropathia tabica und der Arthritis deformans, solange erstere 
intracapsulär verläuft, in pathologisch anatomischer Hinsicht sich 
eine gewisse Aehnlichkeit findet. Dagegen lassen sich im weiteren 
Verlaufe ersterer sowohl klinisch wie anatomisch derartige Unter¬ 
schiede feststellen, dass wir, wie wir weiter unten erkennen werden, 
vollauf berechtigt sind beide Affectionen scharf von einander zu 
trennen. 

Wir sehen also, dass sich gegen alle diese Theorien so vielerlei 
Gründe anführen lassen, dass eine weitere Auirechterhaltung der¬ 
selben nicht gerechtfertigt erscheint. Auch die Ansicht Strümpei Ts 
und Anderer, die die tabischen Arthropathien für syphilitische Ge¬ 
lenkerkrankungen halten, bedarf wohl kaum einer Widerlegung. 
Schon die anamnestischen Angaben widersprechen häufig genug 
dieser Behauptung; ausserdem lässt dieselbe die nervösen nicht 
tabischen Arthropathien mit dieser Erklärung ganz unberücksichtigt 

In den letzten Jahren sind nun von Oppenheim ^), Däjerine*) 
und Anderen mehr eine Reihe von Untersuchungen der peripheren 
Nerven bei Tabikern vorgenommen worden, bei denen Genannte in 
den von Arthropathie begleiteten Tabesfällen wiederholt degenerative 
Vorgänge innerhalb der das betreflPende Gelenk versorgenden moto¬ 
rischen und sensiblen Nerven nachgewiesen haben. Auch Büdinger 
nimmt, wie wir gesehen haben, auf diese Thatsache Bezug, wenn¬ 
gleich seine hieraus gezogenen Schlussfolgerungen sich in anderer 
Richtung bewegen. Nach Däj^rine würde es sich höchst wahr¬ 
scheinlich zunächst um eine Neuritis der das Gelenk versorgenden 
vasomotorischen oder der sensiblen Nerven handeln, aus der auf 
reflectorischem Wege die Arthropathie entsteht. Dass andererseits 
die Arthropathie nicht bei jeder Tabes früher oder später auftritt, 
erklärt sich ungezwungen aus dem Umstande, dass diese Neuritis 
peripherica tabica zu den sogen, inconstanten Symptomen der Tabes ge¬ 
hört, die nur in einer relativ geringen Anzahl der Fälle auftritt, dann 
aber anscheinend stets zur Entwickelung einer Arthropathie führt 

’) Lehrbuch der Nervenkrankheiten 1898, S. 130. 

*) Vergl. Duplay et Reclus, Trait^ de Chirurgie ßd. 3 S. 395 ff., und 
D^jörine, M^decine moderne 1890. 


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Beitrag zur Lehre und Behandlung der Arthropathia tabica etc. 349 

Allerdings lassen sich auch gegen diese Erklärung Gründe anführen, 
welche Klemm^), Schneider*) und Andere neuerdings des näheren 
gewürdigt haben, auf die ich jedoch als zu weit führend hier nicht 
näher eingehen will; immerhin spricht doch so viel zu Gunsten der 
Erklärung der Arthropathie im obigen Sinne, dass sie, solange wir 
keine bessere allgemein anerkannte haben, zunächst noch als die bei 
weitem wahrscheinlichste und einleuchtendste erscheint. 

Indem ich nunmehr zum klinischen und pathologisch anato¬ 
mischen Bild der Arthropathia tabica übergehe, folge ich KredeP), 
der dasselbe folgendermassen charakterisirt: „Anscheinend spontane 
und plötzliche Entstehung, Fehlen entzündlicher Erscheinungen, 
Fieberlosigkeit und Schmerzlosigkeit, Neigung zu Gelenkergüssen 
und im späteren Verlauf zu Deformitäten, Luxationen und Schwund 
ganzer Gelenktheile, sowie endlich Bildung monströser Knochen- 
productionen in der Umgebung der betreffenden Gelenke.^ In Bezug 
hierauf haben verschiedene Autoren, z. B. Weiszäcker®) und 
Schöne*^), einer schon früher von Ball angegebenen Aufstellung 
folgend, eine leichte und eine schwere Form, andere (C har cot, 
Sonnenburg) wieder eine benigne und maligne Form der Arthro¬ 
pathie unterschieden. Für beides finde ich keine eigentliche Be¬ 
rechtigung; leichte und schwere Formen lassen sich schliesslich bei 
den meisten Krankheiten unterscheiden; die sogen, benigne Form 
kann aber jederzeit in die maligne übergehen. In den in der Lite¬ 
ratur zerstreuten Krankengeschichten sehen wir häufig, wie die 
anfangs leichte und benigne Form, sich selbst überlassen, im weiteren 
Verlauf der Tabes, bei zunehmender Ataxie und wachsender In¬ 
anspruchnahme des erkrankten aber schmerzlosen Gelenks, zur 
schweren und malignen Form wird. Zwei derartige Fälle führt 
Weiszäcker®) an. 

Auch eine Unterscheidung zwischen schnell und langsam ver¬ 
laufender Form, die von einzelnen wohl aufgestellt worden ist, kann 
ich nicht für einen fundamentalen Unterschied halten, wenngleich 
sich in der Literatur Fälle von rapid verlaufenden Arthropathien 
ganz im Beginn der Tabes finden und umgekehrt; dieselben dürften 
hauptsächlich von dem höheren oder geringeren Grad des Vorge- 

>) 1. c. 

*) üeber Gelenkerkrankungen bei Tabes. Dissert. Halle 1898. 

») 1. c. 

Zwei Fälle von Arthropathie bei etc. Dissert. Halle 1895. 


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350 


A. E. Ahrens. 


schrittenseins der peripheren Nervendegeneration abhängig sein, die 
mit dem Grade des Fortschreitens der Grunderkrankung durchaus 
nicht gleichen Schritt zu halten braucht. Berechtigter erscheint mir 
dem gegenüber eine Trennung der Arthropathien vom pathologisch 
anatomischen Standpunkt aus in eine hypertrophische und eine atro¬ 
phische Form, wie sie neuerdings Chipault') verficht. Wir sehen 
bei beiden Formen der Arthropathie in der That eine ganz bestimmte 
Regelmässigkeit, in welcher die einzelnen Gelenke erkranken; und 
zwar finden wir bei dem Hüft- und Schultergelenk fast stets die 
atrophische Form, welche das Gelenk allmählich ohne Bildung von 
neuem Material zerstört, die beim Hüftgelenk erst den Schenkelkopf, 
dann den Schenkelhals zerstört und auch beim Schaft des Femur 
nicht aufhört, so dass es in einem von Charcot*) mitgetheilten 
Fall schliesslich zu einer Längendifferenz beider Femora um 31 cm^ 
kam. Dieselbe Form der vollständigen Resorption der Epiphyse und 
häufig noch eines grossen Theils der Diaphyse, die letztere die als 
„baguette de tambour^ bezeichnete trommelschlegelähnliche Gestalt 
annehmen lässt, finden wir auch bei den übrigen nach dem atrophi* 
sehen Typus degenerirten Gelenkenden. 

Die hypertrophische Form finden wir dagegen im allgemeinen 
beim Ellenbogengelenk und vorwiegend auch beim Fussgelenk. Diese 
letztere ist es auch, die des ähnlichen anatomischen Bildes wegen 
von manchen für eine Complication mit echter Arthritis deformans 
gehalten worden ist, eine Annahme, die in Rücksicht auf das grund¬ 
verschiedene klinische Bild beider Affectionen unhaltbar erscheint. 
Eine Mittelstellung nimmt das Kniegelenk ein, das am Femur meist 
die hypertrophische, an der Tibia mehr die atrophische Form auf¬ 
zuweisen pflegt. 

Ein ausgezeichnetes Paradigma hierfür bilden die neben ab-- 
gebildeten, aus der Hof faschen Sammlung stammenden Femur und 
Tibia eines tabischen Arthritikers. Am Femur (Fig. 1 u. 2) fallt zunächst 
die völlige Zerstörung von Schenkelkopf und -Hals auf, von denen 
an ihrem ursprünglichen Orte nichts mehr vorhanden ist, dagegen 
finden sich beträchtliche Knochenmassen, welche zweifellos als Reste 
des vielleicht durch Fractur dislocirten oberen Femurendes anzu¬ 
sprechen sind, der an ihrem oberen Ende im übrigen atrophirten 


Le Dentu et Delbet, Traite de Chirurgie Bd. 3 S. 453 ff. 

2) Charcot, Lebens sur les maladies du syst. nerv. 1885, p. 403. 


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Beitrag zur Lehre und Behandlung der Arthropathia tabica etc. 351 


Diaphyse fast ringförmig aufgelagert« Besonders charakteristisch ist 
sodann die im Sinne der Hypertrophie stark degenerirte untere 
Pemurepiphyse, welche ringsherum, besonders an Hinter- und Aussen- 
seite, am wenigsten an der Vorderseite, von mächtigen neugebildeten 


Fig. 2. 



Knochenwülsten umgeben ist, die ihrerseits mit der theilweise zerstörten, 
am Rande jedoch mit Knochenneubildungen von wesentlich geringerer 
Mächtigkeit als am Femur versehenen Gelenkfläche der Tibia arti- 
culiren. Die Tibia-Diaphyse ist in toto unregelmässig verdickt und 
zeigt das typische Bild der Knochenlues. In vivo haben Femur und 
Tibia sich, den zum Theil durch gegenseitige Abschleifung neu¬ 
gebildeten Gelenkflächen zufolge, in starker Valgusstellung und 
Hyperextension befunden. 


L 


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352 


A. E. Ahrens. 


Wenn ich bei dieser Gelegenheit noch etwas näher auf das 
Bild der Arthropathia tabica des Kniegelenks eingehen darf, welch 
letzteres, äusseren Insulten am meisten ausgesetzt, auch am häufigsten 
XU erkranken pfiegt, so ist an diesem mehr noch als an den übrigen 
Gelenken der hochgradige Erguss in das Gelenk dasjenige Symptom, 
welches bei Beginn des krankhaften Processes zunächst im Mittel¬ 
punkt des Krankheitsbildes steht. Wir finden das Gelenk kugelig 
aufgetrieben, häufig bis zur Grösse eines Mannskopfes ausgedehnt, 
mit reichlichem oberflächlichem Venennetz: „Parcouru en tous sens 
par des varicositös bleuätres comme le ventre d'un enfant ascitique^, 
wie Chipault^) es schildert. Auch die weitere Umgebung des 
Knies weist häufig ausgedehnte teigige Oedeme auf. In dem Ge¬ 
lenkerguss finden sich bei weiter vorgeschrittenem Process gewöhn¬ 
lich lose oder in Ablösung begriffene Knochenpartikel, welche bei 
passiven und activen Bewegungen ein lautes, derbes Krachen im 
Gelenk vernehmbar machen lassen. Diese Bewegungen sind nun 
infolge der hochgradigen Lockerung und Auszerrung des ganzen 
Bandapparates nach allen Seiten hin ganz beträchtlich vermehrt und 
haben dem so erkrankten Gelenk zu der bekannten Bezeichnung 
desselben als „jambon de polichinelle“ verhelfen; und zwar findet sich 
diese abnorm grosse Beweglichkeit einestheils im Sinne der Extension, 
so dass das Bein beim Gehen resp. ataktischen Vorschleudem des 
Unterschenkels übergestreckt wird und einen nach vorn offenen 
Winker auf weist, der in besonders hochgradigen Fällen manchmal 
nur noch etwa 90 ® beträgt, anderentheils kann sie zur Bildung eines 
meist recht hochgradigen Genu varum oder Genu valgum führen. 
Hauptsächlich finden wir diese Typen, wie schon erwähnt und wie 
es leicht erklärlich erscheint, wenn der Tabiker noch nicht den Ge¬ 
brauch seiner Beine völlig verlernt hat, sondern das locker gewordene 
Gelenk noch längere Zeit hindurch mit seinem Körpergewicht be¬ 
lastet; während bei Nichtgebrauch der unteren Extremitäten es als 
die Regel gilt, dass das im Sinne der Hypertrophie degenerirte 
Femurende vor der atrophirten Tibia zu liegen kommt. Weitere 
Complicationen können sodann, wie beim Kniegelenk so auch bei 
den übrigen grösseren Gelenken, entstehen durch das gelegentliche 
Hinzutreten einer Spontanfractur innerhalb des Gelenkes, wie sie bei 
Tabes ja des öfteren beschrieben worden ist, ferner durch eine Art 


*) Le Dentu et Delbet, Trait4 de Chirurgie Bd. 3 S. 456. 


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Beitrag zur Lehre und Behandlung der Arthropathia tabica etc. 353 


Myositis ossificans, die sich allmählich in der Umgebung des Ge¬ 
lenkes bildet, sowie durch das vereinzelt beobachtete Abreissen der 
Ligamente des Gelenks oder beim Kniegelenk der Quadricepssehne. 
Fast immer aber ist in vorgeschrittenen Fällen eine wirkliche Dis¬ 
location der Gelenkenden, eine durch leichte passive Bewegungen 
unschwer nachweisbare echte Luxation vorhanden. Gelegentlich be¬ 
obachtet man auch wohl eine gleichzeitige oder consecutive Er¬ 
krankung des Gelenkapparates an Tuberculose, sowie häufiger, be¬ 
sonders nach operativen EingrifiFen irgend welcher Art, eine Ver¬ 
eiterung oder septische Infection des Gelenks. An den übrigen 
Gelenken findet sich mit gewissen Modificationen das gleiche klinische 
und anatomische Bild wie am Kniegelenk. 

Auffallend ist übrigens noch eine gewisse, nicht zu verkennende 
Uebereinstimmung der beiden erwähnten Formen der Arthropathia 
tabica und der Tuberculose der Gelenke; auch bei dieser finden wir 
die Coxitis tuberculosa und besonders die Omarthritis sicca meist 
als atrophische Form gegenüber der mehr hypertrophischen Form, 
dem Fungus, der übrigen Gelenke. 

Was schliesslich die Häufigkeit der Arthropathia tabica anbe- 
trifiFb, so lauten die Angaben hierüber recht verschieden. Chipault 
rechnet auf 100 Tabiker 4 — 5, Lotheissen fast 10®/o; dagegen 
fand Leimbach*) zufolge einer aus der Erb’schen Klinik gegebenen 
Zusammenstellung unter 400 Fällen von Tabes nur 7 Arthropathien 
gleich 1,75 ®/o. Bezüglich der Häufigkeit der Erkrankung der ein¬ 
zelnen Gelenke bilden bei der Tabes die Gelenke der unteren Extre¬ 
mitäten bei weitem die überwiegende Mehrzahl. In der von Chipault 
gegebenen Statistik über 207 Fälle, bei denen im ganzen 268 Ge¬ 
lenke ergriffen waren, betrafen 120 das Kniegelenk, 57 die Hüfte, 
40 das Fussgelenk — letztere Localisation hält Senator^) auf¬ 
fallenderweise für ausserordentlich selten —; die übrigen Fälle ver¬ 
theilten sich auf die Gelenke der oberen Extremitäten und die noch 
seltener ergriffenen Gelenke des Unterkiefers, des Schlüsselbeins und 
der Wirbelkörper sowie der kleineren Gelenke an Händen und 
Füssen. Diese Art der Localisation hat gleichzeitig ein differential- 
diagnostisches Interesse gegenüber der auch nicht so ganz seltenen 

*) Beiträge zur klinischen Chirurgie 1898. 

*) Vergl. Berliner klin. Wochenschr. 1898, S. 633. 

•) 1. c. 

Vergl. Berliner klin. Wochenschr. 1898, S. 633. 


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354 


A. E. Ahrens. 


Arthropathia syringomyelitica. Bei letzterer sind fast ausschliesslich 
die Gelenke der oberen Extremitäten ergriffen, hauptsächlich Schulter 
und Ellenbogen. Sind mehrere Gelenke ergriflfen, so sind es bei der 
Syringomyelie meist die Gelenke derselben Körperhälfte, während 
bei der Tabes meist das entsprechende Gelenk der anderen Körper¬ 
seite miterkrankt ist. 

Von den oben von Kredel angeführten Cardinalsymptomen 
der Arthopathie könnte nun besonders das erste auffällig erscheinen, 
nämlich das der anscheinend spontanen und plötzlichen Entstehung. 
„Anscheinend spontan“ sagt Kredel vorsichtigerweise; nämlich 
spontan eigentlich nur für den betroffenen, in seiner Sensibilität 
alterirten Tabiker, der vermöge seiner hochgradigen Analgesie eine 
etwaige äussere Entstehungsursache häufig nicht mehr zu empfinden 
im Stande ist. Ich glaube vielmehr und stelle mich hierbei voll¬ 
ständig auf den von Volkmann stets eingenommenen Standpunkt, 
zu dem sich auch Kredel in seiner Arbeit bekennt, und der neuer¬ 
dings unter anderem auch wieder von König*) vertreten wird, 
dass dieser plötzlichen Entstehung fast stets ein Trauma zu Grunde 
liegt. Wenn wir berücksichtigen, einmal welch ausserordentlich 
geringe Gewalt (eine hastige Wendung, ein gelegentliches Ueber- 
schlagen eines Beins über das andere oder ähnliches) in den zahl¬ 
reich beschriebenen Fällen von Spontanfracturen tabischer Knochen 
zur Entstehung dieser Fractur ausgereicht hat, andererseits wie hoch¬ 
gradig die Analgesie zu sein pflegt, speciell die tiefe Analgesie, die 
sich infolge der Degeneration der die Gelenk- und Knochenenden 
in der Tiefe versorgenden Nerven entwickelt — Oppenheim zufolge 
tritt dieselbe meist schon sehr viel früher auf als die oberflächliche, 
die Hautanästhesie — so erscheint es nicht weiter wunderbar, dass 
bei den auch in ihrer chemischen Zusammensetzung beträchtlich ver¬ 
änderten Knochen und den durch trophische Störungen in ihrem 
Volumen und ihrer Elasticität meist schon recht beeinträchtigten 
Weichtheilen ein relativ geringftlgiges Trauma Veranlassung zu einer 
schweren Gelenkerkrankung geben kann, ohne dass sich der von 
ihr betroffene Tabiker zunächst einer solchen bewusst wird. Wie 
hochgradig diese tabische Analgesie zu sein vermag, beweist uns 


Verhandlung der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie 1886. Czerny, 
lieber neuropathische Gelenkaffectionen. Discussion. 

*) Berliner klin. Wochenschr. 1897, S. 657. 


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Beitrag zur Lehre und Behandlung der Arthropathia tabica etc. 355 

z. B. ein von Goldstein mitgetheilter Fall, in welchem ein 44jäh- 
riger Tabiker, trotzdem er seit 4 Jahren an einer beträchtlichen 
Arthropathie des linken Kniegelenks litt, ferner vor 2 Jahren eine 
linksseitige Tibiafractur erlitten und seit 3 Jahren nach Resection 
des tabisch degenerirten rechten Fussgelenks daselbst ein Schlotter¬ 
gelenk aufzuweisen hatte, noch während der nächsten 7 Monate 
ohne besondere Anstrengung und ohne die geringsten Schmerzen 
zu verspüren täglich den ziemlich weiten Weg nach seiner Fabrik 
hin und zurück wanderte und sich sein Brot als Weber verdiente. 

Auch das weitere klinische Bild einer derartigen GelenkafiFection, 
abgesehen von dem plötzlichen Entstehen, nämlich die charakte¬ 
ristische Weichtheilschwellung und der im Verlauf weniger Stunden 
sich entwickelnde pralle Gelenkerguss sprechen durchaus für die 
Annahme eines äusseren Insultes und lassen eine andere Deutung 
gleichsam nur gezwungen zu. Dementsprechend finden wir auch 
in den verschiedenen Krankengeschichten derartiger Kranken bei 
Beschreibung des Ergusses in der Mehrzahl Angaben wie »sangui¬ 
nolente fadenziehende“ oder »seröse blutig gefärbte Flüssigkeit“, 
»klarer, gelbbrauner zum Theil mit Blut untermischter Erguss“ etc. 
Diese Blutbeimischung des Ergusses braucht selbstverständlicher¬ 
weise nicht immer primär zu sein, sondern kann in vielen Fällen 
eben so gut secundär durch Zerreissung oder sonstige Zerstörung 
kleinerer Blutgefässe entstanden sein; immerhin findet sich diese 
Beobachtung auch bei manchen erst seit kurzem bestehenden und 
anscheinend leichten Arthropathien, bei denen ein derartiger weit¬ 
gehender destruirender Process zunächst noch unwahrscheinlich ist. 
Es wäre wünschenswerth, wenn in Zukunft häufiger in ganz frisch 
entstandenen Fällen durch Function die Art des Ergusses, ehe der¬ 
selbe Gelegenheit gehabt hätte irgend welche Veränderungen in 
seiner Zusammensetzung einzugehen, näher bestimmt würde; leider 
habe ich in der Literatur einen ganz einwandfreien derartigen Fall 
nicht auffinden können. 

Gegen diese von Volkmann stets hervorgehobene Ansicht 
von der Wichtigkeit und überwiegenden Häufigkeit des Traumas für 
die Entstehung der Arthropathia sind meines Erachtens auch die 
mehrfach gemachten Beobachtungen, dass sich die Arthropathie bei 
bettlägerigen und daher angeblich keine Gelegenheit zu irgend welcher 


*) Monatsschr. f. Unfallheilkunde 1896, Nr. 10. 


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356 


A. E. Ahrens. 


Verletzung bietenden Tabikern allmählich entwickelte, nicht als be¬ 
weisend ins Feld zu führen. Auch ein derartiger Tabiker liegt doch 
nicht stets ganz regungslos im Bett, sondern hat Gelegenheit un¬ 
versehentlich einmal z. B. bei lancinirenden Schmerzen an eine Bett¬ 
kante oder ähnliches zu stossen oder auch einmal im Schlafe eine 
unbewusste brüske Bewegung zu machen, ein Insult, der nur gering¬ 
fügig sein mag, als veranlassende Ursache aber in derartigen Fällen 
vollauf genügen dürfte. 

Die gleichen oben angeführten Charakteristika der tabischen 
Arthropathie sprechen weiter auch gegen die bereits früher erwähnte 
Gleichstellung derselben mit der Arthritis deformans. Bei dieser 
ganz langsamer Beginn gegenüber dem plötzlichen der tabischen 
Arthropathie, geringer ganz allmählich sich bildender und stets in 
mässigen Grenzen bleibender Erguss gegenüber der über Nacht 
entstehenden prallen Flüssigkeitsansammlung, ferner langsame aber 
stetige allmähliche Verminderung der Beweglichkeit des Gelenks 
gegenüber der stets zunehmenden und in späteren Stadien ganz 
abnormen Beweglichkeit des tabischen Gelenks, schliesslich ausge¬ 
dehnte Knochenzerstörungen resp. Neubildungen monströser Knochen- 
productionen bei der Arthropathia tabica im Gegensatz zu den zwar 
oft hochgradigen, aber sich doch stets mehr oder weniger auf das 
Gelenk selbst beschränkenden Veränderungen bei der Arthritis de¬ 
formans. Das alles sind so durchgi’eifende und principielle Unter¬ 
schiede, dass sie sich auch nicht, wie Büdinger will, durch den 
Einfluss der bereits erwähnten Degeneration der peripheren Nerven 
annähernd rechtfertigen lassen. 

Was dann den weiteren Verlauf einer derartigen Arthropathia 
tabica betrifft, so kann ich mich in Rücksicht auf die in Lehr¬ 
büchern etc. wiederholt schon gegebenen Beschreibungen derselben 
kurz fassen. Hat ein wesentlicher Hydrops erst einmal längere Zeit 
bestanden und war gleichzeitig schon eine ausgesprochenere Analgesie 
und Ataxie vorhanden, so nimmt die Erkrankung speciell an den 
am häufigsten betroffenen unteren Extremitäten meist einen rapiden 
Verlauf. Solange der Tabiker überhaupt noch sein Geh vermögen 
besitzt, werden Knochen und Bänder durch die incoordinirten Muskel¬ 
bewegungen auf das äusserste in Anspruch genommen, die Ligamente 
abnorm vermehrten Spannungen und Zerrungen ausgesetzt und Ge¬ 
lenkende gegen Gelenkende gepresst. 

Infolge der durch die Grundkrankheit und die Degeneration 


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Beitrag zur Lehre und Behandlung der Arthropathia tabica etc. 357 


der peripheren Nerven hervorgerufenen verminderten Widerstands¬ 
fähigkeit sind die Knochenenden aber dem auf ihnen lastenden Druck 
sehr bald nicht mehr gewachsen, sie werden infolge Druckusur 
resorbirt und bröckeln ab, indem sie dabei freie Gelenkkörper bilden, 
oder erhalten den Reiz zu unregelmässiger atypischer Knochen¬ 
neubildung, die Ligamente erschlaffen oder zerreissen, so dass schon 
nach kurzer Zeit sich das Bild der paralytischen Luxation entwickeln 
kann, bei der die dislocirten und deformirten Knochenenden häufig 
dicht unter der Haut fühlbar sind. Die mechanischen Verhältnisse 
der in dieser Weise so hochgradig degenerirten Gelenke und die zu¬ 
nehmende Ataxie führen schliesslich dann dazu, dass für den Tabiker 
der Gebrauch der Beine vollends zur physischen Unmöglichkeit 
wird und derselbe von nun an dauernd an sein Krankenlager ge¬ 
fesselt ist. 

Bevor ich nunmehr zur Schilderung der Therapie übergehe, 
will ich über 3 Fälle tabischer Arthropathie des Kniegelenks be¬ 
richten, die im Laufe der letzten Jahre in der Hof falschen Klinik 
zur Beobachtung kamen. 

I. Herr L. aus K., 49 Jahre, Getreidehändler, ambulant be¬ 
handelt Juli 1895. Arthropathia tabica genu sin. 

Patient hat den Feldzug 1870 mitgemacht und will sich in 
demselben seine Erkrankung geholt haben; hat jedoch auch früher 
an Lues gelitten. Schon vor 12 Jahren wurde eine ausgesprochene 
Tabes bei ihm diagnosticirt, gegen die Patient alle möglichen Kuren 
und Bäder versucht hat. Die jetzige Knieaffection soll ganz spontan 
aufgetreten sein, jedenfalls weiss Patient sich keines stärkeren Traumas 
zu entsinnen. Die ersten Zeichen von Schwäche und Unsicherheit 
des Knies stellten sich vor etwa 8 Monaten ein. 

Stat. praes. (14. Juli 1895). Patient ist ein äusserst corpu- 
lenter, untersetzter Mann, der sich nur an zwei Krücken fortbewegen 
kann. Ausgesprochene Tabes mit allen classischen Symptomen. Das 
linke Kniegelenk ist stark deformirt. Es ist sehr beträchtlich ge¬ 
schwollen, zeigt starke Crepitation, lässt sich leicht nach der Seite 
abknicken und stark hyperextendiren. Beim Gehen tritt eine starke 
Genu recurvatum-Stellung des Knies auf, so dass es dem Patienten 
keine Stütze zu bieten vermag (vergl. Fig. 3). 

Patient erhält einen Schienenhtilsenapparat in der weiter unten 
angegebenen Art, in dem er einen guten Halt findet. Die Chamiere 


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358 


A. E. Abrens. 


des Apparats sind so gestaltet, dass sie eine Ueberstreckung des 
Knies nicht zulassen. Mit Hilfe desselben kann Patient sich einiger- 
massen gut fortbewegen, so dass er seinem Geschäft nachgehen 
kann; seine starke Corpulenz macht ihn jedoch recht schwerfällig. 

Fig. 3. 



Patient hat den Apparat andauernd bis zu seinem Tode getragen, 
letzterer erfolgte vor ca. 1 Jahr an croupöser Pneumonie. 

IL Herr A. H. aus C., 53 Jahre, Kaufmann. Aufgenommen 
1. Januar 1897. Entlassen 9. Januar 1897. Arthropathia tabica 
genu dextr. 

Patient hat früher Lues gehabt, leidet seit 8 Jahren an aus¬ 
gesprochener Tabes. Das Knieleiden begann vor etwa 1 Jahr« 
Patient war beim Gehen ausgeglitten; daraufhin plötzliche An* 
Schwellung des rechten Kniegelenks, keine Schmerzen. Die Schwel¬ 
lung des Gelenks ging bei ruhiger Bettlage bald zurück, stellte sich 
jedoch sofort wieder ein, als Patient wieder aufstand und umhergehen 


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Beitrag zur Lehre und Behandlung der Arthropathia tabica etc. 359 

wollte. Das Gehen wurde immer beschwerlicher, da das Kniegelenk 
seinen Halt verlor und sich ein Genu valgum ausbildete. Es wurden 
daher dreimal feste Verbände angelegt, um das Knie zu stützen. Im 
ganzen erfüllten diese ihren Zweck, jedoch wurden sie dem Patienten 
auf die Dauer unbequem. Er wurde daher in die Hof falsche Klinik 
geschickt behufs Anfertigung eines Apparates. 

Stat. praes. Patient ist ein grosser, kräftig gebauter Mann. 
Leidet an typischer Tabes: Romberg'sches Symptom, mangelnde 
Patellarreflexe, Pupillenstarre und ausgesprochene Ataxie. Das Gehen 
fällt ihm sehr schwer, da er keinen Halt im rechten Knie hat. 
Dieses ist stark angeschwollen und zeigt undeutliche Fluctuation; 
die periarticulären Weichtheile sind teigig infiltrirt; die Gelenkenden 
sind stark aufgetrieben; grobes Crepitiren im Gelenk; das Gelenk 
ist hochgradig schlotterig, man kann es namentlich seitlich weit 
abknicken. Beim Gehen stellt sich das rechte Knie in starke Valgus- 
stellung mit Aussenrotation, zugleich stärkere Hyperextension, so 
dass ein ausgesprochenes Genu valgum recurvatum entsteht. 

Patient erhält einen Schienenhülsenapparat mit seitlichen 
Stützen, die das Gelenk völlig feststellen. Der Apparat thut Patient 
gute Dienste, er kann sofort gut in ihm umhergehen. 

Eine briefliche Anfrage nach 2 Jahren beantwortet Patient 
dahin, dass er den Apparat ununterbrochen getragen habe, derselbe 
sei noch leidlich im Stande. Ohne den Apparat vermöge er nicht 
sich fortzubewegen, mit ihm könne er gehen. 

UI. Herr B. aus W., 63 Jahre, Rentier. Aufgenommen 
13. Januar 1897, entlassen 28. Januar 1897. Arthropathia tabica 
genus utriusque. 

Patient hat mit dem 23. Jahre Lues accquirirt, gegen die er 
wiederholte Kuren durchmachte. Sein tabisches Leiden begann mit 
dem 40. Lebensjahre. Zuerst Blasenbeschwerden, so dass der Urin 
nicht gut entleert werden konnte, später traten typische Tabes¬ 
erscheinungen wie Pupillenstarre, Ataxie, Romberg’sches Phänomen 
hinzu. Die Diagnose Tabes wurde von den verschiedensten Autori¬ 
täten sichergestellt. Auf Anrathen Erb's gebrauchte Patient zu¬ 
nächst eine wiederholte Schmierkur, ging zur Kur mehrmals nach 
Oeynhausen, und kam schliesslich zu Hessing, der ihm ein Stütz- 
corset für die Wirbelsäule anfertigte. Noch während des Aufent¬ 
haltes daselbst, 10 Jahre nach Beginn der Tabes, stellten sich die 

Zeitschrift für orthopädische Cbfmrgle. VIII. Band. 24 


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360 


A. E. Ahrens. 


ersten Erscheinungen der Arthropathie ini rechten Kniegelenk ein. 
Dasselbe schwoll an und wurde beim Oehen mehr und mehr in 
überstreckter Stellung aufgesetzt. Er erhielt daher von Hessing 
einen Stützapparat für das Gelenk angefertigt. In diesem konnte 
er wieder gut gehen. Nach mehreren Jahren zeigten sich ähnliche 
Symptome wie im rechten jetzt auch im linken Kniegelenk. Patient 
kommt deshalb in die Hoffa'scbe Anstalt. Hier wurde folgender 
Befund erhoben: 

Patient trägt ein Hessing'sches Corset und einen Hessing- 
schen Schienenhülsenapparat am rechten Knie. Nach Abnahme des 
letzteren erscheint das rechte Knie stark angeschwollen. Die Schwel¬ 
lung wird zum geringeren Theil durch einen Erguss ins Gelenk, 
grösstentheils durch eine starke Verbreiterung der Gelenkenden be¬ 
dingt. Der Umfang des rechten Kniegelenks ist etwa 5 cm grösser 
als es einem normalen Kniegelenk entsprechen würde. Das Knie¬ 
gelenk ist ganz schlotterig, es lassen sich seitliche Bewegungen in 
bedeutendem Umfange ausfUhren, bei Flexions- und Extensions¬ 
bewegungen ausgiebige Crepitation. Bei diesen Bewegungsversuchen 
besteht keine Spur von Schmerzhaftigkeit. 

Aehnliche Symptome weist das linke Kniegelenk auf, dasselbe 
ist jedoch nicht ganz so stark aufgetrieben wie das rechte; sein 
Umfang beträgt etwa 2 cm weniger. 

Wenn Patient zu gehen versucht, so stützt er sich auf zwei 
Krücken; dabei werden beide Knie stark überstreckt, so dass beider¬ 
seits ein nach vom offener Winkel entsteht. 

Um Patient das Gehen besser zu ermöglichen, erhält er auch 
für das linke Kniegelenk einen Schienenhülsenapparat, der eine Ueber- 
streckung des Kniegelenks ausschliesst. Mit diesem sowie dem 
Schienenhülsenapparat für das rechte Bein und dem Stützcorset wird 
Patient nach Hause entlassen. 

Eine Untersuchung des Patienten nach 1^* Jahren ergibt 
folgendes: Patient hat sich an beide Schienenhülsenapparate völlig 
gewöhnt. Ohne dieselben vermag er gar nicht zu gehen, hat er 
sie dagegen an, so vermag er sich mit Hülfe von zwei Stöcken frei 
zu bewegen. Patient hat öfters versucht, einen oder den anderen 
der Apparate abzulegen, ist aber stets wieder auf sie zurückgekommen, 
weil er sich viel sicherer in ihnen fühlt. 

Nach Verlauf eines weiteren Jahres hat sich der Zustand am 
rechten Bein so weit gebessert, dass Patient, nachdem er eine acht- 


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Beitrag zur Lehre und Behandlung der Arthropathia tabica etc. 361 

wöchentliche Massagekur zur Kräftigung der Oberschenkelmusculatur 
durchgemacht hat, am rechten Bein keinen Stützapparat mehr zu 
tragen braucht, obgleich bei festem Auftreten noch eine Ueber- 
streckung des Knies statthat (vergl. Fig. 4). Fig. 5 zeigt Patienten 

Fig. 4. 



aufrecht stehend mit dem Apparat nur am linken Bein. Nur wenn 
Patient längere Strecken gehen will, legt er auch rechts noch den 
Apparat an. 

Was nun die Behandlung der tabischen Arthropathie im all¬ 
gemeinen anlangt, so finden sich in der einschlägigen Literatur im 
wesentlichen nur gelegentliche, hier und da zerstreute Mittheilungen 
und Angaben; vielleicht ein Beweis dafür, dass die verschiedenen 


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362 


A. E. Ahrens. 


therapeutischen Bestrebungen im allgemeinen überhaupt von wenig 
befriedigendem Erfolg begleitet waren. Mit der rein chirurgischen 
Behandlung haben sich hauptsächlich Schocherd in einer Arbeit, 
die ich mir leider nur im Referat zugänglich machen konnte, und 

Fig. 5. 



neuerdings U11 m a n n *) befasst. Was zunächst die leichteren Fälle 
anbetrifft, in denen es sich hauptsächlich nur um Bekämpfung des 
Gelenkergusses handelt, so finden wir hier im allgemeinen die gleichen 
Mittel wie auch beim gewöhnlichen Hydrops in Anwendung gezogen. 


Schocherd, Die Resultate der Chirurg. Behandl. neuropath. Gelenk- 
afFectionen. Dissert. Heidelberg 1894. Ref. Centralbl. f. Chir. 1895, S. 167. 

*) Beitrag zur Therapie der tabischen Arthropathie. Wiener medic. 
Wochenschr. 1898, Nr. 25—28. 


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Beitrag zur Lehre und Behandlung der Arthropathia tabica etc. 363 

hier allerdings meist mit wenig befriedigendem Erfolg speciell in 
Bezug auf Dauer desselben. In Anwendung gebracht finden wir 
hauptsächlich: Hochlagerung des erkrankten Qelenks, elastische oder 
nicht elastische Einwickelungen, Pinselungen mit Tinct. jodi, Punction 
mit oder ohne nachfolgende Injection von Carbolsäure oder ähnlich 
wirkenden Mitteln u. s. w.; bei der Arthropathie des Kniegelenks 
wurde in vereinzelten Fällen auch schon durch eine exact gearbeitete 
Eniekappe der gewünschte Effect für längere Zeit erreicht. Es ist 
klar, dass wir mit allen diesen Mitteln in irgendwie schweren Fällen 
absolut nicht zum Ziel kommen, sondern genöthigt sind, auf andere 
Mittel zu sinnen, durch die wir es erreichen können, dass dem Tabiker 
ein meist viele Jahre langes Krankenlager erspart, demselben viel¬ 
mehr der Gebrauch seiner Beine ermöglicht wird, ohne dass er sich 
den oben näher angeführten schweren Schädigungen in Bezug auf 
Verschlimmerung seiner Gelenkerkrankung auszusetzen braucht. Dass 
wir dies nicht mit Schienenverbänden oder ähnlichen Stützapparaten 
erreichen werden, die das Gelenk entweder in Streckung feststellen 
oder es nur in sehr unvollkommener Weise fixiren resp. entlasten, 
erscheint ohne weiteres klar. So halte ich z. B. den Vorschlag 
Morton's'), der in einem Falle von doppelseitiger Arthropathie des 
Knies durch einen entsprechenden Apparat das eine Gelenk fest 
fixiren und dem anderen eine geringe Beugefäbigkeit lassen wollte, 
kaum für nachahmenswerth. Wir müssen vielmehr darauf bedacht 
sein, dem Tabiker, der ohnehin schon durch die meist ausgesprochene 
Ataxie Schwierigkeiten beim Gehen zu überwinden hat, einen Apparat 
zu liefern, der ihm einerseits gestattet, das erkrankte Gelenk inner¬ 
halb der physiologischen Beweglichkeitsgrenzen zur Fortbewegung 
zu gebrauchen, und der andererseits die Eigenschaft besitzt, die trotz 
des Ergusses meist pathologisch einander genäherten resp. auf ein¬ 
ander drückenden Gelenkenden zu distrahiren, um so der verderb¬ 
lichen rapiden Zerstörung des Gelenks Halt zu gebieten. Diesen 
Anforderungen werden wir am besten und sichersten vermittelst 
eines exact gearbeiteten, die ganze untere Extremität, um die es 
sich ja in den allermeisten Fällen handelt, umfassenden Schienen¬ 
hülsenapparat nach Hessing gerecht werden können. Zweckmässig 
werden wir diesen Apparat mit einem dem Rumpf genau angepassten 
Hessing'schen Stoffcorset verbinden, das für den Rumpf einen besseren 


*) Annals of Surgery 1897, Bd. 25 S. 489. 


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364 


A. £. Ahrens. 


Halt und damit dem Tabiker ein vermehrtes Sicherheitsgefühl schafft. 
Gleichzeitig verleiht ein solches dem Schienenhülsenapparat für das 
erkrankte Bein einen besseren Stütz- und Anhaltspunkt, als sie ein 
einfacher Beckengürtel oder das Os pubis als Angriffs- und Stütz¬ 
fläche gewähren kann. Ein solcher Schienenhülsenapparat wird in 
der genugsam bekannten und von Hoffa in seinem Lehrbuch ge¬ 
legentlich der Behandlung der Gelenktuberculose näher beschriebenen 
Weise über einem von dem Bein genommenen Gipsmodell angefertigt 
und mit seitlichen Verbindungsschienen, die durch Schrauben ver¬ 
stellbar und fixirbar sind, versehen. Mit dem Corset wird der 
Apparat gelenkig verbunden durch zwei in verschiedenen Ebenen 
dicht unter einander liegende Chamiergelenke, welche Beugung und 
Streckung sowie Abduction und Adduction im Hüftgelenk ausführbar 
lassen. Bei tabischer Erkrankung dieses letzteren Gelenkes würde 
man allerdings eventuell genöthigt sein, eine oder beide dieser Be¬ 
wegungen vorübergehend oder dauernd durch die zur Genüge be¬ 
kannten Fixationsvorkehrungen auszuschalten. Vorausgesetzt, dass 
die tabische Erkrankung sich im Kniegelenk abspielt, muss es unser 
Hauptbestreben sein, der so überaus schädlich wirkenden Ueber- 
streckung des Gelenks entgegen zu arbeiten, da eine abnorme seit¬ 
liche Abweichung von Femur und Tibia im Gelenk ohnehin schon 
durch die seitlichen Verbindungsschienen zwischen Ober- und Unter¬ 
schenkelhülse genügend verhindert wird. Wir erreichen dies am 
einfachsten und zweckmässigsten durch Verwendung von Scheiben- 
chamieren an diesen Seitenschienen, die so ausgefräst werden, dass 
die vorderen Kanten der Charniere auf einander schliessen, ehe das 
Kniegelenk völlig gestreckt oder gar übergestreckt werden kann. 
Am praktischsten hat sich meist eine solche Construction der Char¬ 
niere erwiesen, bei der dies Aufeinanderpassen der Fall ist, sobald 
das Gelenk bei der Streckung einen Winkel von etwa 170—175® 
erreicht .hat. Bei hochgradig degenerirtem Kniegelenk, bei dem 
zu befürchten wäre, dass trotz der durch den Apparat bedingten 
massigen Distraction der Gelenkenden diese noch einander berühren 
und sich allmählich gegenseitig zerreiben könnten, könnte man statt 
dessen die Braatz’sche Sectorschiene verwenden, deren Princip be¬ 
kanntlich darauf beruht, eine mit der Streckung des Gelenks gleich- 
mässig einhergehende zunehmende Entfernung der Gelenkenden von 
einander herzustellen. Der Sector lässt sich in diesem Falle leicht 
derartig construiren, dass eine völlige Streckung oder Ueberstreckung 


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Beitrag zur Lehre und Behandlung der Arthropathia tabica etc. 365 

im Gelenk vermieden wird, dadurch dass man den Führungsschlitz 
des Sectors in seinem vorderen Ende etwas früher als gewöhnlich 
endigen lässt, nämlich sobald Ober- und Unterschenkel bei der 
Streckung den gewünschten flachen Winkel erreicht haben. Beim 
Fussgelenk als Sitz einer etwaigen Arthropathie werden wir wohl 
stets mit dem üblichen Seitencharnier in der gewöhnlichen Form 
auskommen. 

Hauptbedingung für alle derartigen Apparate ist, dass dieselben 
besonders exact der Extremität angepasst sind und auch den ge¬ 
ringsten circumscripten Druck vermeiden, da ein solcher bei der 
Analgesie des Tabikers voraussichtlich in kurzer Zeit zum Decubitus 
mit seinen üblen Folgen führen würde. Ferner muss der Apparat 
möglichst leicht construirt sein, um dem Kranken das ohnehin schon 
erschwerte Gehen nicht noch schwerer zu machen; andererseits muss 
er genügende Stabilität besitzen, um den durch den ataktischen 
Gang hervorgerufenen vermehrten Ansprüchen an seine Haltbarkeit 
gerecht zu werden, zumal es in den meisten Fällen nöthig sein wird, 
den Apparat auch Nachts tragen zu lassen. Bei an Incontinentia 
urinae leidenden Kranken wird der Apparat zweckmässig innen mit 
leichtem wasserdichtem Gummistoff überzogen, nöthigenfalls auch 
von aussen gegen Feuchtigkeit geschützt durch Eintauchen der 
Lederhülsen in eine Lösung von doppelchromsaurem Kali oder üeber- 
ziehen derselben mit Lack- oder Leimlösungen. 

Was schliesslich die operative Behandlung der tabischen Artho- 
pathien, speciell derjenigen im Kniegelenk anlangt, so haben sich 
auch neuerdings wieder die meisten Autoren mehr oder weniger 
unbedingt gegen eine solche ausgesprochen, so z. B. König ^), 
Oppenheim^), Sonnenburg ^); auch Morton^) hat in letzter 
Zeit wieder einen Fall von Femuramputation wegen tabischer Knie¬ 
gelenksentzündung erlebt, der in wenigen Tagen letal verlief. Was 
hierbei von Operationen in Betracht kommt, ist hauptsächlich die 
Resection des erkrankten Gelenkes resp. die Amputation oberhalb 
desselben. Sehen wir die Literatur daraufhin durch, so finden wir 
jedesmal, wie ausserordentlich wenig mit jedem dieser beiden Ein¬ 
griffe erreicht worden ist. Zumal die Resection hat anscheinend 
nur in ganz vereinzelten Fällen zu einem befriedigenden Resultat 
geführt; meist bildete sich nach kurzer Zeit ein Schlottergelenk 


*) 1. c. 


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3G6 


A. E. Ahrens. 


heraus, so dass häuhg noch nachträglich die Amputation angeschlossen 
werden musste. In dem einzigen Fall von dauernder Heilung, den 
ich auffinden konnte und den Wolff^) veröflFentlicht hat, erscheint 
es überdies nicht ausser allem Zweifel, ob es sich wirklich um Tabes 
gehandelt hat. Schocherd verwirft daher in seiner oben erwähnten 
Arbeit völlig jede conservative Operation, die infolge des längeren 
Krankenlagers durch den drohenden Decubitus und die häufig sich 
entwickelnde Cjstitis unverhältnissmässig grosse Gefahren für den 
Tabiker in sich berge und empfiehlt, den Misserfolg jeder ortho¬ 
pädischen Behandlung vorausgesetzt, die Absetzung des Gliedes ober¬ 
halb des erkrankten Gelenkes als die einzig zweckmässige blutige 
Operation. 

Neuerdings hat Ullmann^) 18 Fälle von Resection tabischer 
Gelenke zusammengestellt, unter denen lOmal das Kniegelenk er¬ 
krankt war. Von diesen 10 Fällen scheidet 1 Fall, der eben er¬ 
wähnte Fall von Wolff, als nicht sichere Tabes aus; in den übrig 
bleibenden 9 Fällen ist über kein einziges günstiges Resultat zu 
berichten. In 2 Fällen trat Exitus letalis nach kurzer Zeit ein, 3mal 
wurde nachträgliche Amputation erforderlich, in 1 Falle wurde keine 
Consolidation erzielt, von den übrigen fehlen weitere Nachrichten, 
die demnach wohl kaum günstige gewesen sein werden. Bei den 
übrigen 8 nicht das Kniegelenk betreffenden Fällen wurden zum 
Theil etwas günstigere Resultate erzielt. Von Amputationen aus 
gleicher Veranlassung hat Ullmann im ganzen 13 Fälle aufgefundeu, 
von denen anscheinend 3 günstig verliefen; über einen Theil der 
übrigen konnte ü 11 mann spätere Angaben nicht ausfindig machen. 
Wenn Ullmann trotzdem die Resection in gewissen Fällen em¬ 
pfiehlt und ihr den Vorzug vor der Amputation gibt, so thut er es 
doch nur mit der Einschränkung, dass er eine vollkommene Conso¬ 
lidation überhaupt nicht für erforderlich hält und von vornherein 
auf eine solche verzichtet. Mit einer solchen Einschränkung erscheint 
jedoch der eigentliche Zweck des Eingriffs ziemlich illusorisch. 

Auch die in einzelnen Fällen versuchte Arthrotomie des er¬ 
krankten Gelenkes mit nachfolgender Tamponade oder Drainage 
scheint kaum jemals zu einem dauernden Erfolg geführt zu haben. 


*) Arthrectomie des Kniegelenks wegen Arthropathia tabica. Deutsche 
medic. Wochenschr. 1888, Nr. 11. 

2) 1. c. 


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Beitrag zur Lehre und Behandlung der Arthropathia tabica etc. 367 


Es erscheint mir daher im allgemeinen empfehlenswerther und 
auch in schweren Fällen sehr wohl durchführbar, bei den tabischen 
Gelenkentzündungen, zumal denen des Kniegelenks, von jedem opera¬ 
tiven Eingriff abzusehen. Indicirt dürfte ein solcher nur da sein, 
wo es sich um secundäre Erkrankungen des tabischen Gelenks han¬ 
delt, hauptsächlich also bei hinzugetretener Tuberculose oder Ver¬ 
eiterung des Gelenks; auch hier jedoch nur nach Massgabe der 
Schwere der secundären Affection. 

In unseren oben mitgetheilten 3 Fällen, in denen es sich jedes¬ 
mal um recht ausgeprägte und schwere Grade der tabischen Arthro¬ 
pathie handelte, haben wir gesehen, dass auf die Vornahme irgend 
welcher chirurgischen Eingriffe zu Gunsten rein orthopädischer Mass¬ 
nahmen verzichtet werden konnte und dass trotzdem vermittelst der 
angefertigten Schienenhülsenapparate in allen 3 Fällen dem Fort¬ 
schreiten des krankhaften Processes im Kniegelenk Halt geboten 
werden konnte; ja, dass im Falle B. sich sogar eine wesentliche 
Besserung insofern constatiren Hess, als Patient jetzt wieder nur 
mit einem Apparat zu gehen im Stande ist. Ich glaube daher, dass 
wir mit verschwindenden Ausnahmen in allen Fällen mit streng 
conservativer Behandlung, bestehend in Anfertigung eines geeigneten 
Apparates in der oben beschriebenen Weise, einer tabischen Gelenks¬ 
erkrankung, speciell der tabischen Kniegelenksentzündung, mit bestem 
Erfolg entgegentreten können. Wir werden auf diese Weise bessere 
und anhaltendere Erfolge zu erzielen vermögen als es auf operativem 
Wege möglich erscheint. 


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XV. 


Aus dem Samariterhause für verkrüppelte Kinder 
zu Cracau bei Magdeburg. 


Zwei seltene Formen angeborener Missbildung. 

Von 

Dr. Paul Tschmarke, Magdeburg. 

Mit 3 in den Text gedruckten Abbildungen. 

Das Leiden, von dem der erste Theil dieses kleinen Beitrages 
bandeln soll, bietet nicht allein wegen seiner Seltenheit Interesse 
für den Chirurgen, sondern auch wegen der einzuschlagenden Be¬ 
handlung desselben. Es betriflFt einen 4jährigen Knaben Willy K,, 
welcher in dem neu gegründeten Samariterhause für verkrüppelte 
Kinder zu Cracau bei Magdeburg in Pflege ist. Derselbe ist im 
allgemeinen gut entwickelt und genährt, dabei ein munteres, ge¬ 
wecktes Kind. Der rechte Unterschenkel des Kindes ist dünner als 
der linke, etwa 3 cm kürzer, steht in rechtwinkliger Flexion und 
hochgradiger Adduction zum Oberschenkel. Die Fibula ragt mit 
ihrem oberen Ende als spitzer Knochen nach aussen und hinten vom 
Femur vor; das letztere endet ziemlich spitz. Man fühlt am Unter¬ 
schenkel nur einen Knochen, die Fibula, die eine S-förmige Krüm¬ 
mung aufweist, und deren unteres Ende als äusserer Knöchel eben¬ 
falls spitz und scharf die Haut anspannt und den in hochgradigster 
Pes varus-Stellung stehenden Fuss überragt. Die grosse Zehe und 
ihr Metatarsus fehlt; von den Fusswurzelknochen lassen sich nur 
zwei undeutlich unterscheiden. Die Beweglichkeit im Knie be¬ 
schränkt sich auf ganz geringe Beugung und Streckung; der Fuss 


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Zwei seltene Formen angeborener Missbildung. 


369 


ist gleichfalls fast unbeweglich; die normal gebildeten vier vorhan¬ 
denen Zehen sind gut beweglich. Die Patella fehlt. 

Es handelte sich also um einen angeborenen totalen Defect 
der rechten Tibia. 

Die letzte grössere Arbeit über den congenitalen Defect der 
Tibia ist von Joachimsthal in der Zeitschrift für orthopädische 
Chirurgie 1894 veröffentlicht; sie enthält eine Zusammenstellung 
aller bis zu diesem Jahre veröffentlichten Fälle, dazu alles Wissens- 
werthe über die Missbildung. Ich verweise daher auf diese interessante 
und erschöpfende Abhandlung. Nach Joachimsthal sind 39 Fälle 
von Defect der Tibia an 31 Individuen zur Beobachtung gekommen, 
also 8mal doppelseitig. Seit 1894 ist meines Wissens noch ein Fall 
von Waitz beschrieben worden in der Deutschen med. Wochen¬ 
schrift 1895 Nr. 25 und zwar von doppelseitigem Defect bei einem 
Knaben. Ferner ist auf dem Chirurgencongress ein Fall von rechts¬ 
seitigem, congenitalem Defect der Tibia von Rincheval mitgetheilt 
worden. Mit meinem Fall besitzen wir demnach eine Reihe von 
43 an 34 Individuen, also 9 Doppelmissbildungen; darunter befinden 
sich 14 totale Defecte. Von diesen 34 Individuen sind 19 männ¬ 
lichen, 8 weiblichen Geschlechts, bei 7 fehlen nähere Angaben. Unter 
19 einseitigen Defecten war 16mal die rechte, nur 3mal die linke 
Seite betroffen. 

Kinder mit solcher Affection bilden im allgemeinen ein ganz 
typisches Bild. Auch umstehende Abbildung (Fig. 1) des oben beschrie¬ 
benen Knaben deckt sich mit den in der JoachimsthaTschen Arbeit 
wiedergegebenen Bildern vollkommen. Die Beschreibung solcher 
angeborener Missbildungen intra vitam ist durch die Skiagraphie 
nach Röntgen wesentlich erleichtert worden. Das Bild, das dieser 
Mittheilung (Fig. 2) beigegeben ist, bestätigt im wesentlichen den vorher 
erhobenen Befund; von der Tibia ist auch nicht die geringste An¬ 
deutung vorhanden; die Fibula erscheint verbogen und an den Enden 
verdickt; der Oberschenkel endet scheinbar breit, die knorpelige 
Epiphyse, die nach der Palpation deutlich spitz endet, ist undeutlich. 
Von den Ftlsswurzelknochen sind nur zwei, ein langer und vor ihm 
ein runder Knochen zu sehen. 

Um den Typus der Missbildung kurz zu skizziren, entnehme 
ich der Arbeit von Joachimsthal noch folgende Angaben. Im 
allgemeinen trifft man oft, dass das untere Ende des Femur ver¬ 
ändert ist; die Fossa intercondylica fehlt ganz oder ist nur ange- 


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370 


Paul Tichmarke. 


Fig- 1. 


% 3 ' 




> ' PA 


4 


deutet; zuweilen endet das Femur in einem konischen Zapfen. Die 
Fibula ist meist nach hinten aussen luxirt, häufig verbogen und 

verdickt, besonders an den 
Enden. Die Patella fehlt 
etwa in dem Drittel aller 
Fälle. 

Fast stets bestehen 
Flexionscontracturen im Knie¬ 
gelenk, daneben Aussenrota- 
tion des Oberschenkels und 
Adduction des Unterschenkels 
in hohem Grade. Ist der 
Defect der Tibia kein totaler, 
so ist ein mehr oder weniger 
grosses Rudiment des oberen 
Theiles derselben vorhanden. 
In einem FaUe von Melde 
zog von diesem Rudiment aus 
ein fibröser Strang zum Talus. 
Nur einmal ist das Vorhan¬ 
densein des unteren Drittels 
vonParona beobachtet wor¬ 
den. In einer grossen Reihe 
von Fällen fehlt die grosse 
Zehe; in anderen Fällen ist 
die Anzahl der Zehen ver¬ 
mehrt; bei Parona und 
Medini waren an jedem 
Fusse 8 Zehen, bei Melde 
beiderseits 7. Ueber gleich¬ 
zeitige Defecte der Tarsal- 
und Metatarsalknochen fehlen 
genauere Angaben. Die Stel¬ 
lung des Fusses ist stets eine 
Varusstellung hohen Grades. 
Das Vorhandensein oder Fehlen von Muskeln ist sehr unregel¬ 
mässig. 

Ueber die Aetiologie dieser Missbildung lässt sich nichts Be¬ 
stimmtes sagen. Joachimsthal wendet sich gegen die An- 


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Zwei seltene Formen angeborener Missbildung. 


371 


schauung, dass es sich um einen primären Bildungsfehler handele; 
es sprächen dagegen die gute Ausbildung der Condylen des Femur 
und die normale Entwickelung des Talus in der Mehrzahl der Fälle. 
In meinem Falle ist weder ein Talus vorhanden, noch sind die Con- 

Fig. 2. 



dylen des Femur ausgebildet; er spricht also nicht gegen die An¬ 
nahme eines primären Bildungsfehlers. Ich bin im Gegentheil ge¬ 
neigt, zur Erklärung der Entstehung, eines solchen Defectes auf die 
Archipterygialtheorie Gegenbaur’s zurückzugreifen. Auch Burck- 
hardt, Erlich und Andere nehmen beim völhgen Fehlen der 
Tibia einen Defect des ersten Nebenstrahles des Archipterygiums an, 
das vom Femur, der Fibula, 2 Tarsalknochen und der 5. Zehe 


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372 


Paul Tschmarke. 


gebildet wird. Dafür spricht auch das häufige Fehlen der grossen 
Zehe. Da aber nicht alle Fälle gleich sind, ja sogar Verdoppe-^ 
lungen des Hallux Vorkommen, und Rudimente oder ein fibröser 
Strang an Stelle der Tibia beobachtet wurden, so kann man vorläufig 
noch kein abschliessendes ürtheil über das Zustandekommen der Miss¬ 
bildung abgeben. 

Was wird nun aus der Missbildung, wenn sie sich selbst über¬ 
lassen bleibt? Zur Beantwortung dieser Frage ist eine Beobachtung 
von Burckhardt von besonderem Interesse, da sie uns denselben 
Kranken im Alter von 8 Wochen und im Alter von 12 Jahren zeigt. 
Die auch in der JoachimsthaTschen Arbeit wiedergegebenen 
Bilder beweisen deutlich, dass das verkrüppelte Glied in seiner Ent¬ 
wickelung einfach zurückbleibt, und zwar nicht nur der Unterschenkel 
und der Fuss, sondern auch der Oberschenkel, wenn auch geringeren 
Grades. 

Diese Kenntniss ist meiner Meinung nach von Wichtigkeit für 
die Therapie. Es hat für einen modernen Orthopäden gewiss etwas 
sehr Verführerisches, den Kindern eine natürliche Stütze mit ihren 
eigenen Gliedmaassen zu schaffen. So hat Albert wohl zuerst bei 
einem 9 Monate alten Kinde die Fibula in einen angefrischten Spalt 
in der Fossa intercondylica eingepfianzt und knöcherne Vereinigung 
im stumpfen Winkel erzielt. Ueber das weitere Schicksal dieses 
Kindes ist jedoch nichts bekannt. Aebnlich haben Motta, Busachi 
und Helferich operirt. Motta’s Patient von 7 Monaten musste 
einen Schienenapparat tragen; sein Bein war zur Zeit des Gehen- 
lemens 4 cm kürzer als das gesunde. Auch Busachi erzielte keine 
knöcherne Vereinigung, das 10 Monate alte Kind musste einen Filz¬ 
verband tragen. Der Fall von Helferich ist schon wenige Tage 
nach der Operation von Thiele veröffentlicht, das Resultat unbekannt. 
Parona führte bei einem doppelseitigen Defect der Tibia die Resection 
des unteren Femurendes und des Capitulum fibulae aus und erzielte 
gebrauchsfähige Beine, wenn auch ohne knöcherne Vereinigung. 
Freilich handelte es sich beiderseits nur um einen partiellen Defect. 

In dem Falle von Joachimsthal hat Prof. Wolff die Fibula 
ohne Knochenanfrischuug einfach in die Fossa intercondylica ein¬ 
gepflanzt, in der Hoffnung, dass die Fibula bei veränderter Function 
die Stelle der fehlenden Tibia übernehmen würde. Diese Hoffnung 
ist scheinbar nicht erfüllt worden. 7 Monate nach der Operation 
beschreibt Joachimsthal den Zustand des Kniegelenks mit fol- 


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Zwei seltene Formen angeborener Missbildung. 


373 


genden Worten: «doch war die Befestigung des Fibulakopfes an 
seinem neuen Standorte eine noch ziemlich lockere, so dass er die 
Neigung besass, nach den Seiten und besonders nach seinem alten 
Standorte am Condylus externus auszuweichen“. Zu gleicher Zeit 
war das Glied gegenüber der gesunden Seite um einen weiteren 
Cehtimeter im Wachsthum zurückgeblieben. Aus einer später er¬ 
schienenen Erwiderung JoachimsthaTs^) auf den Aufsatz von 
Waitz ist ersichtlich, dass das Kind nur mit Hilfe eines Hülsen¬ 
apparates und eines erhöhten Stiefels laufen kann. 

Allen den oben kurz skizzirten Operationen muss ausserdem 
noch in derselben Sitzung oder später das Redressement des Klump- 
fusses folgen oder die Einpflanzung des Fusses in die gabelförmig 
längs gespaltene Fibula nach Rinchevars Vorgehen. 

Ich muss gestehen, dass diese conservativen Operationsyersuche 
mich nicht recht befriedigen; sie setzen ein langes, eventuell mehr¬ 
faches Krankenlager und viel Energie von Seiten des kindlichen 
Kranken voraus; dann ist das Resultat äusserst zweifelhaft; müssen 
doch die meisten der Operierten einen Schienenapparat oder der¬ 
gleichen tragen, der kostspielig ist; ferner bleibt die Störung der 
Weiterentwickelung scheinbar doch nicht aus, wie der Fall von 
Joachimsthal zeigt. 

Dass endlich das complicirtere Verfahren nicht ganz ohne Ge¬ 
fahr für das Kind ist, lehrt der von Rincheval mitgetheilte Fall; 
es wurde bei der Operation — Einpflanzung des verjüngten Femur¬ 
endes in das gabelförmig gespaltene obere Fibulaende — die atypisch 
verlaufende Arteria poplitea verletzt, so dass Gangrän des Unter¬ 
schenkels bis zur Mitte eintrat. 

Ich habe mich daher denjenigen angeschlossen, welche den 
missbildeten Unterschenkel einfach amputirten, resp. exarticulirten, 
und glaube damit, dem Kinde manche Unbequemlichkeit erspart zu 
haben. Nach Bildung eines grossen Hautlappens von vorn wurde 
die Fibula aus ihrer seitlichen Gelenkverbindung mit dem Femur 
ausgelöst und die Haut vernäht. Der Heilungsverlauf war ein un¬ 
gestörter. 

Interessant war das gewonnene anatomische Präparat des Unter¬ 
schenkels. Von der Tibia war keine Spur, auch kein fibröser Strang 
zu finden. Die Fibula hatte oben seitlich eine Gelenkfläche von etwa 


*) Deutsche medic. Wochenschr. 1895, Nr. 27. 


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374 


Paul Tschmarke. 


Fünfpfennigstückgrösse und stand mit der äusseren Seite des Femur¬ 
endes mittelst einer engen straflFen Gelenkkapsel in Verbindung; es 
waren keine Menisken vorhanden; die Fibula war S-förmig gebogen, 
am unteren Ende verdickt. Hier hatte sie eine Gelenkverbindung mit 
dem Calcaneus; denn als solchen musste man den langen Knochen des 
Fusses ansehen einmal wegen seiner Gestalt und dann wegen der 
Muskelansätze an demselben. Von Muskeln war die fibulare Partie 
des Soleus vorhanden, welche in einer straffen Sehne an der Spitze 
des Calcaneus ansetzte, ferner die Peronei und Extensor digitorum 
communis; aber auch der Flexor war, wenn auch schwach entwickelt, 
vorhanden und entsprang an der Innenseite der Fibula. Alle Muskeln, 
welche am Hallux oder seinem Metatarsus inseriren, fehlten. Der 
Tibialis posticus entsprang von der Fibula und setzte am inneren 
Rand des Calcaneus als straffe Sehne breit an; der Tibialis anticus 
fehlte. Der kleine, runde Knochen war das Os cuboideum, es arti- 
culirte einerseits mit der Vorderseite des Calcaneus, andererseits mit 
zwei kleinen Gelenkflächen mit dem Metatarsus III und IV. Die 
Arteria poplitea war auffallend dünn und von einer feinen Vene 
begleitet. 

Gerade der letzte Befund des anatomischen Präparates, die 
schlechte Entwickelung der Gefässe lässt den Schluss zu, dass kein 
wesentliches Wachsthum des missbildeten Unterschenkels zu erwarten 
gewesen wäre. Auch Erlich beschreibt in einem Falle von con¬ 
genitalem Defect des Radius die auffallend schwache Entwickelung 
der Arterien und macht diesen Befund für den Defect verant¬ 
wortlich. 

Ich fasse meine aus dem mitgetheilten Falle hervorgegangene 
Ansicht von der Behandlung solcher angeborenen Defecte der Tibia 
dahin zusammen, dass ich sage: man ist wohl berechtigt, besonders 
bei doppelseitigem Defect, einen Versuch, den missbildeten Unter¬ 
schenkel zu erhalten, auszuführen, vorausgesetzt, dass die socialen 
Verhältnisse eine mehrfache, lange Behandlung und die Beschaffung, 
resp. Erneuerung kostspieliger Stützapparate gestatten. Bei Kindern 
der ärmeren Klassen dürfte aber mein Vorgehen, die einfache Ab¬ 
setzung des Gliedes, das schonendste, sicherste und, was nicht ge¬ 
ring anzuschlagen ist, wohlfeilste Verfahren sein. Will man eine 
conservative Behandlung versuchen, so würde ich stets das Verfahren 
vorziehen, welches Rincheval auf dem Chirurgencongress 1894 für 
die Behandlung congenitaler Defecte langer Röhrenknochen be- 


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Zwei seltene Formen angeborener Missbildung. 


375 


schrieben und vorgeschlagen hat. Jedenfalls soll die Operation 
möglichst bald ausgeführt werden. 

Im Anschluss hieran möchte ich kurz noch einen weiteren 
Fall von congenitalem partiellen Defect des Radius mittheilen, der 
eines gewissen Interesses nicht entbehrt. Ein ISjähriger Knabe, 
Wilhelm B., ebenfalls Pflegling im Cracauer Erüppelheim, ist das 
vierte von sieben Kindern gesunder Eltern. Er soll an der linken 
Hand sieben Finger gehabt haben, zwei sind ihm in frühester Jugend 
entfernt worden. Sieht man den Knaben zuerst, so ist man geneigt, 
einen völligen Mangel des Radius anzunehmen; eine genaue Unter¬ 
suchung ergibt aber das Vorhandensein eines zweiten Knochens ausser 
der Ulna. Die Hand steht in hochgradiger Adductionsstellung, fast 
rechtwinklig zum Vorderarm. Die Ulna ist stark verbogen, be¬ 
sonders in der Gegend des Olecranon, das sehr verdickt ist. Man 
fühlt deutlich sechs Metacarpalknochen; der an Stelle des Daumens 
vorhandene Finger besitzt drei Phalangen. Der Knabe kann seine 
Hand und vor allem die Finger ganz gut gebrauchen; der die SteUe 
des Daumens vertretende Finger kann ab- und adducirt, ja sogar 
etwas opponirt werden, so dass der Knabe Gegenstände zu fassen 
und zu halten vermag. Pro- und Supination des Armes sind be¬ 
schränkt. Beugung und Streckung im Ellenbogengelenk ist vor¬ 
handen. Besser als durch die Beschreibung wird der Befund durch 
das hier angefügte Skiagramm (Fig. 3) erläutert. Ausser den sechs 
Metacarpalknochen sieht man auf dem Bilde noch radialwärts einen 
kleinen Schatten, der wohl als Rest des amputirten siebenten Fingers 
anzusehen ist. Der sechste Finger articulirt mit dem Multangulum 
majus, der überschüssige Metacarpus und der des Zeigeflngers ge¬ 
meinsam mit dem Multangulum minus. Der Radius ist nur etwa 
6 cm lang. Ob das vor ihm liegende dreieckige Knochenstück das 
Os naviculare ist oder die abgelöste Epiphyse des Radius, ist 
schwer zu entscheiden. Der linke Oberarm ist etwas kürzer als 
der rechte. 

Ueber die Entstehung dieser Defecte, resp. Hemmungsmiss¬ 
bildungen ist nichts Sicheres bekannt. Erlich hat in seiner Arbeit 
über die «congenitalen Defecte und Hemmungsmissbildungen der 
Extremitäten(Virchow's Archiv Bd. 100) einen ganz ähnlichen 
Fall beschrieben von einem Fötus aus der Sammlung von v. Reck- 

ZeltooUrift fAr orthop&disohe Chirurgie. VIII. Bend. 25 


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376 


Paul Tschmarke. 


linghausen. Es wurden bei diesem Anomalien der Gefasse an 
dem betreflfenden rechten Arm constatirt; die Arteria subclavia ent¬ 
sprang aus der Aorta descendens, war länger als die linke, also 
umgekehrt als sonst; die Arteria brachialis, radialis und ulnaris 

Pig. 3. 



waren sehr schwach entwickelt. Er gibt diesen Anomalien Schuld 
an der mangelhaften Ausbildung des Radius. In derselben Arbeit 
stellt er eine schematische Eintheilung der Missbildungen auf und 
unterscheidet: 

1. Mangel des Anlagekeimes, 

2. Mangel der Gliederung (Verlagerung), 

3. Mangel des Wachsthums (Rhachitis), 

4. Spontane Amputationen, resp. Strangulationen. 

Es ist nun zuweilen schwer, gewisse Defecte richtig zu gruppiren. 
So zählt Erlich selbst einen Fall von Radiusdefect unter Grüppe 1, 
Mangel des Anlagekeiras, während er einen Fall von doppel¬ 
seitigem totalem Defecte der Tibia unter 2 rechnet, Mangel der 
Gliederung. 


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Zwei seltene Formen angeborener Missbildung. 


377 


Wir wissen eben noch nichts Genaues über die Ursachen, 
weshalb in einem Falle ein Knochen ganz fehlt oder nur rudimentär 
entwickelt ist. Ich bin geneigt, Fälle von totalem Defect eines 
Röhrenknochens, wie den oben beschriebenen Defect der Tibia als 
ein Ausbleiben der Strahlung im Sinne Gegenbaur's aufzu¬ 
fassen. 

Auch dieser Fall von rudimentärer Entwickelung des Radius 
ist nicht leicht zu deuten und in der Eintheilung Erlich's zu ' 
gruppiren. Die vorhin erwähnte ganz ähnliche Beobachtung wurde 
von Erlich der Gruppe 1, Mangel des Anlagekeims, unterstellt. 
Es handelt sich aber nicht darum; denn ein Anlagekeim war vor¬ 
handen und hat sich sogar entwickelt, aber nur rudimentär; wes¬ 
halb, bin ich ausser Stande, zu sagen. Möglich ist es auch, dass 
es sich um Mangel des Wachsthums infolge fötaler Rhachitis handelt. 
Dagegen spricht nur die Vermehrung der Finger. Man muss meiner 
Meinung nach doch eine Störung der Anlage des Vorderarmes und 
der Hand als Ursache der Missbildung annehmen. Die Frage, welcher 
Art diese Störung war, bleibt offen. 

Was die Behandlung solcher angeborener „Klumphände* be¬ 
trifft, so hat Rincheval auf dem Chirurgencongress 1894 die Ein¬ 
pflanzung des Carpus in die längs gespaltene Ulna empfohlen; die 
Operation ist 3mal von Bardenheuer mit gutem Erfolg gemacht 
worden. 

In dem von mir beobachteten Falle wurde jeder operative Ein¬ 
griff verweigert. 


Zum Schlüsse ist es mir eine angenehme Pflicht, auch an 
dieser Stelle Herrn Dr. Blencke in Magdeburg für die liebens¬ 
würdige Herstellung der Röntgenbilder meinen Dank auszusprechen. 


Literatur. 

Erlich, Ueber die congenitaleD Defecte und Hemmungsmissbildungen der 
Extremitäten. Virchow’s Archiv Bd. 100. 

Joachimsthal, Ueber den angeborenen totalen Defect des Schienbeins. 
Zeitschr. f. orth. Chir. 1894, Bd. 3. 


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378 Tschmarke. Zwei seltene Formen angeborener Missbildnng. 

Derselbe, Deutsche med. Wochenschr. 1895, Nr. 27. 

Waitz, Ueber einen Fall von congenitalem Defect beider Tibien. Deutsche 
med. Wochenschr. 1895, Nr. 25. 

Bincheval, Ein neues Operationsverfahren zur Behandlung congenitaler 
Defecte eines Unterarm* und ünterschenkelknochens. Verhandlungen d& 
Deutschen Gesellschaft für Chirurgie 1894. 

Joachimsthal, üeber angeborene Anomalien der oberen Extremitäten. Ver¬ 
handlungen der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie 1895. 


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Referate 


Lorenz, üeber die Heilung der angeborenen Hüftgelenksverrenkung durch 
unblutige Einrenkung und functioneile Belastung. Verlag von Franz 
Deuticke; Leipzig und Wien, 1900. 

Ein umfassendes, sehr verdienstvolles Werk liegt vor uns. Auf Grund 
der grösstmOglichen eigenen Erfahrungen an mehr als 400 Fällen, die der un¬ 
blutigen Reposition von Lorenz selbst unterzogen worden sind, und unter ge< 
Dauer Berücksichtigung aller über die unblutige Einrenkung gebrachten wissen¬ 
schaftlichen Berichte hat Lorenz dieses kritische Buch geschrieben. 

Die ersten 16 Kapitel haben einen mehr allgemeinen Inhalt. Der Ge¬ 
schichte der unblutigen Therapie der congenitalen Hüftverrenkung folgen Be¬ 
merkungen über die humanitäre Bedeutung der angeborenen Hüftluxation. Im 
3. Kapitel beantwortet Lorenz die Frage; welche Arten der angeborenen 
Hüftverrenkung sind der unblutigen Einrenkung zu unterziehen? derart, dass 
alle jene Luxationen der Reposition unterzogen werden sollen, bei welchen die 
Grösse der functioneilen Störung hierzu auffordert, d. h. wohl eine jede. 

Im folgenden Kapitel unterzieht Lorenz die Leistungen der Apparat¬ 
behandlung etc. einer abfälligen Kritik und verlangt von jeder rivalisirenden 
unblutigen Methode, dass sie vor allem wirksam ist; wenigstens muss sie im 
Stande sein, die Vorbedingungen des zu erreichenden Erfolges, nämlich die 
Verlagerung des Schenkelkopfes auf die rudimentäre Pfanne zu bewirken. Dem¬ 
entsprechend formulirt er die therapeutische Aufgabe in praktischer Beziehung: 
Beseitigung der Deformität und des Hinkens bei Schaffung normaler Ausdauer 
im Gehen. 

Nach einer Reihe von nicht ganz einwandfreien Ausführungen Über 
«ultraphysiologische Schenkelstellungen durch Ueberbewegung* präcisirt er im 
7. Kapitel den Begriff der Reposition der congenitalen Hüftverrenkung dahin, 
dass durch dieselbe die Gelenkkörper (also Femurkopf und Hüftpfanne) über¬ 
haupt in unmittelbaren gegenseitigen Contact gebracht werden. Demgemäss 
ist der Schenkelkopf als reponirt zu betrachten, wenn er concentrisch auf der 
Pfanne liegt, gleichviel ob er mehr oder weniger in dieselbe eindringt. 

Sehr treffend werden dann die Beziehungen besprochen zwischen der 
unblutigen Reposition der congenitalen und deijenigen der traumatischen 
Hüftgelenksverrenkung. Mit der gelungenen Einrenkung der letzteren hat die 


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Referate. 


Therapie ihre Aufgabe eigentlich schon vollendet, während unsere thera¬ 
peutische Aufgabe mit der Reposition der angeborenen Luxation erst begonnen 
hat, ja man kann sagen, dass sie ihre eigentliche, ihre Hauptaufgabe damit erst 
angebahnt und vorbereitet hat, da die Stabilität der Reposition in der Regel 
nur eine geringe ist und nun erst die schwierige Aufgabe der Retention be¬ 
ginnt. Ebenso different wie die pathologische Anatomie der traumatischen und 
congenitalen Luxation ist also auch ihre Behandlung. 

Die anatomischen Hindernisse, die bei der unblutigen Reposition über¬ 
wunden werden müssen, sind fast ausschliesslich in den Weichtheilen zu suchen; 
diesen gegenüber spielen die Knochen eine untergeordnete Rolle. Hauptsäch¬ 
lich sind die langen pelvicruralen und pelvifemoralen Muskeln der Schrum¬ 
pfungsverkürzung verfallen. Dieser Widerstand der verkürzten Muskeln, Fas- 
cien und Sehnen kann indessen auf rein mechanischem Wege beseitigt werden 
und kommt deshalb weniger in Betracht, vielmehr wird das Glebiet der unblu¬ 
tigen Reposition fast einzig und allein durch den Eapselwiderstand bestimmt. 
Ein zu enger Kapselisthmus ist das wichtigste und wesentlichste Hindemiss der 
unblutigen Reposition. Dem Ligamentum teres erkennt Lorenz keine Bedeu¬ 
tung als Repositionshindern iss zu. 

Im 10. Kapitel werden die bekannten Einrenkungsphänomene und Dia¬ 
gnose der Reposition ausführlichst besprochen und im Folgenden die Prognose 
der Einrenkung auf klinischer und röntgographischer Basis. 

Für die dauernde Retention fallen die pathologischen Veränderungen der 
knöchernen Gelenkkörper sehr erschwerend ins Gewicht. Das Grössenmassver- 
hältniss derselben steht hier obenan, denn es steht fest, dass die rudimentäre 
Pfanne unter allen Umständen unzureichend ist, so dass sie dem Schenkelkopf 
ein verlässliches Lager nicht zu bieten vermag. Indessen vermag diese insuffi- 
ciente Pfanne den Schenkelkopf sofort festzuhalten, wenn dem Schenkel nach 
gelungener Reposition eine mehr weniger hochgradige Abductionsstellung auf¬ 
gezwungen wird. 

Das 13. Kapitel handelt von der Retention im allgemeinen. Als die zu¬ 
nächst liegende Aufgabe der Retention muss betrachtet werden, den Qelenk- 
kopf in jener mehr weniger extremen Primärstellung auf der Pfanne festzuhalten, 
bei welcher derselbe sofort eine gewisse Stabilität erkennen lässt. Die ent¬ 
ferntere Aufgabe hat darin zu bestehen, die Reposition allmählich auch mit 
minder extremen Gelenkstellungen verträglich zu machen. Ihr Endziel ist 
die Stabilität der Reposition auch bei indifferenter Streckhaltung des Ge¬ 
lenkes. 

Ausserdem sollte aber noch ein anderer, wichtiger Retentionsbehelf in 
den Heilplan eingeführt werden, nämlich die Belastung des eingerenkten 
Schenkelkopfes mit dem Körpergewichte. Und diese Belastung des Pfannen¬ 
bodens mit dem Körpergewichte durch Vermittelung des eingerenkten Gelenk¬ 
kopfes soll die rudimentäre Pfanne ausserdem wenigstens so weit ausgestalten, 
dass dieselbe den Kopf auch bei indifferenter Beinstellung zurückzuhalten ver¬ 
mag. Für das Studium dieser eventuellen Veränderungen der knöchernen 
Pfannengmbe sind die Röntgenbilder von Wichtigkeit und es werden eine ganze 
Reihe von Röntgogrammen gebracht vor und nach der Reposition, welche dar- 
thun, dass sich thatsächlich besonders am oberen Pfannendach Knoehenwuche- 


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Referate. 


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Tungen nach einer gewissen Zeit zeigen, die den reponirten Kopf von oben zu 
decken, zu stützen und schliesslich festzuhalten vermögen. 

Im Weiteren wird der Ausdruck .Transposition nach vorn“ be¬ 
mängelt, indessen zeitigen doch immer neue Verhältnisse neue Namen. 

Bezüglich der Altersgrenzen der unblutigen Einrenkung steht Lorenz 
mit gewissen Einschränkungen bei gegebenen günstigen Verhältnissen auf dem 
Standpunkte, dass dieselbe im allgemeinen bei einseitigen Luxationen bis in 
das 10. Lebensjahr, bei doppelseitigen bis in das 7., höchstens das 8. möglich 
ist Und bei den ganz kleinen Patienten soll die Reposition erst dann in An¬ 
griff genommen werden, wenn dieselben bettrein geworden sind, also frühestens 
Mitte des 2. oder noch besser im Verlaufe des 8. Lebensjahres. 

Das folgende 16. Kapitel handelt von der Behandlung jener Fälle, welche 
der unblutigen Reposition nicht mehr zugänglich sind. Im Falle der absoluten 
Verweigerung eines blutigen Eingriffes empfiehlt Lorenz die Behandlung mit 
Pseudorepositiou, worunter die möglichste Annäherung des luxirten Schenkel¬ 
kopfes an den hinteren Pfannenrand verstanden wird. Ferner empfiehlt er 
beim Zugestehen eines blutigen Eingriffes eine Combination des blutigen und 
unblutigen Verfahrens, d. h. der Reposition mit Hilfe der Arthrotomie ohne 
künstliche Pfannenvertiefung und die Nachbehandlung nach den Grundsätzen 
der unblutigen Methode. 

Im Anschluss an diese interessanten, mehr allgemeinen Ausführungen 
folgt im 17. Kapitel eine eingehende Beschreibung der Lorenz'schen Methode, 
deren wesentliche Punkte am Schluss folgendermasen zusammengefasst werden: 

1. Die präparatorische Extensionsbehandlung ist bei Kindern innerhalb 
der Altersgrenze überfiüssig; bei älteren Kindern wird dieselbe nach subcutaner 
Tenotomie der Längsmuskeln ambulatorisch durchgeführt. 

2. Bei jungen Kindern gelingt die typische Einrenkung über dem hin¬ 
teren Pfannenrand aus freier Hand durch Extension und gleichzeitige Abduction 
des rechtwinklig gebeugten, einwärts gerollten Oberschenkels. Diese typische 
Reposition aus freier Hand durch rechtwinklige Extension und Abduction führt 
immer und vollständig gefahrlos zum Ziele, wenn die Patienten rechtzeitig der 
Behandlung unterzogen werden. 

3. Zur Erleichterung der Einrenkung und zur Vermeidung der schmerz¬ 
haften Muskelspannung empfiehlt sich die vorg^ngige Mobilisirung des Gelenkes 
im Sinne der Abduction durch Myorhexis adductorum. 

4. In schwierigen Fällen älterer Kinder erfolgt eventuell nach einer 
vorbereitenden Behandlung die Einrenkung über den oberen Pfannenrand durch 
Extension des gestreckten Schenkels, oder über den hinteren resp. unteren 
Pfannenrand durch das Hebelmanöver der allmählich bis zu 90^ und darüber 
gesteigerten Abduction ,auf dem Keile*. Die Schwierigkeit der Reposition ver¬ 
leitet in solchen Fällen zur Forcirung der Hebelmanöver, welche unter solchen 
Umständen leicht Schenkelfracturen im Gefolge haben kann. Deshalb ist vor 
jeder Gewaltthätigkeit zu warnen. 

5. Misslingt die unblutige Reposition unter Anwendung mässiger Gewalt, 
so tritt die Reposition durch Arthrotomie (ohne künstliche Vertiefung der rudi¬ 
mentären Pfanne) in ihr Recht, während die weitere Nachbehandlung conform 
den Principien der unblutigen Methode durchgeführt wird. 


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Referate. 


6. Nach gelungener unblutiger. Reposition wird eine unmittelbare Yer^ 
mehrung der primären Stabilität derselben durch Dehnung der vorderen fibrösen 
Wand der Pfannentasche mittelst bohrender Auswärtsrollungen angestrebt. 

7. Als Primärstellung kann nur bei sehr günstigen anatomischen Ver¬ 
hältnissen eine Gelenksmittellage gewählt werden (primäre Mittellage), ln der 
Mehrzahl der Fälle wird man zu einer mehr weniger hochgradigen, jedenfalls 
ultraphysiologischen, eventuell leicht Überstreckten Abduction greifen müssen, 
welche die Möglichkeit einer Relaxation nach hinten ausschliesst. Die Primär¬ 
stellung ist im allgemeinen durch eine indifferente Rollung des Schenkels aus¬ 
gezeichnet. 

8. Die Fixation der Primärstellung erfolgt durch einen compendiöaen 
Verband ohne Anwendung irgend welches ,künstlichen** Druckes. 

9. Wenn die Reposition während der 4—5 Monate dauernden ersten 
Fixationsperiode gegen eine Relaxation nach hinten verlässlich stabil geworden 
ist. wird die Primärstellung eventuell in mehreren Sitzungen vorsichtig so weit 
corrigirt. dass wenigstens annähernd eine Mittellage des Gelenkes (in Flexion 
und Abduction) erreicht wird (secundäre Mittellage), dieselbe wird während 
einer zweiten 5—6 Monate dauernden Periode mittelst compendiösen Verban¬ 
des fizirt 

10. Gerade so. wie sich die Methode durch die eventuell mit leichter 
Ueberstreckung combinirte stärkere Abduction während der ersten Fixations¬ 
periode vor allem gegen das grössere Uebel der hinteren Relaxation sicherstellt, 
sucht sie in der (secundären) Flexion der späteren Fixationsperiode einen Schutz 
gegen das kleinere Uebel der vorderen Relaxation nach oben. 

11. Die vollständige Correctur der Primärstellung erfolgt nicht durch 
Verbände, sondern ganz allmählich auf dem Wege activer Gymnastik, also 
unter vernehmlicher Mithilfe des in vollständiger Freiheit behandelten Kindes. 

12. Als Retentionsbehelf bedient sich die Methode lediglich der differenten, 
durch compendiöse Verbände exact fixirten Stellungen, ohne irgend welche 
künstliche Druckwirkungen, ferner der durch die Reposition erzeugten Muskel¬ 
spannungen. hauptsächlich aber der functionellen Belastung des Pfannenbodens 
mit dem Körpergewichte durch den reponirten Schenkelkopf. Zur Nachbehand¬ 
lung verwendet die Methode keine wie immer geartete Stütz- oder Druck¬ 
maschine, sondern erblickt als die wichtigste Aufgabe dieser Behandlungsphase 
die Restitution der Muskelkiäfte. welche durch drückende und pressende Stütz¬ 
apparate keinesfalls gefördert wird. Indem sich die Methode nur jener natüi^ 
liehen Retentionsmittel bedient, welche aus der gelungenen Reposition gewisser- 
massen von selbst resultiren, und dabei ebenso gleichmässig als kraftvoll wirken, 
erlangt sie bei völligem Verzicht auf alle durch künstliche mechanische Mittel 
aufgebrachten ungleichuiässigen und unverlässlichen Druckwirkungen eine cha¬ 
rakteristische Einfachheit. 

13. Sowohl aus diesem Grunde als auch wegen der gänzlichen Entbehr¬ 
lichkeit eines kostspieligen Instrumentariums — dieses letztere wird einzig und 
allein durch die chirurgische Hand, im äussersten Falle durch einen leicht im- 
provisirten Holzkeil dargestellt — ist die Methode der grössten Verallgemeine¬ 
rung fähig; sie soll und dai*f in Zukunft nicht das Monopol der Specialisten 
bleiben, sondern kann wegen der vollständigen Unabhängigkeit des Arztes vom 


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Referate. 


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Schienentechsiker an jedweder entlegensten chirurgischen Station gerade so 
wie an jeder Klinik mit Erfolg geübt werden — und dies um so mehr, als die 
Behandlung bis auf wenige Tage eine ambulaute ist, und durchaus nicht jene 
mühsame und langwierige Nachbehandlung erfordert wie die operative Repo¬ 
sition, welche nur in der Hand einzelner, in dieser Aufgabe völlig aufgehender 
Specialisten Erfolge erreichen konnte. Ausserdem erlaubt die Methode auch 
die Behandlung weit entfernt wohnender Patienten, da äussersten Falles nur 
ein zweimaliger und jedesmal nur wenige Tage dauernder Aufenthalt des Kin¬ 
des am Behandlungsorte nothwendig ist, ein Vortheil, der spedell für chirur¬ 
gische Kliniken und Abtheilungen nicht zu unterschätzen ist, 

14. Die Reposition der doppelseitigen Hüftverrenkung ist nur dann zwei¬ 
zeitig durchzuführen, wenn die Umstände (grosse Schwierigkeit und lange Dauer 
oder gänzliches Misslingen der Reposition an der einen Seite bei schon älteren 
Kindern) dazu zwingen. Bei jüngeren Kindern ist unter allen Umständen die 
gleichzeitige Behandlung vorzuziehen. 

15. Die myogene Kniecontractur ist als ein wichtiges klinisches Symptom 
der gelungenen und fortbestehenden Reposition zu betrachten, muss jedoch 
während der Fizationsperiode durch Dehnung der angespannten Beuger mittelst 
activer und passiver Gymnastik beseitig^ werden. Die Correctur der Primär¬ 
stellung erfolg^ auch hier mittelst der Verbände nur bis zur Erreichung einer 
annähernden Mittellage der Gelenke. Die Vollendung der Correctur geschieht 
auf ganz langsame Weise vornehmlich durch active Gymnastik von Seite der 
Patienten. 

Die folgenden Kapitel betreffen die Rückwirkung der unblutigen Repo¬ 
sition auf die Skoliose und Lordose der Wirbelsäule und die üblen Zufälle und 
Gefahren bei der Einrenkung. Dann wird die bisherige Verbreitung der 
Lorenz'schen Methode besprochen und fremde Urtheile Über dieselbe an¬ 
geführt. 

Das Kapitel 21 behandelt die Modificationen der Loren zischen Methode. 
Zunächst wird die Schede'sche Methode besprochen und im Anschluss daran 
das Für und Wider bezüglich der primären Innenrollung besprochen. Wider¬ 
spruch wird sicher erfahren der besonders hervorgehobene Satz: Die künstlich 
gesteigerte Innenrollung ist demnach eine die Retention ausserordentlich com- 
plicirende, die Gefahr einer hinteren Reluxation entschieden vergprössemde und 
die Gefahr einer oberen Reluxation gewiss nicht vermindernde, dabei den 
Patienten belästigende sowie die Locomotion erschwerende Massregel, welche 
mit dem einfachen Principe der natürlichen Belastung des Pfannenbodens durch 
das Körpergewicht im Widerspruch steht. 

Nunmehr kommt Lorenz zu den Resultaten seiner Methode, zuerst in 
anatomischer Beziehung. Er betrachtet in dieser Hinsicht unter gewissen an¬ 
gegebenen Einschränkungen alle jene Fälle als geheilt, bei denen das Röntgen¬ 
bild zeigt, dass der Schenkelkopf annähernd im Pfannenniveau unter einem 
mit gut ausgebildeter lateraler Kante versehenen, opaken, knöchernen Pfannen- 
dache gestützt ist, während die klinische Untersuchung denselben in der Leisten¬ 
furche, etwas nach aussen von ihrer Mitte, deutlich nachweisen kann. 

Dies trifft unter 212 Fällen an 108 Gelenken zu und es wird hierfür 
eine Reihe besonders typischer, durch die zugehörigen Krankengeschichten er- 


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Referate. 


gänzter Beispiele gebracht, zu deren Illustration 12 Bilder einseitiger reponirter 
Luxationen dienen. Auch für die doppelseitige angeborene Verrenkung werden 
Heilungen in anatomischer'Beziehung gebracht, dabei betont Lorenz, dass 
jene Röntgogramme, welche ein mehr oder weniger inniges Ineinandergreifen der 
Knochenschatten der Gelenkskörper aufweisen, ziemlich spärlich vorhanden 
sind, ohne dass deshalb die praktischen Erfolge vermindert werden. 

Im Anschluss hieran bespricht Lorenz jene Resultate, welche auf Grund¬ 
lage des Röntgenbefundes als minderwerthig oder schlecht bezeichnet werden 
müssen, also die Fälle von .vorderer Subluxation nach oben* und die Fälle 
von .vorderer completer Reluxation* des reponirten Schenkelkopfes nach oben^ 
bei denen indessen die Function eine so ausgezeichnete, dass dieser Umstand 
den früheren Irrthum, als lägen hier auch anatomisch einwandfreie Heilungen 
vor, wesentlich unterstützen musste. Die Subluxation ist unter 212 eingerenkten 
Gelenken 20mal vertreten, die vordere obere Reluxation zeigte das Röntgenbild 
82mal, es ergaben sich also 108 anatomische Erfolge gegenüber 102 anatomischen 
Misserfolgen. 

Da nun aber die praktische Bedeutung der Methode nicht in einseitiger 
Weise nach dem Schattenbilde beurtheilt werden darf, so wendet sich Lorenz 
nunmehr den Resultaten in cosmetischer Beziehung zu. Es wird das vollkom¬ 
mene Verschwinden der mit einseitiger, vor allem aber der mit doppelseitiger 
Verrenkung in so auffallender Weise verbundenen körperlichen Verunstaltung 
erreicht. Zur Illustration des Gesagten werden wiederum die Bilder von 
5 Patienten vor und nach der Behandlung beigebracht. 

Zum Schluss werden die Resultate in functioneller Beziehung besprochen. 
Die functionelle Heilung verlangt eine normale Ausdauer und eine normale 
Gleichmässigkeit des Ganges, also das vollkommene Verschwinden der vorzeitigen 
Ermüdung sowohl als auch des Hinkens, Effekte, die in letzter Linie von dem 
erreichbaren Grade der Muskelrestitution abhängig sind. Nach den Erfahrungen 
von Lorenz sind zu dieser Heilung im allgemeinen sowohl bei einseitigen als 
auch bei doppelseitigen Fällen etwa 2 Jahre noch nach Schluss der Fixations¬ 
behandlung nöthig. 

Das Schlusskapitel 23, als Anhang geschrieben, behandelt ausführlich die 
von verschiedenen Seiten erfolgten Angriffe auf die Loren zische Methode mit 
der nöthigen Abwehr. 

So sehen wir auch aus diesen nur kurzen referirenden Worten, einen 
wie reichen Inhalt dieses Werk birgt. Demselben wird sicher von allen Seiten 
das grösste Interesse entgegengebracht werden, und jeder, der sich mit der 
Heilung der angegebenen Hüftgelenksverrenkung befasst, wird seine Freude 
haben an der Gediegenheit dieses Buches. Gocht-Würzbutg. 

P. Redard, Traitd Pratique des Deviations de la Colonne vertdbrale. Avec 

231 figures dans le texte. Paris, Massen et Cie. 1900. 

Vei’fassser bespricht in ausgezeichneter Weise die Verkrümmungen der 
Wirbelsäule und ihre Behandlung und legt seine Erfahrungen nieder, die er 
im Laufe von 15 Jahren gesammelt hat. Obgleich Verfasser betont, dass es 
sich hauptsächlich um eine praktische Studie handelt, hat er doch nicht ver¬ 
säumt, auch die pathologische Anatomie gebührend zu berücksichtigen. Re- 


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Referate. 


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dard beschreibt zunächst die Verkrümmungen der Wirbelsäule im antero- 
posterioren Sinne, also die verschiedenen Formen der Kyphose und Lordose, 
darunter auch sehr ausführlich die Pottasche Erkrankung der Wirbelsäule. 
Bei seinen Redressements wendet Re dard die äusserste Vorsicht an und hat 
deshalb auch nicht die üblen Zufölle zu beklagen, wie sie von anderer Seite 
des Öfteren vorgekon^men sind. Die Narkose wird zur Redression nur selten 
angewendet. Auch die Behandlung der seitlichen Verkrümmungen (Skoliosen) 
ist eingehend geschildert und durch Abbildungen von Apparaten, die zum Theil 
vom Verfasser selbst construirt sind, erläutert Ein besonderes Kapitel ist ferner 
den seitlichen Verkrümmungen gewidmet, die auf nervöser Basis beruhen, wie 
sie durch Hysterie, Ischias, Kinderlähmung, Little'sche Erkrankung u. s. w. 
verursacht werden. . Es folgt dann ein Kapitel über die Skoliose des Adolescents 
(habituelle Skoliose), in welchem Re dard die verschiedenen Statistiken des 
Auslandes sichtet und einige sehr schöne Präparate und Radiographien der 
kypho-skoliotischen Wirbelsäule abbildet. Den Schluss des Werkes bildet ein 
genaues Literaturverzeichniss, in dem, wie auch sonst überall im Buche, die 
deutschen Forscher eingehend berücksichtigt werden, auch in ihren neueren 
Publica tionen. 

Das Buch ist vorzüglich ausgestattet und mit schönen Abbildungen ver¬ 
sehen, so dass wir ein fleissiges Studium der interessanten Einzelheiten, die wir 
in einem Referat nicht berücksichtigen konnten., aufs Wärmste empfehlen 
können. Lilienfeld-Würzburg. 


Atlas der normalen und pathologischen Anatomie in typischen Röntgenbildem. 

Hamburg, Lucas Gräfe u. Sillem, 1900. 

Die Herausgeber der «Fortschritte auf dem Gebiete der Röntgenstrahlen“, 
Professor Dr. Deycke und Dr. A11 e r s - Schönberg, haben sich der dankens- 
werthen Aufgobe unterzogen, einen Atlas der normalen und pathologischen 
Anatomie in typischen Röntgenbildern zu schaffen. Von diesem umfassenden 
Werke sind bisher die ersten 4 Hefte erschienen. 

1. Lambertz, Die Entwickelung des menschlichen Knochengerüstes 
während des fötalen Lebens. 

Verfasser gibt zunächst einleitend Mittheilungen über die hier in Betracht 
kommenden Besonderheiten der Röntgentechnik und hebt mit Recht die Schwierig¬ 
keiten in der Deutung der Bilder hervor. Einer kurzen Darstellung der Bil¬ 
dung des häutigen und knorpeligen Skeletts folgt eine sehr eingehende und 
zusammenfassende Darstellung der Entwickelung des knöchernen Kopf-, Rumpf¬ 
and Extremitätenskeletts; eine grosse Anzahl von Figuren im Text illustriren 
diesen ersten Abschnitt. 

Die letzten 80 Seiten gehören ausschliesslich der genauesten Beschreibung 
der zum Schluss angefügten Röntgenbilder; dieselben zeigen in ausgezeichneter 
Klarheit und in lehrreichster Weise die fortschreitende Ossification an Föten der 
verschiedenen Alterswochen; manche Punkte, wie das Diaphysenwachsthum, die 
Bildung der Epiphysenkeme, das Verhalten der Emährungskanälchen der langen 
Röhrenknochen, die Entwickelung des Kopfskeletts in allen ihren Einzelheiten 
werden neben vielem andern Wichtigen und Interessanten sehr anschaulich und 


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Referate. 


prägnant dem Leser vor Augen geführt. Um das Yerständniss der Röntgen¬ 
bilder noch zu erleichtern, sind schliesslich noch weitere 27 Figpiren angefügt. 

2. Joachimsthal, Die angeborenen Verbildungen der oberen Ex¬ 
tremität. 

Verfasser führt uns an der Hand lediglich eigener Beobachtungen in 
typischen Bildern die wichtigsten Erkrankungsformen vor. Eine sehr instructive 
Zugabe bilden sowohl die im Text eingefügten Photographien als auch die 
Reconstructionszeichnungen nach Pfitzner-Strassburg, die eine ausserordent¬ 
liche Verdeutlichung der Röntgenbilder liefern. 

Einmal bieten die Röntgenaufnahmen für die nöthigen chirurgiscbexi 
Massnahmen bei den angeborenen Verbildungen einen grossen Vortheil, anderer¬ 
seits haben dieselben für den Anatomen einen hohen Werth, da sie in vivo den 
genauesten Einblick in die hier oft so eigenartigen und complicirten Verhält¬ 
nisse gestatten, während sich nur selten Gelegenheit bietet, anatomische Unter¬ 
suchungen post mortem bei solchen Missbildungen vorzunehmen. 

Zuerst wird der angeborene Hocbstand der Scapula in mehreren Fällen 
besprochen, dann folgen sogenannte fötale Amputationen und Abschnürungen 
am Vorderarm, der Hand und den Fingern. Das folgende Kapitel betrifft die 
angeborenen Defecte des Ober- und Vorderarms bei vorhandener Hand und den 
Mangel des Radius. Ausserdem werden besprochen Fälle von Defecten einzelner 
Finger und entsprechender Theile der Hand, oder Bracbydaktylie und Hyper- 
phalangie, die Polydaktylie, die Verschmelzung von Metacarpalknochen und Fingern. 
die Verdoppelung der Zeigefinger bei Mangel der Daumen und die Spalthand. 

33 Röntgenbilder zeigen zum Schluss den hohen praktischen und wissen¬ 
schaftlichen Werth des Röntgenverfahrens für die Erforschung der morpholo¬ 
gischen Verhältnisse bei diesen Missbildungen. 

3. Schede, Die angeborene Luxation des Hüftgelenkes. 

Auf Grund seiner grossen Erfahrungen auf diesem Gebiete und unter 
Würdigung der uns durch das Röntgenbild gegebenen Erweiterungen unserer 
Kenntnisse entwirft Schede ein sehr inhaltreiches und dabei kurzes Bild der 
Luxatio coxae congenita. 

Einleitend hebt er hervor, wie sich bei der Seltenheit der Sectionen und 
bei der Unsicherheit und zu geringen zweifellosen Fixirbarkeit der sonstigen 
Untersuchungsergebnisse die Schwierigkeit geltend machte, auf eine Reihe von 
Detailfragen an der Hand sicherer anatomischer Vorstellungen schon bei der 
klinischen Untersuchung eine präcise Antwort zu bekommen. Da gab denn die 
Röntgenuntersuchung viel Aufklärung. Grösse und Form der knöchernen Pfanne, 
des Schenkelkopfes und des Halses, die Grösse des Winkels zwischen Schenkel« 
Schaft und Hais, der Grad der Verbiegung des letzteren, bezw. der Torsion des 
ganzen oberen Schenkeltheils nach aussen, alles das war nun auf einmal sicht¬ 
bar geworden. Und nicht allein das Ergebniss der Untersuchung konnte nun¬ 
mehr fixirt und mit aller photographischen Treue anderen mitgetheilt werden, 
auch über die therapeutischen Erfolge ist die Röntgenphotographie wenigstens 
insofern zum untrüglichen Richter geworden, als sie mit Sicherheit zeigt, ob 
der Gelenkkopf an den Pfannenort gebracht ist und ob er bei der Belastung 
seine Beziehungen zum Becken ändert oder nicht. Auch die berechtigten und 
nöthigen Einschränkungen erfährt hier die Röntgenuntersuchung. 


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Referate. 


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Verfasser hat aus seinem grossen Material 44 Luxationsbilder ausgewählt 
und dem Atlas zu Grunde gelegt. Dieselben zeigen die charakteristischen For¬ 
men der anatomischen Veränderungen von den häufigsten bis zu den seltensten, 
von den primären, im frühesten Kindesalter vorkommenden bis zu den späteren 
secundären, die sich unter dem Einfluss von abnormen Belastungsverhältnissen 
bis zum Pubertätsalter erst allmählich aus jenen entwickeln. 

Der Text umfasst demgemäss in einzelnen Kapiteln die Entstehung der 
angeborenen Luxation, die Richtung der primären Luxation, die unvollständigen 
Luxationen, die Veränderungen am Kopf und oberen Femurende, die Verände¬ 
rungen am Becken und im letzten ausführlichsten Kapitel die Reposition der 
angeborenen Luxation. 

Zum Schluss dienen noch 3 Seiten der genauen Erläuterung der 44 Rönt¬ 
genbilder. 

So haben wir an diesem ein ausserordentlich empfehlenswerthes Werk, 
das den sich für die Hüftgelenksluxation interessirenden Aerzten ein sehr an¬ 
schauliches Bild dieser Frage gibt. 

4. Jedlicka, Kratzenstein und Scheffer, Die topographische 
Anatomie der oberen Extremitäten. 

Im ersten Tbeil gibt uns Jedlicka an der Hand von 8 Tafeln mit 
18 Röntgenbildem den denkbar genauesten Einblick in das Ellenbogengelenk. 
Die Röntgogramme sind ganz ausgezeichnete und die Erklärungsart durch die 
jedesmal rechts daneben befindlichen gezeichneten Schemata ist sehr gut, 
so dass man durch dieselben eine wunderbare Einsicht erhält. Es ist nur zu 
bedauern, dass die üebersicht dadurch leidet, dass immer zu viel Bilder auf 
eine Tafel gebracht sind, ein Fehler, der im zweiten Theil dieses Heftes ver¬ 
mieden ist, nämlich bei der Beschreibung des Hand- und Schultergelenkes durch 
Kratzenstein und Scheffer. Auch diese 12 Bilder sind von grösster tech¬ 
nischer Vollkommenheit und haben für aUe Stellungen ein so klares Schema, 
wie es jedem Röntgographen als Vergleichs- und Orientirungsbild nur erwünscht 
sein kann. Auch die Art und Weise, wie hier die Deutung der einzelnen 
Knochenpunkte gegeben ist, nämlich durch punktirte Linien und eingezeichnete 
Zahlen, ist eine vortreffliche. 

Wollen wir also zum Schluss unser ürtheil über diesen Atlas zusammen¬ 
fassen, so müssen wir sagen, dass er in seinen bisherigen 4 Heften das denkbar 
Vollkommenste bringt. Dieser Atlas wird jedenfalls berufen sein, das Haupt¬ 
nachschlagewerk in der Bibliothek jedes Arztes zu bilden, der sich mit der 
Röntgenuntersuchung beschäftigt und der zur richtigen Deutung seiner Bilder 
Vergleichsbilder normaler und anormaler Knochen- und Gelenkbilder braucht. 
Wir empfehlen deshalb dieses schöne Werk aufs angelegentlichste und vergessen 
nicht, neben den Herausgebern auch den Verlegern unsere Anerkennung für 
diese Leistung zu zollen. G o c h t -Würzburg. 


Redard und La van, Atlas de Radiographie. Paris, Massen et Cie., ^diteurs 
libraires de Tacadömie de mödecine, 120, Boulevard Saint-Germain. 1900. 
Davon ausgehend, dass für das Studium der Deformationen, sowie der 
Knochen- und Gelenkkrankheiten auf entzündlicher Basis die Röntgen strahlen 


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Referate. 


heute ein unentbehrliches Hilfsmittel geworden sind, haben Verfasser aus dem 
grossen Material ihrer Klinik diesen Atlas zusammengestellt. Es wird hervor¬ 
gehoben. dass es vor allem die Röntgographie. nicht die Röntgoskopie 
ist. welche für das grosse Gebiet der infantilen und orthopädischen Chirurgie 
bezüglich der Diagnose, der Prognose und der Behandlung von grösster Be¬ 
deutung ist. 

Die Ausstattung und die Anordnung ist eine ganz vortreffliche. Nach 
kurzen einleitenden Worten für jedes Kapitel haben wir jedesmal auf der 
rechten Seite das betreffende Röntgenbild, links den dazu gehörigen erläutern¬ 
den Text. So ist die Uebersichtlichkeit eine sehr gute. 

Das 1. Kapitel behandelt die Deformitäten der Wirbelsäule; Tafel I—IV 
zeigt uns verschiedene Grade der Skoliose, auch vor und nach der Behand¬ 
lung. Tafel V—XIV illustriren verschiedene Fälle und Stadien des malum 
Pottii. Wir sehen hier Verbiegungen, Einschmelzungen und Verklebungen ver¬ 
schiedener Wirbelkörper; die Affectionen betreffen alle Theile der Wirbelsäule, 
in Ansicht von vorn nach hinten und auch von der Seite. 

Das 2. Kapitel zeigt uns die verschiedensten Erkrankungen, wie Rhachitis, 
Genu valgum, Osteomyelitis, Osteosarkom und partielle Knochendefecte. 

Im 3. Kapitel finden wir auf 13 Tafeln Bilder der tuberculösen Knochen- 
und Gelenkerkrankungen, mit ganz besonderer Berücksichtigung der Hüftgelenks¬ 
entzündung. Letztere Bilder sind vor allem lehrreich und zeigen uns alle mög¬ 
lichen Stadien und Complicationen: tuberculöse Heerde im Schenkelhals und 
Kopf, synoviale fungöse Wucherungen, Deformationen an Kopf, Schenkelhals 
und im Pfannengebiet, Lösung des Kopfes, Subluxation und Luxation des Kopfes 
nach oben und hinten, Pfannenwanderung, Ankylosenbildung, Sequester, Ver- 
grösserung und Verkleinerung des Schenkelhalswinkels u. s. w. 8 Bilder von 
Coxa vara rhachitica beschliessen dies interessante Kapitel. 

Das vierte und letzte Kapitel schildert die Bedeutung des Röntgenbildes 
für die angeborene Hüftgelenksluxation; Verfasser bezeichnen mit Recht die 
Röntgenuntersuchung für geradezu unentbehrlich. Denn sie allein gestattet, sich 
in vivo aufs Genaueste Rechenschaft zu geben von den Details der ganzen Ge- 
lenksconfiguration, von dem Grade der vorhandenen Deformität und vor allem 
von dem anatomischen Resultat der Behandlung. Desgleichen wird die diffe¬ 
rentialdiagnostische Wichtigkeit des Röntgenbildes bervorgehoben. 

21 Tafeln illustriren alle hierher gehörigen Einzelheiten. Wir haben vor 
uns die verschiedenen Grade von Luxationen, in den verschiedenen Lebensaltern; 
unblutig reponirte Hüften in verschiedenen Stadien der Retention, auch bei 
nach 2 Jahren abgeschlossener Behandlung. 

Aus diesen einem Referate entsprechenden kurzen Andeutungen geht zur 
Genüge hervor, mit einem wie guten Werk wir es hier zu thun haben. Die 
Bilder sind durchweg sehr gute; dieselben sind ebenso sorgfältig als lehrreich 
ausgewählt, der erläuternde Text ist kurz, aber vollauf genügend klar. 

Ausserdem ist die Reproduction der Bilder auf grossen Tafeln, von denen 
jede immer nur ein Bild enthält, eine sehr gute und übersichtliche. 

Der interessante Atlas wird nach alledem überall eine sehr gute Auf¬ 
nahme finden. Gocht-Würzburg. 


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Referate. 


389 


Dr. Max David, Grundriss der orthopädischen Chirurgie. Berlin 1900. Ver¬ 
lag von S. Karger. . 

Verfasser hat in kurzer Ausführung einen Ueberblick über den heutigen 
Stand der orthopädischen Chirurgie gebracht. Im ersten allgemeinen Theil 
werden das Wesen der functionellen Orthopädie und die in derselben verwen¬ 
deten therapeutischen Eingriffe (Massage, Gymnastik, corrigirende Massnahmen) 
besprochen, der zweite specielle Theil behandelt in 5 Kapiteln die Deformitäten 
des Kopfes und Halses, des Thorax, der Wirbelsäule, der oberen und zum Schluss 
der unteren Extremität. 

Wie schon der Titel sagt, soll das Buch einen kurz gefassten, den An¬ 
forderungen des Studirenden und besonders des praktischen Arztes angepassten 
Leitfaden darstellen; Verfasser will dazu beitragen, dass dies Gebiet der Me- 
dicin auch dem praktischen Arzt mehr und mehr erschlossen wird. 

Wir begrüssen dieses auf unserem Specialgebiet neu erscheinende Werk 
und bedauern nur, dass fast durchweg die Ausführung der Abbildungen eine 
so sehr minderwerthige ist. Gocht-Würzburg. 

A. Baginsky, Handbuch der Schulhygiene. Ferdinand Enke, Stuttgart, 1900. 

Der erste Band dieses für die heutige Jugend und ihre Interessen, sowie 
für die Schulmänner und Aerzte so gewichtigen Werkes erschien vor l*/« Jahren. 
Jetzt liegt auch der zweite Band in dritter, vollständig umgearbeiteter Auf¬ 
lage vor. 

Die ersten 185 Seiten umfassen die Hygiene des eigentlichen Unterrichts, 
und zwar nur vom Standpunkte des Hygienikers und Arztes aus. Verfasser 
ist deshalb nur insoweit mit Urtheilen und Rathschlägen hervorgetreten, als 
der Unterricht geeignet erscheint, auf die gesundheitliche Entwickelung des 
Kindes Einfluss zu nehmen, und die Vorschläge suchen möglichst das gesund¬ 
heitlich Nothwendige den bestehenden Verhältnissen anzupassen. 

Der folgende Abschnitt (Theil III. des ganzen Werkes) handelt von dem 
Einfluss des Unterrichts auf die Gesundheit, d. h. von den mit dem Schulleben 
in Beziehung, gebrachten KrankheitsVorgängen. Wir finden hier eingehende 
Ausführungen und die interessantesten statistischen Aufstellungen über allgemeine 
Ernährungsstörungen; Erkrankungen des Wirbelsystems, Krankheiten des Nerven¬ 
systems., Augen- und Ohrenerkrankungen, Krankheiten der Respirationsorgane, 
des Circulationsapparates, der Verdauungsorgane und schliesslich der Sexual- 
organe bei schulpflichtigen Kindern, Erkrankungen, für die hier die Schule ver¬ 
antwortlich gemacht werden muss. 

Im letzten und IV. Theil finden wir die Frage von der hygienischen 
Ueberwachung der Schulen genau erörtert. Verfasser ist mit Recht und durch¬ 
aus auf seinem schon früher präcisirten Standpunkt stehen geblieben, dass der 
ärztliche Einfluss in der Schule nothwendig ist. 

Erinnern wir noch einmal kurz daran, dass sich im I. Bande alles Wissens- 
werthe sowohl bezüglich der allgemeinen Anlage der Schulbauten und des 
Schulgebäudes, als auch betreffend die Einrichtungen des Schulzimmers findet, 
so haben wir das umfangreiche, wissenschaftliche Werk für den Rahmen eines 
Referates genügend charakterisirt. Dasselbe wird in den interessirten Kreisen 
allerseits die ihm gebührende hohe Würdigung finden. Gocht-Würzburg. 


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390 


Referate. 


Hoffa, Zur Behandlung des hochgradigen Schiefhalses mittelst partieller 
Exstirpation des Kopfnickers nach Mikulicz. Archiv für klinische Chi- 
rurgie, 61. Bd. Heft 3. 

Verfasser möchte die obige Operation für angezeigt halten in allen 
schweren Fällen von Caput obstipum, die entweder mit schon hochgradiger, 
länger bestehender Deformität unsere Hilfe aufsuchen, oder bei solchen, die 
vorher vergeblich in der bekannten Weise orthopädisch behandelt worden sind. 

Hoffa stellt 4 solche Fälle vor, die mit Exstirpation des unteren Zwei¬ 
drittels des M. stemo-cleidomastoideus behandelt worden sind, und die alle 
ein ganz vorzügliches Resultat aufweisen. Gegenüber den anderen Methoden 
hebt Hoffa hervor, dass jede Nachbehandlung unterbleiben kann und dass 
die Reddive bei den bisherigen Operationsmethoden keineswegs selten sind. 

Lilienfeld -Würzburg. 

V. Noorden, Zur Schiefhalsbehandlung. Münchener medic. Wochenschrift 
1900, Nr. 10, S. 323. 

Die Anamnese des hier veröffentlichten Schief halses wird als casuistischer 
Beitrag zur Stütze der Kader'schen Hypothese der Entstehung der Schiefhälse 
— Hand in Hand gehen von Verletzung und Infection des Muskels — angeführt: 
Steissgeburt, im 5. Lebensjahr mehrere Infectionskrankheiten hinter einander: 
Keuchhusten, Masern, Varicellen. Im Anschluss hieran wurde dann zuerst die 
schiefe Haltung des Kopfes entdeckt. Es ist nun zwanglos anzunehmen, dass 
bei der Gebuit eine Schädigung des Muskels statthatte, welche die Qualität 
des Gewebes auf immer veränderte, das dann später gelegentlich einer Infections- 
krankheit in chronischen Entzündungszustapd mit nachfolgender Schrumpfung 
gerieth; der mikroskopisch-anatomische Befund machte eine früher abgelaufene 
Entzündung des Muskels wahrscheinlich. Die Therapie bestand in Resection 
der Portio sternalis und Durchtrennung der seitlichen und tieferen Fasern und 
Fascienlager. Es wurde kein Fixationsverband angelegt, nur späterhin häufiges 
Liegen auf der schiefen Ebene in Glisson'scher Schwinge und tägliche Mas* 
sage für längere Zeit. Ehebald*Würzburg. 


Pfeiffer, Zur Aetiologie und Therapie des Caput obstipum musculare, Inau* 
gural-Diss. Berlin, 1900. 

Pfeiffer veröffentlicht 38 Fälle von Caput obstipum aus der KönigL 
Klinik zu Berlin, von denen 25 durch Operation behandelt wurden und 18 mit 
Massage. Die Geburt dieser Kinder war in 18 Fällen in Steisslage, wovon 6 
mit Kunsthilfe, Imal in Fusslage, llmal in Kopflage vor sich gegangen. Ans8e^ 
dem war in 3 Fällen die Wendung, und in 4 eine Zange gemacht worden. 
Nach übersichtlicher Darlegung der verschiedenen Anschauungen über die Ent¬ 
stehung des Leidens kommt Verfasser in betreff der Aetiologie zu folgenden 
Schlüssen: 

1. Das intrauterine Entstehen der Kopfnickercontractur infolge dauernd 
schlechter Lage oder Entwickelungsstöning in relativ früher Zeit des fötalen 
Lebens oder ähnlichem ist, wenn auch nicht häufig, aber doch sicher beobachtet 
worden. 


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Referate. 


391 


2. Halten neugeborene Kinder den Kopf schief, so ist auch an die aller- 
iiings seltene physiologische Lateralflexion zu denken. 

3. Bei weitem am häufigsten entsteht ein Caput obstipum infolge einer 
Zerreissung meistens desjenigen Stemocleidomastoideus, der bei dem Geburts¬ 
acte hinten im Becken sich befindet; gewöhnlich ist es der rechte; doppelseitig 
ist so gut wie gar nicht zu erwarten. 

4. Am leichtesten kommen die Verletzungen bei schweren Geburten vor, 
die entweder spontan verlaufen oder künstlich beendet sind; doch sind sie auch 
bei ganz leichten spontanen Entbindungen beobachtet. 

5. Die wichtigsten Momente für die Läsion des Muskels sind die Torsion 
des Kopfes zur Schulter und die Muskelcontraction bei vorzeitiger Athmung. 

6. Secundär rufen die Verletzungen einen Process hervor, der seiner * 
Aetiologie und seinem Verlaufe nach Myositis interstitialis fibrosa traumatica 
(Mikulicz) genannt werden darf und mit dem sogenannten Hämatom (Induration) 
beginnt. 

Endlich erfahren noch die verschiedenen Behandlungsmethoden eine ein¬ 
gehende Würdigung. 

Je nachdem soll das therapeutische Vorgehen ein verschiedenes sein. 
Folgende Regeln kommen dabei in Betracht, die auch in der Berliner Königl. 
Klinik eingehalten werden. 

So lange noch Induration im Stemocleidomastoideus nachzuweisen ist, 
führt in vielen Fällen eine energische Massage zum Ziel, bei hartnäckigen 
Indurationen aber tritt die Exstirpation des Gallus an Stelle der Tenotomie. 
Ist der Muskel bereits sehnig degenerirt und als verkürztes, straffes Band fühl¬ 
bar, so ist zu operiren, wobei die offene Durchschneidung der subcutanen Myo¬ 
tomie vorzuziehen sei. Ein den Kopf in corrigirter Haltung fixirender Ver¬ 
band sei sehr wesentlich für das Resultat und eine orthopädische Nachbehandlung 
nie zu entbehren. Ehebald-Würzburg. 

Schorstein, A Gase of congenital absence of both clavicles. The Lancet 

Jan. 7. 99. 

Carpenter, A Gase of absence of the clavicles ibidem. 

Im ersten Falle handelte es sich um ein IBjäliriges Mädchen, bei welchem 
zufällig bei der Untersuchung eine Deformität der Schlüsselbeine gefunden 
wurde. Die Schultern waren etwas gesenkt und nach vorn gefallen; die Fossae 
supra- und infraclaviculares nicht vorhanden. Bei der Palpation zeigte es sich, 
dass die äusseren zwei Drittel beider Glaviculae fehlten, die inneren Drittel 
articulirten normalerweise mit dem Sternum. Das äussere Ende war deutlich 
dicht unter der Haut fühlbar. Mit diesem war die Clavicularpoi-tion des M. 
stemocleidomastoideus verbunden, welcher beiderseits gut entwickelt war. Die 
erste Rippe und die Ansätze des M. scalenus anticus waren deutlich palpabel, 
ausserdem die Art. subclavia zu comprimiren. 

Das Kind war in der Function der Arme so wenig behindert, dass weder 
die Angehöiigen noch das Kind selbst die Deformität bemerkt hatten. Es be¬ 
stand die Fähigkeit,, die beiden Acromialfortsätze in der Mittellinie vor der 
Brust zusammenzubringen. Schorstein glaubt, dass die Ursache in fötaler 
Zeitschrift für orthopädische Ohirargie. VIII. Band. 26 


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392 


Referate. 


Rhachitis zu suchen sei, und dass diese Annahme noch bestätigt wird dadurch, 
dass das Kind erst mit 4 Jahren laufen lernte und sich die grosse Fontanelle 
erst mit 9 Jahren schloss. 

Der zweite Fall ähnelt dem ersten völlig, er ist nur dadurch interessanter, 
dass es Carpenter gelang, bei 5 Familienmitgliedern ähnliche Deformitäten 
nachzuweisen. Die Schlüsselbeine bildeten dünne kurze Fragmente, welche mit 
dem Sternum verbunden waren. Dieselben schienen knorpelig, da sie auf dem 
Röntgenbild nicht zum Vorschein kamen. Die linke hatte eine Länge von IV«» 
die rechte von nur Zoll. Das Sternum zeig^ eine Depression am unteren Ende 
und eine ungewöhnliche Verbreiterung des oberen. Der M. stemocleidomasto- 
ideus zeigte dieselben Verhältnisse wie oben, die Clavicularportion des M. 
pectoralis major des Deltoides und Trapezius fehlten, ohne die Function dieser 
Muskeln herabzusetzen. Auch hier bestand eine übermässige Beweglichkeit der 
Schaltern. 

Der Vater hatte ähnliche Deformitäten, welche er jedoch, bevor er bei 
der Untersuchung des Kindes darauf aufmerksam gemacht wurde, nicht bemerkt 
hatte. Die Schlüsselbeine waren in ein acromiales und ein stemales Ende ge- 
theilt, das Mittelstück fehlte. 

3 Brüder und 1 Schwester des Kindes hatten ähnliche Defecte, die letztere 
wurde ausserdem mit Klumpfüssen geboren. Dreh mann-Breslau. 

King, Congenital malformation of the clavicle in two children simulating an 
accidental condition in the mother. Annals of surgery, August 1899. 

Die Mutter hat angeblich mit 9 Jahren eine Fractur der Clavicula er¬ 
litten, die unvereinigt geblieben ist. Zwei lebende Kinder zeigen von früher 
Kindheit an, ohne jeden Unfall an derselben Seite und derselben Stelle der 
Clavicula einen Defect. (Offenbar hat es sich bei der Matter wohl auch um 
eine congenitale Missbildung gehandelt, die erst im 9. Lebensjahre gelegentlich 
einer Verletzung constatirt wurde. Eine Vererbung einer erworbenen Missbil¬ 
dung ist nicht erklärbar.) Dreh mann-Breslau. 

G r 0 1 h e, Zur Behandlung der habituellen Schultergelenksluxatiou. Münchener 
med. Wochenschr. 1900 Nr. 19. 

Nach einem kurzen Ueberblick über die einschlägige Literatur theilt 
Gr 0 the einen neuen Fall von habitueller Schultergelenksluxation mit, bei 
welchem Verengerung der Kapsel durch Längsspaltung der Kapsel und Ver- 
nähung der über einander gezogenen Wundränder binnen 6 Wochen zu endgül¬ 
tiger Heilung führte. Die genannte Methode ist der Fältelung und Refihaht 
der Gelenkkapsel vorzuziehen, weil sie einen Einblick ins Gelenk und in 
eventuelle Gelenkveränderungen gewährt. Zur Vermeidung einer habituellen 
Luxation soll man nach Einrenkung einer Schulterluxation den Arm 3—4 Wochen 
lang fixiren. Graetzer-Würzburg. 

Steinhaussen, Ueber isolirte Deltoideslähmung. Deutsche med. Wochen¬ 
schrift 1900, Nr. 24. 

Die Erklärung dafür, dass in jüngst mitgetheilten Fällen von vollkom¬ 
mener Deltoideslähmung sowie in einem ebensolchen Falle des Verfassers die 


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Referate. 


393 


maximale Erhebaiig des Armes ausführbar war, ist darin zu suchen, dass die 
bisherigen Anschauungen von dem Ablauf der normalen Schulterbewegungen 
und dem Antheil, welcher den Drehern des Schulterblattes (Serratus und Tra- 
pezius) im Verhältniss zu dem der Abduction des Oberarmes (Delta* und Giüten- 
muskeln) zukommt, durchaus irrige sind. Die bisher allgemeine Anschauung 
war die, dass der Deltoides die Erhebung des Armes bis zu einem Rechten besorgt, 
der Serratus die weitere Elevation bis zur Senkrechten bewirkt. Nach dem 
Verfasser ist die Wirkung des Deltoides eine erheblich grössere (ca. 120®), die 
der Dreher der Scapula erheblich kleiner (ca. 60®). Nicht der Serratus und 
Trapezius treten — wie bisher behauptet — für den gelähmten Deltoides vica- 
riirend ein; der Ersatz ist vielmehr in den natürlichen Synergisten, dem Infra- 
und Supraspinatus zu suchen. Der hierzu erforderliche Innervationsmodus muss 
erst erlernt werden; auch bedingt die gesteigerte Inanspruchnahme der Hilfs¬ 
muskeln eine stärkere Entwickelung derselben, welche ebenfalls eine gewisse 
Zeit erfordert. Es mag daher immerhin für die frisch entstandene Lähmung 
der Satz, dass die Abduction gleich 0 sei, zu Recht bestehen bleiben. 

Graetzer -Würzburg. 

Schlesinger, Zur Lehre vom angeborenen Pectoralis-Rippendefect und dem 

Hochstande der Scapula. 

Schlesinger berichtet über die seltene Combination von angeborenem 
Pectoralisdefect mit partiellem Rippendefect, hierdurch hervorgerufener Lungen- 
hemienbildung und Herzverlagerong; ein den Pectoralisdefect nicht selten be¬ 
gleitender angeborener Hochstand der Scapula ist ebenfalls vorhanden. Die 
erste und zweite Rippe sind knöchern mit einander verschmolzen und besitzen 
einen gemeinschaftlichen Stemalansatz; die dritte Rippe ist nur rudimentär 
vorhanden, die vierte endet blind in einiger Entfernung vom Stemalrande. Der 
Defect erscheint dadurch grösser, dass die Rippen in der Höhe des Defectes 
weit aus einander gewichen sind; durch ihr Auseinanderweichen ist es zur 
Bildung von Nebenlungenhemien gekommen, welche bei Hustenstössen als flache, 
der Rippenrichtung parallel gestellte Wülste hervortreten. Die physikalische 
Untersuchung lässt auf Dextrocardie schliessen. Die Untersuchung mittelst 
Röntgenstrahlen ergibt aber eine Herzverlagerung, die noch am ehesten als 
Medianstellung bezeichnet werden muss. 

Was den Hochstand der Scapula anbelangt, so stimmt er im wesent¬ 
lichen mit der SprengeTschen Difformität überein, und Schlesinger wirft 
nun die Frage auf, ob die den Pectoralisdefect begleitenden Stellungsanomalien 
der Scapula der SprengeTschen Difformität, bei der bisher von Muskeldefecten 
nie die Rede war, ohne weiteres zuzurechnen sind. In dem Schlesinger- 
schen Falle ist im Vergleich zu dem gewöhnlichen Verhalten der Scapula bei 
der SprengeTschen Difformität die Annäherung der Scapula an die Wirbelsäule 
eine ungemein starke; ob dieses Symptom ein principielles Unterscheidungs¬ 
merkmal abzugeben vermag, darüber kann nur die Nachprüfung bei anderen 
Fällen mit Pectoralisdefect und Scapulahochstand eine Entscheidung bringen. 
Die Ursache der Defectbildung ist wahrscheinlich in einem partiellen Stehen¬ 
bleiben der Entwickelung infolge fehlender Wachsthumsenergie zu suchen. 
Eine genaue Literaturangabe ist der Arbeit beigefÜgL Graetzer-Würzburg. 


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394 


Referate. 


F reib arg, Oongenital deformity due to malposition of the scapula. Annal§ 
of sorg. May 1899. 

Beschreibung eines Falles von angeborenem Hochstand des linken Schnlter- 
blattes bei einem 4V*jährigen Mädchen. Der Artikel enthält nichts Neu^. 
Interessant ist eine gleichzeitige Verkürzung des linken Beines und Fusses. 

D re h m an n - Breslau. 


Zahl udowski'Berlin, üeber Klavierspielerkrankheit in der chirurgischen Praxis. 

Langenbeck’s Archiv für klinische Chirurgie 1900, Bd. 61 Heft 2 S. 518. 

Verfasser bespricht an der Hand seines gro.ssen Materials aus der Privat¬ 
praxis und aus der Poliklinik der Königl. chirurgischen Universitätsklinik zu 
Berlin eingehend die hierher gehörigen Erkrankungen und kommt auf Grund 
dieser zahlreichen Beobachtungen zu folgenden Schlüssen: 

1. Die Klavierspielerkrankheit wird in den meisten Fällen gleich der 
Geiger- oder der Schreiberkrankheit als coordinatorische Beschäftigungsneurose 
aufgefasst und somit gleich jenen als functionelle Störung, deren Sitz in erster 
Linie im Hirn zu suchen ist, behandelt. Dank dieser Auffassung werden «über¬ 
spielte Finger'^ vielfach mit Elektricität, mit Bewegungsübungen mit oder ohne 
Massage behandelt. Das einschlägige klinische Material lehrt aber, dass bei 
den Klavierspielern es sich nur ganz ausnahmsweise um eine nervöse Erkrankung 
handelt, ln der grössten Zahl von Fällen hat man es weniger mit einer Neuritis 
des einen oder des anderen Armnerven zu thun, als mit einer per continuitatem 
entstandenen Entzündung, ausgehend von beim Spielen traumatisirten Muskeln 
oder Gelenken. Der Uebergang eines acuten Stadiums in ein subacutes und 
chronisches ist manchmal die Folge einer gebrauchten Uebungscur, bei welcher 
an den meistafficirten Gelenken auch meist geübt wurde. 

2. Das Hauptcontingent der Klavierspielerkranken besteht aus Gon- 
servatoriumschülerinnen von zartem oder kleinem Knochenbau im allgemeinen 
oder mit schlaffen Gelenken und mit für die Beherrschung des Klaviers un¬ 
genügend grossen Händen im besonderen. Neuropatbische Beanlagung als prä- 
disponirende Ursache kommt bei den Klavierspielern selten zur Geltung, wie 
auch die rein functioneilen Formen der Erkrankung, als locale Erscheinung 
der Neuropathie, selten Vorkommen. 

8. Das heutzutage gebrauchte Klavier, so nahezu vollkommen es für 
die gut entwickelte Hand der Erwachsenen ist, stellt vielfach schwer zu übe^ 
windende Hindernisse Kindern und Adolescenten. Die Zahl der Unfälle, als 
«Ueberspielen der Finger“, hängt naturgemäss auch von den in dem einen oder 
dem anderen Conservatorium an die Schüler gestellten Aufgaben ab. 

4. Es besteht ein nicht zu verkennendes Bedürfniss nach Klavieren, deren 
Klaviatur dem körperlich noch unentwickelten Schüler die Möglichkeit bietet, 
weit aus einander liegende Töne bei einer geringeren Spannweite der Hände 
gleichzeitig zu greifen. Der nach dieser Richtung von J a n k ö gemachte Ver¬ 
such mit einer neuen Klaviatur hat keine allgemeinere Verwerthung gefunden 
wegen der durch dieselbe bedingten zu grossen Abweichung von der üblichen 
Technik des Klavierspiels. 

5 . Es ist zweckmässig, ein «Jugendklavier“ zu construiren, dessen Klaviatur 


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Referate. 


395 


sich von der normalen nur durch die geringere Breite der einzelnen Tasten 
unterscheidet. 

6. Die Therapie der gewöhnlichen, von Trauma herrührenden Büavier- 
spielerkrankheit besteht in Ruhe und nicht reizenden Massagemanipulationen. 
Heilgymnastische üebungen sind nur im Stadium decrementi des Processes und 
nur in den verschont gebliebenen Nachbargelenken vorzunehmen. Bei den 
selteneren, den paralytischen und den Krampfformen werden energische Massage, 
Widerstands- und active Bewegungen angewandt. Gocht-WOrzburg. 


Albert, Der Mechanismus der skoliotischen Wirbelsäule. Wien, Alfred Hölder, 

1899. 

Albert bringt in seiner Arbeit den stricten Beweis für die Richtigkeit 
der von Rokitansky und später von H. v. Meyer ausgesprochenen Rotations¬ 
theorie der Skoliose. An der Hand von zahlreichen Figuren wird die Wiiidung 
der skoliotischen Wirbelsäule erklärt als das Resultat von Stellungsveränderung 
der Wirbel zu einander und zugleich von Veränderung im Gefüge der einzelnen 
Wirbel, d. h. als Summe von Rotation und Torsion. Dass bei Skoliose die Ro¬ 
tation übernormal und asymmetrisch vör sich gehe, wird schon aus der Ver¬ 
änderung der Gelenkflächen, nämlich der Erweiterung auf der Seite der Con- 
vexität und der Verkleinerung auf der der Concavität bewiesen. Albert demon- 
strirt ausserdem die Rotation dadurch, dass er die obere Flächenansicht von 
vier in genau coaptirter Stellung mit den Dornfortsätzen in Modellirthon ge¬ 
steckten Brustwirbeln nach einander abzeichnete und zwar so, dass die relative 
Lage der Wirbel zu einander streng dieselbe blieb. Die beigegebenen Figuren 
geben dann die Gestalt und Lage der Wirbel zu einander. 

Ira weiteren wird die Veränderung am skoliotischen Einzelwirbel genauer 
besprochen und in den drei auf einander senkrechten Projectionen, der fron¬ 
talen, der horizontalen und der sagittalen, als Inclination, Torsion und Recli- 
nation beschrieben. 

Das „Mitte vom“ des Wirbelkörpers bestimmt AIbert folgendermassen: 

Tst die Endfläche des skoliotischen Dorsalwirbels ein (allerdings ungleich¬ 
schenkliges) Dreieck, so ist die stumpfe vordere Spitze noch deutlich als vordere 
Mitte erkennbar. Beim Schrägwirbel verläuft die vordere Kante schräg; in 
halber Höbe liegt die ursprüngliche Mitte, und zwar ist dies etwa die Höhe 
der Emissarien. Hier wäre also die Mittellinie des Körpers zu ziehen. 

Ist die Endfläche eine unregelmässige Fläche, so ist an der convexseitigen 
Hälfte der Umriss noch gut erhalten bis zu der Stelle, an welcher der vordere 
Umriss zur concavseitigen Hälfte umbiegt; hier ist das „Mitte vorn“. 

Bei erhaltenen Bogenepiphysen trifiPt eine zwischen den Begrenzungen 
dieser symmetrisch gezogene Linie die vordere Mitte, die wohl noch als stumpfer 
Vorsprung erkennbar ist. 

Bei den unteren Dorsal- und Lendenwirbeln verbindet Albert einfach 
den vordersten Punkt der vorderen Convexität mit dem vordersten Punkt der 
hinteren Concavität. Albert weist dann noch auf die drei Formen von Torsion 
hin: Die Lorenz’sche horizontale, die Seeger-Albert’sche frontale und die 
sagittale Torsion. 


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396 


Referate. 


Es wird sodann eine genauere Beschreibung der Keil- und Schi^gwirbel 
gegeben. Die Erscheinung, dass die sagittale Achse des Körpers und die des 
Bogens bei hochgradigen Keilwirbeln einen nach der concaven Seite offenen 
stumpfen Winkel bilden, nennt Albert die «Obliquität dos Wirbels*. Die 
Ablenkung der Bogenwurzeln hält Albert nicht für eine Deviationserscheinung 
wie Lorenz, sondern erklärt sie durch die horizontale Torsion. Für die Yei^ 
rainderung der Höhe der concaven Seite des Keilwirbels lässt Albert Druck¬ 
wirkung gelten. Für die Ausdehnung in querer Richtung jedoch nimmt er 
Zugwirkung an. Man erkenne dies aus der Veränderung der Lage der Fovea 
costalis auf der concaven Seite, sie ist von der convexen Seite her auf die obere 
Basalfläche gezogen. Dieser Zug geht von der Drehung des Wirbels aus, welche 
letzterer mit der Bildung der skoliotiscben Krümmung macht. Die Bogen¬ 
gebilde hemmen den Effect der Rotation; der Wirbel erleidet daher eine De¬ 
formation. Der Drehpunkt ist die Mitte des Nucleus pulposus, der ja beim 
skoliotiscben Wirbel in die convexe Seite hinausgedrängt ist. Von demselben 
Drehpunkte aus dreht sich der skoliotische Thorax; so erklären sich die Ver¬ 
änderungen der Rippen bei der Skoliose. Zwischen den Segmenten der skolio- 
tischen Wirbelsäule sind die Schrägwirbel eingeschaltet — Interferenz-, üeber- 
gangswirbel. Bei diesen, die ja mit den benachbarten Keilwirbeln innig 
verbunden sind, erklärt sich die Ablenkung der Bogenwurzeln, also nur durch 
horizontale Torsion. Die von Seeger beschriebene frontale Torsion der 
Wirbelbögen bezeichnet Albert als eine den letzteren zukommende selbst¬ 
ständige, d. h. von den Wirbelkörpem unabhängige Umänderung; sie arbeitet 
der seitlichen Verbiegung der Wirbelsäule entgegen und schützt durch Ver¬ 
hinderung der allzu starken Verengerung des Vertebralloches die in letzterem 
gelegenen nervösen Elemente vor zu starkem Druck. Die Gelenkveiänderungen 
spielen nach Albert besonders bei der statischen Skoliose eine grosse Rolle, 
wie dies Albert an einem Skelet aus dem pathologisch-anatomiscben Museum 
in Wien beobachtete. 

Die concavseitigen Gelenke wären bei der sonst mässig ausgesprochenen 
Skoliose bedeutend erweitert, wie es sonst nur bei sehr hochgradigen Keil¬ 
wirbeln vorkommt. 

Was die kjphotischen Skoliosen betrifft, so sind sie nach Albert reine 
Skoliosen, bei denen die Veränderungen eben nur quantitativ hochgradig sind. 
Besonders ist das Höhenwachsthum der Lendenwirbel und einzelner Schräg¬ 
wirbel des dorsalen Segments an vielen von Albert untersuchten Präparaten 
ein auffallendes gewesen, während die Keilbildung in geringerem Maasse aus¬ 
gesprochen war. 

Albert schliesst seine scharfsinnigen Auseinandersetzungen mit dem 
von H. V. Meyer ausgesprochenen Satze, dass man die Mechanik der Skoliose 
am besten verstehen könne, wenn man sich die Wirbelsäule in eine Körper¬ 
reihe und in eine Bogenreihe zerlegt denke. Le gal-Breslau. 

A. Schanz, Das Redressement schwerer Skoliosen. Archiv für klin. Chirurgie 

Bd. 61 Heft 4. 

Nachdem Verfasser in einer einleitenden Bemerkung Über die wenig 
günstigen Erfolge der heutigen Skoliosentherapie als Grund dafür anführt, dass 


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Referate. 


397 


man die zwei grundversohiedenen Begiiffe der werdenden Deformität und der 
r fertigen Deformität* bei der Behandlung nicht genügend aus einander gehalten 
habe, schildert er seine eigene Methode. Sie besteht im wesentlichen nach 
vorausgegangener Mobilisation der Wirbelsäule in einem forcirten Redressement 
durch Suspension und Gegenzug an den Füssen mit Anlegung eines Gipsver- 
bandes, der bis auf den Hals heraufgeführt wird und etwa zwei Finger breit 
unter dem Warzenfortsatz endigt. Nach je 4 Tagen wird 2mal der. Verband 
zur Vervollständigung des Redressionsresultates gewechselt, im ganzen bleibt 
der Patient 12 Wochen als äusserste Grenze in seinem Verband. Jetzt tritt 
als Stützapparat das Corset in seine Rechte und daneben wird das Gipsbett 
angewandt, ausserdem aber müssen die Patienten eine mehrmonatliche Kur 
unter Zuhilfenahme von Massage, Gymnastik, Körperpflege u. s. w. durchmachen. 
Abgesehen von geringen Modificationen ist die Methode des Verfassers auch 
von anderen Orthopäden angewandt worden, ohne dass dieselben so günstig 
über die Erfolge berichten konnten. Schliesslich zeigt uns Schanz von 
32 Fällen auch nur 2, von denen er behauptet, dass sie colossale Skoliosen ge- 
habt haben, ohne uns auch nur eine Abbildung des Zustandes vor der Behand¬ 
lung vorzulegen. Fürs erste können wir deshalb auch noch nicht an die Um¬ 
wälzung in der Therapie der Skoliosen glauben, die Verfasser durch Einfüh¬ 
rung der «werdenden* und «fertigen* Skoliose als ganz verschiedene patho¬ 
logisch-anatomische Begriffe uns gebracht haben will. 

Lilienfeld-Würzburg. 

A. Schanz, üeber die Bedeutung der portativen Apparate in der Skoliosen¬ 
behandlung. Archiv für klin. Chirurgie Bd. 61 Heft 1. 

Verfasser theilt die portativen Skoliosenapparate in drei Gruppen ein; 
1. die Geradehalter, 2. die Corsets, 3. die Combination der letzteren mit Re- 
dressionseinrichtungen. Er zieht das Facit seines Vortrages in folgenden Schluss¬ 
sätzen : Die redressirenden portativen Skoliosenapparate (Gruppe 1 und 3) 
können im günstigsten Falle äussere kosmetische Resultate erzielen, dagegen 
stellen die reinen Stützapparate, im rechten Fall und mit entsprechenden Vor- 
sichtsmassregeln verwendet, ein durchaus rationelles Hilfsmittel dar. Aber man 
muss sich klar sein, dass diese sich eine Correction der Deformität nicht als 
Ziel setzen, dass ihre Wirkung ausschliesslich darauf zielt, dem Fortschritt der 
Skoliose Einhalt zu thun, oder was im Grund dasselbe ist, ein anderweitig er¬ 
reichtes Redressionsresultat festzuhalten. Lilienfeld-Würzburg. 


Oskar Vulpius, Ueber den Werth des orthopädischen Stützcorsets. Volk- 
mann*8 Sammlung klinischer Vorträge 1900, Nr. 276. 

Vulpius nimmt in eingehender Weise Stellung zu der Frage nach dem 
Werthe des orthopädischen Stützcorsets bei Spondylitis, bei Tabes und ganz 
im speciellen bei der Skoliose, indem er den Werth desselben begründet und 
besonders gegen das Verdammungsurtheil von Schulthess Verwahrung ein¬ 
legt. Irgend etwas Neues enthalten die Ausführungen nicht. 

G 0 c h t -Würzburg. 


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398 


Referate. 


Hoffa, Die moderne Behandlung der Spondylitis. Prager med. Wochenschr. 

1899, Nr. 31, 32, 33, 34. 

Neben der allgemeinen antituberculösen medicinisch-diätetischen Behand¬ 
lung legt Hoffa hauptsächlich Werth auf die mechanische Behandlung der 
Spondylitis. Diese hat einmal die Aufgabe, die Schmerzen zu nehmen, sodann 
die Ausheilung des localen Processes zu befördern und die Gibbusbildung auf 
das unumgänglich nothwendige Maass zu beschränken. Sie erreicht dies durch 
Entlastung der erkrankten Partien und durch exacte Fixation der ganzen Wirbel¬ 
säule in der entlasteten Haltung. Nach Hoffa’s Ansicht ist dies im fioriden 
Entzündungsstadium unmöglich durch ambulante Behandlung. Verfasser will 
stets Rückenlage angewendet wissen und zwar die Combination derselben mit 
Extension für die oberen Partien mit Reclinationslage des Rumpfes für die 
mittleren und unteren Partien der Wirbelsäule, Allen hierzu angegebenen 
Methoden ist die mittelst des Loren zischen Reclinationsgipsbettes und der C alo t- 
sche Mumienverband vorzuziehen; bei Spondylitis cervicalis und dorsalis superior 
käme noch das P h e 1 p s'sche Stehbett oder das Loren z'sche Extensionsbett mit 
Jurymast in Frage. Zur Nachbehandlung wendet Hoffa ein Gipscorset oder 
H e 8 s i n g'sches Stoffcorset an. Noch später sind Massage und Gymnastik der 
Rückenmusculatur neben Bädern von Nutzen. 

Hoffa legt besonderen Werth auf die Frühdiagnose der Spondylitis. 
Schmerzen und eigenthümliche Contracturstellungen des Rumpfes sind die 
hauptsächlichsten Frühsymptome der Wirbelentzündung. 

Was die Behandlung der Senkungsabscesse betrifft, so sah auch Hoffa 
recht günstige Erfolge nach Jodoformglycerininjectionen. Für die breite Er¬ 
öffnung der Senkungsabscesse stellt er folgende Indicationen. Breit zu er¬ 
öffnen sind 

1. Abscesse, die noch längere Zeit nach Ausheilung des localen Wirbel¬ 
leidens fortbestehen und nur geringe Neigung zur Resorption zeigen, 

2. Abscesse, die nach aussen durchzubrechen drohen, 

3. solche, die das Leben direct bedrohen (Retropharyngeal- und Retro- 
ösophagealabscesse), 

4. Abscesse, welche hohes Fieber erzeugen und dadurch den Kranken 
her unterbringen. 

Hoffa’s ürtheil über das Calot’sche Redressement des Buckels geht 
dahin, dass er es nur bei hochgradigen Lähmungen der Extremitäten, der 
Blase und des Mastdarmes angewendet wissen will. „Der Gewinn ist hier so 
gross, dass man die Gefahr mit in Kauf nehmen muss.* Im übrigen hält er 
das Verfahren für viel zu gewaltsam und gefährlich. Statt dessen wendet er 
Gipsverbände an, die in suspendirter Bauchlage bei leichter Extension angelegt 
werden und in einzelnen Etappen wiederholt werden. 

Operative Behandlung will Hoffa nur bei dem seltenen Sitz der Tuber- 
culose in den Wirbelbögen gelten lassen. Le gal-Breslau. 

P. Redard et Paul Bezan 9 on, De la Reduction des Gibbosites du Mal 

de Pott. 

Die Verfasser schildern ihre Methode, die sie seit 1897 zur Redression 
der Pott’schen Kyphosen im Krankenhaus Furtado-Heine angewandt haben,. 


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Referate. 


39t> 


und zwar bei 120 Kranken etwa 600mal. Nur einmal stellte eich nach dem 
dritten Corset eine Paraplegie mit Incontinenz des Mastdarmes ein, während 
sie sonst keine ernstlichen Folgen zu verzeichnen hatten. Sie benutzten zur 
Anlegung des Gipscorsets einen ähnlichen Tisch wie den Schede'schen mit 
Zug am Kopf und an den Füssen und in Bauchlage des Patienten. Der Zug 
wird durch eingeschaltete Dynamometer regulirt. Sitzt die Erkrankung ober- 
halb der Mitte der Brustwirbelsäule, dann wird der Hinterkopf bis zum Nacken 
noch mit hereingenommen und vorne reicht der Verband bis zu dem Unter- 
kieferwinkel. Dabei wird der Patient suspendirt. Die Verfasser stehen im all¬ 
gemeinen auf dem Standpunkte, wie er auch bei uns in Deutschland üblich 
ist, so dass sie keinen manuellen Druck auf den Gibbus selbst ausüben und 
auch keine Narkose an wenden. Dagegen lassen die Verfasser ihre Patienten 
nicht aufstehen, sondern sie werden liegend in die frische Luft gebracht, und 
müssen, soweit dies möglich ist, auf dem Bauche liegen, hauptsächlich um da¬ 
durch den Decubitus zu vermeiden. Die Mehrzahl der Patienten wurde etwa 
18 Monate nach dem Beginn der Erkrankung redressirt, aber es waren auch 
Kranke dabei, die schon bis zu 7 Jahre ihre Erkrankung hatten. Als Erfolg 
ihrer Behandlung stellen die Verfasser eine vollständige Reduction des Gibbus 
in frischen Fällen fest und bei älteren Kranken eine wesentliche Verminderung 
des Buckels, eine Correction der Brustdeformität vorne, eine Verlängerung der 
Taille und eine Consolidation in guter Stellung der Wirbelsäule. Diese guten 
Resultate haben die Verfasser hauptsächlich bei den Kyphosen der Brust- und 
Lendenwirbelsäule zu verzeichnen, während bei der Halswirbelsäule die Pro¬ 
gnose in Bezug auf ein Verschwinden des Buckels viel ungünstiger sich ge¬ 
staltet. Solche Fälle werden hauptsächlich auf der schiefen Ebene mit per¬ 
manenter Extension am Kopfe behandelt. 

Von 60 Kranken, die länger beobachtet wurden und die noch vor kurzem 
wieder untersucht werden konnten, befanden sich 14 ausgezeichnet, 29 ging es 
weiter ziemlich gut. Dagegen war bei 12 Patienten die Besserung keine voll¬ 
ständige, da sie zum Theil noch gelähmt waren, zum Theil hatten sie noch 
Abscesse oder eine Tuberculose anderer Körpertheile. 3 oder 4 Patienten sind 
an allgemeiner Tuberculose gestorben, ohne dass die Verfasser irgend welche 
Schuld daran dem Redressement zuschieben konnten. 

Lilienfeld-Würzburg. 

A. Schanz, üeber Spondylitis typhosa. Archiv für klin. Chirurgie Bd. 61: 
Heft 1. 

Unter Anführung von 2 Fällen, die Quincke veröffentlicht hat, und 
eines Falles von Konitzer fügt Verfasser einen vierten von ihm selbst beob¬ 
achteten Fall von Spondylitis hinzu, der nach vorausgegangenem Typhus auf¬ 
getreten ist. Während Schanz den ersten Quincke sehen Fall nicht als 
Spondylitis angesehen wissen will, weil die Empfindlichkeit öfters wechselte, 
einmal waren die Dornfortsätze des X. und XII. Brustwirbels druckempfindlich, 
dann wieder diejenigen der unteren Lenden- und oberen Kreuzwirbel, stellt er 
in seinem Falle eine sichere Diagnose aus folgenden Symptomen: aus der 
charakteristischen musculären Fixation der Wirbelsäule, aus der Druckempfind¬ 
lichkeit des letzten Lendenwirbeldomfortsatzes und aus der anamnestischen. 


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400 


Referate. 


Angabe der Patientin, dass sie in der dritten Woche ihres Aufenthaltes im 
Erankenhause reissende, blitzartige Schmerzen und Zuckungen im rechten Beine 
gehabt habe. Für die leichteren Fälle wird Rückenlage und die Anwendung 
localer antiphlogistischer und schmerzstillender Mittel genügen, während man 
bei den schwereren sich des Gipsbettes und Stützcorsets, wie es auch Schanz 
gethan hat, bedienen müsse. Den pathologisch-anatomischen Beweis, dass es 
sich wirklich um typhöse Erkrankungen der Wirbelsäule handelte, hat uns 
keiner der Autoren bringen können. Lilienfeld-Würzburg. 


J. Sch ulz-Eppendorf, Weitere Erfahrungen über traumatische Wirbelerkran¬ 
kungen (Spondylitis traumatica) und die diesen verwandten Affectionen 

der Wirbelsäule. Bruns’ Beiträge zur klinischen Chirurgie 1900, Bd. 27 
Heft 2 S. 363. 

Auf Grund der weitgehendsten eigenen Erfahrungen auf dem Hamburger 
Marienkrankenhaus, dem Eppendorfer Krankenhaus und der Privatprazis von 
Kümmell, sowie unter Berücksichtigung der gesammten hierher gehörigen 
Literatur hat Verfasser diese umfangreiche kritische Arbeit gefertigt, welche 
sowohl wissenschaftlich als auch in Hinsicht auf das Unfallgesetz und die 
Wichtigkeit der Begutachtung das höchste Interesse beansprucht. 

Kümmell hat klinisch bei seiner ,traumatischen Spondylitis* drei 
Stadien unterschieden: 

1. Das der Verletzung unmittelbar folgende Stadium des Shocks, nach 
dessen Ueberwindung sich eine gewöhnlich nur kurze Zeit anhaltende, locale 
Schmerzhaftigkeit der Wirbelsäule und eventuell Rückenmarkserscheinungen 
anschliessen. 

2. Das Stadium des relativen Wohlbefindens und der Wiederaufnahme 
der Arbeit. 

3. Das Stadium der Gibbusbildung und damit einsetzender Schmerzen 
an der alterirten Partie der Wirbelsäule. 

Von allen Beobachtern ist dieser eigenartige Krankheitsverlauf bei den 
einschlägigen Beobachtungen gesehen und bestätigt worden und insofern handelt 
es sich ohne Frage um ein wohl charakterisirtes, unzweifelhaft von der Wissen¬ 
schaft allgemein anerkanntes Erankheitsbild. Es handelt sich nur darum, fest- 
zustellen, in welcher Weise die durch das Trauma bedingte erste Schädigung 
an oder in den Wirbeln aufzufassen ist, ob es sich um einen durch die Ver¬ 
letzung gesetzten entzündlichen rareficirenden Process im Wirbelkörper mit 
nachfolgendem Substanzverlust handelt, resp. um ähnliche anatomische Ver 
änderungen, oder ob fßr diese Fälle eine Quetschung der Knorpel, eine Ab¬ 
sprengung von Knochensplittern, eine Refraction oder Fissur, schliesslich mehr 
oder minder vollständige Compression der Wirbelkörper als ätiologisches Mo¬ 
ment anzusehen ist. 

Schulz nimmt entsprechend der KümmelTschen Auffassung an, dass 
es sich sicherlich bei den verschiedenen Fällen um verschiedene ätiologische 
Momente handeln kann, dass es aber durchaus falsch sei, jetzt alle Fälle von 
traumatischer Spondylitis als Wirbelfracturen schlechthin bezeichnen zu wollen, 
zumal es sich stets um ein genau präcisirtes, streng typisch verlaufendes Krank- 


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Referate. 


401 


heitsbild handele, welches sich doch wohl in keinem einzigen Falle mit dem 
Begriffe eines activen Wirbelbruches decke. 

Im Anschluss hieran wird jene in den letzten Jahren in zahlreichen 
Arbeiten gekennzeichnete Erkrankung der Wirbelsäule besprochen, welche mit 
dem Sammelnamen .der chronisch ankylosirenden Entzündung der 
Wirbelsäule'* wohl am besten präcisirt ist. Schulz weist mit Recht ein 
Zusammen werfen dieser mit der KümmelTschen Spondylitis zurück. Auch 
die sogen. «Spondylitis deformans“, welche mehr das Product steter Irri¬ 
tationen, als einer einmaligen stärkeren Gewalteinwirkung darstellt, hat mit 
dem Erankheitsbilde der Spondylitis traumatica nichts zu thun. 

Nach mehrmaliger Würdigung der Symptome bei der KümmelTschen 
Spondylitis und Besprechung der eventuellen Schwierigkeiten in der sicheren 
Diagnosenstellung widmet Schulz der Behandlung noch folgende Worte zum 
Schluss: Zweckmässige Ruhelage von Anfang der Verletzung an wird eine 
raschere und dauerhaftere Consolidation des eingesunkenen Wirbels herbei¬ 
führen. Kommen aber die Kranken, wie dies die Regel ist, erst im dritten 
Stadium der Erkrankung in unsere Behandlung, dann haben wir der Anferti¬ 
gung entsprechender Stützapparate und Corsets unsere besondere Sorgfalt zu- 
zuwenden. G o c h t -W ürzburg. 

Judson, The management of the deformity of bip-disease. The Lancet 1899, 
Sept. 30. 

Judson schlägt zur Verhütung von Deformitäten bei Coxitis vor, die 
Patienten, während sie die bekannte amerikanische Hüftschiene tragen, mili¬ 
tärische Gehübungen machen zu lassen. Das Gelenk ist durch die Schiene 
fixirt und entlastet, so dass durch die Uebungen, wodurch die Patienten das 
Arhythmische des Hinkens ablegen sollen, nicht geschadet werden kann. Er 
bringt die Bilder zweier Patienten, welche 1879 in Behandlung kamen; jetzt 
20 Jahre nach der Behandlung. Die Stellung des Hüftgelenks ist gut; der 
Gang soll ganz normal sein. Drehmann-Breslau. 

P. Redard, Traitement de la luxation congenitale de la hanche par la m^- 
thode non sanglante. Communication ä la Section de Chirurgie infan¬ 
tile du Congres International de m6decine. Paris. 

Verfasser berichtet über 32 Fälle von congenitaler Hüfbluxation, die auf 
unblutigem Wege reponirt worden sind. Bei jungen Kindern im Alter von 
2—7 Jahren ist 12mal eine wirkliche anatomische Reposition erzielt worden, 
die durch die Radiographie und die functioneilen Resultate bestätigt wurde. 
Die Erfolge bei Kindern jenseits des 10. Jahres, von denen Verfasser 17 an¬ 
führt, bezeichnet er als befriedigend, indem bei 6 Patienten der Gang ein ganz 
normaler wurde, während bei den anderen entweder eine leichte Verkürzung 
oder ein leichtes Ermüden beim Gehen sich eingestellt hat. Einige Fälle, wo 
eine Transposition des Kopfes nach vorne stattgefunden hat, zeigen functioneil 
ganz vorzügliche Resultate. Bei leichteren Fällen gelingt es ohne weiteres, 
durch Flexion des Oberschenkels bis zu einem Rechten mit starkem Zug an 
demselben und allmählicher üeberführung in Abduction bei gleichzeitigem 
Druck auf den Trochanter die Reposition zu bewirken. Bei älteren Kindern 


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402 


Referate. 


wird der Schraubenzug verwandt» aber immer mit Einschaltung eines Dynamo¬ 
meters und äusserster Vorsicht, so dass Redard in seinen Fällen keine unan¬ 
genehmen Zufölle zu beklagen hat. Er räth» lieber mehrere Sitzungen anzu¬ 
wenden, als die Zugkraft zu übertreiben. Alle 3 Monate wird der Gipsverband 
gewechselt, um allmählich das Bein aus seiner Abductionsstellung in die nor¬ 
male überzuführen. Je nach der Stellung des Kopfes wird entweder Aussen- 
oder Innenrotation des Beines bevorzugt. Zum Schluss hebt Verfasser die Vor- 
theile der Radiographie bei der Behandlung der Luxation hervor und empfiehlt 
eine solche bei den verschiedenen Etappen derselben vorzunehmen. 

Lilienfeld. 

H. Hildebrand, 1. lieber einen neuen Apparat zur Herstellung von stereo¬ 
skopischen Röntgenbildern. Fortschritte auf dem Gebiete der Röntgen¬ 
strahlen. 1900, Bd. HI Heft 5 S. 171. — 2. Die congenitale Hüftgelenks¬ 
luxation im stereoskopischen Bilde. Centralblatt für Chirurgie 1900, 
Nr. 24. 

Ein stereoskopisches Röntgenbild [einer Hüftgelenksluxation lässt genau 
erkennen, ob eine Pfanne vorhanden und wie tief dieselbe ist, sie gibt ein ge¬ 
naues Bild vom Stand des Schenkelkopfs, von der Richtung des Schenkelhalses 
und dem Grade seiner Abbiegung. Zur Herstellung von stereoskopischen Auf¬ 
nahmen bedient sich Hildebrand eines Holzrahmens, der mit 1 mm dicker 
Pappe gedeckt ist. An beiden Seiten ist die Pappe mit einem 25 cm breiten 
Zinkblech gedeckt; nur in der Mitte liegt sie in einer Breite von 25 cm frei. 
Das zu durchleuchtende Becken kommt auf die freiliegende Pappe zu liegen. 
In den Rahmen wird eine mit einer 40/50 cm grossen photogi’aphischen Platte 
versehenen Casette derart hineingeschoben, dass die eine Hälfte von dem einen 
Zinkblech verdeckt ist, die andere unter der ungedeckten Pappe liegt. In 
dieser Plattenlage erfolgt die erste Aufnahme. Nunmehr wird die Röntgen¬ 
röhre um 7 cm, die Cassette gleichzeitig um 25 cm verschoben, derart, dass der 
belichtete Theil der Platte unter das zweite Zinkblech, der bisher unbelichtete 
Theil unter die ungedeckte Platte und damit unter das Becken tritt; nunmehr 
erfolgt die zweite Aufnahme. Von dieser Platte wird dann durch einfache 
Photographie eine Verkleinerung hergestellt; der photographische Apparat wird 
hierbei so eingestellt, dass die beiden Bilder 7 cm von einander entfernt sind. 
Die gewonnenen Verkleinerungen haben dann die für unsere gewöhnlichen 
Stereoskope passende Grösse. Graetzer-Würzburg. 


Redard- Paris, De la Radiographie, principalement de la radiographie st^r^o- 
scopique, dans Tetude des luxations congenitales de la hanche. Com- 
munication au Congrös d'^lectrologie et de radiologie medicales. 

Wie in seinem Atlas bespricht Redard auch hier die Vortheile der 
Röntgenuntersuchung für die Behandlung und Diagnose der angeborenen Hüft¬ 
gelenksverrenkung. Er betont besonders die Vortheile der stereoskopischen 
Bilder bezüglich der Differenzirung der verschiedenen Tiefenlagen und be¬ 
schreibt im Anschluss daran die von ihm zur Herstellung derselben angewandte 
Technik. G o c h t - W ürzburg. 


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Referate. 


403 


Bahr-Hannover, Zur Lehre von der Goxa vara. Langenbeck's Archiv für kli¬ 
nische Chirurgie 1900, Bd. 61 Heft II S. 533. 

In der sehr beachtenswerthen Arbeit wird zunächst Aufschluss gegeben 
Über die unregelmässige Knochencrista am Schenkelhals, welche sich sehr häufig 
am oberen und hinteren Umfang des Schenkelkopfes befindet, besonders dann 
wenn eine kräftige Linea aspera und obliqua vorhanden ist. Bähr zeigt, dass 
dieselbe nicht im Sudeck’schen Sinne eine Verstärkungsleiste des Zugbogens 
am Schenkelhälse ist; dieselbe hat mit den mechanischen Verhältnissen des 
Zuges (im statischen Sinne) nichts zu thun, sondern steht im Zusammenhänge 
mit dem Ansatz von kräftigen Faserzügen, welche, aus der Kapsel kommend, 
neben der überknorpelten Fläche des Kopfes ansetzen (M e r k e 1 - Göttingen). 
Ferner weist er darauf hin, bei der klinischen Untersuchung und eventueU Be¬ 
wegungshemmung im Hüftgelenk mehr wie bisher auf die variable Länge resp. 
Kürze des Schenkelhalses zu achten, indem es ja beim kurzen Schenkelhals 
früher und leichter zu Beschränkungen der Bewegungen kommt, als bei relativ 
langen. 

Verfasser betont weiter, dass man bei der Entstehung der einzelnen 
Formveränderungen am coxalen Femurende bislang zu einseitig von der auf¬ 
rechten Stellung allein ausgegangen ist, da das Femur vielfach in einer zur 
Horizontalen geneigten Stellung beansprucht wird, wobei die Last den Schenkel¬ 
hals mehr nach hinten zu biegen sucht, eine Beanspruchung, welche dann am 
stärksten ist, wenn das Femur horizontal steht, wie oft annähernd beim Auf¬ 
stehen aus dem Sitzen oder gar beim Aufnehmen von Lasten von der Erde, 
beim Bergsteigen oder bei der Beförderung von Lasten in gebirgigen Gegenden. 

Eine Eintheilung der Coxa vara nach der Entstehungsart würde ergeben: 

1. Fälle, bei denen die Belastung mehr in aufrechter Stel¬ 
lung erfolgt, 

2. Fälle, wo der Oberschenkelknochen mehr in schräger 
oder horizontaler Stellung belastet wird, 

3. Mischformen. 

Nimmt man dazu die verschiedene Localisationsmöglichkeit der Ver¬ 
biegung (am Ansatz des Schenkelhalses an der Diaphyse, die Epipbysenlinie 
und die Stelle, wo der Schenkelhals dicht unter der Kopfkappe am schwächsten 
ist), so resultiren daraus eine Fülle verschiedener Formen, von denen das gleiche 
Individuum verschiedene unter diesen Umständen erwirbt. 

Schliesslich bespricht Bähr noch die Veränderungen der Architectur im 
coxalen Femurende bei der Coxa vara kritisch in Bezug auf die Schlussfolge¬ 
rungen aus dem Wolffschen Transformationsgesetz. Nach demselben wäre die 
naturgemässe, die mathematische Consequenz der beim Herabsinken des Schenkel¬ 
halses zunehmenden Zugbeanspruchung die Hypertrophie des Zugbogens, 
während derselbe in Wirklichkeit atrophirt. Gocht-Würzburg. 

Conrad Rammstedt, Ueber traumatische Lösung der Femurkopfepiphyse 

und ihre Folgeerscheinungen. (Aus der kgl. Chirurg. Universitätsklinik 

des Herrn Prof. v. Bramann in Halle a./S.) 

Verfasser berichtet über 8 Fälle von traumatischer Epiphysenlösung des 
Femurkopfes, von denen 4mal durch die nachfolgende Operation die exacte 


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404 


Referate. 


Diagnose bestätigt werden konnte. Diese Fälle zeigen übereinstimmend die 
Symptome der als Coxa vara bezeicbneten Verbiegung des Schenkelhalses, in¬ 
dem eine Verkürzung des Beines besteht mit starker Aussenrotation and da¬ 
neben stets eine mehr oder weniger starke Beschränkung der Abduction bis 
zur volbtändigen Aufhebung der letzteren. Die Rüntgenbilder zeigen alle das 
typische Bild des nach unten und hinten gerutschten Femurkopfes mit seiner 
Annäherung an den Trochanter minor. Verfasser nimmt an, dass bei der 
Mehrzahl jener Fälle, wo es sich nur um geringfügige Traumen handelt, zu¬ 
nächst nur eine Lockerung der Knorpelfuge stattfindet und erst später unter 
der Belastung des Körpers eine Verschiebung des Kopfes mit nachfolgender 
Verbiegung des Schenkelhalses sich einstellt. 

Es seien noch, hier die Schlusssätze Rammsted Fs angeführt: 

1. Die bisher gemachten Erfahrungen sprechen dafür, dass Schenkelhals- 
verletzungen bei Individuen im Pubertätsalter in der Regel die Knorpelfuge 
treffen (Hoffa, Kocher, Sprengel, v. Bramann). 

2. Die Epiphysenlösungen sind graduell verschieden. Von der totalen 
Lösung gibt es Uebergänge zum nur theilweisen Abrutschen oder auch nur zur 
Lockerung der Kopf kappe (Sprengel). 

3. Je geringer die Continuitätstrennung ist, desto eher gleicht der Folge¬ 
zustand dem Bilde der Coxa vara adolescentium, bei grosser Dislocation der 
Kopfepiphyse tritt Contracturstellung und hochgradige Functionsbehindennig 
ein, Ankylose, eventuell auch Arthritis deformans. 

Lilienfeld - Würzburg. 

Riese, Sehenkelkopfexstirpation bei veralteter intracapsulärer Schenkelhals- 

fractur. Deutsche med. Wochenschr. 1900, Nr. 13. 

Riese hat bei einer 59 Jahre alten Frau, die 5 Monate vorher einen 
Fall erlitten hatte und seitdem bettlägerig war, den abgebrochenen Schenkel¬ 
kopf entfernt. Die Diagnose war früher nicht gestellt worden, vielmehr hatte 
man nur eine einfache Quetschung angenommen. Das Bein war total ge¬ 
brauchsunfähig und selbst bei ruhiger Bettlage wurden Schmerzen geklagt. 
Es ergab sich, dass der Kopf genau an der Knorpelgrenze abgebrochen war, 
der Bruchspalt verlief ganz intracapsulär. Nach subperiostaler Abmeisselung 
der Trochanterspitze konnte der Kopf bequem entfernt werden. Heftpflaster¬ 
extensionen, dorsale Gipsbanfschiene, Suspension, später Massage und Faradi- 
sation. Der Erfolg war der, dass Patientin leicht humpelnd wieder gehen 
konnte, mit Stock vollständig sicher. Das Röntgogramm zeigte den Trochanter 
minor in der Pfanne stehend, während der Hals sich gegen den oberen Rand 
des Acetabulum stützte. Riese hält in den Fällen, wo die Diagnose der losen, 
subcapitalen Fractur sicher feststebt, einen operativen Eingriff für unbedingt 
gerechtfertigt, namentlich dann, wenn die Fractur schon monatelang vergeb¬ 
lich mit Massage behandelt worden ist. Ehebald-Würzburg. 

Deidesheimer, Ueber Resultate der Behandlung der chronischen Ischias 

durch blutige Dehnung des Nervus ischiadicus. Inauguraldissertation. 

Strassburg 1899. 

Nach einem kurzen geschichtlichen Ueberblick über die Behandlung der 
chronischen Ischias durch Nervendehnung berichtet Verfasser 6 Fälle, in welchen 


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Referate. 


405 


von Prof. Madelung die blutige Nervendehnung vorgenommen worden war. 
Doch betrafen nur 8 davon uncomplicirte Fälle von einfacher chronischer 
Ischias, welch letztere auch alle geheilt wurden. Einer dieser Fälle war be- 
merkenswerth durch die infolge der linksseitigen Ischias eingetretene rechts¬ 
convexe Skoliose der Lendenwirbelsäule, die V» oach dem ersten Auf¬ 
treten der Schmerzen constatirt wurde. Durch die Operation wurden sowohl 
die Ischias als auch die Skoliose beseitigt. Ehebald-Würzburg. 

Wal sh am, Remarks on'the operative treatment of various internal derange- 
ments of the knee joint. The British med. joum. 1899, July 29. 
Walsham unterscheidet 4 Formen des sogen. Derangement interne: 
1. freie Gelenkkörper, 2. Zerreissung und Luxation der Menisci, 3. Erweiterung 
mit Hypertrophie der Synovialzotten, 4. Verlängerung des Lig. patellae. Er 
empfiehlt lebhaft aseptische Operation mit Entfernung der freien Körper, 
luxirter Menisci, Synovialzotten, oder im 4. Falle Verkürzung des Lig. pateUae 
durch Transplantation der Spina tibiae nach unten. Der Erfolg wird durch 
frühzeitig, schon nach 14 Tagen, eingeleitete Massage garantirt. 

Drehmann - Breslau. 

Goldthwait, Permanent dislocation of the patella. Annals of surgery 1899, 
January. 

Eine 30jährige Frau geht seit ihrem 10. Jahre beschwerlich mit gebeugten 
Knieen. Es fand sich beiderseits eine fixirte Verrenkung der Patella nach 
aussen. Die Patella lag auf dem äusseren Condylus femoris und konnte nicht 
reponirt werden. Goldthwait eröffnete durch einen vorderen Querschnitt 
das Gelenk und transplantirte rechts das Lig. patellae nach innen und ver¬ 
nähte es mit der Sehne des Sartorius und dem Periost. Links wurde die Tu- 
berositas tibiae roitsammt dem Lig. patellae nach innen geschoben und ange¬ 
nagelt mit dem Erfolg, dass die Sehne und das transplantirte Knocbenstück 
nekrotisch wurde und die Heilung 3 Monate in Anspruch nahm. Rechts war 
prompt Heilung eingetreten. Der Gang wurde bedeutend gebessert. (Diese 
Operation dürfte wohl zu Gunsten der Le Den tauschen Kapselfaltung, wie sie 
von Hoffa auf dem Chirurgencongress empfohlen wurde, wenig Nachahmer 
finden. Der. Ref.) Drehmann-Breslau. 

Luksch, Zur Technik der keilförmigen Osteotomie der Tibia (Meyer-Schede). 
Wiener klin. Wochenschrift 1900, Nr. 18. 

Luksch schlägt bei Genu valgum anstatt der keilförmigen Osteotomie 
vor, ein rechtwinkliges Prisma aus der Tibia berauszumeisseln, dessen Basis ein 
Trapez ist. Bei mehreren so operirten Fällen konnte sich Luksch überzeugen, 
dass sich die Diffbrmität leicht ohne Federung der Fibula corrigiren Hess und 
dass sich die Meisseiflächen der Tibia genau aneinander legten. Luksch glaubt, 
dass höchstens in den allerhochgradigsten Fällen eine Durchmeisselung der 
Fibula hierbei nothwendig werden könne. Der Nervus peronaeus bleibe so vor 
jeder Verletzung bei der Operation, vor einer Zerrung bei der Correctur der 
Difformität und vor einer späteren Leitungsunterbrechung durch die WeichtheiL 
narbe oder den Knochencallus sicher bewahrt. Ferner bilde die intacte Fibula 


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Referate. 


für die durchtrennte Tibia gleichsam eine Schiene, welche eine Beugestellong 
des centralen Stückes der Tibia im Kniegelenk verhindere. Bei Genn vamm 
meisselt Luksch einen Keil aus der Tibia, dessen Kante an die mediane und 
dessen Rücken an die laterale Seite derselben zu liegen kommt Da es nun 
unmöglich ist, ohne Verletzung des Peronäus aus der Fibula ein entsprechendes 
Prisma herauszunehmen, wird an derselben und zwar an der Grenze des mitt¬ 
leren und unteren Drittels eine schräge Osteotomie ausgeführt und durch Ver¬ 
schiebung der Fragmente an einander leicht die nothwendige Verkürzung der 
Fibula erreicht Ehe bald-Würzburg. 


Hugo Hirsch, Vorstellung eines ünterschenkelamputirten mit (durch Nach¬ 
behandlung) tragfähigem Stumpf und neuer Prothese. Archiv f. kli¬ 
nische Chirurgie Bd. 61 Heft III. 

Nachdem Verfasser schon früher einige Fälle mit tragfähigem Stumpfe 
nach einfacher circulärer Unterschenkelamputation vorgestellt hatte, zeigt er 
uns einen Amputirten, bei dem durch Massage und Tretübungen der Stumpf 
so vorbereitet wurde, dass der Patient nach 3 Wochen schon ausserhalb des 
Bettes Stehübungen machen konnte und nach 4 Wochen in einer provisorischen 
Prothese, in der er nur mit der Stumpfendfläche sich aufstützen kann, sicher 
umherging. Die Prothese ist sehr einfach nach Art einer Stelze construirt und 
kann später noch mit einem künstlichen Fuss versehen werden und mit einer 
Schienbeinschiene Diese Prothesen mit Schienbeinschiene sind nur für Ampu- 
tirte mit tragfähigem Stumpfe verwerthbar, und die Länge des Stumpfes muss 
mehr als die Hälfte des üntei*8chenkels betragen; für diese Fälle bieten sie die 
folgenden Vorzüge: 

1. Sie lassen das Knie völlig frei und ermöglichen so eine völlig unbe¬ 
hinderte Function dieses Gelenks. 

2. Sie vermeiden die Schädlichkeiten einer Befestigung oberhalb des Knies. 

3. Sie sind erheblich leichter herzustellen und deshalb auch erheblich 

billiger als die Hülsenapparate. Lilienfeld-Würzburg. 


W. Blanchard, Rapid osteoclasis for the correction of rhachitic deformities 
of the legs. Transactions of the American Orthopedic Association. Chi¬ 
cago 1900. 

Verfasser empfiehlt die schnelle Osteoklasis bei rhachitischen Verkrüm¬ 
mungen der unteren Extremitäten und sieht ihre Vorzüge gegenüber der Osteo¬ 
tomie in der schnelleren Ausführung, er braucht dazu nurÖV^ Minuten, in der 
Gefahrlosigkeit und darin, dass das betreffende Glied in der Regel durch die 
Operation eher noch verlängert wird. Die von anderen Autoren bei Anwen¬ 
dung des Osteoklasten beobachteten Splitterungen der Knochen, Verletzungen 
der Epiphyse u. s. w. will er nach Anwendung des G ratt an’schen Osteoklasten 
niemals beobachtet haben. Er betont besonders die Schnelligkeit der Aus¬ 
führung, weil dadurch die Weichtheile vermöge ihrer Elasticität ohne jede 
dauernde Schädigung gleich wieder ihre frühere Ausdehnung annehmen. 

L i 1 i e n f e l d - Würzburg. 


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Referate. 


407 


Bade, Die Ossification des menschlichen Fassskelets nach Röntgogrammen. 

Fortschritte auf dem Gebiete der Röntgenstrahlen. Bd. III Heft 4 S. 184. 

Bade veröffentlicht eine Arbeit aus einem der jüngsten Gebiete, das 
sich die Röntgographie erobert hat, dem der Entwickelungsgeschichte. Die 
Entwickelung der menschlichen Fussknochen ist theilweise schon von Wyss 
röntgographisch studirt worden. Der Uebergang aus dem knorpeligen Zustand 
in den definitiv knöchernen geht in einem recht grossen Zeitabschnitt vor sich. 
Die erste Ossification in den knorpelig präformirten Fussknochen tritt zu einer 
Zeit auf, wo die vorderen Extremitäten und der Schultergürtel schon Knochen- 
keme aufweisen, die Wirbelkörper dagegen noch Enorpelscheiben sind. Es ist 
dies etwa die 10.—12. fötale Entwickelungswoche. Das Röntgenbild zeigt zu¬ 
erst die Metatarsalknochen als kleine rechteckige Scheiben angelegt, von den 
Phalangen die distale Reihe, und zwar ist die Endphalanx der grossen Zehe 
als scharfer Punkt markirt. Dann erscheinen die Kerne des Calcaneus und 
Talus. Nach Angabe einiger Enibryologen soll auch das CuboYd vor der Ge¬ 
burt zu ossificiren beginnen, indessen hat Bade in diesem Fall niemals einen 
Knochenschatten des CuboYd gesehen, nur 2mal bei einem übertragenen und 
einem 1 tägigen Kinde. Nicht nachweisbar am Fasse des Neugeborenen sind 
durch die Röntgenstrahlen; das Kahnbein, die drei Cuneiformia, die distalen 
Epiphysen der Tibia und Fibula, die Epiphysen der Metatarsalknochen und der 
einzelnen Phalangen. Von diesen wird später zuerst erkennbar der Schatten 
des Cuneiforme extemum. Es folgen nach etwa 10 Monaten der knöcherne 
Epiphysenkem der Tibia, das Cuneiforme intemum und das Auftreten der 
Fibulaepiphyse. Gleichzeitig mit dem Knochenkem des Cuneiforme medium 
im 8. Jahre erscheinen auch die Knochenschatten der Epiphysen der übrigen 
Röhrenknochen des Fusses. Der letzte von den Tarsalknochen, der auf dem 
Röntgenbilde erkennbar wird, ist das Kahnbein. Seine Ossification ist auch 
zeitlich keine gleichraässige. Die verschiedenen Angaben schwanken zwischen 
dem 1. und dem 5. Lebensjahre. Nach Bade’s Untersuchungen fand die Ossi¬ 
fication im 5. Jahre statt. Die Röntgenbilder späterer Jahrgänge zeigen das 
Auswachsen der verschiedenen Knochen, bis die Entwickelung des Fussskelets 
vollendet ist. Dies ist im allgemeinen im 18. Lebensjahre der Fall, indessen 
gibt es auch hier individuelle Schwankungen. 

Als für den praktischen Chirurgen wichtig sind zwei Erscheinungen zu er¬ 
wähnen, das Auftreten von Nebenkernen an der Tuberositas des Calcaneus und 
von Sesambeinchen an der grossen Zehe. Der Nebenkem im Calcaneus ver¬ 
leitet leicht zur Fehldiagnose einer Fractur, um so leichter, als er sich nicht 
constant zu ein und derselben Zeit zeigt, so dass man keine sicheren Controll- 
bilder machen kann, und ferner deshalb, weil manchmal nicht ein, sondern 
mehrere Kerne auftreten. Ebenfalls zur Verwechselung mit Fractur können die 
Sesambeinchen der grossen Zehe Veranlassung geben, indessen lässt ihr scharf 
begrenzter rundlicher Schatten und ihr paariges Auftreten eigentlich sofort an 
normale Verhältnisse denken. Pfeiffer-Würzburg. 

Hoffa, Zur Behandlung des Pes valgus. Münchener med. Wochenschr. 1900, Nr. 15. 

Nach kurzer aber präciser Charakteristik des Pes abductus sive pronatus 
oder, wie er diese Abart des Plattfusses kurz nennt, ^des Knickfusses“, em- 
Zeitschrlft für orthopädische Chirurgie. VIII. Bond. 27 


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Referate. 


pfiehlt Hoffa als bestes Mittel zur Heilung dieses Leidens die Verkürzung der 
Sehne des Musculus tibialis posticus. Denn dieser Muskel leidet bei dem 
Enickfuss am meisten; er wird nicht nur schwächer, sondern beßndet sich auch 
bald in einem Zustand passiver Dehnung, während an den Knochen noch keine 
Veränderung nachzuweisen ist. Hoffa veröffentlicht die Krankengeschichte 
eines 1^'ährigen Knaben, dessen hochgradiger linksseitiger Knickfuss, der sehr 
starke Beschwerden verursachte, durch die Verkürzung der Tibialis-posticus- 
Sehne vollständig geheilt worden war. Ehebald-Würzburg. 


A. F. Jonas, A modification in the operative method for inveterate and re 
lapsed cases of talipes equino-vnrus. Annals of surg. 1899, April. 
Jonas empfiehlt für schwere Klumpfüsse, bei denen man mit dem un¬ 
blutigen Redressement nicht mehr auskommt, folgende Modification des Phelps- 
schen Verfahrens, welches die Bildung der grossen, durch Granulation zu hei¬ 
lenden Wundfläche vermeidet. Er bildet durch eine V-förmige Incision an der 
Innenseite des Fusses einen Lappen mit der Basis am Fussgelenk; die beige¬ 
gebenen Figuren illustriren die Methode besser als die Beschreibung (Fig. 1). 
Der Lappen wird zurückpräparirt (Fig. 2) und nun die Weichtheile durchtrennt 
Fernerhin durchtrennt er von einer zweiten Incision an der Aussenseite des 
Fusses her über dem Kopf des Talus den Hals des Talus. Er vermeidet da¬ 
durch die Eröffnung des Talo-navicular-Gelenks. Der Fuss lässt sich nun leicht 
redressiren, eventuell wird die Tenotomie der Achillessehne angeschlossen. Die 
äussere Wunde wird durch Naht geschlossen, über die innere der Lappen zurück¬ 
gelegt. lieber den Verband kommt sofort Gipsverband in redressirter Stellung, 
der 5—6 Wochen liegen bleibt. Drehmann-Breslau. 


Hoffa, lieber multiple cartilaginäre Exostosen. Fortschritte auf dem Gebiete 

der Röntgenstrahlen. Bd. 111 Heft 4 S. 127. 

Hoffa stellt einen interessanten Fall von multipler cartilaginärer Ex¬ 
ostose bei einem 16jährigen Patienten vor. Derselbe stammt von gesunden 
Eltern, indessen sind in der Ascendenz, besonders bei den männlichen Familien¬ 
mitgliedern, vielfach ähnliche Erscheinungen beobachtet worden. Nach dem 
Zurückgehen postdiphtheritischer Lähmungen traten bei dem Patienten die 
ersten Krankheitserscheinungen auf. Durch Röntgenbilder ist Hoffa in der 
Lage, genaueren Aufschluss über Sitz und Gestalt der Exostosen zu geben. — 
Der Name Exostosis cartilaginea stammt von Cooper. Virchow aber war 
der erste, der das Wesen der cartilaginären Exostosen richtig kennen gelehrt 
hat. Es handelt sich um Knochenauswüchse, welche theils aus compacter, 
theils aus spongiöser Substanz bestehen und an der Oberfläche mit einer dünnen 
Knorpellage bekleidet sind. Sie entstehen durchweg bei jugendlichen Indivi¬ 
duen, solange das Knochenwachsthum noch nicht vollendet ist. Ihre Lieblings- 
stellen sind die Knoi*pelfugen der langen Röhrenknochen. Schon Virchow 
hatte die Bedeutung der Erblichkeit für die Entstehung der Exostosen erkannt 
V. Bergmann erklärte dann, gestützt ebenfalls auf die Erblichkeit der Ex¬ 
ostosen, dieselben als eine eigene Krankheit, eine Wachsthumsstorung des Inter- 


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Heferate. 


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mediärknorpelfl, gegeben durch eine ursprünglich fehlerhafte Anlage. Volk¬ 
mann beobachtete dann Hemmungen im Längenwachsthum der befallenen 
Knochen, ferner Verkrümmungen und Verbiegungen. Er vermuthete, dass die 
Exostosen durch Rhachitis bedingt seien. Die ersten, die die Bedeutung dieser 
Wachsthumsstörungen erkannten, waren Helferich und Besselhagen. 
Beide zeigten, dass die Knocbenveränderungen nicht rhachitisch sind, sondern 
ebenso wie die Exostosen auf anderweitige Veränderungen des Intermediär¬ 
knorpels zurückzuführen sind. Da die Exostosen sich nicht alle gleich früh 
und gleich stark entwickeln, findet man mannigfache Ungleichheiten der Glieder. 
So auch bei dem Hoffa’schen Patienten. Auch die von ihm aufgenommenen 
Röntgenbilder Hessen an den Knochen keine Spur von einer früheren Rhachitis 
erkennen. Es handelt sich hier und wohl auch bei seinen Leidensgenossen um 
eine vorzeitige Verknöcherung der Epiphysenlinien. Als Ursache dieser kann 
man angesichts der Erblichkeit der Erkrankung einen Fehler in der ersten An¬ 
lage der Epiphysenlinie annehmen. Mit dem Verschwinden der Epiphysenlinie 
geht die Exostosenbildung Hand in Hand, und es ist denkbar, dass die multiple 
Exostosenbildung darauf beruht, dass das ursprünglich für dae Längenwachs¬ 
thum der Knochen bestimmte Material nach aussen gedrängt wird. Der erste 
Anlass zur pathologischen Entwickelung der Epiphysenlinie kann sehr wohl 
eine frühe Rhachitis sein, für die weitere Entwickelung des Leidens ist die 
Rhachitis sicher nicht anzuschuldigen. Pfeiffer-Würzburg. 


Maas, Ueber mechanische Störungen des Knochenwachsthums. Berliner klin. 

Wochenschrift 1900, Nr. G. 

Um ein Verständniss der rhachitischen Wachsthumsstörungen anzubahnen, 
hat Maas sehr schöne Thierexperimente ausgeführt, die in das Wesen der 
mechanischen Störungen eine recht klare Einsicht gestatten. 

Aus seinen Versuchen ergibt sich dreierlei: 1. Durch Einwirkung me¬ 
chanischer Kräfte kann ein im Wachsthum befindlicher, im übrigen aber ge¬ 
sunder Knochen sehr leicht eine Beeinträchtigung seiner definitiven Knochen¬ 
form erfahren. 2. Diese Form Veränderungen sind in keiner Weise bedingt durch 
Hemmung resp. Steigerung der organischen Bildungsvorgänge seitens der 
Knochenmatrix, sondern lediglich durch Störung der räumlichen Anordnung 
des in physiologischen Mengen gebildeten jungen Knochengewebes. 3. Diese 
Störungen in der räumlichen Anordnung ergeben sich aus der physiologischen 
Wachsthumsrichtung und der Richtung und Grösse abnormer Wachsthumswider¬ 
stände nach streng mechanischer Gesetzmässigkeit. 

Analog diesen durch abnorme Druck- und Zugwirkungen bedingten Stö¬ 
rungen des Knochenwachsthums gehen die durch Rhachitis, d. h. durch unge¬ 
nügende Kalkaufnahme bewirkten Störungen des Knochenwachsthums vor sich: 
die rhachitischen Veränderungen stellen nichts anderes dar, als den mechani¬ 
schen Einfluss der physiologischen VVachsthumswiderstände auf die räumliche 
Ausdehnung des mangelnden druck- und zugfesten Knochens; sie treten daher 
jeweilig an den Stellen des Skelets am stärksten in Erscheinung, wo die physio¬ 
logischen Wachsthumswiderstände am lebhaftesten sind. 

G r a e t z e r - Würzburg. 


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Referate. 


Klapp, lieber die Behandlung von Gelenkergüssen mit heisser Luft. Münchener 
medic. Wochenschr. 1900, Nr. 23. 

Klapp berichtet über die guten Resultate, die in der chirurgischen 
Klinik zu Greifswald durch die Behandlung der Gelenkergüsse mit heisser Luft 
erzielt wurden. Zur Anwendung kam der von Bier angegebene Heizkasten. 
Erklärt wird die rasche Resorption der Ergüsse nach Bier durch die Hyperamie¬ 
wirkung der Heissluftbehandlung. Die Gelenke wurden täglich 1 — 2 Stunden 
einer Hitze von 120—150® ausgesetzt. Bei Hitzegraden über 140—150® und bei 
über 2stündiger Anwendung täglich treten leicht Oedeme auf. Es handelte 
sich um seröse oder hämorrhagische Gelenkergüsse, bei tuberculösen Gelenk¬ 
leiden ist diese Behandlungsart contraindicirt. Endlich berichtet Klapp noch 
über seine Thierversuche. Er spritzte Kaninchen physiologische Kochsalzlösung 
Zuckerlösungen und üiin in die Bauchhöhle und Hess dann Hitze auf den vor¬ 
her kurz geschorenen Bauch einwirken. Als Parallelen wurden die von Wagner 
angestellten Versuche über die physiologische Resorptions- und Transudations- 
fähigkeit des Bauchfells angenommen. Die Versuche des Verfassers ergaben 
einmal die grosse Resorptionskraft der Hitze, und ferner mit Sicherheit als 
wirksames Agens die gesetzte Hyperämie. Ehebaid*Würzburg. 

H. Augustus Wilson, Hot air in joint-diseases. Annals of surg. Febr. 1899. 

Wilson empfiehlt die Heissluftbehandlung bei den verschiedensten Ge¬ 
lenkerkrankungen. Den Orthopäden interessirt aus dem Aufsatz hauptsächlich 
die Anwendung höchster Temperaturen (370—400® F. also = 180—200® C. Ref.) 
bei Ankylosen, tuberculösen Erkrankungen und bei veralteten Plattfussen. Diese 
höchsten Temperaturen sind jedoch nur anwendbar, wenn der Patient gut mit 
Flanell bedeckt ist und so die Feuchtigkeit auf ein Minimum reducirt ist 

Drehmann - Breslau. 

Popper, Zur Arthrodese bei Schlottergelenken nach essentieller Kinderlähmung. 
Wiener klinische Rundschau 1900, Nr. 20. 

Nach einem geschichtlichen Ueberblick der Arthrodesenoperation bringt 
Verfasser einen Fall von essentieller Kinderlähmung bei einem Knaben, wo 
durch die Arthrodese an beiden Knie- und Talocruralgelenken der Zustand des 
Patienten soweit gebessert wurde, dass der bisher auf allen Vieren kriechende 
Patient sich wieder aufrecht fortbewegen konnte. In einem anderen Falle von 
arthrodesirtem Talocruralgelenk bei Pes valgus paralyticus gestaltete das Hin¬ 
zutreten einer compensatorischen Beweglichkeit in den Tarsalgelenken das func¬ 
tioneile Resultat geradezu zu einem idealen; die dorsale und plantare Flexion 
war in nennenswerther Excursion ausführbar; ja Patient vermochte sogar in 
den Tarsalgelenken zu proniren und zu supiniren. Schliesslich wurde noch in 
einem Falle von Radialislähmung durch Arthrodesirung der Handwurzelgelenke 
in Streckstellung ‘der Gebrauch der Hand einigermassen ermöglicht. 

G ra etzer-Würzburg. 

Lange, lieber periostale Sehnenvei*pflanzung bei Lähmungen. Münchener 
medic. Wochenschr. 1900, Nr. 15. 

Da die Sehnenverpflanzung, wie sie seither geübt wurde, d. h. üeber- 
pflanzung eines gesunden Muskel- oder Sehnentheils auf eine gelähmte oder 


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Referate. 


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geschwächte Sehne, dem Verfasser bei manchen schwereren Deformitäten ver¬ 
sagte, so vernähte er nun den kraftspendenden Muskel nicht mit der gelähmten 
Sehne, sondern direct mit dem Periost. Der Vorzug dieser ,periostalen Sehnen¬ 
verpflanzung“ gegenüber der alten Methode bestehe einmal darin, dass das 
Resultat wesentlich an Sicherheit gewinne, weil bei der Bildung des neuen 
Muskels keine atrophische Sehne vei-wandt werde, die sich unter dem Einfluss 
der Contractionen leicht dehnen kann. Ein weiterer Vorzug sei der, dass der 
Chirurg die freie Wahl des Ansatzpunktes für den neuen Muskel habe, wo¬ 
durch zwar die Aufstellung des Operationsplanes schwieriger sei, den verschie¬ 
denen Aufgaben der Deformitätenbehandlung aber in viel präciserer Weise ent¬ 
sprochen werden könne. Bei der Schilderung der Technik der neuen Methode 
hebt Lange besonders hervor, dass ^der springende Punkt derselben die Er¬ 
zielung einer zweckentsprechenden Spannung des neuen Muskels“ sei. Verfasser 
hofft, dass 80—90®/o der Apparate, die bislang von den an Kinderlähmungen 
leidenden Patienten getragen werden mussten, in Zukunft durch die Sehnen¬ 
verpflanzung in Wegfall kommen werden. Als Beispiele werden nun verschiedene 
geheilte Fälle aufgeführt mit partiellen Lähmungen am Unterschenkel und 
Fusa. Am meisten jedoch wird der Vorzug der neuen Operationsmethode illu- 
strirt durch die Resultate, welche in 3 Fällen durch dieselbe bei Lähmungen 
des Quadriceps erzielt wurden. Lange hatte früher in 2 Fällen die Sehnen 
des Biceps und Semitendinosus mit der Sehne des gelähmten Quadriceps vernäht, 
beidemal ohne Erfolg, da die Quadricepssehnen »ganz morsch und zunderartig 
waren“. Jetzt ging Lange so vor, dass er zunächst ebenfalls die Biceps- und 
Semitendinosussehne nach vorn leitete und mit einander vernähte. Da sie 
aber viel zu kurz waren, um direct mit dem Periost der Tibia verbunden 
werden zu können, wurde eine künstliche Sehne aus starken Seidenfäden ge¬ 
bildet, mit denen die Enden vom Biceps und Semitendinosus durchflochten 
wurden. Dieselben wurden dann subcutan zwischen Patella und Haut zum 
Unterschenkel geführt und hier mit der Tuberositas tibiae vernäht. Lange 
konnte bereits drei wegen Quadricepslähmung operirte und durch diese Methode 
geheilte Kinder vorstellen. Ehebald-Würzburg. 

Kissling, Ein Fall von infantiler Ceiebralläbmung mit complicirter Oculo¬ 
motoriuslähmung. Münchener med. Wochenschr. 

Die Literatur der infantilen Cerebrallähmung weist nur 4 Fälle der 
hemiplegisclien Form auf, die gleichzeitig mit Augenmuskellähiuungen com- 
plicirt sind. Die wenigen Fälle lehren aber, dass die Localisation des Krank- 
heitsprocesses nicht ausschliesslich in der Hirnrinde oder in den Grosshirn¬ 
hemisphären, sondern eventuell auch in tieferen Theilen des Gehirnes zu suchen 
ist. In drei von den genannten Fällen handelt es sich um eine zur Hemiplegie 
wechselständige Oculomotoriuslähmung, in einem Falle um eine vollständige 
wechselständige und eine unvollständige gleichnamige Oculomotoriuslähmung. 
Ueber einen diesem genau gleichen Fall vermag nun Kissling zu berichten. 
Interessant ist es nun, dass in diesen beiden Fällen auf der der Hemiplegie 
gleichnamigen Seite genau dieselben Muskeln, nämlich der Musculus rectus sup. 
und der Musculus rectus inferior betroffen sind. Da hier der Sitz des Krank¬ 
heitsheerdes im Hirnschenkel unterhalb der vorderen Vierhügel zu suchen ist, 


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412 


Referate. 


da ferner anzunehmen ist, dass der Krankheitsprocess die Mittellinie Über¬ 
schritten und auch die Fasern des Oculomotorius der anderen Seite getroffen 
hat, so würde das auffallende Uebereinstimmen in der Vertheilung und Be¬ 
schränkung der Lähmung der der Hemiplegie gleichseitigen Musculi recti 
sup. und inf. erklärt sein, wenn wir wüssten, dass die am meisten medial den 
Himschenkel durchziehenden Oculomotoriusfaserzüge jene sind, die den Rectus 
Superior und Rectus inferior versorgen. Dies ist aber bis jetzt noch nicht fest- 
gestellt. G raetzer-Würzburg. 

Wolf, Zwei Fälle von angeborenen Missbildungen. Münchener med. Wochen¬ 
schrift 1900, Nr. 22. 

Wolf beobachtete den Mangel der beiden Kniescheiben bei einer Frau 
und ihren beiden einzigen Kindern. Eltern sowohl als Enkelkinder etc. hatten 
keine Deformitäten. Die Beweglichkeit der Kniegelenke war bei keinem der 
Patienten beschränkt; nur ermüdeten die Gelenke leichter. Ausserdem fehlten 
bei den drei Personen vollständig beide Daumennägel. 

Bei einem Herrn fand Verfasser an beiden kleinen Fingern das Gelenk 
zwischen Grund- und Mittelphalanx in Beugestellung ankylotisch vor. Dieselbe 
Deformität war in der Familie des Patienten zahlreich vertreten; doch konnte 
ein bestimmter Typus der Vererbung weder in der Erbfolge noch im Geschlecht 
herausgefunden werden; nur einmal war eine Generation übersprungen. 

Graetzer • Würzburg. 

Lucas-Championniere, The principles of the treatment of fractures by 
systematic movements and roassage without apparatus for immobiliation. 
The medical news, Jan. 6, 1900. 

Verfasser bricht eine neue Lanze für seine Methode der Behandlung von 
Fracturen, wie er sie schon seit langen Jahren in Paris in seinem Hospital Übt 
und seine Schüler lehrt; Keine Iramobilisation, passive Bewegungen, Massage, 
gleich vom ersten Tage an. Die einzige Contraindication ist die drohende 
Difformität. Ganz besonders ist diese Behandlungsart und zwar in der über¬ 
wiegenden Anzahl der Fälle von Brüchen der oberen Extremität abwärts vom 
Ansatz des Deltoides anzuwenden. Der Arm wird dabei in einer einfachen 
Schlinge getragen. Ferner werden die Clavicula- und Scapulabrüche dieser Be¬ 
handlung unterworfen, wie auch viele Fälle von Brüchen der Malleolen, der 
Fibula und solchen am Knie. Manchmal wird eine gemischte Behandlungsart 
angewendet, besonders bei manchen Humerus- und Femurfracturen, indem der 
fixirende Verband oft gewechselt wird, wobei stets Massage und Bewegungen 
gemacht werden. Die Massage muss so ausgeführt werden, dass sie nie 
Schmerzen macht. Verfasser hat schon etwa 1200 Fälle derart behandelt und 
ist mit den Resultaten von Jahr zu Jahr immer mehr zufrieden, so dass er 
bereits von einer Revolution in der Behandlung der Fracturen spricht 

E h e b a 1 d -Würzburg. 

Prof. Ed. Rose, Der Zehschuh. Deutsche Zeitschrift für Chirurgie Bd. 66 
Heft 2. 

Verfasser stellt einen 61jährigen Kranken vor, bei dem die Wladimiroff- 
Mikulicz- Operation der osteoplastischen Fusswurzelresection gemacht worden 


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Refierate. 


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ist und der mit dem Zehschuh vorzüglich geht. Wesentlich ist, dass der Fuss 
ganz senkrecht gestellt wird, so dass der Fussrücken in einer Ebene mit dem 
ünterschenkelrücken liegt und dass vor den Zehspitzen das Oberleder nicht 
flach ist, sondern senkrecht in die Höhe geht, damit die Zehen auch wirklich 
bis vom hingehen und der Ballen mit zur Trittfläche kommt. Der zu vermeidende 
Fehler wird durch ein Röntgenbild veranschaulicht. Lilienfeld. 

Hübsch er* Basel, Streckmetall, ein neues Schienenmaterial, besonders für 

kriegschirurgische Zwecke. Centralblatt für Chirurgie 1900, Nr. 9 S. 233. 

Verfasser beschreibt sogen. Streckmetall (metal deploye, expanded metal), 
welches in jüngster Zeit in die Bautechnik eingeführt ist; dasselbe ist ein gitter¬ 
förmig gestanztes Blech und eignet sich nach Hübscheres Versuchen in her¬ 
vorragender Weise zur Herstellung jeder Art von Schienen und Lagerungsver¬ 
bänden. Besonders in Verbindung mit Gipsbrei soll dasselbe Verbände von 
unerreichter Festigkeit geben. Die Herstellung dieser Gitterblech-Gipsverbände 
wird folgendermassen beschrieben: auf das mit irgend einem Materiale ge¬ 
polsterte Glied legt man weitmaschige Packleinwand und unmittelbar darüber 
das den Körperformen nach zurecht geschnittene und angeschmiegte Blech. 
Die Packleinwand ist allseitig so weit zu gross genommen, dass die nach oben 
umgeschlagenen Ränder die Schiene auch auf ihrer Rückfläche vollständig 
decken. In die Maschen des Gitterbleches wird nun dickflüssiger Gipsbrei mit 
den Händen glatt eingestrichen und die Zwischenräume werden vollständig 
ausgeebnet; vor dem Erhärten wird die überschüssige Packleinwand rasch über 
die Blechränder umgeschlagen, so dass auch die Ränder und die Rückfläche 
der Schiene mit Stoff bezogen sind. Infolge der eigenthümlichen Schrägstellung 
der Maschenstege lässt sich nur eine überall gleichmässig dicke Schicht von 
Gips in die Maschen einstreichen; der Verband hat daher überall die gleiche 
Dicke. Nach dem Erhärten des Gipses ist das vorher biegsame Metall nach 
allen Richtungen versteift. Nimmt man guten Gips und heisses Wasser mit 
etwas Alaun, so ist auch der grösste Lagerungsverband, z. B. bei einer Ver¬ 
letzung der Wirbelsäule, in wenigen Minuten fertig. 

Als Nachtheil des Materials erwähnt Hübscher die scharfen Schnitt¬ 
ränder des Bleches, also Vorsicht beim Schneiden. 

Für kriegschirurgische Zwecke wird das Streckmetall besonders deshalb 
empfohlen, weil es leicht ist und wenig Platz beansprucht. (Bezugsfirraa: 
Schüchtermann und Krem er, Dortmund, Maschinenfabrik. Streckmetall 
Nr. 1 und la mit Maschenweiten von 10 und 6 mm.) Gocht-Würzburg. 

H. S. Frenkel-Heiden, Die Behandlung der tabischen Ataxie mit Hilfe der 

üebung. Leipzig, Verlag von F. C. W. Vogel, 1900 (M. 10). 

Verfasser hat sich der sehr dankenswerthen Aufgabe unterzogen, auf 
Grund seiner grossen Erfahrung eine technische Anleitung für die sogen. „Com- 
pensatorische Uebungstherapie“ zu schreiben. Da das Princip des Frenköl¬ 
schen Verfahrens und die Ausbildungsfähigkeit desselben zu einer wissenschaft¬ 
lich begründeten Methode vollkommen abhängig sind von den theoretischen 
Vorstellungen über das Wesen und die Umachen der complexen unter dem 


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Referate. 


Namen der Coordinationsstörung zusamraengefassten Symptome, so sah sich 
Frenkel gezwungen, dem eigentlichen technischen Tbeil einen im wesent¬ 
lichen abgeschlossenen theoretischen Theil voranzuschicken. 

Dieser allgemeine Theil beginnt mit der Geschichte der Uebungstherapie, 
behandelt weiter die Formen der tabischen Ataxie, der Coordination, und den 
Begriff der Zweckmässigkeit in den Bewegungen des Körpers. Dann wird eine 
Definition der Ataxie gegeben, und es werden die Ursachen der tabischen Ataxie 
besprochen. Nach genauen Vorschriften für die Untersuchung der Sensibilität 
und Prüfung auf Ataxie folgt eine sehr eingehende durch zahlreiche instructive 
Abbildungen illustrirte Besprechung der Hypotonie der Musculatur, ihres Ein¬ 
flusses auf die Körperhaltung und ihrer differential-diagnostischen Bedeutung. 
Schliesslich werden noch die Beziehungen zwischen der Sensibilität und Ataxie 
gewürdigt und in dem letzten Kapitel der centralen Theorie der Ataxie der 
Todesstoss gegeben zu Gunsten der in jeder Beziehung, auch durch die Erfolge 
der Uebungstherapie gestützten Sensibilitätstheorie. 

Für die Anordnung des zweiten technischen Theils ist das Bestreben 
massgebend gewesen, dem Arzte direct praktisch Verwendbares zu geben. Es 
soll ihm möglich sein nach eingehender Untersuchung des einzelnen Kranken 
diejenigen Gruppen von Uebungen herauszufinden, welche allein für den con- 
creten Fall geeignet sind. Angesichts der unendlichen Variabilität der Uebungen 
wird es zur Pflicht gemacht, nur solche Bewegungen von Kranken vornehmen 
zu lassen, für welche bestimmte Indicationen vorliegen. So enthält thatsächlich 
dieser specielle Theil alle nur wünschenswerthen Details und praktischen An¬ 
gaben, und die Vorschriften über Beschaffenheit der Hilfsmittel und deren Ver¬ 
wendung, über Aufsicht und Localität etc. werden so bis ins einzelne besprochen, 
dass es dem Arzte ermöglicht ist, sich aufs Beste in dies grosse und dankbare 
Gebiet der Therapie einzuarbeiten und sich ohne zu grosse Mühe eine ent¬ 
sprechende Pjinrichtung zu schaffen. In diesem Sinne sind sogar die Maasse 
und Grössenverhältnisse der nothwendigen Schemata und Vorrichtungen genau 
angegeben. 

Zum Schlüsse möchten wir noch hervorheben, wie ausserordentlich die 
zahlreichen Abbildungen den Text verdeutlichen helfen. Es ist dies wieder 
einmal ein Buch, welches so ganz in die Hände des praktischen Arztes passt 
und auf diese Weise vielen Kranken zum Segen gereichen wird. 

Wir empfehlen dasselbe aufs Beste. Gocht-Würzburg. 


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XVI. 


Die Aetiologie der Deviationen des Rumpfes. 

Von 

Dr. med. Peter Lorenzen, 

Director des medico-mechanisohen Instituts zu Copenhagen. 

Die orthopädischen Leiden, die man am häufigsten sieht, sind 
ohne Zweifel die Deviationen der Form des Rumpfes, und diese 
Leiden sind es, deren Behandlung, vielleicht zum Theil wegen 
mangelnder sicherer Kenntniss ihrer Aetiologie, grosse Schwierig¬ 
keiten darbietet. Die Form der Rumpfdeviationen, welche sich zum 
Theil durch Deviationen in der frontalen Ebene äussert, hat so zu 
sagen der ganzen Gruppe von Leiden das Gepräge gegeben, so dass 
man eigentlich, wenn man von „Skoliose^ spricht, darunter eine 
Menge verschiedener Leiden zusammenfasst, wenn nur eine seit¬ 
liche Deviation der Körperform vorhanden ist, obgleich diese in vielen 
Fällen nicht das am meisten hervortretende Symptom ist. Gewöhn¬ 
lich haben die verschiedenen Deviationen in sagittaler Ebene den 
Orthopäden viel weniger interessirt, ich glaube aber doch, dass man, 
eben indem man diese Leiden studirt und dieselben mit den Devia¬ 
tionen in frontaler Ebene vergleicht, einen besseren Anhaltspunkt 
für die Aetiologie dieser ganzen Gruppe von Leiden gewinnt. Man 
trifft so zu sagen nie eine uncomplicirte Seitendeviation; es findet 
sich neben der Seitendeviation von der Linea spinosa eine mehr oder 
weniger ausgesprochene Asymmetrie des Körpers, die durch die Ver¬ 
änderung des gegenseitigen Verhältnisses zwischen allen Theilen 
des Körpers auch in allen übrigen Ebenen, mehr in der einen oder 
in der anderen, mit einer Deplacirung des Schwerpunktes des Ober¬ 
körpers entweder nach der einen Seite oder in sagittaler Ebene oder 
in beiden Richtungen entstanden ist. Die Formen sind ja so ver- 

Zeitschiift für orthopädfsche Chirurgie. VIII. Band. 28 


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Peter Lorenzen. 


schiedeo, dass man kaum sagen kann, dass es ein typisches Bild 
gibt, und -ich glaube, dass solche Eintheilungen, wie in eine lumbale, 
eine dorsale und dergleichen Skoliosen, sowie auch in einen hohl- 
runden, einen hohlflachen Rücken u. s. w. von sehr geringer wissen¬ 
schaftlicher Bedeutung sind. (Vielleicht haben sie eine praktische 
Bedeutung, weil die verschiedenen Abschnitte des Körpers nicht mit 
derselben Leichtigkeit eine mechanische Behandlung auf sich ein¬ 
wirken lassen, und weil einige Formen von Krümmungen auf die 
Aetiologie hindeuten.) 

Von grösserem Interesse als Grundlage einer Eintheilung sind 
folgende Fragen: erstens, welches die Aetiologie der vor¬ 
handenen Deviation sei, und zweitens, ob überhaupt 
eine Deformität vorliege. Das Vorhandensein einer De¬ 
formität zeigt sich dadurch, dass es wegen der Ketraction der 
Weichtheile oder wegen einer Deformirung der Knochen oder wegen 
aller beiden zugleich dem Patienten unmöglich geworden ist, selbst 
nach Anweisung die Deviation auszugleichen, und dass immer eine 
Kraft erforderlich ist, um durch Manipulationen dahin zu gelangen. 
Ein solches Leiden muss man wohl mit den Namen Skoliose, 
Kyphose oder ähnlich bezeichnen; es scheint natürlicher, als 
wenn man, wie gewöhnlich, von Skoliosen ersten Grades oder von 
Haltungskyphosen und dergleichen spricht, allen den Leiden, wo 
das Obengenannte nicht der Fall ist, einen gemeinsamen Namen, z. B. 
Haltungsanomalien beizulegen. Für die Prognose macht es ja 
auch einen grossen Unterschied, indem diese Leiden möglicherweise 
zuweilen spontan heilen können, während eine wirkliche Deformität 
absolut niemals ohne Behandlung geheilt werden kann. 

Weil die Deviation als solche gewöhnlich während des Anfangs 
ihrer Entwickelung nicht mit vielen Beschwerden verbunden ist, und 
weil das veranlassende Leiden oft auch nicht andere speciell hervor¬ 
tretende Symptome zeigt, wird die Behandlung oft lange auf¬ 
geschoben, und wenn sie endlich eingeleitet wird, so ist es mit 
Schwierigkeiten für den Arzt verbunden, den Patienten zu der noth- 
wendigen Ausdauer zu bewegen; indessen sind es sehr oft andere 
mehr genirende Symptome des veranlassenden oder eines secundären 
Leidens, die sie dazu treiben. 

Weil es andererseits nie eine Frage ausschliesslich cosmetischen 
Interesses ist, indem die Missbildung als solche in der That späterhin 
im Leben Beschwerden veranlassen kann, hat es grosses Interesse. 


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Die Aetiologie der Deviationen des Rumpfes. 


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sich möglichst genaue Kenntnisse ihrer Entstehungsweise zu yer- 
schaifeu, um dadurch ihrem Entstehen Vorbeugen helfen zu können; 
ohnedies wird man dazu genöthigt, ihre Bedeutung während der 
früheren Stadien (d. i. als Haltungsanomalien) nicht zu unterschätzen, 
da natürlicherweise der günstigste Augenblick zu ihrer Behandlung 
der Zeitpunkt ist, wo die secundären Veränderungen sich noch nicht 
entwickelt haben. 

So lange diese Deviationen studirt werden, hat man auch die 
Aufmerksamkeit auf ihre Aetiologie gerichtet; von Ausnahmefällen 
abgesehen (ich sehe erstens von den Deviationen, die Folgen von 
destruirenden Processen sind, ab), können alle direct veran¬ 
lassenden Momente darunter zusammengefasst werden, dass jede 
Deviation der Form des Rumpfes das Resultat einer 
habituellen Ruhehaltung (oder Bequemlichkeitshaltung) sogen. 
Haltungsauomalie, Ermüdungshaltung (D o 1 e g a), position of rest 
(Lane) ist. 

Damit diese fixirt werden soll, d. h. um die Bildung einer 
wirklichen Deformität zu ermöglichen, ist ausserdem 
ein Krankheitszustand mit universellen oder in der 
Umgebung der Wirbel localisirten Manifestationen 
erforderlich. 

Eine Haltungsanomalie — z. B. eine professionelle — kann 
zuweilen vielleicht ohne einen solchen Krankheitszustand secundäre 
Veränderungen hervorrufen, aber dann nur durch gleichmässig ein¬ 
förmige Anstrengungen eine lange Reihe von Jahren hindurch; solche 
Zufälle sind beschrieben worden, aber ohne dass es doch ganz zweifellos 
ist, ob man die vorhandenen Veränderungen ausschliesslich den 
mechanischen Verhältnissen zuschreiben kann, oder ob nicht chro¬ 
nische, rheumatische oder arthritische Processe dazu beigetragen 
haben. 

Man sieht z. B. selten bei Lehrlingen Deformitäten des Körpers, 
trotzdem sie oft während der Arbeit solche Bequeinhchkeitsstellungen, 
manchmal sogar lange Zeit, einnehmen, und dies eben in einer 
Periode, wo der Körper sich in der Entwickelung befindet. Die 
Ursache hierzu kann man vielleicht darin suchen, dass sie in dem 
Anfang der Lehrzeit durch Botenlaufen und andere Nebenbeschäf¬ 
tigungen doch hie und da die Arbeit unterbrechen und dadurch 
Gelegenheit haben, natürliche oder wenigstens andere Haltungen ein¬ 
zunehmen; infolge dessen wird die Stellung nicht „habituell“. Ueber- 


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Peter Lorenzen. 


dies leiden sie seltener an den prädisponirenden Krankheitszustanden 
als z. B. Schulkinder. 

Hierzu möchte ich bemerken, und die Thatsache ist sehr 
sonderbar, dass Individuen mit einer zu kurzen Unterextremitat, an¬ 
geboren oder durch Krankheiten erworben, bei sonst normalen Ver- 
hältiiissen eine Skoliose nicht bekommen, trotzdem dass dieser Fehler 
durch Compensation gewöhnlich eine skoliotische Haltung beim Stehen 
oder Gehen veranlasst. Dies wird ganz natürlich dadurch erklärt, 
dass ein solches Individuum, jedesmal wenn es sitzt oder liegt, ge¬ 
wöhnlich keinen Grund hat, die anormale Haltung einzunehmen, es 
hat also oft Gelegenheit, die skoliotische Haltung zu redressiren, 
und diese braucht also gar nicht „habituell^ zu werden. Stellt sich 
aber ein Krankheitszustand ein, der sie veranlasst, in allen Stel¬ 
lungen Ruhehaltungen einzunehmen, dann wählen sie vorzüglich die 
Haltungen, welche sie beim Gehen nothwendigerweise einnehmen. 
Also wird die Haltungsanomalie „habituell. 

Endlich sieht man diese Missbildung verbältnissmässig weit 
seltener bei den Schulknaben als bei den Schulmädchen, obgleich 
jene wahrscheinlich ebenso oft als diese Ruhehaltungen während 
der Schulzeit einnehmen. Aber hier wieder macht es einen Unter¬ 
schied, dass ungeachtet der Fortschritte der letzten Zeit in dieser 
Richtung die Knaben viel weniger dazu versucht sind, auch ausser¬ 
halb der Schulstunden diese Haltungen einzunehmen, indem die Be¬ 
schäftigungen derselben ausserhalb der Schule, weniger als die der 
Mädchen fortwährendes Stillsitzen oder -stehen mit sich führen. 
(Handarbeit, Musik u. s. f.). 

Ausserdem bringen verschiedene andere Verhältnisse es mit 
sich, dass die Knaben nicht so oft an den prädisponirenden Krank¬ 
heitszuständen leiden. 

Unter solchen Krankheitszuständen, die das Fixiren 
der Haltungsanomalie bewirken können, muss man vor 
anderen die mit universellen Manifestationen nennen. Von 
diesen muss wieder zuerst die „Rliachitis*' genannt werden. 

In den ersten Lebensjahren tritt ja dieser Krankheitszustand 
nicht ungewöhnlich durch Symptome in der Function der verschie¬ 
denen Organe, sondern auch sehr häufig durch solche, sowohl kli¬ 
nisch als auch pathologisch - anatomisch leicht nachweisbare Leiden 
der Knochen und Schlaffheitszustände von Muskeln (Ermüdbarkeit) 
und Ligamenten (abnorme Beweglichkeit der Gelenke) gekennzeichnet. 


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Die Aetiologie der Deviationen des Rumpfes. 


419 


auf. Ausser anderen Knochen- und Gelenkdeformitäten, theils 
functionell, theils vital entwickelt, sieht man hier nicht selten Devia¬ 
tionen der Körperform; diese sind wahrscheinlich anfänglich rein 
functionell, während die Verkrümmungen der langen Knochen sich 
kaum rein functionell entwickeln. Das ist nicht wunderlich, dass 
solch ein Kind mit seinen schlaffen Weichtheilen und damit schlaffen 
Wirbelverbindungen sammt weichen Knochen nicht im Stande ist, 
eine Körperstellung, die Muskelaction erheischt, zu erhalten, ebenso 
wenig, dass eine solche Haltungsanomalie schnell secundäre Ver¬ 
änderungen hervorruft. Wenn ein solcher Schlaffheitszustand zu der 
Zeit, wo die später auftretenden physiologischen Krümmungen der 
Wirbelsäule noch nicht gebildet sind, auftritt, so scheint es leicht 
erklärlich, dass das Kind, wenn es in aufrechter Haltung eine Ruhe¬ 
stellung sucht, dann gerade am häufigsten eine total kyphotische 
Haltung einnimmt. Weil das rhachitische Leiden sich oft in den 
ünterextremitäten localisirt, sind diese Kinder in der Regel nicht geneigt, 
recht viel zu gehen; da sie ausserdem am häufigsten schon zu gross 
sind, um stets liegen zu bleiben, so sitzen sie, wenn sie nicht schlafen, 
den grössten Theil des Tages und zwar meistens mit extendirten 
Kniegelenken (entweder auf dem Fussboden oder im Bette). 

Wegen der in sitzender Stellung normal kleinen Inclination 
des Beckens, welche sich sogar noch verkleinert infolge der An¬ 
spannung der pelvi - cruralen Beugemuskeln bei extendirten Knie¬ 
gelenken, wird das Einnehmen der kyphotischen Haltung absolut 
begünstigt; diese eignet sich dabei in sitzender Stellung sehr gut 
für eine Ruhehaltung, welches auch im täglichen Leben den meisten 
Menschen bekannt ist. In stehender Stellung ist sie dagegen nicht 
sehr dafür geeignet; um eine passive Hemmung hier zu erzeugen, 
würde eine so grosse Verminderung der Beckeninclination erforder¬ 
lich sein, dass die Kniegelenke flectirt gehalten werden müssten; 
das Stehen mit gebeugten Kniegelenken repräsentirt indessen eine 
grosse Arbeit, weshalb eine eigentliche „Ruhehaltung** nicht vor¬ 
handen ist; und doch trifft man zuweilen eine solche Haltungs¬ 
anomalie bei grösseren Kindern, denen es hauptsächlich darum zu 
thun ist, den Rücken so zu entlasten. 

Wird das Kind auf dem Arme getragen, so befindet es sich 
auch in einer sitzenden Stellung, zwar mit gebeugten Kniegelenken 
und dabei wohl mit einer nicht so stark verkleinerten Beckenincli¬ 
nation. Aber warum hier oft ausser der kyphotischen sich eine 


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Peter Lorenzen. 


Seitenkrümmung einstellt, hat man noch nicht gänzlich erklären 
können. Es lässt sich ganz wohl erklären, dass dieselbe sich bildet, 
indem das Kind auf dem Arme sitzt; in dieser Stellung nämlich 
sucht es sich ganz natürlich eine Stütze, indem es den Oberkörper 
an den Tragenden lehnt (Seitenbeugung), dessen Arm in der Regel 
etwas schräg gestellt ist (Schrägestellung von dem Becken des Kindes), 
und der Unterkörper des Kindes ist also zwischen der Brust und 
dem Arm des Tragenden fixirt. Wenn nun das Kind vorw’^ts sehen 
will, muss es den Oberkörper auf dem in entgegengesetzter Rich¬ 
tung fixirten Unterkörper rotiren (Torsion). Am häufigsten findet 
das Tragen auf dem linken Arm statt, und solch eine bestimmte, 
schiefe Ruhehaltung wird wohl einige der Tagesstunden vom Kinde 
eingenommen. Doch ist es wohl zweifelhaft, ob dieses genüge, die 
Entwickelung der Deformität zu erklären, um so mehr als das Kind 
doch den bei weitem grössten Theil des Tages schlafend oder 
anderswo sitzend zubringt, als auf dem Arme, und dann hat es keine 
dazu zwingende Ursache, eben diese skoliotische Haltung einzunehmen. 
Ohne Zweifel entsteht indessen eine passive Hemmung für die Beu¬ 
gung der Wirbelsäule viel früher bei der Seitenbeugung als bei der 
Vorwärtsbeugung, diesen Umstand kennt man im täglichen Leben, 
wo eine Ruhestellung, die man sitzend, das eine Bein über das 
andere geschlagen, einnimmt, nicht selten ist (Schrägstellung des 
Beckens und Seitenkrümmung des Lendentheils der Wirbelsäule). 
Es wäre dann möglich, dass ein Kind in aufrechter Hal¬ 
tung diese Hemmung suchen würde, selbst wenn es nicht ge¬ 
tragen wird. 

Die kyphotische Beugung der Rbachitischen wird selten fixirt; 
dagegen sieht man nicht selten die seitliche Beugung sich sehr 
schnell fixiren und sich bis zu einem recht bedenklichen Grad ent¬ 
wickeln, noch häufiger aber sieht man die Haltung sich bessern, 
indem der Krankheitszustand schwindet, wobei auch die Kräfte 
wachsen. Wenn man aber die Gelegenheit fände, diese Patienten 
später zu beobachten, würde man wahrscheinlich oft bemerken, dass 
ein kleiner Rest von Seitenbeugung zurückgeblieben ist. Wenigstens 
trifft man ziemlich oft bei grösseren skoliotischen Kindern in der 
Mitte einer solchen Deformität einen kleinen steiferen Theil des 
Rückgrates mit starker Deformirung der Knochen, sich oft nur über 
2—3 Wirbel erstreckend. Diese Beobachtung wird dadurch be¬ 
stätigt, dass während der Behandlung oft der grösste — frisch ent- 


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Die Aetiologie der Deviationen des Rumpfes. 


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standene — Tbeil der Krümmung sich ziemlich schnell beigem lässt, 
indem dieser kleinere Theil jedem Eingriff trotzt. Es kann nicht 
wundem, dass eine solche Deformität der Beobachtung entgehen 
kann, wenn man z. B. sich erinnert, dass man zufälligerweise, was 
mitunter geschieht, eine abgelaufene Spondylitis durch die Entdeckung 
von einer leichten Deformität oder einer aufgehobenen Beweglichkeit 
zwischen ein paar Wirbeln diagnosticiren kann, welches Yerhältniss 
ebenso wenig als die Krankheit früher beobachtet oder behandelt 
worden ist. Da es durch pathologisch-anatomische Untersuchungen 
nachgewiesen ist, dass die Wirbel in dem Scheitelpunkt einer 
Krümmung sieh am meisten deformiren, so muss auch diese rhachi- 
tische Deformität in der Mitte des Rückens, wo sich eben diese 
Partien am häufigsten finden, die am schwierigsten zu heilende sein. 

Später, im Kindes- oder Jünglingsalter, treten zu¬ 
weilen andere Krankheitszustände auf, welche sich unter anderem 
durch universelle Müdigkeit, Schlaffheit von Muskeln und Ligamenten 
mit vermehrter Beweglichkeit der Gelenke äussem; hier und da 
trifft man gewiss auch hier eine vermehrte Plasticität der Knochen. 
Jedenfalls sieht man zuweilen Haltungsanomalien lange Zeiten hin¬ 
durch bestehen, ohne dass die Krümmung fixirt wird, während dies 
oft schnell zu anderen Zeiten geschehen kann. Ob hier mit Recht 
von einer »juvenilen Rhachitis** die Rede sein kann, muss wohl un¬ 
entschieden bleiben, aber die pathologisch - anatomischen Untere 
suchungen analoger Zustände der Kniegelenke — Genu valgum — 
deuten wenigstens auf ein Leiden des Knochensjstems zugleich. 
Diese Krankheitszustände treten namentlich bei der die Schule be¬ 
suchenden Jugend und besonders bei dem weiblichen Theil der¬ 
selben auf, und sie verursachen, dass häufig wiederholte und jedes¬ 
mal längere Zeit eingenommene anormale Haltungen die Gewebe 
in abnormer Weise beeinflussen. 

Endlich können ähnliche Zustände in späteren Lebens¬ 
perioden auftreten, z. B. während der Reconvalescenz von schweren 
Krankheiten, während der Schwangerschaft oder des Säugens. In 
solchen Perioden kann dasselbe eintreten, wenigstens sieht man oft 
schon anwesende Deformitäten sich verschlimmern. 

Von universellen Krankheitszuständen mit locali- 
sirten Manifestationen, die für die Entwickelung einer De¬ 
formität aus einer Haltungsanomalie eine Bedeutung haben können, 
muss man chronisch-rheumatische Leiden in den Gelenken oder in 


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Peter Lorenzen. 


der Nähe derselben nennen. So können diese Leiden z. B. bei 
einem Handwerker verursachen, dass seine Wirbelgelenke in den 
von Jugend an angewöhnten Stellungen fixirt werden. 

BetreflFs des anderen Momentes, der Aetiologie, reicht ein solches 
Leiden nicht hin, um zu erklären, weshalb eine Ruhestellung habituell 
wird, denn die Patienten mit diesem Leiden sind ebenso gut als Gesunde 
geneigt, das Einnehmen verschiedener Ruhestellungen zu wechseln: 
ausserdem sieht man ja auch, dass viele dieser Individuen keine 
Deformität des Körpers bekommen. Jeder Mensch nimmt gelegentlich 
Ruhestellungen ein, wenn er durch Stehen oder Sitzen längere Zeit 
ermüdet ist, aber in der Regel wechselt er die verschiedenen Formen 
derselben um. Wenn dagegen ein Individuum sogleich, nachdem 
es in Ruhe gekommen ist, eine solche Stellung — und dann vor¬ 
züglich eine und dieselbe — einnimmt, spricht man von einer 
habituellen Ausruhestellung (oder Haltungsanomalie); diese 
wird unter gewissen Bedingungen so zur Gewohnheit, dass sie ganz 
oder theilweise auch während der Bewegung eingenommen wird. 
Möglicherweise ist es bisweilen zufällig, dass eben dieselbe Ausruhe¬ 
stellung während irgend eines Schwächezustandes habituell einge¬ 
nommen wird, bisweilen ist dies vielleicht von besonderen, localen, 
individuellen, normal-anatomischen Verhältnissen abhängig; ich glaube 
aber überhaupt, dass die Bedeutung localer Leiden als die 
Veranlassung des Einnehmens von eben derselben Ausruhestellung 
gar zu wenig beachtet wurde. 

Es ist z. B. nicht selten, dass die Beschwerden von chro¬ 
nischen, z. B. rheumatischen Leiden dieselben sind, welche 
ältere Arbeiter zum Einnehmen ihrer typischen, anormalen Arbeits¬ 
haltungen bewegen. 

Die pleuritische Skoliose ist ein anderes derartiges Beispiel, 
und deshalb bin ich der Meinung, dass diese Haltungsanomalie mit 
ähnlichen Deviationen, die man bisweilen bei anderen einseitigen 
Leiden der Brusthöhle trifft, zusammengefasst werden kann. Jeden¬ 
falls ist es eine gezwungene Erklärung, wenn man die Ursache 
einer skoliotischen Haltung bei solch einem Leiden darin suchen 
würde, dass der Schwerpunkt des Körpers wegen eines Exsudats, 
einer Geschwulst oder dergleichen, oder wegen einer secundären Re- 
traction der einen Brusthälfte verrückt wird; denn in diesem Falle 
wäre es natürlicher, dass das Abbalanciren dieses Verhältnisses weiter 
nach unten in der Lendenwirbelsäule geschähe. Es kann auch nicht 


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Die Aetiologie der Deviationen des Rumpfes. 


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ein Einschrumpfungsprocess allein sein, der eine solche Seitenbiegung 
der Bnistwirbelsäule hervorbringt, denn diese Krümmung, die zu¬ 
weilen nach Pleuritis auftritt, kehrt bald ihre Convexität, bald ihre 
Concavität gegen die afficirte Seite. Weit natürlicher wird es da¬ 
durch erklärt, dass der Patient zuweilen eine anormale Haltung an¬ 
nimmt, um dadurch die afficirte Brusthälfte vor den durch die 
Respirationsbewegungen hervorgebrachten Irritationen zu schonen 
(immobilisiren), oder auch dass er zuweilen auf dieselbe Weise da¬ 
durch bessere Bedingungen für die Respiration mit der gesunden 
Brusthälfte sucht. Dasselbe gilt für den Fall, wo äussere Leiden, 
z. B. vernarbende ülcerationen auf der Brustwand Haltungsanomalien 
verursachen. Aehnlich ist es bei chronischen Leiden der Unter¬ 
leibsorgane; ich erinnere mich an total kyphotische Haltungen bei 
Weibern, ohne Zweifel eingenommen wegen alter chronischer Leiden 
der Beckenorgane, sowie an eine gleiche Haltung bei einem Manne 
mit einer Varicocele, die sich aufwärts in den Bauch erstreckte. 

Die sogen, ischiadische Skoliose bietet meiner Meinung 
nach auch ein gutes Exempel von einer solchen Haltungsanomalie 
dar. Denn als solche muss sie aufgefasst werden, sei es nun, dass 
man sie nach einer von den vielen, zum Theil gezwungenen Er¬ 
klärungen construirt, oder dass man sie als eine Haltung auffasst, 
die, um die afficirten Gewebe zu schonen, eingenommen wird; es 
sind entweder die Muskeln (Fascien oder Bindegewebe), die — bei 
einer chronisch - rheumatischen „Ischias“ gewiss immer der Sitz 
chronisch-rheumatischer Infiltrationen oder Schwielen — in er¬ 
schlaffte oder distendirte Stellung versetzt werden, oder es sind 
die gewiss auch oft in dergleichen Fällen rheumatisch erkrankten 
Lumbalwirbelgelenke, die theilweise immobilisirt gehalten werden 
in der für sie bequemsten Stellung (wenn sie doppelseitig afficirt 
sind, so ist meistens die eine Seite mehr leidend als die andere). 
Am seltensten — wenn überhaupt jemals — ist es, um entzündete 
Nerven zu schonen. In den Fällen, die ich beobachtet und be¬ 
handelt habe, war es mir immer möglich, die Haltung durch 
die mittelst Palpirung (Massage) gefundenen, empfindlichen Infiltra¬ 
tionen in der Lenden- oder Hüftgegend zu erklären, und wenn ich 
ein paarmal eine Altemirung der Haltung bemerkt habe, ist diese 
immer mit einer Altemirung der grössten Empfindlichkeit von den 
palpablen Infiltrationen zugleich eingetroffen. 

Betreffs der juvenilen Haltungsanomalie meine ich. 


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Peter Lorenzen. 


dass man die Bedeutung von der sitzenden Stellung während der 
Schularbeit als Hauptursache sehr übertrieben habe, ob ich ihr gleich 
nicht jede Bedeutung absprechen darf. Denn selbst wenn diese 
Arbeiten, besonders bei Missverhältniss zwischen der Grösse des 
Individuums und den Subsellien, zum Einnehmen bestimmter Ruhe¬ 
stellungen Veranlassung geben können, und ich auch nicht die Mög¬ 
lichkeit von der Bedeutung der Schriftformen verneinen möchte, so 
ist es doch ein verhältnissmässig kleiner Theil des Tages, an dem 
diese Arbeiten von einem Schulkinde in dem Alter, wo Haltungs¬ 
anomalien sich zuweilen entwickeln, ausgeführt werden, und es liegt 
kein specieller Grund vor, weshalb das Kind während der übrigen 
Schulzeit (d. i. ausserhalb der Schreib- und Handarbeitsstunden) 
oder ausserhalb der Schule eben dieselbe Stellung einnehmen sollte 
wie bei diesen Arbeiten. 

Beim Erwähnen der Ursachen, welche am häufigsten zum Ein¬ 
nehmen einer bestimmten Ruhestellung Veranlassung geben, will ich 
zuerst daran erinnern, dass ein, wie in dem Abschnitte von ,Rha- 
chitis“ (S, 420) besprochener, verhältnissmässig unbedeutender Rest 
einer rhachitischen Skoliose mit nur ein paar skoliotisch 
deformirten Wirbeln und einer weniger als normalen oder complett 
aufgehobenen Beweglichkeit recht wahrscheinlich ein Kind dazu 
bewegen kann, dass, wenn es wegen eines universellen Schlafifheitszu- 
standes oder eines localen Leidens eine Ruhestellung einzunehmen sucht, 
die Verbiegung in dieselbe Richtung geht, wo die schon anwesende 
Beugung ist. Ich habe sehr oft einen solchen kleinen, steifen und 
stark deformirten Theil des Rückgrates, sich öfters nur über zwei bis 
drei Wirbel erstreckend, in der Mitte (in dem untersten Ende des Rücken- 
theils oder an dem Uebergang von diesem bis an den Lendentheil) 
eines solchen skoliotischen Rückens nachweisen können. Ich habe 
ferner zugleich constatiren können, dass, während die frische Ver- 
grösserung der Krümmung sich gar schnell während der Behandlung 
verbessern liess, dieser kleine Theil allen den gewöhnlichen Ein¬ 
wirkungen trotzte. 

Eine andere, sehr gewöhnliche Ursache ist Rheumatismus. 

Weil ich am meisten diese Haltungsanomalien in ihren ersten 
Stadien zu Gesicht bekam, hatte ich gute Gelegenheit, Beobach¬ 
tungen über ihre Aetiologie anzustellen, und nachdem meine Auf¬ 
merksamkeit einmal auf solche Muskelleiden als Complication 
zu Skoliosen gerichtet war, habe ich nach und nach dieselben bei 


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Die Aetiologie der Deviationen des Rumpfes. 


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einer grossen Menge von diesen juvenilen Haltungsfehlern und Körper¬ 
deformitäten nach weisen können. Da die Haltungsanomalie, die in 
casu eingenommen wird, sich in der Regel durch die veränderte 
Function der afficirten Muskeln erklären lässt, so liegt es nahe, die 
Haltungsanomalie als secundär zu betrachten; und ich bin in dieser 
Annahme, wie auch bei der «alternirenden ischiadischen Skoliose 
bestärkt worden, als ich einigemale eine Exacerbation des Muskel¬ 
leidens entsprechend den bei früheren Untersuchungen gefundenen, 
am stärksten ergriffenen Muskeln — im ganzen sind sie oft sym¬ 
metrisch — zugleich mit einem auch bei diesen Haltungsanomalien 
nicht ganz ungewöhnlichen , Altemirenfand. 

Bisweilen habe ich diese Muskelleiden bei Patienten mit einer 
mindestens vom Anfang rhachitischen Skoliose als die wahrschein¬ 
liche Ursache zur Verschlimmemng derselben gefunden, dagegen 
bei Patienten mit ganz fixirten Kyphoskoliosen als Ursache zu 
Schmerzen mit oder ohne neu entstandene Functionsstörungen. 

Die am besten gekannte und allgemein acceptirte Haltungs¬ 
anomalie bei solchen rheumatischen Muskelleiden ist ja die, welche 
eine acute Myositis in einem oder mehreren von den grossen 
Halsmuskeln (M. stemo-cleido-mastoideus, M. trapezius oder M. sple- 
nius) begleitet, d. h.: der als Torticollis rheumatica bekannte Zu¬ 
stand, wo man eine mehr oder weniger ausgesprochene Rotations¬ 
stellung des Kopfes, eine Seitenbiegung und Torsion der Halswirbel¬ 
säule, veränderte Haltung der einen Schulterpartie und häufig auch 
eine Seitenbiegung des Dorsaltheils der Wirbelsäule, entweder als 
Fortsetzung der Seitenbiegung der Halswirbelsäule oder auch nach 
der anderen Seite hin findet. Die Bewandtniss, dass die Rotations¬ 
stellung des Kopfes und die Elevation der Schulterpartie oder die 
Deviation der Halswirbelsäule oft in umgekehrtem Verhältnisse zu 
einander stehen, deutet gar sehr auf eine Abhängigkeit von Leiden 
der Muskeln, die sich mit dem einen Ende an dem Kopfe oder den 
Halswirbeln, mit dem anderen an den Halswirbeln oder den Knochen 
des Schultergürtels inseriren. Im Ganzen lässt diese Stellung sich 
nur erklären entweder durch einen activen Contractionszustand eines 
oder einiger entzündeten Muskeln, oder dadurch, dass die anderen 
Muskeln eine so fixirte Stellung einnehmen, welche die Insertions¬ 
enden der entzündeten Muskeln zu einander nähern. Während des 
acuten Stadiums, sowie auch während stärkerer Exacerbationen des 
chronischen Leidens, ist die Haltung sehr energisch fixirt, vermuth- 


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Peter Lorenzen. 


lieh durch eine active Thütigkeit, um die kranken Muskeln vor 
activen oder passiven Bewegungen zu hüten, indem es kaum ein 
activer Contractionszustand der kranken Muskeln ist, der die Fix!- 
rung bewirkt; man sieht nämlich zuweilen, dass der Patient mit den 
Händen den Kopf fixirt. 

Wo dagegen das Muskelleiden subacut oder chronisch ist, 
habe ich in der Kegel gefunden, dass die afheirten Muskeln in einem 
distendirten Zustand gehalten werden, ob dieses von einem herab¬ 
gesetzten „Tonus“ in diesen Muskeln oder von einer durch andere 
Muskeln hervorgebrachten passiven Distension herrührt, kann ich 
nicht sagen; ebensowenig kann ich die Frage beantworten, ob auch 
tiefer liegende Muskeln, und dann immer schwerer als die ober¬ 
flächlichen, oder vielleicht die Wirbelarticulationen erkrankt sind. 
Im Ganzen ist das Verhältniss natürlich oft sehr complicirt, und 
man sieht sogar — aber absolut seltener — dass die Muskeln, selbst 
wo das Leiden absolut im chronischen Stadium ist, so gehalten 
werden, dass die Insertionspunkte an einander genähert werden, ganz 
wie man zuweilen im acuten Stadium die erkrankten Muskeln in 
distendirtem Zustande antrifft. Bei chronisch afficirten Muskeln ist 
die Stellung doch nicht so energisch fixirt als bei den acuten Leiden, 
gewöhnlich findet sich aber etwas, das an den Zustand derselben 
erinnert, sowohl wenn das Leiden im unteren als auch im oberen 
Theil des Körpers seinen Sitz hat. Die Haltung ist nämlich beim 
Gang und bei Bewegungen sowohl unnatürlich als unfrei; active 
Bewegungen sowohl mit dem Kopfe als mit dem Körper werden 
auf eine gewisse, ungeschickte oder linkische Weise ausgeführt. Im 
Ruhen suchen diese Patienten habituelle Ruhestellungen, d. i. selbst 
wenn die Haltung im ersten Augenblick der Untersuchung sich ganz 
natürlich präsentirt, sinken sie doch schnell hinab in eine — und 
immer während derselben Inspection in dieselbe — Ruhestellung. 

Es ist gewiss sehr gewöhnlich, dass diese acuten Muskelleiden 
nicht völlig ausheilen — wie es auch mit den rheumatischen Gelenk¬ 
leiden der Fall ist — sondern sie lassen ein kleines chronisches 
Infiltrat auf einer oder mehreren Stellen im Muskel zurück. In 
manchen Fällen, wo man solche antrifft, ist es nicht möglich, Aus¬ 
künfte über ein vorausgegangenes acutes Leiden zu erhalten — viel¬ 
leicht weil mehrere Jahre seitdem verflossen sind, ja es mag sogar 
in der Kindheit gewesen sein — man darf deshalb an die Möglich¬ 
keit denken, dass sie anfänglich chronisch auftreten können. Aller- 


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Die Aetiologie der Deviationen des Rumpfes. 


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dings ist es mir mehrmals begegnet, wenn ich ein solches Infiltrat 
gefunden habe, dass während der Behandlung eine acute Exacerbation 
auf derselben Stelle zum Vorschein gekommen ist, und dass der 
Patient sich dann erinnerte, früher dergleichen gehabt zu haben. 
Locale Reizungen spielen hier eine gewisse Rolle fQr das Entstehen 
dieser Infiltration; eine der häufigsten Stellen, wo man diese trifft, 
ist nämlich z. B. die Umgebung von Angulus sup. scapulae. Dieser 
prominirt etwas freier — liegt dem Brustkasten minder eng an — 
als die übrigen Anguli scapulae; es scheint daher, dass eine Irritation 
von dem die Ecke deckenden M. trapezius oder dem unterliegenden 
Gewebe durch die häufigen Arm- und damit folgenden Schulterblatt¬ 
bewegungen hervorgebracht werden muss. In vielen dieser Fälle 
verspürt die auf diese Stelle aufgelegte Hand während der Circum- 
ductionsbewegungen des Oberarms im Schultergelenk einen patho¬ 
logischen Muskellaut, ebenso wie eine forcirte active Function von 
M. trapezius — und M. levator anguli scapulae — Schmerzen auf 
der angegebenen Stelle hervorruft. 

Unter primären, selbständigen Deviationen der Form des Rumpfes, 
welche durch das oben erwähnte Leiden herbeigeführt sind, habe 
ich am häufigsten die des oberen Körperabschnittes ob- 
servirt. 

Die häufigste Form besteht darin, dass der Kopf in sagittaler Ebene 
etwas mehr nach vom deplacirt gehalten wird, was durch eine Bie¬ 
gung der Halswirbelsäule nach vorn geschieht; theils um die Blick¬ 
linie gerade vorwärts richten zu können, theils wegen besserer Ab- 
balancirung des Kopfes, wird dieser im Atlanto-occipital-Gelenk 
nach hinten gebogen, wodurch das Kinn sich als stark hervorgestreckt 
präsentirt. Zu dieser Deplacirung in sagittaler Ebene schliesst sich 
nun sehr oft eine mehr oder weniger ausgesprochene Seitenbiegung 
oder Rotationsstellung des Kopfes, die oft das am meisten in die 
Augen springende Symptom ist, wenn der Patient von vorne angesehen 
wird. Hierzu kommt noch eine Senkung und Hervorführung der 
Schultern — d. h. die beiden Bases scapulae sind weiter als normal 
von der Linea spinosa entfernt; häufig wird ohnedies das Schulter¬ 
blatt um die sagittale Achse rotirt gehalten, so dass die Cavitas glenoi- 
dalis nach aussen und unten, die Apex scapulae nach innen und oben 
steht. Häufig findet auch eine Rotation um eine senkrechte Achse statt, 
so dass die Basis scapulae nach hinten prominirt. Diese Stellungs¬ 
anomalie der Schulterblätter wird zuweilen symmetrisch beobachtet, am 


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Peter Lorenzen. 


häufigsten aber ist sie mehr oder weniger asymmetrisch. Wenn eine 
einigermassen hervortretende Asymmetrie vorhanden ist, so denkt 
man oft beim ersten Anblick an eine Dorsalskoliose, aber wenn 
man auch in aufrechter Haltung eine leichte Seitenbiegung des 
Dorsal- oder Dorsocervicaltheils oder eine seitliche Deplacirung 
des obersten Theils des Körpers constatiren kann, so ist doch die 
Haltungsanomalie secundär und gewöhnlich von untergeordneter Be¬ 
deutung; in einer vorn übergebeugten Haltung verschwindet sie auch 
gewöhnlich ganz, man kann auch einen vollständigen Mangel von 
Torsionssymptomen constatiren. Ferner sieht man bisweilen, dass 
bei wiederholten Untersuchungen desselben Patienten einmal die 
Deplacirung zur einen Seite, ein andermal zur anderen besteht — 
was durchaus gegen eine Skoliose spricht — während man bei der¬ 
selben Untersuchung, durch Bewegungen oder Manipulationen den 
Patienten nicht dazu bewegen kann, eine andere Stellung einzu¬ 
nehmen als die jeweilig spontane; allerdings kann man eine augen¬ 
blickliche Symmetrie herbeischaffen, die jedoch wieder schnell in die 
ursprüngliche asymmetrische Haltung übergeht. Das erinnert sehr 
an das scheinbar analoge Verhältniss bei der „alternirenden“ 
Form der ischiadischen Skoliose, und wie bei dieser habe ich auch 
hier einigemale mit den wechselnden Haltungen von der einen zur 
anderen Untersuchung ein Umziehen des Sitzes der hervortretendsten 
Empfindlichkeit von der einen nach der anderen Seite nachweisen können. 

Als Vorbild für Haltungsanomalien im unteren Körper¬ 
abschnitt, von dieser Ursache herrührend, kann man, wie bei 
denen im oberen Abschnitt, eine gewiss allgemein anerkannte, wenn 
auch vielleicht nicht so wie Torticollis rheumatica allgemein beachtete 
Haltungsanoraalie aufstellen, welche in Fällen von acutem Lumbago 
rheumatica beobachtet wird. Die Haltung ist auch hier energisch 
fixirt, und die physiologische Lordose des Lendentheils ist abgeflacht 
oder ganz verschwunden; hierdurch wird die Inclination des Beckens 
vermindert; um nun das Gleichgewicht mit dem Oberkörper in auf¬ 
rechter Haltung erhalten zu können, wird die Beckeninclination noch 
mehr vermindert, oftmals so viel, dass die Kniegelenke leicht 
flectirt gehalten werden müssen; oft ist die eine Hälfte des Beckens 
gesenkt, indem das entsprechende Kniegelenk etwas mehr als das 
andere flectirt wird, und oft ist der Körper in der Lendenwirbel¬ 
säule gegen das Becken torquirt, so dass die eine Spina ant. sup. 
ossis ilei, mehr nach vorn als die andere prominirt. Zusammen mit 


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Die Aetiologie der Deviationen deu Rumpfes. 


429 


dieser Haltungsanomalie trifft man eine empfindliche Infiltration in 
den Lendenmuskeln, nicht ungewöhnlich in den Unterleibsmuskeln 
(Bauchmuskeln) (z. B. M. obliquus abdom. ext.) und sehr oft zu¬ 
gleich in den Musculi glutaei. Ich habe dieselben Erscheinungen 
im M. psoas, quadratus lumborum u. s. w. niemals mit Sicherheit 
constatiren können, die übrigen erwähnten aber habe ich etliche Mal 
beobachtet, und ich habe die Haltung sich corrigiren sehen mit dem 
Schwinden von Empfindlichkeit und Infiltration, und bei demselben 
Patienten habe ich immer wieder dieselbe Haltungsanomalie bei 
wiederholtem Auftreten desselben acuten Leidens beobachten können. 
Häufig ist das Muskelleiden beiderseitig, die eine Seite ist aber 
dabei gewöhnlich besonders schwer leidend. 

Die Anwesenheit ähnlicher chronischer, nur wenig empfind¬ 
licher Infiltrationen habe ich mehrmals bei jungen Personen con¬ 
statiren können, welche Haltungsanomalien des unteren Theils des 
Körpers mit einer localisirten MUdigkeitsempfindung in der Lenden¬ 
gegend haben; diese Empfindung entsteht, wenn sie längere Zeit 
gesessen haben, und äussert sich zuweilen durch Schmerzen, wenn sie 
sich aufrichten wollen — ganz wie bei Patienten mit chronischem 
Lumbago. Beim Versuche, die Haltungsanomalie zu analysiren, habe 
ich auch den Eindruck bekommen, dass die leidenden Muskeln am 
häufigsten in einem distendirten Zustand gehalten werden; d. h.: 
wenn eine Seitenbiegung des Lendenabschnitts der Wirbelsäule 
stattfindet, so wird das am stärksten ausgesprochene Leiden auf 
der convexen Seite gefunden, und man sieht fast immer auch eine Ab¬ 
flachung der physiologischen Lumballordose — überhaupt ist in diesen 
Fällen sehr selten eine vergrösserte Lumballordose vorhanden. — Da¬ 
gegen habe ich durchaus kein constantes Verhältniss zwischen der 
Seite, wo die Lurabalbiegung sich zeigt, und der Seite, nach der das 
Becken gewöhnlich gesenkt wird, finden können („hancher^-Stellung). 
Nach der Meinung anderer Beobachter sollte man die Convexität der 
lumbalen Seitenbiegung an der Seite, wohin das Becken gesenkt 
wird, finden. Dieser Umstand deutet auch darauf hin, dass die Hal¬ 
tung nicht aus einer statischen Ursache resultirt. Versucht man 
selbst diese Haltungen nachzumachen, so constatirt man, dass man 
in einer Stellung mit einem gebeugten Knie und damit auf derselben 
Seite gesenkter Beckenhälfte entweder durch eine Lendenbiegung 
nach der einen oder nach der anderen Seite das Gleichgewicht des 
Körpers erhalten kann. 


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430 


Peter Lorenzen. 


Die Stellung ist bei diesen Patienten nicht stark fixirt, d. h. 
man kann ziemlich leicht durch eine Anweisung oder durch einen 
leichten Druck den Patienten dazu bewegen, eine beinahe normale 
Haltung einzunehmen, diese wird aber bald wieder aufgegeben, und 
er sinkt allmählich in die frühere Stellung zurück. Ganz wie bei der 
acuten Lumbago sieht man auch hier Deviationen des Körpers in 
den verschiedenen Richtungen (wie vorher erwähnt), mehr oder 
weniger in der einen oder anderen. Etliche Male habe ich auch eine 
Vergrösserung der Deviation zugleich mit einer Exacerbation des 
palpablen Muskelleidens beobachten können. 

Sehr häufig sieht man zusammen mit dieser oben erwähnten 
relativen Lumbalkyphose eine Abflachung der physiologischen Dorsal¬ 
kyphose; dies muss wahrscheinlich als ein Versuch, das Gleichgewicht 
dadurch wiederherzustellen, gedeutet werden, also in derselben Abs 
sicht, wie das Beugen der Kniegelenke. Der Zweck ist nämlich, 
den Schwerpunkt des Körpers in der Richtung nach hinten zu ver¬ 
legen, während derselbe durch eine Biegung des Lumbaltheils in der 
Richtung nach vorne verlegt wird. Man trifft verhältnissmässig 
selten ein palpables Leiden in den Muskeln der Dorsalregion, das 
diese Abflachung veranlassen konnte. Allerdings habe ich zuweilen 
ein Leiden des herabsteigenden Theils von M. trapezius und des 
obersten Theils von M. latissimus dorsi, aber nie mit Bestimmtheit 
in den tieferen Muskeln dieser Region getroffen. 

Unter anderen Haltungsanomalien, deren ähnliche Leiden von 
Muskeln ausserhalb des Rückens zugeschrieben werden können, habe 
ich einmal eine total kyphotische Haltung mit einem acuten schmerz¬ 
haften Leiden und empfindlicher Infiltration in der Gegend des 
oberen Theils des M. rectus abdominis gesehen; und hier wurde 
die Haltung mit dem Verschwinden der localen Empfindlichkeit wieder 
normal. Nachdem ich diese Fälle beobachtet, habe ich nach der¬ 
artigen chronischen Infiltrationen gesucht, und, obgleich es gar 
schwierig ist, diesen Muskel zu palpiren, weil keine resistente Unterlage 
da ist, und weil man ihn gewöhnlich nicht zwischen den Fingern 
fassen kann, habe ich doch öfters geglaubt, solche fühlen zu können, 
wenn Haltungsanomalien in sagittaler Richtung speciell des Lenden- 
theils vorhanden waren; ich habe ihnen deshalb eine Bedeutung für 
das Entstehen dieser Haltungen zugeschrieben. 

Man sieht nicht so selten Haltungsanomalien von der Form 
einer verstärkten Lumballordose, die leicht durch ungenügende 


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Die Aetiologie der Deviationen des Rumpfes. 


431 


Functionsfähigkeit von M. rect. abd. und den übrigen Muskeln 
erklärt werden. Ich denke hier an solche, welche mit schlaffen 
ünterleibswänden einhergehen, welche oft nach Graviditäten oder 
zugleich mit chronischen Leiden der Unterleibsorgane auftreten. 
Dasselbe findet gewiss statt, wenn eine solche Haltung von 
einigen graviden Weibern eingenommen wird, während andere 
in demselben Zustande eine fast natürliche Haltung einnehmen 
können. 

Nicht so ganz selten sieht man indessen Haltungsanomalien 
von ganz demselben Aussehen wie die, welche ich gemeint habe 
den Muskelleiden zuschreiben zu müssen, aber wo die vorhandenen 
Weichtheilsinfiltrationen zu unbedeutend sind, um auf sie die ver¬ 
änderte Haltung zurückführen zu können. In etlichen dieser Fälle 
glaubte ich die Symptome einer Wirbelgelenksaffection zu finden. 
Die Diagnose eines solchen Leidens muss ja immer etwas unsicher 
sein, aber man hat doch in den späteren Jahren mehrmals be¬ 
hauptet, dass vieles darauf hindeutet, dass wenigstens einige Fälle 
von Lumbago und Torticollis rheumatica nicht allein auf einem 
Muskelleiden, sondern auch zugleich auf einer Wirbelgelenksaffection 
beruhen. In den Fällen, über die ich referire, sind die Patienten 
von localisirter Müdigkeitsempfindung geplagt, und auch eine be¬ 
schränkte Beweglichkeit des betreffenden Rückgratsabschnitts hat sich 
gezeigt; dieses gibt sich dadurch kund, dass Biegungen, namentlich 
Seitenbiegungen auf eine besondere Weise ausgeführt werden. Die 
deviirende Partie des Rückgrates, die sonst normalerweise sehr 
biegsam ist, wird nämlich ganz steif gehalten, und das Biegen wird 
nur in den Partien über und unter derselben ausgeführt. * 

Entweder sind Torsionssymptome gar nicht da gewesen oder 
mindestens zu gering, um schuld daran zu sein. Es sei nun, dass 
Schmerz- oder Steifheitsempfindung dieses bewirken, so würden 
doch Seitenbiegungen ungleicher Ausdehnung nach der einen oder 
der anderen Seite entstehen, ohne dass man, wie erwähnt, denken 
kann, dass ein vorhandenes Weichtheilsleiden dieses verursachen 
könnte, und wenn Schmerz oder Steifheit bei den Bewegungen 
empfunden wird, so geschieht es ausschliesslich oder überwiegend 
auf der Convexitätsseite während der Biegung nach entgegengesetzter 
Seite. Ohnedies wird ein Schmerz durch tiefen Druck auf die 
Stellen, wo die Wirbelgelenke sein sollen, empfunden, und diese 

ZelUobrift fdr orthop&disohe Chirurgte. VIII. Band. 29 


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Peter Lorenzen. 


Empfindlichkeit kann bisweilen eben auf die eine sc. Convexitätsseite 
und nur auf den deviirten Abschnitt beschränkt sein. Ziemlich 
gewöhnlich ist es auch, dass während der Biegungen, sowohl vor¬ 
wärts als auch seitwärts, die bei der Untersuchung vorgenommen 
werden, ein recht deutliches Krachen wahrgenommen wird. Es ist 
oft schwierig, dasselbe mit Bestimmtheit auf die Muskeln oder die 
nahen Gelenke zurückzuttlhren; mir scheint es, dass dieses Krachen 
von den Gelenken herrührt. 

Diese oben erwähnten Verhältnisse müssen nnthwendig einen 
Einfluss auf die Behandlung von Deviationen der Körperfonn 
ausüben. 

In manchen Fällen, wie z. B. „der ischiadischen Skoliose*, 
wo ein zweifellos locales Leiden als Veranlassung der Haltungs¬ 
anomalie vorliegt, kann es natürlich nicht zweifelhaft sein, dass der 
natürlichste Weg, um die Deviation aufzuheben, wäre, dass man das 
veranlassende Leiden zu heilen versuchte. Ich meine aber, dass 
man sich nie ohne eine sehr gründliche Untersuchung mit der Be¬ 
handlung des vorhandenen universellen Leidens begnügen solle, son¬ 
dern man muss vielmehr sein Bestreben darauf richten, das locale 
Leiden, welches die betreffende Haltungsanomalie verursacht, zu er¬ 
kennen und zu gleicher Zeit eine geeignete Behandlung dagegen 
einzuleiten. Die juvenilen Haltungsanomalien werden wohl am 
häufigsten, wie ich glaube, als Nachlässigkeitshaltungen, ent¬ 
standen durch „üble Gewohnheit*, betrachtet und demzufolge durch 
Mahnungen, Strafen u. s. w. behandelt. In diesen Fällen wird eine 
Behandlung durch Bandagen entweder allein oder mit einer uni¬ 
versellen Behandlung zugleich nicht rationell sein. 

Die Behandlung muss alle die veranlassenden Ursachen be¬ 
rücksichtigen. Ist eine Deformität vorhanden, muss man erstens 
dieselbe zu mobilisiren suchen, zweitens, dabei einen etwaigen uni¬ 
versalen Krankheitszustand und ein veranlassendes, locales Leiden 
behandeln, und endlich muss man sich gewöhnlich ausserdem be¬ 
streben, durch Mahnen die Energie des Patienten zu erheben, um 
ihn dahin zu bringen, dass er die habituellen Ruhestellungen nicht 
einnimmt. Letzteres geschieht dadurch, dass man ihm die Er- 
kenntniss beizubringen sucht, worauf die verkehrte Stellung beruht, 
und wie er sich benehmen muss, um die richtige einzunehmen. Mit 
dieser pädagogischen Behandlung muss man ihm zugleich das Ein¬ 
nehmen naturgemässer Stellungen erleichtern, theils durch zweck- 


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Die Aetiologie der Deviationen des Rumpfes. 433 

massige, bequeme Sitze, theils durch directes Stützen mittelst 
Bandagen. 

Endlich gibt es Fälle von Deformitäten, bei denen man a priori 
eine Verbesserung aufgeben muss, hier kann man durch Bandagen 
und systematische Uebungen Verschlimmerungen Vorbeugen helfen, 
und bei Klagen über localisirte Schmerzen und Müdigkeitsempfin¬ 
dungen wird man oft als Ursache ein anderes, locales, heilbares 
Leiden finden können. 


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XVII. 


Ans der cMrurgisclien Abtheilung des St. Marien- 
hospitals in Bonn (Herr Professor Witzei). 


Zur Entstehung und Behandlung der Kiumpzehen. 

Von 

Dr. C. Hofmann. 

Mit 2 in den Text gedruckten Abbildungen. 

Es ist in den letzten Jahren mehrmals^) eine offenbar seltene 
pathologischeZehenstellung imSinne der plantaren Flexion 
und medianen Adduction (Elumpzehenstellung) beschrieben 
worden, ohne dass die Verhältnisse genügend geklärt worden und 
vor allem eine einheitliche Auffassung über die Entstehung der 
Deformität zu Stande gekommen wäre. Bei der beschriebenen patho¬ 
logischen Stellung handelt es sich in erster Linie um die Orosszehe, 
die in genau entgegengesetztem Sinne des bekannten Hallux valgus 
eine Equinovarusstellung einnimmt, an der sich aber auch die übrigen 
Zehen in absteigendem Maasse von innen nach aussen betheiligen 
können und mit der noch andere Veränderungen — starke Supination 
des Vorfiisses und erhebliche Abplattung des ganzen Fussgewölbes — 
vergesellschaftet sind. Während die Achse des Fusses beim gewöhn¬ 
lichen Plattfuss einen nach innen convexen Bogen ) bildet, hat sie 
bei der Elumpzehenstellung S-Form. 


*) Nicoladoni, Wiener klin. Wochenschr. 1895, Nr. 15. — Ranneft, 
Zeitschr. f. orthop. Chirurgie Bd. 4 S. 191. — Vulj)ius, Münchener medic. 
Wochenschr. 1896, Nr. 35. — Kirsch, Centralbl. f. Chir. 1897, Nr. 13. 


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Zur Entstehung und Behandlung der Klumpzehen. 


435 


Aus dem in allen Fällen beobachteten Zusammentreffen der 
Deformität mit meist fixirtem Plattfuss haben die genannten Autoren 
einen Causalnexus zwischen letzterem und der veränderten Zehen¬ 
stellung annehmen zu müssen geglaubt, sind aber dabei zu genau 
entgegengesetzten Resultaten gekommen, indem nämlich Nicoladoni 
und mit ihm Vulpius die Zehendeformität für das Primäre und 
den Plattfuss für einen secundären Zustand halten, während Ranneft 
und Kirsch umgekehrt — wenigstens für ihre Fälle — den Platt¬ 
fuss primär für wahrscheinlicher erachten. 

Uebereinstimmend handelt es sich in den genannten Fällen um 
ein erworbenes Leiden; und Nicoladoni sowie Vulpius erwähnen 
wohl, dass bei ihren Patienten Schmerz verursachende Momente wohl 
zunächst zu einer Entlastungsstellung durch Supination des ganzen 
Fusses geführt haben, ohne dass sie gerade diesem Umstande meines 
Erachtens genügende Bedeutung beilegen. Ich komme darauf noch 
später zurück. 

Zwei mir zugängliche Präparate von Füssen (s. Fig. 1), die zu¬ 
fällig bei einer Leiche gefunden wurden und die beide eine aus¬ 
gesprochene Flexions- und Adductionsstellung der Zehen, links in viel 
höherem Grade als rechts, aufwiesen, habe ich einer näheren Unter¬ 
suchung unterzogen und kann Folgendes über dieselben berichten: 
Die linke Grosszehe ist im Mittelfuss-Zehengelenk um etwa 60® flectirt 
und um 45® nach innen adducirt; das Interphalangealgelenk steht 
in Streckstellung, ist aber nicht überstreckt; die übrigen Zehen sind 
derartig adducirt, dass die zweite die Grosszehe berührt, sie aber 
nicht überlagert, eher etwas unter sie geschoben erscheint; auch die 
übrigen Zehen liegen in Berührung neben einander, sind aber in den 
Grundgelenken nicht so stark flectirt. Der ganze Matatarsus ist am 
inneren Fussrande erhoben, so dass der Vorfuss überhaupt in 
Supinationsstellung erscheint. Das Fussgewölbe ist leicht abgeplattet; 
es erscheint durch die flectirte Grosszehenstellung gleichsam eine 
neue, scheinbare Fusswölbung. Ein eigentlicher Plattfuss besteht 
aber nicht, denn Talus und Eahnbein springen nicht deutlich vor; 
auch steht der Galcaneus nicht in Pronationsstellung. Das Köpfchen 
des ersten Metatarsus ist durch die deformirte Zehenstellung als 
vorderer Stützpunkt für den Fuss verloren gegangen und dem¬ 
entsprechend haben sich die Zehenballen besonders an der Kleinzehe 
stark verbreitert; man sieht deutlich aus der Zehenform, dass die 
Abwickelung des Fusses gerade über die fünfte, vierte und dritte 


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C. Hofmann. 


Zehe stattgefunden hat, während die Tretfläche am Endgliede der 
zweiten Zehe gar nicht und die des Hallux nur etwas verbreitert 
und augenscheinlich beim Gehen wenig belastet gewesen ist. Der 
äussere Fussrand ist bis zu den kleinen Fusswurzelknochen hin platt¬ 
gedrückt und gleichsam mit ein Theil der Fusssohle geworden. Die 
Haut zeigt an allen diesen Stellen dieselbe schwielige Verdickung, 
wie sie sonst an den Haupttretflächen des normal stehenden und 


Fig. 1. 



belasteten Fusses zu finden sind. Die kleine Zehe ist im ganzen 
so rotirt, dass die Aussenseite den Boden berührt. 

Am rechten Fusse finden sich dieselben Veränderungen, wenn 
auch nicht in so hohem Maasse; die Beugestellung des Hallux im 
Metatarso-Phalangealgelenk ist vor allem nicht so hochgradig, des¬ 
gleichen auch die Adductionsstellung. Die übrigen Zehen machen 
wiederum in der angedeuteten Weise die Adduction mit, auch sie 
verlieren unter einander nicht die Berührung, ohne sich im grossen 
und ganzen zu überlagern; nur die zweite Zehe ist auch hier etwas 
über die Grosszehe bezw. die dritte Zehe unter sie geschoben. Von 
einer Abplattung des eigentlichen Fussgewölbes kann kaum die Rede 
sein, jedenfalls erhält man eine fast normale Configuration der Fuss¬ 
sohle, wenn man die Zehen, was bei der noch nicht fixirten Stellung 
gut möglich ist, durch einen kräftigen Zug nach aussen und oben 
in die normale Stellung zurückdrückt. 

Die Strecksehne für die linke Grosszehe ist stark nach innen 


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Zur Entstehung und Behandlung der Elumpzehen. 


437 


verlagert und bildet gleichsam die Sehne an dem durch die deformirte 
Knochenstellung gebildeten Bogen. Der Abductor hallucis und der 
Flexor hallucis erscheinen verkürzt und geschrumpft; sie halten die 
Zehe in ihrer fehlerhaften Stellung zurück. Ihre Sehnen spannen 
sich beim Versuche einer Redressirung stark an. Die Gelenkkapsel 
ist nicht wesentlich verändert; sie ist eher durch die Dehnung etwas 
an der Aussenseite ausgezogen, während sie allerdings an der Innen¬ 
seite dick und geschrumpft erscheint. Der Theil direct hinter dem 
Gelenkköpfchen des ersten Metatarsus ist nach oben und aussen ver¬ 
dickt und verbreitert; der Rand am Uebergang vom Knochen zum 
Knorpel springt leistenartig vor. Die Verdickung am Knochen ist 
auffallend weich; jedenfalls kann man mit dem Messer leicht einen 
tiefen Einschnitt machen. Die Gelenkfläche ist nach vom und innen 
verlagert und zeigt hier einen vollständigen Knorpelüberzug, wenn 
auch der Knorpel nicht ganz so glatt ist, wie unter normalen Ver¬ 
hältnissen. Die Sesambeine sind durch Anlagerungen verbreitert 
und von einer festen flbrösen Kapsel umhüllt; ihre Lage ist ent¬ 
sprechend der ganzen Gelenkverschiebung weit nach der Beugeseite 
gedrängt; es hat hier zwischen den Gelenkflächen der Sesambeine 
und des Metatarsus eine fibröse Verwachsung stattgefunden, die sich bei 
der Präparation nur gewaltsam trennen lässt. An der ausserhalb 
des eigentlichen Gelenks liegenden Fläche des Metatarsalköpfchens 
— früher war gerade hier die Hauptgelenkfläche — ist nur noch ein 
inselartiger Knorpelüberzug vorhanden. Die Fläche erscheint dadurch 
rauh und uneben. 

Am Metatarso-Phalangealgelenk der rechten Grosszehe finden 
sich den eben beschriebenen ähnliche Verhältnisse. Der Knorpel¬ 
überzug der durch die Verschiebung neu geschaffenen Gelenkfläche 
ist glatter als links. Die Sesambeine sind auch nach der Plantar¬ 
seite des Metatarsus verlagert, sind aber nicht wesentlich verdickt 
und verbreitert und zeigen eine glatte, nicht verwachsene Gelenk¬ 
fläche. Auch die correspondirenden Flächen des Metatarsus haben 
einen normalen Knorpelüberzug. An den ausserhalb der jetzigen 
Gelenkfläche befindlichen Stellen ist der Knorpelüberzug auch nur noch 
in inselartigen Resten vorhanden. Die Strecksehne ist rechts stark 
gespannt aber noch nicht nach innen verlagert. Die übrigen Weich- 
theile verhalten sich wie links. 

Der am meisten in die Augen springende Punkt bei Betrach¬ 
tung der beiden Präparate ist die Differenz der Gelenkflächen zwischen 


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C. Hofmann. 


rechts und links. Es handelt sich links entsprechend dem weiteren 
Fortgeschrittensein der deformirten Stellung um stärkere secundäre 
Veränderungen, indem nämlich die Sesambeine weiter nach hinten 
und medial verlagert sind als rechts und hier auch, offenbar durch 
die dauernde Fixation des Oelenks in dieser Stellung fibrös ver¬ 
wachsen sind. Auch die Weichtheile — Verlagenmg der Streck¬ 
sehne — zeigen links ein weiter vorgeschrittenes Stadium als rechts. 

Besonders muss hervorgehoben werden, dass die articulirenden 
Flächen sowohl am Metatarsalköpfchen wie an der Grundphalanx 
einen vollständigen Knorpelüberzug tragen und dass nur diejenigen 
Stellen — in unseren Präparaten oben und aussen —, welche nicht 
mehr articuliren, dieses continuirlichen Knorpelüberzuges entbehren. 
Hier ist der Knorpel aber nicht etwa durch arthritische Verände¬ 
rungen, denn dagegen spricht das Vorhandensein an der neuen 
Ai'ticulationsstelle, zu Grunde gegangen, sondern erst secundär, nach¬ 
dem die Fläche ausser Function gesetzt war. Die fehlende Function 
hat zum Knorpelschwund an den nicht mehr articulirenden Stellen 
geführt. 

Es handelt sich hier um analoge Befunde, wie sie Heubach 
für den Hallux valgus festgestellt hat und durch die er die früher 
allgemein angenommene Volkmann'sche Ansicht von der Entstehung^ 
desselben infolge einer Arthritis deformans widerlegte. Durch 
sorgfältige Analysirung einer Reihe von Präparaten hat H. nach¬ 
gewiesen, dass sich beim Hallux valgus keine arthritischen Ver¬ 
änderungen finden, dass vielmehr bei der Entstehung zu kurzes und 
spitzes Schuhzeug eine Hauptrolle spielt. Die ganze Verbiegung 
entsteht überhaupt durch diese Gelegenheitsursache. 

Ich glaube, dass man nach dem von mir geschilderten Befunde 
an den Gelenken eine Entstehung der vorliegenden pathologischen 
Stellung auf arthritischem Wege auch von vornherein wird aus- 
schliessen können. Da aber bis jetzt eine genaue Untersuchung 
von einschlägigen Präparaten nicht stattgefiinden hat, wäre es immer¬ 
hin denkbar gewesen, bei der Aehnlichkeit der Deformität mit Hallux 
valgus auf die alte Volkmann'sche Theorie zur Erklärung der 
Genese zurück zu greifen. Meine Befunde würden einen derartigen 
Versuch nicht rechtfertigen; sie weisen vielmehr darauf hin, dass auf 
irgend eine, bisher unaufgeklärte Weise die fehlerhafte Zehenstellung 


*) Deutsche Zeitschr. f. Chir. Bd. 46 S. 210. 


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Zur Entstehung und Behandlung der Klumpzehen. 


439 


zu Stande kommt, in deren Verlauf schliesslich die Weichtheils- 
yeianderungen, die Verlagerung und Neubildung der articulirenden 
Flächen, die Knorpelveränderung der ausser Function gesetzten 
Theile und schliesslich die Fixation in der pathologischen Stellung 
eintritt. 

So entsteht nun die Frage nach dem ersten veranlassenden 
Momente der ganzen Deformität, und es wird zu untersuchen sein, 
ob dasselbe ein einheitliches ist und ob es vor Allem in den bis 
jetzt bekannten Fällen zutrifft. Ausschlaggebend muss ja die cli- 
nische Beobachtung eines in der Entwickelung oder womöglich in 
den ersten Anfängen befindlichen Falles sein, da nach dem Gesagten 
auf der Hand liegt, dass bis zur vollständigen Entwickelung längere 
Zeit, womöglich Jahre vergehen können. 

Ich verfüge nun gerade über einen solchen Fall und möchte 
ihn hier kurz anführen; wir werden aus ihm für die Genese des 
Leidens sehr werthvolle Schlüsse ziehen können. Der Patient ist 
im September 1899 aufs rechte Knie gefallen; eine erheblichere 
Verletzung scheint damals nicht stattgefunden zu haben, da zur Zeit 
(Juli 1900) Residuen einer grösseren anatomischen Verletzung nicht 
nachzuweisen sind. Seit dem damaligen Falle will nun Patient ziem¬ 
lich erhebliche Schmerzen im rechten Knie, besonders beim Gehen 
haben. Durch die Erfahrung hat er aber allmählich eine Entlastungs¬ 
stellung beim Gehen einzunehmen gelernt, in welcher er die Enie- 
schmerzen kaum verspürt. Diese Stellung, welche sich auf den Fuss 
und die Zehen bezieht, gleicht genau der oben an den Präparaten 
beschriebenen Form. Der Kranke hebt den inneren Fussrand, d. h. 
er tritt mit dem äusseren Fussrande auf und muss nun, um den Vor- 
fiiss beim Abwickeln mit dem Boden in Berührung zu bringen, die 
Zehen, besonders die Grosszehe, stark flectiren und den Vorfuss 
supiniren. Die Zehenflexion kann sich, wenn der innere Fussrand 
erhoben und der äussere gesenkt ist, nur unter gleichzeitiger Ad- 
duction vollziehen, da die einfache Flexion bei dieser geneigten 
Drehungsaxe des Metatarso - Phalangealgelenks schon eine mediane 
Richtung des Nagelgliedes der Zehe bedingt. Durch die beim Auf¬ 
treten und Abwickeln des Fusses entstehende Belastung wird die 
Adduction naturgemäss noch verstärkt, und so kommt die combinirte 
Flexions- und Adductionsstellung sämmtlicher Zehen zu Stande. 

Die Deformität ist in der kurzen Zeit von gut Jahre bei 
dem Patienten nicht fixirt und er ist, wenn er sich Mühe gibt, sehr 


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C. Hofmann. 


wohl noch im Stande, mit annähernd normaler Zehenhaltung, aller¬ 
dings unter Schmerzen, zu gehen. Von einem abgeplatteten Fuss- 
gewölbe oder einem ausgebildeten, fixirten Plattfuss ist keine Rede, 
wenn auch in der Entlastungsstellung gleichsam ein Verrutschen 
der FussWölbung nach vorn, wie Vulpius sich ausdrückt, statt¬ 
gefunden zu haben scheint. Mit Sicherheit ist wohl anzunehmen, dass 
die fehlerhafte Zehenstellung sich allmählich unter der Belastung 
noch weiterhin verschärft und vergrössert, und dass unter den ver¬ 
änderten statischen Verhältnissen auch secundäre Veränderungen 
des Fussgewölbes im Sinne einer Abplattung und schliesslichen 
Fixirung der ganzen Stellung eintreten kann. 

So können wir aus diesem in der Entwickelung begriffenen 
Falle ungezwungen die Erklärung für die ganze Deformität herleiten 
und zwar derart, dass die Enieschmerzen den ersten Anstoss gegeben 
und zur Entlastungsstellung mit ihren weiteren Folgen geführt haben. 
Es fragt sich nur, ob die bereits bekannten Fälle ein ähnliches 
erstes Moment aufzuweisen haben, welches die Entwickelung des 
Leidens veranlasst hat. 

Wir finden nun in der That bei Nicoladoni bezüglich seiner 
beiden Fälle Angaben, welche direct darauf hinweisen, dass hier die 
fehlerhafte Stellung ihren Ursprung in einer schmerzhaften, alten 
Narbe am inneren Fussrande, bezw. einer Narbe, welche von einer 
Durchtrennung der Sehne des Muse, tibialis posticus herrühren soll, 
hat. Auch Kirsch meint, dass in seinem Falle der vorhandene 
Plattfuss Schmerzen verursacht und so vielleicht zur Entstehung der 
fehlerhaften Stellung mit beigetragen haben könne; ähnlich ist es 
auch in dem Ranneft’schen Falle. Dieser Punkt ist von den Autoren 
nicht genügend in den Vordergrund gestellt, und doch fällt, wenn 
man die ganze krankhafte Stellung vom Gesichtspunkte eines ersten, 
veranlassenden, schmerzerzeugenden Momentes betrachtet, der Wider¬ 
spruch der bisher vertretenen Ansichten über die Entstehung in sich 
zusammen. Es ist ja gleichgültig, welcher Zustand den zur Ent¬ 
lastungsstellung führenden Schmerz verursacht, wenn man nur fest¬ 
hält, dass alle gleichwerthig und geeignet sind, den ersten Anstoss 
zur Deformität zu geben. Als solche Zustände sind zu nennen: 
schmerzhafte Narben auf der Innenseite des Fusses, Plattfussbildung, 
welche beim Auftreten auf den ganzen Fuss Schmerzen erzeugt, zu 
enges Schuhzeug, Knieschmerzen u. s. w. 

Wenn wir unsere Anschauung nochmals zusammen- 


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Zur Entotehuug und Behandlung der Klumpzehen. 


441 


fassen, so werden wir sagen müssen, die Elumpzehen 
stellen unter allen Umständen,, falls es sich nicht um 
eine immerhin mögliche, angeborene Deformität handelt, 
eine erworbene Entlastungsstellung der Zehen infolge 
eines schmerzerzeugenden Zustandes dar; die durch 
die abnorme Zehenstellung herbeigeführte Aenderung 
der statischen Verhältnisse veranlasst weiterhin De- 
formirungen, die sich auf den ganzen Fuss beziehen 
und die schliesslich zur vollständigen Fixation der 
pathologischen Stellung führen können. 

Die Bezeichnung Klumpzehen erscheint mir zutreffender als 
die bisher gebräuchlichen (Pes valgus malleus, Hallux malle us [varus] 
Hammerzehe u. s. w.), weil es sich in der That zuerst um eine 
Elumpstellung der Zehen und zwar in der Regel sämmtlicher Zehen 
handelt; sodann hat die Stellung so viel Analoges in ihrer Art mit 
dem Elumpfuss, dass sie durch die Bezeichnung allgemein verständ¬ 
lich charakterisirt ist. Sollte es sich ausnahmsweise mehr oder minder 
nur um die Qrosszehe handeln und demgegenüber die Stellungs¬ 
änderung der übrigen Zehen wenig hervortreten, dann dürfte aller¬ 
dings die Benennung Hallux equino-varus ausdrucksvoller sein. Das 
Wort Hammerzehe reservirt man m. E. wohl am besten für die meist 
angeborene, isolirte Flexionsstellung der zweiten Zehe, die durch 
die hochgradige Beugung im Mittelgelenk und eine Ueberstreckung 
im Grundgelenk ausgezeichnet ist, und die, wenn sie erworben ist, 
ihre Entstehung wohl auch ungeeignetem Schuhzeug verdankt. Wenig¬ 
stens habe ich in jüngster Zeit einen derartigen Fall von doppel¬ 
seitiger Hammerzehe bei einem 20jährigen Mädchen gesehen, die 
den Beginn des Leidens etwa 4 Jahre zurückdatirte, bestimmt an¬ 
gab, dass sie früher gerade Zehen gehabt habe, und glaubte, sich die 
fehlerhafte Stellung durch das Tragen von zu kurzen Schuhen zu¬ 
gezogen zu haben. 

Unsere Auffassung von der Entstehung der Elumpzehen bedingt 
natürlich auch neue Principien für die Behandlung. Man wird in 
jedem Falle die eigentliche Ursache zu eruiren suchen müssen, 
um sie alsdann nach Möglichkeit auszuschalten. Gelingt dies — 
und bei schmerzhaften Zuständen, ungeeignetem Schuhzeug etc., wird 
dies doch wohl möglich sein — dann dürfte in noch nicht zu weit 
vorgeschrittenen Fällen von selbst wieder die normale Zehenstellung 
eingenommen werden; da, wo ein schmerzhafter Plattfuss die Klump- 


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442 


C. Hofmann. 


Zehenstellung hervorzurufen droht, muss nothgedrungen eine rationelle 
Plattfussbehandlung eingreifen, um weiteres Fortschreiten des Leidens 
zu verhüten. In meinem Falle, wo die Enieschmerzen das veran¬ 
lassende Moment abgaben, habe ich durch einen fixirenden Verband 
ums Kniegelenk die Schmerzen und mit ihnen auch die fehlerhafte 
Zehenstellung beseitigen können. 

Sind bereits erhebliche secundäre Veränderungen erzeugt und 
fixiren vor Allem die Weichtheilschrumpfungen die Stellung derart, 
dass sie activ nicht mehr geändert werden kann, so wird man auf 
orthopädischem Wege eine Correction zu erreichen suchen. Sicher 
wird man in denjenigen Fällen, die sich überhaupt noch passiv re- 
dressiren lassen, seinen Zweck erreichen. Das Eingipsen in der 
corrigirten Stellung wird, wenn es lang genug durchgeführt werden 
kann, in Verbindung mit eventueller Teno- und Myotomie jedenfalls 
zu versuchen sein und wird wahrscheinlich auch zum Ziele führen. 

Der ausschliesslichen chirurgischen Behandlung sollten nur die¬ 
jenigen Fälle unterworfen werden, bei denen die genannten Mass¬ 
nahmen nicht möglich sind, d. h., bei denen es sich um einen voll¬ 
ständig fixirten und ausgebildeten Zustand handelt, der vielleicht 
schon Jahre lang besteht und bei dem der zur ersten Veranlassung 
gewordene krankhafte Zustand längst abgelaufen oder unwirksam 
geworden ist. Eine Ausschaltung dieses Reizes ist alsdann nicht 
mehr nöthig und möglich, und man wird nun die pathologische 
Zehenstellung selbst durch Gelenk- oder gar keilförmige Mittelfuss- 
resectionen zu verbessern trachten müssen. Ueblich ist, wie bei 
Hallux valgus, und von Nicoladoni auch ausgeführt, die Resection 
des Köpfchens des ersten Metatarsus. 

Ich halte dieses Vorgehen nicht für ganz empfehlenswerth, 
obwohl man ja natürlich seinen Zweck dabei erreichen kann. Rich¬ 
tiger erscheint mir die Resection der ersten Grundphalanx, weil 
man so das Metatarsalköpfchen als vorderen Stützpunkt für den 
Fuss erhält. Auf den Werth desselben gerade als vorderer Stütz¬ 
punkt des Fusses ist schon von anderer Seite genügend hingewiesen 
worden. 

Demgegenüber möchte ich die Resection der I. Grundphalanx 
empfehlen. Dass man auch durch sie seinen Zweck erreichen kann, 
beweist ein von Witzei vor mehreren Jahren operirter Fall, dessen 
Photographie vor und nach der Operation am besten den sehr guten 
Erfolg demonstrirt (s. Fig. 2). 


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Zur Entstehung und Behandlung der Klumpzehen. 


443 


Es handelte sich in diesem Falle mehr um einen isolirten 
Hallux equino-varus; wenigstens ist die fehlerhafte Stellung der 
Orosszehe so hochgradig, dass die Berührung zwischen ihr und der 
zweiten Zehe nicht mehr besteht. Die Photographie, welche mehrere 
Wochen nach der Operation aufgenommen ist, zeigt deutlich, dass 


Fig. 2. 



die Grosszehe wieder mit den übrigen in Berührung steht und dass 
die Stellung kosmetisch eine sehr gute genannt werden kann. Auch 
der Gehact war in jeder Beziehung besser als früher. 

Ob man bei einer hochgradigen, fixirten Verbiegung sämmt- 
licher Zehen durch eine einfache Resection der Grundphalanx der 
Grosszehe oder des 1. Metatarsalköpfchens eine wesentliche Ver¬ 
besserung des Gehactes und der Stellung erzielt, erscheint über¬ 
haupt fraglich. Hier wird sich das operativ-therapeutische Vorgehen 
nach dem vorliegenden Falle richten müssen; es könnte selbst die 
Wegnahme einzelner Zehen, um für die Geradestellung der übrigen 
Platz zu schaffen, und sogar eine keilförmige Excision am Mittel- 
fuss in Verbindung mit einer Resection an der Grosszehe in Frage 
kommen. 


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XVIII. 


Hysterisclie Hüfthaltung, Typus Wertheim- 
Salomonson. 

Von 

Dr. J. Schoemaker^ Nymwegen. 

Mit 4 in den Text gedruckten Abbildungen. 

Im «Weekblad van het Nederlandsche Tijdschrift voor 
Geneeskunde“ hat Professor Wertheim-Salomonson zwei Fälle 
von hysterischer Skoliose beschrieben. Er fand es der Mühe werth, 
diese zu vermelden, weil das Krankheitsbild noch wenig beschrieben 
wurde, dann aber auch, weil seine Patientin solch eigenthümliche 
Symptome zeigte, dass sie ihn zu einer originellen Auffassung des 
ganzen Complexes der Erscheinungen zwangen. 

Er nimmt nämlich an, dass die Abweichung im Stande der 
Wirbelsäule nur eine Nebensache sei, und dass eine nicht weniger 
auffallende Abweichung des Beckenstandes einen gleich belangreichen 
Antheil habe an der Bildung einer typischen Haltung. Diese sei das 
Essentielle des Symptomencomplexes, der an seiner Patientin zu be¬ 
obachten war. Diese typische Haltung finden wir auch beim nor¬ 
malen Menschen, wenn derselbe, auf einem Beine stehend, ruht, im 
gleichen Stande, wie er durch Richer beschrieben wurde, als 
„Station hanchde*. 

In dieser „Hüftsteilung“, dem vorzüglichsten Ruhestand, wird 
der ganze Körper durch eine der Extremitäten getragen. Das 
tragende Bein ist vollständig gestreckt und etwas adducirt; das 
andere Bein steht davor und ist im Knie gebogen. Das Becken 
steht schief — an der Seite, worauf gestützt wird, steht die Crista ilei 
höher, und der Rücken zeigt eine Skoliose mit der Convexität nach 


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Hysterische Hüfthaltung, Typus Wertheim-Salomonson. 445 

der nicht tragenden Seite. In stärkerem Maasse findet Wertheim- 
Salomonson diese Erscheinungen auch bei seinen Patienten: das' 
Stehen auf einem Bein, die Beckenstellung, den schieferen Schulter¬ 
stand, die Skoliose. Und darum nimmt er fttr sich das Recht in 
Anspruch, bei seinen Patienten von einer hysterischen „Attitüde 
hanch^e*^ mit Skoliose zu sprechen. Diese letzte Hinzufügung 
erachtet er erwünscht, um anzugeben, dass die Skoliose eine wichtige 
Erscheinung sei — sie zeigt nämlich weit stärkere Krümmungen, als 
wenn sie nur von der Stellung des Beckens abhängig wäre; sie ist 
übertrieben. Wenn man die photographischen Vorstellungen seiner 
Patienten betrachtet, nachdem man von seiner Auffassung Kenntniss 
genommen hat, dann ist es nicht schwierig, seine Meinung zu theilen 
(s. Fig. 1 u. 2.) 

Dieser Stand ist so eigenartig, derjenige einer Person, die auf 
einem Beine in ruhender Haltung sich befindet, dass die Erscheinung 
der Skoliose vollständig verschwindet und als eine Nebensache er¬ 
scheint anstatt das Hauptsymptom zu sein. Darum ist es meiner 
Ansicht nach richtiger, in diesem Falle nicht von hysterischer 
Skoliose sondern von hysterischer Hüfthaltung zu sprechen, wenn 
man will mit Skoliose. Dass die Krankheit von hysterischer Art 
ist, lehrt uns die Historia morbi. 

Fig. 1 stellt einen Mann von 24 Jahren vor, der nach einem 
unglücklichen Falle aus ziemlicher Höhe schief geworden ist Dieses 
Schiefwerden nahm langsam zu, so dass er sich schliesslich nur mit 
Hilfe einer Krücke fortbewegen konnte. In seiner Jugend zeigten 
sich bei ihm Anfälle, als ob er einen Pfropfen, der aus dem Magen 
aufstieg, in der Kehle stecken fühlte; er machte dann ziehende Be¬ 
wegungen mit Armen und Beinen und verdrehte seine Augen. Eine 
Schwester des Kranken leidet an hysterischen Zufällen und hat zeit¬ 
weise vollständigen Mutismus gehabt. Patient zeigt nun die Haltung, 
die in umstehender Abbildung wiedergegeben wird (Fig. 1). Er 
stützt sich auf sein rechtes Bein, während das linke leicht nach vorne 
gebogen ist. Die linke Spina a. s, steht 6 cm niedriger als die rechte. 
Die Wirbelsäule zeigt eine Skoliose mit der Convexität nach links. 
Die Beugung fängt an in der oberen Lendengegend und setzt sich 
fort bis zum unteren Halstheil. Die rechte Schulter ist ungefähr 
8 cm niedriger als die linke. Steht der Patient eine kurze Zeitlang, 
dann nimmt die Skoliose zu und der rechte Rippenbogenrand be¬ 
rührt die Crista ilei. Diese Haltung bleibt auch während des 


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446 


J. Schoemaker. 


Gehens sichtbar; Patient trippelt dann infolge der scheinbaren Ver¬ 
längerung des linken Beines. 

Patient zeigt verschiedene Stigmata. 

Er wurde einige Male elektrisirt, jedoch ohne Erfolg. Die 
Genesung erfolgte vielmehr auf vollständig unerwartete Weise. Der 


Fig. 1. 


Fig. 2. 




Patient hatte zu viel Spirituosen genossen und beim Verlassen des 
Wirthshauses fiel seine Krücke auf die Erde; anstatt vorsichtig die 
vier Stufen der Treppe hinunter zu gehen, sprang er hinunter; er 
fühlte in seinen Hüften einen „Ruck“ und war genesen. 

Fig. 2 stellt ein Mädchen vor von 19 Jahren, welches seit 


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Hysterische Hüfthaltung, Typus Wertheim-Salomonson. 


447 


einem Jahre an Ohnmachtsanfällen leidet. Nach diesen Anfällen war 
ihr rechtes Bein steif geworden und ihre Hüfte gespannt. Vor 
4 Wochen glaubt sie sich verhoben zu haben und danach hat sie 
beobachtet, dass ihre rechte Hüfte ausgetreten ist und sie schief steht. 

Die Patientin ruht auf dem rechten Bein; das Becken steht 
schief; die rechte Crista ilei ist 6 cm höher als die linke; es be¬ 
steht eine starke Skoliose mit der üonvexität nach links; die rechte 
Schulter steht ungefähr 7 cm niedriger als die linke (Fig. 2). Das 
Gehen macht einen eigenthümlichen Eindruck durch die scheinbar 
verschiedene Länge der Beine. Die Patientin wurde durch einen 
starken faradischen Strom auf den motorischen Punkt für die Glutäi 
behandelt. Dabei erfolgte eine plötzliche Rotation des Beines nach 
aussen, wodurch die Patientin die Empfindung hatte, als ob in der 
Hüfte etwas spränge. Dasselbe wurde auch durch den Faradiseur 
wahrgenommen. Haltung und Stand waren nun vollständig corrigirt, 
und diese Genesung hat bis zur Stunde angehalten. 

Diesen beiden Fällen können wir einen dritten hinzufUgen, der 
in unserer Praxis vorkam. 

Rika van W., ein Mädchen von 15^2 Jahren ist vor ungefähr 
4 Jahren mit der linken Hüfte gegen eine Thürschwelle gefallen. 
Sie empfand darauf Schmerzen, die derart Zunahmen, dass sie nach 
kurzer Zeit nicht mehr laufen konnte. Sie wurde infolge dessen 
während 3^2 Monaten bettlägerig. Verbände, und zwar Extensions¬ 
verbände, wurden nicht applicirt. Die „Hüftkrankheit“ verminderte 
sich dann, und die Patientin fand es sogar besser, wieder zu gehen, 
und zwar mit Hilfe einer Krücke, da das linke Bein kürzer geworden 
war. Von einer Verkrümmung merkte sie noch nichts; das ent¬ 
deckte sie erst, als sie vor ungefähr 3 Jahren die Krücke nicht mehr 
gebrauchte. Seitdem hat die Krümmung langsam zugenommen. 

Als Kind hatte sie häufig unbezwingbare Weinkrämpfe, die mit 
einem Gefühl, als ob sie einen Pfropfen in der Kehle stecken hätte, 
begannen; diese Anfälle wurden nachgerade seltener. Oefters zeigte 
sich an ihrer linken Hand eine Lähmung, meistens wenn sie sich 
lebhaft aufregte. Im Augenblick zeigt die Patientin eine Abnormität, 
die durch umstehende Fig. 3 ziemlich deutlich wiedergegeben wird: 
eine seitliche Biegung der Wirbelsäule und eine starke Krümmung 
des Beckens. Sie steht in extremer Station hanchäe, ruhend auf 
ihrem linken Bein; dasselbe ist deutlich activ gestreckt, während das 
rechte Bein sich daneben befindet, gebogen, passiv am Becken 

Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. VIII. Band. 3() 


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448 


J. Schoemaker. 


hängend. Das Becken steht schief und zwar in sehr starkem Maasse, 
so dass die linke Spina ant. sup. 11cm höher steht als die rechte. 
Die Wirbelsäule zeigt eine S-förmige Skoliose; der Lendentbeil und die 
untere Dorsalhälfbe bilden die unterste Krümmung, deren Convexität 
nach rechts gewendet ist und die eine starke Windung macht. Der 


Fig. 3. 


Fig. 4 . 




obere Brust- und Halstheil bilden die obere Krümmung mit der Con- 
yexität nach links und einer ziemlich flachen Windung. Die Drehung 
der Wirbel ist eine geringe; der Rippenbuckel ist auch verhältniss- 
mässig klein; die Schultern stehen nicht gleich hoch, die linke 
niedriger. Die Musculatur des Rumpfes ist ziemlich entwickelt; 
jedoch ist es auffallend, dass die Muskeln, welche an der convexen 
Seite liegen, am stärksten sind; das ist am besten zu beobachten 
an dem Longissimus dorsi. Activ kann die Patientin auf die Haltung 


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Hysterische Hüfthaltung, Typus Wertheim Salomonson. 449 

des Rückens einen Einfluss ausüben, aber sehr wenig daran yer- 
ändem. Den Schiefstand des Beckens ist sie im Stande ansehnlich 
zu verbessern. Wenn sie die beiden Füsse neben einander stellt und 
das rechte Bein streckt, sind die beiden Spinae ant. sup. beinahe 
gleich hoch. Die Haltung der Wirbelsäule verändert sich dabei nicht, 
so dass der Rumpf stark nach links überhängt (s. Fig. 4). Legen 
wir die Patientin nieder, dann behält sie dieselbe Haltung, jedoch 
würden wir sie dann eher beschreiben als eine Haltung, in der das 
linke Bein in extremer Adduction und geringer Flexion und 
Rotation nach innen liegt, während ihr linker Rippenbogen sich 
der linken Crista ilei nähert. 

Diese letztere Abweichung des Rumpfes ist verhältnissmässig 
einfach zu verbessern, wenn man das Becken fixirt und den Thorax 
nach rechts biegt; man hat dabei einen Widerstand zu überwinden, 
der unregelmässig in der Wirkung ist, stossend, und der durch Zu¬ 
reden und Ableitung während kurzer Zeit bis auf ein Minimum 
reducirt werden kann, um danach wieder plötzlich aufzutreten, mit 
anderen Worten ein activer Muskel widerstand. 

Die Haltung des Beines wird in gleicherweise herbeigeführt; 
jedoch ist das Bein durchaus nicht fixirt, die Biegung ist ganz 
frei; sowohl activ wie passiv wird das Bein gebogen, bis es gegen 
den Rumpf stösst; die Rotation nach innen ist normal, während die 
Rotation nach aussen einige Schwierigkeiten bereitet. Die Ad- und 
Abduction sind jedoch stark beschränkt. Die Adduction ist gleich Null, 
weil das Bein für diese Bewegung seinen Endpunkt bereits erreicht 
hat; die Abduction liefert dieselbe Erscheinung, die wir bei der seit¬ 
lichen Beugung des Rumpfes bereits bemerkt haben — activ wird 
dabei nichts erzielt. Bei Versuchen zu passiver Abduction erfahren 
wir starken Widerstand; derselbe ist jedoch nicht constant. Anfangs 
gering, nimmt er während des Abducirens stark zu, vermindert sich 
während des Einredens und der Ableitung, wird stossend und trillend 
nahezu Null, um dann plötzlich wieder sehr stark zu werden, wobei 
dann die Patientin mit Aeusserungen des Unbehagens ihren Körper 
derart zusammenpresst, dass ihr Bein gegen das Becken gleichsam 
wieder in maximale Adductionsstellung zu liegen kommt. 

Bei dieser Bewegung hat uns eine Eigenthümlichkeit über¬ 
rascht. Einige Male ereignete es sich, dass wir einen Stoss fühlten, 
ungefähr wie man ihn erfährt, wenn die Reposition einer traumati¬ 
schen Hüftluxation gelungen ist. 


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f 


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J. Schoemaker. 


Auf diese Erscheinung näher eingehend, erzählt die Patientin 
uns auch, dass sie mitunter die Empfindung habe, als ob ein paar 
Knochen in- und auseinander gehen; gewöhnlich geschehe das 
während des Gehens und verursache ihr ein sehr unangenehmes 
Gefühl. Sie ist im Stande, dieses Phänomen willkürlich, sowohl 
in stehender als in liegender Stellung, hervorzurufen, und zwar 
durch kleine Beugungen und Streckbewegungen des Oberschenkels. 
Wenn sie dieselben vornimmt, vernehmen wir deutlich einen Ruck 
imd sehen bei der Beugung den Trochanter mit einem Stoss 
nach aussen springen und bei der Streckung mit einem weniger 
starken Geräusch wieder nach innen zu gehen. Dieses Letztere ist 
auch fühlbar; bei der Biegung schlägt der Trochanter gegen die auf¬ 
gelegte Hand und wird bei der Ausstreckung wieder weniger deutlich. 

Der allgemeine Ernährungszustand der Muskeln ist ausgezeichnet, 
diejenigen der linken Seite übertreffen die der rechten an Umfang. 
Rechts in der Mitte des Femur ist der Umfang 42, links 44 cm. 
Beide Trochanteren stehen in der* Roser-Nelaton'schen Linie. 
Abstand von der Spina ant. sup. zum Malleolus int. rechts 73, links 
76 cm, idem zum Malleolus ext. rechts 73, links 76 cm. Das linke, 
sogen, kranke Bein ist also 3 cm länger als das rechte. Hiermit in 
Uebereinstimmung ist, bei einem Unterschiede des Standes der beiden 
Spinae von 11 cm, die scheinbare Verkürzung nur 8 cm und bleibt 
die linke Spina 3 cm höher stehen als die rechte, wenn die Patientin 
beide Beine streckt. 

Reflexe normal — Pharynxanästhesie —, kein Druckschmerz auf 
die Proc. spin., keine anästhetischen oder hyperästhetischen Re¬ 
gionen; diese letzteren speciell nicht am linken Hüftgelenk. 

Der linke Arm zeigt eine Beugungscontractur, von der Hand 
ausgehend, die vor einigen Tagen infolge einer heftigen Gemütbs- 
bewegung plötzlich entstanden ist. 

Ohne Narkose, jedoch unter suggestivem Zureden, wird die Re¬ 
dression vorgenommen, indem nach dem Princip der Lorenz'sche 
Hüftredresseur am linken Bein gezogen wird, während das rechte in 
die Höhe gedrückt wird, bis die linke Spina sogar 1 cm tiefer als 
die rechte steht; das scheinbar zu kurze Bein wird dadurch 4 cm 
zu lang. Der Rumpf wird langsam manuell redressirt, bis er 
eine nahezu normale Form bekommen hat, danach wird schnell¬ 
stens ein Gipsverband umgelegt von den linken Malleoli bis unter 
die Achselhöhle. Unter dem rechten Fuss wird eine Erhöhung von 


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Hysterische Hüfthaltung, Typus Wertheim-Salomonson. 451 

5 cm angebracht. Damit lernt die Patientin innerhalb kurzer Zeit 
gut marschieren. 

Nach 6 Wochen wird der Verband weggenommen in der festen 
Ueberzeugung, dass eine belangreiche Besserung erreicht worden ist. 
Diese Erwartung erwiess sich aber als eitel. Gleich nach Abnahme des 
Gipsyerbandes nähert sich die linke Crista ilei dem Rippenbogen, 
das linke Bein stellt sich wieder in maximale Adduction. Die 
Patientin wird in der Folge elektrisirt, suggerirt, suspendirt und 
methodisch heilgymnastisch behandelt, ohne dass hierdurch irgend ein 
Resultat erreicht wird. Nach der redressirten Haltung wird deshalb ein 
Gipsmodell angefertigt und danach ein Corset mit Abductionsbügel 
fabricirt. Damit angethan, läuft das Kind in guter und sehr cor- 
recter Haltung; ohne dasselbe zeigt sie die Krümmungen noch 
ebenso wie früher. Trotzdem scheint es, dass die Skoliose geringer 
wird. 


Wir haben hier also drei Krankengeschichten vor uns, die sehr 
viel Uebereinstimmung mit einander zeigen. In jedem Falle betrifft 
es einen hysterischen Patienten, welcher nach einem Trauma eine 
bestimmte Kärperstellung annimmt und bewahrt. Diese Haltung ist 
typisch eine übertriebene Hüftsteilung, die Haltung, welche Jemand 
einnimmt, wenn er ermüdet auf einem Beine „hängt*. Bei diesem 
Symptomencomplex ist die Skoliose eine sehr in die Augen springende 
Erscheinung, aber der Schiefstand des Beckens ist doch von nicht 
geringerer Bedeutung. 

So könnte man geneigt sein, den Schiefstand des Beckens als 
die hauptsächliche Erscheinung zu betrachten, die Skoliose als hier¬ 
von abhängig, mit anderen Worten, diese wäre aufzufassen als eine 
statische Skoliose. Das ist jedoch in Wirklichkeit nicht der Fall; 
erstens ist die Krümmung dafür zu stark, und zweitens verschwindet 
sie nicht, wenn die Schiefstellung des Beckens aufgehoben wird, im 
Gegentheil wird sie schlimmer. 

Hieraus ergibt sich, dass die Rumpfhaltung in Bezug auf das 
Becken festgehalten wird. Dass hierbei von Knochen- oder Band¬ 
widerstand keine Rede sein kann, lehren uns unsere Bemühungen 
beim Redressement, die die Empfindung erregen, als ob man einen 
Muskelwiderstand zu überwinden hätte, und welche desto mehr Erfolg 
haben, je mehr die Psyche des Patienten mit anderen Beschäftigungen 


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452 


J. Schoemaker. 


erfüllt ist — ein Beweis also, dass in dieser Psyche, in einer Inner¬ 
vationsstörung, die Ursache der Abweichungen zu suchen ist. 

Die Skoliose und Schiefhaltung des Beckens oder der Adduc- 
tionsstand des Beines — was dasselbe besagt — sind also zwei Unter- 
theile eines vollständigen Symptomencomplexes, welcher nicht nach 
einem derselben genannt werden darf, weshalb uns die ursprüng¬ 
liche Auffassung von Wertheim-Salomonson die richtige zu sein 
scheint. 

Wir haben deswegen in diesen Fällen von hysterischer Hüft¬ 
steilung zu sprechen und nicht von hysterischer Skoliose. Unter 
diesem Namen sind noch keine Fälle beschrieben worden, jedoch 
glauben wir, dass in der medicinischen Literatur Beschreibungen 
unter dem Namen hysterische Skoliose Vorkommen, die besser als 
hysterische Attitüde hanchöe benannt worden wären. 

Wertheim-Salomonson hat sich die Mühe gegeben, diese 
Fälle aufzusuchen und findet ungefähr zehn, bei denen entweder 
die Beschreibungen oder die beigefügten Photographien keinen Zweifel 
übrig lassen, dass sie zu derselben Gruppe gehören wie die oben 
beschriebenen 3 Fälle (s. Literatur). Deshalb fällt auf das Krank¬ 
heitsbild ein ganz eigenthümliches Licht, das an Deutlichkeit nichts 
zu wünschen lässt; jedoch damit ist die Sache noch nicht ab¬ 
gehandelt. 

Die Natur und das Wesen der filrankheit, die dieses Bild ge¬ 
liefert hat, fordern noch einige Erklärungen; ein paar Symptome 
erheischen noch unsere Aufmerksamkeit. 

Um mit diesen Letzteren zu beginnen, erinnern wir an die 
gleiche Erscheinung, die bei allen drei Patienten vorgekommen ist 
nämlich als ob in der Hüfte etwas zersprungen sei. Bei Salomonson 
schliesst sich hier sofort die Genesung an und auch in der ent¬ 
sprechenden Literatur wird dasselbe berichtet (s. Germant’s 5. Wahr¬ 
nehmung). Bei meinem Falle konnte die Patientin dieses Phänomen 
willkürlich hervorrufen, ohne dass dies auf den Verlauf der Krank¬ 
heit einigen Einfiuss ausübte. Salomonson betrachtet diese Er¬ 
scheinung als von grosser Wichtigkeit. Er sagt dazu: „Um das 
gut zu begreifen, ist es nöthig, auf eine ganz eigenthümliche Erschei¬ 
nung aufmerksam zu machen, die die meisten normalen Menschen 
bei sich selbst zum Vorschein rufen können. Wenn Jemand in 
Hüftsteilung steht, z. B. auf dem rechten Bein, und dann das rechte 
Bein und das Knie sehr wenig biegt, gleichzeitig seinen Rumpf ein 


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Hysterische Hüfthaltung, Typus Wertheim-Salomonsoi). 


453 


wenig vornüber gebeugt hält und zum Schluss eine geringe Drehung 
seines Körpers nach links ausführt, kann er mitunter plötzlich in 
seiner Hüfte eine Empfindung verspüren, als ob darin etwas spränge, 
gleichsam als ob das Femur nach aussen gedrungen wäre. Fixirt 
man diese Stellung und nimmt danach die ursprüngliche Stellung 
vorsichtig wieder ein, dann wird ein Versuch zur Adduction des 
rechten Beines zur Folge haben, dass man eine Empfindung be¬ 
kommt, als ob plötzlich in der Hüfte etwas zerspränge, und zwar 
als ob das Femur mit einem Sprunge auf seinen Platz zurückkehrte. 
Auch wird der Untersuchende selbst oder ein dabei Stehender, der 
bei dieser Probe die Hand auf die rechte Hüfte des Untersuchten 
gelegt hat, diese eigenthümliche, mit einem hörbaren Ruck ge¬ 
paarte Zurückkunft auf die gleiche Weise wahrnehmen, und er 
bekommt dabei die gleiche Empfindung, die man bei der Repo¬ 
sition eines luxirten Gelenkes erfährt. . Es ist ungeheuer schwierig, 
eine vollkommen scharfe Beschreibung dieser Erscheinung zu geben, 
doch das Vorstehende stellt ziemlich genau vor, was man wahr¬ 
nimmt: die Erzeugung der Erscheinung an seinem eigenen Körper 
ist, wenn sie einmal geglückt ist, sehr leicht; nur beim ersten Mal 
ist sie schwierig, weil die hier oben angegebenen Vorschriften un¬ 
möglich den Grad der Innervation für jeden Muskel bestimmen können; 
es ist nöthig, den Versuch einige Male zu wiederholen. 

,, Meiner Ansicht nach ist diese Erscheinung nichts anderes, als 
das Hervorbringen und Verschwindenlassen der physiologischen 
Subluxation des Femur. Es kostet mich einige Ueberwindung, 
dieses niederzuschreiben, da ich davon in allen mir zugänglichen 
chirurgischen Lehrbüchern nichts verzeichnet finde; es scheint, dass 
darin diese physiologische Subluxation vollständig unbekannt ist. 
Trotzdem glaube ich, dass meine Auffassung die richtige ist. Ab¬ 
gesehen von der hier oben beschriebenen Weise vom Entstehen und 
Verschwinden dieser Erscheinung, bestehen noch andere Gründe, die 
ich glaube anführen zu können. Zunächst, weil die äussere Form 
der Hüfte sehr belangreichen Aenderungen bei dem Versuch unter¬ 
worfen ist. Wir sehen und fühlen beim Subluxiren der Hüfte 
plötzlich den Trochanter nach aussen treten, so dass der normale 
Umfang der Hüfte durch einen vorspringenden Höcker ersetzt wird. 
Subjectiv entsteht sogleich das eigenthümliche Gefühl, dass man an 
den Gelenkbändern hängt, anstatt an den Muskeln. Dasselbe Gefühl 
entsteht, wenn man an Ringen oder am Reck hängt und sich 


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454 


J. Schoemaker. 


,schwer^ hängen lässt, und an seinen Fingern, wenn man dieselben 
,knapsen^ lässt, indem man daran zieht, jedoch nach dem ,Enap8en^ 
nicht sofort mit dem Ziehen aufhöri;. Endlich ist es eine höchst 
wichtige Thatsache, dass man diese Subluxation nur dann erzeugen kann, 
wenn die Extremitäten sich in einer bestimmten Stellung befinden, 
und zwar in der bekannten Coxitisstellung, wobei, wie bekannt, der 
Bandapparat vollständig ausgeschaltet ist. Nur in dieser Stellung 
ist es denkbar, dass der Kopf des Femur das Becken um ein Weniges 
verlassen kann; natürlich wird durch den Luftdruck der Bänder¬ 
apparat wenigstens einen Theil des Raumes ausfüllen müssen, also an 
der unteren Seite, vorne und hinten angepresst werden. Beim Er¬ 
zeugen der Stellung ist eine Muskelerschlaffung eine erste Bedingung, 
während das Einführen der subluxirten Hüfte durch einfache Span¬ 
nung der Adductoren und Strecken des Oberschenkels geschieht. 
Hierdurch wird es unmöglich, anzunehmen, dass das Vorschieben 
des Trochanters unter den gespannten Muskelmassen des Glutaeus 
magnus — angenommen, dass das möglich wäre — die Ursache der 
eigenthümlichen Empfindungen ist, die das Erzeugen und Redres- 
siren dieser physiologischen Subluxation begleiten. Ich nehme an, 
dass bei der hysterischen „Station hanchee'^ diese Subluxation vor¬ 
handen ist und dass dadurch die kleinen Abweichungen der physio¬ 
logischen Hüftstellung erklärt werden. Zunächst doch gaben beide 
Patienten an, dass ihre Hüfte dick und aufgeschwollen sei, was 
auch bei der Untersuchung bestätigt wurde. Weiter theilten beide 
Patienten mit, dass ihre Genesung plötzlich eintrat, und dass dabei 
in ihren Hüften etwas zersprang. Bei der zweiten Patientin konnte 
das sowohl durch das Gefühl, als durch das Gehör constatirt werden. 
Bei ihr erwartete ich das übrigens, und die Therapie war darauf 
gerichtet.“ 

In dieser Beweisführung hegt viel Anziehendes, jedoch glaube 
ich, dass man nicht Chirurg sein muss, um seinen Zweifel zu über¬ 
winden und eine physiologische Subluxation des Femur anzunehmen^ 
ohne dazu durch unfehlbare Symptome gezwungen zu werden. Wenn 
man das Ineinanderpassen von Kopf und Gelenkhöhle an der Leiche 
oder in vivo einige Male betrachtet hat und aus Erfahrung weiss,. 
wie mühevoll es ist, diese beiden aus einander zu bringen, so dass 
beispielsweise der Kopf auf den Rand der Gelenkhöhle zu stehen 
komme, dann bezweifelt man stark das Vorkommen einer Subluxa¬ 
tion im Hüftgelenk und findet in der speculativen Behauptung des 


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Hysterische Hüfthaltung, Typus Wertheim-Salomonson. 455 

Autors nicht Argumente genug, die diesen Zweifel ins Wanken 
bringen. Trotzdem erheischt das Phänomen eine Erklärung; aber 
ich glaube dieselbe gefunden zu haben, ohne genöthigt zu sein, 
meine Zuflucht zu der Annahme einer bis jetzt unbekannten Sache 
zu nehmen. 

Ebenso gut wie man im Stande ist, die Erscheinung am eigenen 
Körper hervorzubringen, würde es möglich sein können, dies an der 
Leiche zum Vorschein zu bringen; und dann hätte man Gelegenheit 
zu beobachten, was geschieht, und könnte daraus entsprechende 
Schlüsse ziehen. 

Und dieses gelingt ziemlich leicht. 

Wenn man ein Bein in maximale Adduction und leichte 
Rotation nach innen bringt, dann kann man durch eine geringe 
Beugungsbewegung das Phänomen bis in die geringsten Kleinig¬ 
keiten zum Vorschein bringen. Man sieht und fühlt den Trochanter 
nach aussen kommen; man hört dabei einen deutlichen Ruck. Es 
ist nun nur die Frage, welche Muskel, Bänder oder Sehnen dazu mit- 
wirken, um diese Erscheinung zu Stande zu bringen. 

Dass die Haut wenig dabei zu schaffen hat, ist deutlich; sie 
kann abpräparirt werden, ohne dass dies auf die Erscheinung auch 
nur den geringsten Einfluss hat. Nun folgt jedoch die Fascia lata, 
deren Verhältniss in Bezug auf den Trochanter für unsere Frage von 
grosser Wichtigkeit ist. Die Fascia ist in dieser Gegend nämlich sehr 
ungleichmässig an Dicke. Während sie auf dem M. glutaeus im all¬ 
gemeinen sehr dünn ist, ist sie am vordersten Rand dieses Muskels 
von so vielen kräftigen parallelen Fasern durchzogen, dass ein ausser- 
gewöhnlich starkes, 3 cm breites Band entsteht. Dieses Band ent¬ 
springt an der Crista ilei neben der Spina ant. sup.; setzt sich nach 
hinten in die Fascia des M. glut. med. fort und läuft nach unten 
zwischen Glut. max. und M. tensor fasciae latae, um weiter in den 
kräftigen lateralen Theil der Fascia lata überzugehen. Dieses Band 
nun, ein Theil oder eine Fortsetzung des Tractus ileo-tibialis Maissiati, 
läuft in gestreckter Stellung des Beines gerade über und theilweise 
hinter dem Trochanter und ist die Ursache der geringen Verflachung, 
die wir an dieser Stelle antreffen. Bringen wir nun das Bein in 
Adduction, dann wird dieses Band gespannt und drückt kräftig 
von hinten gegen den Trochanter, und wenn wir dann langsam 
eine sehr geringe Beugebewegung ausführen, dann sieht man den 
Trochanter unter dem Band ausgleiten und darauf plötzlich am 


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456 


J. Schoemaker. 


hinteren Rande mit einem Ruck zum Vorschein kommen. In Wirk¬ 
lichkeit kommt natürlich der Trochanter nicht nach aussen, sondern 
der Fascienrand schnellt vor dem Trochanter nach innen und lässt 
die Conturen des oberen Femurendes deutlich zu Tage treten. Streckt 
man das Femur wieder gegen das Becken, dann geht das Band mit 
einem etwas weniger deutlichen Ruck wieder an seine ursprüng¬ 
liche Stelle zurück. Schneidet man die Fascia durch, dann ist es 
nicht mehr möglich, oben beschriebenen Versuch zu wiederholen. 
Präparirt man dahingegen das Hüftgelenk so offen, dass der wieder¬ 
holt genannte Fascienrand doch auf seiner Stelle bleibt, dann kann 
man gleichzeitig constatiren, dass während des Hervormfens des 
Phänomens in dem Gelenk nichts Auffälliges passirt. 

Wir glauben aus diesem Experiment das Recht abzuleiten, zu 
erklären, dass bei hysterischer Hüfthaltung von einer Subluxation 
keine Bede sein kann, und dass der eigenthümliche Ruck, der bei 
kleinen Bewegungen in diesem Hüftgelenk verursacht wird, auf der 
Thatsache beruht, dass der ad maximum gespannte Rand der Fascia 
lata über den Trochanter rutscht. 

Bei unserer Patientin wird dieser Strang als ein eisenhartes 
Band gefühlt, hinter welchem bei der Beugung der Trochanter plötz¬ 
lich zum Vorschein kommt. Ebenso fühlt man beim Stehen auf 
einem Bein, dass dieses Band sehr stark angespannt wird. Ich nehme 
daher auch an, dass bei dem sogen. Hängen am Ligamentum Bertini 
die Fascia lata eine weit grössere Rolle spielt, als man ihr bis jetzt 
zuerkannte. 

Eine zweite Eigenthümlichkeit der Symptome, die uns auffällt, 
ist die grössere Länge des linken, des sogen, kranken, des scheinbar 
zu kurzen Beines. Dass hier kein Messfehler im Spiele ist, wird 
man gleich zugeben. Einen Fehler von 3 cm macht man beim Messen 
nicht; ausserdem habe ich verschiedene Collegen ersucht, meine 
Messungen zu controlliren, wobei sich jedes Mal der Unterschied 
von ± 3 cm herausstellte. Worin besteht nun die Ursache dieser Un- 
gleichmässigkeit der Beine? Möglich ist es, dass das Mädchen 
immer ungleich lange Beine hatte, etwas, was häufiger vorkommt und 
bestätigt wurde. Jedoch ist niemals ein so belangreicher Unter¬ 
schied, wie hier vorliegt, constatirt worden, soweit mir bekannt ist; 
auch wäre derselbe nicht glaubhaft. Angenommen aber, dass ein 
derartiger Fall sich wirklich zugetragen hätte, so würde es doch 
unverantwortlich sein, diesen Zufall als Ursache anzunehmen, wo 


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Hysterische Hüfthaltang, Typus Wertheim-Salomonson. 457 

eine andere Thatsache uns als Beweis so zu sagen aufgedrängt wird. 
Beide Beine sind nämlich seit 4 Jahren unter vollständig verschie¬ 
denen Umständen gewesen, welche ihren Einfluss auf das Wachsthum 
geltend gemacht haben. Bedenken wir nämlich, dass die Patientin 
während dieser Zeit beim Stehen ausschliesslich auf dem linken Bein 
geruht und beim Qehen dasselbe Bein auch viel stärker angestrengt 
hat, als das rechte — wofür die kräftigere Muskelentwickelung 
den Beweis liefert —, dann scheint es mir nicht zu gewagt, die 
Folgerung zu machen, dass die grössere Function die Ursache der ver¬ 
mehrten Knochenbildung und des stärkeren Wachsthums ist. Damit 
stellen wir jedoch eine Behauptung auf, deren Bedeutung höchst 
belangreich ist; jedoch haben wir hierzu die Berechtigung, weil 
wir sie einem Falle entlehnen, der keine andere Erklärung zu¬ 
lässt. Während wir nämlich so oft mit viel complicirteren Ver¬ 
hältnissen zu rechnen haben, wo Entzündung des Beines selbst 
oder der Gelenke ihren Einfluss geltend machen können, oder wo 
die trophische Wirkung der Nerven nicht geleugnet werden darf, 
ist hier die einzigste Veranlassung, die zu dieser Enochenbildung 
hat führen können, der Druck der Rumpfschwere und die Spannung 
der Muskeln. Hierbei haben diese beiden Ursachen auf zweierlei Art 
mitgewirkt, sowohl andauernd — beim Stehen die Schwerkraft und 
stets der Tonus der Muskeln —, als auch abwechselnd — der Druck 
des Rumpfes beim Gehen und das Muskelspiel bei ihrer Contraction. 
Wir haben hier also doch noch vier verschiedene Momente — und 
sind wir vorläuflg auch noch nicht im Stande, festzustellen, ob diese 
alle zusaromengewirkt haben oder ob ein einzelnes darunter einen 
hemmenden Einfluss ausgeübt hat; anzunehmen ist es jedoch, dass 
sie zusammen eine starke Enochenbildung im Gefolge gehabt haben. 
Man könnte jedoch die Sache auch von der entgegengesetzten Seite 
betrachten und behaupten, dass nicht das linke Bein hypertrophisch, 
sondern das rechte Bein atrophisch wäre — jedoch diese Annahme 
scheint mir nicht die richtige zu sein. Das rechte Bein ist nämlich 
in allen Theilen für ein Mädchen von 15 Jahren vollkommen gut 
entwickelt; diesbezüglich sind nicht die geringsten Anmerkungen zu 
machen. 

Mit den Muskeln ist dasselbe der Fall; die des rechten Beines 
sind die schwächeren, jedoch betrachten wir diese als normal, 
die des linken Beines als hypertrophisch. Die Form beider Beine 
ist normal, keine Spur von Pedes plani, Genua valga oder vara 


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458 


J. Schoemaker. 


oder Coxa vara. Es ist das ein Beweis dafür, wie ein gesundes 
Bein die Kraft besitzt, die normale Form zu bewahren. Wenn man 
bedenkt, dass das Hüftgelenk fortwährend in starker Adductions- 
stellung schwer belastet gewesen ist, dann mus es uns wundern, dass 
die grossen Anforderungen, die Ton der Tragkraft des Beines ver¬ 
langt werden, unter abnormalen Verhältnissen keinen Einfluss auf 
die Form gehabt haben. 

Wir sehen hierin einen Fingerzeig, um bei der Erklärung von 
Difformitäten vorsichtig zu sein mit der Annahme der Function in 
einer bestimmten Stellung als ausschliessliche Ursache. 

Zum Schlüsse bleibt uns noch die Lösung der Frage, welcher 
Art diese Krankheit ist. Haben wir es hier mit einer hysterischen 
Contractur zu thun — denn dass das Leiden eine hysterische Basis 
hat, ist ausser Frage — oder handelt es sich um eine Muskelschwäche 
und als Folge davon eine Haltungsabweichung, die sich manifestirt? 

Eigentlich keines von beiden. Von einer Contractur, einem 
fortdauernden Spannungszustand der Muskeln, wie er z. B. am linken 
Unterarm unserer Patientin existirt, kann keine Rede sein; und eine 
Myasthenie können wir in unserem Falle auch unmöglich annehmen, 
wo die Muskeln an der convexen Seite des Rückens und an dem 
sogen, kranken Beine hypertrophisch sind. 

Ich glaube deswegen, dass wir die Muskeln ausser Betracht 
lassen können, und nehme an, dass die Patientin unbewusst eine 
bestimmte Haltung gewählt hat, die sie nun festhält, nicht weil ihre 
Muskeln schwach waren und sie die Ruhehaltung einnahm, um 
am Lig. Bertini zu hängen, so, wie Salomonson das auffasst, 
sondern als ein Spiel ihrer hysterischen Psyche, ebenso wie eine 
andere Hysterica die Neigung hat, eine „wing-like position“ (einen 
Flügelstand) einzunehmen und zu behalten. Trotzdem woUen wir 
hier durchaus nicht behaupten, dass jede Veranlassung, um ge¬ 
rade diese Stellung anzunehmen, ausgeschlossen werden muss. Im 
Gegentheil, wenn wir das Entstehen des Krankheitsbildes, speciell 
in unserem Falle, untersuchen, dann ist darin etwas Naturgemässes, 
etwas Logisches zu finden. Die Patientin fiel und verletzte ihre 
linke Hüfte, blieb eine Zeitlang bettlägerig und bemerkte darauf 
beim Oehen, dass ihr linkes Bein zu kurz war, verwendete dann die 
Krücke, und erst nachdem sie dieses Hilfsmittel wegliess, entdeckte 
sie, dass sie schief war. Sie hielt augenscheinlich ihr Bein in Ad- 
ductionsstellung, wodurch die scheinbare Verkürzung kam, und ihre 


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Hysterische Hüfthaltung, Typus Wertheim-Salomonson. 


459 


Hüfte aufgezogen, ihre Crista ilei dem Rippenbogen genähert, wo¬ 
durch ihre Skoliose entstand. Diese Haltung also, das Bein in der 
Richtung nach der Medianlinie und etwas aufgezogen, der Rumpf 
seitlich über den HUftkamm gebogen, ist ein Stellung, die man ein¬ 
nimmt, wenn man sich an einer Seite und speciell am oberen Bein, 
an der Hüfte oder in der Weiche verletzt hat. Sie tritt reflectorisch 
auf und ist eine Art Schutz oder dazu bestimmt, das Mitleid zu 
erwecken und die Verletzung bedeutend scheinen zu lassen. Ganz 
in Uebereinstimmung hiermit bringt man seinen Arm in eine ge¬ 
bogene Stellung gegen den Körper gedrückt, zieht man seine 
Schultern in die Höhe oder bringt seinen Hals in eine seitliche 
Richtung bei einer Verwundung des oberen seitlichen Körpertheiles. 

Nun, Patientin nahm die zuerst beschriebene Haltung reflec¬ 
torisch ein, und ihre hysterische Psyche veranlasste, dass diese Hal¬ 
tung bewahrt blieb — zunächst im Bette, dann mit der Krücke und 
zuletzt sogar, als sie ihre Tactik änderte und gerade ihr krankes 
Bein hauptsächlich gebrauchte, um aufzustehen und damit zu gehen. 
Seitdem wurde diese Haltung — Adduction des Beines, seitliche 
Biegung des Rumpfes — festgehalten, und zwar mit der hierzu er¬ 
forderlichen Kraft. 

Lassen wir die Patientin in Ruhe, dann braucht kein Muskel 
sich zu spannen, denn die Schwerkraft besorgt die Haltung; jedoch, 
trachten wir diese zu ändern, dann wird uns das durch eine schnell 
auftretende Muskelspannung unmöglich gemacht. So erfahren wir 
Widerstand bei unseren Bemühungen, das Bein aus der Adductions- 
stellung zu bringen, oder die seitlich gekrümmte Wirbelsäule zu 
strecken; jedoch ist es hierbei sehr auffällig, dass die Vorstellung 
der Kranken eine grosse Rolle spielt. Gehen wir nämlich so zu 
Werke, dass die Patientin ihre Haltungsveränderung nicht begreift, 
dann kann sie sogar die Adductionsstellung des Beines, als auch die 
Skoliose aufheben. Steht sie nämlich unten und mit der convexen 
Seite ihres Rückens gegen einen hohen Tisch gelehnt, und fordert 
man sie auf, sich seitwärts über den Tisch zu beugen, dann ge¬ 
schieht das ohne Mühe oder Widerwillen. Ihr Rücken ist voll¬ 
ständig gerade, aber das Bein nimmt, wenn möglich, einen noch 
stärkeren Grad der Adduction ein; ersucht man sie nun, auch diese 
Standabweichung zu unterlassen, dann behauptet sie, das nicht zu 
können, „weil ihr das zu viel Schmerzen in der Hüfte verursache“. 

Steht Patientin dahingegen vollständig aufrecht, auf ihrem 


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460 Schoemaker. Hysterische Hüfthaltimg, Typus Wertheim-Salomonson. 

linken Bein ruhend, und ersuchen wir sie, das rechte Bein daneben 
zu stellen und zu strecken, dann bringt sie dabei ihr Becken in 
horizontale Stellung, ohne zu wissen, dass sie dabei die Adduction 
ihres linken Beines auf hebt. Ihr Oberkörper geht bei dieser Mani¬ 
pulation stark nach links und es ist unmöglich, diese Neigung zu 
unterlassen, »weil dies in der linken Weiche zu grosse Schmerzen 
verursacht“. 

Alles deutet also darauf hin, dass wir es mit einer Erkrankung 
zu thun haben, deren Ursprung in der Psyche zu suchen ist 
Diese bewirkt es, dass die einmal angenommene Haltung beständig 
wird, während die Thatsache, dass die Patientin speciell diese 
Haltung annimmt, theils von ihr, theils auch von einer ausserhalb des 
Organismus liegenden Ursache abhängig ist. 


Literatur. 

Germant, üeber hysterische Skoliose. Berlin 1897. 

Tölken, Zeitschr. f. klin. Medicin. Supplement Heft 2 Bd. 17, 1890. 
Wertheim-Salomonson, Hysterische heuphouding met Scoliose. Ned. 
tydschr. v. Geneesk. 3. Febr. 1900. 


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XIX. 


Aus der orthopädischen Klinik der Kaiserlich 
medicinischen Militäracademie in St. Petersburg. 


Billige Schutzverbände. 

Von 

Dr. Wilhelm Sender. 

Mit 3 in den Text gedruckten Abbildungen. 

Wer mit der Literatur der verschiedenen Materialien, die für 
Schutzverbände vorgeschlagen werden, bekannt ist, wird nicht leugnen, 
dass schon die grosse Menge derselben den richtigsten Beweis dafür 
liefert, dass bis jetzt noch kein Material vorgeschlagen worden ist, 
das allen Anforderungen des prakticirenden Arztes entsprechen würde, 
und da ist ein jeder neue Vorschlag willkommen und um desto lieber, 
wenn er sich dem Ideal unserer heutigen Ansprüche nähert. Hier 
gleich will ich bemerken, dass bei uns in Russland Vieles in dieser 
Hinsicht schon gemacht worden ist, und dass so manches für die 
ausländische Literatur, wegen ünkenntniss der Sprache, verloren geht. 
So hat auch schon bereits vor 3 Jahren Herr Prof. H. Turner 
seinen Verband in der Medicinisch-Chirui*gischen Oesellschaft hier 
in Petersburg demonstrirt und ist bis jetzt noch diesbezüglich keine 
Bemerkung in der ausländischen Literatur erschienen, daher sei es 
mir erlaubt, hier näher darauf einzugehen. 

Der neue Tutor ist, im Grunde genommen, eine Vervollkomm¬ 
nung der Walltuch'schen Verarbeitung des Holzes. Dieser, sei in 
Kürze bemerkt, klebte gleichmässig dünne, in verschiedenen Rich¬ 
tungen gelegte Hobelspäne in den Leimverband, um ihm eine grössere 
Festigkeit zu geben. Der zu beschreibende Verband besteht auch 


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462 


Wilhelm Sender. 


aus Holz, Leim, Binden und Tricot. Nur sind die drei ersten Ingre- 
dientien auf eine besonders schöne Art mit einander verbunden. Prof. 
Turner kam auf den Gedanken, nicht gewöhnliches Holz für den 
Verband zu verwenden, sondern Holz, das auf chemische Weise zur 
Cellulose resp. Cellulosewolle umgearbeitet ist und die, wie bekannt, 
beim gewöhnlichen Verbände, wie Watte, sich vollkommen bewährt 
hat. Wir in Russland nennen diese Cellulose wolle schlechtweg 
Lignin oder Holzwatte. Sie hat bei uns, ihrer Billigkeit wegen, 
vielfache Anwendung. Prof. Turner hat nun das dem Holz chemisch 
entnommene Material im Lignin durch Leim ersetzt und die einzelnen 
Bestandtheile im Verbände miteinander, sozusagen einverleibt, da 
der fertige Verband eine homogene Masse vorstellt und die Eigen¬ 
schaften des gewöhnlichen Holzes wieder erhält. Wenn guter Leim 
gebraucht worden ist, so riecht auch der Verband wenig und nur 
im Verlauf der ersten Tage. Wie wird nun der Tutor verfertigt? 
Vom kranken Glied wird anfangs in gewohnter Weise ein Gips¬ 
modell hergestellt. Wenn es gemacht ist, so wird es mit Tricot 
überzogen ^). Gleichzeitig ist auch guter Tischlerleim im Leimkessel 
(mit doppelter Wandung) fertig gekocht*) und heiss gehalten. In 
diesen heissen, flüssigen Leim, der mit einem harten Borstenpinsel 
von ca. 2*/* cm Durchmesser fleissig gerührt wird, werden kleine 
Fetzen Lignin geworfen und der Leim fortwährend gemischt, bis er 
eine breiartige Consistenz erhält. Dann wird mit dem Zulegen von 
Lignin aufgehört, das Ganze aber warm erhalten. Damit das Tricot 
am Modell nicht kleben bleibt, wird letzteres, vor dem üeberziehen 
in Wachspapier gewickelt. Nun wird das Tricot von aussen mit 
einer Schichte gewöhnlicher Mullbinde^) umwickelt und zwar so, 
dass die einzelnen Bindentouren die höherliegenden etwas decken. 
Jetzt erst kommt der heisse Leim darauf, der mit dem Pinsel in 
der Richtung der Bindentouren aufgestrichen wird. Das Aufstreichen 
muss nicht weiter als auf eine Handbreite circulär gemacht werden, 
um gleich darauf die Möglichkeit zu haben, mit der flachen Hand, 


') Auf der Klinik sind fertige Tricotschlüuche von verschiedenem Durch¬ 
messer vorräthig. 

Nachdem der Leim 24 Stunden unter kaltem Wasser aufgequollen ist, 
wird das überflüssige Wasser abgegossen und dann nur der gequollene Leim 
gekocht. 

*) Man kann auch anderen Stoff gebrauchen, nur muss er nicht zu dicht 
sein. Appretirte und zu dichte Binden taugen nicht dazu. 


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Billige Schutzverbände. 


463 


wieder in Richtung der Binden den noch warmen Leim gleichmässig 
und stark einreiben zu können. Dabei wird man bald merken, dass 
sich ein leichter seifenartiger Schaum bildet. Wenn stellenweise zu 
wenig Leim ist, um den Verband zu durchtränken^), so trägt man 
ihn gleich nachträglich auf. Hat sich nun der Schaum gebildet, ist der 
Leim stark eingerieben, sind die Binden gut durchleimt und hat man 
die Falten der Binden mit der Hund zugleich ausgeglättet, so streicht 
man eine neue Portion Leim auf eine Handbreite circulär weiter etc., 
bis das Oanze durchleimt ist. Nun klebt man ebenso eine zweite 
Etage Mullbinden darauf und achtet, dass sich keine Falten bilden; 
zerschneidet nöthigenfalls die Binde und fängt wieder an. Ist die 
zweite Etage fertig, so trägt man, wieder in derselben Weise, den 
Leim auf, reibt ihn wieder ein und, wenn nöthig, applicirt noch 
eine dritte Etage Binde, die wiederum mit Leim bedeckt und ein¬ 
gerieben wird, und überzieht das Ganze mit Tricot. Es ergibt sich 
zum Schluss: eine Lage Tricot von innen, 2—3 Etagen (für Cor- 
sette) durchleimte Mullbinden und eine Lage Tricot von aussen. 
1—2 Tage lang lässt man nun den Verband bei Zimmertemperatur 
trocknen, und wenn er gut trocken ist, so durchschneidet man ihn 
der Länge nach mit dem Messer und passt ihn dem Kranken an, 
wobei er eventuell zu lang erscheinen könnte. Alles Ueberflüssige 
wird mit dem Messer leicht abgetragen. Der Verband wird nun 
einem Krankenwärter oder Flickschuster übergeben, damit er die 
Ränder mit Leder überzieht, die nöthigen Schnürhaken oder Oesen 
anbringt, Luftlöcher im Verbände durchschlägt, und der Verband ist 
fertig. Wenn möglich, wird dies schon von vornherein von einem 
Krankenwärter gemacht. 

Ein solcher Verband ist billig, leicht, federt genug, um ihn 
bequem anlegen zu können, und passt herrlich dem Körper an — 
genug, er ist es werth, dass er bekannt werde, um vom Praktiker 
bei armen chronischen Kranken verwandt zu werden. Auch im 
Kindesalter, wo Verbände überhaupt oft genug gewechselt werden 
müssen, könnten solche Tutoren verwerthet werden, um den Eltern 
der kranken Kinder manches Geld zu ersparen. Der Verband ist 
dauerhaft. So hat ihn z. B. ein unartiger Knabe am Sprunggelenk 


*) Bei einer gewissen Geschicklichkeit wird man bald erlernen nur die 
Binden zu durchtränken und zwar um so viel, dass das darunter liegende Tricot 
gut und überall anklebt, ohne dass es aber selbst vom Leim durchtränkt wird. 

Zeitschrift für orthop&disohe Ohimrgle. Vin. Band. 31 


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464 


Wilhelm Sender. Billige Schuizverbände. 


über 1 Jahr lang getragen, ist mit ihm umhergegangen, ohne ihn an 
der Ferse zu durchreiben. 

Die drei beifolgenden Photographien stellen: die eine den Ver¬ 
band bei Coxitis (Fig. 1), die andere einen Tutor fürs Sprunggelenk 


Fig. 1. Fig. 3. 



(Fig. 2), die dritte (wo ich einen Holzspan quer eingesteUt habe, uni 
das Federn zu demonstriren) einen Schutzapparat für den Ellbogen 
eines Kindes vor (Fig. 3) — alle sind aus der Praxis entnommen. 


Zum Schluss spreche ich dem Herrn Prof. Heinrich Turner 
für die Erlaubniss dieser Mittheilung meinen Dank aus. 


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XX. 

Ans Prof. Dr. A. Hoffa’s chimrgiscli-orthopädisclier 

Privatklinik. 

lieber die Trichterbrust, 

Von 

Dr. Chlumsky^ 

Assistenzarzt der Klinik. 

Mit 8 in den Text gedruckten Abbildungen. 

Vor ca. 40 Jahren beschrieb ein unbekannter Autor in Gazette 
des höpitaux (1860) unter dem Titel „Difformit^ th.oracique“ 
eine Missbildung der Yorderen Thoraxwand, deren Form er mit einem 
Trichter verglich: „A la naissance, il existait, au niveau de Tex- 
tr^mite interieure du stemum, une petite fossette qui, ä partir de 
12 ans, s’excava davantage en forme d*entonnoir, jusqu’ä pouvoir 
admettre une tete d’enfant.“ Einige Jahre später machten auch andere 
Autoren (Luschka, Eggel, Flesch, Hagmann, Ebstein etc.) auf 
diese Difformität aufmerksam, stellten ihre Pathologie fest und ver¬ 
suchten auch, ihre Entstehung zu erklären. Ebstein als erster (1880) 
hat derselben den Namen „Trichterbrust“ beigelegt. Alle diese 
Arbeiten machen aber den Eindruck, besonders indem sie nur wenige 
Fälle beschreiben, als ob die Trichterbrust eine seltene DifiFormität 
wäre. Auch ihre Angaben und Beschreibungen stimmen oft nicht 
recht miteinander. Aus diesem Grunde benutze ich gerne auf Auf¬ 
forderung meines hochverehrten Chefs, Herrn Prof. Dr. Hoffa, 
— dem ich auch für die Ueberlassung des Materials bestens danke — 
die günstige Gelegenheit, über einige fast zu gleicher Zeit in der 


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4G6 


Chlumsky. 


Klinik anwesende Fälle von Trichterbrust zu referiren und unsere 
Erfahrungen über diese Affection mit den in der Literatur bekannten 
zu vergleichen. 

Unter dem Namen ^Trichterbrust* (Ebstein), ,,Thorax en en- 
tonnoir“ der Franzosen, „Funnelshaped-breast* der Engländer, »Pecho 
en embudo" (0. Luco, J. Mendez) der Italiener, verstehen wir eine 
ovale oder circulaire, fast trichterförmige Vertiefung der mittleren 
vorderen Brustwand, deren tiefste Stelle in dem Sternum selbst liegt, 
gewöhnlich etwas oberhalb des Processus xyphoideus oder an der 
Ansatzstelle desselben. Diese Vertiefung wird durch die bogenförmige 
Verbiegung des Sternums mit der Convexität nach hinten und der 
vorderen Rippenenden mit der Convexität nach vorne gebildet. Es 
handelt sich demnach um eine reine Difibrmität der vorderen Brust¬ 
wand, nicht wie es L. Picquä und Golombani beschreiben, bloss 
um eine Difformität des Sternum, indem sie die Verbiegung des 
Sternum als primär, alles andere als secundär betrachten. Die Ver¬ 
biegung des Sternum und die derselben entsprechende Verkrüm¬ 
mung der vorderen Rippenenden kommen zu gleicher Zeit vor, die 
eine bedingt die andere, und kann nur schwer bloss eine von diesen 
als primär betrachtet werden. Ein Hinweis auf die ähnlichen Ver¬ 
hältnisse bei der Kyphose oder Skoliose der Wirbelsäule ist hier 
nicht angebracht. Bei diesen Erkrankungen sehen wir in dem An¬ 
fangsstadium der Affection reine Veränderungen der Wirbelsäule, 
wozu die secundären Verbiegungen der Rippen erst später sich ge¬ 
sellen. Bei der Trichterbrust sehen wir aber, dass die Verkrüm¬ 
mungen des Sternum und der vorderen Rippenenden zu gleicher 
Zeit sich einstellen, ja, wie gesagt, die eine ist ohne die andere 
nicht denkbar. Diese Annahme bestätigt ausser anderen auch einer 
unserer Fälle (Nr. 3), bei welchem die Veränderungen an den 
Rippen üebergewicht haben, indem sie ausser der trichterförmigen 
Vertiefung noch zwei laterale Dellen bilden. 

Die äussere Form der Trichterbrust ist bei weniger fort¬ 
geschrittenen Fällen — und die bilden die Mehrzahl — oval; in 
schwereren nimmt sie eine mehr circuläre Gestalt an, was sich aus 
der Lage der Difformität leicht erklären lässt. Bei seichter Ver¬ 
tiefung sind auch die vorderen Rippenenden nur wenig verbogen, 
und da die Verbiegung des Sternum länger ist, als die der letzteren, 
so ist die äussere Form der Grube oval. Mit zunehmender Tiefe 
der Difformität wird auch ein grösseres Stück der Rippen verbogen — 


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lieber die Trichterbrust. 


467 


die Breite der Difformitat nimmt zu; die Länge der Vertiefung kann 
aber dementsprechend nicht grösser werden, da sie gewissennassen 
auf das kurze Sternum angewiesen ist. Infolge dessen geht die ovale 
Form der Difformitat in die circuläre über. 

P. Marie, Fahre, Picqu^ und Colombani, die ihre Auf¬ 
merksamkeit schwereren Trichterbrustformen widmeten, beschreiben 
die äussere Gestalt der Vertiefung als circuläre. Es gibt aber auch 
Fälle mit geringer Tiefe der Difformität, deren äusserer Umfang 
ebenfalls circulär ist. 

Die Tiefe der Difformität nimmt von oben nur langsam zu. 
In einigen unserer Fälle fing sie erst an der 2. bis 3. Articulatio 
stemocostalis an. In dem Falle von Picqu^ und Colombani war 
ihr Anfang schon an der Incisura sterni. Andere Autoren (Ebstein) 
haben sie erst beim Angulus Ludovici entstehen gesehen, und 
dieses soll sogar die Regel bilden. Es scheint aber, dass auch hier 
die Hochgradigkeit der Difformität entscheidend ist — je schwerer 
der Fall ist, desto grössere Knochenstücke sind verbogen. In dem 
schwersten unserer Fälle (Nr. 1) war das Sternum ebenfalls total 
verbogen. Das untere Ende der Difformität findet man an verschie¬ 
denen Stellen: in leichteren Fällen endigt die Vertiefung schon einige 
Centimeter unterhalb des Processus xyphoideus, in den schwereren 
reicht sie bis in die Mitte zwischen dem Nabel und dem Sternum. 
Nach Picqu^ und Colombani soll das untere Ende der Depression 
in den meisten Fällen 12 cm oberhalb des Nabels liegen (?): „il est 
situ^ (le bord inf^rieur), en g4n4ral, ä 12 centim. au-dessus de Tom- 
bilie.“ Der tiefste Punkt der Difformität, die Spitze des Trichters, 
befindet sich meistens etwas unterhalb der Linea intermammillaris. In 
einem unserer Fälle lag er direct in dieser Linie. Bei dem Falle 
von Picqu^ und Colombani entsprach er etwa der Articulatio meso- 
stemoxyphoidealis, was wir ebenfalls einigemal beobachten konnten. 
Dieser Punkt ist entweder direct in der Sagittallinie des Körpers 
gelegen, oder etwas seitwärts, indem er dem Rande des Sternum, 
einer Articulatio stemocostalis (Mendez) entspricht. Die ganze Ver¬ 
tiefung ist ebenfalls entweder strict medial, was für die meisten Fälle 
gilt, oder etwas zu einer Seite verschoben (unser Fall 1). Diese 
Verschiebung ist aber selten bedeutend. Der untere Abhang der 
Vertiefung ist meistens etwas steiler als der obere. In einem unserer 
Fälle (Nr. 3) war es aber gerade umgekehrt. 

Auch die Tiefe der Depression variirt stark. Die typischen 


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Ohlumsky. 


Fälle zeichnen sich durch grosse Tiefen der Difformität aus: 8 —9 cm 
(unbekannter Autor der Gaz. des höp.), 7 cm (Ebstein), Sägern 
(Ramadies und Särieux), 6^2 cm (Piequd und Colombani), 
5 cm (unser Fall Nr. 1 ); weniger ausgeprägte Fälle haben die Tiefe 
von kaum 1cm. Piequ^ und Colombani wollen die Fälle mit 

Fig. 1. 



einer Tiefe der Depression von weniger als IV 2 cm direct aus der 
Reihe der Difformität ausscheiden und sie als „Anomalie en in- 
fundibulum“ bezeichnen. In unseren Fällen betrug die Tiefe der 
Grube IV*» IV*» 2V*» 3 und 5 cm. Die meisten haben also keine 
zu grosse Tiefe gehabt, ja die zwei ersteren stehen sogar nach dem 
Gesagten an der Grenze der Difformität. Wir rechnen sie doch 
hierher, da uns der ganze Charakter der Missbildung massgebender 
erscheint, als ein einziges Sympton derselben — die so variirende 
Tiefe. Uebrigens sind die von einzelnen Autoren vorgenommenen 


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lieber die Trichterbrust. 


469 


Tiefemessungen unserer Ansicht nach nicht ganz einwandfrei, da 
sie yerschiedentlich ausgeführt werden. 

Picqud und Golombani wollen die Tiefe der Depression 
durch eine Verticale bestimmen, die yon dem tiefsten Punkte der 
Difformität zur Linea intermammillaris gezogen wird. Nach ihrer 
Abbildung (Nr. 1) bestimmen sie aber die Tiefe, indem sie die Ent¬ 
fernung des tiefsten Depressions¬ 
punktes des betreffenden Indivi¬ 
duums von dem entsprechenden 
eines gleichalterigen normalen Indi¬ 
viduums berechnen; eine Messung, 
die vielen Schwankungen unter¬ 
liegt, da es sich auch sonst um 
nicht ganz normale, sondern um 
unter dem Niveau der mittleren 
Entwickelung stehende Individuen 
handelt. P. Marie berechnet die 
Tiefe der Depression, indem er die 
Entfernung der tiefsten Stelle der 
Trichterbrust von einer Verticalen 
bestimmt, die von dem prominen¬ 
testen Punkte des Sternums ober¬ 
halb der Difformität in stehender 
Stellung des Patienten nach unten 
geht (Fig. 2); ausserdem wird nir¬ 
gends erwähnt, ob die Messung im 
Exspirium oder Inspirium des Pa¬ 
tienten ausgeführt wurde. Im In¬ 
spirium wird die Difformität tiefer 
und das manchmal um etliche 
Centimeter. Ich habe deswegen die Tiefe der Depression so be¬ 
rechnet, dass ich in liegender Lage des Patienten nach gewöhnlichem 
Exspirium die Länge einer Verticalen von dem tiefsten Punkte der 
Difformität bis zum Schnittpunkt einer Linie maass, welche die beiden 
äusseren Ränder der Depression an dieser Stelle tangirte (Fig. 3). 
Auf diese Weise erhielt ich vielleicht etwas niedrigere Zahlen als 
die anderen Autoren, doch glaube ich, auf diesem Wege die ver¬ 
änderten Verhältnisse besser festgestellt zu haben. 

Die Capacität der Vertiefung in Cubikcentimetem Wasser 


Fig. 2. 



du, M. Marie. 


et epigastrijue 
ch£M an maUid 


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470 


Chlumsky. 


ausgedrückt beträgt einige 50 ccm in den weniger ausgeprägten Fällen 
und erreicht bei den hochgradigen bis 170 ccm und mehr (Picqu^ 
und Colombani). 

Wenn wir jetzt die einzelnen Theile, die an der Difibrmität 
mitbetheiligt sind, näher betrachten, so kommen wir zuerst zu dem 
Sternum. Dieses ist nach hinten kyphotisch verbogen und zwar 

Fig. 3. 



fieite seiic 


entweder total oder nur in seinem unteren Theile. Die Verbiegung 
schreitet zuerst nur langsam nach hinten vor und wird gegen das 
Ende des Mesosternum schärfer. Der Processus xyphoideus wird nur 
wenig oder gar nicht verbogen und nach vorne und unten gerichtet. 
Gewöhnlich ist er in seinem Wachsthum etwas zurückgeblieben. 

An die kyphotische Deviation des Sternum reihen sich in 
einzelnen Fällen auch seitliche Verbiegungen desselben au: so war das 
Sternum in unserem ersten Falle zickzackförmig verbogen. Ebstein 
beobachtete Verbiegung des Mesosternums nach links, Mendez 
Torsion und Deviation nach rechts. In der Mehrzahl der Fälle bleibt 
aber die Verkrümmung nur auf die charakteristische Kyphose be¬ 
schränkt. 

Die Länge, Breite und sonstige Form des Sternum weichen 
nur selten von der Norm ab. In dem Falle von Hag mann betrug 
die Länge des Sternum nur 74 mm bei einem Kinde von 9 Jahren 
anstatt der normalen 115 mm. Ramadier und L^rieux haben 
bei ihren Fällen grössere Länge des Sternum gefunden als normal 
(210 und 195 anstatt der normalen 170). In unseren Fällen habe 
ich nur sehr kleine Abweichungen von der Norm gefunden; nur in 
einem Falle war die Länge subnormal 95 anstatt 110—130 mm. 

Die Breite des Sternum zwischen 2. bis 3. Rippe gemessen betrug 
in unseren Fällen ca. 20 mm, was ich bei gleichalterigen gesunden 
Kindern ebenfalls gefunden habe. Was die sonstige Configuration 
anbetriflFl, so ist die Verkümmerung des Processus xyphoideus fast 


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lieber die Triebterbnist. 


471 


durchweg constatirt worden. Ebstein beschreibt einen Fall, bei 
dem ein Theil der rechtsseitigen Stemalleiste mit dem correspon- 
direnden 6. Rippenknorpel fehlte, was zur dextroconvexen Skoliose 
führen sollte. Nach Froriep und Ruge^) ist das Brustbein als ein 
Product der Rippen anzusehen. Diese Annahme wird durch den vor¬ 
liegenden Fall bestätigt — mit fehlendem Rippenknorpel fehlt auch 
der dazu gehörige Brustbeintheil. 

Die vorderen Rippenenden sind mit der Convexität nach 
vorne oder nach vorne und innen verbogen, und das desto mehr, je 
näher sie dem tiefsten Punkte der Depression anliegen — sonst aber 
zeigen sie nichts Abnormes. Die Verbiegung ist zu beiden Seiten 
des Sternum gleich gross oder, so wie in unserem ersten Falle, an 
einer Seite schärfer. Diese Verbiegungen erinnern stark an die¬ 
jenigen des entwickelten Skoliosenbuckels. Mit Ausnahme des er¬ 
wähnten Falles von Ebstein wurde sonst keine auffallende Ab¬ 
normität an den Rippen gefunden. Dass die Verkrümmung nach 
vorne mit leichter Veränderung der normalen Rippentorsion ver¬ 
bunden ist, ist selbstverständlich. 

Die Haut und die Musculatur an der Depressionsstelle 
war in allen unseren Fällen der des übrigen Körpers entsprechend 
entwickelt. 

Ausser der Vertiefung der vorderen Brustwand finden wir an 
dem Thorax dieser Fälle noch andere Abweichungen von der 
normalen Form. So bestand bei drei unserer Fälle (1, 2, 5) leichte 
Dorsalskohose und bei einem weiteren Fall (4) leichte Kyphoskoliose. 
Nur einmal war keine Abnormität vorhanden (Fall 3). Unbekannter 
Autor Oazette des höpitaux, Ebstein, Piequ^ und Colombani 
fanden ebenfalls bei ihren Fällen leichte Skoliosen, Mendez und 
Ebstein dorsale Kyphose und Lordose. Andere Autoren berichten 
über keine Abweichungen in dieser Richtung. 

Bei detaillirten Messungen finden wir weiter fast in allen 
Fällen, dass der Brustumfang dem tiefsten Punkte der Difibrmität 
entsprechend kleiner und der transversale Brustdurchmesser grösser 
ist als normal. An anderen Stellen ist der Umfang ziemlich normal, 
und auch die Verkleinerung an der tiefsten Stelle der Grube ist 
nicht bedeutend. Dagegen ist der transversale Durchmesser ge- 


*) Bade, Archiv für mikroskopische Anatomie und Entwickelungs¬ 
geschichte 1899, Bd. 55. 


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472 


Chlumsk^. 


wöhnlich grösser als normal. In unseren Fällen, Kinder von 
3—12 Jahren, betrug er 17—25 cm. Nach Rillet und Barthez 
(Chaperd) beträgt er bei gesunden Kindern von 6 Jahren 18 cm, 
von 11—15 Jahren 20—21 cm. Es handelte sich also um eine 
Differenz von einigen Centimetern, Eggel, Flesch, Hagmann, 
Ebstein berichten dasselbe, Ramadier und L^rieux, Fdr^ und 
Schmidt, Picquö und Colombani fanden fast normale Zahlen. 
Der anterioposteriore Durchmesser ist meistens merklich kleiner als 
normal. Infolge dieser Grössenunterschiede ist auch der Index 
thoracis, d. h. das Verhältniss zwischen dem transversalen Durch¬ 
messer zu dem anterioposterioren Durchmesser, grösser als bei 
gesunden normalen Leuten. Nach Weissbergerbeträgt dieser 
Index bei normalen erwachsenen Menschen 140. In dem Falle von 
Picquö und Colombani war er 140, in unseren Fällen betrug er 150, 
199, 200, 227, 230, normal nach Rillet und Barthez 140—150. 
Nicht selten prominiren auch die beiden Thoraxhälften (unser Fall 1) 
ungleich nach vorne, indem das Infundibulum mehr nach der einen 
oder der anderen Seite verschoben ist. Die Folge davon ist auch 
Ungleichheit der beiden lateralen anterioposterioren Durchmesser, die 
manchmal sogar einige Centimeter betragen kann. 

Was die inneren Thoraxverhältnisse anbelangt, so ist 
in leichten Fällen von Trichterbrust fast gar nichts Abnormes zu 
finden. In schwereren Fällen dagegen ist das Herz mehr nach links 
verschoben, was man percutorisch, sowie auch radiographisch (Picqu^ 
und Colombani) constatirte. Der unbekannte Autor Gazette des 
höpitaux fand am Herzen seines Patienten diastolisches Geräusch: 
„Le coeur ötait döplacä en haut et pr^sentait un double souffie dia- 
stolique." Ramadier und Lörieux constatirten bei ihrem 9jährigen 
Idioten: „Un retr^cissement aortique avec hypertrophie. Le coeur 
battait avec violence dans le cinqui^me espace intercostale.In 
einem mittelschweren Falle von Dr. Böcl^re (Picquö und Colom¬ 
bani) wurde das Herz infolge einer aufgetretenen Pleuritis exsudativa 
stark nach vorne und rechts gedrängt. Das nach hinten prominirende 
Brustbein stand aber diesem Ausweichen des Herzens entgegen, was 
zu starken Circulations- und Athmungsbeschwerden führte. Wäre in 
einem solchen Falle rasche chirurgische Hilfe nicht bei der Hand, 
so könnte auch das Leben des Patienten schwer bedroht werden. 


') Picque und Colombani, Revue d’orthop^die 1900, Mai. 


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üeber die Trichterbrust. 


473 


Wie wir soeben angedeutet haben, ist auch der innere 
anterioposteriore Brustdurchmesser (hintere Fläche des 
Brustbeins bis vordere Fläche der Wirbelsäule) gewöhnlich kleiner 
als normal. 

Die Lungen zeigen fast keine Abweichungen: ihre respira¬ 
torische Capacität ist nach F. Marie, Piqu^ und Colombani fast 
normal, nach Chapard etwas vermindert. Diese Bestimmungen 
habe ich leider aus äusseren Gründen nicht ausftthren können — 
dagegen percutorisch sowie radioskopisch fanden wir an den inneren 
Brustorganen keine Anormalitäten. 

Neben den Veränderungen am Thorax bestanden bei unseren 
Fällen noch weitere Gebrechen: Fall 4 litt an einer doppelseitigen 
congenitalen Luxation, Fall 2 an congenitaler cerebraler Hemiplegie; 
mit Ausnahme eines Falles (Nr. 3) waren alle anderen geistig weniger 
entwickelt, als man es in ihrem Alter erwarten könnte. Patient 
von Ebstein litt an Epilep.sie, Contractur des linken Unterschenkels 
und Elumpfuss; Patient von Hundmüller war geistig schwach; 
Patient von Klemperer war Epileptiker, von Ramadier und 
Sörieux dement; Patient von Capitan war taub, von F^rö und 
Schmidt Epileptiker, von Lugo Orrego mit Sprachstörungen be¬ 
haftet etc. 

Das subjective Befinden der Patienten war, soweit es durch 
anderweitige Erkrankungen nicht gestört wurde, fast immer gut — 
von Seiten der Trichterbrust bestanden selten Beschwerden. Die 
Difformität wurde nur gelegentlich bei Consultation wegen ander¬ 
weitigen Erkrankungen entdeckt. 

Nach Ramadier und Sörieux soll die Trichterbrust haupt¬ 
sächlich Männer befallen. Von unseren Patienten sind aber 4 weib¬ 
lichen und nur 1 männlichen Geschlechts. Die Fälle von Ebstein, 
Herbst, Capitan betrafen ebenfalls Weiber. 

Die Trichterbrust ist in der Mehrzahl der Fälle angeboren. Sie 
wird als solche fast immer direct nach der Geburt constatirt, nur 
ist sie öfters zuerst unbedeutend und kann infolge dessen übersehen 
werden. Viele leben sogar im Glauben — besonders wenn es sich 
um leichtere Formen handelt — dass die Vertiefung der vorderen 
Brustwand normal ist. Erst das Zunehmen der Difformität mit dem 
vorschreitenden Alter und dann cosmetische Rücksichten machen die 
Patienten auf die Depression aufmerksam. In diesen Fällen tritt 
die Trichterbrust als primäre Affection auf; in einer kleinen Reihe 


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474 


Chlumsky. 


anderer Patienten wird sie erst im späteren Alter acquirirt, und da 
tritt sie fast durchwegs als eine Theilerscheinung anderer Krank- 
heiten auf, so nach Chapard bei der Stenose der oberen Luft¬ 
wege und der Rhachitis, in einem Falle infolge eines Mediastinal- 
sarcoms. Je 1 Fall von Ebstein und Flesch bekam sie nach einer 
cerebralen eventuell einer infectiösen Erkrankung. 

Aetiologie. lieber die Entstehungsursache der Trichterbrust 
herrschen — wie es schon einmal in der Medicin die Sitte ist — 
die verschiedensten Ansichten. Einige A utoren (ZuckerkandI. 
flartmann)^) sehen in dem intrauterinen Druck durch den stark 
nach vorne gebeugten Kopf auf die vordere Brustwand den Grund 
für die Entwickelung der Vertiefung. Diese Annahme scheint mir 
für einzelne Fälle wenigstens wahrscheinlich zu sein. In dem ersten 
unserer Fälle sah man direct unterhalb der Incisura sterni eine flache, 
dreieckige, nach unten sich neigende Fläche, die in die typische, 
trichterförmige Vertiefung überging und gerade den Umrissen des 
Unterkiefers der Patientin entsprach. 

Ribbert erklärt die Trichterbrust durch den intrauterinen 
Druck von Seiten des Uterus, Gräffner durch zufällige Verletzungen 
in den letzten Schwangerschaftsmonaten. Beides ist ziemlich un¬ 
wahrscheinlich, da die AflFection hereditär sogar in mehreren Gene¬ 
rationen auftritt. 

Nach anderen Autoren ist eine entzündliche Erkrankung des 
Mediastinums oder andere pathologische Veränderungen sowie Ent¬ 
wickelungshemmungen der Brustorgane, des Mediastinums u. a. an 
der Trichterbrust schuld. So fand P. Marie bei einem Falle Stenosis 
aortae, was die Wahrscheinlichkeit dieser Theorie unterstützt. Doch 
im Grossen und Ganzen sind die Veränderungen an dem Mediastinum 
und auch den sonstigen Brustorganen (Sectionsfall von Ramadier 
und S^rieux) zu unbedeutend, was nicht der Fall sein könnte, wenn 
es sich um eine Erkrankung des Mediastinum etc. handelte, die die 
Einziehung der vorderen Brustwand herbeizuführen im Stande wäre. 
Nach Soemmering, P. Marie hat nicht einmal das gänzliche 
Fehlen einer Lunge, oder Aplasie eines Brustorgans auf die Form 
des Thorax einen Einfluss. Hagmann sieht in der abnormen Locke- 


0 Picqu4 und Colombani. 


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Ueber die Trichterbrust. 


475 


rang der chondrostemalen Articula(ionen die Erklärung für die 
Trichterbrust. 

Eggel, F^re und Schmidt, Fahre, Piqud und Colombani 
denken an die Störungen der Ernährung und Entwickelung des 
Brustbeins. Die verspätete Verknöcherung des Sternum lässt dem 
äusseren atmosphärischen Druck gerade hier eine schwache Stelle, 
welche durch den Athmungsmechanismus noch mehr resistenzunfähig 
wird und sich nach innen einzieht. Dieser Annahme steht aber 
wieder das congenitale Auftreten der Difformität entgegen. Die 
Depression ist meistens schon bei der Geburt da: weder der atmo¬ 
sphärische Druck, noch die Athmungsbewegungen konnten sie ver¬ 
ursachen, da sie schon deutlich zu erkennen war, bevor diese auf 
den Thorax einwirken konnten. 

Nimmt man aber doch an, dass die Difformität infolge der 
verspäteten Verknöcherung entsteht, so ist dadurch immer noch nicht 
die Erklärung über die primäre Entstehungsursache der Depression 
gegeben — über die angebliche verspätete Verknöcherung. Die 
einen suchen die Ursache dafür in congenitaler Lues — doch mit 
Ausnahme unserer 3 Fälle stand die Lues sonst ausser Spiel; die 
zweiten schieben die Schuld auf eine Form der Rhachitis. Diese 
Erklärung ist für die congenitalen Fälle unhaltbar—nach C o m b r y u. A. 
ist die Rhachitis eine acquirirte und nicht intrauterine Erkrankung. 
Nach Flesch, Schiffer soll die excessive Länge der Rippen, deren 
Entwickelung das Sternum im Wege steht, die Difformität bedingen. 
P. Marie hält diese Annahme für wahrscheinlich. 

Ebstein findet die Erklärung der Aetiologie der Trichterbrust 
in der vorzeitigen Ossification des Brustbeins — eine Annahme, die 
mit den vorletzt angeführten in diametralem Widerspruch steht. 
Dieses müsste in den meisten Fällen zur Verkürzung des Brustbeins 
führen — was aber nur in wenigen Fällen beobachtet wurde. 

Nach Klemperer und Eichhorst sollen endlich centrale 
nervöse Störungen die Affection hervorrufen. 

Bei der Beurtheilung der Frage über die Aetiologie der Trichter¬ 
brust muss man unserer Meinung nach hauptsächlich zwei Punkte 
im Auge behalten: erstens, dass die Affection als uncomplicirte reine 
Difformität fast durchwegs congenital ist, und zweitens, dass sie nicht 
eine einfache Kyphose des Sternum, sondern eine typische Difformität 
der vorderen Brustwand ist. Die zwei Momente werden uns auf die 
Analogie anderer congenitalen Difformitäten der ganzen Systeme 


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476 


Chlumsky. 


führen, wie z. B. an Pes equinus, Pes planus, Luxatio coxae u. s. w. 
erinnern und zu einer ähnlichen Erklärung ihrer Entstehung führen. 
Demnach ist die Trichterbrust entweder eine congenitale Druckdif- 
formität, wie es Zuckerkandl, Hagmann oder Ribhert erklären, 
oder sie ist eine Art Vitium primae formationis. Welche von diesen 
Annahmen richtig ist, oder ob vielleicht alle beide für geeignete 
Fälle gelten, wollen wir nicht entscheiden. Wir weisen noch auf 
Folgendes hin: Die Affection tritt bei fast durchwegs hereditär be¬ 
lasteten Individuen auf und ist öfter mit anderen congenitalen Körper¬ 
gebrechen verbunden: Bei den Ascendenten finden wir Psychosen, 
Alkoholismus, Tuberculose, Syphilis etc. vor, bei den Patienten selbst 
Skoliosen, Lordosen, Kyphosen, congenitale Luxation des Hüftgelenks, 
cerebrale Hemiplegie, Syndactilie, Plagiocephalie, Vitiligo, Chtyosis, 
Phimosis, Cryptorchismus u. s. w., was auf das Vitium primae forma¬ 
tionis hin weist. Die AfiPection ist weitbr hereditär; nach Klemperer 
trat sie in drei Generationen auf, sie ergreift mehrere Mitglieder 
derselben Familie (unsere Fälle 1—3, Herbst 2 Schwestern, Re- 
madier und Serieux 1 Bruder und 1 Schwester); Anthony 
(2 Zwillinge), was ebenfalls die letzte Annahme bestätigt. 

In einer kleinen Zahl der Fälle wird die Trichterbrust erst 
nach der Geburt acquirirt. Da tritt sie als ein Symptom anderer 
AflFectionen auf. So beschreibt Chapard einen Fall, wo sie infolge 
eines Mediastinaltumors entstand, und weiter einige Fälle, die auf 
rhachitischem Boden und auch theilweise infolge der Verengerung der 
oberen Luftwege ähnlich vielen anderen Brustanomalien entstanden: 
Bei einem Falle von Ebstein folgte sie im dritten Lebensjahre des 
Patienten auf eine cerebrale Erkrankung. Bei einem Fall von 
Flesch trat sie im neunten Lebensjahre zu gleicher Zeit mit der 
Epilepsie nach einer infectiösen Affection auf. In den letzten 2 Fällen 
haben sicher centrale Störungen die Affection hervorgerufen. 

Ob man auch die syringomyelitischen und myopathischen Ver¬ 
unstaltungen der vorderen Brustwand hierher rechnen soll, darüber 
sind die Autoren nicht einig. Entspricht die Form der Difformität 
der typischen Trichterbrust, so kann man sie unserer Meinung nach 
ohne weiteres auch hierher rechnen, natürlich mit der Voraussetzung, 
dass es sich nicht um eine selbständige Form, sondern um ein 
Symptom einer anderen primären Erkrankung handelt. 

Diagnose. Die Diagnose der Trichterbrust ist besonders in den 
entwickelten Fällen leicht: typische trichterförmige Vertiefung der 


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Ueber die Trichterbrust. 


477 


vorderen mittleren Brustwand mit der Kyphose des Sternums und 
den entsprechenden Verbiegungen der vorderen Rippenenden nach 
vorne, die an der tiefsten Stelle des Infundibulum am meisten aus¬ 
gesprochen sind. Die Trichterbrust ist in den meisten Fällen an¬ 
geboren und nur selten acquirirt. Von den angeborenen DiflFormitäten 
ist ihr am meisten die „ Rinnenbrust(Thorax en goutti^re) ähnlich 
und zwar nicht nur in der Form, sondern auch ätiologisch. Bei der 
Rinnenbrust bleibt aber das Sternum ganz gerade; die Verbiegung 
betrifiR; nur die vorderen Rippenenden, wodurch das Sternum nach 
hinten gedrängt und an der vorderen Brustwand eine Art Rinne 
gebildet wird. Es entsteht also keine trichterförmige, sondern eine 
rinnenförmige Vertiefung. 

Weiter könnte man die Trichterbrust mit verschiedenen mehr 
oder weniger ausgesprochenen congenitalen Dellen, Vertiefungen und 
Abflachungen der vorderen Brustwand verwechseln; sie sind aber 
unregelmässig, meistens sehr seicht, liegen seitlich und betreffen das 
Brustbein gar nicht oder nur ganz unbedeutend. 

Von den congenitalen Difforraitäten der vorderen Brustwand 
kommt noch die angeborene Hühnerbrust „Thorax en proue* 
Fig. 4 (P. Marie) in Betracht; bei dieser prominirt das Brustbein 
stark nach vorne und unten und der Thorax ist seitlich abgeflacht, 
wodurch ein triangulärer Qibbus entsteht. Nach P. Marie begleitet 
diese Affection congenitale Missbildungen des Herzens. Eine Ver¬ 
wechselung mit der Trichterbrust ist kaum möglich. 

Vonden acquirirtenDifformitäten der Brustwand sind die sy ringo- 
myelitischen an der ersten Stelle zu nennen: diese liegen nach 
Picquö und Colombani: „contrairement ä ce qui existe dans le 
Thorax d'Ebstein, ä la partie supärieure de la paroi ant^rieure; 
eile ne depasse pas le bord införieur des muscles pectoraux.“ 

Nach P. Marie kann auch progressive primäre Myopathie 
zur Bildung einer Vertiefung der vorderen Thoraxwand führen, die 
der Trichterbrust ähnlich sein kann: „II n’est pas rare non plus, 
de constater, au niveau du tices införieur du sternum, un döpres- 
sion assez analogue ä celle du „thorax eu entonnoir“. Diese Dif- 
formitäten sind öfters mit einer mehr oder weniger entwickelten 
Skoliose und Assymraetrie des Thorax verbunden. Es kommen hier 
ganz bizarre Formen zum Vorschein, wie z. B. die „taille de 
Guöpe“ Fig. 5 (P. Marie), bei welcher „la circonförence du thorax 
dans sa r^gion införieur (est) presque egale ä celle des rögion situöes 


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478 


Chlumsk^. 


au-dessous. De lä il räsulte que les hypochondres forment avec la 
base du thorax un angle rentrent, d’ou Taspect ,en taille de gu^pe^.. / 
Man könnte noch an einige professionelle Brustdifformitäten 
denken, wie die der Schneider, Schuster, Posamentirer, bei welchen 


Fig. 5. 



aber die unregelmässige atypische Form und die nicht allzu grosse 
Tiefe der Missbildung zur richtigen Diagnose führen. 

Therapie. Die Trichterbrust verursacht, soweit sie mit an¬ 
deren Erkrankungen nicht complicirt ist, nur selten Beschwerden. 
Alle unsere Patienten konnten sich gut bewegen und benehmen, als 
ob sie mit dieser AfiPection nicht behaftet wären. Fast übereinstim¬ 
mend berichten dasselbe auch andere Autoren — die AflFection wurde 
auch erst zufällig bei der Consultation wegen anderweitigen Erkran- 


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lieber die Tricbterbrust. 


479 


kyngen entdeckt. Therapeutisch wurde infolge dessen, soweit ich 
mich aus der mir zugänglichen Literatur überzeugen konnte, so gut 
wie gar nichts gethan. 

Bei Chapard finde ich die Beschreibung einer Behandlung 
mittelst Apparaten und gymnastischen Uebungen, die zwar nicht speciell 
gegen die Trichterbrust, sondern gegen alle Arten von Difformitäten 
des Thorax infolge der Stenose der oberen Luftwege empfohlen wird; 
die Trichterbrust wird aber in der Reihe dieser Affectionen eben¬ 
falls genannt. Chapard lässt die Patienten tiefe Exspirationen in 
ein Spirometer nach Furtudo, Heine (ev. Mathieu, de Joal etc.) 
machen, deren Ausgiebigkeit genau durch Zahlen bestimmt werden 
kann. Die Exspirationen werden ohne Unterbrechen mehrmals hinter¬ 
einander ausgeführt: selbstverständlich folgen diesen tiefe Inspirationen, 
die die Patienten gerne ad maximum steigern, um bei der Exspiration 
höhere spirometrische Zahlen zu erreichen. Auf diese Weise wird 
der Thorax activ in allen Richtungen dilatirt, was auch auf die Dif- 
formität heil wirkend sein soll. Weiter empfiehlt Chapard Berg¬ 
steigen und nach Redard eine Art von gymnastischen Athmungs- 
übungen, wobei der behandelnde Arzt den Thorax comprimirt und 
zwar in dem Sinne, dass die abnorm verlängerten Durchmesser ver¬ 
kürzt werden und umgekehrt. 

Beim Herrn Prof. Hoffa standen einzelne Patienten in Be¬ 
handlung, bei welchen man die Difiormität hauptsächlich aus cosme- 
tischen Gründen beseitigen wollte. Es handelte sich meistens um 
junge Mädchen aus besten Kreisen, wo auch die Toilettenrücksichten 
ins Spiel kamen. Die Behandlung, die Herr Prof. Hoffa angewandt 
hatte und mit der er gute Resultate erzielte, bestand aus Folgendem: 

Erstens wurde eine Art von Athmungsgymnastik eingeleitet. 
Im tiefen Exspirium wurde der Thorax zu beiden lateralen Seiten 
stark mit den flach angelegten Händen des Arztes comprimirt und 
die Patienten zum tiefen Exspirium bewogen. Auf diese Weise 
musste der anterioposteriore Durchmesser durch den inneren Druck 
verlängert und die Vertiefung flacher gemacht werden, da die Aus¬ 
breitung in transversaler Richtung verhindert wurde. Solche Uebungen 
wurden einige Minuten lang, mehrmals täglich ausgeführt. 

Zweitens übten die Patienten Trompetenblasen, wodurch der 
Thorax nach allen Richtungen analog wie bei den Chapard’schen 
spirometrischen Uebungen sich ausbreitet. 

Drittens versuchte man durch Einkleben von schmalen Heftr 

Zelitcbrift fflr ortbopftdische Ghirurgie. VIII. Band. 32 


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480 


Chlumsk;^. 


pflasierstreifen in den Grund der Vertiefung und einen leichten an¬ 
haltenden Zug an denselben die Grube abzufiachen. Aehnlichen 
Zweck hatten auch exact an den äusseren Umfang der Difformität 
sich anschmiegende hohle Schalen, die durch eine an dieselbe an- 
gebrachtef Ventilsaugpumpe luftleer gemacht werden können und 
dadurch ihre Unterlage gewissermassen heben (innerer atmosphäri¬ 
scher Druck). Die Construction solcher passenden Schalen macht 
aber viel Schwierigkeit. 

Wie gesagt, waren die erzielten Resultate gut, aber natürlich 
nur bei jüngeren Patienten, wo die Knochen noch nachgiebig sind 
und durch solche einfache Mittel beeinflusst werden können. Bei 
älteren und schwereren Fällen könnte man vielleicht auch operativ 
eingreifen — durch Durchtrennung und Hebung der verbogenen 
Theile. Ich glaube aber, dass sich zu einem operativen Eingriff* 
nur schwer Jemand entschliessen wird, da die eventuell zurück¬ 
bleibenden Narben das cosmetische Resultat wieder beeinträchtigen 
würden. 

Was die Behandlung der acquirirten Fälle von Trichterbrust 
anbetrifft, so muss selbstverständlich neben der angeführten besonders 
noch die Behandlung des primären Leidens eingeleitet werden. 

Die fünf casnistischen Fälle der Hoffa’schen Klinik. 

Fall 1. Eva W., 12 Jahre alt, Kaufmannstochter, mosaisch. 

Anamnese. Grossvater an einem Herzleiden gestorben. Vater 
luetisch, mit immer noch wiederkehrenden Erscheinungen. Bruder 
und Schwester der Patientin leiden an derselben Difformität (siehe 
weitere 2 Fälle). Die Schwester ist ausserdem halbseitig paretisch 
nach einer abgelaufenen cerebralen Kinderlähmung. 

Patientin selbst machte verschiedene Kinderkrankheiten durch 
(Masern, Blattern). Gehen lernte sie erst spät. In die Schule ist 
sie erst mit 9 Jahren eingetreten. Hierher ist sie wegen ihrer 
rechtsseitigen Skoliose und der Trichterbrust gekommen. Die Trichter¬ 
brust besteht seit der Geburt und wird mit den Jahren immer tiefer. 
Skoliose seit circa 2 Jahren. 

Status praesens. Mittelgrosses, mittelmässig gut genährtes, 
blasses Mädchen. Dentes crenati, unbedeutendes Stroma endjmatosum. 
Leichte linksconvexe Dorsalskoliose. Flacher Rücken. Innere Or¬ 
gane frei. Herzstoss in der Mammillarlinie zwischen der 4.—5. Rippe. 


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lieber die Trichterbrust. 


481 


Herztöne rein. Costoabdominale Athmung. Patientin lernt schlecht, 
zeigt aber keine deutlichen Spuren yon geringerer Intelligenz. Von 
Seiten der Difformität hat sie keine Störungen: sie kann gut gehen, 
laufen, springen und fühlt sich auch sonst wohl. 


Fig. 6. 



Status localis. Beide inneren Enden vor dem Schlüsselbeine 
stark entwickelt und prominent. Infolge dessen ist auch die Incisura 
sterni sehr tief. Unterhalb der Incisura sterni befindet sich eine 
flache dreieckige, leicht nach unten und innen gerichtete Fläche, 
deren Seiten ca. 10 cm lang sind; an dem unteren Winkel dieses 
Dreiecks fängt eine runde, kurze Vertiefung an, die zu beiden Seiten 
Ton mittelstark entwickelten Brüsten begrenzt ist und etwa in der 
Mitte zwischen dem Nabel und dem Schwertfortsatz endet. Der 


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482 


Chlumsk^. 


tiefste Punkt der Depression liegt ca. 2 cm unterhalb der* Inter^ 
mammillarlinie. Die rechte Mamma ist etwas nach innen verschoben 
und kleiner als die linke. Die Vertiefung selbst liegt zwar in der 
Mittellinie, doch weicht sie unbedeutend von derselben zickzackförmig 
ab. Das Brustbein ist total verbogen; es verläuft zuerst nur leicht 
nach hinten und unten, und erät unterhalb der zweiten articulatio 
costostemalis fängt die stärkere Verbiegung an. Dabei weicht es 
zuerst leicht von der Medianlinie nach rechts, um in einer Entfer¬ 
nung von ca. 8 cm nach links und 3 cm tiefer wieder nach rechts 
abzugehen. Der Schwertfortsatz ist kaum zu fühlen. Die tiefste 
Stelle der Verbiegung liegt ca. 2 cm vor dem Ende des Sternum. 
Die vorderen Rippenenden sind stark nach innen verbogen, besonders 
die der 4.—6. Rippe. Links sind die Winkel der Verbiegungen 
stärker entwickelt als rechts. 

Nähere Brustmaasse: 

Sternum: Länge (bis Ende Proc. xyphoid.) ... 14 cm 
„ Breite (zwischen der 2, und 3. Rippe) 2 ^ 


Die Länge der Vertiefung.28 „ 

Die Breite der Vertiefung.12, 

Die grösste Tiefe der Vertiefung.5 , 


Thorax 

Umfang 

Der 

transver¬ 

sale 

Durch¬ 

messer 

Der 

anterio- 

posteriore 

Durch¬ 

messer 

In der Azillarhöhe. 

75 cm 

25,6 cm 

11,0 cm 

In der Mammillarhöhe. 

70 . 

23.9 , 

11,4 , 

An der tiefsten Stelle der Diffbrmität . . 

67 , 

24,2 , 

11,0 . 

An dem unteren Ende der Diffbrmität . . 

63 . 

21,2 , 

12.0 , 


Fall n. Emilie W., 6 Jahre alt, Kaufmannstochter. 

Anamnese. Siehe Krankengeschichte Nr. 1. Patientin leidet 
an angeborener cerebraler Kinderlähmung (rechts), weswegen sie 
hierher gebracht wurde. Die Trichterbrust besteht ebenfalls seit 
der Geburt. 

Status praesens. Gut genährtes Mädchen. Rechtsseitige 
Hemiparese: einzelne Muskeln vollständig gelähmt. SensibiliULt 
normal. Leichte linksseitige Dorsalskoliose. Geistig ist die Patientin 


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üeber die Trichterbrust. 


483 


hinter den gleichaltrigen Kindern zurückgeblieben. Fehlerhafte Aus¬ 
sprache. Innere Organe frei. 

Status localis. An der vorderen Brustwand^ direct in der 
Mittellinie sieht man eine circulare Vertiefung, die 8 cm unterhalb 
der Incisura stemi anfängt und 4 cm unterhalb des Sternum endigt. 
Die Länge der Vertiefung beträgt 10, die Breite ca. 11 cm. Der 
tiefste Punkt derselben liegt gerade in der Höhe in der Intermam- 

Fig. 7. 



millarlinie und zwar 3 cm hinter derselben. Das Sternum selbst ist 
14 cm lang, 2 cm breit: zuerst verläuft es normal nach vorne und 
unten, 8 cm unterhalb der Incisura sterni verbiegt es sich ziemlich 
scharf nach hinten, um nach weiteren 4 cm sich wieder nach vorne 
zu richten. Keine seitliche Verbiegung. Keine Torsion. Die Rippen¬ 
enden der 4.—6. Rippe sind ebenfalls ziemlich scharf verbogen, und 
zwar zu beiden Seiten gleich stark. 


Nähere Maasse: 



Incisura Stemi bis 

Anfang der Vertiefung . . 

8 cm 

1» H J» 

Mitte , , . . 

. 12 , 

1» ^ Jl 

Ende ^ „ . . 

. 18 . 


Nabel. 

. 25 , 


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484 


Chlumsk^. 


Sternum: Länge (bis Ende Proc. xyphoid.) ... 14 cm 
« Breite (zwischen der 2.—3. Rippe) ... 2 , 


Vertiefung: Länge.10 „ 

, Breite.11 « 

« Tiefe.3 « 


Thorax 

1 Umfang | Breite | Qnere 
in Centimeter 

In der Axillarhöhe. 

62 

23 

10 

In der Mammillarhöhe. 

58,5 

22 

10,5 

In der Stelle der grössten Vertiefnng . . 

56 

22 

10 

Am Ende der Vertiefung. 

66 

20 



Diambtre ant^riopost^rieur in der Mammillarlinie beiderseits 
gleich lang 10,5 cm. 


Fall III. Fritz W., 8 Jahre alt, Kaufmannssohn. 

Anamnese. Siebe Krankengeschichte Nr. 1. Patient selbst 
machte verschiedene Kinderkrankheiten durch. Sonst soll er immer 
gesund gewesen sein. Die Vertiefungen an der vorderen Brustwand 
sind angeboren. 

Status praesens. Mittelstarker, gut genährter Knabe. Innere 
Organe frei. Normale geistige Entwickelung. Keine Beschwerden 
beim Gehen oder Springen etc. 

Status localis. An der vorderen Brustwand befinden sich 
drei Vertiefungen, die miteinander communiciren und ziemlich gleich 
gross sind. Die mittlere Vertiefung liegt direct in der Mittellinie 
und entspricht in ihrer Form der beschriebenen bei der gewöhn¬ 
lichen Trichterbrust. Sie fängt aber erst 2 cm oberhalb der Inter- 
mammillarlinie an, erreicht nach weiteren 4 cm ihre tiefste Stelle 
und geht dann allmählich auf die vordere Bauchwand über, wo sie 
etwa in der Mitte zwischen dem Nabel und dem Proc. xyphoid. endet. 
Der tiefste Punkt entspricht der Art. stemoxyphoidealis. Proc. 
xyphoideus kaum zu fühlen. Das Sternum ist hier erst in seinem 
unteren Ende convex nach hinten verbogen, sonst liegt es direct in 
der Mittellinie, ist weder torquirt noch seitlich verkrümmt. Seine 
Länge beträgt 1, seine Breite etwas über 2 cm. Die tiefste Stelle 
liegt 2 Vs cm hinter der oben erwähnten* Linie. Zu beiden Seiten 
der medialen Vertiefung sieht man je eine ovale Grube, die mit 


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lieber die Trichterbrust. 


485 


ihren inneren Seiten in die mittlere Grabe übergehen, gleich gross 
und ca. 2 cm tief sind. Sie sind dadurch entstanden, dass die Rippen¬ 
enden an dieser Stelle abgeflacht und leicht nach innen verbogen 
sind. Diese Vertiefungen liegen unter der Intermammillnrlinie und 
werden nach unten durch die unteren Rippenbogen begrenzt. Die 


Fig. 8. 



Forderen Rippenenden der 5.-7. Rippe, die an der Bildung der seit¬ 
lichen Vertiefungen ebenfalls mitbetheiligt sind, bilden bei der mitt¬ 
leren Grube mittelstarke Winkel und sind nach innen gerichtet. 
Nähere Maasse: 

Sternum: Länge (bis Ende Proc. xyphoid.) ... 15 cm 
„ Breite (zwischen der 2.-3. Rippe) . . 2 „ 

Vertiefungen zusammen.18 „ breit 

» . .6 »lang 

2V* . tief. 


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486 


Chlumsky. 


Thorax 

Umfang 

in 

1 Breite | Quere 

1 Centimeter 

Tu der Axillarhöhe. 

64,5 

24 

12 

In der Mammillarhöbe. 

60,5 

23 

11,5 

An der Stelle der ^prOssten Tiefe der Grube . 

60 

22 

11 

Am Ende der Vertiefung . 

59,5 

22 

— 


Epikrisis. Bei diesen 3 Patienten — Geschwistern — ist 
nochmals besonders hervorzuheben, dass deren Vater schon vor seiner 
Verheirathung Lues acquirirte und zur Zeit unserer Untersuchung noch 
wegen verschiedener luetischen Erscheinungen behandelt wurde. 
Diese Fälle sind bis jetzt die einzigen, wo bei den Antecedenten 
mit Sicherheit Lues constatirt werden konnte. Alle diese 3 Kinder 
sind als mehr oder weniger degenerirt zu betrachten, das jüngste 
ist halbseitig gelähmt und geistig subnormal, das älteste anämisch 
und skoliotisch, geistig ebenfalls etwas unter der Norm stehend. 
Alle 3 zeigen angeborene DiflFormitäten der vorderen Brustwand: 
das älteste eine sehr tiefe trichterförmige, die das ganze Sternum 
absorbirt, das jüngste eine weniger tiefe, die nur den unteren Ster¬ 
naltheilen angehört. Bei dem dritten Kinde findet sich eine ganz 
besondere Difformität, die zwar an die Trichterbrust angrenzt, doch 
durch ihre kleeblattförmige äussere Gestalt und durch Ein¬ 
beziehung der Seitentheile des Thorax von ihr verschieden ist. In 
der Literatur konnte ich einen ähnlichen Fall nicht finden. 

Fall IV. E. H., 3 Jahre alt, Pastorstochter. 

Anamnese. Die Mutter leidet an Strabismus. Vater gesund. 
Andere nähere Familiendaten fehlen. Die Patientin wurde hierher 
wegen ihrer doppelseitigen congenitalen Luxation gebracht, die mit 
gutem anatomischen und functionellen Erfolge geheilt wurde. 

Status praesens. Gut genährtes, grosses Kind. Starke 
lumbale Lordose mit compensativer dorsaler Kyphose, die besonders 
stark beim Sitzen hervortritt. Leichte Verdickungen an den Epi* 
physen der langen Knochen. Innere Organe zeigen nichts Abnormes. 
Geistig scheint das Kind nicht besonders entwickelt zu sein. Es 
sitzt die ganze Zeit still und apiathisch. Auf gegebene Fragen ant¬ 
wortet es überhaupt nicht. Sprechen hat das Kind nur schwer ge¬ 
lernt, soll auch einzelne Buchstaben nicht aussprechen können. 


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üeber die Trichterbrust. 


487 


Status localis. An der vorderen Thoraxwand befindet sich 
eine seichte ovale Vertiefung, die direct in der Mittellinie des Thorax 
liegt; sie fängt in der Höhe des Angulus Ludovici an und endet 
etwa in der Mitte zwischen dem Nabel und dem Processus xjphoideus. 
Per tiefste Punkt der Diffbrmität liegt 1 cm unterhalb der Inter- 
mammillarlinie. Das Brustbein ist leicht convex vom Angulus Lu¬ 
dovici nach hinten verbogen. Der Scheitelpunkt der Verbiegung 
liegt etwa in der Articulatio atemoxyphoidealis. Der Schwertfortsatz 
ist sehr kurz. Keine seitliche Verbiegung, keine Torsion des Sternum. 
Die vorderen Rippenenden sind nach innen verbogen, doch bilden 
sie keinen zu scharfen Winkel. Die beiden Rippenbogen bilden 
hauptsächlich in ihrem mittleren Theil fiügelförmige nach vorne 
ragende Prominenzen, die in ihrer Gestalt an flache Pyramiden mit 
abgerundeten Kanten erinnern. 

Nähere Brustmaasse sind folgende: 

Sternum: Länge (bis Ende Proc. xyphoid.) . . 

» Breite (zwischen der 2. und 3. Rippe) . 

Länge der Vertiefung. 

Breite der Vertiefung. 

Die grösste Tiefe der Vertiefung. 


cm 
1^/4 . 


IV* n 


Thorax 

Umfang 

Der 

transver¬ 

sale 

Durch¬ 

messer 

Der 

anterio- 

posteriore 

Durch¬ 

messer 

In der Axillarhöhe. 

51 cm 

17^ cm 

9 cm 

In der Mammillarhöhe. 

49 , 

17.0 . 

9 . 

An der tiefsten Stelle der Difformität . . | 

46,5, 

17,0 , 

8 . 


Epikrisis. Die Affection ist ebenfalls hier congenital: be- 
merkenswerth ist, dass das Kind auch Spuren von Rhachitis zeigte. 

Fall V. Ilse L., 6 Jahre alt, Kaufmannstochter, mosaisch. 

Anamnese. Grossvater an progressiver Paralyse gestorben. 
Urgrossmutter litt an Skoliose. Vater heirathete mit 22, Mutter 
mit 18 Jahren. Patientin selbst machte vor 4 Jahren Scharlach 
durch und vor 6 Wochen wurden bei ihr die hypertrophischen Rachen- 
tonsillen operativ entfernt. Hierher ist sie wegen einer unbedeuten- 


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488 Chlumsk^. 

den Dorsalskoliose gekommen, die vor 2 Jahren zum ersten Male 
beobachtet wurde. 

Status praesens. Mittelgrosses, gut genährtes Mädchen, 
Brust sowie auch Bauchorgane zeigen nichts Abnormes. Keine 
Zeichen von Rhachitis. Leichte rechtsconvexe Dorsalskoliose. Patientin 
kann gut gehen, ohne Beschwerden laufen, Treppen steigen und auch 
springen wie andere gesunde Kinder. Bei der Untersuchung weint 
sie beständig; nächtliches Aufschreien. 

Status localis. An der vorderen Brustwand befindet sich 
direct in der Mittellinie eine ovale Vertiefung. Sie föngt etwa 6 cm 
unterhalb der Incisura stemi an, vertieft sich zuerst langsam, so 
dass sie erst 2 cm unterhalb der Linea intermammillaris den tiefsten 
Punkt erreicht; ca. 4 cm unterhalb des Processus xyphoideus endet 
sie. Bei der Inspiration vergrössert sie sich stark. Die vorderen 
Rippenenden bilden aus dem Rande der Vertiefung einen ziemlich 
scharfen Winkel. Die Partie oberhalb der Depression ist fiach und 
fast etwas nach vorne verbogen. Das Brustbein bildet einen kurzen 
unregelmässigen Bogen, welcher etwa in der Höhe der zweiten 
Articulatio sternocostalis anfängt und kurz vor der Articulatio stemo- 
xyphoidealis am meisten nach hinten verbogen ist. Nähere Maasse sind 
folgende: 


Sternum: Länge (bis Ende Proc. xyphoid.) ... 14 cm 

, Breite (zwischen der 2.—3. Rippe) . . IV*« 

Die Breite der Vertiefung. 2 V 2 » 

Die Länge der Vertiefung.12 „ 

Die höchste Tiefe der Vertiefung.IV* » 




Durchmesser 

Thorax 

Umfang 

transver- 

anterio- 



saler | 

posteriorer 

1 

ln der Axillarhöhe. 

57 

17 

12 

ln der MammillarhOhe. 

55.5 

18 

11 

An der tiefsten Stelle der DifPormität . . 

54 

17.4 

12,5 

An dem unteren Ende der DifFormität . . 

52 

17 



Die Entfel'nung der Incisura stemi von dem Nabel 31 cm. 


Epikrisis. Die Eltern der Patientin stehen im besten Alter 
und machen den Eindruck von durchaus gesunden, gut entwickelten 


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üeber die Trichterbrust. 


489 


Leuten; trotzdem betrachten wir die Patientin als hereditär belastet 
und zwar von Seiten ihrer Grosseltern. Die acquirirte Hypertrophia 
tonsil. phar. hat höchst wahrscheinlich an der Yergrösserung der 
congenitalen Affection mitgewirkt. 


Literatur. 

Apert, Socidte mddicale des höpitaux, Mai 1899. 

Aubert, Bulletins de TAcad. de mddecine, Februar 1888. 

B 0 0 1 e, Archiv für mikroskopische Anatomie und Entwickelungsgeschichte 1899, 
Bd. 55. 

Becldre, Socidtd mddicale des höpitauz 1895. 

Brunon, Annales d'hygidne. Paris 520—523, J. 1891. 

Capitan, Socidtd d*Anthropologie, Mai 1891. — Derselbe, Mddecine moderne 
p. 988, J. 1892. 

C h a p a r d, Des ddformations thoraciques et des ddviations rachidiennes. Thdae. 
Paris 1896. 

Coen, Bull, des Sciences mddical de Bologne V. 14 p. 5, J. 1884. 

Oombry, Soc. mdd. des höp. 1894. 

Ddjerine, Socidtd de biologie, juin 1891. 

Diamantberger, Nouvelle Iconographie de la Salpdtridre 1891. 

Ebstein, Deutsches Archiv für klin. Med. Bd. 30 und 33, J. 1882—1883* 
Eggelf Virchow’s Archiv Bd. 40 S. 280, J. 1870. 

Fahre, Deformations thoraciques des scolioses. Thdse de Paris, 1899. 

Fdrd et Schmidt Journal de TAnatomie et Physiologie. Octobre 1898, p. 564. 
Flesch, Virchow’s Archiv 1873, Bd. 57 p. 289. 

Gazette des höpitauz 1860. 

Graeffner, Deutsches Archiv für klin. Medicin 1893, Bd. 88 S. 95. 

Guinon et Louques, Bull, de la Sociötö anatomique 1891. 

Hagmann, Jahrb. der Kinderheilkunde 1880, Bd. 15 S. 455. 

Hoffa, Lehrbuch der orthopäd. Chirurgie. 111. Aufl. 1898. Stuttgart. 
Klemperer, Wiener med. Blätter 1880. Deutsche med. Wochenschr. 1888. 
Luschka, Journal d'Anatomie de Robin 1869. 

Marie, Le 9 ons de clinique mödicale Hötel-Dieu 1894—1895. 1896. Journal 
de la Sociötö möd. des höpitauz 1895. 

Mender, Annales du Cercle mödical Argentin. 1861, Nr. 14» 

Mühlhausen, Deutsches Archiv für klin. Medicin 1883, Bd« 38 S. 96. 

Orrögo Lu CO, Revue bibliographique de Beyrouth 1892. 

Percival, Revue clinique de Bologne 1884, p. 401. 

Piequö et Colombani, Re^ue d’orthopödie, Mai 1900. 

Ramadier et Sörieuz, Archives d'Anthropologie, Mai 1891. — Dieselben, 
Nouvelle Iconographie de la Salpötriöre 1891. 

Raymond, Maladies du systöme nerveuz 1899. 

Redard, Gazette mödicale de Paris 1890, März. 


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XXL 


Weiland Eduard Albert’s Leistungen auf 
dem (rebiete der ortbopädiscben Cbimrgie. 

Von 

Adolf Lorenz (Wien). 

Mit dem jähen Heimgange Eduard Albertus hat 
nicht nur die allgemeine Chirurgie einen empfindlichen Ver¬ 
lust erlitten; auch die Jünger der orthopädischen Chirurgie 
fühlen sich mit Recht hart betroffen, denn Albert war 
nicht nur ein in Wort und Schrift und That wahrhaft 
grosser Beherrscher des gesammten Faches der Chirurgie, 
sondern er hatte der Specialdisciplin der orthopädischen 
Chirurgie seit jeher seine ganz besondere Vorliebe zu¬ 
gewendet. 

Vor allem zogen ihn ihre schwierigsten, theoreti¬ 
schen Probleme an, in welche er sich als wahrer Priester 
der Wissenschaft mit voller Hingebung versenkte, ohne einen 
anderen Lohn zu suchen, als jenen, der in der Freude des 
Erkennens und in der Vermittelung des Erkannten an Andere 
gelegen ist. Wie sehr Albert unsere Disciplin schätzte, 
geht aus einem seiner Aussprüche hervor, welcher die heu¬ 
tige orthopädische Chirurgie „als ein an Betrachtungsweise, 
praktischen* Methoden und Erfolgen angesehenes Fach der 
Chirurgie, als einen mächtigen Ast an dem Baume unserer 
alten Kunst“ bezeichnet. 

Wir müssen dem dahin geschiedenen Meister für diesen 
Ausspruch um so dankbarer sein, als manche Chirurgen auch 


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Weiland Eduard Albert’s Leistungen auf dem Gebiete der ortb. Chir. 491 

heute noch der Orthopädie eine schlecht verhehlte Geringschätzung 
entgegenbringen, welche übrigens nur an jenen begreiflich, wenn 
auch nicht verzeihlich ist, die sich an einem orthopädischen Thema 
noch nicht versucht haben. 

In Albertus Arbeiten ist neben Contemplativem viel Positives 
von bleibendem Werth enthalten. Fehlt die Lösung, so findet sich 
doch der Weg angedeutet, der zur Lösung führen kann, und so 
schöpft der Leser aus Albertus Schriften gleichmässig Anregung 
und Belehrung. 

Wir erfüllen eine Pflicht dankbarer Pietät, indem wir in der 
Durchsicht seiner Publicationen die Grösse des Verlustes zu ermessen 
suchen, den unser Fach erlitten hat. 

Wenn wir die Leistungen Albertus auf dem Gebiete der Rück¬ 
gratsverkrümmungen Revue passiren lassen, so ist vor allem zu er¬ 
wähnen, dass er als einer der ersten und unabhängig von einer 
früheren Mittheilung Gussenbauer’s auf die ischiadische Skoliose 
hingewiesen hat. Es muss als eine ganz sonderbare Thatsache ver¬ 
merkt werden, dass in den Laienkreisen die Kenntniss von der con- 
tracten Ischias allgemein verbreitet war, während man in der medi- 
cinischen Literatur vergeblich nach der Beschreibung dieses Zustandes 
suchte. Trotz aller mehr oder weniger geistreichen Hypothesen über 
den Zusammenhang der Erscheinungen muss man noch zur Stunde 
die von Albert gegebene Erklärung, dass die ischiadische Skoliose 
eine durch reflectorischen Muskelspasmus bedingte Schutzstellung ist, 
durch welche das kranke Bein möglichst geschont wird, als die¬ 
jenige gelten lassen, welche am plausibelsten ist und jedenfalls am 
wenigsten präjudicirt. 

In ganz besonders hervorragender Weise hat Albert die Patho¬ 
logie und Mechanik der habituellen Skoliose gefördert, ja man kann 
sagen, er ist einer der wichtigsten Begründer der pathologischen 
Anatomie der habituellen Rückgratsverkrümmung. 

Als Albert dieses schwierigste Kapitel der ganzen Disciplin 
in Arbeit nahm, standen die herrschenden Anschauungen im Banne 
von Forschungen, welche mit bewunderungswürdigem Fleisse durch¬ 
geführt und mit bestechender Eindringlichkeit vorgetragen, eine ein¬ 
fache und leicht verständliche Lösung des Problems zu bieten 
schienen — gleichwohl aber falsch waren. Auch Lorenz hatte 
sich den von Nicoladoni gegebenen Ausführungen nicht ver- 
schliessen können. Selbst Albert stand anfänglich wenigstens in 


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492 


Adolf Lorenz. 


Details unter dem Eindrücke der Nicoladoni’schen Arbeiten und 
bat sich erst später gänzlich emancipirh 

Mit klarem Blicke brachte Albert Ordnung in das Wirrsal, 
deckte die Irrthümer schonungslos auf, vergass dabei aber niemals, 
die Vorzüge der gegnerischen Arbeiten zu betonen, weil er das 
wissenschaftliche Streben hoch achtete, auch wenn ihm dasselbe auf 
Irrwege gerathen schien. 

Im wesentlichen war der skoliotische Wirbel als Keil betrachtet 
worden. Der Bogen war stets vernachlässigt geblieben. Wie mit 
Blindheit geschlagen müssen wir uns durch die Feststellung er¬ 
scheinen, dass erst Kocher vor nicht allzu langer Zeit auf die 
Schräg wir bei hin zu weisen hatte. 

Durch eine unglücklich gewählte Theilungslinie des Wirbel¬ 
körpers war Nicoladoni zu der Aufstellung gekommen, dass die 
sogen. Torsion der Wirbelsäule lediglich auf einem blossen Scheine 
beruhe. Indem er das «Mitte vorn“ des Wirbelkörpers in die Massen¬ 
mitte der Fascia longitudinalis anterior, nahe dem freien Rande der 
bekannten Falzbildung verlegte und das «Mitte hinten“ constructiv 
nach den Maassen des nächsten Interferenzwirbels nahe an dem Ur¬ 
sprung der concavseitigen Bogenwurzel annehmen zu müssen glaubte, 
war eine Theilungslinie gegeben, welche den Wirbeikörper in eine 
kleinere concavseitige und eine viel grössere convexseitige Hälfte 
schied. Das stärkere Hervortreten dieser grösseren convexseiügen 
Wirbelhälften nach der einen und altemirend nach der entgegen¬ 
gesetzten Seite bedinge den Eindruck der scheinbaren Torsion der 
Wirbelsäule. Ebenso hatten Hueter und Engel die Torsion als 
eine bloss scheinbare erklärt, da sie durch ungleiche Entwickelung 
der beiden Wirbelkörperhälften vorgetäuscht werde. 

Lorenz batte die Torsion der Wirbelsäule als eine reale Er¬ 
scheinung erkannt und durch die Richtungsveränderung der Bogen¬ 
wurzeln nach Seite der Concavität resp. durch die Abknickung der 
Bogenwurzeln in ihrer Epiphysenfuge nach Seite der Concavität zu 
erklären versucht. Die Wirbelkörper bleiben nach dieser Erklärung 
an der convexen, z. B. rechten Seite prominent, weil die Wirbel¬ 
bogen nach der concaven, z. B. linken Seite gerichtet, d. h. nach 
dieser Seite in ihren Epiphysenlinien abgeknickt sind. Die Windung 
der skoliotischen Wirbelsäule wäre demnach die Summe der Torsionen 
der einzelnen Wirbel. 

üeber diesen Strömungen, welche das Bestehen der Torsion 


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Weiland Eduard Albertus Leistungen auf dem Gebiete der orth. Chir. 493 

entweder ganz leugneten (Engel, Hueter, Nicoladoni), oder 
die Torsion zwar als reale Erscheinung anerkannten (Lorenz), je¬ 
doch lediglich aus einer veränderten Richtung der Bogenwurzeln ab¬ 
leiteten, war die alte These Rokitansky’s: «Dass mit jeder be- 
trachtlicheren Seitenkrümmung der Wirbelsäule immer eine Drehung 
der Wirbel um ihre Achse, Rotatio spinae statthat," ebenso ver¬ 
gessen worden, wie Hermann v. Meyer s geistvolle Ableitung dieser 
Rotation aus der verschiedenen Compressibilität der Wirbelkörper- 
und der Wirbelbogenreibe, und Henke’s Nachweis der anatomisch 
nothwendigen Verbindung der seitlichen Abweichung der Wirbel mit 
einer gleichzeitigen Rotation derselben. 

In diese Verfahrenheit der Anschauungen brachte Albert die 
ersehnte Klärung durch den unwiderleglichen anatomischen Nach¬ 
weis, dass die von Rokitansky und Hermann v. Meyer behaup¬ 
tete Rotation der einzelnen Elemente einer skoliotischen Wirbelsäule 
thatsächlich zu Recht bestehe, dass aber damit der Begriff der 
«Windung" oder der Gesammtwindung der skoliotischen Wirbelsäule 
noch nicht erschöpft sei. Vielmehr handle es sich dabei nicht nur 
um eine Bewegung der einzelnen Elemente der Wirbelsäule gegen 
einander, sondern auch um einen Umbau dieser Elemente, gewisser- 
massen um eine Torsion ihres Gefüges. Diese Torsion geschehe eben 
nicht nur im Sinne der Rotation als horizontale Torsion, sondern es 
gebe auch eine frontale, ja in einem gewissen Sinne auch eine sagit- 
tale Torsion. Es handle sich also nicht nur um Torsion, sondern 
um Torsionen, und diesen Torsionen stehen solche zweiter Ordnung 
und von untergeordneter Bedeutung, sogen. Retorsionen an den peri- 
phersten Prominenzen des Wirbels, gegenüber. Die Gesammtwindung 
der skoliotischen Wirbelsäule sei demnach ein Product aus Rotation 
und Torsion. 

Den anatomischen Nachweis für die Rotation erbrachte Albert 
durch die Feststellung der Erweiterung der convezseitigen Gelenk¬ 
flächen durch Anbau im Sinne der Rotation. Selbstverständlich sei 
diese Rotation bei der skoliotischen Abweichung der Wirbelsäule keine 
symmetrische, sondern geschehe asymmetrisch. Die Achse der Ro¬ 
tationsbewegung liege also nicht im Nucleus pulposus, sondern, eine 
rechtsconvexe Seitenkrümmung vorausgesetzt, in dem linken durch 
die stärkere Pressung fixirten Bogengelenke. 

Die Rotation der einzelnen Wirbel gegen einander wurde von 
Albert in der Weise anschaulich gemacht, dass die Wirbel eines 


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494 


Adolf Lorenz. 


skoliotischen Segmentes mittelst Camera obscura in ihrer relativen 
Läge neben einander gezeichnet wurden, so dass die Drehung des 
einen Wirbels gegen den anderen mit einem Blicke auf das deub« 
lichste erkennbar wird. 

Die Torsion beleuchtete Albert' in einer vollständig neuen Be* 
trachtungsweise, indem er dieselbe in den drei auf einander senk¬ 
rechten Projectionsebenen des Wirbels untersuchte. Das Studium der 
sagittalen Projection des Wirbels deckte die Thatsache auf, dass die 
Keilwirbel hinten niedriger sind als vorne. Albert nannte diese Er¬ 
scheinung die Reclination der Wirbel und wies dieselbe auch an den 
Wirbelbögen nach. Hierher rechnete Albert vor allem die steilere 
Stellung und Aufrichtung der convexseitigen Gelenkfortsätze, welche 
sich bis zur Rückwärtsneigung derselben steigern kann; während die 
concavseitigen aufsteigenden Gelenkfortsätze eher stärker nach vorne 
geneigt sind. Desgleichen fand Albert den convexseitigen Schluss- 
theil des Wirbelbogens steiler gestellt als auf Seite der Concavität 
Endlich zählte Albert auch die mehr horizontale Stellung der Dom¬ 
fortsätze zu den Reclinationserscheinungen am Wirbelbogen. Die 
Aufrichtung und Steilstellung der convexseitigen Bogenhälfte erklärte 
Albert aus der durch die Seitenneigung (Inflexion) der Columna be¬ 
wirkten Anspannung der Lgta flava, die stärkere Vomeneigung der 
concavseitigen Gelenkfacetten durch die stärkere Belastung dieser 
Bogenhälfke. Die Reclination ist ein massgebender Factor für die 
Erscheinungsform der Skoliose, da das Verschwinden der physio¬ 
logischen Krümmungen der Wirbelsäule auf diese diagonale Lordo- 
sirung der Wirbelsäule zurückzuftthren ist. Die Reclination wurde 
von Albert als eine Art Torsion in der sagittalen Projection des 
Wirbels aufgefasst. 

Die Gestaltveränderungen, welche der Wirbel in horizontaler 
Projection erkennen lässt, bezeichnete Albert als horizontale Tor¬ 
sion. Um eine richtige Basis für die Betrachtung des Wirbels in 
horizontaler Projection zu gewinnen, handelte es sich zunächst um 
die richtige Theilung des Wirbelkörpers und des Wirbelbogens. Als 
Mittellinie dieses letzteren wurde eine vom Emissarium zur Bogen¬ 
symphyse gezogene Gerade angenommen, wie dies schon Engel ge- 
than hatte. Als „Mitte hinten^ des Wirbelkörpers setzte Albert 
das Emissarium posterius wieder in seine Rechte, die ihm seit Nico- 
ladoni aberkannt worden waren. Das „Mitte vorn* ergab sich ohne 
Künstelei aus gewissen Merkmalen der äusseren Form des Wirbels, 


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Weiland Eduard Albertus Leistungen auf dem Gebiete der orth. Chir. 495 

'Welche trotz seines Umbaues fast immer kenntlich bleiben. Ist das 
gleichschenklige Dreieck der Brustwirbel durch skoliotische Defor- 
miruug zu einem ungleichschenkligen geworden, so bleibt die stumpfe 
Spitze des Dreieckes, welche die ursprüngliche Wirbelmitte gekenn¬ 
zeichnet hatte, in der Regel noch ersichtlich und stellt nach wie vor 
das „Mitte vom“ dar. 

Ist die dreieckige Gestalt der Brustwirbel durch Umbildung der 
<}oncavseitigen Eörperhälfte verloren gegangen, so bleibt doch an der 
<)onvexseitigen Hälfte der normale Umriss der Endfläche noch erhalten 
und lässt an ihrem Uebergange zur concavseitigen Hälfte der Endfläche 
das „Mitte vom“ noch erkennen. Sind die Spuren der Bogenepiphysen 
noch vorhanden, so können auch diese zur Bestimmung des „Mitte vom“ 
helfen, da eine zwischen den vorderen Begrenzungen der Epiphysen¬ 
linien symmetrisch durchgehende Gerade den stumpfen Vorspmng 
des „Mitte vom“ genau trifft. An den bohnenformigen Lendenwirbeln 
bildet das „Mitte vom“ den höchsten Punkt der vorderen Convexität, 
das „Mitte hinten“ hingegen den vordersten Punkt der hinteren 
-Concavität. 

Bei mässig veränderten Eeilwirbeln fällt die Mittellinie des 
Körpers und des Bogens in eine Gerade, bei hochgradigen Eeil¬ 
wirbeln bildet die Mittellinie des Körpers mit jener des Bogens einen 
nach der concaven Seite offenen stumpfen Winkel (Obliquität des 
Wirbels). 

Die richtig gestellte Mittellinie führte Albert zu weiteren wich¬ 
tigen Aufstellungen. Der Wirbelkörper zerfiel nunmehr im Gegen¬ 
sätze zu Nicoladoni’s Ausführungen in eine unverhältnissmässig 
grössere, id est breitere, dabei aber niedrige concavseitige und in 
^ine viel schmälere, dabei aber unverhältnissmässig hohe convex¬ 
seitige Hälfte. 

Der Wirbelkörper wächst also unter dem Einflüsse 
<ler ungleichmässigen Belastung concavseitig stark in die 
Breite. Zwischen der häufig erhaltenen oder doch genau erkenn¬ 
baren concavseitigen Bogenepiphysenlinie und dem Abgänge der 
ooncavseitigen Bogenwurzel findet sich ein durch dieses Breiten¬ 
wachsthum neuentstandener Körperabschnitt intercalirt. Der ganze 
Wirbelring wird durch diese intercalirte Zone gewissermassen aus 
einander getrieben und deformirt. An der Hinterfläche des Wirbel¬ 
körpers liegt das Emissarium nun nicht mehr in der Mitte zwischen 
dem Abgänge der beiden Wirbelbogen, sondern knapp neben dem 

Zeitschrift für orthop&dische Chirurgie. Vni. Band. 33 


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496 


Adolf Lorenz. 


convexseitigen Bogen, in der Knickungsfurche zwischen Bogenwurzel 
und Wirbelkörper. Der Wirbelkörper hat sich also nicht gegen die 
entlastete Seite hin durch gesteigertes Wachsthum gebläht, wie 
Nicoladoni angenommen hatte, um die Verschiebung des Emis- 
sariums nach Seite der Convexität zu erklären; ein solches durch die 
Entlastung herbeigeführtes vermehrtes Knochenwachsthum hätte den» 
Grade der Entlastung proportional bleiben müssen; es hätte dadurch 
das Emissarium wohl etwas aus der Mitte heraus nach der convexen 
Seite hin verschoben werden können, da ja die central gelegenen 
Theile der concavseitigen Wirbelhälfle an der supponirten Wachs- 
thumsblähung theilnehmen konnten; jedenfalls aber hätten die 
stärker entlasteten convexseitigen Körperpartien noch stärker wachsen 
müssen und die Distanz des Emissariums vom Abgang der convex¬ 
seitigen Bogenwurzeln hätte dadurch nur eine um so bedeutendere 
Verbreiterung erfahren müssen, was den Thatsachen bekanntlich voll¬ 
ständig widerspricht. 

Der irrthümlich supponirten Wachsthumsblähung des 
Wirbels nach der druckentlasteten Seite setzte Albert das 
vermehrte Breitenwachsthum der stärker belasteten con- 
caven Seite des Wirbels entgegen und stellte damit einen 
fundamentalen Satz in der Pathologie des skoliotischen Wirbels fest: 
Der vermehrte Druck modificirt das Wachsthum und lenkt es in 
andere Bahnen. Die stärker belastete concave Wirbelhälfte wird 
breiter, dafür aber niedriger, die convexe Hälfte bleibt schmal, wächst 
aber um so stärker in die Höhe, was namentlich an den Wirbel-- 
keilen des lumbalen Segmentes in die Augen fällt. 

In der frontalen Projection des Wirbels wird auch die Lorenz- 
sche Ablenkung der Wirbelbogen nach Seite der Concavität ersicht¬ 
lich. Lorenz wollte diese Abknickung der Bogen in ihrer Epi¬ 
physenlinie als Deviationserscheinung aufgefasst wissen, da die in 
einander verhakten Bogen dem freieren Wirbelkörper in seiner seit¬ 
lichen Verlagerung nicht gleichmässig folgen könnten. Albert wies 
diese Erklärung zurück, da dieselbe Erscheinung der Bogenknickung 
auch an den Schrägwirbeln zu finden sei, deren Deviation aus der 
Mittellinie unbedeutend sei oder vollständig fehle, und versuchte 
eine andere Erklärung, welche später angeführt werden soll. Die 
Erscheinung selbst bezeichnete er als horizontale Torsion, da die¬ 
selbe in der horizontalen Ebene zum Ausdruck kommt. 

Albert stellte auch eine frontale Torsion des skoliotischen 


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Weiland Eduard Albertus Leistungen auf dem Gebiete der orth. Chir. 497 

Wirbels fest, welche, zwischen Körper und Bogen vor sich gehend, 
auf der frontalen Projectionsebene in Erscheinung tritt. Schon 
Seeg er war eine Drehung des Bogens um eine sagittale Achse auf¬ 
gefallen. Albert hat diese Erscheinung in ihrer Constanz verfolgt. 
Dieselbe ist namentlich an den Lendenwirbeln ersichtlich. Der Bogen 
erscheint gegenüber dem Körper um eine sagittale Achse nach Seite 
der Convexität, entgegengesetzt der schiefen Faserung der Corticalis 
(an Schrägwirbeln) gedreht. Der Winkel, um welchen der Bogen 
nach der einen Seite gedreht ist, scheint dem Winkel gleich zu sein, 
um welchen die Corticalisfasern aus ihrer senkrechten Anordnung 
nach der anderen Seite ablenken. Die von Albert versuchte Er¬ 
klärung dieser Erscheinung beruht darauf, dass die unter einander 
verfestigten Bogen der seitlichen Neigung des Systems entgegen¬ 
arbeiten und hinter den Wirbelkörpem gewissermassen Zurückbleiben, 

Die horizontale Torsion der Wirbelsäule, die Lorenz'scbe Ab¬ 
knickung der Bogen wurzeln nach Seite der Goncavität, und die Ver¬ 
breiterung der concavseitigen Wirbelhälfte erklärt Albert aus der 
Rotation, und hierin liegt der Schwerpunkt seiner Theorie der Me¬ 
chanik der Skoliose. 

Jede seitliche Biegung ist mit asymmetrischer Rotation ver¬ 
knüpft. Durch diese Drehung des Wirbels nach der convexen Seite 
wird ein Zug auf die concavseitige Wirbelkörperhälfte ausgeübt und 
diese in die Quere gedehnt (als Ausdruck dieses Querzuges kann die 
zuweilen nachweisbare Verlagerung der concavseitigen Fovea costalis 
auf die obere Basalfläche des Wirbels gelten). Je weiter die convexe 
Wirbelhälfte infolge Verbreiterung der concavseitigen Hälfte nach 
der Seite der Convexität verlagert wird, desto mehr wird die Rich¬ 
tung der Bogen gegen die Goncavität ablenken müssen, so dass diese 
schliesslich ein ovoides Wirbelloch umfassen. Die Umgestaltung des 
Wirbelkörpers und die Veränderung seiner Lagebeziehung zum Bogen 
beeinflusst naturgemäss die mit dem Wirbel fest verbundenen Rippen¬ 
wurzeln und damit den ganzen Thoraxreif eines Rippenpaares. Der 
convexseitige Rippenwinkel wird geknickt oder eingerollt, der concav¬ 
seitige wird gestreckt, und der convexseitige Diagonaldurchmesser 
des Thorax folgerichtig verlängert. 

Die geleugnete Rotation der skoliotischen Wirbelsäule wird also 
nach Albert’s Anschauungen gewissermassen zum Urquell aller Um¬ 
bildungen des skoliotischen Wirbels, zur primären causa movens der 
pathologischen Anatomie der Skoliose. 


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Adolf Lorenz. 


Es kann nicht geleugnet werden, dass diese Auffassung das 
Verständniss des skoliotischen Wirbels ausserordentlich erleichtert. 

Von Wichtigkeit erscheint die von Albert hervorgehobene 
Thatsache, dass die Hauptveränderungen bei der statischen Skoliose 
nur in geringem Grade auf Umgestaltung der Knochenformen be¬ 
ruhen, und die hochgradigen Veränderungen der Gelenkflächen in 
Form von Erweiterung ihrer Bewegungsgebiete in den Vordergrund 
treten, während bei der osteomalacischen Skoliose gerade die um¬ 
gekehrten Verhältnisse zutreffen. 

Wie eine Selbstkritik klingt die Mahnung Albertus: „Es wird 
in der Skoliose noch Vieles zu arbeiten sein!*^ Das ist gewiss richtig. 
Aber ebenso richtig ist es, dass bisher noch kein Bearbeiter dieses 
schwierigen Themas das Verständniss desselben so sehr gefordert 
hat, wie der verstorbene Meister. 

Albertus Interesse für Mechanik leitete ihn schon frühe zum 
Studium der Bewegungsformen der grossen Gelenke, des Knie- und 
Hüftgelenkes, in deren Pathologie er sich in späterer Zeit vertiefte. 
Mittelst einer ebenso einfachen als ingeniösen Messungsmethode unter¬ 
suchte er die Bewegungen des Kniegelenkes und stellte namentlich 
das Verhältniss zwischen Beugung und Rotation, sowie den Mechanis¬ 
mus dieser letzteren fest. 

Die Beobachtung eines Falles von congenitalem und trauma¬ 
tischem Genu recurvatum gab ihm Veranlassung, diese interessante 
Deformität (das Opistogoniancon Siebenhaar's) in ihren verschie¬ 
denen Varianten zu besprechen und auf die spastische, compensato- 
rische oder statische, sowie auf die „natürliche* Form der 
Deformität bei lockeren Gelenksbändern aufmerksam zu machen. 
Gelegentlich der Wiedergabe der v. Volkmann'schen Erklärung des 
Genu recurvatum paralyticum unter lediglicher Einwirkung der Be¬ 
lastung macht Albert die wichtige Bemerkung, dass bei Lähmung 
sehr häuflg auch Beugecontracturen des Kniegelenkes Vorkommen; 
noch ganz unter dem Einflüsse der herrschenden Anschauung von 
der rein mechanischen Entstehung der paralytischen Deformitäten 
stehend, brachte er diese Beugecontracturen mit gleichzeitig be¬ 
stehenden paralytischen Fussdeformitäten in ursächlichen Zusam¬ 
menhang. 

Dem Genu valgum staticum brachte Albert stets ein warmes 
Interesse entgegen. Schon 1882 grübelte er über dem interessanten 
Factum, dass selbst hochgradige Genua valga bei spitzwinkeliger 


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Weiland Eduard Albert’s Leistungen auf dem Gebiete der orth. Chir. 499 

Beugung verschwinden, und verwirft die auf oberflächlichster Betrach¬ 
tung fussende Erklärung Hueter's, nach welcher nur bei Streckung 
des Gelenkes pathologisch veränderte Gelenksbezirke zur Berührung 
kämen, während bei der Beugung normal geformte Abschnitte der 
Gelenkskörper sich gegenüber ständen und somit ein Genu valgum 
in Beugestellung überhaupt eine Utopie sei. Ebenso wenig konnte 
er sich mit der Mikulicz’schen Erklärung zufrieden geben, welche 
die auffallende Erscheinung auf Rotationen im Knie und in der Hüfte 
zurückführte. Leichen versuche halfen Albert zu einer sehr ein¬ 
fachen Lösung des Räthsels. Wird das Genu valgum aus der 
äussersten Streckung in die äusserste Beugung gebracht, so bewegt 
sich die Längsachse der Tibia nahezu auf der Mantelfläche eines sehr 
niedrigen geraden Kreiskegels, dessen Achse in der queren Knie¬ 
achse gedacht wird und dessen Oeffnungswinkel gleich ist dem 
Aussenwinkel des Genu valgum. In seinen Vorlesungen pflegte 
Albert die Sache durch ein zusammengefaltetes Papierblatt zu ver¬ 
sinnlichen, auf dessen Seiten er je eine zur Faltungslinie sym¬ 
metrische und mit derselben einen spitzen Winkel bildende Gerade 
gezogen hatte. 

Gerade 1 Jahr vor seinem Tode gab Albert seine Monographie 
über «die seitlichen Kniegelenksverkrümmungen und die compen- 
satorischen Fussformen“ heraus. Ich habe ein vom Autor gewid¬ 
metes Exemplar der Broschüre vor mir und es berührt mich weh- 
müthig, auf dem Umschläge von Albertus eigener Hand zu lesen: in 
tausend Erinnerungen E. Albert. 

Die Bedeutung dieser Arbeit liegt darin, dass Albert die seit 
Mikuli cz’s grundlegenden Untersuchungen herrschende Anschauung, 
dass das Genu valgum lediglich eine extraarticuläre Ursache habe, 
nicht mehr aufrecht erhalten werden könne. Von einem viel wei¬ 
teren Gesichtskreise ausgehend, zog Albert nicht nur das Gelenk 
selbst und seine unmittelbare Umgegend, sondern die ganze Ex¬ 
tremität incl. Fuss und Becken in den Kreis seiner Betrachtung. 
Indem er das System der convergenten Femora und der senkrecht 
stehenden Tibien, also die gebrochene Linie des physiologischen 
Genu valgum vom Schenkelkopfe aus mit dem Körpergewicht be¬ 
lastet betrachtet, wird die Theorie des Genu valgum zu einem 
Biegungsproblem, welches die hauptsächlichsten Spannungen im Knie¬ 
gelenke zu suchen hat. 

Von einem gemeinsamen Zusammenwirken des Chirurgen und 


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Adolf Lorenz. 


des Technikers, oder jenes Orthopäden, der mit polytechnischen Doc- 
trinen genügend vertraut ist, erwartet Albert die Aufdeckung und 
mathematische Begründung der mechanischen Vorgänge im Organis¬ 
mus, welche zum Genu valgum führen. 

Zu einer solchen Zukunftstheorie hofft er durch seine Vor¬ 
studien die Anregung gegeben zu haben. Die zunächst liegende 
Aufgabe erblickt Albert in den anatomischen Vorarbeiten, ln dieser 
Beziehung ist seine Broschüre reich an Funden. Vor allem beweist 
Albert an zahlreichen herrlichen Präparaten, dass der Condylus 
lateralis bei Genu valgum stets kürzer resp. niedriger, und die la¬ 
terale Tibiagelenkpfanne stets tiefer ausgehöhlt ist; die Verände¬ 
rungen bei Genu valgum sind also nicht nur extraarticuläre, bestehen 
also nicht nur lediglich in dem schiefen Aufgesetztsein der Diaphyse, 
sondern es entwickeln sich wichtige intraarticuläre Umbildungen, 
welche die Entstehung der Deformität einleiten. 

Albert stellte durch Untersuchung von hundert anscheinend 
normal gebauten skeletirten Beinen fest, dass der laterale Condylus 
sehr häufig niedriger ist, als der mediale. Am ausgesprochenen 
Genu valgum ist dieser Befund höchst aufdringlich; aber auch der 
laterale Theil der Tibia hat im Höhendurchmesser abgenommen. 
Ausserdem zeigt der laterale Condylus femoris eine beträchtliche Ver¬ 
breiterung im frontalen Durchmesser. Die Krümmung der Diaphyse 
des Femur und der Tibia mit medialer Convexität und die leichte 
Gegenkrümmung im unteren Drittel des Unterschenkels vermitteln 
den Eindruck, dass eine Skoliose des ganzen Beines vorhanden sei. 

Als eine häufig vorkommende Eigenthümlichkeit des Femur bei 
stärkerem Genu valgum hebt Albert die grössere Steilstellung des 
Schenkelhalses (Coxa valga) hervor und versucht, diesen Umstand 
auf einen steileren Umbau des Schenkelhalses zurückzuführen, welcher 
durch die bei sehr langbeinigen Jünglingen beliebte, habituelle Ad- 
ductionshaltung der Femora in steilere Stellung geräth. 

Von besonderem Interesse, wenn gleich einer befriedigenden 
Erklärung augenblicklich noch nicht zugänglich, ist die von Albert 
beschriebene Veränderung der normalen Torsion der Diaphysen des 
Femur (Verschränkung der HalSachse und queren Knieachse auf 
horizontaler Projection) und der Diaphyse der Tibia. Da die Pro- 
jection des Schenkelhalses und jene der unteren Epiphyse beim Genu 
valgum fast gar keine Verschränkung zeigt, so ist die normale Tor¬ 
sion des Femur reducirt. An der Tibia hingegen zeigt sich ver- 


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Weiland Eduard Albert’s Leistungen auf dem Gebiete der orth. Chir. 501 

mehrte Verschränkung der Knöchelachse gegen die Knieachse im 
Sinne einer Supination oder Extratorsion des unteren Knochenendes 
gegen das obere. An beiden Hauptknochen ist also Extratorsion 
{am Femur eine virtuelle) vorhanden. 

Von den WeichtheilsVeränderungen wird das laterale Vortrsten 
der Bicepssehne, die starke Lateralverschiebung der Achillessehne 
und die Richtungsveränderung ihrer hinteren Fläche aus der fron* 
talen in eine von hinten lateral nach vorne medial sich erstreckende 
{diagonale) Ebene betont. 

Von den Veränderungen der Epiphysen und Diaphysen zum 
Becken fortschreitend findet Albert nicht selten Richtungsverände* 
rungen der Pfanne im Sinne einer vermehrten Vorne Wendung der¬ 
selben, besonders bei osteomalacischem Becken. 

Auch das Genu varum ist nach Albert keine rein extraarti- 
culäre Deformität, indem es nicht nur durch grobe und mannigfaltige 
Verbiegungen und Torsionen der Diaphysen, sondern auch durch 
Verbreiterung und Höhenreduction des medialen Condylus, sowie 
•durch Vertiefung seiner der Tibia angehörenden Pfanne bedingt wird. 

Der Fuss erleidet beim Genu valgum secundäre Veränderungen 
kn Sinne eines Pes varus (compensatorius). Diese Veränderungen 
bestehen lediglich in Verschiebungen der Verkehrsflächen der einzelnen 
Oelenke und keineswegs in Umgestaltungen der Knochenformen. 
Dem Genu varum entspricht der Pes valgus compensatorius, welcher 
analoge Veränderungen bietet, wie der Pes valgus staticus. 

Interessant sind die statistischen Daten, welche Albert nach 
zeitraubenden und mühevollen Untersuchungen beigebracht hat. 
Albert unterschied drei Grade des Uebels: Valgitas (mit 3 cm 
Knöcheldistanz bei Streckschluss im Knie), Subvalgitas (2 cm Knöchel¬ 
distanz) und Spur von Valgitas bei ganz geringer Malleolendistanz. 
ln dem gleichen Sinne sprach er von Varitas, Subvaritas und Spur 
von Varitas, wenn analoge Gondylendistanzen sich beim Knöchel¬ 
schluss finden. Auf einem Untersuchungsmateriale von 1200 weib¬ 
lichen Personen fussend, fand Albert, dass jedes dritte weibliche 
Bein abnorm sei. Demnach würde es unter neun weiblichen Per¬ 
sonen drei mit abnormen Knieverhältnissen geben, und zwar zwei 
mit valgen und eine mit varen Abweichungen. Dabei combinirt sich 
höhere Körperstatur häufiger mit der Valgitas, mittlere Körperhöhe 
häufiger mit Varitas. Compensatorische Fussformen finden sich auf¬ 
fallenderweise bei Weibern seltener. 


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Adolf Lorenz. 


Mit besonderem Nachdruck hebt Albert hervor, dass es nicht 
nur Bäckerbeine gibt, sondern dass auch die Weiber im Fälle der 
Ueberanstrengung hochgradige X-Beine erwerben. Nur um ein Ge¬ 
ringes häufiger erscheint das männliche Knie der Deformirung unter¬ 
worfen zu sein, und stets wird hier im Gegensätze zu den Frauen 
der Fuss in Mitleidenschaft gezogen. 

Einen praktischen Beitrag zur Orthopädie des Eniegelenkes^ 
lieferte Albert mit seinem Vorschläge der Implantation der Fibula, 
in die Fossa intercondyloidea femoris bei angeborenem Defect der 
ganzen Tibia, sowie mit der stufenförmigen Anfrischung der Knie¬ 
gelenkskörper bei Resectionen. Als einer der ersten konnte Albert 
den reactionslosen Verlauf der ehedem so gefürchteten Keilresectionen 
bei Diaphysenverkrümmungen unter dem Schutze der von ihm in 
Oesterreich eingeführten Antisepsis demonstriren und übte lange Zeit 
hindurch diese Operationen mit besonderer Vorliebe. 

Dem Hüftgelenke hatte Albert seit jeher besondere Aufmerk¬ 
samkeit gewidmet. 

Zuerst beschäftigten ihn theoretische Untersuchungen über dio 
Gestalt des Femurkopfes, durch welche er den Nachweis erbrachte, 
dass derselbe keineswegs dem von Aeby construirten Rotationskörper 
entspricht, sondern mit seinen vielen Unregelmässigkeiten von diesem 
ebenso verschieden ist, wie von der reinen Kugelgestalt, welche sich 
nur bei jungen Kindern findet. 

Von grossem praktischen Interesse sind Albertus Untersuchungen 
über den Excursionskegel des Hüftgelenkes, welcher zunächst durch 
Muskelhemmungen begrenzt wird und nach Eliminirung dieser letz¬ 
teren sich bedeutend erweitert. Der Excursionskegel des Femur ist 
ein elliptischer Kegel, wobei die Durchschnittsellipse mit ihrer län¬ 
geren Achse von der Streck- und Adductionsseite schief gegen die 
Beuge- und Adductionsseite gerichtet ist. Bewegt sich der Femur 
aus voller Strecklage 60^ im Sinne der Beugung und 20^ im Sinno 
der Abduction, so ist die Femurachse in die Achse des Excursions- 
kegels eingestellt und befindet sich in der Gelenksmittellage; von hier 
aus kann 60® gebeugt, 60® gestreckt, 40® abducirt und 40® ad- 
ducirt werden. Sämmtliche Muskel- und Kapselfasem sind in der 
Mittellage des Gelenkes erschlafft; in voller Strecklage, ebenso wie 
in Beugestellung des Gelenkes ist der Kapsel- und Muskeltrichter 
spiralig um den Schenkelhals torquirt. In Fortführung der Bonne t- 
schen Versuche stellte Albert manometrische Untersuchungen über 


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Weiland Eduard Albert’s Leistangen auf dem Gebiete der orth. Chir. 503 

den Druck in den Gelenken an und gibt die Resultate in Curven^ 
deren Abscissen die Abweichungswinkel aus der Mittellage und deren 
Ordinaten die Druckhöhen des Manometers angeben. Der Nullpunkt 
entspricht der Bonnet’schen Mittellage des Gelenkes. 

Auf Grundlage dieser Studien erklärte Albert die kritiklose 
Anwendung der Distractionsbehandlung Entzündeter Gelenke für ver¬ 
fehlt, da durch eine während des schmerzhaftesten Stadiums der 
Entzündung erzwungene Stellungscorrectur der intraarticuläre Druck 
vermehrt, bei geringem oder gänzlich fehlendem Exsudat aber jeden¬ 
falls die Synovialis ebenso wie die Gelenkskapsel und der Muskel¬ 
trichter torquirt werden, wodurch die Schmerzhaftigkeit und die 
refiectorische Muskelspannung nur eine Steigerung erfahren. 

Noch in seinem vorletzten Lebensjahre studirte Albert mit 
jugendlichem Eifer die Coxa vara, deren Krankheitsbild ihm aus 
früherer Zeit sehr wohl bekannt war, das er aber missdeutet hatte, 
denn er spricht in seinen Schriften wiederholt von der frappirenden 
Stellungscombination der Streckung und Aussenrollung des Schenkels 
bei Coxalgie der Adolescenten. 

Albert unterschied die Arthrocoxa vara (KopfVerschiebung) 
von der Auchenocoxa vara (veränderte Richtung des Schenkelhalses) 
und plaidirte für eine einfachere directe Messung des Abweichungs¬ 
winkels. Die vorhandenen Abductionshemmungen sind primär weder 
durch die Bänder noch durch Muskeln,« sondern vor allem durch 
Form Veränderungen der Gelenksconstituentien und Verschiebungen der 
Kopfgelenkfläche bestimmt. Bei rhachitischer und osteomalacischer 
Coxa vara ist auch an eine veränderte Stellung der Pfanne, vor allem 
im Sinne einer vermehrten Frontalrichtung zu denken; Torsionen 
und Biegungen der Diaphysen können ebenso wie die Verbiegung 
und Knickung des Schenkelhalses die Bewegungshemmungen be¬ 
stimmen. Ein besonderes Interesse bekundet Albert für die Arthro¬ 
coxa vara, also für die Verstellung oder Gleitung der Kopfkappe^ 
wobei .die Halbachse des Kopfes mit der unveränderten Richtung des 
Schenkelhalses einen nach unten offenen Winkel bildet, und eventuell 
gleichzeitig auch im Sinne einer Torsion gegen denselben verschoben 
ist. Er verfolgte am Präparate die Fortführung der Gelenkffäche 
des Kopfes auf die obere Fläche des Halses und bringt die atro¬ 
phischen Lücken im Gefüge der Trochanterspongiosa mit dem Aus¬ 
fälle der Abductionsbewegungen in Zusammenhang; während die Ver¬ 
dichtung der Halsspongiosa, als deren äusserer Ausdruck an der 


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504 


Adolf Lorenz. 


oberen Fläche des Schenkelhalses eine Arb accessorischer Schenkel* 
sporn erscheint, auf den durch die Seitenschwankungen des Kör¬ 
pers vermehrten Druck und Gegendruck der Knochen bezogen wird. 

Albert stellt die Coxa vara adolescentium, insofeme dieselbe 
nicht nur ein blosses anatomisches Factum ist, sondern als Ver¬ 
schiebung der Kopfkappe (Arthrocoxa vara) infolge statischer Miss¬ 
verhältnisse eine Krankheit sui generis darstellt, in Analogie zum 
contracten statischen Plattfusse. Hier wie dort handle es sich um 
Individuen in der JUnglingszeit, um dieselbe Noxe der statischen 
Missverhältnisse, um dieselben Verschiebungen an Articulationsflächen, 
um dieselben Beschwerden, um dieselbe Muskelcontractur. Ob diese 
Analogie thatsächlich eine zutreffende ist, soll hier nicht erörtert 
werden; immerhin muss es auffallen, die Verschiebungen der Gelenk¬ 
flächen beim Pes valg. stat., welche doch nur reine Oberflächenver- 
änderungen darstellen, mit der Verschiebung der Kopf kappe in ihrer 
Epiphjsenlinie, also einer evident schweren Formstörung, in eine 
Parallele gestellt zu sehen. 

Im Gegensätze zur Coxa vara adolescentium ist die Coxa valga 
— die steilere Richtung des Schenkelhalses — lediglich ein ana¬ 
tomischer Zustand, der niemals mit Krankheitserscheinungen com- 
binirt ist. Albert fand die Coxa valga bei Paralyse der Extremität, 
als Folge der dauernden Zerrung des Schenkelhalses durch die Last 
des Pendelbeins; in vereinzelten Fällen auch bei Osteomyelitis des 
Darmbeins, und bei Rhachitis. Typisch ist das Collum valgum 
beim Genu valgum, wie schon oben erwähnt wurde. 

Als aufmerksamer Beobachter von grossem Scharfblicke stellte 
Albert die incomplete angeborene Luxation des Hüftgelenkes fest 
und erlebte noch die Freude, seine diesbezüglichen klinischen Er¬ 
hebungen durch die moderne Untersuchung mittelst Durchleuchtung 
bestätigt zu sehen. Auch machte Albert zuerst auf jene Luxationen 
des Hüftgelenkes aufmerksam, welche im Verlaufe der Osteomyelitis 
spontanen diffusa entstehen und der congenitalen Luxation oft zum 
Verwechseln ähnlich sehen. Ebenso studirte er an gelegentlichen 
Fällen die infolge der Poliomyelitis acuta entstehenden paralytischen 
Luxationen des Hüftgelenkes und stellte der häuflgeren Luxatio 
pubica die seltenere Luxatio iliaca gegenüber. 

Die vielfache Beschäftigung mit paralytischen Deformitäten 
reifte in Albert den Gedanken der künstlichen Ankylosenbildung 
an paralytischen Schlottergelenken mittelst Arthrodese. Er versuchte 


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Weiland Eduard Albertus Leistungen auf dem Gebiete der orth. Chir. 505 

diese Operation am Schulter-, Ellenbogen-, Hüft-, Knie- und Sprung¬ 
gelenke mit steigendem Erfolge. 

Von grösster Bedeutung war Albert's Auftreten in der Re- 
«ectionsfrage bei Gelenkscaries. Da bei Kindern das Allgemeinleiden 
heilbar ist, so müsse diese Frage für das Kindesalter separat be¬ 
handelt werden. Ein principieller Gegner der Gelenksresectionen bei 
Kindern betrachtete Albert die FrUhresection als ein directes Crimen 
und beschränkte sich im äussersten Falle auf atypische, die Knochen 
nach Möglichkeit schonende Arthrektomien. Für die ungeheure 
Mehrzahl der Fälle reiche eine streng conservative Behandlung mit 
fixirenden und entlastenden Apparaten in der Regel aus, namentlich 
wenn der allgemeine Gesundheitszustand der Patienten günstig beein¬ 
flusst werden könne. Um auch armen Kindern die natürlichen Heil¬ 
potenzen des Luft- und Bewegungsgenusses bei entsprechender Nah¬ 
rung zugänglich zu machen, regte Albert die Gründung des See¬ 
hospizes St. Pellagio bei Rovigno in Istrien an, dessen Heilerfolge 
bei streng conservativer chirurgischer Behandlung den Wahrheits¬ 
beweis für Albert’s Behauptungen sehr bald in überzeugender 
Weise erbrachten. 

Albert hatte noch die Genugthuung, die Resectionswuth er¬ 
löschen und ihre Anhänger auf jenen Standpunkt zurückkehren zu 
sehen, den er selbst niemals verlassen hatte. 

An Erwachsenen übte Albert individualisirende Gelenks¬ 
resectionen; da er aber die Caries für den localen Ausdruck des 
Allgemeinleidens betrachtete, so erwog er stets sekr eingehend die 
Frage, ob dieses Allgemeinleiden in einem speciellen Falle nicht 
besser durch eine rasch heilende Amputation, als durch die häuflge 
und langwierige Eiterung der Resectionswunde beeinflusst würde. Seine 
Erfahrungen hatten ihn gelehrt, dass nach Resection oft noch aus 
vitaler Indication amputirt werden musste. Diese Eventualität sowie 
die Beobachtung, dass die Patienten nach der Amputation förmlich 
aufblühen, nahmen ihn bei schon geschwächten, erwachsenen Patienten 
mehr für die Amputation ein. 

Sehr eingehend hat sich Albert (1883) mit der Klinik der 
Osteomyelitis und (1894) unter Mitarbeiterschaft Kolisko’s mit der 
pathologischen Anatomie dieser Krankheit, namentlich mit den 
osteomyelitischen Gelenksdeformitäten befasst. Als prognostisch wich¬ 
tiges Moment wird hervorgehoben, dass selbst sero-purulente Er¬ 
güsse, ohne dass ein Aufbruch derselben erfolgt, zur vollständig 


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Adolf Lorenz. 


knöchernen Ankylose führen können. Die osteomyelitischen Zer¬ 
störungen der Oelenksenden und die dadurch bedingten Wachs¬ 
thumsstörungen bilden die Ursache der zahlreichen osteomyelitischen 
Deformitäten. Eine solche Deformität reinster Form ist jener Pea 
valgus, welcher infolge einer Wachsthumsyerlängerung der Tibia 
entsteht. Weit seltener ist der Pes varus infolge vermehrten Längen¬ 
wachsthums der Fibula. Durch Substanzverlust der Ulna an ihrem 
unteren Ende entsteht eine Abductionsstellung der Hand (Manus 
abducta), durch Substanzverlust des unteren Radiusendes kommt eine 
Manus adducta zu Stande. In ähnlicher Weise entsteht das Genu 
valgum, varum oder recurvatum osteomyeliticum. Eine dorsalwärts 
gerichtete Fusshaltung (Pes calcaneus) wird beobachtet, wenn das 
Wachsthum in der Sagittalebene asymmetrisch erfolgt; knöcherne^ 
Ankylosen entstehen nach Osteomyelitis in den verschiedensten Ge¬ 
lenken und in verschiedenem Grade gebeugter Stellung. In ver¬ 
alteten Fällen wird häufig in irrthUmlicher Weise die Diagnose auf 
tuberculöse Coxitis gestellt. Als ein ziemlich häufiges Vorkommniss 
hat Albert die Luxation des in der oberen Fuge gelösten Femur¬ 
endes beobachtet. 

Das letzte Jahr seines Lebens hat Albert mit wahrem Feuer¬ 
eifer dem Studium der inneren Architektur der Knochen gewidmet 
und die Untersuchungsmethoden wesentlich erweitert. Er pflegte 
zu sagen, dass ihm keine Arbeit grösseren Genuss und höhere Be¬ 
friedigung gewährt habe. In dieser Zeit war man niemals davor 
sicher , plötzlich einen besonders schönen Enochendurchschnitt vor¬ 
gezeigt zu erhalten mit der oft gar nicht leichten Frage nach dem 
„Wie“ und „Woher“. Wenn nun gar Anatomen vom Fach nicht 
gleich Rede stehen konnten, so liebte er es, seiner Befriedigung 
über die verursachte Verlegenheit in harmlosen Sarkasmen Luft za 
machen. 

Albert hat die Architektur des Femur, der Tibia, des Fersen¬ 
beins, des Humerus und der Ulna mit bisher unerreichter Gründ¬ 
lichkeit untersucht. Er hat sich dabei lediglich auf die Beschrei¬ 
bung der anatomischen Bildungen beschränkt und ist geflissentlich 
dem Streite über deren Bedeutung und Function aus dem Wege^ 
gegangen. Jeder Arbeiter auf diesem schwierigen Gebiete wird in 
Zukunft die anatomischen Erhebungen Albert's seiner Untersuchung 
zu Grunde legen müssen. Albert belehrte uns darüber, die Biiochen 
nicht aus Faserzügen, sondern aus Lamellensystemen bestehend zu 


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Weiland Eduard Albertus Leistungen auf dem Gebiete der orth. Chir. 507 


Senken. Diese dünnen gefensterten Knochenwände oder Knochen¬ 
blättchen sind theils Contourlamellen, theils Radianten, welche, von 
gewissen Anhäufungen oder Verdichtungen der Corticalis (Corticalis- 
kem oder -sporn) ausgehend, durch die Contourlamellen hindurch 
aich mit ihnen kreuzend als fächerförmige Gebilde in das Innere des 
Knochens einstrahlen. Die Contourlamellen selbst neigen sich im 
Röhrenknochen einander entgegen, die innersten unter fast rechtem, 
je weiter nach aussen, in um so spitzerem Winkel, kommen schliess¬ 
lich zur Kreuzung und bilden die Trajectoriensysteme, um nach ge- 
achehener Interferenz sich nach der entgegengesetzten Seite der 
Knochenwand zu begeben. Die peripbersten Blätter der Contour¬ 
lamellen steigen ohne Neigung senkrecht auf und ab, zeigen an der 
Epiphysenlinie keine Ablenkung oder Unterbrechung, sondern durch- 
atrahlen die Epiphysenknäufe in unveränderter Richtung. Ausser 
•den bekannten Trajectorien der proximalen Femurdiaphyse hat Albert 
ganz analoge Bildungen im proximalen Humerusende, im Caput tibiae 
und Olecranon aufgefunden. Besondere Aufmerksamkeit schenkte 
Albert den Radianten. Die Verfolgung der Lamellenaufblätterung 
von der Tragleiste des Schenkelhalses und von dem Merkel'schen 
Sporne führte Albert zu dem Verständniss der Bedeutung dieser 
letzteren Bildung, welche berufen ist, die schräge hintere Seite der 
Trajectorienpyramide zu bilden. Andererseits ergab sich aus der 
Divergenz der aus der Tragleiste des Halses gegen den Kopf zu 
ausstrahlenden unteren HalszUge (Albert gebraucht für dieselben 
den anschaulichen Vergleich eines Baumes, welchen man auf der 
einen Seite sämmtlicher Aeste beraubt und dann nach der entgegen¬ 
gesetzten Seite gebogen habe) und der medialen Trajectorien der 
sogen. Halskeil, dessen Basis von der oberen Halsfläche gebildet 
wird, und in dessen spongiosaarmem Inneren die Fortsetzung der 
lateralen Trajectorien in die medialen und unteren Kopfpartien wie 
unterbrochen erscheint. Ein weiterer Radiant wurde von Albert am 
tiefsten Punkte der Fossa trochanterica erkannt. Am distalen Femur¬ 
ende entsprechend dem hintersten Ende der Fossa intercondyloidea 
beschrieb Albert den von ihm sogen, distalen oder unteren Schenkel¬ 
sporn, von welchem aus die Lamellen eines Radianten, „etwa so 
wie die Seiten eines aufgestellten halbgeöffneten Buches** nach vorne 
^ivergiren. Dieser untere „Alberfsche Schenkelsporn** mit sagittal 
gerichteten Radianten weicht also von dem oberen medialen Merkel- 
schen Sporn um 90® ab. Am Sustentaculum tali beschrieb Albert 


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508 Adolf Lorenz. Weiland Eduard Albertus Leistungen etc. 

eine Tragleiste, in welcher er mit Recht ein Analogon des Adams* 
sehen Bogens erblickte. Man wird diese Tragleiste in Zukunft als 
,Albert*schen Bogen“ zu bezeichnen haben. 

Mitten in diesen Arbeiten, welchen Albert durch Heranziehung 
der vergleichenden Anatomie eine breitere Basis zu geben im Be¬ 
griffe war, erlosch in jähem und schmerzlosem Tode die Fackel 
seines rastlosen Geistes, von welchem wir noch viele Belehrung imd 
Anregung erwarten durften. 

Das liebevolle Eingehen in die schwierigsten Probleme unserer 
Disciplin war dem Vielbeschäftigten eine Erholung von anderer viel¬ 
seitiger Arbeit, welche an hervorragender Stelle von berufener Seite 
gewürdigt wurde. Sein „Otium cum dignitate“ machte ihn zu 
einem Theoretiker unserer Disciplin, der alle seine Vorgänger um 
Haupteslänge überragte und seinen Epigonen ein schwer erreichbares 
Vorbild hinterlässt. Ehre und unvergängliche Dankbarkeit seinem 
Andenken in der orthopädischen Chirurgie, „quorum pars magna fuit“. 


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Referate 


Blnmenthal, Zur Aetiologie des angeborenen masculären Schiefhalses. Archiv 
fQr Kinderheilkunde. Bd. 30. 

Verfasser hatte zwei Brüder im Alter von 2 und 3 V 2 Jahren in Behänd* 
lung, die beide an Schief hals litten und zwar der eine an rechtsseitigem, der 
andere an linksseitigem. In beiden Fällen bestand eine der Verkürzung des 
Kopfnickers entsprechende Asymmetrie des Gesichtes, sowie eine mit der Con- 
vexität nach der gesunden Seite gerichtete Cervidlalskoliose. Da bei dem Vater 
der Patienten auch eine Asymmetrie beider Gesichtsbälften bestand, ohne deut¬ 
lichen Unterschied in der Entwickelung des Kopfnickers, glaubt sich der Ver¬ 
fasser berechtigt, die Asymmetrie des Gesichtes bei den Knaben nicht als eine 
Folge der Verkürzung der Kopfnicker ansehen zu sollen. Obwohl die Asymme* 
trie erst nach 2, resp. SV* Jahren constatirt wurde, behauptet er bewiesen zu 
haben, dass die beiden Fälle von Asymmetrie des Schädels bei gleichzeitigem 
Bestehen von Torticollis auf fehlerhafter Keimesanlage beruhen. 

Die Begründung dieser Behauptung steht doch wohl auf sehr schwachen 
Füssen und damit auch die Vermuthung über die Rolle der erblichen Keimes¬ 
anlage in der Aetiologie des angeborenen Torticollis in Verbindung mit ange¬ 
borener Schädelasymmetrie und des angeborenen Torticollis allein. 

S i m 0 n-Würzburg. 

Hantke, Ein Beitrag zur Aetiologie des Caput obstipum musculare. Inaugural¬ 
dissertation. Kiel 1900. 

Hantke versucht an der Hand von 3 bisher noch nicht veröffentlichten 
Fällen von Caput obstipum musculare nachzuweisen, dass diese Erkrankung 
auch congenital entstehen kann, wodurch er sich in Gegensatz zu der 
Mikulicz-Kader'schen Theorie stellt. Eine einheitliche Theorie aufzustellen, 
hält er überhaupt für unmöglich. Nach seiner Ansicht kann das Caput obstipum 
entstehen 1. durch Riss des Stemocleidomastoideus ohne oder mit Invasion 
von Bacterien, 2. congenital durch intrauterine, mechanische Einwirkungen 
oder durch falsche Keimanlage. Für letztere Möglichkeit spricht nach seiner 
Meinung der Umstand, dass im ersten seiner Fälle Mutter und Kind von der¬ 
selben Affection befallen waren und dass im zweiten die Krankheit mit con- 


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510 


Referate. 


genitaler Hüflgelenksverrenkung complicirt war. Seinen dritten Fall hält 
Hantke selbst nicht für beweiskräftig. Pfeiffer-Würzburg. 

William M. Leszynsky. Spasmodic Wry-Neck and its treatment; Report of 
two cases with Recovery. New York Medical Journal 1900, Nr. 24. 
Verfasser berichtet über 2 Fälle von spastischem Torticollis, die erst ohne 
Erfolg mit Injectionen von Atropin in den Muskel behandelt wurden, dann 
auf Behandlung mit Massage und methodische Uebungen, abwechselnd mit 
Ruhe, sich wesentlich besserten. Bei manchen Fällen, wo die Atropinbehandlung 
im Stiche lässt, soll obige Behandlung noch gute Erfolge erzielen. Eine ope¬ 
rative Behandlung ist erst dann angezeigt, wenn nach sachgemässer längerer 
Anwendung der Massagebehandlung keine Besserung erzielt worden ist. 

Simon - Würzburg. 

Burckhard-Würzburg, Little’sche Krankheit als Folge von Geburtsstörungen. 
Zeitschrift für Geburtshülfe und Gynäkologie, Bd. XLI Heft 3. 

Auf Anregung von Prof. Hofmeier ist diese die Chirurgen sehr inter- 
essirende Arbeit entstanden. Burckhard hat an der Hand des klinischen 
Materials der Würzburger Frauenklinik genaue Nachforschungen angestellt, 
was aus den Kindern geworden ist, die in den letzten 10 Jahren frühzeitig, 
schwer oder asphyktisch geboren worden sind. 

Den Nachforschungen nach dem Verbleib und Ergehen der Kinder, deren 
sämmtliche klinische, von Aerzten angelegte und redigirte Geburtsprotokolle 
Vorlagen, wurden in der Weise angestellt, dass an die OrtsbehÖixien resp. 
Bürgermeisterämter des Heimathsortes Fragebogen geschickt wurden. Diese 
enthielten Fragen, ob das Kind lebe, ob es vollkommen gesund sei, oder ob 
sich irgend welche Lähmungserscheinungen oder Abweichungen von der Norm 
zeigten. Für den Fall, dass das Kind gestorben sei, ob vor dem Tode die er¬ 
wähnten Erscheinungen eingetreten seien. 

Es standen im ganzen 73 Fälle zur Verfügung. Unter diesen 78 Fällen 
traf auf die Anfrage nur von 54 eine Antwort ein. Von diesen Kindern sind 
25 = 46,8 7o gestorben, ohne intra vitam krankhafte Erscheinungen gezeigt zu 
haben, über 3 = 5,57«» die ebenfalls gestorben sind, bestehen nur unsichere 
Angaben. 25 = 46,3®/« leben und sind gesund, und ein einziges (= 1,9 ®/o) war 
von der Little’schen Krankheit befallen worden. 

Burckhard betont, dass nach diesen Aufstellungen die Prognose für die 
spätere Gesundheit der zu früh oder asphyktisch geborenen Kinder ein wesent¬ 
lich anderes Bild gewinnt, als nach den Anschauungen der Chirurgen. Und er 
zieht daraus die praktisch eminent wichtige Schlussfolgerung, dass wir durch¬ 
aus nicht die Berechtigung haben, lebensschwache und asphyktisch geborene 
Kinder ohne weiteres ihrem Schicksal zu überlassen; es besteht vielmehr die 
Aufgabe, selbst bei den höchsten Graden und schwersten Formen der Asphyxie 
mit voller Anstrengung danach zu trachten, die Kinder, wenn irgend möglich, 
wieder zu beleben. Denn die Möglichkeit, dass von 100 Kindern etwa 2 oder 4 
an Little’scher Krankheit leiden werden, gibt uns nicht das Recht, andere, die 
zu gesunden, kräftigen Menschen heran wachsen werden, dem Tode verfallen 
zu lassen. Gocht-Würzburg. 


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Referate. 


511 


Go ff mann, Ueber die hereditäre progressive spinale Muskelatrophie im 

Kindesalter. Milnchener med. Wochenschr. Nr. 48. 

Nachdem Verfasser einen kurzen Üeberblick über die Dystrophia muscu- 
laris progressiva und die progressive neurotische Muskelatrophie gegeben hat, 
wendet er sich der familiären und hereditären progressiven Muskelatrophie zu 
und gibt von dieser Krankheit folgendes klinische Bild: »Auf familiärer oder 
hereditärer Basis stellt sich schleichend im 1. Lebensjahre bei ganz gesunden 
Kindern eine symmetrische, schlaffe, atrophische Lähmung zuerst an den Ober¬ 
schenkel* und Beckenmuskeln ein, schreitet von da auf die Rücken-, Bauch-, 
Hals- und Schultergürtelmuskulatur fort, um dann sowohl an den Beinen wie 
^n den Armen einen absteigenden Verlauf bis an die Spitzen derselben zu 
nehmen. Verbunden damit ist das Fehlen der Sehnenreflexe und Entartungs- 
reaction, häufig Obesitas, während Störungen auf dem sensiblen Gebiet 
fehlen, Contractionen sich später einstellen können. Die geistige Beanlagung 
und Entwickelung ist gut, die Sinnesorgane functioniren normal und Bulbas- 
^rscheinungen treten nicht ein. Muskelhypertrophie und Pseudohypertrophie 
werden stets vermisst, Der Ausgang ist immer letal; der Tpd erfolgt 
-ca. 1—4 Jahre nach dem Ausbruch der Krankheit durch secundäre Lungen- 
affectionen.* Er kommt dann auf die Diagnose zu sprechen, die sich aus den 
obigen Krankheitserscheinungen, die zweifellos für einen neuropäthiscben und 
zwar myelopathischen Ursprung der Krankheit sprechen , leicht stellen lässt. 
Eine Verwechselung mit den anderen Erkrankungen hält er für schwer Uiöglich. 
Pathologisch-anatomisch stellte er in 3 Fällen, die aus verschiedenen Familien 
etammen, fest, dass es sich um eine symmetrische, sehr starke Degeneration 
des peripherischen Neurons aller unterhalb des Hypoglossus abgehenden moto¬ 
rischen Nervenpaare mit dem spinalen Accessorius handelte. Jedwede Therapie 
war ohne Erfolg. Böcker-Würzburg. 


Vorstädter-Bialystock (Russland), Ueber einige neue üebungsarten zur prä- 
cisen und systematischen Bewegungstherapie der tabischen Coordinations- 
störung. Zeitschr. für diätetische und physikalische Therapie, 1899, 
Bd. III, Heft 6. 

Verfasser theilt in seiner sehr lesenswerthen Arbeit die Zusa^mmenstellung 
eines Uebungssystems mit, welches, auf den allgemein anei^kannten Principien 
^er compensatorischen Hebungen basirend, folgende Besonderheiten därstellt: 

A. Die Differenzirung sämmtlicher Uebungsaufgaben in drei besondere 
Kategorien mit verschiedenen Bewegungszwecken. 

B. Die stricte Ausnutzung des Sehsinnimpulses bei gleichzeitig gesteigerter 
Anregung der motorischen Centralorgane für die centripetalen Eindrücke. 

C. Die Möglichkeit einer systematischen Graduirung der Uebimgsform, 
behufs ihrer methodischen Verwerthung. 

Gestützt auf die Beobachtungen über die fehlerhafte Richtung, die 
falsche Geschwindigkeit und die abnorm gesteigerte Intensität der Bewegungen 
resp. des Muskelzages bei Tabikern, sind also folgende entsprechende Uebungs- 
hategorien aufgestellt worden: 

Zeitsohri/t für orthopädifohe Ohlrorgle. YIII. Band. 34 


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512 


Referate. 


I. Die Lenkübungeo, welche hauptsächlich zum Ordnen der abnormeD 
Bewegungsrichtung bestimmt sind. 

II. Die Tempo- oder Zeitübungen, welche die abnorme Bewegungs^ 
geschwindigkeit zu modificiren haben. 

III. Die Intensitätsübungen, die speciell den Muskelzug zu regu> 
liren haben. 

' Wie Verfasser diese Aufgaben zu erreichen sucht, wird eingehend be¬ 

schrieben und durch sehr instructive Abbildungen klar gemacht. Das Genauere 
muss in der Originalarbeit eingesehen werden. Eine Reihe von Tafeln zeigt 
auch Proben von Markir- (Zeichen) Uebungen, im Laufe der Behandlung zu 
verschiedenep Zeiten aufgenommen. 

Sämmtliche Apparate für dies Uebungssystem werden bei der Firma 
»Vereinigte Fabriken C. Maquet, Heidelberg und Berlin, Charlottenstr. 63* 
angefertigt. Gocht-Würzburg. 

Knoop, lieber Sehnenplastik. Inaug.-Dissertation. Freiburg 1900. 

Knoop gibt kurz und übersichtlich die Geschichte der Entwickelung der 
Sehnenplastik, bespricht die Indicationen und Leistungen dieser Operation, di& 
besonders auch für die Folgezustände der spinalen Kinderlähmung so segens¬ 
reich sind. Im Anschluss hieran veröffentlicht Verfasser einen Fall aus der 
Freiburger Klinik, bei welchem von Professor Kraske ein ganz neues Verfahren 
eingeschlagen wurde. Es handelt sich um eine Verletzung der rechten Hand¬ 
gelenksgegend, bei welcher sämmtliche Strecksehnen total dnrchtrennt worden 
waren. Die Verletzte wurde zunächst auswärts behandelt; wegen Eiterung 
konnte erst 6 Wochen nach dem Unfall eine Operation vorgenommen werden. 
Dabei fand sich, dass die durchtrennten Strecksehnen sich stark retrahirt 
hatten — es bestand eine Diastase von 6 cm. — Kraske lüste nun ein lange» 
Stück des centralen Theiles der Ext. carp. rad.-Sehne aus, und zwar noch 
oberhalb des Uebergangs des Muskels in seine Sehne, schlug dasselbe um sein 
festgewachsenes und in der Verwachsung belassenes unteres Ende nach dem 
Handgelenk zu um und vernähte hier das ursprünglich centrale aus der \"er- 
bindung mit dem Muskel abgelüste Stück des Ext. carp. mit den peripheren 
Sehnenstümpfen des Ext. dig. comm. und befestigte das proximale Ende de» 
Fingerstreckers an den umgeschlagenen und angefrischten Ext. carpi-Theil. 
Die Emährungsbrücke für letzteren bildete die feste Verwachsung des ursprüng-^ 
lieh bei dem Unfall durchtrennten, centralen Endes des Ext. carpi. Ein Schienen¬ 
verband wurde in Hyperextensionsstellung angelegt Das schliessliche Resultat 
war eine gute active Streckung der Finger und zugleich der Hand. 

E h e b al d -Würzburg. 

Lotheissen-Innsbruck, Zur operativen Behandlung der Dupuytren'schen Con- 

tractur. Centralblatt für Chirurgie 1900, Nr. 30 S. 761. 

Verfasser hat für die operative Behandlung der Dupuytren'schen Con- 
tractur eine Schnittführung gesucht bei der 1. die Narbe nicht über die Sehnen 
fiele und 2. ein bei der Streckung der Finger etwa entstehender Hantdefect 
nicht zu einer Narbencontractur führen künne. Da nun die Dupuytren'sche 
Contractur den 5. und 4. Finger allein oder doch hauptsächlich betri€Pt, muss- 


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Referate. 


513 


der Schnitt, um den genannten Forderungen zu genügen, seitlich an einer 
Stelle geführt werden, die bei Beugung und Streckung der Metacarpo-phalangeal* 
gelenke sich nicht riel verschiebt, also am uluaren Rande über die Liga¬ 
menta lateralia. Er muss etwa bis zum ersten Interphalangealgelenke 
hinabreichen und zieht dann proximalwärts am ulnaren Rande des Anti- 
thenar bis etwa zur Höhe des Ligamentum carpi transversum volare, 
wo er im Bogen zum Thenar hinübergeht. Der dadurch begrenzte volare 
Lappen wird nun vorsichtig abpräparirt, so zwar, dass man die Palmar* 
aponeurose von der Haut und zugleich von der Unterlage ab trägt. Man kann 
so sämmtliche für den dritten Finger bestimmten Tbeile der Palmaraponeurose 
mit entfernen. 

Die Operation wird unter localer Anämie nach v. Esmarch gemacht. 
Vor Anlegung der Hautnaht muss der Schlauch gelöst und die Blutstillung 
exact besorgt werden. Gocht-Würzburg. 

Joseph Lass alle. Diagpiostic de la scoliose et ses rapports avec quelques 

4tats pathologiques. Thöse pour le doctorat en m^decine. Bordeaux 1900. 

Lassalle gibt zuerst in kurzen Zügen ein Bild von der pathologischen 
Anatomie der Skoliosen und schlägt dann, wobei wir ihm nicht ganz folgen 
können, eine Eintheilung derselben in drei Perioden vor. Dann erörtert Ver¬ 
fasser die Diagnose und geht in etwas ausführlicher Weise auf die Aetiologie 
ein. Hinsichtlich letzterer bestätigt Verfasser die gemachten Erfahrungen, dass 
die Rhachitis nur in einer Reihe von Fällen als ätiologisches Moment zu be¬ 
schuldigen sei, in einer anderen dagegen — den habituellen Skoliosen — eine 
Weichheit des Knochens, deren Wesen noch nicht näher bekannt ist, als prä- 
disponirende Ursache anzusehen sei. Zu Stande komme sie in diesen Fällen 
durch secundäre Ursachen wie schlechte Haltung, Muskelschwäche etc. 

B e c h e r-Würzburg. 

Port, Zur Frage der Heilbarkeit der habituellen Skoliose. Münchener med. 

Wochenschr. Nr. 47, 1900. 

Port vertritt die Ansicht, dass der skoliotische Wirbel seine eigenthUm- 
liche Gestalt nicht dadurch erhält, dass bereits gebildete Knochenmasse unter dem 
abnormen Drucke in eine andere Form gepresst wird, sei es unter Hinzutritt 
von Erweichung oder ohne solche auf dem blossen Wege der Transformation. 
Es handle sich vielmehr lediglich um ein Hineinwachsen des in der Bildung 
begriffenen Knochens in die durch die äusseren Verhältnisse bedingte abnorme 
Richtung. Sobald nun aber das Waohsthum aufgehört bat., sei jeder Versuch 
einer Correction der Wirbelsäulenverkrümmung vollkommen aussichtslos, an 
dem fertigen Knochen lasse sich nichts mehr ändern. Auch die Hoffnung auf 
die Transformationskraft der Knochen sei eitel, da die Transformationsvorgänge 
sich fast ausschliesslich auf den inneren architektonischen Bau beschränken, 
die äussere Gestalt aber so gut wie gar nicht verändern. Die Prognose ge¬ 
staltet sich also nach Port folgendermassen: Bei ganz jungen Individuen, bei 
weichen noch alle Epiphysenknorpel erhalten sind, etwa bis zum 8. Jahre, ist 
Aussicht vorhanden, durch andauernde und energische Behandlung eine nahe 
an Heilung grenzende Besserung zu erzielen. Die Behandlung besteht in 


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514 


Referate. 


Redressement und corrigirenden Verbänden, wobei aber die Musculatur fort¬ 
während geübt werden muss, damit sich dieselbe der veränderten Stellung der 
Wirbelsäule anpasst und vor Atrophie, zu welcher die festen Verbände geneigt 
machen, bewahrt wird. Mit dem zunehmenden Alter der Kinder nimmt der 
Grad der erreichbaren Besserung entsprechend ab, und nach der Pubertät ist 
von einer andauernden Besserung nicht mehr viel zu erwarten. Man muss hier 
im allgemeinen zufrieden sein, den Zustand der Patienten zu erleichtern, das 
Fortschreiten des Leidens aufzuhalten. Dies geschieht durch Stütscorsets und 
fleissiges Turnen. Redressirende Manipulationen haben hier nur insofern Werth, 
als sie die Anlegung eines stark corrigirenden Corsets ermöglichen. Das Corset 
muss Zeitlebens getragen werden. Bei ungenügender Ausdauer der Patienten 
kann eine Behandlung sogar schädlich sein. Wenn nämlich die Wirbelsäule 
zum Zweck der Anlegung corrigirender Corsets möglichst mobilisirt und ge¬ 
streckt wird, so werden dabei die verkürzten Muskeln gedehnt. Bei fortge¬ 
setztem Tragen von Corsets und fortgesetztem Turnen erlangen diese Muskeln 
erst allmählich wieder die erforderliche Spannung, wird die Behandlung aber 
vor ihrer Wiederkräftigung unterbrochen, so wird die Skoliose infolge der ver¬ 
minderten Leistungsfähigkeit der Muskeln oft noch schlechter, als sie zuvor war. 

E h e b a 1 d-Würzburg. 

Mosse, üeber das gleichzeitige Vorkommen von Skoliosen ersten und zweiten 

Grades und von Spitzeninfiltrationen im Kindesalter. Zeitschrift für 

klinische Medicin. Bd. XLI. 

Mosse fand, dass von 88 mit Skoliosen ersten und zweiten Grades behafte¬ 
ten Kindern im Alter von 6—15 Jahren nicht weniger als 53 = 60,2 ®/o Spitzen¬ 
infiltrationen hatten. Das Material stammt aus der Universitäts-Poliklinik in 
Berlin. Bei der Diagnose der Spitzenaffection war allein das Ergebniss der 
physikalischen Untersuchung massgebend. Mosse constatirt ferner, dass der 
Sitz der Skoliose insofern einen Einfiuss habe auf die Localisation der Spitzen¬ 
infiltration, als bei den Dorsalskoliosen die Infiltrationen sich meist auf der con¬ 
vexen Seite befinden. Der Zusammenhang dieser beiden häufigen Affectioneo 
könne aber kein zufälliger sein gerade deswegen, weil kein Grund vorhanden 
ist, weshalb die convexe Seite mehr disponirt zur Infection sein sollte, als die 
concave. Durch die Skoliose werde also ein Locus minoris Tesistentiae gebildet 
für die Infection durch die Tuberkelbacillen. Verfasser glaubt, dass dabei be¬ 
sonders die mangelnde Ausdehnungsföhigkeit der durch die Couvexitäi der 
Skoliose in ihren Excursionen noch mehr wie gewöhnlich behinderten Lungen¬ 
spitze in Betracht käme. Endlich plaidirt Verfasser noch für Aufnahme von 
skoliotischen Kindern in Seehospizen oder ähnlichen Erholungsstätten, die event. 
noch zu begründen seien, da hierin ein guter Theil der Prophylaxe gegen 
Tuberculose überhaupt liege. Ehebald-Würzburg. 

Riedinger, Ueber Scoliosis traumatica. Monatsschr. für Unfallheilkunde, Nr. 10. 

Riedinger beschreibt einen selbstbeobachteten Fall von traumatischer 
Skoliose, die als secundär auftretende Belastungsdeformität nach einer Verletzung 
der Wirbelsäule durch Sturz auf die Seite aufzufassen ist. Die Skoliose war 
in dem Riedinger’schen Falle mit leichter Lordose verbunden, während sonst 


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Beferate. 


515 


der kyphotische Typus der bei weitem häufigere ist. Bezüglich der Aetiologie 
der Erkrankuug steht Riediuger auf demselben Standpunkt wie Wagner, 
Stolper und Oberst, d. h. er nimmt seine Zuflucht nicht zu einer vorläufig 
noch unaufgeklärten Ostitis rareficans oder zu verspäteter Callusbildung^ 
sondern er sucht die Formenveränderung aus der durch das Trauma gesetzten 
Zerstörung der Wirbelkörper zu erklären. — Interessant in dem Falle ist noch, 
dass die Deformität in der Stellung fixirt ist, in welcher die Verletzung er¬ 
folgte. Secundär ist nach Riedinger's Ansicht die Stellungsveränderung des¬ 
halb eingetreten, weil eine complete Fractur wohl nicht vorlag. 

P f e i f f e r-Würzburg. 

Menard, Etüde Pratique sur le mal de Pott. Paris 1900. 

M4nard, der bekannte chirurgische Chefarzt des Seehospitals in Berck- 
sur-Mer, legt in einem stattlichen, gegen 500 Seiten starken Bande seine reich¬ 
haltigen Erfahrungen nieder, die er über die tubercnlöse Erkrankung der Wirbel¬ 
säule gesammelt hat. 

ln den ersten 5 Kapiteln gibt Verfasser in sehr eingehender Weise ein 
Bild von der pathologischen Anatomie des Malum Pottii, von seinem ersten 
Beginn an bis zur schliesslichen Heilung, wobei alle in Betracht kommenden 
Complicationen seitens anderer Organe weitgehendst berücksichtigt und zum 
besseren Verständniss auch experimentelle Versuche mit herangezogen werden. 
Im 6.—9. Kapitel schildert Verfasser nach einem kürzeren ätiologischen Excurs 
die klinischen Symptome der Erkrankung sowie die Stellung der Diagnose, 
wobei er am Schlüsse des 9. Kapitels eine kurze statistische Uebersicht über 
die (am 24. Januar 1900) im Hospital in Behandlung sich befindenden, am 
Malum Pottii erkrankten Patienten gibt. Von Interesse dürfte für uns ihre 
hohe Zahl, nämlich 184, sein. Das 10. Kapitel handelt von der Behandlung der 
Erkrankung. Hier stellt Verfasser, da ein specifisches Heilmittel für die Tuber- 
culose noch nicht gefunden, als Hauptgrundsatz auf, den Körper im Kampf 
gegen das tubercnlöse Virus zu unterstützen. Dies sucht er einmal dadurch 
zu erreichen, dass der Organismus durch hygienische Massnahmen, Seeklima, 
gute Ernährung etc., möglichst gekräftigt wird, das andere Mal durch absolute 
Ruhe, zwei Forderungen., die sich nur schwer in den grossen Städten vereinen 
lassen. Den thatsächlichen Verhältnissen Rechnung tragend, d. h. aus Mangel 
an verfügbaren getrennten Schlaf- und Tagräumen, lässt auch Menard eine 
Reihe von Patienten, bei denen die horizontale Bettlage vorzuziehen gewesen 
wäre, Oorsets tragen und umhergehen, um ihnen so den ungehinderten Genuss 
der frischen Luft zukommen zu lassen, ein Vortheil, der die Unvollkommenheit 
der ambulanten Methode aufwöge. Die locale Behandlung soll die absolute 
Ruhe der tuberculös erkrankten Partie bewirken und gleichzeitig einer In¬ 
flexion der Wirbelsäule entgegenarbeiten. Beides wird durch das im Hospital 
gebräuchliche Bett erreicht, dos eine Modification des von Lannelongue an¬ 
gegebenen Bettes darstellt und bezüglich dessen näherer Beschreibung auf das 
Original zu verweisen ist. Von den Corsets wendet Verfasser fast ausschliesslich Gips- 
corsets an und gibt ausführliche Anweisungen über seine Technik. Den Schluss 
des Kapitels bildet eine sehr interessante, historische Uebersicht über das ge¬ 
waltsame Redressement, von dem Verfasser sich keine Vortheile verspricht. 


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516 


Referate. 


Dann geht Verfasser zur Behandlung der Abscesse über. Als Haupterfordemiss 
stellt er hierbei hin, eine Oeffnung derselben zu vermeiden, um keine Fistel zu 
erhalten. Ist es einmal zur Fistelbildung gekommen, so ist wieder der Haupt¬ 
werth auf hygienische Massnahmen zu legen. Zum Schluss gehtM^nard noch 
auf die operative Bebandlungsweise bei bestehender Paraplegie ein und urtheilt 
im allgemeinen günstig über die Methoden, ohne zu einem abschliessenden 
Urtheil zu gelangen. 

Wir können die Lectüre des Buchs, das durch zahlreiche Abbildungen 
aus Krankengeschichten illustrirt ist, nur dringend zu eingehendem Studium 
empfehlen, zumal da Verfasser sich auf ein Material stützt, dessen Grösse nicht 
leicht von einer anderen Klinik erreicht werden dürfte. Becher-Würzburg. 

J. Hilbers, De diagnostische waarde der Vortelsymptomen voor de operatieve 

behandeling der Spondijlitische Paraplegie. Amsterdam, Academische 

Boekhandel-Deloman en Nolthenius. 1900. 

In vorliegender Inauguraldissertation wird vom Verfasser die Auffassung 
von Kraske, die auch durch Hoffa und Chipault getheilt wird, wider¬ 
legt, dass bei der Entwickelung und Zunahme der Kyphose die Intervertebral¬ 
löcher niemals kleiner, sondern vielmehr grösser werden und zugleich der 
hieraus folgende Schluss, dass Wurzelsymptome abhängig sein sollten von 
tuberculösen Producten in oder in der Nähe dieser Kanäle. 

Seine Ansicht ist gegründet: 

1. Auf Experimente, bei denen er durch das Aussägen von keilförmigen 
Stücken nach einem bestimmten Typus die Wirbelsäule in einen kyphotischen 
Zustand brachte. Dabei entstand eine sehr belangreiche Verengerung des Inter* 
vertebralkanales im verticalen Durchmesser und eine geringe Verengerung im 
horizontalen. 

2. Auf pathologisch-anatomische Präparate, entnommen aus verschiedenen 
pathologisch-anatomischen Laboratorien und Museen, an denen die Verengerung, 
beziehungsweise eine Verödung des Lumens deutlich sichtbar ist. 

3. Auf Krankengeschichten mit Sectionsberichten, aus denen hervorg^ht, 
dass nach Operationen, bei denen die Wirbelbogen räumlich erweitert wurden, die 
Wurzelsymptome plötzlich und in toto verschwanden und die Pachymeningitis 
mit Sicherheit auszuschliessen war. 

Am Schlüsse seiner Arbeit kommt Hilbers zu folgenden Thesen: 

I. Bei der spondylitischen Paraplegie, die durch keine andere Therapie 
zu heilen ist und bei der Ankylose aufgetreten ist, ist die Lamnektomie an¬ 
gezeigt. 

II. Wenn der Gibbus nicht ankylosirt ist und kein Abscess vorliegt, sucht 
man die Paraplegie zu heilen durch ein vorsichtiges Redressement nach 
Chipault-Calot, modificirt nach Lorenz oder Ducroquet. Hoffa. 

Oberst, Ein Beitrag zu der Frage von den traumatischen Wirbelerkrankungen. 

Münchener med. Wochenschr. 1900, Nr. 39. 

Die im letzten Heft dieser Zeitschrift referirte Arbeit von Schulz- 
Eppendorf über Spondylitis traumatica, in welcher die wichtige Discussion, 
welche sich an den auf der Naturforscherversammlung zu München 1899 ge- 


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Referate. 


517 


lialienen Schulz'Bchen Vortrag anschloss, nur flüchtig gestreift sei, veranlasst 
Oberst festzustellen, dass gerade nach dieser Discussion «er selbst, wie 
wohl auch die meisten der anwesenden Chirurgen den Eindruck gehabt haben, 
•dass die ,Traumati8che Spondylitis* endgültig beseitigt sei/ Schulz habe 
tn seiner Arbeit diesen Standpunkt nicht zum bestimmten Ausdruck gebracht 
und die Ansicht, dass an eine unbedeutende Verletzung der Wirbelsäule sich 
•eine rareficirende Ostitis anschliessen kOnne, noch nicht ganz anfgegeben, ob¬ 
wohl Kümmel! selbst in München ausgesprochen habe, dass auch er die von 
ihm seiner Zeit beschriebenen Symptome stets für die Folge einer Compressions- 
fractur halte. Oberst führt noch mehrere Fälle aus seiner Praxis an als 
Beispiele dafür, dass im Anschluss an Fracturen von Extremitätenknochen all¬ 
mählich Verkrümmungen entstehen, wenn das Glied gebraucht wird, ehe voll¬ 
ständige Consolidation eingetreten ist. Was die Wirbel anlangt, so habe Schede 
schon 1881 darauf aufmerksam gemacht, dass im Anschluss an Wirbelfractnren 
die betheiligten Knochen lange weich bleiben und sich oft noch nach Monaten 
•ein Gibbus bilde. Ehebald-Würzburg. 

Bernhard, üeber einen Fall von angeborener Kyphose. Archiv für Kinder¬ 
heilkunde, Bd. 30. 

Bei einem Kinde fand sich sofort nach der Geburt eine deutliche Kyphose 
des oberen Theils der Brustwirbblsäule, vom 2.—7. Brustwirbel reichend. Die¬ 
selbe zeig^ eine annähernd gleichmässige, bogenförmige Auskrümmung, die sich 
bei dem Versuch, das Kind zu strecken, wenig ausgleichen Hess. Am Thorax 
waren deutliche, kolbige Anschwellungen an den vorderen Enden der 4. bis 
S. Rippe beider Seiten. Während direct nach der Geburt nichts Abnormes am 
Schädel beobachtet wurde, konnte nach 6 Monaten constatirt werden, dass der¬ 
selbe im Wachsthum zurückgeblieben war. Neben Verkürzung aller, speciell 
des bitemporalen Durchmessers fand sich nun eine totale Synostose der Schädel¬ 
nähte und Fontanellen. Die am Thorax früher constatirten Auftreibungen der 
Rippenenden waren entschieden zurückgegangen, dafür waren sie aber, wo noch 
vorhanden, circumscripter und kantiger. Die früher deutliche Kyphose war 
nicht mehr zu constatiren, statt dessen fand sich eine geringe Scoliosis sinistra 
der mittleren Brustwirbelsäule mit Rippenbuckel unterhalb der linken Scapula. 
Der pathologische Knochenprocess bleibt dunkel, ln ätiologischer Beziehung 
erwähnt Verfasser, dass in den ersten 4 Monaten der Gravidität hartnäckige 
Versuche gemacht wurden, durch heisse Ausspülungen und Senfbäder die 
Schwangerschaft zu unterbrechen. Simon-Würzburg. 

Kühn, Beitrag zur Lehre von der ankylosirenden Entzündung der Wirbelsäule. 

Münchener medic. Wochenschrift 1900, Nr. 39. 

Bei dem in der Rostocker medicinischen Klinik beobachteten Falle han¬ 
delte es sich um eine Arthritis deformans, welche bei einem hereditär rheu¬ 
matisch belasteten Mädchen schon im 8. Lebensjahr auftrat, begünstigt durch 
rheumatische Schädlichkeiten und rhachi tische Veranlagung, ln verhältniss- 
mässig kurzer Zeit nach dem Beginn der Krankheit in einem Fuss- und Knie¬ 
gelenk wurde auch die Wirbelsäule ergriffen, so dass bei der Aufnahme des 
Mädchens in der Klinik in ihrem 12. Jahre ein Krankheitsbild resultirte, welches 


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518 


Referate: 


lebhaft an den Strümpell-Marie'sohen Symptomencomplex erinnei'te. Der 
Verfasser glaubt, dass, so lange nicht die pathologisch-anatomischen Unter¬ 
suchungen noch weiter vervollständigt werden^ die Ankylose der Wirbelsäule,, 
speciell der Strümpell-Marie*sche Symptomencomplex klinisch und patho¬ 
logisch-anatomisch nur als eine besondere und zwar seltene Form der defor- 
mirenden Arthritis anzusehen sei; die sich klinisch durch Erkrankung der 
Wirbelsäule bei Freibleiben der mittleren und kleineren Gelenke documentire,^ 
pathologisch*anatomisch in der Bildung von Knochenspangen und -brücken mit 
Ankylose der betreffenden Gelenke/« in Verknöcherungen von Bändern und Sehnea 
ihren Ausdruck finde. Im Gegensatz hierzu erscheine die Bechteren’sche Fomk 
der Wirbelsäulen-Ankylose als ziemlich einheitlich und als ein Krankheitsbild 
sui generis. Ehebald-Würzburg. 

Thiersch, üeber Corset und Reformkleidung. Münchener med. Wochen¬ 
schrift Nr. 32. 

Thiersch berechnet den Druck, der von dem Corset ausgeübt wird,, 
auf 1—2 kg. Er bedient sich dazu eines von ihm construirten Apparates, der 
im wesentlichen auf einem Dynamometer, das in einen Riemen eingefögt ist, 
beruht. Verfasser weist dann auf die bekannten durch das Corset verursachten 
Schädigungen des Organismus hin und plaidirt dann lebhaft für die Bestre¬ 
bungen zur Einführung einer Reformkleidung, deren wichtigste Typen er an- 
führt. Becher-Würzburg. 

Triepel, Die Stossfestigkeit der Knochen. Archiv für Anatomie und Physio¬ 
logie. Anatom. Abtheilung. 1900. 

Das Maass der Straflosigkeit ist gegeben durch die Grösse derjenigen 
lebendigen Kraft öder derjenigen Arbeit, die dazu nöthig ist, um eine Con- 
tinuitätstrennung herbeizuführen. Eine Anschauung von der Stossfestigkeit der 
Knochen kann man sich indessen auch ohne besonders darauf hingerichtete 
Versuche verschaffen; sie lässt sich aus der statischen Festigkeit wenigstens 
mit leidlicher Annäherung berechnen. Nicht zu übersehen ist dabei, dass die 
aus der statischen Festigkeit berechnete Stossfestigkeit immer die allerkleinste 
Gewalt bezeichnet, die den Knochen eines Lebenden zerbrechen kann, dass sie 
das auch nur unter den günstigsten Umständen thun kann, und dass daher im 
allgemeinen nur die Einwirkung einer grösseren Gewalt zum Knochenbruch 
führen wird; man muss eben immer daran denken, dass die Folgen eines Stosses 
nicht einzig und allein von der Stossfestigkeit der Gewebe abhängen. 

Triepel legt seinen interessanten Berechnungen insbesondere die Ver¬ 
suche Messerer's und Rauber's zu Grunde. Bezüglich der Durchführung 
und der Ergebnisse seiner Berechnungen muss auf die werthvolle Arbeit selbst 
verwiesen werden. Graetzer-Würzburg. 

Sud eck, Ueber die acute entzündliche Knochenatrophie. Archiv für klinische 
Chirurgie, Bd. 62, Heft 1. 

Auf dem 29. Congress der deutschen Gesellschaft für Chirurgie demon- 
strirte Su deck eine Reihe von Projectionsbildem von Röntgenbildem, die sich 
auf die Altersatrophie und die einfache Inactivitätsatrophie bezogen. Darauf 


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Referate. 


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besprach er eine dritte Gruppe der Knochenatrophie, die bei acut entzündlichen 
Affectionen der Knochen und Gelenke auftritt und sich wesentlich von der ein¬ 
fachen Inactivitätsatrophie unterscheidet. Dass bei den acut entzündlichen 
Affectionen der Knochen und Gelenke die Atrophie ganz auffallend rasch ein- 
tritt und zwar nicht nur in den direct ergriffenen Knochen, sondern auch in 
den benachbarten, von den erkrankten Knochen functioneil abh&ngigen Knochen- 
theilen, während bei der Inactivitätsatrophie die Atrophie eine erhebliche Aus¬ 
dehnung erst dann gewinnt, wenn der funddonelle Heiz lange Zeit hindurch 
gefehlt, hat, sucht er an 3 Fällen, wovon einer tuberculösen, zwei nicht tuber- 
cuJösen Ursprungs sind, zu beweisen. Sämmtliche Fälle betreffen die Hand. 
Durch Röntgenbilder wird deutlich der Krankheitsprocess veranschaulicht und 
sieht man an ihnen den grossen Unterschied desselben während der Erkran¬ 
kung und nach der Heilung. Welcher Art der Process ist, der die Atrophie 
herbeigefühi*t hat, ist nicht genügend klar. Verfasser hält es für das Wahr¬ 
scheinlichste, dass in ziemlich weiter Umgebung des eigentlichen Krankheits- 
heerdea eine entzündliche Reizung besteht, die die Ernährungsstörungen herbei¬ 
fährt. Höcker - Würzburg. 

Gudeck-Hamburg, Zur Altersatrpphie (einschliesslich Coxa vara senium) und 

Inactivitätsatrophie der Knochen. Fortschritte auf dem Gebiete der 

Röntgenstrahlen, Bd. III. 

Roux hat in dieser Zeitschrift (Bd. 4, S. 284, 1896) Untersuchungen 
über die Vorgänge bei der einfachen Inactivitätsatrophie der Knochen mitge- 
theilt. Danach werden die Knochenröhrchen zur lamellösen bezw. trabeculären 
Spongiosa durch Schwund umgebildet. Unter stetiger Abnahme ihrer Dicke 
können die statischen Elementartriebe völlig zum Schwund gebracht werden. 
Die dadurch sich vergrössemden Zwischenräume werden mit Fettmark ausge¬ 
füllt. Die ganze Structur unterscheidet sich vom Normalen nur durch 
Rarefication. 

Dieser Vorgang drückt sich im Röntgenbild dadurch aus, dass der 
ganze Knochen durchlässiger und die Schatten weniger tief werden. 

Um diese bekannten Verhältnisse einmal recht deutlich ad oculos zu 
demonstriren, bespricht S u d e c k an der Hand von neun guten Röntgogrammen 
von undurchsägten Knochen und vier ganzen Füssen die betreffenden Erschei¬ 
nungen. Es handelt sich um folgende Schenkelhalspräparate: 1. hochgradige 
Altersatrophie, 2. Arthritis deformans, 3. Coxa vara senilis, 4. Amputations¬ 
stumpf. Ferner kamen zur Verwerthung je ein Beispiel von einfacher Inactivitäts¬ 
atrophie infolge von Unterschenkelbruch, von Calcaneusfractur und von Myelitis 
transversa. 

Uebereinstimmend lässt sich constatiren, dass bei ganz hochgradigen 
Fällen, die Structur verschwindet, bei leichteren Fällen ist sie genau zu ver¬ 
folgen, nur viel zarter als normal. Die Corticalis der spongiösen Knochen ist 
deutlich dünner und weniger tiefsehattend, die der Röhrenknochen löst sich oft 
in deutlich erkennbare Fasern auf. 

Bezüglich der Knochenatrophie nach Fracturen lehren die Untersuchungen 
von S u d e c k, dass man nach Brächen des Unterschenkels in den Knochen des 
Fussskelets nach ca. 2 Monaten die ersten Andeutungen von Inactivitäts- 


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Referate. 


atrophie an Lebenden nachweisen kann. Nach etwa 4 Monaten ist die Atro* 
phie deutlich ausgesprochen, nach V«—1 Jahr kann sie schon einen hohen Grad 
angenommen haben. G o c h t -WArzhurg. 

R e i 8 s, Klinische Beobachtungen über Osteomyelitis der langen Röhrenknochen, 
besonders in Bezug auf die Epiphysenknorpelfuge und die begleitenden 
Gelenkaffectionen. Archiv für klin. Chirurgie, Bd. 62, Heft 3, S. 445.1900. 
Verfasser hat seiner Arbeit die Fülle von Osteomyelitis zu Gmnde ge¬ 
legt, welche in den letzten 12 Jahren an der chirurgischen üniversit&tsklinik 
des Geheimraths von Bergmann zu Berlin zur Beobachtung gekommmi sind. 
Während die therapeutische Seite absichtlich nur kurz gestreift worden ist, 
kam es ihm vor allem darauf an, das Verhalten der Knorpelfugen in allen 
Fällen festzustellen und er hat deshalb die Röntgographie heran gezogen, um 
durch diese in sehr praktischer und klarer Weise die bisherigen Befunde bei 
geheilten Patienten zu stützen und zu erweitern. 

Das Ergebniss dieser Untersuchungen fasst Reiss in folgenden Sätzen 
zusammen: 

1. Bei theilweiser Zerstörung der Knorpelfuge ist eine Wiederherstellung 
möglich, die zu vollkommen normalem Wachsthum führt. 

2. In der Mehrzahl der Fälle von theilweiser Zerstörung der Knorpelfuge, 
auch wo makroskopisch noch ein Tbeil normal erscheint, tritt Ersatz der ganzen 
Knorpelfuge durch knöcherne Callusmassen ein. 

3. Bei diaphysärem Sitz der Osteomyelitis findet nach Epiphysenlösung 
in keinem Falle eine Regeneration des Epiphysenknorpels statt, sondern die 
Verbindung zwischen Diaphyse und Epiphyse wird durch knöcherne Callus¬ 
massen hergestellt 

4. Sitzt der primäre Heerd der Osteomyelitis in der Epiphyse, so Übt 

die Epiphysenlösung an und für sich keinen Einfiuss auf die Wachsthumsvor- 
gänge aus. Schreitet aber der Process auf die Diaphyse fort und zerstört er 
dabei die der Diaphyse zunächst gelegenen Schichten der Knorpelfuge theilweise 
oder ganz, so erhalten wir einen dauernden Defect der Knorpelfuge und somit 
Störungen des Wachsthums. Gocht-Würzburg. 

Schmieden, Ein Beitrag zur Lehre von den Gelenkmäusen. (Aus der chir¬ 
urgischen Universitäts-Klinik des Herrn Geh.-Rath von Bergmann.) 
Ai-chiv f. klin. Chirurgie, Bd. 62 Heft 3 S. 542. 

' Die vorliegenden Untersuchungen stützen sich auf ein Material von 
49 Fällen; es sind nur knorpelige und knöcherne Gelenkkörper in den 
Kreis der Betrachtung gezogen worden. Fleischkörperchen, Zotten, Lipome etc. 
haben für das Studium der echten Gelenkkörper nur insofern Interesse, als sie 
leicht zur Verwechselung mit echten Gelenkkörpem Anlass geben können. Eine 
Entstehung echter, knorpelig-knöcherner Gelenkmäuse aus fibrösen Zotten ist 
ausgeschlossen. Zur Beurtheilung der wahren Gelenkmäuse ist eine genaue 
anatomische Betrachtung nothwendig, da ihre secundären VeriUiderungen so 
hochgradige sein können, dass es makroskopisch fast unmöglich ist, in der 
Gelenkmaus noch ein Stück der normalen Gelenkfläche wieder zu erkennen« 
Verfasser kommt hierbei auf die Wachstbums Vorgänge abgesprengter Knochen- 


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Referate. 


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etückchen durch Proliferation lebendiger Zellen zu sprechen, fflr die seine 
•eigenen Präparate manches Interessante bieten. Aetiologisch kommen nur 
zwei Gruppen in Betracht: 

1. Gelenkmäose, welche in einem von Arthritis deformans ergriffenen 
Gelenke secundär entstehen und welche mikroskopisch nicht Theile der nor¬ 
malen Gelenkfläche enthalten. 

2. Gelenkmäuse, welche nicht durch Arthritis deformans entstehen und 
welche normale Gelenktheile enthalten. 

Was die arthritischen Gelenkmäuse unbelangt, so kann man von einer 
einfachen Exstirpation Abstand nehmen: 

1. Wenn keine typischen Gelenkmaussymptome zur Beobachtung gelangt 
^ind oder gar die Maus stets an derselben Stelle liegt. 

2. Wenn der Krankbeitsverlauf ein durchaus chronischer, nicht mehr 
progredienter ist. 

8. Wenn nicht sicher festgestellt werden kann, dass durch das Vorhanden- 
^ein der Maus die Beweglichkeit beschränkt wird. 

Hingegen kann in schweren Fällen von Arthritis eine Resection indi- 
•cirt sein. 

In der Aetiologie der ohne Arthritis deformans entstehenden Gelenk- 
mäuse spielt das Trauma die grösste Rolle — es kann dasselbe ein directes 
oder ein indirectes sein —, ob eine ausschliessliche Rolle, lässt Verfasser dahin 
gestellt; aUerdings verfQgt auch Schmieden über 8 Fälle, in denen ein 
Trauma ausdrücklich geleugnet wird; aber der mikroskopische Befund dieser 
Fälle unterscheidet sich in nichts von dem der typisch-traumatischen Gelenk¬ 
mäuse, und Schmieden möchte nicht ohne weiteres eine Osteochondritis 
•dissecans im Sinne Königes anerkennen. 

Was anderes ist es, dass auch alte, überstandene Gelenkleiden ein prädis- 
ponirendes Moment abgeben können. Graetzer-Würzburg. 

Katzenstein-Berlin, lieber Fremdkörper in Gelenken, nebst einer Bemerkung 

zur Asepsis der Operationen und der Behandlung der Meniscusablösung. 

Deutsche Zeitschrift für Chirurgie Bd. 57 Heft 8 u. 4 S. 813, Oct. 1900. 

Eatzenstein theilt die eingehende Krankengeschichte einer 6jährigen 
Patientin mit, die 2 Monate nach einem leichten Falle im Zimmer wegen eines, 
trotz sachgemässer Behandlung weiter bestehenden Hydrops genus seine Hilfe 
aufsuchte. Die Diagnose auf „Nadel im Kniegelenk* wurde durch das Röntgen¬ 
bild bestätigt. Bei der Operation (breite Eröffnung des Gelenks) fand sich die 
Nadel im hinteren medialen Recessus; der mediale Meniscus war vorn von der 
Tibia vollkommen losgelöst. Letzterer wird nach Entfernung der Nadel theils 
an das mediale Seitenband, theils an den Schnittrand der Gelenkkapsel so an- 
geheftet, dass die Seidennähte nicht in das Gelenkinnere hineinzuliegen kommen, 
und dann das Gelenk durch exacte Naht g^z geschlossen. Gipsverband mit 
Beckengurt. Nach 12 Tagen Verbandwechsel, Heilung p. p., Entfernung der 
Nähte. Nach weiteren 4 Tagen Entfernung des Gipsverbandes und in den 
folgenden Wochen Massage des Beines und Uebungen. Nach 3 Monaten ist 
Patientin vollkommen geheilt ohne irgend eine Beeinträchtigung des Knie¬ 
gelenks und des Gehens. 


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Referate. 


Verfasser fasst seine Erfahrungen in diesem Fall in folgenden Schluss¬ 
sätzen zusammen: 

1. Ein im Anschluss an ein Trauma entstandener und trotz entsprechen¬ 
der Behandlung lange bestehender Hydrops eines Gelenkes muss uns auf eine 
besondere, im Gelenk bestehende Anomalie hinweisen. 

2. Die Entfernung von Fremdkörpern aus Gelenken ist, wenn sie Er^ 
scheinungen machen, dringend geboten und muss eventuell durch breite Er¬ 
öffnung des Gelenkes mit Durchschneidung der Bänder und systematischer Ab¬ 
suchung des Gelenks ausgeführt werden. 

3. Die Voraussetzung dazu ist eine sichere Beherrschung der Asepsis 
(operiren mit Instrumenten und nicht mit den Händen) und der Technik 
(ezacte Naht). 

4. Bei der traumatischen Ablösung des Semilunarknorpels von der Unter¬ 

fläche ist seine Annähung an die Gelenkkapsel als die Normaloperation zu be¬ 
zeichnen. Go cht-Würzburg. 

Franz-Berlin, Beitrag zur Frage der freien Gelenkkörper. Deutsche Zeit¬ 
schrift für Chirurgie Bd. 57 Heft 3 u. 4 S. 383, Oct. 1900. 

Verfasser trägt durch die genaue Mittheilung eines Falles bei zur Lösung 
der Frage von der Entstehung der freien Gelenkkörper. Der Fall ist deswegen 
von besonderem Interesse, weil er beweist, nicht nur, dass auch ein anscheinend 
nicht sehr starkes, indirectes Trauma eine schwere Zerstörung der Gelenkober¬ 
fläche herbeiführen kann, sondern auch, dass flache Stücke abgesprengt werden^ 
ohne dass sie durch Bänder abgerissen werden müssen. 

Patient war nach einem Stoss vor die Brust beim Bajonettiren mit dem 
rechten Knie nach innen eingeknickt und nach hinten auf den Rücken gefallen. 
Hinkend ging er nach Haus und bemerkte, dass das Gelenk geschwollen war. 
19 Tage post trauma, als der sehr pralle Erguss erheblich zurückgegangen 
war, liess sich an der Aussenseite des Kniegelenks ein deutlich verschiebbarer 
Körper nachweisen, der etwa 2 cm lang und breit war. Er wurde per opera- 
tionem in Narkose entfernt und stellt ein annähernd quadratisches Knorpelstück 
dar mit abgerundeten Ecken, von 2 cm Breite und 2 cm Länge. Franz 
nimmt nach dem Aussehen desselben und im Hinblick auf den Umbiegungs¬ 
mechanismus an, dass der abgesprengte Körper von dem lateralen Condylus 
femoris stammt. G o c h t - Würzburg. 

Giannetti, Du Massage dan^ les fractures para-articulaires. These, Paris 1900. 

Die Behandlung der paraarticulären Fracturen mittelst Iromobilisation 
zieht Muskelatrophie und Gelenksteifigkeit nach sich und verlängert die Be¬ 
handlungsdauer. 

Die gleich eiusetzende und fortgeführte Massage hingegen in Verbindung 
mit der Mobilisation der Gelenke verhindert die Muskelatrophie und verkürzt 
die Behandlungsdauer. 

Giannetti hat hierbei zunächst die ohne Dislocation einhergehenden 
Fracturen im Auge. Aber selbst bei den mit Dislocation verbundenen Frac¬ 
turen ist das Fortbestehen der Deformität ein verschwindend kleines üebel 
gegenüber der Gefahr der Gelenkversteifung, vorausgesetzt, dass die Dislocation 


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Referate. 


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als solche nicht die Function des Gliedes zu beeinträchtigen droht. Für letzteren 
Fall allerdings kommt nur Reduction der Fragmente und Immobilisation in 
Frage. Graetzer-Würzburg. 

Thilo, Verbände gegen Gelenkversteifungen. Monatsschrift für Unfallheil¬ 
kunde Nr. 7 1900. 

Thilo, der über ein reiches Material von Unfall-Patienten verfügt, hat 
drei einfache Vorrichtungen ersonnen, um Versteifungen in den Gelenken der 
Finger, des Ellenbogens und der Schulter zu beseitigen. Als Material benutzt 
er Lampendocht, den er bei Versteifungen der Fingergelenke an die Finger¬ 
spitzen von Baumwollhandschuhen nähen lässt. Diese Dochtstreifen werden 
über eine in der Hohlhand befestigte Holzrolle geleitet und mit Schnallen an 
oinem das Handgelenk umfassenden breiteren Dochtstreifen befestigt. Man 
kann sie dann mit Hilfe dieser Schnallen allmählich fester anziehen. Nach 
einem ähnlichen Princip werden die beiden anderen Verbände angelegt, nur 
dient bei Ellenbogenversteifungen die Schulter derselben Seite, bei Schulter¬ 
gelenk Versteifungen die gesunde Schulter als Hypomochlion. Verfasser betont 
ausdrücklich, dass er sich nicht mit der Verwendung seiner Verbände begnügt, 
sondern ausserdem täglich 2mal Massage und active und passive Bewegungen 
anwendet. Pfeiff er-Würzburg. 

•Chlumsky, Ueber die Wiederherstellung der Beweglichkeit des Gelenkes bei 
Ankylose. Centralblatt für Chirurgie 1900 Nr. 37. 

Die schlechten functioneilen Erfolge in der Behandlung der Ankylosen 
bewogen Chlumsky auf experimentellem Wege eine Verbesserung unserer 
Operationsmethoden anzustreben. Chlumsky resecirte zu diesem Zwecke die 
Kniegelenke der hinteren Extremitäten bei Hunden und Kaninchen und führte 
in den ehemaligen Gelenkspalt zunächst Plättchen aus Celluloid, Silber, Zinn, 
Oummi oder Billrothbatist ein, indem er die Plättchen durch Naht an der 
Sägefläche der Tibia befestigte. Die erzielten Resultate waren im allgemeinen 
recht gute; doch schien es Chlumsky besser, die ursprünglich verwandten 
Materialien durch resorbirbare Stoffe zu ersetzen; er verwandte daher in einer 
folgenden Versuchsreihe Magnesiumplättchen von 0,1—0,5 mm Dicke; die 
Plättchen verschwanden je nach der Stärke einige Wochen früher oder später, 
^ie dünnsten schon im Verlauf von 18 Tagen. Auch hier war der Erfolg der 
Versuche ein befriedigender; nur schienen die Gelenkhöhlen in der Mehrzahl 
der Fälle kleiner als bei denen der ersten Versuchsreihe zu sein, so dass 
■Chlumsky bei der Kürze der Beobachtungszeit die Frage offen bleiben liess, 
ob nicht noch eine weitere Verkleinerung der Gelenkhöhlen und so eine Be¬ 
einträchtigung des erreichten Resultates erfolgen könnte. 

Chlumsky will die Fortsetzung seiner Versuche, die ihn in der That 
zu den besten Hoffnungen berechtigen, an anderer Stelle ausführlich mittheilen. 

Graetzer-Würzburg. 

Phelps, Die Behandlung von Abscessen der Gelenke mit Glasspeculum-Drainage 
und reiner Carbolsäure, nebst einem Bericht über 70 Fälle. Münchner 
med. Wochenschrift Nr. 38. 

Phelps räth auf Grund seiner Erfahrungen, die er als Professor der 
orthopädischen Chirurgie in New York gesammelt hat, dringend zu einer früh- 


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Referate. 


zeitigen Operation aller tuberculdsen oder eitrigen Gelenkabscesse. Die Opera> 
tion fahrt Verfasser in der doppelten Absicht aus: 1. das Qelenk zu unter¬ 
suchen und den Grad der Zerstörung festzustellen, 2. zum Zwecke grQndlicher 
Drainage. Seine Methode besteht in folgendem: OefFnung der Gelenkhöhle 
und Untersuchung der Gelenkenden. Trifft man auf grössere Zerstörungen,, 
wird die Kapsel breit geöffnet und die erkrankten Theile durch Curettement 
entfernt; Berieselung des Gelenks mit einer Sublimatlösung 1 :1000. Dann folgt 
Füllung des Gelenks mit reiner Carbolsäure, genau 1 Minute lang, Auswaschen 
des Gelenks mit reinem Alcohol und schliessliches Wegwaschen des Alcohols 
mit einer 2^loigen Carboisäurelösung. Nun wird in das Gelenk eine möglichst 
weite Glasröhre geführt, durch die dasselbe tamponirt wird und die eine fort¬ 
währende Beobachtung und eventuelle neue Behandlung mit Curette und Carbol- 
säure zulässt. Diese Glasröhre bleibt so lange liegen, bis am Boden der Wunde^ 
Granulationen sichtbar werden. Verfasser berichtet daun über die Resultate 
dieser Operation; er verfügt Über 70 Fälle. Hier sei nur hervorgehoben, dass 
die Patienten im Durchschnitt 3 Wochen nach der Operation entlassen wurden 
mit geheilten Wunden. Eine Fistelbildung will Verfasser nie beobachtet haben. 
Verfasser hebt hervor, dass er die Carbolsäure nicht als ein Specificum sondern 
als Desinficiens betrachtet. Becher-Würzburg. 

Hartmann-Jena, Uebor die Behandlung der acuten primär synovialen Eite¬ 
rungen der grossen Gelenke. Deutsche Zeitschrift für Chirurgie Bd. 57 

Heft 3 u. 4 S. 231, Oct. 1900. 

Die umfangreiche Arbeit fusst auf dem grossen Materiale der chirurgi» 
sehen Klinik in Jena. An der Hand von 61 einschlägigen Krankengeschichten 
wird die von Riedel geübte Behandlung bei den primär eitrigen synovialen 
Erkrankungen der sechs grossen Gelenke besprochen, des Knie-, Fuss- und 
Ellenbogengelenks, ferner des Hüft- und Schultergelenks und schliesslich des in 
seinem Bau so complicirt gestalteten Handgelenks. 

Die hier geübten Methoden zur Bekämpfung der Eiterung bei den ver¬ 
schiedenen Gelenken gestalten sich demnach folgendermassen: Bei ganz leicht 
inficirtem Kniegelenk wird in erster Instanz die einfache Function mit nach¬ 
folgender Injection von 5%iger Carbolsäure versucht, und in zweiter Jnstanz^ 
ebenfalls die Function, aber mit nachfolgender Einführung kleiner Drains durch 
die Troicartcanüle. Erst bei schwerer Infection wird das Kniegelenk mit dem 
typischen Resectionsschnitt nach Volkmann eröffnet, ohne jedoch die Patella 
und die Strecksehne zu durch trennen; dann Drainage des Gelenks durch ziem¬ 
lich grosse Abflussrohre. Von diesen Schnitten aus können später, falls trota 
weiteren Abpräparirens der Musculatur von den Unterschenkelknochen zur Frei¬ 
legung der Schleimbeutel die Eiterung nicht beherrscht werden kann, die Ge¬ 
lenkenden der Knochen selbst nach Durchsägung der Patella resecirt werden. 
Ein beginnender Wadenabscess wird durch Kesection des Fibulaköpfchens mit 
nachfolgender Drainage von hinten aussen zu coupiren versucht. Erst in letzter 
Instanz, bei weitgehenden Eitersenkungen in die Oberschenkel- und Waden- 
musculatur tritt die Indication zur hohen Oberschenkelamputation in ihr Recht. 

Bei leichteren Vereiterungen des Fussgelenkes kann man in erster Instanz 
die bogenförmigen Längsschnitte, die hinter den Malleolen verlaufen, versuchen 


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Referate. 


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und in zweiter Instanz, bei bedenklicherer Erkrankung, die vorderen Schnitte 
zu beiden Seiten der Strecksebnen (König) noch hinzufögen und das Gelenk 
von diesen Schnitten aus sehr gut drainiren. Führt dies Verfahren nicht zum 
Ziele, so schreitet man zur Resection des Gelenkes von den nämlichen Schnitten 
aus oder versucht in ganz desolaten Fällen, bevor man sich zur Amputation 
im Unterschenkel entschliesst, die Resection nach Lange nbeck, resp. 
Hüter. 

Das Hüftgelenk wird bei Erwachsenen fast stets bei Eiterungsprocessen 
resecirt werden müssen, während man bei Kindern^ wenn keine Perforation in 
die Adductoren hinein stattgefunden hat, sich nur mit der Säuberung des Kopfes 
begnügt und die Pfanne nach erfolgter Reposition des Kopfes durch eine Lücke 
in der hinteren Wandung zu drainiren versucht. 

Das Handgelenk wird der guten Resultate wegen stets resecirt. 

Zur Drainirung des Ellenbogen- und Schultergelenkes, die in der Jenaer 
Klinik verhältnissmässig selten zur Behandlung gekommen sind, ist noch kein 
endgültiges, für alle Fälle geeignetes Incisions- und Drainage verfahren erzielt. 

, Gocht-Würzburg. 

Rubinstein, Ueber gonorrhoische Gelenkentzündung. Berl. klin, Wochen¬ 
schrift 1900, Nr. 37. 

Wassermann stellte fest, dass in geschlossenen Höhlen die Gonokokken 
wegen Mangel an Sauerstoff zu Grunde gehen und dass in den todten Leibern 
der Gonokokken in ihrer Substanz nach dem Absterben ein gefährliches Gift 
vorhanden ist, das Schwellung hervorruft in den zunächst gelegenen Lymph- 
bahnen und Fieber, dann starke Muskel- und'Gelenkschmerzen. Es gelang ihm 
niemals, eine Immunisirung dagegen zu erzeugen und er kommt zu dem Schluss, 
man soll operiren, wenn diese Verhältnisse vorliegen. Gestützt auf diese Unter¬ 
suchung sowie auf die Erfahrungen an mehreren einschlägigen Fällen empüeÜlt 
Verfasser eine activere Therapie bei gonorrhoischer Gelenkentzündung, besser sind 
die Auswaschungen der Gelenke mit Sublimat oder Carbolsäure. Er schreibt 
diesem activen Vorgehen den günstigen Verlauf mehrerer von ihm behandelten 
Fälle zu. Simon-Würzburg. 

H. Wohlgemuth, Die Fractur des Tuberculum majus humeri. Berliner klin. 

Wochenschr. 1900, Nr. 48. 

Das Abreissen des Tuberculum majus humeri kommt als isolirte Ver¬ 
letzung nur ausserordentlich selten vor; dagegen sind die nach Humerusluxatio¬ 
nen oder Fracturen im Humerushals nicht selten zurückbleibenden Functions¬ 
beeinträchtigungen in vielen dieser Fälle auf eine Abreissung und Dislocation 
des Tuberculum majus zurückzuführen. Die richtige Diagnose wird oft erst 
durch das Röntgenbild ermöglicht ,* es ist daher unbedingt erforderlich, dass 
alle Fälle von Schulterverletzung mit erheblicher Functionsstörung, überhaupt 
alle Luxationen und Fracturen im oberen Humerusdrittel röntgographirt werden. 
Die Therapie besteht zweckmässig in Fixation des Armes in erhobener, abdu- 
cirter und mässig auswärts rotirter Stellung des Oberarmes. Bei alten mit 
Dislocation geheilten Fracturen des Tuberculum majus werden Röntgenaufnahmen 
bei adducirtem und extrem abducirtem Arme erkennen lassen, ob die unvoll¬ 
kommene Abduction auf dem Anstossen des zu weit nach oben angeheilten 


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Referate. 


Tuberculum majus an das Acromion beruht. Hier käme eine subperiostale Ab- 
meisselung in Frage. Bei veralteter Luxation mit unvollkommen geheiltem 
Tuberculum bei fast vollkommen aufgehobener Function ist natürlich nur von 
einer Resection etwas zu erwarten. Graetzer-Würzburg. 

Müller, Zur operativen Behandlung der habituellen Schultergelenksluxation. 

(Aus dem Chirurg. Ambulatorium des Herrn Dr. Krön ach er in München.) 

Münchener med. Wochenschr. 1900, Nr. 40 S. 1380. 

Müller theilt die Heilung eines Falles von habitueller Schulterluxation 
auf operativem Wege mit (Verkleinerung der Kapsel durch Excision eines 4 cm 
langen und IVs cm breiten Kapselstreifens und darauffolgender Faltennaht). 
Er empfiehlt zur Behandlung der habituellen Schulterluxation im allgemeinen: 

Verkleinerung der erweiterten Kapsel bei intactem Knochenapparat; 

Resection des Humeruskopfes bei nicht mehr intactem knöchernen 
Gelenkapparat. Graetzer - Würzburg. 

Joachimsthal, Verdoppelung des linken Zeigefingers und Dreigliederung des 

rechten Daumens. Berl. klin. Wochenschr. 1900, Nr. 38. 

An der rechten Hand eines 9jährigen Mädchens fanden sich 6 Finger. 
Während man zunächst annehmen konnte, dass es sich um die häufiger vor- 
kommende Verdoppelung des Daumens handelte, fanden sich bei äusserer Unter¬ 
suchung ausser einer ungewöhnlichen Länge mit grosser Deutlichkeit drei unter¬ 
einander articulirende Phalangen. Ausserdem zeigte das Röntgenbild in dem 
entsprechenden Metacarpale ein Verhalten, wie man es nur von den vier unteren 
Mittelhandknochen kennt, nämlich einen distalwärts gelagerten noch durch einen 
breiten Knorpelstreifen von der Diaphyse getrennten Epiphysenkem. Im Gegen¬ 
satz zeigte der scheinbar supemumerirte Finger zwei Glieder und in seinem 
Metacarpale eine proximalwäiis liegende Epiphyse. Letzterer war als der 
Daumen, ersterer als überzähliger Zeigefinger anzusprechen. 

Der Daumen wurde exarticulirt und ein gutes Resultat erzielt. 

An der linken Hand bildet das Endglied des Daumens nicht die gerad¬ 
linige Fortsetzung der Grundphalanx, sondern weicht um etwa 25 cm nach der 
ulnaren Seite ab. Das Skiagramm zeigte ein nur als rudimentäre Mittel¬ 
phalanx zu deutendes Zwischenstück, das vollkommen von beiden Phalangen 
getrennt, auf der radialen Seite eine Breite von 0,7 cm erreicht, sich spitz 
zulaufend zwischen die beiden Knochen einschiebt, um etwa 0,2 cm von dem 
ulnaren Rande derselben entfernt zu enden. 

Dieser Befand scheint für die Annahme zu sprechen, dass die Zweigliedrig- 
keit des Daumens durch Verschmelzung von Mittel- und Endphalanx zu Stande 
gekommen ist. Simon-Wörzburg. 

Bähr, Ein kleiner Beitrag zur Pathologie des Radio Humeralgelenkea. Deutsch. 

med. Wochenschr. 1900, Nr. 43. 

Bei zwei Tennisspielern fand sich eine exquisite Schmerzhaftigkeit, die 
von dem Kranken auf das Capitulum Radii resp. auf das Radio-Hnmeralgelenk 
localisirt wurde. Das Radiusköpfchen war im Beginn ziemlich dnickempfind- 


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Refeiate. 


527 


lieb. Zurückgeführt wurde die Entstehung auf eine beim Ballscblagen forcirte 
Pronationsbewegung. 

Die Intensität der Schmerzen spricht für eine localisirte Periostitis; dock 
könnte auch eine geringfügige Verletzung des Bandapparates dafür verantwort¬ 
lich gemacht werden. Therapie: Aussetzen des Spiels und Massage. 

Bei einem Musiker hatten sich infolge vielen Spielens allmählich dumpfe, 
ziehende Schmerzen im Ellenbogengelenk eingestellt, denen ein rasches Ermüden 
der Hand folgte. Bei schwacher Ausbildung der Epiphysen überhaupt; fand 
sich eine ausgesprochene Wackligkeit des Ellenbogengelenks bei Strecksteilung 
in radioulnarer Richtung. Der Gelenkspalt zwischen Humerus und Radius 
liess sich im Vergleich zu links in sichtlicher Weise vergrössem. Therapie: 
Massage und Gymnastik, gute Kräftigung der Armmusculatur, stützende Banda- 
girung des Arms beim Spiel. Simon-WOrzburg. 

Schaffer, The neuromuscular Elements in Hip-joint Disease. New York 

Medical Journal, April 1900. 

Folgende neuro musculäre Störungen sind bei Coxitis beobachtet und be¬ 
schrieben worden: 

1. Unwillkürliche tonische musculäre Contraction. 

2. Musculäre Atrophie. 

3. Verringerte faradische Reaction. 

4. Vermehrter musculärer Tonus. 

Diese Symptome kommen nicht vor an einem Gelenk, welches nur ver¬ 
letzt wurde oder wo bloss die Synovialmembran tuberculös degenerirt ist. 

Verfasser bespricht dann die Frage des Aussetzens der Behandlung bei 
Coxitis. Wann sollen die Stützapparate fortgelassen werden? Wir stehen auf 
einer Seite vor einer Verschlimmerung oder einem Recidiv einer fast völlig ge¬ 
heilten Coxitis, wenn wir zu früh die Apparate wegnehmen, auf der anderen 
Seite, wenn wir zu lange immobilisiren, ist das endgültige Resultat nicht so 
gut; die Gelenke sind ganz steif oder erlauben nur sehr wenig Bewegung. Auch 
die Musculatur leidet durch allzulange Fixation. Schaffer warnt vor dem 
frühzeitigen Fortlegen der fixirenden Apparate und räth, dieselben so lange bei¬ 
zubehalten, bis der musculäre Spasmus vollständig verschwunden ist. 

J a e g e r- Würzburg. 

Bergugnat, La guerison de la Coxalgie. Resultat ce qu'on peut obtenir par 

le traitement dans les diverses peiiodes de la maladie. These pour le 

doctorat en medecine. Paris 1900. 

Bergugnat bespricht in einer ausführlichen Arbeit an der Hand des 
grossen Materials des Hospitals Cazin Perrochaud in Berk-sur-Mer (Dr. Calot) 
die Coxitis, die dort geübte Behandlungsweise und die erreichten Resultate. 
Die Behandlung besteht im Wesentlichen in Anlegen von Streckverbänden, Ruhe¬ 
stellung mittelst des Apparates von Calot und Punction der Gelenke und 
Abscesse und Injection von Campher-Naphtol. Letzterem Mittel besonders 
schreibt Verfasser die geschilderten überaus günstigen Resultate — Heilungs¬ 
dauer der Abscesse 4—6 Wochen — zu. Verfasser warnt mit Recht vor jedem 
chirurgischen Eingriff. Doch können wir hierin nicht so weit gehen wie er, 
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. VIII. Band. 35 


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528 


Referate. 


der die blutige Operation überhaupt aus den Methoden zur Behandlung der 
Coxitis streichen will, auch hier gibt es F&lle, die jeder anderen Behandlung 
spotten, und bei denen das Messer die ultiroa ratio bilden wird. Im üebrigen 
können wir uns dem Optimismus des Verfassers hinsichtlich der erreichbaren 
Resultate nicht recht anschliessen und würden es z. B. nicht für rathsam halten, 
ein in Ankylose geheiltes Hüftgelenk wieder zu mobilisiren zu yersuchen. 

Becher- Würzburg. 

Whitman, Further Observations on Depression of the neck of the Femur on 

Early Life: including Fracture of the neck of the Femur, Separation of 

the Epiphysis and simple Coxa vara. Annales of Surgery. February 
1900. 

Im Jahre 1890 hat Whitman einen Fall von Schenkelhalsfractur bei 
einem Kinde beschrieben. Seitdem beobachtete Whitman 17 ähnliche Fälle. 
Seit 1897 ist es möglich geworden, die Diagnose durch Röntgenstrahlen zu be¬ 
stätigen , und jetzt sind anatomische Präparate vorhanden, welche die genaue 
Natur der Verletzung demonstriren. 

Von den 18 Fällen kamen 8 bei Knaben und 10 bei Mädchen vor. Das 
Alter der Kinder war zwischen 2 und 8 Jahren in 2 Fällen, zwischen 3 und 
6 Jahren in 7 Fällen, zwischen 6 und 9 Jahren in 7 Fällen, 2 waren 16 Jahre alt. 

Das Krankheitsbild ist folgendes: — Ein früher völlig gesundes Kind 
zeigt nach einer Verletzung eine wahre Verkürzung des Beines von IV*—2 cm. 
Die Verkürzung erklärt sich durch eine correspondirende Erhöhung des Tro¬ 
chanters, welcher abnorm prominent und etwas näher nach der Spina ant. sup. 
verschoben ist. Zur gleichen Zeit besteht eine geringe Auswärtsrotation des 
Beines. Für mehrere Wochen oder Monate nach dem Unfall besteht vielleicht 
etwas Empfindlichkeit bei Manipulationen, oder etwas Mnskelspasmus verringert 
die Beweglichkeit. 

Nach erfolgter Heilung erscheint die Bewegung nicht beschränkt oder 
höchstens in extremer Abduction. Flexion und Innenrotation und ein geringes 
Hinken ist das einzige Symptom. 

Schenkelhalsfractur bei Kindern erzeugt nicht die sofortige Hülflosigkeit, 
die man nach solchem Unfall erwarten könnte, ln vielen Fällen können die 
Kinder schon nach ein paar Tagen gehen. 

Sehr häufig werden diese Fälle als Coxitis angesehen. Da der Schenkel¬ 
hals in seiner neuen Position einer stärkeren Arbeit ausgesetzt ist, ist es klar, 
dass der grössere Druck eine stärkere Biegung des Schenkelhalses zuwege 
bringen muss. Mit dieser grossen Verkrümmung hängen zusammen die Sym¬ 
ptome, scheinbare und wirkliche Verkürzung, Hinken und Unfähigkeit zum 
Gehen. 

Also ein Patient, der eine Schenkelhalsfractur durchgemacht hat, befindet 
sich in den ersten Stadien von Coxa vara. 

Whitman gibt dann seine Gründe an, warum die Verletzung als eine 
Fractur und nicht eine Epiphysenlösung anzusehen ist und zeigt Photographien 
von einem Präparat, das von einem Patienten entnommen ist. 

Es handelte sich um einen Knaben, 8 Jahre alt, der von der sechsten 
Etage gefallen ist und sich eine schwere Verletzung der rechten Hüfte zuge- 


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Referate. 


529 


zogen hat. Diagnose wurde auf Schenkelhalsfractur gestellt. Nach 4 Wochen, 
da keine Zeichen von Heilung vorhanden waren, wurde das proximale Fragment, 
welches aus Femurkopf und dem halben Hals bestand, entfernt. 

Whitman bespricht dann die Aetiologie, Symptome u. s. w. von 
Coxa vara. 

Als Behandlung beschreibt er dann eine prophylactische Operation, um 
dem Schenkelhals seinen richtigen Winkel wieder zu geben. Diese Operation 
hat Whitman 6mal mit gutem Erfolg ausgeführt. 

Die Technik ist folgende: Der ganze Widerstand der Abduction sowohl 
ligamentösen wie musculären Ursprungs muss überwunden werden durch vor¬ 
herige kräftige Manipulation. Eine keilförmige Excision am Trochanter 
minor wird dann vorgenommen. Die Basis des Keils soll etwa 2 cm breit sein, 
gerade gegenüber dem Trochanter minor; der obere Schnitt soll senkrecht zum 
Schafte sein, der untere schief. Der innere Knochenrand soll nicht durcbge- 
schnitten werden, sondern zusammen mit dem cartilaginösen Trochanter minor als 
Charnier dienen, um welches der Femurschaft vorsichtig lateralwärts gezogen 
wird, bis der Spalt durch das Zusammenstossen der Fragmente geschlossen ist, 
nachdem das obere Fragment fixirt worden ist durch Contact mit dem Pfannen¬ 
rande. So wird die Continuität der Knochen erhalten. Das Bein wird dann 
in extremer Abduction durch einen bis zum Fuss reichenden Gipsverband fixirt. 

J a e g e r- W ürzburg. 

Manz, 0., Beiträge z. klin. Chir., Bd. 28, 1. Die Ursachen der statischen 

Schenkelhalsverbiegung. 

Da es dem Verfasser aufgefallen war, dass unter 8 Fällen einwandfreier 
statischer Coxa vara, welche seit Entdeckang des neuen Krankheitsbildes in der 
Freiburger Klinik behandelt wurden, 4 ausdrücklich Feldarbeiter betrafen, 
stellte er 79 Fälle aus der Literatur zusammen und konnte constatiren, dass 
41 Patienten landwirtbschaftlich thätig waren. Hieraus zieht er den Schluss, 
dass die Coxa vara durch eine Schädlichkeit erzeugt wird, die bei jeglicher 
Art körperlicher Arbeit sich geltend machen kann, bei der Feldarbeit jedoch 
sich in ganz besonderem Maasse geltend macht. Hierauf legt er sich die Frage 
vor, welche speciellen Kraftwirkungen die bei der Coxa vara beobachteten Ver¬ 
änderungen zuwege bringen, indem er seiner Betrachtung die von Hofmeister 
aufgestellten Gruppen: 

1. Fälle reinen Trochanterhochstandes. 2. Fälle, bei welchen sich der 
letztere mit Aussenrotation verbindet und 3. Fälle, bei welchen der Trochanter¬ 
hochstand von Einwärtsdrehung begleitet war, zu Grunde legt; durch Zufügung 
und Besprechungen zweier Krankheitsfälle macht er es wahrscheinlich, dass neben 
diesen Gruppen noch eine Verbiegung des Schenkelhalses mit der Convexität 
nach unten vorkommt, die auch auf Belastungseinflüsse zurückzufQhren ist. und 
die er als Coxa valga bezeichnet wissen will. 

Es folgt eine eingehende Besprechung des Entstehens der Abwärtsbiegung 
mit Convexität nach oben und daran anschliessend Untersuchung über die 
Gründe der Hemmung im kranken Gelenk. Die Hemmung der Abduction wird 
im Gegensatz zu Albert neben der Knochenhemmung auch der Kapsel sammt 
ihren Ligamenten, speciell dem Ligamentum pubo-femorale zur Last gelegt. 


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Referate. 


Die AusBenrotation erklärt sich am ungezwungensten dadurch, dass man 
sich vorstellt, dass die Verkrümmung entstanden ist, während der Patient sich 
in gebückter oder knieender Stellung bei der Arbeit befand. Die Verkrümmung 
entsteht in dieser Stellung um so leichter, weil dabei die Kapsel, die sonst die 
Festigkeit des Schenkelhalses erhöht, schlaff und weit ist, so dass der Schenkel¬ 
hals sich verbiegen und krümmen kann, wie er will. 

So lässt sich auch die Entstehung der Coxa valga in der Hockstellung 
erklären, während uns Verfasser eine Erklärung der dritten Gruppe Hof¬ 
meisters schuldig bleibt. 

Zum Schluss beschreibt Vei-fasser noch eingehend das Präparat einer 
Schenkel hals Verbiegung, bei dem die Differenz der Epiphysenlinien das einzige 
positive Ergebniss ist. Simon-Würzburg. 

Hon8eil, B., lieber Trauma und Gelenktuberculose. Beiträge zur Chir. 28,3. 

Um den Einfluss des Traumas auf Entstehung der Tuberculose zu studiren, 
nimmt Verfasser die Versuche Friedrich’s u. a. wieder auf. Kaninchen werden 
mit filtrirten Aufschwemmungen von verschieden virulenten Tuberkelbacillen- 
Reinculturen durch intravenöse Injection inflcirt. Aus dem Ausfall der Experi¬ 
mente zieht der Verfasser folgende Schlüsse: 

1. Die Annahme, dass ein innerer Zusammenhang zwischen Tuberculose 
und Trauma vorhanden sein kann, entbehrt bisher noch der experimentellen 
Grundlage. 

2. Die vorliegenden Versuche machen es unwahrscheinlich, dass sich die 
Tuberculose durch ein Trauma an einer bestimmten Stelle localisiren kann. 

3. Wenn, was von vornherein nicht zu bestreiten ist, trotzdem oft ein 
ursächlicher Zusammenhang zwischen Trauma und Tuberculose besteht, so 
findet derselbe wohl in der Weise statt, dass durch das Trauma die Tuberculose 
aus einem klinisch latenten in einen manifesten Zustand übergeführt wird. 

Das aus der Tübinger Klinik stammende statistische Material bestätigt 
die letztere Annahme. Simon-Würzburg. 

Whitman, Further Ob.servations on the Treatment of congenital Dislocation 

of the Hip. The Medical News, October 1899. 

Die Schlüsse, die Whitman aus seiner Erfahrung in der Behandlung 
von congenitalen Hüftgelenksluxationen zieht, sind folgende: 

Die functioneile Belastungsmethode von Lorenz, die sogen, unblutige 
Reposition gibt keine tadellosen Resultate. 

Die blutige Operation wird durch die unblutige nicht beseitigt. 

Die unblutige kann eher als eine Vorbereitung zur blutigen Operation 
angesehen werden. 

Da trotz aller classischen Zeichen von einer gelungenen Reposition häufig 
die Reposition doch nicht erzielt wird, glaubt Verfasser, dass der Kopf wegen 
der Interposition der Gelenkkapsel nicht fest in das Acetabulum eindringen 
kann; deswegen hat Whitman 2mal eine blutige Reposition vorgenommen, in¬ 
dem er nur das Gelenk öffnete, die Kapsel spaltete und dehnte und dann, ohne 
die Pfanne zu erweitern, den Kopf reponirte. 


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Referate. 


531 


Whitman schlägt die Osteotomie vor, um die Deviation des Schenkel¬ 
halses zu beseitigen. Jaeger-Würzburg. 

Payr-Graz, Ueber die blutige Reposition von pathologischen und veralteten 
traumatischen Luxationen des Hüftgelenks bei Erwachsenen. Deutsche 
Zeitschrift für Chirurgie 1900, Bd. 57 Heft 1 S. 14. 

Davon ausgehend, dass bei pathologischen und veralteten traumatischen 
Luxationen des Hüftgelenks die Reposition mit möglichst geringer 
Knochen- und Weichtheilverletzung einzig und allein das 
ideale Ziel unserer Behandlung sein kann, gibt Payr zuerst eine ganz 
kurze üebersicht über die bisher publicirten einschlägigen Fälle und schliesst 
daran die Krankengeschichten seiner drei Patienten; zwei davon hat er selbst, 
den einen Nicoladoni operirt; zweimal handelte es sich um eine Luxatio 
iliaca femoris dextra pathologica, das andere Mal um eine Luxatio iliaca trau¬ 
matica femoris sinistri, vergesellschaftet mit einem Bruch des ganzen oberen 
Pfannenrandes. Aus den sehr eingehenden und interessanten Krankengeschichten 
sei nur bemerkt, dass jedesmal in Chloroformnarkose der Versuch gemacht 
wurde, die Luxation auf unblutigem Wege zu reponiren, doch stets, wie zu er¬ 
warten, ohne Erfolg. Sie wurden dann blutig reponirt und gelang die Re¬ 
position in allen 3 Fällen nach mehr oder weniger grossen Schwierigkeiten; 
die Resultate waren gut. 

Auf Grund dieser Erfahrungen bemerkt Verfasser sehr richtig, dass die 
pathologisch-anatomischen Verhältnisse zweifellos die Technik der blutigen 
Reposition der einschlägigen Hüftluxation beherrschen, und er bespricht nun in 
5 Kapiteln die Repositionshindemisse und deren Beseitigung und zwar I. das 
Verhalten der Gelenkkapsel und Interpositionsverhältniss, II. Schwartenbildungen 
in und um die Pfanne; Osteophytenbildungen in den fibrösen Massen, III. Ver¬ 
halten der Knochen, der Pfanne und des Femur; Vorkommen von gleichzeitigen 
Fracturen, IV. Verhalten des Knorpels von Femur und Acetabulum, von dem 
ja zum grossen Theile das künftige Schicksal des Gelenkes abhängt, V. Ver¬ 
halten der Weichtheile; Ligamentum teres und Nearthrosenbildung. 

Der folgende Abschnitt VI handelt von der Zeitdauer, die zwischen dem 
Geschehniss der Luxation und der blutigen Reposition verflossen ist, mit deren 
Zunahme naturgemäss die Schwierigkeiten des EingrifiPes sich vermehren. Ausser¬ 
dem ist sicher, dass die Schwierigkeiten im directen Verhältniss zur Schwere 
der abgelaufenen Erkrankung zunehmen; jene nur durch Kapselüberdehnung 
bei Hydrops zu Stande gekommenen Luxationen (Distentionsluxationen) geben 
vielleicht sogar eine günstigere Prognose als die traumatischen, weil die 
Weichtheil Verletzungen und schweren Blutungen in der Umgebung fehlen. 

Im VII. Kapitel wurden besprochen: Technik der Operation, Schnittführung 
und Wundbehandlung. Payr empfiehlt entsprechend seinen guten Erfahrungen 
den Kocher’schen Schnitt ganz besonders, einen Bogenschnitt, der hand¬ 
breit unter der Basis der Hinterfläche des Trochanter major beginnt, von da 
nach aufwärts steigt und über der höchsten Prominenz des Trochanters schräg 
nach auf- und medianwärts abbiegt, parallel verlaufend zur Faserung des 
Glutaeus maximus. 

Das VIII. Kapitel umfasst die Angaben über den Verband, Heilungs- 


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Referate. 


verlauf und die Resultate. Es werden die Vortheile des Extensions- und des 
Gipsverbandes gegen einander abgewogen und anerkannt, dass man individuali- 
sirend entscheiden muss, ob Extension oder Gipsverband den Vorzug verdient. 
Sehr wichtig ist für die Erhaltung eines beweglichen Gelenkes eine sorgfältig 
geleitete, nicht zu kurz zu bemessende Nachbehandlung. Während also für 
relativ frische traumatische und durch Hydrops bedingte frische pathologische 
Luxationen unbedingt ein bewegliches Gelenk angestrebt werden muss, muss 
man sich in mehr veralteten Fällen mit geringen Graden der Mobilität oder 
mit einer fibrösen Ankylose abfinden, und zwar in einer leichten Abductions- 
Stellung. Sehr empfehlenswerth wäre es, den Kranken eine Zeit lang nach 
völliger Heilung der Operationswunde einen Schienenhülsenapparat nach Hes¬ 
sing geben zu können, der das Bein in leicht abducirter Stellung festhält. 
Sollte sich trotz aller Vorsicht eine Adductionsstellung entwickeln, so kommt 
schliesslich eine subtrochantere schiefe Osteotomie in Betracht, um das Resultat 
noch zu bessern. 

Payr zieht zum Schluss aus seinen Betrachtungen nachstehende Folge¬ 
rungen ; 

1. Die meisten pathologischen Luxationen des Hüftgelenks bei Kindern 
und Erwachsenen sind — eine Ausheilung des sie veranlassenden Krankheits- 
processes vorausgesetzt — ganz denselben Behandlungsmethoden zu unterwerfen, 
wie die traumatischen. 

2. Die blutige Reposition nicht nur der traumatischen, sondern auch der 
pathologischen Hüftluxationen gibt oftmals sehr gute functionelle Resultate 
(völlige oder partielle Wiederkehr der Beweglichkeit); aber auch in jenen Fällen, 
in denen das Gelenk nach langem Bestehen der Luxation, nach tieferen Ver¬ 
änderungen an den Gelenkenden steif wird, sind die statischen Folgen der ge¬ 
wöhnlichen hochgradigen Verkürzung (Luxatio iliaca) vermieden und ist der 
Gang ein ungleich besserer. Dies gilt hauptsächlich für die Luxationen nach hinten. 

3. Grosses Gewicht ist in allen Fällen von blutiger Reposition an Hüft¬ 
luxationen darauf zu legen, dass keine irgendwie wesentliche Adductionsstel¬ 
lung entsteht. 

4. Ganz besonders eignen sich zur blutigen Reposition jene Spontan¬ 
luxationen, die nach acuten Infectionskrankheiten, wie Typhus, Scharlach, Va¬ 
riola, Gelenksrheumatismus und Infiuenza entstanden sind und von ihnen wieder 
besonders jene Formen, die während eines mächtigen zur Entwickelung gekom¬ 
menen Hydrops entstanden sind. Bei diesen Formen sind die Veränderungen 
an den Gelenkkörpern meist nicht hochgradig. 

5. Der pathologisch-anatomische Befund bei veralteten traumatischen 
und bei Spontanluxationen ist also ausserordentlich ähnlich, manchmal völlig 
identisch. 

Die separativen Vorgänge nach dem Trauma und subacute Entzündungen 
erzeugen ähnliche Bilder. 

6. Lange Zeitdauer der Luxation verschlechtert die Prognose für die 
blutige Reposition erheblich. An den ausser Contact stehenden Gelenkenden 
entstehen — auch wenn sie primär nicht verletzt oder erkrankt waren — 
schwere secundäre Veränderungen, wie Knorpelschwund, Deformation. 

G 0 c h t • Würzburg. 


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Referate. 


533 


Muskat, G., Die Brüche der Mittelfussknochen in ihrer Bedeutung für die 
Lehre von der Statik des Fusses. 

Nach einer Berechnung des Verfassers ergibt sich für die Betheiligung 
des zweiten und dritten Mittelfussknochens an Fracturen ein Procentsatz von 
54,5 resp. 36,8. Muskat zieht daraus den Schluss, dass das Fussgewölbe vom 
auf den Capitula dieser Metatarsen aufsteht. Für die Häufigkeit dieser Be¬ 
theiligung gibt es indessen meines Erachtens eine viel ungezwungenere und 
einfachere Erkläi*ung. Diese beiden Metatarsen haben den steilsten Ver¬ 
lauf, die Hebelwirkung (Knickwirkung wie beim Radiusbrach) wird sich deshalb 
an ihnen selbst bei Uebertragung durch die äussersten Metatarsalcapitula am 
meisten bemerkbar machen. Die Randmetatarsen liegen fiacher. Wir haben 
mehr Chance ein Lineal zu zerbrechen, wenn wir es unter einem gewissen 
Winkel, als wenn wir es fiach auf den Tisch schlagen. Die vom Verfasser ver¬ 
tretene Gewölbeconstruction scheint mir durch diesen neuen Beweis nichts ge¬ 
wonnen zu haben. Bähr-Hannover. 

Elten, Zur Behandlung des Plattfusses mit gewaltsamer Einrichtung und deren 
Beziehungen zu traumatischer Tuberculose. Monatsschrift für Unfallheil¬ 
kunde 1900, Nr. 9. 

Elten gibt die Krankengeschichte eines Dienstmädchens, bei welchem 
im Anschluss an das Redressement der beiderseitigen PlattfÜsse in Narkose eine 
tuberculöse Vereiterung der Gelenke des rechten Fusses auftrat. Schliesslich 
wurde die Amputation des Fusses nöthig. Die Patientin war tuberculös ver¬ 
anlagt lind war früher schon an einem verdächtigen Lungenspitzenkatarrh in 
Behandlung gewesen, auch war schon seit längerer Zeit vor der Operation das 
rechte Fussgelenk etwas geschwollen und schmerzhaft, was von der Patientin 
auf ein ^ümkippen“ zurückgeführt wurde. Verf. stellt die Forderung, dass bei 
-der Indicationsstellung aller dahin gehörigen Eingriffe, namentlich aber aus 
dem ganzen Gebiete der orthopädischen Chirurgie, unbedingt vorher darauf 
Rücksicht genommen werden soll, ob bei den betreffenden Kranken der Nach¬ 
weis einer tuberculösen Erkrankung oder Anlage zu erbringen ist. Eventuell 
sei zu diesem Zwecke auf Tuberculineinspritzungen zurückzugreifen. 

E h e b a 1 d-Würzburg. 

Clarke, Hallux valgus. The Lancet, 3. März 1900. 

Verfasser bespricht die verschiedene Auffassung in England und auf dem 
Continent von den Worten Valgus, Varus, Abduction und Adduction der grossen 
Zehe. Um Einheit und Klarheit in die Sache zu bringen, schlägt Clarke 
folgende Definition vor: Hallux valgus ist eine Deformität, bei welcher die grosse 
Zehe bei Mittelstellung des Fusses, von der medialen sagittalen Ebene des Körpers 
abducirt und zugleich nach aussen subluxirt ist. 

Nach einer genauen Beschreibung der Anatomie bespricht Clarke die 
Ursachen dieser Erkrankung. 

Congenitaler Hallux valgus ist von Zeit zu Zeit beobachtet worden. 
Verfasser bekam in den letzten 3 Jahren 3 Fälle zu sehen. 

Hallux valgus acquisitus entsteht nach Clarke infolge gemeinsamer 
Einwirkung von gewissen prädisponirenden Ursachen mit einer unmittelbaren 
Veranlassung. 


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534 


Referate. 


Prädisponirende Ursachen sind Schwäche der Muskeln und Erweichungen 
der Ligamente und Knochen verursacht durch Gicht, rheumatische Arthritis, 
Trauma und Rhachitis. 

Die gewöhnlichste unmittelbare Ursache ist schlecht geformtes Schuhwerk. 

Frauen erkranken öfters als Männer, wahrscheinlich weil sie häufiger, 
durch Mode veranlasst, unpassende Schuhe tragen und weil ihre Musculatur 
geringere Fähigkeit besitzt, die deformirende Kraft schlecht passender Schuhe 
zu überwinden. 

Plattfuss als Complication dieser Erkrankung kommt sehr häufig vor. 

Was die Behandlung anbetrifft, so wird in erster Reihe dem allgemeinen 
Zustand Rechnung getragen. Sie besteht aus Diät, Administration von Guajakol 
und Lithium, activen gymnastischen Uebungen, passiven Bewegungen, Douchen 
und Massage. 

Die locale Behandlung ist mechanisch und operativ. Zu der ersteren 
gehören die verschiedenen Formen von Schuhen, deren Zweck ist, die Zehen 
gerade zu stellen. Dieselben wurden zuerst von v. Meyer angegeben und von 
G. R. Foroler vereinfacht und verbessert. 

Ein sogen. Zehhebel, von Luke Ire er angegeben, soll nach dem Autor 
viel Gutes versprechen. 

Als operative Eingriffe werden Tenotomie, Syndesmotomie, Osteotomie, par¬ 
tielle und complete Excision des Kopfes des Metatarsalknochens und Excision 
der Basis der ersten Phalanx vorgeschlagen. 

Verfasser zieht die Excision des ganzen Kopfes des Metatarsalknochens 
vor, weil nach dieser Operation die Schmerzen nicht so stark sind und die 
Verkürzung der grossen Zehe die Tendenz zu Recidiven verringert. 

J a e g e r • Wörzburg. 

Nietus, Die Resultate der Ziramtsäurebehandlung bei chirurgischer Tuber- 

culose. Deutsche Zeitschrift für Chir. Bd. 57, 5. 

In der Einleitung bespricht Verfasser die geschichtliche und Wissenschaft 
liehe Entwickelung der Zimmtsäurebehandlung Landereres. Die Zimmtsäure 
und ihre Salze haben im hohen Grade die Eigenschaft, positiv chemotactisch 
zu wirken und eine allgemeine Hyperleukocytose zu erzeugen. Diese kann 
jedoch nicht der heilend wirkende Factor sein, da andere, Hyperleukocytose er¬ 
regende Mittel (Antipyrin, Morphium, Pilocarpin) nicht die geringste Heilwirkung 
auf die Tuberculose haben. Bis jetzt lassen sich über die Wirkung nur Ver¬ 
muthungen aufstellen, doch ist als feststehend nachzusehen, dass die Zimmt¬ 
säure im Stande ist, die Tuberculose der Kaninchen zu heilen. Um die 
Wirkung am Menschen zu studiren, wurden 66 Fälle in der chirurgischen 
Klinik in Bonn mit Injectionen von He toi behandelt. Die Einspritzungen 
wurden intravenös vorgenommen, dieselben wurden gut ertragen, irgend welche 
Schädlichkeiten wurden nicht hervorgerufen. Neben den Injectionen ging eine 
Behandlung der offenen Wunden mit der Mischung von Hetokreosol und Jodo¬ 
form einher. 

Von den Behandelten starben 13®/o an Amyloid, unbeeinflusst blieben 
18,5®/o, gebessert wurden 22,57« und Heilungen wurden 417o verzeichnet Eine 
richtige Beurtheilung der Wirkung lässt sich erst an der Hand einer grösseren 


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Referate. 


535 


Statistik vornehmen, weshalb Verfasser zu weiteren Besprechungen auf¬ 
fordert. 

Den Schluss der Arbeit bilden die Krankengeschichten der 66 Fälle. 

Simon- Würzburg. 

Wengler, Die Bertillon'sche Methode der Körpermessung för praktische 
Aerzte dargestellt Münchner medicinische Wochenschrift Nr. 43 S. 1494. 
Wengler gibt in seiner interessanten Arbeit eine kurz gefasste, al)er 
verständliche Schilderung der sogen. Bertillon'schen Methode, die auf der 
Feststellung der durch das Skelet bedingten Körpermaasse und der Eintheilung 
der verbrecherischen Individuen zum Zweck der Herstellung einer übersicht¬ 
lichen Registratur beruht. Bertillon legte seinem System acht bestimmte 
Kennzeichen zu Grunde, es sind dies: 1. Kopflänge, 2. Kopfbreite, 3. Mittel¬ 
fingerlänge, 4. Fusslänge, 5. Vorderarmlänge, 6. Körpergrösse, 7. Länge des 
kleinen Fingers, 8. Farbe der Augen. Zur Registratur nach Bertillon wird 
dann ein Schrank eingerichtet, der durch zwei Längs- und zwei Querblätter 
in 3 X 3, also in neun Fächer getheilt wird. In die drei links befindlichen, unter 
einander liegenden Fächer kommen die Messkarten der Individuen mit grosser 
Kopflänge, in die drei mittleren die mit mittlerer und in die drei rechtsbefind- 
lichen die mit kleiner Kopflänge. Ebenso sind je drei horizontal liegende 
Fächer für Messkarten mit grosser, mittlerer und kleiner Kopfbreite bestimmt. 
Bertillon hat dann noch jedes Fach in neun Unterfächer getheilt, was die 
rasche Auffindung der gesuchten Messkarte sehr erleichtert. Praktisch erschien 
die Methode zuerst nicht durchführbar, da die Messresultate zweier Personen 
stets von einander abweichen. Indessen hat B e rtillon dadurch, dass er seine 
Beamten beim Messen genau dieselben Bewegungen machen Hess wie er selbst, 
eine Präcision erreicht, die früher für unmöglich gehalten wurde. — Auch die 
Kunst des Photographirens für Identifidrungszwecke hat Bertillon zu hoher 
Vollendung gebracht; durch ihn ist es möglich geworden, dass das Object zu 
jeder Zeit und von jedem Messbeamten in genau derselben Stellung und Ent¬ 
fernung aufgenommen wird. Als drittes Identificirungsmittel benützt Bertil¬ 
lon den Abdruck der Linienzeichnung auf der Volarfläche der Finger. Auch 
besondere Kennzeichen wie Muttermale, Narben etc. werden genau in die Mess¬ 
karte eingetragen. Der Nutzen des Bertillon’schen Systems für den Erken¬ 
nungsdienst leuchtet ohne Weiteres ein, insofern bietet es auch dem Psychiater 
und dem Gerichtsarzt durch sofortige Feststellung der Persönlichkeit Unbe¬ 
kannter seine Vortheile. Indessen wird die grösste Bereicherung die Anthro¬ 
pologie erfahren, wenn die Be rtillon sehe Methode erst in den verschiedenen 
Ländern zur Einführung gelangt ist. 

Sie bedeutet für die Anthropologie dasselbe, wie das L i n n e ’sche System 
für die Botanik. Pfeiffer-Würzburg. 

De Frumerie, La Pratique du Massage; Conferences faites aux ecoles d’infir- 
miers et d’infirmieres des höpitaux de Paris. Paris 1901. 

De Frumerie gibt in einem ca. 100 Seiten starken Bande eine Technik 
der Massage heraus. Das Buch ist in Form eines fortlaufenden Vortrags ge¬ 
halten. Verfasser gibt zunächst einen kurzen historischen Ueberblick und geht 


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536 


Referate. 


dann nach einigen weiteren einleitenden Bemerkungen über das Wesen der 
Massage, Eigenschaften eines Masseurs u. s. w. auf die verschiedenen Manipula¬ 
tionen ein. Verfasser schliesst sich hierbei genau an Metzger und Hoffa 
an. Dann folgt die specielle Massage der einzelnen Körpertheile, wobei Ver¬ 
fasser noch auf die Behandlung der frischen Fracturen mittelst Massage zu 
sprechen kommt, als deren Anhänger er sich bekennt. Zum Schluss gibt Ver¬ 
fasser noch eine kurze üebersicht über die Fälle, die ein im Massiren aus¬ 
gebildeter Laie übernehmen darf. Über die, welche dem Arzt reservirt bleiben 
müssen und über die Contraindicationen, Das Buch ist mit zahlreichen in- 
structiven Abbildungen ausgestattet. Be eher-Würzburg. 


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Autorenregister, 


Ab4e 170. 

Ahrens 345. 

Albert 305. " 

B. 

Bade 407. 

Bahr 403. 526. 
Baginsky 389. 
Bergagnat 527. 
Bernhard 517. 
Bezan9on 398. 
Blancbard 406. 
Blenke 95. 
Blumenthal 509. 
Bräuninger 162. 
Bruns 170. 

Burkhard 510. 

Busse 177. 


C. 

Carpenter 391. 
Chlumsky 523. 

Clarke 534. 

D. 

Darnach 166. 

David 389. 
Deidesheimer 404. 


£. 

Elten 533. 

Eulenburg 154. 


F. 

Fick 164. 

Franz 522. 

Freiberg 394. 
Frenkel-Heiden 413. 


Fröhlich 160. 167. 
Frumerie, de 536. 


Ghillini 183. 
Gianetti 522. 
Goldthwait 405. 
Gross 158. 
Grothe 392. 
Gumpertz 160. 


Hantke 509. 

Hahn 169. 181. 

Hartmann 524. 

HeiÜgenthal 165. 

Herz 89. 

Hessel 530. 

Hilbers 516. 

Hildebrand 402. 

Hirsch 406. 

Hoffa 390. 398. 407. 408. 
Hoffmann 511. 

Honsell 159. 170. 

Hübscher 413. 

Hüssy 202. 

J. 

Jedlicka 387. 

Joachimsthal 178. 386. 526. 
Jonas 418. 

Judson 401. 

K. 

Kalmus 157. 

Katzenstein 521. 

King 392. 

Klapp 410. 

Knoop 512. 


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538 


Autorenregister. 


Kratzenstein 387. 

Krecke 168. 

Kredel 177. 

Erissling 411. 

Krüg 392. 

Kühn 517. 

Küttner 155. 

L. 

Lange 30. 410. 

Lambertz 385. 

Lassalle 513. 

Lavan 387. 

Leszynsky 510. 

Lorenz 379. 

Lotheissen 179. 512. 
Lucas-Charapionni^re 412. 
Luksch 79. 405. 

Luss 178. 

M. 

Maasz 409. 

Manz 529. 

Mayer 1. 

Menard 515. 

Milo 142. 

Mosse 514. 

Müller. 154. 526. 

Muskat 179. 181. 583. 


N. 

Nietus 534. 

Noorden, v. 390. 


0 . 

Oberst 516. 

P. 

Payr 531. 

Pfeiffer 390. 

Phelps 523. 

Popper 410. 

Port 513. 


B. 

Radilowski 166. 
Rager 194. 
Rammstedt 403. 
Redard 384. 387. 


Reisch 157. 

Reise 520. 

Riedinger 159. 514. 
Riethus 161. 

Rose 412. 

Roth 157. 
Rubinstein 525. 


S. 

Schanz 1. 130. 
Schede .386. 

Scheffer 527. 
Schlesinger 393. 
Schlosser 180. 
Schmieden 520. 
Schorstein 391. 
Schubert 152. 
Schüller 153. 
Schwander 167. 
Sehrwald 160. 

Seitz 37. 

Senator 164. 
Sprengel 170. 
Steinhaussen 392. 
Steudel 163. 

Sudeck 162. 

T. 

Thiersch 518. 

Thilo 523. 

Trispel 518. 
Tschmarke 368. 


V. 

Vogel 147. 
Vorstädter 511. 
Vulpius 397. 

W. 

Wagner 276. 
Walsham 405. 
Wengler 535. 
Whitman 528. 530. 
Wilson 410. 
Wohlgemuth 525. 
Wolf 154. 412. 

Z. 

Zabludowsky 394. 


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Sachregister 


A. 

Abscesse (d. Beh. v. Abscessen d. Ge¬ 
lenke (Phelps) 528. 

Ankylose (lieber d. Wiederherstellung 
der Gel. b. Ank.) (C h 1 u m s k y) 523. 

Apparat für Stereoskop. Röntgenbilder 
(Hildebrand) 402. 

Arthritis deformans (Schüller) 153. 
(Müller) 154. 

Arthrodese (b. Schlottergel.) (Popper) 
410. 

Arthropathia tabica (Ahrens) 345. 

Ataxie (Beh. d. tab. A.) (Frenkel- 
Heiden) 413. 


B. 

Bericht über 1000 Pat. (Schanz u. 
Mayer) 1. 

Bertillon’sche Methode d. Körpermes¬ 
sung f. prakt. Aerzte (W e n g 1 e r) 
535. 

Brüche der Mittelfussknochen (Mus¬ 
kat) 181. 533. 


C. 


Caput obstipum musculare (Beitr. z. 
Aetiol.) (Hantke) 509. 

-(Reisch) 157. 

— — spasticum (z. operat. Beh.) (Kal¬ 
mus) 157. 

Cerebrallühmung (Kissling) 411. 
Chirurgie, orthopäd. (Ghillini) 183. 

-(David) 389. 

Chron. Gelenkrheumatismus (Müller) 
154. 


Claviculardefect, doppel8.(S chorstein) 
391. 

Clavicularmissbildung (King) 892. 

Corset u. Reformkleidung (Ti er sch) 
518. 

Corsetwirkung bei Skoliose (Hüssy) 

202 . 

Coxalgie, Heilung (Bergugnat) 527. 

Coxa vara (W a g n e r) 276. 

-(Bühr) 403. 

-(Anfangsstadien) (Schanz) 130. 

-traumat. (Sprengel) 176. 

-(Zusammenh. m. Trauma u. Epi- 

physenlös.) (Kredel) 177. 

-(Busse) 177. 

— — (anatom. Beitr.) (Luss.) 178. 

— — träum, infantum (Joachiins- 
thal) 178. 

Coxitis (neuromusc. Störungen (Schef- 
fer) 527. 

— (Verhütung d. Deformität) (J u d s o n) 
401. 

D. 

DeltoYdeslähmung (Steinhuusen) 392. 

Dupuytren’sche Contractur (z. opemt. 
Beh.) (Lotheissen) 512. 


E. 

Eiterungen der grossen Gelenke (Beh. 
der acut, primär synovialen) (Hart¬ 
mann) 524. 

Entzündung (chron.-ankylos. d. Wirbels, 
u. Hüftgel.) (Damsch) 166. 

Epiphysenlösung, traumatische (W o 1 f) 
154. 

Exostosen (multiple, kartilaginäre) 
(Hoffa) 408. 


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540 


Sachregister. 


F. 

Femurkopfepiphjsenlösung (traumat.) 
(Rammstedt) 408. 

Finger (d. schnellende) (Sudeck) 162. 

Frai^urenbehandlung (Beweg, u. Mas¬ 
sage) (L u c a s - C h ampionni^re) 
412. 

Fracturen (Über Massage v. Fract. in 
d. Nähe V. Gel.) (Gianetti) 522. 

— des Tub. majus hum. (Wohlge- 
muth) .525. 


G. 

Gelenke (über Fremdkörper in dens.) 

(Katzenstein) 521. 
Gelenkentzündung (über gonorrh.) (Ru¬ 
binstein) 525. 

Gelenkergussbehandlung mit heisser 
Luft (Klapp) 410. 

Gelenkkörper (Beitr. z. Frage d. freien) 
(Franz) 522. 

Gelenkmäuse (Beitr. z. Lehre ders.) 

(Schmieden) 520. 
Gelenktuberculose (über Trauma u. G.) 
(Hessel) 580. 

Golenkversteifungen (Verbände gegen 
G.) (Thilo) 528. 


H. 

Hallux valgus (Clarke) 584. 
Heissluftbehandlung b. Gelenkaffectio- 
nen (Wilson) 410. 
Herzstützapparat b. Herzaffectionen 
(Aböe) 170. 

Hüftgelenk (acuteOsteomyelitis) (Bru ns 
u. Hon seil) 170. 

Hüftgelenksverrenkung (Lorenz) 379. 
—- (Schede) 386. 

— (Blut. Behandl d. angeb.) (R e d a r d) 

401. 

— (im Stereoskop. Bilde) (R e d a r d) 

402. 

— (angeb.) (Whitman) 530. 

— (patholog. und veraltete traumat.) 
(Payr) 531. 


1 . 

Ischiadicusdehnung (blutig.) (Deides- 
heimer) 404. 

Ischias (üeber d. Beh.) (Deideshei- 
mer) 404. 


K. 

Klavierspielerkrankheit (Z a b 1 u- 
dowski) 394. 

Klimmzuglähmungen) (S e h r w a l d) 
160. 

Klumpfuss (Beh. d. schweren K.) (Jo¬ 
nas) 408. 

Kniegelenk (Contracturen und Anky¬ 
losen u. deren Behandl.) (B1 e n k e) 
95. 

— (cong. Lux.) (Muskat) 179. 

— (über Zerreissungen im Streckappa¬ 
rat) (Lotheissen) 179. 

— (über blutige Behandlung der Knie¬ 
gelenksstörungen) (Walsh am) 405. 

Knochen (über d. Stossfestigkeit ders.) 
(Trispei) 518. 

Knochenatrophie (acute entzündl.) (S u- 
deck) 518. 

— (zur Altersatrophie d. Knochen) (S u- 
deck) 519. 

Knochengerüstentwickelung (fötale) 
(Lambertz) 885. 

Knochenwachsthum (mechan. Stör, deas.) 
(Maas) 409. 

Kyphose (ein Fall v. angeb. K.) (Bern¬ 
hard) 517. 

Kyphosenredression (Redard) 398. 


L. 

Lähmung d. Muse, triceps brachii (nach 
Trauma) (Gumpertz) 160. 

— d. N. radialis (geheilt durch Deh¬ 
nung) (Bräuninger) 162. 
Little’sche Krankheit infolge von Ge¬ 
burtsstör. (Burkhard) 510. 


M. 

Massage (Leitfaden) (de Frumerie) 
586. 

Missbildungen (Tschmarke) 868. 

- (Wolf) 412. 

— (angeb. d. ob. Extr.) (Joachims¬ 
thal) 886. 

Mittelfussknochen (Brüche) (Muskat) 
181. 533. 


N. 

Nervus radialis (Verletzungen b. Hu- 
merusfracturen u. operat Behandl.) 
(Riethus) 161. 


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Sachregister. 


541 


0. 

Ossification des menschl. Fnssskelets 
(Bade) 407. 

Ost^clasis (b. rhach. Verkrümmangen) 
(Blanchard) 406. 

Osteomyelitis tuberc. d. lang. Röhren¬ 
knochen (Küttner) 155. 

-(Reiss) 520. 

Osteoplastik b. Tibiadefect (Schlosser) 
. 180. 

Osteotomie (Technik) (Luksch) 405. 


P. 

Patellaryerrenkung,fixirte (Golthwait) 
405. 

Pectoralis-Rippendefect (Schlesinger) 
398 . 

Pes vams compensatorins b. Genu valg. 
(Luksch) 79. 

— valgus (Beh.) (Hoffa) 407. 
Polyarthritis chron. villosa (Schüller) 

153. 

Portative Apparate b. Skoliose (Schanz) 
897. 

R. 

Radiographie (Atlas) (Redard und 
Lay an) 387. 

— (steroskop.) (Redard) 402. 
Radiohumeralgelenk (Beitr. z. Pathol.) 

(Bähr) 526. 


S. 

Scapula (beiders. Hochstand) (H o n s e 11) 
159. 

— (erworb. Hochstand) (Gross) 158. 

— (Hochstand) (Schlesinger) 893. 

-(Freiberg) 394. 

Schenkelhalsfractur (Whitman) 528. 
Schenkelhakverbiegung (d. Urs. d. stat.) 

(Manz) 529. 

Schiefhals-(Behandlung) (v. Noordenj 
390. 

-(Pfeiffer) 390. 

-(z. Aetiol. d. angeb. musculären) 

(Blumenthal) 509. 

— (spast. u. seine Beh.) (Leszynski) 
510. 

Schrift (steile u. schräge) (Schubert) 
152. 

Schulhygiene (Baginsky) 389. 
Schultergelenk (Schlottergel.) (Fröh¬ 
lich) 160. 


Schultergelenk (Varität) 159. 

— (z. operat. Beh. d. habituellen Luxa¬ 
tion) (Müller) 526. 

— (habituelle Luxation) (Schorstein, 
Carpenter) 392. 

Sehnenverpflanzungen, periostale 
(Lange) 30. 

— (b. Lähmungen) (Lange) 410. 

Sehnenplastik (Knoop) 512. 

Skoliose (Behandlung) (Redard) 384. 

— (Beitr. z. Ther.) (Radilowski) 
166. 

-(Fröhlich) 167. 

-— — (Schwan der) 167. 

-(Roth) 167. 

— (Mechanismus) (Albert) 395. 

— (Redressement) (Schanz) 396. 

— (Projectionszeichenapparat) (Milo) 
142. 

— (Zur Frage der Heilbarkeit) (Port) 
513. 

— (Zur Diagnostik) (Lassalle) 513. 

— (Ueber gleichzeit. Vorkommen m. 
Spitzeninfiltration im Eindesalter 
Mosse) 514. 

traumai) (Riedinger) 514. 
Scoliosis iscbiadica (Krecke) 167. 

Spondylitis (Beitr. z. Beh.) (Hoffa) 
398. 

— (Beh. m. Schede'schem Extensions¬ 
tisch) (Vogel) 147. 

— (chron. ankyl.) (Senator) 164. 

-(Kühn) 517. 

— (Panplewe) (Hilbers) 516. 

— (prakt. Studien) (Menard) 515. 

— (traumat.) (Schulz) 460. 

-(Oberst) 516. 

— typhosa (Herz) 89. 

-(Schanz) 399. 

Stehen (vom menschlichen) (Muskat) 
181. 

Streckmetall (Hübscher) 413. 

Stützcorset (über d. Werth dess.) (Vul- 
nius) 397. 

Subluxationsstellung b. Lux. coxae cong. 
(Rager) 194. 


T. 

Tabes (Bewegimmtherapie b. Coordi- 
nationsstör.) (Vorstädter) 511. 
Topographische Anatomie d. ob. Extr. 
(Jedlicka, Kratzenstein, 
Scheffer) 387. 

Trommlersehne (Beh.) (Steudel) 163. 
Tuberculose der Knochen u. Gel. des 
Fusses (Hahn) 181. 


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542 


Sachreg^ter. 


U. 

ünterschenkelamputation mit neuer 
Prothese (Hirsch) 406. 


Y. 

Verdoppelung d. linken Zeigefingers 
(Joachimsthal) 526. 
Vibrationsmassage (neues Instrumen¬ 
tarium) (Eulenburg) 154. 


W. 

Wirbel (acute, infect. Osteomyelitis) 
(Hahn) 169. 

Wirbelsäule (chron. ankyl. Entz.) (Hei¬ 
ligenthal) 165. 

— (z. Mechanik) (Fick) 164. 

Zehschuh (Rose) 412. 

Z. 

Zimmtsäure (die Resultate d. Behandl.) 
(Nietus) 534. 


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MW 6 ■ 1903 


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